Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe [Reprint 2015 ed.] 9783486790382, 9783486237153

Die Förderung der Technik ist heute Staatsaufgabe. Das verlangt aber auch die Anerkenntnis, dass eine möglichst umfassen

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Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe [Reprint 2015 ed.]
 9783486790382, 9783486237153

Table of contents :
Vorwort
Einführung in die Technikfolgenabschätzung
Teil I Begründung und Kritik der Technikfolgenabschätzung
1. Kap. Ethik und Technologieentwicklung heute
2. Kap. Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen
3. Kap. Technik und institutionelle Verantwortung
4. Kap. Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns
5. Kap. Technikfolgenabschätzung - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik ? Versuch einer Kritik
Teil II. Grundlagen der Technikfolgenabschätzung
6. Kap. Wertgrundlagen der Technikbewertung
7. Kap. Grundfragen und Herausforderungen an eine partizipative Technikfolgenabschätzung
8. Kap. Planungszellen - Elemente partizipativer Technikfolgenabschätzung
Teil III. Methoden der Technikfolgenabschätzung
9. Kap. Methoden der Technikbewertung
10. Kap. Szenariotechnik
Teil IV. Die Rolle des Rechts im Prozeß der Technikfolgenabschätzung
11. Kap. Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung
12. Kap. Technische Risiken als verfassungsrechtliches Problem
13. Kap. Die Verfassungsverträglichkeit von Technikystemen am Beispiel der Informations- und Kommunikationstechnik
Teil V. Institutionen der Technikfolgenabschätzung
14. Kap. Technikfolgenabschätzung bei den Vereinten Nationen
15. Kap. STOA - Die TA-Einrichtung des Europäischen Parlaments
16. Kap. Das Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
17. Kap. Das Büro für Wissenschaft und Technologie des britischen Parlaments
18. Kap. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag
19. Kap. Das TA-Konzept des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie
20. Kap. Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen
21. Kap. Politische Technikfolgenabschätzung in Nordrhein-Westfalen
22. Kap. Die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg
Teil VI Beispiele zur Technikfolgenabschätzung
23. Kap. Gentechnologie: Stand und Perspektiven der Technikfolgen abschätzung in Deutschland
24. Kap. Kreislaufwirtschaftsgesetz und recyclinggerechtes Konstruieren
25. Kap. Technikfolgenabschätzung in der Raumfahrt
26. Kap. Technikfolgenabschätzung im Umweltrecht
27. Kap. Ökologische Kriterien der Technik- und Stoffbewertung
Autorenverzeichnis
Abkürzungen
Bibliographie
1. Informationsdienste zur Technikfolgenabschätzung
2. Gesamtbibliographie
Sachregister

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Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe

Herausgegeben von

Prof. Dr. Raban Graf von Westphalen in Gemeinschaft mit Prof. Dr. Dr. Günter Altner · Dr. Waldemar Baron Dr. Norbert Binder · Dr. Stephan Bröchler · Dr. Weert Canzler Prof. Dr. Peter C. Dienel · Prof. Dr. Meinolf Dierkes Dipl.-Wirt.-Ing. Alexander Fink · Prof. Dr. Jürgen Gausemeier Prof. Dr. Carl Friedrich Gethmann · Prof. Dr. Arnim von Gleich Myriam Grütter · Dipl. Pol. Dieter König Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Lenk · Dr. Rolf Meyer Prof. Dr. Dres. h.c. Hans Mohr · Prof. Dr. Wilfried Müller Prof. Dr. Dietrich Murswiek · Dr. Michael Norton Mag. Dr. Walter Peissl · Prof. Dr. Friedrich Rapp Prof. Dr. Günter Ropohl · Prof. Dr. Alexander Roßnagel Prof. Dr. Peter Saladin · Dipl.-Wirt.-Ing. Oliver Schlake Prof. Dr. Georg Simonis · Dr. Gerlinde Sommer Dr. Otto Ullrich · Christine Wennrich M.A. Dr. Johannes Weyer

3., gänzlich revidierte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe / hrsg. von Raban Graf von Westphalen in Gemeinschaft mit Günter Altner... - 3., gänzlich rev., neu bearb. und erw. Aufl. - München ; Wien : Oldenbourg, 1997 ISBN 3-486-23715-2

© 1997 R Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildung» ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Grafik + Druck, München ISBN 3-486-23715-2

Inhalt

Inhalt Vorwort

Einfuhrung in die Technikfolgenabschätzung Rabatt Graf von Westphalen Teil I. Begründung und Kritik der Technikfolgenabschätzung 1. Kap. Ethik und Technologieentwicklung heute Günter Altner 2. Kap. Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen Peter Saladin /Myriam Grütter 3. Kap. Technik und institutionelle Verantwortung Gerlinde Sommer/Raban Graf von Wesphalen 4. Kap. Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns Weert Canzler /Meinolf Dierkes 5. Kap. Technikfolgenabschätzung - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik ? Versuch einer Kritik Otto Ullrich

Teil IL Grundlagen der Technikfolgenabschätzung 6. Kap. Wertgrundlagen der Technikbewertung Hans Lenk / Friedrich Rapp / Günter Ropohl 7. Kap. Grundfragen und Herausforderungen an eine partizipative Technikfolgenabschätzung Waldemar Baron 8. Kap. Planungszellen - Elemente partizipativer Technikfolgenabschätzung Peter C. Dienel

6

Inhalt

Teil ΠΙ. Methoden der Technikfolgenabschätzung 9. Kap. Methoden der Technikbewertung Günter Ropohl

177

10. Kap. Szenariotechnik Jürgen Gausemeier / Alexander Fink / Oliver Schlahe

203

Teil IV. Die Rolle des Rechts im Prozeß der Technikfolgenabschätzung 11. Kap. Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung A lexander Roßnagel

222

12. Kap. Technische Risiken als verfassungsrechtliches Problem Dietrich Murswiek

238

13. Kap. Die Verfassungsverträglichkeit von Technikystemen am Beispiel der Informations- und Kommunikationstechnik Alexander Roßnagel

266

Teil V. Institutionen der Technikfolgenabschätzung 14. Kap. Technikfolgenabschätzung bei den Vereinten Nationen Dieter König

281

15. Kap. STOA - Die TA-Einrichtung des Europäischen Parlaments Christine Wennrich

287

16. Kap. Das Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Walter Peissl

305

17. Kap. Das Büro fur Wissenschaft und Technologie des britischen Parlaments Michael Norton

322

18. Kap. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag Rolf Meyer

340

19. Kap. Das TA-Konzept des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Norbert Binder

366

20. Kap. Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen Carl Friedrich Gethmann

382

Inhalt

7

21. Kap. Politische Technikfolgenabschätzung in Nordrhein-Westfalen Stephan Brochler

388

22. Kap. Die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg Hans Mohr

410

Teil VI. Beispiele zur Technikfolgenabschätzung 23. Kap. Gentechnologie: Stand und Perspektiven der Technikfolgenabschätzung in Deutschland Georg Simonis

425

24. Kap. Kreislaufwirtschaftsgesetz und recyclinggerechtes Konstruieren Wilfried Müller

448

25. Kap. Technikfolgenabschätzung in der Raumfahrt Johannes Weyer

465

26. Kap. Technikfolgenabschätzung im Umweltrecht Raban Graf von Westphalen

484

27. Kap. Ökologische Kriterien der Technik- und Stoffbewertung Arnim von Gleich

499

Autorenverzeichnis

571

Abkürzungen

578

Bibliographie

579

1. Informationsdienste zur Technikfolgenabschätzung 2. Gesamtbibliographie Sachregister

579 580 636

8

Vorwort

Vorwort zur dritten Auflage

Als 1988 das vorliegende Buch in Erstauflage erschien, hatten Ideen und Konzepte von Technikfolgenabschätzung (TA) in der öffentlichen Meinung in Deutschland einen nicht einfachen Stand. Man sah in der Technikfolgenabschätzung vielfach ein Verfahren zur Technikverhinderung. Daher galt es zunächst, für die Grundanliegen von TA und seine institutionelle und projektive Verfestigung zu plädieren. Mittlerweile hat sich in der Bundesrepublik Deutschland eine TA-Kapazität von ca. 270 Institutionen mit weit über 1000 Projekten etabliert. Sie sind u.a. Teil des ETAN (European Technology Assessment Network) und des ETAI (European Technology Assessment Infrastructure), neben denen noch das EPTA (European Parliamentary Technology Assessment Network) als Zusammenschluß der parlamentarischen TA-Institutionen steht. Diese TA-Verknüpfungen auf europäischer Ebene verbinden sich in vielfältiger Weise mit der IATAFI (International Association for Technology Assessment and Forecasting Institutions). In seiner dritten gänzlich neubearbeiteten Auflage versucht das Buch, dieser Entwicklung aus deutscher und europäischer Sicht Rechnung zu tragen und gleichzeitig TA als interdisziplinäres, wissenschaftsorientiertes Arbeitsgebiet in Form eines Lehrbuchs verfügbar zu machen. Die Gliederung des Buches in Begründung und Kritik der TA (Teil I ), Grundlagen (Teil II ), Methoden (Teil III.) wie rechtswissenschaftliche TA (Teil IV ), deutsche und europäische Institutionen (Teil V.) sowie Fallbeispiele für TA (Teil VI.) soll diesen Anspruch einlösen. Die einzelnen Kapitel sind durch Querverweise miteinander verschränkt. Eine Übersicht über die Informationsblätter der TAEinrichtungen sowie eine Gesamtbibliographie zur TA-Literatur sollen den Lesern den weiteren Zugang zu diesem Arbeitsgebiet erleichtern.

Grossbodungen

Raban Graf vonWestphalen

Einführung in die Technikfolgenabschätzung

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Einführung in die Technikfolgenabschätzung Rabatt Graf von Westphalen

Technikfolgenabschätzung (TA) hat sich seit Beginn der 70er Jahre als Sammelbezeichnung fur eine Reihe von Verfahren, Konzeptionen und Methoden der sozialwissenschaftlichen, philosophisch-ethischen und theologischen wie natur- und ingenieurwissenschaftlichen Reflexion über Voraussetzungen, Wirkungen und Folgen der technikinduzierten Gestaltung moderner Gesellschaften durchgesetzt. Als Übertragung von „Technology Assessment" muß man seine deutsche Fassung im Begriff der Technikfolgenabschätzung insofern nicht als glücklich bezeichnen, als dem Begriff des Abschätzens eine pejorative Bedeutung im Sinne von abschätzig unterliegt, welche dem Begriff des Assessment fremd ist; dieser kennzeichnet vielmehr den Versuch einer rationalen, vernunftbegründeten Beurteilung, wie sie auch die französische Fassung im Ausdruck der Evaluation des choix de scientifiques et technologiques unterlegt. Sprachliche Synomynität erreicht weitgehend der Begriff der Technikbewertung, wie er in diesem Band von Kurt Lenk, Friedrich Rapp, Günter Ropohl in Kap. 6 und 9 benutzt wird. Darüberhinaus verschwimmt im Begriff des Technology die ursprüngliche Unterscheidung zwischen Technik und Technologie, also zwischen Technik, verstanden als soziotechnischem Handlungssystem (so bei Gerlinde Sommer und Raban Graf von Westphalen in Kap. 3), und Technologie als Inbegriff natur- und ingenieurwissenschaftlicher Verfahrenskunde. Technikfolgenabschätzung bezeichnet ein planmäßiges, systematisches Verfahren der Analyse einer Technik, ihrer Alternativen wie ihrer gesellschaftlichen und ökologischen, gewollten und nicht gewollten, synergistischen und kumulativen Folgen und sekundären möglichen Wirkungen und Konsequenzen unter Offenlegung der Wertgrundlagen, auf welche sich die „Abschätzung" bezieht (so in Kap. 6 von Kurt Lenk, Friedrich Rapp und Günter Ropohl). Historische Bedingung der Versuche, zu Methoden und Verfahren zu gelangen, welche frühzeitig, d.h. möglichst vor Eintritt, Auskunft über die zu erwartenden ge-

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Einführung iti die Technikfolgenabschätzung

samtgesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen von Risiken und Chancen neuer Techniken geben, muß im völligen Zusammenbruch unseres seit der Aufklärung dominierenden technikoptimistischen Fortschrittsverständnisses in der Gegenwart gesehen werden. Der einst so strahlende Begriff des (gesellschaftlichen) Fortschritts, der gewohnheitssprachlich unterlegte, daß die zeitlich letzte Formation einer gesellschaftlichen Epoche auch gleichzeitig ihre wertmäßig beste, d.h. anstrebenswerteste Form darstellt, hat spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts seine Selbstverständlichkeit verloren. Der Begriff des Fortschritts, wie er etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in die deutsche Sprache Eingang gefunden hat, bezieht seinen Vorstellungsinhalt wesentlich aus dem Denken der Epoche, welches die philosophischen und mathematischnaturwissenschaftlichen Voraussetzungen schuf, auf denen sich auch die Entwicklung zur industriell-technischen Zivilisation der Gegenwart als Inbegriff fortschrittlicher Gesellschaftsorganisation vollzog: der Renaissance in Europa. An die geistigen Grundlagen unserer sozialen, problemüberfrachteten Entwicklung zu erinnern, gebietet zunächst der Umstand, wonach im gegenwärtigen Fortschrittsverständnis der ständige Prozeß des Neuwerdens, des Neuschaffens und -herstellens sich abgelöst hat von der identitären Vorstellung, gleichzeitig auf ein besseres gesellschaftliches Morgen gerichtet zu sein. Wesentlicher noch dürfte sein, daß das gegenwärtige Denken über den Fortschrittsprozeß ein Abgleiten der Menschheit in eine erdumspannende Katastrophe nicht ausschließt, sondern eher als plausible Annahme einrechnet. Wenngleich im Grunde die Herausbildung der industriell-technischen, okzidentalen Lebenswelt immer von Zweifeln begleitet wurde, ob dieser Prozeß zugleich auf eine Verbesserung der Lebensumstände von Mensch und Mitwelt gerichtet sei, so ist die Selbstverständlichkeit, mit der heute diskutiert wird, daß die gegenwärtige Zivilisationskrise der Industriestaaten Ausdruck technischer Hochkultur und unausweichliche Konsequenz technischen Fortschritts ist, neu. Im Zentrum des Denkens über den Fortschritt steht der Begriff der Technik, genauer: die herrschende Anschauung von Funktion, Gestalt und Form, technischer Architektur

Einführung in die Technikfolgenabschätzung

und ästhetischem Gehalt unserer Technik. Die Begründung hierfür ist offensichtlich: Unsere Lebenswelt ist technisch bestimmt. Technische Hervorbringungen - Artefakte bestimmen unseren Lebensrhythmus, prägen Denken und Handeln; die technische Entwicklung hat die individuelle wie soziale Existenz des Menschen in den industriellen Hochkulturen tief durchdrungen. Mit historisch unvergleichlicher Dynamik hat im Prozeß des technischen Hervorbringens die Technik sich zum Zentrum unserer Kultur gemacht - vergleichbar wohl nur der Bedeutung und Gestaltungskraft der Religion in epochal anderen Gesellschaftsformationen. Je eindrücklicher die räumlichen wie globalen, vor allem ökologischen und generationsübergreifenden Folgen des sich beschleunigenden technikinduzierten Modernisierungsprozesses ins öffentliche Bewußtsein getreten sind, und je offenkundiger wurde, daß dieser Prozeß mit einer Folgenproblematik verknüpft ist, deren Beherrschung soll sie überhaupt gelingen - höchste politische Priorität 1 verlangt, um so mehr konzentrierten sich die gouvernementalen Anstrengungen, zunächst auf nationaler Ebene, zu neuen Instrumenten der Vorausschau, Antizipation und Beherrschung von Technikfolgen im Rahmen der Technologiepolitik zu gelangen (vgl. Weert Canzler und Meinolf Dierkes in Kap. 4 sowie Norbert Binder in Kap. 19 ). Inspirierend, wenn nicht beispielgebend für die nationalen exekutiven und parlamentarischen TA-Einrichtungen (vgl. Walter Peissl in Kap. 16, Michael Norton in Kap. 17, Rolf Meyer in Kap. 18) wie aber auch in abgeschwächter Form für die TA-Konzeption der Vereinten Nationen (dazu Dieter König in Kap. 14) und auf europäischer Ebene als TA-Einrichtung beim europäischen Parlament (vgl. Christine Wennrich in Kap. 15) wie für die mit transnationaler Perspektive operierende Europäische Akademie (dazu Carl Friedrich

1 Die ambitionierte Arbeit von Markus Zeilhofer (1995) versucht, „Technikfolgenpolitik" als neues Politikfeld zu begründen. Zweifel an einem eigenständigen Politikfeld klassischer Prägung ergeben sich bereits aus der Anschauung des Autors, ein solches ließe sich aus dem Vorhandensein von sich darauf spezialisierten Institutionen herleiten (S. 154 ff.). Diese Zweifel wachsen, nimmt man die normative Maxime, nach der eine „umfassende Technikfolgenpolitik des parlamentarischen Regierungssystems (...) den gesamten Entwicklungszyklus neuer Techniken, deren Voraussetzungs- und Folgenzusammenhänge zum Gegenstand haben (muß)" (S. 151), zur Kenntnis. Eine solche Forderung läfit sich sinnvollerweise nicht an marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften herantragen; der „Technikfolgenpolitik" entspricht m.E. keine empirische Politikfeldstruktur.

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Einführung in die Technikfolgenabschätzung

Gethmann in Kap. 20) war das 1972 vom amerikanischen Kongreß durch Gesetz ins Leben gerufene Office of Technology Assessment (OTA). (Im September 1995 wurde diese Einrichtung nach 23-jähriger Tätigkeit geschlossen; sie ist aus diesem Grund hier nicht weiter behandelt). Die vorstehend genannten Einrichtungen verbindet der Gedanke - und auch dieser geht wesentlich auf das OTA zurück -, daß Technikfolgenabschätzung zuerst als Politikberatung, als exekutive oder parlamentarische Entscheidungshilfe im politischen Prozeß zu etablieren sei. Mit wissenschaftlich-methodischem Anspruch soll Technikfolgenabschätzung eine möglichst antizipative und umfassend emipirisch-deskriptive Darstellung der positiven wie negativen Folgen einer Technikentwicklung zum frühstmöglichen Zeitpunkt liefern. Als optionale, entscheidungsorientierte Ansätze beanspruchen diese auf exekutiv-parlamentarische Beratung zielende Konzeptionen von TA, eingebettet in die politischen Prozesse, die Rationalität rechtssetzender und gesetzgebender Verfahren zu erhöhen. Rechtswissenschaftliche Technikfolgenabschätzung (vgl. Alexander Roßnagel in Kap. 11) hat von daher - wie in der ersten und zweiten Auflage dieses Buches - einen eigenständigen Rang. Die Behandlung der staatlichen, grundgesetzlichen Schutzpflicht gegenüber technischen Entwicklungen und diese begleitenden Gefahren und Risiken (so Dietrich Murswiek in Kap. 12), wie ein Beispiel zum Bewertungsmaßstab der „Verfassungsverträglichkeit" (so Alexander Roßnagel in Kap. 13) sollen die besondere Verantwortung des Parlaments für die Ausgestaltung des technischen Sicherheitsrechts unterstreichen; aus dieser Sicht heraus begründet sich auch die vertiefende Behandlung des Terminus der politisch-institutionellen Verantwortung an verschiedenen Orten (so bei Peter Saladin und Myriam Grütter in Kap. 2, Gerlinde Sommer und Raban Graf von Westphalen in Kap. 3 und Dietrich Murswiek in Kap. 12). Weitere (theoretische) Ansätze (dazu Waldemar Baron in Kap. 7) der TA lassen sich weniger leicht ausmachen oder bestimmbaren Institutionen zuordnen, vor allem auch weil die gegenwärtigen Diskussionen darüber etwa zwischen systemanalytisch orientierter TA-Forschung und den stärker neokorporatistisch-demokratietheoretisch sich verstehenden Anschauungen überaus kontrovers gefuhrt werden. Eine besondere Be-

Einführung in die Technikfolgenabschätzung

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deutung wird durch die Beiträge von Peter C. Dienel (in Kap. 8) und Waldemar Baron (7. Kap.) der Teilnahme gesellschaftlicher Kräfte an den TA-Verfahren (Diskurs, Bürgergutachten) - sog. partizipative TA - gegeben. In eben diesen Zusammenhang gehören auch Konzeptionen, welche auf die Beeinflussung der Technikentwicklung durch ,Leitbilder" abheben (dazu Weert Canzler und Meinolf Dierkes in Kap. 4), von denen das Leitbild der „Nachhaltigkeit" das zur Zeit die Diskussion führende Paradigma ist (hierzu Günter Altner in Kap. 1); ihren Ursprung hat die Leitbild-Idee in der soziologischen Technikgeneseforschung. Als institutionelles Beispiel partizipativer TA ist auf die Akademie für TA in BadenWürttemberg (vgl. Hans Mohr in Kap. 22) zu verweisen, während die TA, wie sie im Land Nordrhein-Westfalen organisiert ist, als diskursiv-partizipatives Verbundmodell angelegt ist (vgl. Stephan Bröchler in Kap. 21). In Konsequenz theoretisch fließender Konzeptionen stellt sich auch das methodische und methodologische Profil interdisziplinär verfahrender TA höchst unscharf dar, da es eine TA-spezifische Vorgehensweise selbstevident nicht geben kann. Im Beitrag von Günter Ropohl (Kap. 9) erhält der Leser neben einer kritischen Würdigung der wichtigsten Methoden eine Skizze zum Ablauf von TA-Verfahren. Entsprechend der heute vorherrschenden Anschauung, daß kausale, deterministische oder quantitativ-holitische Vorgehensformen der Wirkungs- und Folgenkomplexität von Technikgenese und gesellschaftlicher Verwendung von Technik nicht hinreichend entsprechen, wird in der Szenariotechnik (dazu Jürgen Gausemeier, Alexander Fink und Oliver Schlake in Kap. 10) eine tragfähige, zukunftsweisende Methode gesehen. Als Muster einer Verknüpfung von Vorgehensweise und methodischer Reflexion an einem ökologischen Zentralbegriff, der Stoffbewertung, steht der Beitrag von Arnim von Gleich (Kap. 27), wodurch auch der Umfang dieses als TA-Studie zu bezeichnenden Beitrages sich rechtfertigt. Andere Beispiele zur TA-Praxis auf den Gebieten der Gentechnologie (so Georg Simonis in Kap. 23), der Kreislaufwirtschaft (so Wilfried Müller in Kap. 24), der Raumfahrt (so Johannes Weyer in Kap. 25) und dem Umweltrecht (so Raban Graf von Westphalen in Kap. 26) sollen die Leistungsfähigkeit

14

Einführung in die Technikfolgenabschätzung

von TA-Konzeptionen an zentralen Schnittstellen gegenwärtiger Technikentwicklungen anschaulich machen. Wie alle übrigen Beiträge so sind auch diese Beispiele vor dem Hintergrund der kritischen Frage zu lesen, ob und - wenn ja - inwieweit das von der Technikfolgenabschätzung bereitgestellte Folgenwissen überhaupt in die Alltagsroutinen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft - so verneinend Otto Ullrich in Kap. S - handlungsleitend und damit technikgestaltend eingedrungen ist. Oder: Ob nur noch festzustellen ist - worauf einleitend hingewiesen wurde -, daß nämlich die die Gesellschaft umgestaltende Technik

äußerer

Beeinflussung

parlamentarischer Steuerung

2

und

auch

staatlichem

Handeln,

d.h.

politisch-

, oder auch nur rahmensetzender Beeinflussung entzo-

gen ist. Und das meint auch die Frage: Ob das Politische nicht bereits weitgehend im Technischen aufgegangen ist ?

2

Vgl. Sommer / Graf von Westphalen: Politische Techniksteuerung durch Technikfolgenabschätzung ?. In: Ders. (Hg.), Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe. 21994, S. 423 ff.; siehe auch ders.: Parlament und Technik. In: Ders. (Hg.), Parlamentslehre. Das parlamentarische Regierungssystem im technischen Zeitalter. 21996, S. 405 ff. Eine politikwissenschaftliche Wirkungsanalyse anhand des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag mit indifferentem Ergebnis erschien von Jörg Peters 19%.

1. Kap.: Ethik und TechnologieenttvicMung heute

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Teil I. Begründung und Kritik der Technikfolgenabschätzung 1. Kapitel Ethik und Technologieentwicklung heute Günter Altner

Im Blick auf den Zusammenhang von Ethik und Technologieentwicklung sind im Verlauf des zurückliegenden Jahrzehnts tiefgreifende Veränderungen zu beobachten Sie lassen sich im wesentlichen in drei Aspekten zusammenfassen: 1. Die klassischen Bereiche der Technikanwendung werden zunehmend durch Informations- und Biotechnologien überlagert. 2. Die Frage nach der Verantwortung im Umgang mit Technik wird immer stärker zu einer Frage nach der Gestaltung von Technologiepolitik. 3. Alle Fragen nach Ethik und Technologieentwicklung laufen heute in der universalen Perspektive der Nachhaltigkeit zusammen. Besonders charakteristisch für die Entwicklung der Weltwirtschafts- und Technologiepolitik im letzten Jahrzehnt ist die Biodiversitäts-Konvention. Sie wurde 1992 beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) (s.a. 14. Kap.) angenommen, anläßlich der UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro zur Unterzeichnung ausgelegt. Am 28. Dezember 1993 trat sie in Kraft. Im Zentrum der Biodiversitäts-Konvention stehen drei Anliegen: Planung und Durchführung von Inventarisierungsprogrammen als Grundlage für die Einrichtung zukunftsfähiger Schutzgebiete; Konkretisierung nachhaltiger Nutzungsformen der biologischen Vielfalt; Transfer umweit- und sozialverträglicher Technologien bei gleichzeitiger Kompetenzförderung von Forschung und Technologie in den Entwicklungsländern. Ani aß für das geschilderte Vertragsverfahren war nicht zuletzt die immer weiter ausufernde Bewirtschaftung genetischer Ressourcen durch gentechnische Nutzungsverfahren. Mit der Gentechnik wird es möglich, menschliche Nutzungsabsichten direkt im Erbgut von Organismen festzuschreiben (s.a. 23. Kap.). Damit wird bei der technischen Inanspruchnahme von Naturzusammenhängen eine Eingriffstiefe erreicht, die bei den klassischen Anwendungsverfahren allenfalls als unbeabsichtigte Nebenwirkung im

16

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

Spiel war. Sehr zutreffend schreibt Willy Bierter: „Kernenergie, Großchemie und Gentechnik sind keine Techniken, die angewendet werden, sondern gesellschaftliche Projekte, Vorhaben, die Lebensformen begründen, in denen wir uns bewegen. Damit aber ist die bislang rigide Trennung von Wissenschaft und Technik einerseits, Politik und Kultur andererseits aufgehoben und obsolet geworden. In die konkrete Gestalt wissenschaftlich-technischer Projekte und Produkte geht nicht nur der Stand eines allgemeinen wissenschaftlich-technischen Wissens ein, sondern es sind in ihnen auch kulturspezifische Welt- und Menschenbilder, Zwecksetzungen und auch ästhetische Ideale ihrer Produzenten verkörpert; sie müssen als gesellschaftliche Projekte angesehen werden"1 (s.a. 3. Kap.). Diese Konstellation ist nur wenigen der beteiligten Akteure voll bewußt. Immer noch dominiert ein Selbstverständnis bei Technikern und Ingenieuren, in dem das eigene Tun als überschaubares Handwerk im eigenen Verantwortungsbereich gesehen wird. Dabei hat die Technik längst ihren untergeordneten Charakter als Mittel zum Zweck verloren und ist zum zivilisatorischen Selbstzweck geworden, zum „gesellschaftlichen Projekt", wie Bierter sagt. Wer beispielsweise Gentechnik betreibt, der hat sich für ein System entschieden, das alle Lebensformen auf der Erde betrifft. Hier gibt es letztlich keine räumlichen und zeitlichen Grenzen. Leben wird als veränderbare und umprogrammierbare Ressource in Anspruch genommen, ohne daß über den Ausgang dieses Experiments auch nur von Ferne eine klare und verbindliche Aussage getroffen werden könnte. Im Blick auf die Kernenergienutzung ist es immerhin noch möglich, von Entsorgungsnotwendigkeiten über Jahrhunderttausende zu sprechen und mehr oder weniger glaubhafte Selbstverpflichtungen festzulegen. Aber bei der gentechnischen Veränderung wird es ganz vage, überhaupt das Risiko, die Grenzen und den Zeithorizont zu kennzeichnen. Naturprozeß und Zivilisationsprozeß gehen mittels Gentechnik eine unübersehbare Wechselwirkung ein. Was ist Mittel, was Zweck? Die eingangs genannte Biodiversitäts-Konvention ist ein erster und höchst unsicherer Versuch, hier zu einer Leitschiene der Verantwortung und der internationalen Orientierung zu kommen. Undhier wird der neue Maßstab der Nachhaltigkeit besonders relevant. Die Schwierigkeiten bei

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

17

der Konkretisierung dieses Vertragswerkes beruhen nicht nur auf der Vielfalt politischer und gesellschaftlicher Interessen im Spannungsfeld zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern, sondern vor allem auch auf der Unklarheit, was bei der gentechnischen Umgestaltung des irdischen oikos überhaupt Weg und Ziel sein soll. Die Apologeten der Gentechnik machen es sich allzu leicht, wenn sie behaupten, mit der Gentechnik setze der neuzeitliche Mensch die Evolution einfach nur fort, hier werde die Evolution mit ihren eigenen Mitteln und Mechanismen vorangetrieben. Nun darf man diesen Strang der biotechnologischen Entwicklung nicht zu isoliert betrachten. Er wird sich in Zukunft auf vielfältige Weise mit den Entwicklungen auf dem Feld der Informationstechnologien vernetzen, was die angesprochenen Probleme eher noch vertiefen dürfte. Zum anderen dürfen die bis heute erreichten „klassischen" Technologieanwendungen und ihre Folgen nicht übersehen werden. Sie haben weitgreifende Belastungen und Zerstörungen im sozialen und ökologischen Bereich hervorgerufen. Besonders brisant sind die „Sprungkurven" der technisch-industriellen Entwicklung, in denen sich die ganze Ambivalenz des neuzeitlichen Fortschritts spiegelt. Solche Sprungkurven ergeben sich: für den Verbrauch stofflicher Ressourcen, für den Verbrauch fossiler Energieträger, für die Produktion und Konsumption von Gütern, für die Expansion und Nutzung von Dienstleistungen, aber eben auch: für das Bevölkerungswachstum, für die Belastung der Luft, der Gewässer und des Bodens mit Schadstoffen, für die Vernichtung von Pflanzen- und Tierarten, fur das Anwachsen von Gefahrdungspotentialen durchriskanteGroßtechnologien. Wie beide Aspekte - Produktionssteigerung und Belastungssteigerung - sich wechselseitig beeinflussen, läßt sich am Beispiel der CO2- bzw. Klimakurve unmittelbar verdeutlichen (Abb. 1 im Anhang). Würde die CCVKonzentration im Sinne eines der drei skizzierten Kurvenverläufe zukünftig ansteigen, wären die Folgen katastrophal. Dann würden die Eiskappen an den Polen abschmelzen, Küstenländer überflutet und dicht besiedeltes Kulturland durch

18

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

Wüstenbildung und Versteppungsprozesse zerstört werden. Alles in allem wäre im Gefolge dieser Entwicklungen mit weitgreifenden Wanderungsbewegungen in der einen Weltmenschheit zu rechnen. Ungeachtet dieser Gefahrenhorizonte setzen heute viele Verantwortungsträger immer noch auf die Aussicht, daß ein durch Wissenschaft und Technik angekurbeltes Wachstum von 3,S % die Warenströme und den Konsum bis 2012 noch einmal verdoppeln wird. Verständlicherweise ist das auch die Hoffnungsperspektive all der Länder in der Zweiten und Dritten Welt, die die Schwelle zum Industrieland überschreiten und sich an den klassischen Wachstumsleitbildern orientieren. Die Voraussetzung für eine wirkliche Neuorientierung der menschlichen Fortschrittsverantwortung steht und fällt mit der Erkenntnis, daß wir uns - menschheitlich - mit diesem Wachstumsmodell in einer tiefen Strukturkrise befinden und den bisherigen Weg nicht fortsetzen können. Rolf Kreibich hat die Aufgabe, vor die sich Wissenschaft und Technologie heute gestellt sehen, so umschrieben: „Einerseits müssen wir die Entfaltung von Wissenschaft und Technik forcieren, weil ein Leben und Überleben unserer Zivilisation ohne diese innovative Denk- und Handlungsmethode schlichtweg nicht vorstellbar und unsere Existenz und Weiterentwicklung über Generationen in vielfältiger Weise mit der Nutzung von Wissenschaft und Technik vorprogammiert ist. Andererseits stehen wir vor der Notwendigkeit ihrer unbedingten Beherrschung, weil alle Erkenntnisse und bekannten Wahrscheinlichkeiten negativer sozialer und ökologischer Folgewirkungen der wirtschaftlichen und militärischen Techniknutzung dafür sprechen, daß wir uns ohne Umsteuerung in die Katastrophe manövrieren. Die Frage nach der Förderung und Beherrschung von Wissenschaft und Technik fordert deshalb Ethik, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gleichermaßen heraus" 2 Blickt man auf die Diskussion des letzten Jahrzehnts zurück, so kann man sagen, daß diese Herausforderung zumindest in Ansätzen angenommen worden ist. Die Auseinandersetzung um die Wachstumsgrenzen und speziell um die Belastungsgrenzen von Natur- und Sozialsystemen hat dazu geführt, daß Kriterien für sozial- und naturverträgliche Technologien und darauf basierende Produktionsverfahren erprobt wurden:

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

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Bisher. Keine Rücksicht auf knappe natürliche Vorräte. Jetzt. Sparsamste Ressourcennutzung bei größtmöglicher Wiederverwendung und bei Verwendung erneuerbarer Naturvorräte. Bisher : Keine Rücksichtnahme auf ökologische Gleichgewichte. Jetzt. Kleinstmögliche und sorgfaltig erwogene Eingriffe in ökologische Gleichgewichte. Bisher. Technischer Fortschritt im Dienste wirtschaftlicher und materieller Interessen. Jetzt. Technischer Fortschritt im Dienste von Mensch und Natur bei hartnäckiger Prüfung der Konsequenzen für Umwelt, Mitwelt und Nachwelt. Bisher: Schonungslose Großtechnologien. Jetzt: In soziale und ökologische Zusammenhänge hineinkonzipierte Netze von Mittel- und Kleintechnologien. Bisher: Schonungsloser Raubbau an Atmosphäre und Weltmeeren. Jetzt: Verantwortliche Nutzung des einen irdischen Lebensraumes. Bisher: Vollindustrialisierung der Landwirtschaft. Jetzt: Landwirtschaft als Nabelschnur von Mensch und Gesellschaft zur Natur. Bisher: Vernachlässigung der Interessen der Schwachen, insbesondere in den Entwicklungsländern und Ignorierung der Interessen der stummen Natur. Jetzt: Berücksichtigung der Unterpriviligierten im Gefalle zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern und menschliche Anwaltschaft zugunsten der Natur. Mit diesem Konzept alternativer Technologien war eine Vertiefung und Erweiterung des ethischen Bewußtseins verbunden. Der gesellschaftliche Diskurs über die Grenzen des technisch-industriellen Fortschritts führte zur Entdeckung eines erweiterten Verantwortungshorizonts (s.a. 2.,3. u. 12. Kap.). Bei der Suche nach den Überlebensgaranten geht es heute um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gemeinsamen Überlebens von Mensch und Natur. Das ethische Kalkül weitete sich über die herkömmliche sozialethische Dimension hinaus in die Bereiche der Weltgesellschaft und der kommenden Generationen. Mehr noch, der Eigenwert nichtmenschlicher Lebenssysteme wurde neu entdeckt. Dem anthropozentrischen Denkansatz - Schutz der irdschen Lebenswelt um des Menschen willen - trat der biozentrische Ansatz - Schutz der Lebenswelt um ihrer selbst willen - gegenüber.

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/. Kap.: Ethik und TechnologieentwickUing heute

Hinter diesem Gegensatz stehen tiefgehende paradigmatische Unterschiede. Inzwischen ist ersichtlich, daß die beiden Begründungsansätze nur unter engem Wechselbezug aufeinander fruchtbar gemacht werden können. Die soziale Verantwortung ist erst unter Einbeziehung der Ökologiefrage zu Ende gedacht. Andererseits muß eine umfassende Öko-Ethik den Menschen in seinen spezifisch kulturellen und zivilisatorischen Bedürfnissen berücksichtigen und in die von ihr zu entwickelnde Bedürfiiispyramide einbauen, die ihrerseits nur das Ergebnis menschlichen Nachdenkens und Einfuhlens sein kann. Es geht um neue Formen vernetzten Denkens und Handelns, in denen die sozialen und ökologischen Bedürfnisse beieinander gehalten werden. Im Spannungsfeld zwischen dem anthropozentrischen und dem biozentrischen Standpunkt geht es um vier generelle Maßstäbe für die zukünftige Rolle von Wissenschaft und Technologie: Soziale Verträglichkeit

*

internationale Verträglichkeit

y

generative Verträglichkeit

*

ökologische Verträglichkeit

v

= Zukunftsfähigkeit

Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß sich diese ethischen Perspektiven im Denken problembewußter Gruppen (Ökoinitiativen, Dritte-Welt-Gruppen, Wissenschaftlerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen ...), aber auch in der nationalen und internatiolen Politik durchzusetzen beginnen. Mit dem Erdgipfel von 1992 in Rio de Janeiro war ein Anfang gemacht, der sich über mehr oder weniger erfolgreiche internationale Konferenzen (z.B. Klimakonferenz in Berlin 1994 und in Genf 1996) bis heute fortsetzt. Die schon hervorgehobene Biodiversitäts-Konvention von 1992/93 stellt einen besonders markanten Schritt in dieser Hinsicht dar. Wichtig für die Klärung jener neuen Perspektive einer globalen Überlebensverantwortung ist aber auch die Leitperspektive „nachhaltige Entwicklung". Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus dem Brundtland-Bericht (1987), er zieht gewissermaßen die Konsequenz aus der durch die Berichte des Club of Rome seit 1972 angestoßenen Wachstumsdiskussion. Nachhaltig kann eine Wirtschaftsweise genannt werden, bei der

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

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die Natur als Lebens- und Produktionsgrundlage langfristig in ihrer Quantität und Qualität fur alle Menschen erhalten bleibt. Der Begriff der Nachhaltigkeit beinhaltet keine direkte Lösungsperspektive. Er problematisiert die ungehemmte und immer schneller laufende technologische Ausbeutung der irdischen Natur auf Kosten kommender Generationen. Und er verpflichtet das Mensch-Natur-Ausbeutungsgefälle auf symbiotische Koproduktion. Dabei laufen zwei verschiedene Fürsorgehorizonte miteinander: 1. Wenn ich bei der Bewirtschaftung von Natur die Natur in ihren Regenerationspotentialen achte, ist am ehesten für die Menschen, insbesondere auch für die kommenden Generationen gesorgt. 2. Wenn mir das Wohl und Wehe aller Menschen und auch der kommenden Generationen am Herzen liegt, dann kann ich nur mit und nicht gegen die Erneuerungspotentiale der Natur arbeiten (s.a. 2. Kap.). Hier werden soziale und ökologische Verträglichkeit wie in einem Atemzug aufeinander verpflichtet. Welch ein Programm! Aber auch: Welch eine Unmöglichkeit angesichts der immer noch geltenden Fortschritts- und Zerstörungszwänge! Mensch und Natur - das ist die neue ethische Perspektive - haben jeweils ihren unermeßlichen Eigenwert, aber die Bedeutung der beiden Dimensionen wird erst dort zu einer befreienden Realität, wo Menschen- und Kreaturwürde sich aufeinander verpflichten lassen. Der Begriff der Nachhaltigkeit hat trotz seines hohen Abstraktionsgrades und trotz der in ihm zum Ausdruck kommenden Bipoiarität im Blick auf die technologische Inanspruchnahme von Natur unmittelbar anregend und praxisverändernd gewirkt. Aus der allgemeinen Diskussion über Nachhaltigkeit schälen sich vier Grundregeln heraus: 1. Nichtemeuerbare Ressourcen sollen nur in dem Maße benutzt werden, in dem ein gleichwertiger Ersatz durch erneuerbare Ressourcen geschaffen wird. 2. Die Nutzungsrate emeuerbarer Ressourcen soll deren Regenerationsrate nicht übersteigen. 3. Die Emissionen von Schadstoffen sollen die Aufhahmeknpazität der Umwelt nicht übersteigen; die Stoffeintrüge sollen die Belastbarkeit des Ökosystems nicht überschreiten. 4. Das Zeitmaß technisch bedingter Eingriffe in die Umwelt muß in einem ausgewogenen Verhältnis zu der Zeitlichkeit natürlicher Zyklen und Prozesse stehen.

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l. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

Diese vier Grundregeln der Nachhaltigkeit (= Zukunftsfähigkeit) sind Ausdruck des vernetzten Denkens, wie es Grundlage der hier zur Diskussion stehenden globalen Überlebensverantwortung ist. Gleichzeitig sind diese Grundregeln - wie auch der sie bedingende Leitbegriff „Nachhaltigkeit" - wertgeladen. Sie implizieren einen Pflichtenkatalog zu mehr Natur- und Sozialverträglichkeit, der in sehr verschiedenen Anwendungsfeldern hinein zu konkretisieren ist. Nachhaltigkeit impliziert die Verpflichtung zu mehr Konsistenz zwischen Natur- und Sozialsystem, vermittelt durch Technik und Wirtschaft, aber eben auch zu mehr sozialer Konsistenz zwischen den immer stärker auseinanderdriftenden Ländern des reichen Nordens und des armen Südens. Dabei kann die gegenwärtige Internationalisierung und Liberalisierung des Marktgeschehens keineswegs als günstige Voraussetzung gelten. Nachhaltigkeit impliziert eine radikale Einsparung von stofflichen und energetischen Ressourcen sowie die Nutzung von direkter und indirekter

Sonnenenergie

(nachwachsende Rohstoffe). Diese Perspektive einer wissenschaftlich-technischen Effizienzrevolution ist insbesondere auf dem Gebiet der Energienutzung weitgehend vorgedacht, ihrer Realisierung stehen freilich kurzfristig angelegte Renditeinteressen entgegen. Nachhaltigkeit impliziert ferner neue grenzenbewußte Lebensstile und Wohlstandsorientierungen, die im krassen Widerspruch zur Habenmentalität gegenwärtiger Konsummuster stehen. Die hier hervorgehobenen Konsistenz-, Effizienz- und Suffizienzverpflichtungen benötigen zu ihrer Realisierung einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, in dem Eigenverantwortung und Selbstorganisation einen breiten Raum einnehmen müßten. Es ist auch vor der Hand deutlich, daß die mit dem Leitbild der Nachhaltigkeit einhergehende ethische Sensibilisierung fern von jeder Technik- und Wissenschaftsfeindlichkeit ist. Sie fordert aber zu wissenschaftlich-technischen Standards heraus, die der Komplexität und Zeitlichkeit organismischer und sozialer Prozesse mehr gerecht werden als die klassischen Formen der technologischen Ausbeutung von Natur (vgl. Abb. 2 im Anhang).

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

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Es geht im Letzten um eine neue Systemlogik, in der die Nichtlinearität und Irreversibilität natürlicher und gesellschaftlicher Prozesse anerkannt und in entsprechende Kooperationsmuster einer offenen Systemlogik umgesetzt wären. Also nicht globales Ökomanagement, sondern Symbiose und Syntropie im Sinne von Teilhabe am Evolutionsgeschehen selber. Die ethische Wende der Nachhaltigkeit fuhrt so gesehen Uber das klassische Nacheinander von Technikentwicklung und Ethik in dem Sinne hinaus, daß sie einen erkennntnistheoretischen Umbruch impliziert, der mit der Bildung von Erkenntnis- und Praxisansatzen einhergeht, bei denen die Frage nach der Ethikrelevanz immer schon von Anfang an mit gestellt ist. Aber wer wird diesen Weg mitgehen wollen, wenn man schon im Vorfeld dieser Fragen, etwa im Bereich der Lebensstilumorientierung auf erhebliche Zurückhaltung stößt!? Als eindeutig promateriell eingestellt erweisen sich nach einer Studie von Scherhorn rund 25 % der deutschen Bevölkerung. Eine ausgeprägt postmaterielle Werthaltung ist dagegen bei etwa 20 % feststellbar. Zwischen diesen beiden Polen befinden sich zwei Gruppierungen mit Sowohl-als-auch-Haltungen: Eine Gruppe von etwa 30 % teilsensibilisierter Wohlstandsbürger, die sozial- und umweltverträgliche Werte bejahen, aber an hohen materiellen Ansprüchen festhalten, und eine etwa 20 % umfassende Gruppe von Bürgern, die durch ihre äußeren Lebensbedingungen an geringe Ansprüche angepaßt worden sind, zugleich aber nur wenig Bereitschaft zu Sozial- und Naturverträglichkeit zeigen. Beide Gruppen sind, jede auf ihre Weise, ambivalent und unentschlossen3. Im Blick auf die Möglichkeit eines weitergreifenden Stimmungsumschwungs zugunsten postmaterieller Werthaltungen (Suffizienz) sind sehr verschiedene Aspekte erwogen worden. Im Sinne einer mehr vordergründigen Motivationsanalyse wird immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, die postmaterielle Lebensstilorientierung frei von jeder Verzichtsmentalität als Zugewinn mit aufweisbaren Sanierungs- und Erfolgserfahrungen einzuüben. Energieeinsparung ohne sichtbare Klimaverbesserung sei eben kontraproduktiv. So wichtig dieses Feld der Motivationsverbesserung ist, so wird auch hierbei meist übersehen, daß die Unbilligkeit bei der Lebensstilveränderung

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1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

und bei der generellen Orientierung auf Nachhaltigkeit mit Hemmungen zusammenhängt, die im Unterbewußtsein wurzeln. Im Zusammenhang von Ethik und Technikentwicklung muß diese tieferliegende Schicht aufgeschlossen werden. Erich Fromm hat in seinen Büchern immer wieder die Habenmentalität der konsumorientierten Massengesellschaft als unbewußte Todesliebe (Nekrophilie) charakterisiert, bei der die Unersättlichkeit des marktwirtschaftlichen und konsumatorischen An-sich-Reißens in der Gestalt der Wohlstandsfalle zur Selbstzerstörung fuhrt. H. E. Richter konnte schon vor Jahrzehnten vom „Gotteskomplex" des neuzeitlichen Bewußtseins sprechen. Er hat damit die Selbstsicherungszwänge des modernen, fortschrittsorientierten Menschen als tödliche Selbstisolierung enthüllt. Al Gore, Vizepräsident der Vereinigten Staaten, schrieb vor einigen Jahren in seinem Buch „Wege zum Gleichgewicht": „Wir schließen das Selbst als die Einheit von ethischem Wert in einen Schrein, getrennt nicht bloß von der Natur, sondern auch von jedem Gefühl der Verpflichtung gegenüber anderen - und nicht bloß anderen in künftigen Generationen, sondern zunehmend auch anderen in unserer eigenen Generation; und nicht bloß denen in fernen Ländern, sondern mehr und mehr auch denen in unseren eigenen Städten. Wir tun dies nicht, weil wir gleichgültig sind, sondern weil wir in unserem Leben nicht wirklich leben"4. Wir leben nicht richtig, - das ist das entscheidende Stichwort fur eine ethische Bewußtseinsvertiefung, ohne die die Wende zur Nachhaltigkeit bei der Gestaltung von Technik vergeblich bleiben muß. Was würde geschehen, wenn wir es wagten, zu leben und uns - als Voraussetzung für dieses Leben - zum Mitmenschen und zur Mitkreatur öffneten? Unter der Voraussetzung dieser Wende würde die anthropozentrische Selbstabkapselung rissig werden und zerbrechen. Aber dieser Augenblick des Erschreckens wäre zugleich der Augenblick der Befreiung und der Rettung. Denn nun würde das befürchtete Grundloswerden der menschlichen Existenz durch die sich entfaltende Vernetzung mit sozialen und ökologischen Kontexten aufgefangen und ins Gegenteil, in die Dauerhaftigkeit von Lebensprozessen verwandelt werden. Bei der Charakterisierung des Nachhaltigkeitskonzepts fehlt es nicht an Pflichtenkatalogen für Technik, Wirtschaft und Konsum. Sie sind inzwischen - angefangen mit den

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

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Berichten des Club of Rome bis hin zu den aktuellen Nachhaltigkeitsstudien - Legion. So verführerisch diese Kataloge auch sein mögen, eben weil sie als die „besseren" Konzepte ein Befreiungsangebot enthalten, so könnte das alles auch in einer frustierenden Vergeblichkeit enden, wie sie heute schon von vielen erfolglos kämpfenden Umweltgruppen vorweggenommen wird. Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure, Ökonomen, Politiker und Bürger werden sich wohl nur dann dem neuen ökologischen Imperativ der Nachhaltigkeit öffnen, wenn die tieferliegenden Bedingungen der Möglichkeit für diese Wende freigelegt werden. Bis in diese Tiefendimension muß die ethische Aufarbeitung der ökologischen Krise schon reichen. Grundsätzlich müßte jede Ethik, die den Menschen in seiner unausrottbaren Sucht zum Eigennutz stellt und herausfordert, zu dieser Aufklärungs- und Befreiungsarbeit in der Lage sein. Für unseren Zusammenhang legt es sich besonders nahe, auf Albert Schweitzer und seine Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben als einer zentralen Möglichkeit der Selbstkorrektur zu verweisen. Schweitzer ist ein undogmatischer Denker, der über weltanschauliche Grenzen hinweg mit der anthropozentrischen Fixierung des abendländischen Humanismus gebrochen hat. In direkter Konfrontation mit dem Subjekt-Objekt-Dualismus der neuzeitlichen Naturauffassung, wie sie auf den Philosophen René Descartes zurückgeht, formuliert er: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will". Ohne die fundamentale Bedeutung dieses Satzes hier entfalten zu können, wird doch vor der Hand deutlich, daß Schweitzer dazu anleitet, die Selbstisolierung des neuzeitlichen Bewußtseins aufzugeben und im Sinne der Nachhaltigkeit mitmenschlich und mitkreatürlich zu denken. Was eine solche Bewußtseinswende für das Hineingeordnetsein des Menschen in soziale und ökologische Zusammenhänge bedeutet, hat Schweitzer in seiner Kulturphilosophie 5 theoretisch und in seiner Auseinandersetzung mit der Atomtestproblematik praktisch sichtbar gemacht. Dabei ist es von fundamentaler Bedeutung, daß Schweitzer nicht mit einem Imperativ, sondern mit einer Anleitung zur Bewußtseinsvertiefung - Eröffnung von Ehrfurcht - beginnt, um daraus Handlungsorientierung abzuleiten, die dem Muster der Konkurrenz und dem tödlichen

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1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

Autismus neuzeitlicher Fortschrittseuphorie entgegenarbeiten. Diese durch Schweitzer eröffnete Wende darf nicht zu innerlich interpretiert werden. Sie betrifft über die Neuorientierung des einzelnen Bewußtseins hinaus die Veränderung aller technikbedingten Bewirtschaftungsformen von Mensch und Natur ebenso wie die grundlegenden Werteund Rechtssysteme, die menschliche Gesellschaften konstituieren (Vgl. Abb. 3 im Anhang). Das Thema „Ethik und Technikentwicklung" wird vielfach als Anleitung zum rechten Umgang mit eigenständig entwickelter Technik verstanden. Aber mit einer solchen „kleinen" Anwendungsethik bliebe man weit hinter dem Anspruch des Themas zurück. Es kommt vielmehr darauf an, in der ökologischen Krise den unmittelbaren Zusammenhang von Ethik und Technik neu zu entdecken, der dort beginnt, wo sich der zur Technik befähigte Mensch den Möglichkeiten und Grenzen seines Handelns durch die Entwicklung von veränderten Nutzungsmöglichkeiten zu stellen beginnt. In diesem Sinne ist die ökologische Krise und die durch sie provozierte Perspektive der Nachhaltigkeit eine Ursprungsstunde, in der sich ethische Begründung und technisches Kalkül neu miteinander auf den Weg machen können. Freilich darf man den Bezug zwischen Technik und Ethik nicht zu isoliert sehen. Die heute sichtbar werdenden Wege eines alternativen Technikkonzeptes unter dem Vorzeichen von Nachhaltigkeit sind das Ergebnis einer lang laufenden öffentlichen Diskussion. Hieran waren viele Gruppen beteiligt: Bürgerinitiativen, Naturschutz- und Umweltschutzverbände, Wissenschaftler- und Technikergruppen, Nichtregierungsorganisationen, Initiativen für die Lösung unterschiedlicher sozialer entwicklungspolitischer und ökologischer Probleme. Sie alle erkannten: Ich bin Leben, das leben will, inmitten ... Im magischen Dreieck der zukunftsfähigen Entwicklung kann noch einmal die ganze Vielschichtigkeit und Weite der Probleme, aber auch die Vielfalt der involvierten Gesprächspartner deutlich werden (Abb. 4 im Anhang). Ethik als Herausforderung von Technik in der ökologischen Krise kann immer nur öffentliche Diskursethik sein. Hier gibt es kein Lösungsmonopol. Die Vielfalt der Wechselwirkungen muß sich notwendig auch in der Vielfalt der Gesprächspartner und der von ihnen anvisierten Lösungsmöglichkeiten spiegeln, wobei die einen direkt für

1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

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sich und die anderen in Stellvertretung für andere argumentieren. Orientiert an den vier Maßstäben der Verträglichkeit (sozial, international, generativ, ökologisch) muß Technikentwicklung immer im Blick auf Wirkungen und Folgen (beabsichtigt und unbeabsichtigt) geprüft und unter der Voraussetzung einer Gesamtsystembetrachtung (Nachhaltigkeit) gewichtet werden. Nur so können die Auswirkungen von Technikentwicklungen auf die komplexen Systeme des irdischen oikos zumindest in Annäherung geklärt werden. Nach wie vor wird dem betroffenen Bürger bei seiner Teilnahme an solchen Abwägungs- und Prüfverfahren Inkompetenz unterstellt. Dabei ist es längst bekannt, daß die wissenschaftlichen und technischen Fachleute ihre besondere Schwäche darin haben, daß sie von immer weniger immer mehr wissen und in begrenzten Systemen denken. Und sie beraten die aufs Gemeinwohl verpflichteten politischen Entscheidungsträger. Das kann nicht gutgehen. Bei dieser Konstellation wird es unumgänglich, diejenigen, die als Bürger biographische, soziale, gesellschaftliche, kulturelle und ökologische Kontexte repräsentieren, in den Entscheidungsprozeß mit einzubeziehen. Und im Blick auf ethische Begründungen gibt es ohnehin kein Meinungsmonopol. Nachweislich sind Nichtexperten in besonderer Weise befähigt, außersystemare Risikofaktoren und menschliches Versagen als Schwachstellen technischer Systeme zu indizieren (s.a. 7. u. 8. Kap.). Der demokratische Rechtsstaat ist die beste Voraussetzung für die Ausbildung diskursiver Prüfprozesse. Die westlichen Demokratien haben im Laufe ihrer Geschichte sehr verschiedene Muster der öffentlichen Mitsprache (von der Volksabstimmung bis zum Anhörungsrecht) entwickelt. Einen besonderen Fortschritt stellt es dar, daß auf internationalen Konferenzen den Nichtregierungsorganisationen ein wachsendes Maß an Mitsprache zugestanden wird. Welchem dieser Modelle man auch folgen wird, entscheidend fur den Diskurs über Ethik und Technikentwicklung sind drei Grundregeln: 1. Jeder mit nachvollziehbarer Folgerichtigkeit begründete Standpunkt muß zum Diskurs zugelassen sein. 2. Zum Diskurs gehört die Bereitschaft, sich zumindest probeweise auf den Standpunkt des

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1. Kap.: Ethik

und Technologieentwicklung

heute

Kontrahenten zu stellen und dabei die eigene Position vorübergehend zu relativieren und zu prüfen. 3. Der Diskurs fördert sowohl das, was kontrovers bleibt, als auch das, was verhandelbar ist, zutage und stellt somit eine wichtige Entscheidungsvorbereitung dar. Ethik und Technikentwicklung sind so gesehen Ausdruck einer demokratischen Diskurskultur, bei der die Meinung vieler einzelner und sehr verschiedener Interessenträger in soziale und ökologische Abstimmungsmuster transponiert wird. Anmerkungen 1

Biester (1989), S. 5. Kreibich (1996), S. 3. 3 Scherhorn (1994), S. 186-198. 4 Gore (1992), S. 242. 2

Die Abbildung zeigt den CO,-Gehalt der Atmosphäre in den letzten 100 Millionen Jahren sowie eine Hochrechnung für die nächsten 300 Jahre. Die Annahme der CO,-Konzentration zwischen 100 und I Million Jahren v. Chr. wird auf die Einbindung von CO, durch Photosynthèse in Pflanzen mit anschließender Ablagerung als (Braun-)Kohle zurückgeführt (aus Science. 2. Mai 1986. S. 573).

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1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

Abbildung 2

Kreis laufwirtschaft Zentrale Innovationsfelder

+

Produktinnovationen

+

Prozeß- und Verfahrensinnovationen

+

Neue Konstruktions- und Demontagesysteme

+

Neue Logistik-Modelle (Planung, Organisation, Steuerung, Verteilung)

+

Neue Werkstoffe und Produktionshilfsstoffe

+

Stoffstrommanagement (System- und Softwareentwicklung)

+

Neue Organisationsstrukturen (inner- und überbetrieblich)

+

Ökobilanzen und Produktlinienanalysen

+

Neue Meß- und Kontrolltechniken

+

Spezifische Informations- und Kommunikationstechnologien (Hard- und Software-Entwicklungen)

+

Transportinnovationen

+

Mikro- und Nanosystemtechnik

+

Sensorik

+

Bionische Innovationen (Naturstoffe, Funktionsprinzipien, Strukturen)

IZT

+

Rationelle und regenerative Energietechniken

+

Innovative Marketing-Strategien (für neue Produkte und Werkstoffe)

+

Neue Qualifizierungs- und Ausbildungsstrukturen

WÉká

BERLIN

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1. Kap.: Ethik und Technologieentwicklung heute

Abbildung 3

Vernetzung "N«tur»y*tem" und " H u m a n s y s t e m Q u e l l e /Bossel 1995/

Abbildung 4

DAS „MAGISCHE DREIECK" ZUKUNFTSFÄHIGER ENTWICKLUNG Schutz der Ökosphäre • Erhaltung der Pufferkapazitiiten der Natur • nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen • minimale Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen • Erhaltuna einer lebenswerten Umwelt

Zukunftsfahige Entwicklung Stabile wirtschaftliche Kntwicklunfj • Zunahme tier Lebensqualität • hoher Beschäftigungsgrad • Preismveuustabilitüi • außenwirtschaftliches Gleichgewicht

Gerechte Verteilung der Lehenschancen • zwischen den Individuen u. sozialen Gruppen • zw ischen ..Nord" und ..Süd" • zwischen ..Ost" und ..West" • zw ischen den Generationen

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

31

2. Kapitel Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen Peter Saladin und Myriam

Grütter

Einleitung Technikfolgenabschätzung (TA) ist ein Versuch, in die Zukunft zu blicken - und zwar in eine unbestimmte, unbegrenzte Zukunft. Sie will - und soll - Folgen technischer Entwicklungen nicht nur fur die heute lebenden, sondern auch für künftige Generationen ermitteln. Damit muss uns gerade (aber nicht nur!) im Zusammenhang mit der TA die Frage interessieren, welcher ethische, rechtliche, ökonomische Status den künftigen Generationen zukommt, wie wir uns in ethischer, rechtlicher, ökonomischer und auch kultureller Perspektive zu ihnen stellen sollen. Im Vordergrund stehen dabei gewiss die künftigen Generationen von Menschen; weil aber der Mensch in die belebte (und die unbelebte) Natur eingebettet ist und von ihr abhängt, muss sich unsere Frage auch auf künftige Generationen von Tieren und Pflanzen und anderen Lebewesen erstrecken.

1. Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen; ihre philosophische und theologische Begründung; Folgen fur das Verhalten gegenüber der Natur Technische, ökonomische und sozio-kulturelle Entwicklungen haben uns in die Lage versetzt, die "natürlichen" Grundlagen menschlichen (und aussermenschlichen) Lebens gründlich und nachhaltig zu verändern, also auch zu verschlechtern und zu zerstören. Solche Befähigung zieht, dies unsere Leit-These1, für uns Verantwortung nach sich: die Verpflichtung nämlich, uns nachhaltig so zu verhalten, dass - soweit nicht die "Natur" selbst eingreift - künftige Generationen keine wesentlich schlechteren natürlichen Lebensgrundlagen vorfinden als wir; keine erheblich schlechtere Qualität von Luft, Wasser, Boden, Vegetation, keine wesentlich verringerten natürlichen Ressourcen (Rohstoffe, genetische Vielfalt), keine übermässigen schädlichen Abfälle, keine

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2, Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generaäonen

neuen, schweren, durch menschliches Verhalten erzeugte oder begünstigte Krankheiten. Unsere Leit-These lässt sich philosophisch oder theologisch begründen, und sie ist auch überzeugend begründet worden. Einige ausgewählte Zeugnisse: Hans Jonas spricht von unserer "ontologischen Verantwortung fur die Idee des Menschen, die eine solche ist, dass sie die Anwesenheit ihrer Verkörperungen in der Welt fordert"2, und er leitet hieraus einen neuen kategorischen Imperativ ab: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden". Jonas begründet These und Folgerung metaphysisch, "zum Beispiel" aus der "Schöpfungsordnung": Aus ihr "lässt sich entnehmen, dass nach dem Willen Gottes Menschen in seinem Ebenbilde da sein sollen und dass die ganze Ordnung in ihrer Unverletzlichkeit sein soll".3 Mehrere Theologen haben in den letzten Jahren diesen Gedanken aufgenommen und weiterentwickelt, etwa Günter Altner, Jörg Zink, Gerhard Liedke, Jürgen Moltmann, Christian Link und Hans Ruh4. Der Mensch als "freiestes" Geschöpf auf Erden trägt für die Bewahrung der Schöpfungsordnung Verantwortung; es ist ihm nicht gestattet, die Menschheit oder gar das Leben auf der Erde auszurotten. 1. Mose 1, 28 - vielfach und mit schlimmsten Folgen missverstanden - will den Menschen jene Ordnung nicht zur Ausbeutung oder gar Zerstörung übergeben. Überdies kennt das biblische Liebesgebot keine Begrenzung in der Zeit: Wir haben keinen Grund, unsere Nachkommen von unserer Liebe auszuschliessen. Dieter Birnbacher gründet die von ihm bevorzugte Haltung des "rationalen Universalisten" in der Wertlehre des Hedonismus, also in der Wertvorstellung, "dass unter allen möglichen Zukünñen diejenige Zukunft die beste ist, für die die Differenz zwischen Glück (Lust) und Leiden (Unlust) aller bewussten Wesen über alle zukünftigen Generationen maximal ist"5; diese Wertlehre erscheint ihm als die plausibelste. Ina Praetorius setzt die Orientierung am "guten Überleben aller" an den Anfang ihrer ethischen Überlegungen. Sie gibt dafür keine Begründung: "Es ist tatsächlich so, dass ich keinen 'rationalen' Grund dafür anfuhren kann, dass ich das Überleben der Menschheit will. Ich kann genausogut wollen, dass alles untergeht." In letzterem Fall erübrigt sich jedoch ein ethisches Nachdenken.6

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

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Gewiss: Man kann anders denken, und viele denken offensichtlich anders, weisen jedes Stück Verantwortung für Künftige von sich. Auch in der philosophischen Diskussion haben sich derartige Stimmen erhoben7. Aber wir folgen den zitierten Autoren, vor allem H. Jonas und den Theologen: Wir haben die apriorische Überzeugung, dass wir nicht berechtigt sind, unseren Nachkommen eine schlechtere und ärmere natürliche Mitwelt zu hinterlassen, als wir selbst sie vorgefunden haben. Gefordert ist damit vor allem ein haushälterischer Umgang mit der Natur, dank der wir leben, eine respektvolle Haltung auch der Natur gegenüber. Diese Haltung kann aber bekanntlich in unserer westlichen Gesellschaft keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden: Zu lange wurde der Primat des Geistes über die Materie betont, zu lange wurden Beherrschung, Unterwerfung und Ausbeutung der Natur (und anderer Menschen) als Ideal hochgehalten. Eine Neubewertung der Natur ist deshalb nötig; sie ist aber mit Schwierigkeiten verbunden. Eine feministische Ethik weist auf eine solche Schwierigkeit hin: Werte wie "Fürsorge, Mitleid, Zuwendung, Pflege", aber auch "haushälterischer Umgang", werden in unseren gegenwärtigen westlichen Gesellschaften auf der symbolischen Ebene als "weiblich" verortet (als "mütterliches Denken" etwa). Da das "Weibliche" aber in dieser Gesellschaft als "das andere" und auch "das mindere" gilt, wird es schwierig sein, die aufgezählten Eigenschaften allgemein positiv zu besetzen. Solange "das Weibliche" als allenfalls für den privaten und häuslichen Bereich tauglich belächelt wird, werden auch die dem "Weiblichen" zugeschriebenen Eigenschaften für viele Entscheidungsträger (und wenige Entscheidungsträgerinnen) in Wirtschaft und Politik, welche sich an Kontrolle, Konkurrenzfähigkeit, Eroberung orientieren, nicht als wählbare Alternative einer "moralischen Perspektive"8 erscheinen. Es bedarf eines gesellschaftlichen Prozesses, um die Delegation der genannten Eigenschaften an Frauen (wenn möglich noch an ihre "Natur") zu überwinden und sie für alle, Männer oder Frauen, erstrebenswert werden zu lassen.

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2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

2. Der heutige rechtliche Status künftiger Generationen: Grundsätzliches Bis vor kurzem waren künftige Generationen für das Recht - mit wenigen Ausnahmen - kein Thema; die Überzeugung dominierte, jede Generation könne und solle ihre Probleme selber, in eigener Verantwortung lösen. Diese Überzeugung hat in den letzten Jahrzehnten (spätestens), wie bemerkt, ihren Grund verloren. Entsprechend werden künftige Generationen seit etwa 25 Jahren mehr und mehr zu Adressaten rechtlicher Normen, zunächst im internationalen, dann auch in nationalen Recht. Einige wenige Hinweise müssen hier genügen:

Internationales Recht Die Verpflichtung zur Bewahrung der Umwelt zugunsten künftiger Generationen wurde 1972 in Stockholm in die Deklaration der UNO-Umweltkonferenz aufgenommen (Prinzipien 1 und 2). Das ältere Konzept des "gemeinsamen Erbes der Menschheit" ("common heritage of mankind") hatte den Boden zur Erfassung gewisser Elemente der Natur (und später auch der Kultur) als "der Menschheit als Ganze gehörend" gelegt; es erfuhr nun eine Erweiterung um einen zeitlichen Aspekt mit künftigen Generationen als Interessenträgerinnen. In der Folge wurden die künftigen Generationen in verschiedenen internationalen Dokumenten erwähnt, so etwa im Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen (Washington, 1973) oder im Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume (Bern, 1979).9 1987 forderte der Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung ("Brundtland-Bericht")10

das

weltweite

Einleiten

einer

"dauerhaften"

(oder

"nachhaltigen") Entwicklung. Er umschrieb diese als "Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können"11. In der durch diesen Bericht ausgelösten internationalen Debatte rund um das Prinzip der Nachhaltigkeit rückten die Interessen künftiger Generationen vermehrt ins Blickfeld. Ihre Wahrung bildete denn auch - zusammen mit anderen Anliegen - den Antrieb zur Verabschiedung der Verträge des

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

3 5

Umweltgipfels von Rio, d.h. der Biodiversitäts- und der Klimakonvention12: Die Vertragsstaaten geben sich entschlossen, "das Klimasystem fur heutige und künftige Generationen zu schützen"13 und "die biologische Vielfalt zum Nutzen heutiger und künftiger Generationen zu erhalten und nachhaltig zu nutzen"14. Im Anschluss an die Umweltgipfelkonferenz von Rio obliegt es nun der Staatengemeinschaft und den einzelnen Staaten, Programme fur die Umsetzung des Prinzips der Nachhaltigkeit zu entwickeln.

Nationales Recht Schon früh hat Bayern die Berücksichtigung künftiger Generationen in seine Verfassung aufgenommen; wirfindensie seit 1946 in der Präambel und seit 1984 auch in Art. 141, welcher bestimmt : "Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist, auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen, der besonderen Fürsorge jedes einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft anvertraut. Mit Naturgütern ist schonend und sparsam umzugehen. (..)" Neueren Datums (1994) ist die Staatszielbestimmung Umweltschutz im deutschen Grundgesetz, Art. 20a: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmässigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Massgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung."15 Auch Verfassungen neuer deutscher Bundesländer haben sich die Rücksichtnahme auf künftige Generationen zu eigen gemacht, so Thüringen (Präambel), Sachsen-Anhalt (Art. 27 und 35), Brandenburg (Art. 39 und 40), Sachsen (Art. 10) und MecklenburgVorpommern (Präambel, Art. 12 und 15). In der Schweizfindenwir den Begriff der künftigen Generationen in den Verfassungen der Kantone Appenzell Ausserrhoden (Art. 26 und 29) und Bern. Beide Verfassungen

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2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generaäonen

statuieren sowohl Pflichten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger wie auch solche des Staates. So erklärt die Berner Verfassung16 in Art. 8: "Neben der Verantwortung für sich selbst trägt jede Person Verantwortung gegenüber den Mitmenschen sowie Mitverantwortung dafür, dass das Recht zur Selbstbestimmung auch künftigen Generationen gewahrt bleibt." Und weiter in Art. 31 : " 1. Die natürliche Umwelt ist für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten. Sie soll durch staatliche und private Tätigkeiten so wenig wie möglich belastet werden. 2. Die natürlichen Lebensgrundlagen dürfen nur soweit beansprucht werden, als ihre Erneuerungsfähigkeit und ihre Verfügbarkeit weiterhin gewährleistet bleiben." Als aussereuropäisches Beispiel sei die brasilianische Verfassung von 1987 erwähnt. Art. 22 lautet: "Jeder hat das Recht auf eine ökologisch intakte Umwelt, Gemeingut des Volkes und wesentlich für die gesunde Lebensqualität. Sie fur die gegenwärtigen und künftigen Generationen zu schützen und zu erhalten, ist Verpflichtung der öffentlichen Gewalt und der Gemeinschaft." Mehr und mehr nimmt also geltendes Recht ausdrücklich Bezug auf künftige Generationen, es nennt sie als Rechtssubjekte, als Schutz"objekte", als Richtgrösse staatlicher Aufgabenwahrnehmung. Freilich werden künftige Generationen auch von zahlreichen geltenden Rechtsnormen implizit erfasst: Grundrechte schützen nicht nur die heute Lebenden, sondern auch die Späteren - der Staat hat sich schützend vor die Grundrechte dieser wie jener zu stellen17. Staatszielbestimmungen und Staatsaufgaben-Normen sind in ihrem Geltungsanspruch regelmässig in der Zeit nicht beschränkt. Ebensowenig die Umweltschutzgesetzgebung: Sie verlangt - in der Regel aber eben nicht ausdrücklich18 - Schutz auf kurze wie auf lange Sicht. Die Frage ist freilich, ob solche implizite Erfassung staatlichem und privatem Handeln die heute und morgen erforderlichen Impulse zu geben vermag. Ein expliziter Einbezug künftiger Generationen erscheint nach dem Gesagten richtig und auch nötig. Un-

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

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sere Verantwortung gegenüber unseren Nachfahren wird - besonders nach der Umweltkonferzenz in Rio - von der Staatengemeinschaft im grundsätzlichen weitgehend bejaht. Diese Verantwortung wiegt heute so schwer, dass sie - wie jede wichtige zwischenmenschliche Verantwortung - vom Recht ausdrücklich anerkannt und zu rechtlichen Geboten und Verboten, Hinweisen und Anreizen verdichtet werden muss. Zugleich zeigen jene Normen-Beispiele, dass hiefur sehr verschiedenartige rechtliche Instrumente in Frage kommen: Staatszielbestimmungen (auch in Präambeln) und Staatsaufgaben-Normen, aber auch Grundrechte (künftiger Generationen) oder Grundpflichten (der heute Lebenden). Die Vorzüge und die Nachteile dieser verschiedenen Kategorien, ihre jeweilige dogmatische und politische Angemessenheit können hier nicht diskutiert werden; es sei auf die (spärliche) bisherige Literatur verwiesen19.

3. "Inhalt" unserer Verantwortung gegenüber künftigen Generationen Wenn künftigen Generationen Rechte zuerkannt, wenn den heute Lebenden oder den heutigen Staaten und der Völkergemeinschaft entsprechende Pflichten und Aufgaben auferlegt werden: Welchen Inhalt sollen solche Rechte, Pflichten, Aufgaben haben? In einem Seminar an der Universität Bern während des Wintersemesters 1984/85 haben Teilnehmer und Teilnehmerinnen folgenden Katalog zusammengestellt20:

Erklärung der Rechte künftiger Generationen: 1. Künftige Generationen haben ein Recht auf Leben. 2. Künftige Generationen haben ein Recht auf nicht-manipuliertes, d.h. nicht durch Menschen künstlich verändertes menschliches Erbgut. 3. Künftige Generationen haben ein Recht auf eine vielfältige Pflanzen- und Tierwelt, damit auf Leben in einer reichen Natur und auf Wahrung vielfaltiger genetischer Ressourcen. 4. Künftige Generationen haben ein Recht auf gesunde Luft, auf eine intakte Ozonschicht und auf hinreichenden Wärmeaustausch zwischen Erde und Weltraum. 5. Künftige Generationen haben ein Recht auf gesunde und hinreichende Gewässer, besonders auf gesundes und hinreichendes Trinkwasser.

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2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

6. Künftige Generationen haben ein Recht auf einen gesunden undfruchtbarenBoden und auf einen gesunden Wald. 7. Künftige Generationen haben ein Recht auf erhebliche Vorräte an nicht (oder nur sehr langsam) erneuerbaren Rohstoffen und Energieträgern. 8. Künftige Generationen haben das Recht, keine Erzeugnisse und Abfälle früherer Generationen vorfinden zu müssen, welche ihre Gesundheit bedrohen oder einen übermässigen Bewachungs- und Bewirtschaftungsaufwand erfordern.21 9. Künftige Generationen haben ein Recht auf "kulturelle Erbschaft", d.h. auf Begegnung mit der von früheren Generationen geschaffenen Kultur.23 10. Künftige Generationen haben allgemein ein Recht aufphysische Lebensbedingungen, die ihnen eine menschenwürdige Existenz erlauben. Insbesondere haben sie ein Recht, keine von ihren Vorfahren bewusst herbeigeführten physischen Gegebenheiten hinnehmen zu müssen, die ihre individuelle und gesellschaftliche Selbstbestimmung in kultureller, wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Hinsicht übermässig einschränken.

Dieser Katalog hat unseres Erachtens noch heute Gültigkeit, auch wenn er gewiss immer wieder der Überarbeitung bedarf. Die einzelnen "Rechte" sind dabei nicht absolut gesetzt, sondern können, wie alle Grund-Rechte, unter Respektierung ihres Wesenskerns, eingeschränkt werden. Die Interessen künftig lebender Menschen müssen jedoch erkannt (oder zu erkennen gesucht) und sodann in den Entscheidungsprozess gleichberechtigt einbezogen werden. Einschränkungen sind nur möglich, wenn die Interessen Künftiger im Rahmen einer sorgfältigen Güterabwägung anderen Interessen eindeutig unterliegen23. Dabei müssen die Einschränkungen verhältnismässig bleiben, dürfen nicht über das unbedingt Notwendige hinausgehen. Die Wahrnehmung der Verantwortung gegenwärtig lebender gegenüber zukünftig lebenden Menschen bedeutet nicht, dass die Heutigen paternalistisch vorausschauend für die Künftigen entscheiden; dazu sind sie nicht legitimiert. Es geht im Gegenteil wie in Punkt 10 der "Erklärung" festgehalten - darum, den künftig Lebenden einen möglichst grossen Spielraum für die eigene Lebensgestaltung zu bewahren.24 Daraus folgt, dass jedenfalls die physischen Lebensgrundlagen der Menschheit nicht zerstört

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

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oder wesentlich verschlechtert werden dürfen. Weiter sind irreversible Entwicklungen, wie z.B. die Ausrottung einer Tier- oder Pflanzenart, zu vermeiden: Jede Irreversibilität schränkt den Entscheidungsspielraum künftiger Generationen ein.

4. Wer soll die Rechte künftiger Generationen wahrnehmen? Zwei Fragen sind zu unterscheiden: - Wer trägt im einzelnen Verantwortung gegenüber künftigen Generationen? - Wer ist berufen, Interessen künftiger Generationen wahrzunehmen? Die Antwort auf die erste Frage schlägt einen weiten Bogen: im Prinzip müssen alle Handelnden die Folgen ihres Tuns mitbedenken und ihre Entscheidungen danach ausrichten. Nicht nur der Staat also, sondern auch private Akteure und Akteurinnen der Wirtschaft, nichtstaatliche Organisationen (NGO's) bis hin zu den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern tragen Verantwortung25: "Die Wahrung der Rechte Künftiger ist eine umfassende und grund-legende Aufgabe, (. .) sie ist zu gross und zu schwierig, als dass sie einzelnen 'Subsystemen' des 'Systems Gesellschaft' überlassen werden könnte."26 Unerlässlich sind angesichts der Komplexität der Aufgabe und der beschränkten Möglichkeiten der einzelnen eine Koordination und eine intensive Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verantwortungs-Trägern. Dabei gestaltet sich die Verantwortlichkeit der Akteure und Akteurinnen nach Massgabe ihrer Wirkungsmacht unterschiedlich. Wer in hohem Mass für Umweltschäden verantwortlich ist und/oder über eine grosse Wirkungsmacht verfugt, ist in erhöhtem Mass zur Wahrnehmung seiner Verantwortung gerufen. Je mehr die Handelnden seien es Staaten, multinationale Konzerne oder Einzelpersonen - in der Lage sind, das Leben anderer (auch zukünftiger) Menschen zu beeinflussen, desto mehr sollten sie fur die Folgen ihres Tuns in die Pflicht genommen werden. Diese Überzeugung fand ihren Niederschlag in der Biodiversitäts- und der Klimakonvention von 1992. So stellen die Vertragsstaaten in der Präambel zur Klimakonvention fest, "dass der grösste Teil der früheren und gegenwärtigen weltweiten Emissionen von Treibhausgasen aus den entwickelten Ländern stammt" und "dass angesichts des

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2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

globalen Charakters der Klimaänderungen alle Länder aufgerufen sind, so umfassend wie möglich zusammenzuarbeiten (..) entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, ihren jeweiligen Fähigkeiten sowie ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage (..)." Die Vertragsstaaten kommen deshalb zum Schluss: "Folglich sollen die Vertragsparteien, die entwickelte Länder sind, bei der Bekämpfung der Klimaänderungen und ihrer nachteiligen Auswirkungen die Führung übernehmen."27 Die zweite Frage geht von der Tatsache aus, dass sich künftig Lebende heute nicht für die Wahrung ihrer Interessen einsetzen können. Nur Menschen, die zum Zeitpunkt einer Entscheidungsfindung auf der Welt sind, können sich am Entscheidungsprozess beteiligen. Die Interessen unserer Nachkommen müssen deshalb - sollen sie überhaupt Berücksichtigung finden - zwangsläufig von heute Lebenden stellvertretend eingebracht werden.28 Verschiedene rechtliche Instrumente können hierfür eingesetzt werden, und zwar sowohl auf der Ebene der Rechtsetzung, wie auch auf deijenigen der Rechtsanwendung. Mittels "Nachwelts-Kommissionen", "Nachwelts-Ombudsleuten"29 und ähnlichen Sachwaltern können die Anliegen künftiger Generationen Eingang in Entscheidungsverfahren aller Ebenen finden; durch das Beschwerderecht von Organisationen können sie im Einzelfall verteidigt werden. (Hier sei auf die guten Erfahrungen verwiesen, welche in der Schweiz mit dem Verbandsbeschwerderecht im Naturund Umweltschutz gemacht wurden).

5. Wie kann und muss unsere Verantwortung für künftige Generationen wahrgenommen werden? Über den Grundsatz unserer Verantwortung für Künftige könnte heute wohl - jedenfalls auf Staatenebene - weltweite Einigung erzielt werden. Die breite Zustimmung, welche die Biodiversitäts- und die Klimakonvention gefunden haben, die Diskussionen rund um das Prinzip der Nachhaltigkeit sowie die immer häufiger anzutreffende Erwähnung künftiger Generationen in Verfassungen lassen diesen Schluss zu. Uneinigkeit entsteht dort, wo der Grundsatz konkretisiert und umgesetzt werden soll.

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

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Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht erstaunlich. Zum einen geht es natürlich um Macht und Geldmittel, welche von ihren Trägerinnen und Trägern nicht ohne unmittelbar sichtbare Gegenleistungen preisgegeben werden wollen. Die Gründe liegen andererseits in der Sache selber: Unsere Verantwortung fur künftige Generationen muss sich in immer neuen Sachverhalten, in immer neuem Umfeld konkretisieren. Und in der Regel sind verschiedene Wege für die Wahrnehmung dieser Verantwortung denkbar es gibt nicht nur eine einzige "richtige" Lösung. Erschwerend kommt hinzu, dass die Folgen unserer Handlungen meist nicht mit Sicherheit vorauszusehen sind. Sehr oft stehen wir vor dem Problem, dass wir nicht wissen, was wir tun. Eine wichtige Rolle kommt in diesem Zusammenhang der TA zu: Wir müssen uns wenigstens darum bemühen, einiges über die möglichen Folgen unserer Projekte, oder wenigstens über die Lücken in unserem Wissen in Erfahrung zu bringen. Auch hierzu haben sich die Vertragsstaaten der Biodiversitäts- und der Klimakonvention verpflichtet: Die Vertragsstaaten der Biodiversitätskonvention einigten sich darauf, "geeignete Verfahren ein(zu)fuhren, die eine Umweltverträglichkeitsprüfung ihrer geplanten Vorhaben, die wahrscheinlich erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die biologische Vielfalt haben, vorschreiben, mit dem Ziel, diese Auswirkungen zu vermeiden oder auf ein Mindestmass zu beschränken, und gegebenenfalls die Beteiligung der Öffentlichkeit an diesen Verfahren (zu) ermöglichen" sowie "geeignete Regelungen ein(zu)fuhren, um sicherzustellen, dass die Umweltfolgen ihrer Programme und Politiken, die wahrscheinlich erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die biologische Vielfalt haben, gebührend berücksichtigt werden" (Art. 14 (1) a und b). Die

Klimakonvention

ihrerseits

hält

fest:

Alle

Vertragsparteien

werden

"wissenschaftliche, technologische, technische, sozio-ökonomische und sonstige Forschungsarbeiten sowie die systematische Beobachtung und die Entwicklung von Datenarchiven, die sich mit dem Klimasystem befassen und dazu bestimmt sind, das Verständnis zu fördern und die verbleibenden Unsicherheiten in bezug auf Ursachen, Wirkungen, Ausmass und zeitlichen Ablauf der Klimaänderungen sowie die wirtschaftli-

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

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chen und sozialen Folgen verschiedener Bewältigungsstrategien zu verringern oder auszuschliessen, fördern und dabei zusammenarbeiten" (Art. 4 (1) h). Trotzdem bleibt die Frage, wie wir mit unserem begrenzten Wissen umgehen sollen. In diesem Zusammenhang sei nur auf ein Prinzip hingewiesen, welches von Hans Jonas30 vorgestellt wird: Im Zweifelsfall muss die schlechte Prognose Vorrang erhalten vor der guten Prognose, "der Unheilsprophezeiung (ist) mehr Gehör zu geben als der Heilsprophezeiung". Und ebenso muss gelten: "Eine Intervention ist nicht erst dann geboten, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schadens nachweisbar eine gewisse Höhe überschreitet, sondern schon dann, wenn der Schaden unbekannt ist, aber erheblich sein könnte und die Wahrscheinlichkeit nicht berechnet werden kann."31 Sie ist aber auch erforderlich, wenn die Wahrscheinlichkeit gering, ein möglicher Schaden aber katastrophal

ist.32

Technologieentwicklung

muss langsam, tastend,

vielseitig,

"fehlerfreundlich"33 betrieben werden.

6. Welche Anliegen können wir mit Blick auf unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen an die TA herantragen? Um eine Brücke zwischen den voranstehenden ethischen und rechtlichen Überlegungen zu unserer Verantwortung für künftige Generationen und der Umsetzung dieser Überlegungen in dem Institut der TA zu schlagen, wiederholen wir den Grundsatz: Die Interessen der künftigen Generationen sind in Entscheidungen gleichberechtigt mit unseren eigenen einzubeziehen. Daraus lassen sich einige Anforderungen an die TA als Entscheidungsgrundlage - eine unter anderen - ableiten: - Sowohl die Auswirkungen unserer Handlungen wie auch das Ausmass unserer Wissenslükken in Bezug auf mögliche Auswirkungen müssen erkundet werden. Projekte, welche erhebliche langfristige Auswirkungen haben (können), müssen einer institutionalisierten "Nachweltverträglichkeitsprüfiing" unterzogen werden. Unter "Projekten" verstehen wir hier nicht nur risikobehaftete Anlagen, sondern sämtliche Vorhaben, "welche die Rechte künftiger Generationen erheblich zu berühren geeignet sind - Vorhaben der Rechtsetzung ebenso wie solche der Rechtsanwendung, Vorhaben technischer Realisation nicht weniger als solche normativer Steuerung."34 Das Konzept der TA ist also zu erweitern: Erläuterun-

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

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gen zu geplanten Gesetzen oder zu Aktionsplänen etwa müssten ein Kapitel über die wahrscheinlichen Auswirkungen auf spätere Generationen enthalten. • Der Respekt vor dem "Recht auf gutes Leben" unserer Nachkommen erlaubt es nicht, dass zukünftig eintretende Schäden diskontiert, d.h. als ein kleineres Übel eingestuft werden, weil sie uns Heutige nicht mehr betreffen. Unsere Nachkommen werden unter einem Unfall, der zu einer Vernichtung wichtiger Lebensgrundlagen oder sonstwie zu einer erheblich verminderten Lebensqualität fuhrt, ebenso zu leiden haben, wie wir heute darunter zu leiden hätten. Zudem ist zu bedenken, dass vielleicht zwar wir Heutigen, unsere Nachkommen aber wohl nicht mehr vom risikobehafteten Projekt profitieren. "Es ist unethisch und ungerecht, jemandem ein Risiko aufzubürden, wenn er den Nutzen nicht haben kann".35 •

Da die Beurteilung von Technikfolgen eine Wertungsfrage bleibt, müssen die Interessen künftiger Generationen durch geeignete Verfahren in den Bewertungsprozess eingebracht werden können, z.B. durch Sachwalter oder Sachwalterinnen.



Die TA muss rechtzeitig genug ansetzen, nicht erst, wenn schon hohe Investitionen in ein Vorhaben gesteckt wurden, was erfahrungsgemäss dazu fuhrt, dass die Prüfung sich auf (technische) Details beschränkt, für grundlegende Überlegungen aber kein Raum mehr verbleibt.

• Hinreichend frühzeitige Folgenabschätzung bedeutet auch, dass nicht erst die Entwicklung und der Einsatz von Technik, sondern bereits die wissenschaftliche Forschung, die ihr vorangeht, auf ihre möglichen oder wahrscheinlichen Folgen hin zu befragen ist. Dies muss jedenfalls für Forschung gelten, deren mögliche (erwartete, erhoffte) Ergebnisse zu einer folgenschweren Umsetzung fuhren können.36 -

Auch die gesellschaftlichen Folgen, nicht bloss die technischen und natürlichen Folgen und Nebenfolgen eines Projekts müssen untersucht werden ("Sozialverträglichkeit"). Wenn zum Beispiel gentechnische Methoden dazu eingesetzt werden, behinderte Föten früh zu erkennen und eine Abtreibung einleiten zu können, so kann dies Auswirkungen auf den Umgang unserer Gesellschaft mit Behinderten zeitigen, die bei der Bewertung der benötigten Techniken mitbedacht werden müssen.

- Nicht nur die Mittel zur Erreichung eines Ziels, sondern auch das Ziel selber soll einer Bewertung unterzogen werden. So erscheint ein risikobehaftetes Vorhaben nicht als ge-

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2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen rechtfertigt, wenn es keinem sinnvollen Ziel dient (als Beispiel sei die gentechnische Manipulation europäischer Nutztiere zum Zweck der Leistungssteigerung erwähnt).

• Alternative, weniger eingreifende und weniger risikobehaftete Methoden zur Zielerreichung sollten geprüft und, felis vorhanden, vorgezogen werden. TA kann ein sehr wirkungsvolles Instrument zur Wahrung dieser existentiellen Interessen heutiger und künftiger Generationen sein. Bedingung ist freilich, dass sie hinreichend breit und tief angelegt, dass sie umsichtig und rechtzeitig durchgeführt und dass sie mit ihren Ergebnissen genügend ernst genommen wird. Anmerkungen 1

Vgl. hierzu ausführlich Saladin/Zenger (1988); Saladin (1991); ferner Kleger (1986), Brown Weiss (1989), Vissert Hooft (1991), Kirschenmann (1995) sowie die von der University of Malta herausgegebene Zeitschrift "future generations journal". 2 Jonas (1989), S. 92. Vgl. auch Schulz (1972), S. 740ff. 3 Jonas, S. 94 4 Vgl. Altner et al. (1978), Zink (1982), Liedke (1984), Moltmann (1985), Link (1991), Ruh (1991), S. 17ff. 5 Bimbacher (1988), S. 84. 6 Praetorius (1995), S. 180 7 Vgl. die Hinweise bei Kleger (1986), S. 155ff. 8 Praetorius, S. 130 9 Eine Liste mit 33 internationalen Abkommen, welche sich auf künftige Generationen mitausrichten, findet sich in: future generations journal No. 15 (1995-1), S. 35 10 Hauff (1987) " S;46 12 Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Biologische Vielfalt vom 5. Juni 1992 ("Biodiversitätskonvention"); Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 9. Mai 1992 ("Klimakonvention"). 13 Präambel der Klimakonvention 14 Präambel der Biodiversitätskonvention 15 Der Aufnahme dieser Bestimmung in das Grundgesetz ging eine langwierige Kontroverse zwischen Vertreterinnen eines anthropozentrischen und eines ökozentrischen Ansatzes voraus, vgl. Geddert-Steinacher (1995), S. 3 Iff.. Für unseren Zusammenhang ist diese Kontroverse vernachlässigbar. Die Wahrung der Interessen der Künftigen bedingt, dass die natürlichen Grundlagen (resp. ihre Regenerationsfähigkeiten) so umfassend wie nur möglich weitertradiert werden: Unser Wissen um die natürlichen Zusammenhänge ist viel zu gering, als dass wir es riskieren könnten, heute zwischen "künftig nötigen" und "künftig unnötigen" Naturelementen zu unterscheiden. 16 Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993, i.K. seit 1.1.1995. 17 Ebenso Häberle (1978), S. 59ff.; Hofinann (1980), S. 448ff, von Hippel (1982), S. 140ff„ Seiler (1986), S. 115ff, Grimm (1991), S. 179ff. 18 Ausdrückliche Forderungen nachhaltigen Umweltschutzes finden sich im schweizerischen Recht punktuell, so in Art. 33 des Umweltschutzgesetzes vom 7. Oktober 1983 (Bodenschutz), in Art. 20 des Waldgesetzes vom 4. Oktober 1991 (Wald-Bewirtschaftung), in Art. 21 des Gewässerschutzgesetzes vom 24. Januar 1991 (Grundwasserschutz) und in Art. 1 des Gesetzes über Fischerei vom 21. Juni 1991. 19 Vgl. Anm. 1, 17

2. Kap.: Unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

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Saladin/Zenger (1988), S. 46/47, mit anschliessendem Kurz-Kommentar. Eine ähnliche Liste findet sich in der "Universal Declaration of the Human Rights", Universidad de La Laguna (1994). 21 Dies gilt jedenfalls flir heute und in Zukunft produzierte Erzeugnisse und Abfälle. Durch die Produktion von Atommüll hat unsere Generation dieses Recht den kommenden Generationen bereits genommen: Eine "Endlagerung" kann keine völlige Sicherheit bieten. In diesem Fall geht es wohl im Gegenteil darum, eine Bewachung zu ermöglichen, und zwar einer auf lange Sicht rückholbaren Lagerung. Zu den Fragen der Langzeit-Lagerung radioaktiver Abfälle vgl. etwa Hofmann (1981), Seiler (1986), Näser/Oberpottkamp (1995). 22 Dieses Recht fällt in gewissem Sinn "aus dem Rahmen", d.h. aus dem (sonst hier massgebenden) Kontext der "naturlichen Mitwelt". Wir sind aber überzeugt, dass unsere Verantwortung diese kulturelle Dimension einschliesst. Auf eine Begründung müssen wir hier freilich verzichten. Vgl. dazu Saladin/Zenger (1988), S. 58; Universidad de La Laguna (1994), S. 200. 23 Ein "öffentliches Interesse" unserer Generation an einer Massnahme wird somit in der Regel nicht über die gegensätzlichen Interessen künftiger Generationen überwiegen können, weil eben die Interessen der verschiedenen Generationen gleich gewichtet werden müssen. Eine Ausnahme kann nur für überlebenswichtige Bedürfhisse unserer Generation gemacht werden. 24 Vgl. Serracino Inglott (1990), S. 25 25 Die Kantonsverfassungen von Bern und Appenzell Ausserrhoden appellieren denn auch an die Verantwortung sowohl des Staates wie auch der Bürgerinnen und Bürger; siehe oben. 26 Saladin/Zenger (1988), S. 125/126 27 Art. 3 (1) der Klimakonvention 28 Verschiedene Autoren weisen auf die Unzulänglichkeiten dieser Notlösung hin, siehe z.B. Seiler (1986), S. 125: "Auch ein noch so gut ausgestaltetes Verfahren kann nichts daran ändern, dass mit zukunftsrelevanten Entscheidungen in der Gegenwart verfügt wird über Menschen, die sich nicht wehren können gegen das, was wir ihnen auferlegen." Intergenerationelle Interessenkonflikte werden tendenziell zugunsten der eigenen Generation entschieden. 29 Vgl. die Empfehlung der Weltkommission fur Umwelt und Entwicklung, einen Ombudsmann zu wählen, "der die Interessen und Rechte derzeitiger und künftiger Generationen vertreten und als Umweltwachhund dienen würde, indem er die Regierungen und die Bürger auf jegliche Bedrohung aufmerksam machen würde." Hauff (1987), S. 326. 30 Jonas (1979), S. 70£f. 31 Seiler (1995), S. 107, in seinen Ausführungen zum Vorsorgeprinzip. 32 Vgl. Leimbacher/Saladin (1990) 33 Zum Begriff der Fehlerfreundlichkeit siehe Weizsäcker (1993). 34 Saladin/Zenger (1988), S. 116 35 Seiler (1995), S. 15 36 So Meyer-Abich (1988)

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

3. Kapitel Technik und institutionelle Verantwortung Gerlinde Sommer und Raban Graf von Westphalen

Technik und Verantwortung sind Schlüsselbegriffe dieses Lehrbuchs. Es erscheint daher notwendig, sich über beide Kategorien und ihre Beziehung zueinander im Rahmen der Technikfolgenabschätzung, insbesondere der politikberatenden TA zu verständigen. Zunächst wird die Auffassung von Technik als soziotechnisches Handlungssystem (1.) entwickelt; daran schließt sich eine Klärung des Prinzips der institutionellen Verantwortung (2.) und ihrer Bedeutung im Rahmen des GG (3.) an. Abgeschlossen wird der Beitrag mit einigen Hinweisen auf den Zusammenhang von Technik und institutioneller Verantwortung (4.) im Rahmen des politischen Systems und demokratischer Techniksteuerung (5 ).

1. Technik als soziotechnisches Handlungssystem Zunächst sei der Begriff von Technik, wie er in verschiedenen Beiträgen dieses Lehrbuchs zugrundegelegt wird, umrissen: Jede „Technik" kann als materialisierter, versachlichter Handlungszweck, als "Sache" aufgefaßt und als sozio-technisches Handlungssystem interpretiert und analysiert werden (Durkheim: 1961; Linde: 1972). Technik in ihrer jeweils konkreten Fassung erscheint zunächst als Ergebnis gesellschaftlicher Konfigurationen: Jede gesellschaftlich-historische Formation erzeugt ihre "Sachen", ihre soziotechnischen Systeme. Mit Sigfried Giedion (: 1948/1982, S. 772) formuliert: „Mechanisierung ist das Ergebnis einer mechanistischen Auffassung der Welt, genau wie die Technik das Ergebnis der Wissenschaft ist". Diesem Verständnis inhärent ist die Sichtweise, daß jede Sache ("Technik") in und aus ihrer historischen Erscheinung (Form) Auskunft gibt über den Zweck als Formursache ihrer Existenz. Ohne gesellschaftlich vermittelte, kontextuelle Zweckbestimmung verwirklicht sich "nichts", nimmt "nichts" materielle Sachgestalt an, wird (naturwissen-

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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schaftliches) Wissen nicht zur Sache - zur Technik. Die Disponibilität der Zwecksetzung enthält die Disponibilität der Sachverhältnisse und damit die Absage an eine "Sachlogik" der Technik und zugleich auch an die Ideologie des "Sachzwanges". 1 Eine Folgerung daraus ist: Der historisch-genetische Prozeß von Technik ist der diskursiven politisch-parlamentarischen und gesellschaftlichen Beeinflussung prinzipiell zugänglich - die wesentliche pragmatische Voraussetzung politikberatender TA. Technik wird als Menge historisch-gesellschaftlicher Sachen bestimmt, worunter alle Gegenstände subsumiert werden, die Produkte menschlicher zweck- und zielgerichteter Arbeit sind. Die begriffliche Fassung von "Technik" muß weitergehend berücksichtigen, daß diese Sachwelt nur als Ausdruck wie als Ergebnis ihres spezifischen historisch-sozialen Entstehungszusammenhanges einerseits, wie ihres jeweiligen gesellschaftlichen Verwendungszusammenhanges andererseits angemessen beschrieben werden kann. Mit dieser Auffassung unterscheiden wir den Bereich der "Sachen" von dem der naturgegebenen, vorfindlichen "Dinge". Es liegt in der Konsequenz dieser Differenzierung von Dingen gegenüber Sachen, letztere als vorübergehende, ständig im Umbau begriffene Vergegenständlichungen der menschlichen Geschichte zu begreifen und zu erkennen, daß diese Hervorbringungen den geschichtlichen Prozeß, aus dem sie entstanden sind, durch Form, Gestalt und Nutzung ihrerseits rückprägen. Gemachte Sachen ("Artefakte") als Inbegriff aller absichtsvollen Arbeit des Menschen tragen, wie angedeutet, ihren Zweck in sich. Genauer: Sachen werden durch den von Menschen gewollten Zweck bestimmt; dieser etabliert ihre Funktion und Form, ästhetische Gestalt wie technische Architektur und konstituiert und organisiert darüber Sozialbeziehungen (Linde: 1982; Hochgerner: 1986): Technik vergesellschaftet. Der französische Paläontologe André Leroi-Gourhan bewertet in seiner Arbeit über die Evolution von Technik, Sprache und Kunst den uns interessierenden Zusammenhang wie folgt: „Die Aussage, die gesellschaftlichen Institutionen stünden in engster Übereinstimmung mit der techno-ökonomischen Organisation, wird von den Tatsachen

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

aufs beste belegt. Ohne daß die moralischen Probleme sich wirklich im Wesen veränderten, formt die Gesellschaft ihre Verhaltensmuster mit den Instrumenten, die ihr die materielle Welt bietet; die Sozialversicherung wäre bei den Mammutjägern ebenso unvorstellbar wie die patriachalische Familie in einer Industriestadt. Der technoökonomische Determinismus ist eine Realität, die das Leben der Gesellschaften tief genug durchdringt, um die Existenz von Strukturgesetzen der kollektiven materiellen Welt zu verbürgen, die ebenso fest sind, wie die Moralgesetze, mit denen die Individuen ihr Verhalten sich selbst und anderen gegenüber regeln. Wenn man die Realität der Welt des Denkens gegenüber der materiellen Welt anerkennt, ja selbst wenn man behauptet, letztere existiere nur als Wirkung der ersteren, so schmälert man dadurch nicht das Gewicht der Tatsache, daß das Denken sich in organisierte Materie umsetzt und daß diese Organisation, in wechselnden Modalitäten, sämtliche Zustände des menschlichen Lebens prägt" (: 21984, S. 190 f.). Auf die gesellschaftsstrukturierende Funktion von Sachen als Produkte menschlicher Arbeit hat bekanntlich auch Karl Marx verschiedentlich hingewiesen. Er begriff sie als „Konsolidation unseres eigenen Produktes zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt und unsere Berechnungen zunichte macht (Marx/Engels: 19741., S. 203 ff). Bekanntlich verdichtet sich Marx' Auffassung vom determinierenden Charakter der Sachen in dem Satz: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten" (Marx/Engels: 1974 Π., S. 501 f.). Dieser Satz sei nur zitiert, um kenntlich zu machen, daß die Bestimmung des Verhältnisses von technischem Wissen und Technik wesentlich davon abhängig ist, welche Bedeutung man den über die Sachen vermittelten, verhaltensbeeinflussenden Sozialbezügen einräumt. Zur Vertiefung dieser Auffassung sei an die Definition Emile Dürkheims (1858-1917) erinnert, die in ihrem Kern wohl als eine „Soziologie der Sachverhältnisse" anzusprechen ist: Durkheim stellt die Sachen auf die gleiche kategoriale Ebene wie die immateriellen Verhaltensregeln. Eine sittliche und rechtliche Norm unterscheidet sich für ihn daher

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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nicht grundsätzlich von einem Werkzeug, einer Wohnstätte, von Kleidung oder Verkehrswegen, da er davon ausgeht, daß es sich in beiden Fällen um gesellschaftlichhistorisch verfestigte Artikulationsformen handelt, die in der Form ihrer Gestaltung Handlungsmuster vorgeben, in welche das aktuelle Handlungspotential gegossen werden muß. Auch Durkheim geht davon aus, daß es eine unserem Handeln vorauslaufende, von den Sachen ausgehende Handlungskanalisation gibt, die vom individuellen Willensentschluß weitgehend unabhängig, die Handlungsformen, wenn nicht bestimmend, so doch zumindest entscheidend steuert. 2 Von ihnen geht eine verhaltensleitende, sozialstrukturierende und gestaltende Kraft aus, welche - je nach Standpunkt - von der Handlungsdetermination einerseits, bis zur mitwirkenden Beeinflussung andererseits gehen kann. In jedem Fall steht die Frage nach dem intendierten Zweck jedweder Versachlichung im Mittelpunkt analytischen Interesses. Wenn die soziale Wirksamkeit konkreter technischer Modi abhängig ist von den vorausgegangenen Prozessen ihrer Konstruktion - sie also weniger Manifestation technischer Funktionslogik ist (Joerges: 1989) -, dann ist eine selbstverständliche Konsequenz, daß die Folgen soziotechnischer Systeme auch als Folgen der gesellschaftlichen Präformierung von Technik zu verstehen sind. Es bedarf hier nicht der weiteren soziologiegeschichtlichen Ausdeutung der Einsicht, daß von Sachen als totalen sozialen Tatsachen' eine in jedem Fall verhaltensleitende Prägung ausgeht, welche den Auffassungen nach von Handlungsdetermination einerseits bis zur mitwirkenden Beeinflussung andererseits gehen kann. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses vom Stellenwert der Sachen im sozialen Kontext sei die These formuliert, daß Sachen strukturierende Bestandteile von sinngeordneten Sozialsystemen sind. Gesellschaft wird im Rahmen dieses Beitrages als Sozialsystem verstanden, genauer als funktional differenziertes Sozialsystem. In der funktionalistischen Systemtheorie, aus der sich diese Sichtweise herleitet, versteht man darunter ein Gesamtsystem, welches sich entsprechend seiner ihm eigenen Geschichte in Funktionssysteme zergliedert, die - entsprechend dem Systemzweck - je unter-

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

schiedliche Leistungen für das Sozialsystem erbringen. Systemdifferenzierung darf allerdings nicht dahingehend gedeutet werden, daß zwischen den Systemen kein Zusammenhang besteht; eher ist das Gegenteil richtig: Je ausdifferenzierter die Systeme gegeneinander sich darstellen, desto abhängiger sind sie voneinander. So sind die politischen Systeme der Industriestaaten etwa in wachsendem Maße auf wissenschaftlich-technisches Wissen angewiesen, dessen Bereitstellung der Sache nach Leistung des wissenschaftlich-technischen Forschungssystems ist. Dessen Funktionsfähigkeit dagegen hängt allerdings wesentlich davon ab, in welchem Umfang das politische System wissenschaftlich-technische Prozeßbedingungen stabil hält, also inwieweit etwa die Forschungsfreiheit strukturell gesichert erscheint, ökonomische Ressourcen langfristig bereitgestellt sind, oder wie über technikrelevante Forschungsprogramme entschieden und wie diese durchgesetzt werden. Dazu gehört weiterhin z.B. auch die Einschätzung, über welches Vermögen das politische System verfugt, innere Legitimation und Loyalität zu erzeugen oder außenpolitische Unsicherheiten systemintern überzeugend zu bearbeiten. So verstehen wir auch die Absicht, Technikfolgenabschätzung in der Mitte des parlamentarischen Systems, dem Parlament (s.a. 18. Kap.), institutionell zu etablieren als den Versuch, die arbeitsteilige Organisationsform des Parlamentsbetriebes dahingehend auszudifferenzieren, als daß das segmentarische Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsvermögen des politischen Systems gegenüber dem technischen Prozeß und seinen Folgen verbessert wird. Man verspricht sich davon eine Steigerung der Funktionsleistung des politischen Systems überhaupt, nämlich kollektiv-verbindlich zu entscheiden (Westphalen: 21996). Zusammengefaßt fuhren diese Überlegungen zu dem Schluß, daß sich die Frage nach der Bedeutung von technischem, ingenieurwissenschaftlichem Wissen in der sozialwissenschaftlichen Technikfolgenabschätzung zunächst auf eine Theorie der Sachverhältnisse stützen muß, welche die mitgestaltenden Rahmenbedingungen interpretiert, unter welchen naturwissenschaftlich-technisches Wissen zur „Sache" wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Auffassung zu diskutieren, nach welcher der

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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Mensch im Prozeß der Erzeugung von Sachen die Ziele seines Tuns mit hervorbringt und damit sein Handeln in normativer Hinsicht an den technischen Möglichkeiten selbstorientiert. Damit soll gesagt sein, daß die Ziele und Werte, auf die menschliches Handeln abstellt, nicht „frei", außerhalb und unabhängig vom Prozeß der technischen Perfektioniening gewählt werden, sondern aus dem jeweiligen Vermögen dazu selbst hervorgehen, indem sie dieses nicht transzendieren, sondern bestenfalls technisch optimieren. Der Mensch produziert sich selbst als „technischen Menschen" (Lenk. 1973). Es ist diesem nicht möglich, Ziele und Werte außerhalb der durch die Organisation der Technik vorgegebenen Lebensstrukturen zu entwerfen; der Mensch kann sich nur auf die Verbesserung der technischen Funktionen konzentrieren, den Ablauf und die Tätigkeit seiner Apparate perfektionieren. Die technische Machbarkeit - so diese Position - selbst bestimmt, was gemacht werden soll, und weiter, daß alles hergestellt wird, was hergestellt werden kann. Machbarkeit und verfugbare Mittel determinieren in diesem Modell den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß. Insofern sind alle Ausführungen zur

sogenannten

„Ambivalenz

der

Technik"

oder

ihrer

vermeintlichen

„Wertneutralität" überaus problematisch (s.a. 9. Kap.). Das hier formulierte techniksoziologische Verständnis führt zu dem Schluß, daß die Befragung der Zwecke von Sachen ethisch nachweislich macht, was gut' und was böse" ist. Vermittelnd zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und dem darauf gründenden Prozeß des „Zur-Sache-Werdens" liegt das Moment der zweckhaften Bewertung des (neu)erworbenen Wissens und seiner sachlichen Strukturierung. Zweckzuweisungen ergeben sich selbstevident nicht aus dem Forschungsprozeß selbst. Weit angemessener erscheint, diese - wie bereits ausgeführt - als Resultante gesellschaftlicher Anschauung vom Zweck der Erkenntnis und des Wissens zu verstehen. Sicherlich ist der Einwand richtig, daß das angenommene Verhältnis von der Entdekkung und Erzeugung neuen Wissens und seiner Verdinglichung in dieser Form nur eine sehr allgemeine Gültigkeit hat. Zwingend bleibt u.E. dennoch, daß die Versachli-

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

chung von naturwissenschaftlicher Erkenntnis immer nur als Folge definierbarer gesellschaftlich-kontextueller Bedingungen zu beschreiben ist und daher die angemessene analytische Ausgangssituation darstellt. Denn ein so formuliertes techniksoziologisches Verständnis enthält zwangsläufig auch die Anschauung, daß die entscheidenden Fragestellungen bezüglich des Verhältnisses von „Technikwissen" und „Technikfolgenabschätzungswissen" jene nach den gesellschaftlichen Akteuren, ihren Vorstellungen und Visionen, Strategien, Leitbildern (s.a. 9. Κεφ.) und Problemwahrnehmungen wie nach dem institutionellen Kontext, der Organisation der Interessen, dem kulturellen Sebstverständnis der Forscher und Ingenieure sind. Diese Auffassung versteht Technikentwicklung weit mehr als Handlungsablauf, als soziotechnisches System - wie gesagt - mit je eigener Geschichte, welche als solche rekonstruierbar ist. Wenn die soziale Wirklichkeit konkreter technischer Modi abhängig ist von den vorausgegangenen Prozessen ihrer Konstruktion - also weniger Manifestation technischer Funktionslogik ist -, dann ist es eine selbstverständliche Konsequenz, daß die Folgen sozio-technischer Systeme auch als Folgen der gesellschaftlichen Präformierung von Technik zu verstehen sind. Politik- und sozialwissenschaftliche Technikfolgenabschätzung hat sich mithin zunächst um die Aufteilung der genetisch-formativen Prinzipien zu bemühen, unter denen Wissen zur „Sache" wird. Je höher die Bedeutung organisatorischer und kulturellinstitutioneller Faktoren für den Prozeß der Sachentwicklung veranschlagt wird, je mehr also die Forschungsperspektive auf die Interessen und Entscheidungsprozesse über Form, Aufbau und Verwendung der Sache gelenkt ist, umso stärker wird die funktionale Differenzierung zwischen Erzeugungs- bzw. Herstellungswissen als Kompetenz von Forschung/Industrie und Wirtschaft einerseits und Bewertungs- und Abschätzungskompetenz (etwa der Politik) andererseits eingeebnet. Technische Kompetenz reicht bekanntlich alleine nicht aus, selbstevident „gute" und „nützliche" Produkte zu erzeugen - in keinem Falle unter den Bedingungen der Herstellung weitreichender, soziotechnischer Systeme mit ihren hohen Risiko-, Nutzenwie Schadenspotentialen und ihren komplexen Steuerungsansprüchen an das politische

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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System.

2. Institutionelle Verantwortung Die wissenschaftlich-technologische Moderne hat Probleme herangeführt, die zu der Sorge Anlaß geben, daß die geltenden Steuerungskonzepte demokratischer Prozesse, aber auch die politischen Institutionen in ihrer gegenwärtigen Verfaßtheit selbst für eine angemessene Bewältigung nicht hinreichen. Je deutlicher die öffentliche Diskussion der letzten Jahre um die ökologischen und technikinduzierten Risiken politische Handlungs- und Gestaltungspotentiale diagnostizierte, welche über den Verantwortungs-Horizont zuständiger personaler Entscheidungsträger hinausreichen, desto unklarer stellt sich die sachliche, soziale und zeitliche Reichweite möglicher konkreter Verantwortungsfähigkeit dar. Seit dem Erscheinen von Hans Jonas' Buch "Das Prinzip Verantwortung" ist das Interesse vor allem auf den anthropologischen und normativen Gehalt und damit auf den Handlungscharakter des Verantwortungs-Prinzips gelenkt worden 3. Zugleich wurde der Tendenz zu normativ-programmatischer Verflüchtigung konkreter Verantwortungsfähigkeit zunehmend mit der Forderung begegnet, daß eine "Veränderung der politisch-rechtlich etablierten Verantwortungsattribution auf den Weg des Rechts verwesen" sei (Krawietz: 1991, S. 85). Denn wenn Verantwortung auch einesteils auf ein verantwortungsfähiges Subjekt bezogen ist, so ist anderenteils der individualistische Ausgangspunkt längst verlassen: Die der Verantwortungs-Kategorie angehörende normative Substanz der Fürsorgepflicht (s.a. 3. u. 12. Kap.) kann letztlich nur entlastend von Institutionen wahrgenommen werden. Gerade für die politisch-parlamentarische Technikfolgenabschätzung erwächst hieraus ihre spezifische Aufgabe, wie weiter unten auszufuhren sein wird. Verantwortung in Hinblick auf politische Institutionen nicht als normativ überfrachtetes Sollensprinzip zu begründen, ist nachwievor ein Desiderat. Denn man kann die Verantwortung von Individuen nicht so ohne weiteres übertragen auf die Verantwortung politischer Institutionen. Gerade diese Übertragung der individualethischen

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

Begründung von Verantwortung auf die transpersonale Ebene der Institutionen fuhrt oft zu simplen Normativismen, zum Appell an eine Verantwortung, die politische Institutionen haben sollen. Dagegen ist unsere These zu halten.

Verantwortung ist ein funktionales Erfordernis, welche Institutionen an die Einzelnen richten. Verantwortung ist Formursache institutioneller Sollgeltung. Dies soll im folgenden knapp begründet werden (ausführlich Sommer: 1997): Die Wahrnehmung von Verantwortung setzt die verbindliche Anerkennung sozialer Nonnen und Verfahren voraus. Diese gründen auf erwartbarer und erfahrbarer Gegenseitigkeit. Aus der gesellschaftlichen Verallgemeinerung und Formalisierung von Normen und Verfahren gehen Institutionen als stabilisierende und entlastende Sozialregulative hervor. Der Begriff der Institution wird im Folgenden in seiner allgemeinen und klassischen Definition verwandt, wie sie der oben bereits zitierte Soziologe Emile Dürkheim formuliert hat, nämlich als festgesetzte

kollektive Handlungs- und Denkweisen

(Durkheim: 1895, S. 99). Analytisch wichtig erscheint es, unmittelbar bei den Institutionen selbst anzusetzen und zu fragen, worin die institutionelle Entlastungsleistung besteht, bzw. worauf sie beruht: Die Entlastung besteht darin, daß die Institutionen dem Einzelnen Gewißheit über die grundlegenden und jederzeit erwartbaren Strukturbedingungen seines sozialen Verbandes geben. Institutionen entlasten, weil sie eine verbindliche Verpflichtung gegenüber den Einzelnen geltend machen. Diese Verpflichtung gilt allgemein, unabweisbar, ausnahmelos; sie ist exceptioneller Verfugung entzogen. Institutionen werden in komplexen Situationen allerdings nur dann eine Entlastungsleistung erbringen, wenn sie a) soziales Handeln allgemein regulieren und b) diese Regulierung verbindlich abfordern können. Der Einzelne erhält so eine stabilisierende Verhaltenserwartung. Diese Berechenbarkeit ist eine zentrale institutionelle Leistung, denn sie macht die von Institutionen geforderte Verantwortung rational und erzeugt die notwendige Akzeptanz. Unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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Gestaltungs- und Risikopotentiale ergeben sich hier wichtige Fragestellungen (s.u.). Die Verantwortung der politischen Institutionen begründet sich - so unsere zentrale These - demnach nicht aus individualethisch hergeleiteter Verantwortung, sondern als funktionales Erfordernis der Institutionen selbst. Wesentliches Element des Ineinandergreifens von Verantwortung und Institution ist, daß die Institution eine verbindliche Verpflichtung gegenüber den Einzelnen geltend macht. Diese kann mit den Begriffen "institutionelle Soll- und Nonngeltung" und "institutioneller Verpflichtungsgehalt" charakterisiert werden. Denn die Institutionen können nur dann Gewißheit über die grundlegenden und jederzeit erwartbaren Strukturbedingungen des sozialen Verbandes geben, wenn ihr Bestand garantiert und allgemeiner wie exceptioneller Verfügbarkeit entzogen ist. Die Anerkenntnis dieser Verpflichtung gilt als Formursache der Institution. Der Kultursoziologe Arnold Gehlen zieht daraus folgenden Schluß: Es ist zumutbar, "für objektive, institutionswidrige Verfehlungen auch dann einzustehen, wenn sie subjektiv unverschuldet sind" (Gehlen: 51986, S. 99). Dieser Zusammenhang spiegelt sich beispielsweise in der Amtshaftung nach Art. 34 GG wider (s.u.). Verantwortung fur Verletzung einer Norm ohne persönliche Zurechenbarkeit, Haftung ohne Schuld sind nur im Rahmen eines Institutionenverständnisses zu begreifen und anzuerkennen; Verantwortung wird zum Funktionserfordernis der Institution. In Hinblick auf die politische Verantwortung müssen wir hierin ein wesentliches Begriffselement von Verantwortung sehen. Die Aufhebung der Bindung von Haftung an das Verschuldensprinzip zeigt sich augenfällig in der strukturellen Änderung menschlichen Handelns, welches hervorgerufen wird durch technischen Fortschritt und industrielle Arbeitsteilung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Denn die institutionelle Praktikabilität von Verantwortung ist in der Teilbarkeit von Verantwortung angelegt. Die Teilbarkeit ermöglicht, daß Verantwortung in vielfältige Handlungsfunktionen zerlegt und in Funktionszusammenhängen geordnet werden kann. Der sachlichen, zeitlichen und sozialen Ein- und Begrenzung von Verantwortlichkeiten folgen Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und klare Urheberschaft. Niklas Luhmann hat eindrücklich beschrieben, wie die Rationalisierung und

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

Versachlichung von Zuständigkeiten in kalkulierbarer Verfahrens- und Systembildung kumuliert, deren Maßstab die Rechtmäßigkeit, m.a.W. die Normtreue ist (Luhmann: 1964, S. 172 ff.; 31983). Diese Mechanismen und Ordnungshierarchien finden sich in nahezu allen Bereichen der modernen Gesellschaftsorganisation wie der industriellen Arbeitsteilung und der Bürokratie. Rationalisierung umfaßt also im dargelegten Zusammenhang - und dies ist zentral für unseren Verantwortungs-Begriff: die Übersetzung von Verantwortung in vorschriftsformierte, sachlich stabilisierte Verantwortlichkeiten, mithin den Prozeß der Institutionalisierung. Die Teilbarkeit von Verantwortung trägt die Tendenz in sich, im Zuge der angedeuteten Rationalisierung moderner Gesellschaftsordnungen das Individuum nicht mehr in erster Linie als entscheidungsfähige Person zu beanspruchen, sondern in fremdbestimmte Anordnungen institutioneller Systeme zu stellen. Indem die zu erfüllende Aufgabe lediglich eines zuständigen Subjekts bedarf, wird der Einzelne in Hinblick des jeweiligen Handlungszusammenhangs auf seine Funktion reduziert (Freyer: 1970, S. 202). Die ehemals verantwortliche Person wird - verpflichtet auf die Wahrung der aufgegebenen Sache - zum ausfuhrenden Organ. Hans Freyer hat dazu ergänzt, daß soziale (und politische) Ordnungen, bestehend aus "nebeneinander- und übereinandergestuften Verantwortungsräumen" eine Rationalisierungsdynamik entwickeln, welche "Verantwortungen konsequent in Aufträge zu transformieren" suchen (Freyer: 1970, S. 206). Erschöpft sich menschliches Handeln in gehorsamer, pflichtgemäßer Auftragserfüllung, und wird diese von der befehlenden Instanz gedeckt, kann nicht mehr von Verantwortung gesprochen werden. Dann geriert die Verantwortungs-Kategorie "zur Mechanisierung der Pflicht und schlechtweg zur ethischen Kategorie der Mechanisierung" (Gehlen: 1956, S. 68). Damit verliert "der Konnex zwischen Handlung und Handlungsfolge ... seine Einfachheit", und es beginnt sich die Idee einer "verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung" durchzusetzen (Bayertz: 1995, S. 24 ff). Der Gedanke der Haftung ohne Schuld ist im Strukturprinzip institutioneller Verantwortung angelegt. Wenn Institutionen ihre Entstehungszwecke transformieren und sich für andere Folge-

S. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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funktionell öffnen, mithin von der primären Bedürfhiserfüllung verselbständigen und Eigengesetzlichkeit entwickeln, gleichzeitig der Mensch aus den Institutionen seines sozialen Verbandes zu handeln beginnt, so ist es nur ein kurzer Weg, bis die Institutionen "kraft ihres Selbstzweck-Umschlagens eine verpflichtende Autorität geltend machen" (Gehlen: 1956, S. 68). Dann wirkt Verantwortung für die Verletzung einer Norm ohne persönliche Zurechenbarkeit nicht nur als Haftung des Einzelnen gegenüber der Institution bei Verletzung institutioneller Integrität, sondern auch umgekehrt als Haftung der Institution für ein ihre Integrität beschädigendes Handeln und Unterlassen der verpflichteten Mitglieder. Dem dargelegten gegenseitigen Verpflichtungsgehalt von Verantwortung für die Wahrung institutioneller Integrität (selbst ohne personal zurechenbares Verschulden) und umgekehrt der institutionellen Haftung für ein Handeln oder Unterlassen der verpflichteten Mitglieder ist nicht mehr analytisch beizukommen mit der der Individualethik zugehörenden Kategorie personaler Verantwortung. Dieser Verweisungszusammenhang von Verantwortung und Institution ist nur im Rahmen institutioneller Verantwortung anzuerkennen, ohne daß damit personale Verantwortung aufgegeben wäre. Bevor dies für die politisch-parlamentarische TA fruchtbar gemacht wird, soll zunächst das Vorgestellte anhand des Grundgesetzes konkretisiert werden.

3. Institutionelle Verantwortung im GG Die politischen Institutionen in der Bundesrepublik kennen viele Beispiele, in denen das hier vorgestellte Verständnis zum Tragen kommt: Wendet man z.B. den Blick auf das kompetenz- und amtsrechtliche Verständnis von Verantwortung in den Grundgesetz-Artikeln, so findet sich der Begriff der Verantwortung verstreut - außer in der normativen Verwendung in der Präambel - amtsrechtlich in den Art. 28 Abs. 2, Art. 34, 42 Abs. 3, Art. 46 Abs. 1 und 2 und Art. 65. Wichtig ist, daß der Teilbarkeit von Verantwortung folgend Kompetenzbereiche zwar in alleiniger Zuständigkeit wahrgenommen werden, gleichzeitig aber bei Amtspflichtverletzungen die Verantwortung unabweisbar auf die autorisierende Instanz zurück-

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S. Kap.: Technik und institutionelle

Verantwortung

fällt. Dies gilt sowohl für die ministerielle Ressortverantwortung, die parlamentarische Regierungsverantwortung des Bundeskanzlers wie für alle Amtspflichtverletzungen nach Art. 34 GG; dort heißt es: "Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentliches Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. Bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit bleibt der Rückgriff vorbehalten. (...)". Die Verantwortung meint dabei nicht konkret persönliche Zurechenbarkeit eines Fremdverschuldens, sondern die grundsätzliche Billigung einer Amtspflichtverletzung innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereiches. So erfolgt bei allen Amtspflichtverletzungen nach Art. 34 GG die Zurechnung der Verantwortung auf die autorisierende Körperschaft oder auf den Staat grundsätzlich, unbelassen der Möglichkeit eines gesetzlichen Rückgriffs auf den tatsächlichen Verursacher. Verantwortung für die Verletzung einer Norm ohne persönliche Zurechenbarkeit wirkt folglich nicht nur als Haftung des Einzelnen gegenüber der Institution bei Verletzung der institutionellen Integrität, sondern auch umgekehrt als Haftung der Institution für ein ihre Integrität beschädigendes Handeln oder Unterlassen der verpflichteten Mitglieder. Verfassungsrechtlich belegen beispielsweise die als Schutzgüter in den Grundrechten der Art. 2 bis 17 GG kodifizierten Rechte, welche nach den Bestimmungen des Art. 18 GG (Mißbrauch gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung) verwirkt oder unter Gesetzesvorbehalt gestellt (Art. 17 a und 19 Abs. 1 GG) sowie grundsätzlich durch Art. 2 Abs. 1 GG eingeschränkt werden können, die Geltung institutionell verfestigter Normen. In Art. 2 Abs. 1 GG heißt es: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt". In diesen Fällen greift die Verpflichtung auf die institutionelle Sollgeltung, welche die wechselseitige und ausnahmelose Anerkennung durch alle Mitglieder voraussetzt, da die Institutionen nur dann dem Einzelnen Gewißheit über die grundlegenden und jederzeit erwartbaren Strukturbedingungen des Sozialverbandes geben können, wenn

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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ihre Integrität als festgesetzte kollektive Denk- und Handlungsweisen' (Durkheim) Bestandsgarantie genießt. In diesem Sinne ist Art. 79 Abs. ΠΙ. als institutionelle Garantie aufzufassen: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig". Zusammengefaßt: Der Verpflichtungsgehalt der politischen Institutionen hat seine Grundlage in der allgemeinen Verantwortungs-Bindung an den Grundrechtskatalog, dessen Einhaltung obligat ist und auf der regulativen Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten gründet. Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht die gesamte Staatsgewalt und avancieren sohin zum Maßstab des politischen Verbandes und der ihm eignenden sozialen Lebensformen, indem sie zum einen Schutzgüter präzisieren, auf die hin staatliches Handelns auszurichten ist, und zum anderen den innerstaatlichen Handlungsrahmen normativ begrenzen. Sie stellen eine öffentliche Schutzgarantie des institutionellen Verpflichtungsgehalts dar, dem der Einzelne wie die staatlichen Akteure gleichermaßen unterworfen sind. Diese uneingeschränkte, allgemeine und indisponible Verpflichtung ist - wie wiederholt ausgeführt Formursache der Institution. Abwehr-, Teilhabe- und Leistungsrechten korrespondieren folglich Duldungs-, Handlungs- und Unterlassungspflichten. Das GG selbst enthält keinen systematischen Katalog von Grundpflichten, jedoch finden sich verstreut über das GG Staatsbürgerpflichten wie die elterliche Pflege- und Erziehungspflicht (Art. 6 Abs. 2 GG), Dienstleistungs-, Teilnahme- und Wehrpflicht (Art. 12 a GG), "Eigentum verpflichtet" (Art. 14 Abs. 2 GG), Verfassungstreuepflicht (Art. 33 Abs. 1 GG). Nicht ausdrücklich im GG kodifiziert sind die Steuerpflicht und der Gesetzesgehorsam. In den Landesverfassungen ist die unter die Kulturhoheit fallende Schulpflicht verankert (Stern: 1988 III, S. 558 ff; Luchterhand: 1988; Götz/Hofmann: 1983; Saladin: 1984, S. 212 ff). Folgendes Fazit läßt sich ziehen: Ist die Wahrnehmung von Verantwortung nur auf der Basis einer Grundnorm möglich,

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

so findet diese im demokratischen Verfassungsstaat in der Fundamentalnorm der Menschenwürde und der sich aus ihr herleitenden, in den Grundrechten verbürgten Schutzgütern ihre Form (s.a. 12. u. 26. Kap.). Diese binden staatliche Herrschaft material undrichtensie intentional aus. So wurzelt das Strukturprinzip der institutionellen Verantwortung in der treuhänderischen Wahrnehmung von Herrschaft als anvertrautes Amt, gebunden an die durch Menschenwürde-Norm und Grundrechte justiziabel verpflichtenden Staatszweck- und Staatszielbestimmungen (Sommer: 21996). Die Wechselseitigkeit von Verantwortung fuhrt in der Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates 4 dazu, daß die Bürger ihrerseits die Verantwortlichkeit der Institutionen ihnen gegenüber einfordern können; darauf gründet sich wesentlich die politische Partizipation. Sohin ist die institutionelle Verantwortung in der konsistenten Kompetenzordnung geteilter Verantwortlichkeiten aufgehoben. Politisch-parlamentarische Technikfolgenabschätzung ist ein Element von dieser. Die Institutionalisierung demokratischer Herrschaft baut demnach auf indisponiblen Rechten, aber auch Pflichten der Bürger, so etwa die allgemeine Schul- und Steuerpflicht, aber auch auf staatsbürgerlichen Duldungspflichten, die vor allem mit der Diskussion ökologischer und technikinduzierter Fragen eine grundlegende Problematisierung erfahren haben, auf die im Folgenden einzugehen sein wird. 4. Technik und institutionelle Verantwortung Gegenwärtig ist eine zunehmende Gefährdung der in den Grundrechten verbürgten Schutzgüter feststellbar: So wirken vor allem moderne Technologien wie Kernkraft und Informations- und Kommunikationstechnologien (s.a. 13. Kap.) in den Grundrechtsbereich hinein. Die Gentechnik birgt Gestaltungs- und Risikopotentiale, welche den Kern der Menschenwürde wesenhaft verändern könnten (Graf Vitzthum: 1987, S. 33 ff.; ders./Geddert-Steinacher: 1990, 1992; Vollmer: 1989). Ist der demokratische Verfassungsgrundsatz "Verantwortung" - wie ausgeführt - im wesentlichen bestimmt als treuhänderische Wahrnehmung von Herrschaft im Dienste der an der Menschenwürde-Norm und den Grundrechten orientierten Staatszweck-

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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und -Zielbestimmungen, so ist die staatliche Zuständigkeit und Fürsorgepflicht umfassend gefordert, wenn die Grundrechte und mithin das Konstitutionsprinzip der Menschenwürde gefährdet sind. Da die Grundlagen demokratischer Staatlichkeit selbst betroffen sind, kann die Verantwortung hierfür nicht delegierbar sein. Zur Bestimmung dessen, was in die nicht delegierbare gesetzliche Steuerungsverantwortung fallt, hat das BverfG den Wesentlichkeitsgrundsatz entwickelt: Danach ist es alleinige Aufgabe des Gesetzgebers, "in grundlegenden normativen Bereichen, zumal in Bereichen der Grundrechtsausübung ... alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" (BverfGE 49, 89 (126)). Die Grundrechtsrelevanz ist demnach entscheidendes Kriterium für die Wesentlichkeit einer Frage oder Maßnahme und verweist sie in die Prärogative der Gesetzgebung. In besonderer Weise gefordert ist die Verantwortung fur die Folgen staatlichen und staatsbürgerlichen Handelns angesichts der eingangs genannten technikinduzierten Grundrechtsgefährdungen; Verantwortung meint in diesem Sinne: Geltendmachen von Schutzpflichten und Staatsaufgaben nach Maßgabe der Menschenwürde-Norm. Der Staat ist daher verpflichtet, für die in den Grundrechten verbürgten Rechtsgüter der Bürger ebenso wie nach dem Sozialstaatsgebot fur das Gemeinwesen als Ganzes Sorge zu tragen und bestehende Gefahren durch geeignete Zulassungs- und Kontrollregelungen abzuwehren. Denn nach dem oben dargelegten institutionellen Verantwortungs-Verständnis im GG verweist eine Billigung oder zumindest ein "GeschehenLassen" von Grundrechtseinwirkungen (s.a. 12. u. 26. Kap.) unabweisbar auf die autorisierende resp. unterlassende oder zumindest nicht restrigierende Instanz: Also in einem solchen Fall auf den Staat, der seiner treuhänderischen Wahrnehmung von Herrschaft im Dienste der an der Menschenwürde-Norm und den Grundrechten orientierten Staatsaufgaben, welche die Aufrechterhaltung der jederzeit erwartbaren grundlegenden Strukturbedingungen des sozialen Verbandes zum Ziel haben, nicht angemessen nachgekommen wäre. Wie weit im Grunde diese institutionellen Schutzpflichten des Staates angesichts der modernen Risikodimensionen reichen, hat Dietrich Murswiek (:1985a, S. 127 ff.) dezi-

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

diert entfaltet: Ihm zufolge muß eine mögliche Grundrechtsgefährdung rechtlich wie eine tatsächliche Grundrechtsverletzung behandelt werden. Wird beispielsweise das durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Rechtsgut auf Leben und Gesundheit durch einen Privaten - etwa den Betreiber eines Atomkraftwerks - bedroht, so sind diese Grundrechtsgefährdungen und ihre möglichen Folgen dem Staat deswegen zuzurechnen, weil er die Genehmigung erteilt oder zumindest die Betreibung nicht untersagt hat. Käme es zu einer Grundrechtsverletzung - z.B. durch einen Störfall -, so bestände diese zunächst "also nicht in der Beeinträchtigung des grundrechtlich geschützten Gutes sondern in der staatlichen Genehmigung des privaten Eingriffes, der staatlichen Erlaubnis der privaten Verletzung des Schutzgutes" (Murswiek: 1985a, S. 90). Und weiter folgert Murswiek: Wenn der Staat mit seinen gesetzlichen Regelungsverfahren Bedingungen für privates Handeln schafft, die eine Beeinträchtigung des Rechtsgüterschutzes erlauben, so hat dies auch zur Konsequenz, daß die betroffenen Bürger verpflichtet sind, die Gefährdung - für Leben und Gesundheit - zu dulden, da die Duldung zu den staatsbürgerlichen Grundpflichten gehört (Murswiek: 1985a, S.91; Luchterhandt. 1988, S. 452 ff.). Allerdings: Der demokratische Verfassungsstaat ist gemäß seiner institutionellen Verantwortungsverpflichtung dem Konstitutionsprinzip der Menschenwürde und dem Grundrechtsgüterschutz verpflichtet. Demnach entsprechen Billigungen, Genehmigungen oder unterlassene Restriktionen der vorstehend genannten Art nicht den Maßgaben, nach denen den Trägern staatlicher Gewalt Herrschaft als Amt anvertraut wurde Demnach ist ein solches Handeln oder Unterlassen nicht nur verfassungswidrig, sondern könnte das Demokratieprinzip der verantwortbaren Herrschaft grundsätzlich wie die politischen Institutionen in Frage stellen. Denn politische Institutionen wirken nur dann als grundlegende Sozialregulative der Stabilisierung des sozialen Verbandes und der Entlastung des Einzelnen, wenn sie einerseits die institutionell garantierten Verhaltenserwartungen jederzeit abfordern können und andererseits die Berechenbarkeit als zentrale institutionelle Leistung zu garantieren vermögen. Rechtsschutz als Staatszweck zielt demnach darauf, soziale Denk- und Handlungsformen zu allgemeinen,

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dauerhaften und jederzeit erwartbaren Institutionen zu verfestigen. Dies gelingt nur, wenn sie - wie die Grundrechtsgefährdung durch technische Risiken gezeigt hat exceptioneller wie allgemeiner Verfügung entzogen sind. Dieser Auffassung trägt das BVerfG Rechnung, wenn es formuliert, daß die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes "dynamische" Schutzpflichten ergeben, die es gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, daß auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eingedämmt bleibt. Ob, wann und mit welchem Inhalt sich eine solche Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie schon von den vorhandenen Regelungen ab (...). Bei der "Art und Schwere dieser Folgen (gemeint: aus der Nutzung der Kernenergie, d. Verf.) muß bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts genügen, um die Schutzpflicht auch des Gesetzgebers konkret auszulösen" (BVerfGE 49, 89 (130).

Entscheidend sind demnach weder personale Zurechnung, tatsächliches Verschulden noch subjektive Handlungs- oder Unterlassungsabsicht, sondern die Möglichkeit der Verletzung der Grundrechtsnorm, welche Haftung ohne Schuld und Zurechnung erfordert. Damit wird Verantwortung zum Funktionserfordernis politischer Institutionen: zur institutionellen Verantwortung. Ihre Bedeutung wird vor allem durch die Gestaltungs- und Gefahrdungspotentiale der Technik offensichtlich, um deren Darstellung und Offenlegung es politisch-parlamentarischer TA zuvorderst geht bzw. gehen sollte.

5. Politisches System und demokratische Techniksteuerung Der Staat - das politische System - steht "der Technik" in höchst unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Rollen gegenüber. Er handelt als Kunde wie als Auftraggeber von Technik; die Politik legt direkte und indirekte technikfördernde Programme auf und markiert deren Forschungsprofil nach Präferenzgesichtspunkten wie Grundlagen-, Vorsorge- und wirtschaftsbezogener Technikforschung. Mit den Programmen wendet sich das politische System einem differenzierbaren und höchst unterschiedlich

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

behandelbaren Adressatenkreis zu. Über die Definition von Vergabe und Vertragsbedingungen im Rahmen der Projektförderung werden die nichtstaatlichen Forschungseinrichtungen ebenso vom System beeinflußt, wie es über Zuschüsse für kleine und mittlere Betriebe versucht, deren Forschungskapazität zu stärken. Gleichzeitig taucht das politische System in der Rolle des techniknachfragenden Verbrauchers auf, z.B. auf den Sektoren Verkehr und Energie und vor allem im Bereich der Wehrtechnik. Über das technische Recht, Patentrecht und das Lizenzwesen greift der Staat in den technischen Prozeß ein, ebenso wie durch Schaffung von Monopolen oder der Stützung von Technologietransfer-Einrichtungen. In allen Maßnahmen kann sich das politische System am Prinzip der Subsidiarität oder dem der Staatlichkeit orientieren, also entweder in die Gesellschaft verlagern oder selbst wahrnehmen. Dabei können vor allem durch den Wechsel des politischen Personals unterschiedliche Auffassungen in dieser Frage vorübergehend zum Grundsatz werden und damit andersartige Rollendifferenzierungen eröflnen. Das gesamte Steuerungspotential des politischen Systems wird wiederum begrenzt durch die Gesamtrechtsordnung des Sozialsystems. Versteht man die Grundrechte der Verfassung zuerst als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen, so korrespondiert damit ihre objektivrechtliche Bestimmung als negative Kompetenzbestimmung für den Gestaltungswillen des politischen Systems. Dieses ist in seinen Maßnahmen durch positive wie negative Kompetenzen von vornherein eingeschränkt. Damit wird gesagt, daß das politische System in seiner Rolle als technikfördemdes System der Technik sich zugleich in der Rolle des grundrechtsschützenden, grundrechtsgewährleistenden und zur Konkretion von Grundrechten Verpflichteten gegenübersteht, was zu gänzlich gegenläufigen Handlungen fuhren kann, gleichwohl sie in demselben Grundrechtszusammenhang verankert sind. Demokratie-, Sozial- und Rechtsstaatsprinzipien sind ebenso wie die Aufrechterhaltung der bundesstaatlichen, föderalen Ordnung Leistungsanforderungen an das politische System, denen es immer auch und zugleich nachkommen muß, um seine funktionalen Spezifikationen, nämlich staatsrichtungsleitend zu entscheiden und diesen Entscheidungen kollektiv verbindliche

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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Wirkung zu verschaffen, aufrechtzuerhalten. Diese wenigen Hinweise sollen deutlich machen, daß "die Technik" einem hoch differenzierten, verhaltensvariablen und in bestimmten Grenzen auch strukturvariablen Gesellschaftssystem mit ausgeprägtem Rollenprogramm gegenübersteht, dessen Entscheidungsleistung als Folge der gleichzeitigen Berücksichtigung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Zwecke verschieden ausfallen kann und muß: Je größer die Fähigkeit des Staates ist, dem Entscheidungsdruck der Sachverhältnisse durch Aufbau innersystemischer Komplexität zu begegnen, desto größer ist seine Fähigkeit, die Entscheidungsanforderungen auch selektiv - und das meint: unterschiedlich - behandeln zu können. Wie das politische System entscheidet, ergibt sich dann erst im jeweiligen Entscheidungsprozeß; das Ergebnis ist also nicht grundsätzlich erwartbar. Angemerkt sei, daß Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit politischer Leistung in allen nichttechnokratischen Staatsformen die Beziehung von Politik und Technik zum prinzipiellen Spannungsverhältnis machen: Zielt Technik auf eindeutige, die weitere technische Entwicklung langfristig und zuverlässig determinierende Entscheidung, so orientiert sich Politik bereits an einem anderen Begriff der "Zeit": Ihr muß es vor allem darum gehen, möglichst viele Bedingungen des Entscheidungsverfahrens aufzunehmen, um die innersystemische Entscheidungskomplexität aufzubauen, über die sie der Umweltkomplexität und den an sie gestellten Entscheidungserfordernissen möglichst gerecht wird; nur so erhält das politische System auf Dauer seine Macht (Luhmann. 1984, 1986, 1989). Ungewißheit zu erzeugen, ist eine Möglichkeit für das politische System, Zeit zu gewinnen. Eine andere ist, dem Entscheidungsdruck entweder durch Subsystembildung zu begegnen - z.B. durch die Einsetzung einer Enquete-Kommission - oder die Umweltanforderungen thematisch so umzudeuten, daß ihre Behandlung zum Gegenstand anderer Systeme - vorzüglich zu solchen des Rechtssystems - wird. Die Neigung des politischen Systems, technikpolitische Themen zu rechtlichen, insbesondere zu verwaltungsrechtlichen Gegenständen umzudeuten, ist ein Verhalten, fur welches vor allem die letzten zwei Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

Deutschland eine Reihe von Beispielen bereithält. Eben weil der Sozial- und Rechtsstaat, wie ihn die Bundesrepublik repräsentiert, Technik nur als Sonderinteresse behandeln darf, steigen die Anforderungen an die Ausgestaltung der Eigenkomplexität des politischen Systems: Es muß vor allem über zeitliche, sachliche und soziale Autonomie verfügen, um die abverlangten Entscheidungen unter Wahrung verfassungsrechtlicher und politikprogrammatischer Präferenzen zu erbringen. Erhöht sich der Wert der Technik fur das politische System dadurch, daß die Form ihrer Entwicklung, der Modus ihrer Förderung und die Art ihrer Wirkung zunehmend für mehr oder weniger alle vom politischen System bearbeiteten Politikfelder in unterschiedlicher Weise von Bedeutung werden - oder weitergehend: diese Staatsaufgaben zu Variablen des technischen Fortschritts werden - wie es vorstehend behauptet wurde -, dann droht dem politischen System der Verlust der Fähigkeit, nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben entscheiden zu können, steigert es nicht dramatisch seine Eigenkomplexität und damit seine Entscheidungsleistung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß fur die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes die Identifizierung mit der Technik strukturell ausgeschlossen ist. An dieser Stelle wird die Tragweite der angedeuteten Überlegung offenkundig: Die Aufgaben, die dem politischen System aus der technischen Beherrschung immer größerer Wirkungskreise zuwachsen, können auf technik-induzierte Systembedingungen stoßen, welche zugleich die normative Leistungsgrenze des sozialen Rechtsstaats markieren: Die normativen Grundentscheidungen des repräsentativ verfaßten demokratischen Systems werden von den strukturellen Erfordernissen technischer Realisation - den oben angesprochenen Sachverhältnissen - überformt und entleert (Roßnagel: 1983, 1984, 1990; s.a. 11. und 13. Kap.). Für das politische System verschärft sich das Problem, ob angesichts der ihm zuzuweisenden institutionellen Verantwortung für die technischen Prozesse, deren Realisation selbst zur Bedingung der Erfüllung anderer Staatsaufgaben geworden sind, hinkünftig und auf Dauer so autonom gestaltet ist, um eigene, vom Verständnis technischer Rationalität sich absetzende, politische Rationalitätskriterien entwickeln zu können. Denn

3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

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nur dann könnte das politische System eine über die TA gewonnene stärkere Gestaltungskraft gesellschaftsordnend und technikbestimmend umsetzen, wenn es zugleich "gegenüber der Eigendynamik der technischen Entwicklung eine ihm eigene Autonomie entfalten kann" (Grawert: 1982, S. 457). Gelingt die Schaffung und Wahrung systemeigener und vorrangiger Wertpräferenzen nicht, so läuft die weitere Entwicklung auf eine mehr oder weniger starke Synchronisierung des Verständnisses von technischer und politischer Rationalität hinaus, eben weil die Sachen und die an sie gebundenen Sachverhältnisse nicht nur zum Gegenstand der Politik werden bzw. geworden sind, sondern fortfahren, vor allem über die Forschungs- und Technologiepolitik („Zukunftsministerium") zum bestimmenden Leitbild zu werden. Die These, wonach die Weichen "in Richtung autoritärer Technokratie gestellt" seien (Beck: 1988, S. 272), erhielte dann verstärkt aktuelle und analytische Bedeutung für die Behandlung des Zusammenhangs von Politik und Technik. Der Prozeß des Aufgehens des Politischen im Technischen ließe sich im Sinne Francis Bacons (1561-1626) mit dem Satz beschreiben: Telekommunikation, Gentechnologie, Datenverarbeitung und Verkehrstechnologien haben eine „solche Umänderung in unzähligen Dingen" zur Folge, „daß keine Staatsumwälzung, keine Religion, keine Constellation einen durchgreifenderen Einfluß in die menschlichen Angelegenheiten hätte haben können, als diese (...) Erfindungen" (Bacon: 1620/1974, S. 96). 5 Im Kontext institutioneller Verantwortung ist die Technikfolgenabschätzung gefordert, sich über die gesellschaftstheoretischen Randbedingungen wie techniksoziologischen Implikationen ihres Konzepts politisch-parlamentarischer Beratung als Ausdruck institutioneller Verpflichtung zu vergewissern. Dazu gehört die skeptische Erkenntnis, daß die die modernen industriellen Gesellschaften durchdringenden Kräfte der Technisierung dem nationalstaatlichen Handeln weitgehend entzogen sind - im Prozeß der Universalisierung hin zur „networked society" wird sich dieses Defizit eher verschärfen.

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3. Kap.: Technik und institutionelle Verantwortung

Anmerkungen 1

Vgl. statt vieler die ausgezeichnete Arbeit von Teusch: 1993. Durkheim: 1976, insbes. S. 105 ff., wie die Einleitung von R. König, hier S. 51 ff.; siehe mit diesem Hinweis auf Durkheim: Schmalenbeck 1927. 3 Vgl. dazu die Arbeiten von Riedel: 1980; Bayertz: 1995; von Trotha: 1989; Ströker: 1984; Picht: 1979; Schwartländer: 1974; Forschner: 1989; Lenk: 1992; Weischedel: 21958; Holl: 1980; Beer: 1990; Saladin: 1984. 4 Zur historischen Entwicklung unter diesem Gesichtspunkt Sommer 1997 5 Bacon: (1620/1974) nennt Schießpulver, Kompaß und Buchdruckerkunst. 2

4. Kap. : Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns

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4. Kapitel Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns Weert Canzler und Meinolf Dierkes

1. Zur Geschichte der staatlichen Regulierung von Technik Die Rolle des modernen Staates in der Technikentwicklung läßt sich durch eine doppelte Zielstellung charakterisieren: Einerseits ist es das Ziel staatlichen Handelns, die technische Entwicklung zur Erreichung wirtschaftlichen Wachstums wie auch militärischer oder politischer Macht zu stimulieren; andererseits soll der Staat in demokratischen Gesellschaften zumindest die Technikentwicklung mit dem Ziel der Vermeidung bzw. Eindämmung negativer Folgen zur Bewahrung bzw. Herstellung des sozialen Konsenses regulieren. Sowohl bei der Förderung als auch in der Regulierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts haben seit Ende des 19. Jahrhunderts der Umfang wie auch die inhaltliche Spannweite der staatlichen Aktivitäten stark zugenommen. Während dies für die staatliche und parastaatliche Regulierung einen kontinuierlichen Anstieg darstellte, markiert fur den Bereich der staatlichen Technikförderung das Ende des Zweiten Weltkrieges eine Zäsur. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte ein besonders steiler Anstieg staatlicher Ausgaben für Forschung und Entwicklung, aber auch für die Bereitstellung notwendiger staatlich-technischer Infrastruktur. Zwar gab es bereits seit Jahrzehnten eine Tradition der Forschungsförderung in militärisch relevanten Technologien und Wissenschaftszweigen, doch wurde diese Förderung seit dem Zweiten Weltkrieg - insbesondere als Förderung der Grundlagenforschung - auf zivile Techniken ausgedehnt. Einen wichtigen Schub erhielt die breite Technik- und Forschungsförderung in Europa und nicht zuletzt auch in der wirtschaftlich boomenden Bundesrepublik Deutschland durch die Diskussion um die

sogenannte

"technologische Lücke" gegenüber den USA. Dabei kam neben der traditionellen Förderung von staatlichen Forschungseinrichtungen und der Universitätsforschung insbesondere jenem Teil der Förderungspolitik eine wachsende Bedeutung zu, die zum Ziel hat, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Unternehmen zu unterstützen. Dies

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4· Kup·'· Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns

geschah über Forschungsaufträge, direkte oder steuerliche Subventionen sowie über die Produktion und den Transfer technischen Wissens von staatlichen Forschungseinrichtungen für Industrieunternehmen. Hierbei haben sich historisch typische Schwerpunkte herausgebildet, in denen der Staat industrielle Forschungs- und Entwicklungsprojekte fördert. Es sind dies Bereiche, die *

dazu beitragen, das Leistlingsangebot der Unternehmen an besonders anspruchsvollen Technologien weiterzuentwickeln, wie sie im internationalen Wettbewerb um technologisch-marktwirtschaftliche Vorrangstellung aber auch im Hinblick auf eine sinnvolle weltwirtschaftliche Arbeitsteilung langfristig geboten scheinen,

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darauf zielen, vorhandene Ressourcen effizienter zu nutzen und neue zu erschließen,

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eine über den unmittelbar geförderten Bereich hinausgehende Anstoßwirkung haben,

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zu Technologien fuhren, die nachteilige Nebenwirkungen bisheriger Verfahren oder Produkte, z. B. auf die Umwelt oder den Arbeitsplatz, verringern oder vermeiden sowie

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darauf gerichtet sind, die Erfüllung öffentlicher Aufgaben und die Infrastruktur zu verbessern, vor allem in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Versorgung, Entsorgung, Kommunikation und Verkehr.

Bezüglich der Bewertung und Regulierung von Technik wurden in der Geschichte vielfältige Instrumente staatlicher Politik entwickelt, von denen letztlich die wichtigsten auf spezifische Techniken bezogene Partial- und Einzelregulierungen sind. Diese stellen ein Instrument staatlicher Politik zur Realisierung gesellschaftlicher Gestaltungsansprüche und -funktionen dar, dem seit Beginn der Industrialisierung die Bedingungen der Techniknutzung unterworfen worden sind. Solche Reglementierungen waren in Deutschland geprägt von der obrigkeitsstaatlich-paternalistischen Rechtstradition Preußens.1 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich ein Muster herausgebildet, bei dem Zusammenschlüsse der Technikbenutzer, Überwachungsvereine und Berufsgenossenschaften selbst wesentliche Normsetzungs- und Kontrollaufgaben übernahmen.2 Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts schuf der Staat verstärkt neue rechtliche Rahmenbedingungen. Ein Beispiel hierfür ist die Einfuhrung der Gefahrdungshafhing, bei der es nur noch auf die Gefahrenschafiung und den dadurch verur-

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sachten Schaden und nicht mehr auf das Verschulden ankam. Den Anfang bildete das Reichshaftpflichtgesetz von 1871, das dieses Prinzip insbesondere auf die Eisenbahn erstreckte. 1909 folgte das Kraftfahrzeuggesetz. Zwischen 1890 und 1910 kam es zur Verabschiedung zahlreicher Gesetze und Verordnungen, die mangelnde Arbeitssicherheit und negative Einwirkungen technischer Anlagen auf die Umgebung der Gewerbebetriebe unter Strafe stellten. Für die Ausformulierung dieser und anderer Richtlinien wurde ebenso wie fur deren Überwachung zunehmend wissenschaftliche Expertise herangezogen, wie z.B. die Einrichtung des Reichsgesundheitsamtes im Jahr 1876 zeigt.3 Interessant ist darüber hinaus, daß das Instrument der Partial- und Einzelregulierung im Verlauf der letzten hundert Jahre Wandlungen unterworfen war, die der Dynamik der technischen Entwicklung selbst und dem durch sie geschaffenen spezifischen Regulierungsbedarf entspringen. So hat bezogen auf das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Technik die Problematik der Dynamik des technischen Fortschritts und der Statik des Rechts eine Entwicklung gefördert, bei der in der Gesetzesformulierung immer häufiger auf Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe wie "allgemein anerkannte Regeln der Technik" oder "Stand der Wissenschaft und Technik" zurückgegriffen wird. Die Folge hiervon ist, daß die inhaltliche Bestimmung der Gesetze bzw. die Definitionsmacht wissenschaftlichen Sachverständigen überlassen wird.4 Dies ist insbesondere der Fall bei Regelungen, die komplexe Großtechniken oder aber neue Technologien betreffen, die sich in einem noch frühen Entwicklungsstadium befinden. Damit wurde außerdem einer Entwicklung Vorschub geleistet, die später als "verbandliche Techniksteuerung"5 bezeichnet und als Dominanz neokorporatistischer Arrangements in der Technik-Regulation interpretiert worden ist. Weiterhin kann eine zunehmende Berücksichtigung außertechnischer Werte in Normen und Richtlinien als Reaktion auf die Technisierung der Gesellschaft nicht nur im Sinne der wachsenden Verbreitung technischer Erzeugnisse in der Arbeitswelt, sondern auch in der Privatsphäre, und eine insgesamt ständig größer werdende Anzahl soziotechnischer Mensch-Produkt-Beziehungen beobachtet werden.6 Während im letzten Jahr-

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hundert zu Beginn der Normierungsaktivitäten die Standardisierung praktisch ausschließlich an der technischen Funktionsfähigkeit orientiert war und erst 1930 in VDIRichtlinien und DIN-Normen die Werte Sicherheit und Gesundheit auftreten, werden besonders ab Mitte der 60er Jahre auch Werte wie Produktgüte und Verbraucherschutz sowie Umweltschutz ausdrücklich in den technischen Regelungen berücksichtigt. Im Jahr 1993 wird expressis verbis eine VDI-Richtlinie zur Technikbewertung wirksam. Die Gesamttendenz verläuft also von den reinen Industrie- oder Produktnormen zur allgemeinen soziotechnischen Regelung.7 In Anbetracht der Tatsache, daß Entscheidungen über Technikentwicklung und Techniknutzung in der überwiegenden Zahl der Fälle von nicht-staatlichen Handlungsträgern getroffen werden, erscheint es nicht einsichtig, warum Unternehmen durch eine umfassende staatliche Politik die gesellschaftliche Verantwortung für ihre Entscheidungen abgenommen werden sollte. Nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Verantwortung von privaten Nutzern, Unternehmen, Gewerkschaften und sozialen Gruppen zum Engagement in der Entscheidungsfindung über Umfang, Art und Weise des technischen Wandels wird mit Forderungen, negative Technikfolgen allein durch staatliche Regulierung zu vermeiden oder abzumildern, vielfach unterschätzt. Weder die Bewertung von Technikfolgen noch die daraus zu ziehenden Schlüsse können somit in den meisten Fällen allein oder auch nur überwiegend von Seiten der staatlichen Politik auf zentraler Ebene vorgenommen werden. Das Wissen, die Kompetenzen und die Interessen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure müssen in die Technikentscheidung in der Weise einbezogen werden, daß eine Abwägung und Berücksichtigung ökonomischer, sozialer und ökologischer Ziele der Technikgestaltung möglich wird. Das heißt, daß der Ort der Techniksteuerung nicht a priori beim Staat oder beim Markt allein gesehen wird, sondern die Frage nach den gesellschaftlichen Akteuren der Förderung und Regulierung technischer Entwicklungen nur in Abhängigkeit von der konkreten Technik beantwortet werden kann. Diese Frage wird darüber hinaus davon bestimmt, ob potentiell negative Folgenaspekte, Nutzungs- und Gestaltungsfragen oder Kriterien für eine adäquate Planung von Forschung und Entwicklung zur Debatte

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stehen. Auch wenn im einzelnen keine eindeutigen Abgrenzungen möglich oder nötig sind, ergeben sich generell unterschiedliche Schlußfolgerungen fur den Umgang mit Technik, je nachdem, ob die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen überwiegend in der Vergangenheit liegen, diese Folgen in der näheren Gegenwart auftreten oder Folgenpotentiale vornehmlich fur die Zukunft erwartet werden. Diese Entscheidung ist insofern von Bedeutung, als Techniken vor und zu dem Zeitpunkt ihrer Nutzung meistens eher als problem- und konfliktlösend und nicht als problemoder konfliktschaffend angesehen werden. Schadensfolgen werden zunächst entweder nicht ausreichend untersucht, nicht erkannt oder treten im Bewußtsein der Beteiligten gegenüber dem erhaltenen oder erwarteten Nutzen stark zurück. Im Verlauf der Nutzung und zum Teil erst im nachhinein werden unerwünschte Wirkungen jedoch deutlicher spürbar und/oder klarer erkannt und entsprechende Konsequenzen gefordert. Der Januskopf des technischen Fortschritts - die Tatsache, daß sich Chancen und Risiken gleichermaßen ergeben - hat also eine gewichtige zeitliche Komponente (s.a. 3. Κεφ.). Die internationalen Erfahrungen aus der Umweltpolitik zeigen, daß im Hinblick auf Reglementierung und Flexibilisierung im Umgang mit Technikfolgen zweierlei gelernt werden kann: Auf der einen Seite sind mit klaren und unzweideutigen Zielsetzungen nach Inhalt und Zeitperspektive den Technikentwicklern und Techniknutzern Verantwortlichkeiten zu benennen und aufzuerlegen. Eine größere Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen im Sinne der Selbstverpflichtung zur Durchführung von Technikfolgenabschätzungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen, einer hohen Bereitschaft für Transparenz in technikbezogenen Fragen, ζ. B. durch regelmäßige Berichterstattung über soziale und ökologische Auswirkungen der in Unternehmen verwendeten oder produzierten Techniken im Rahmen einer um die gesellschaftsbezogene Rechnungslegung erweiterten Publizität der Unternehmen sowie eines verschärften Umweltstrafrechts und einer erweiterten Produzentenhaftung können die Voraussetzungen dafür schaffen, daß diese Verantwortung in mehr Unternehmen erkannt und wenn erforderlich von der Kostenseite erzwungen wird. Hierzu sind dann auch aktive innovative Problemlösungen wie z.B. ökomische Anreize zu fordern.

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Generell ist bei solchen Maßnahmen jedoch darauf zu achten, daß die Reaktion der angesprochenen wirtschaftlichen oder sozialen Akteure nicht nur eine Verschiebung der Probleme bewirkt. Ahnlich der "Politik der hohen Schornsteine", mit der die Luftverschmutzung lediglich von der lokalen auf eine überregionale Ebene verlagert wurde, ist es ebenfalls nicht ausgeschlossen, daß Anreizsysteme technische Lösungen befördern und beschleunigen, deren Anwendung mit neuen sozialen oder auch anderen ökologischen Folgewirkungen verbunden sind. Komplementär zu Reglementierungen, innovationsfordernden Anreizsystemen sowie einer klareren Verantwortlichkeit in der Technikentwicklung kann auch eine Erhöhung der Transparenz der Technikentscheidungen - sei es als Vorschrift oder als Selbstverpflichtung - eine soziale und ökologisch sensible Technikgestaltung begünstigen. Doch dürfen sich Anreizsysteme und Regulierungen, gerade wenn sie dazu beitragen sollen, eine sozial akzeptablere und umweltverträglichere Technikentwicklung zu ermöglichen, nicht auf den Bereich der Technik im engen Sinne beschränken. Die politischen Rahmenbedingungen müssen so gestaltet werden, daß auch potentiell Betroffene, die nicht am Marktprozeß teilnehmen und deren Belange nicht ausreichend abgedeckt sind, die Möglichkeit haben, ihre Interessen zu artikulieren. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß eine dezentrale Konfliktlösung im Sinne aller am Prozeß Beteiligten erfolgen kann. Ähnlich müssen politische Rahmenbedingungen gesetzt und durch die Bereitstellung unterstützender Technik sowie positiver Anreize Bedingungen geschaffen werden, die einen bewußteren Umgang mit den natürlichen Ressourcen erleichtern (s.a. 3. Kap.). Bei Technologien, die erst in mittelfristiger Perspektive nutzungsreif und deren Auswirkungen möglicherweise erst in weiterer Zukunft relevant werden, besteht oft eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Wissenschaftler, Ingenieure und Unternehmen, die an der Entwicklung und Einfuhrung neuer Technologien beteiligt und deren Nützlichkeit herauszustellen bestrebt sind, und den nicht an diese Interessen gebundenen bzw. eher skeptischen Gruppen und Institutionen, die über keine gleichwertigen Kenntnisse und Informationen verfugen. Gerade eine solche "natürliche Ver-

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zerrung" der Wissensbasis in der Phase der Technikeinfuhrung dürfte in der Vergangenheit wesentlich zur Kumulation sozialer und ökologischer Kosten beigetragen haben. Zur Erreichung einer sozial- und umweltverträglichen Gestaltung der technischen Entwicklung liegt der Abbau dieser Verzerrung im allseitigen Interesse. Schritte in die Richtung einer Bewältigung dieser "Wissensproblematik" insbesondere bezüglich der indirekten sowie sekundären und tertiären Effekte der Anwendung noch in Entwicklung oder in der Einfuhrungsphase befindlicher Technologien, aber auch in bezug auf den "Informationsausgleich" erfordern die erweiterte Anwendung und Präzisierung der bekannten Instrumente der Technikfolgenabschätzung bzw. neuer Instrumente wie Mediationsverfahren.

2. Der Verlust politischer Steuerungsfähigkeit des Nationalstaates Jenseits der seit Jahrzehnten verhärteten ideologischen Frontstellung, ob mehr Markt oder mehr Staat in der Steuerung und Regulierung technischer Entwicklung nötig sei, stellt sich vielmehr die Frage nach der potentiellen Reichweite staatlichen Handelns in modernen Industriegesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland. Ist der gegenwärtige Nationalstaat zu einer aktiven Technologiepolitik und zu Weichenstellungen im Entwicklungsverlauf konkreter Techniken überhaupt in der Lage? Mit der Krise der keynesianischen Globalsteuerung in der Wirtschaftspolitik schwanden die Steuerungshoffhungen des Staates generell. Ausgebliebene Steuerungserfolge, nichtintendierte Effekte staatlicher Programme und andere empirisch unhintergehbare negative Ergebnisse staatlichen Handelns haben in den 80er Jahren zur Popularität der These vom "Staatsversagen" gefuhrt.8 Die sowohl neokonservativ als auch grünalternativ geführte Kritik am korporatistisch agierenden politischen System, das seine Legitimation und Handlungsfähigkeit aus dem sozialstaatlichen Kompromiß der Verteilung, die allein auf Wachstum beruht, zieht, ging mit einer weitgehenden Deregulierungsrhetorik einher. Die radikale Annahme der Unmöglichkeit politischer Steuerung findet sich bei Luhmann, der aufgrund der von ihm diagnostizierten hermetischen Geschlossenheit der sozialen Subsysteme eine gegenseitige Interventionsfähigkeit einzel-

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ner Systeme fur ausgeschlossen hält.9 Diese Extremposition, die "gleichgültig gegenüber der empirischen Evidenz von Steuerung ist"10, erübrigt auch jede weitergehende Analyse sowohl von Steuerungsprozessen als auch von Interactions- und Aushandlungskonstellationen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren. Paradoxerweise sind die Ansprüche an das politisch-administrative System, gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Probleme zu lösen und Bedrohungen abzuwenden, allen offensichtlichen Steuerungsmängeln und aller Deregulierungsrhetorik zum Trotz gleichzeitig gestiegen." Die Schere zwischen der Problemlösungsfähigkeit des demokratisch-parlamentarisch verfaßten Staates und der an ihn herangetragenen Problemlösungserwartungen ist in den letzten Jahrzehnten weiter auseinandergegangen. Die Erklärungen fur diese Entwicklung reichen von der bereits in fortgeschrittener Weise realisierten Globalisierung der Kapitalmärkte, die den Handlungsspielraum von souveränen Nationalstaaten stark eingeschränkt haben,12 über den Charakter der aktuellen Problemlagen als umfassende, diffuse und mit herkömmlichen politischen Instrumenten nicht beherrschbare "Risiko-Quellen"13 oder "schleichende Katastrophen"14 bis hin zum Eigensinn gesellschaftlicher Teilsysteme, die sich einer übergeordneten politischen Logik entziehen.15 Obgleich staatliches Handeln entgegen den "Prämissen von äußerer Souveränität und interner Hierarchie heute eingebunden ist in ein immer weiter verzweigtes und immer dichteres Netz von transnationalen und innergesellschaftlichen Abhängigkeiten und Verhandlungsbeziehungen"16, ist es auch in postkorporatistischer Perspektive nicht folgenlos oder gar paralysiert. In Verhandlungssystemen werden auf dem Wege der "horizontalen Selbstkoordination" in aller Regel die notwendigen Entscheidungen getroffen, die zur Funktionssicherung des status quo notwendig sind. Es handelt sich dabei wesentlich um Mechanismen der präventiven Rücksichtnahme auf mögliche Widerstände und Einsprüche, die von Scharpf als "negative Koordination" bezeichnet werden. Impulse für grundlegende Reformen und technik(um)steuernde staatliche Handlungsstrategien sind unter diesen Vorzeichen nicht zu erwarten. Scharpf sieht im Verhandlungsmodus der negativen Koordination nicht allein eine Besonderheit des politisch-administrativen Systems. Vielmehr geht er davon aus, daß er

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"einem universellen Muster der horizontalen Selbstkoordination autonomer Akteure entspricht."17 Zwei Thesen bestimmen die jüngere steuerungstheoretische Diskussion: Zum einen die These, daß - klassische Steuerungsinstrumente des Staates ergänzend oder ersetzend neue intermediäre und parastaatliche Institutionen im Zuge einer "dezentralen Kontextsteuerung"18 zunehmend wichtiger würden und sich der "interaktive Staat"19 herausgebildet habe. Aktuell ist sogar vom "lernenden Staat"20 die Rede. Die Gewichte in Regulierungsprozessen würden sich demnach mehr in Formen gesellschaftlicher Selbstregulierung verschieben, der Staat als Setzer und Garant von Rahmenbedingungen würde seine Potenz zur direkten Intervention einbüßen bzw. diese in weiser Voraussicht der hohen Wahrscheinlichkeit unerwünschter Ergebnisse wegen nicht auszuspielen versuchen. Zum anderen wird die Diskussion von der These der Politikverflechtungsfalle beherrscht, in der in aufgesplitterten und zugleich miteinander verflochtenen politischen Strukturen "ineffiziente und unangemessene Entscheidungen erzeugt"21 würden, und die umso leichter zuschnappe, je mehr politische Akteure in einen Entscheidungsprozeß involviert seien. Das Dilemma der Politikverflechtung läge weiterhin darin, daß es für das politisch-administrative System unmöglich sei, aus eigenen Kräften "die institutionellen Bedingungen ihrer Entscheidungslogik zu verändern".22 Der Grund fur diese dilemmatische Situation liegt - so die spieltheoretische Untermauerung des empirischen Verflechtungsbefundes - in den Vorteilen des status quo gegenüber den potentiellen Nachteilen der Veränderung: "Wirksame Verbesserungen würden weitreichende Veränderungen erfordern, die wenigstens kurzfristig die Interessen vieler Beteiligter verletzen würden."23 Erschwerend kommt hinzu, daß auch die bisher nationalstaatlich delegierte oder koordinierte Definition von Standards sowohl der Produkte als auch der Herstellungsverfahren unter den Druck von Globalisierung und Internationalisierung geraten ist. Die Hürden fur eine institutionelle Konsensfindung über eine international verbindliche Standardsetzung sind hoch.24 Angesichts dieser Entwicklungen sind

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die klassischen nationalstaatlichen Partialregulierungen von Techniken zunehmend in die Defensive geraten. Innovationsstimulierende Impulse gehen von ihnen kaum aus.

3. Technikgenese und politische Steuerung Reichweite und EingrifFstiefe staatlichen Handelns in der Technologiepolitik sind auch ein wichtiger Bezugspunkt in der Technikgeneseforschung, die seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre Eingang in die sozialwissenschaftliche Technikforschung gefunden hat und neben einer Reihe von konzeptionellen Ansätzen auch einige empirische Studien vorweisen kann.25 Die Entstehungsphase von Techniken geriet zunehmend ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, weil dort wesentliche präjudizierende Einflüsse für den weiteren Technikverlauf vermutet wurden.26 Die Technikgeneseforschung will die systematische Analyse von Folgen bereits vorhandener Techniken, wie dies in verschiedenen Ansätzen der Technikfolgenabschätzung schon seit den 60er Jahren gemacht wird, durch die Untersuchung ihrer frühen Phase der Entstehung und Konzeptionierung ergänzen. "Mit der Einführung des Begriffs Technikgenese in die akademische und forschungspolitische Landschaft wird die Hypothese verbunden, daß die Auswahl technischer Lösungswege und deren konstruktive Ausgestaltung bereits in einem sehr frühen Stadium des Lebenszyklusses erfolgt, und daß dieser Prägeprozeß in späteren Phasen nicht mehr oder nur rudimentär zurückgeschrieben werden kann."27 Die Technikgenese hat sich konzeptionell in Abgrenzung zu verschiedenen Innovations- und Modernisierungstheorien, die wegen ihrer jeweils vereinseitigenden Perspektive in der empirischen Praxis zunehmend Plausibilitätsprobleme erhalten hatten, entwickelt. Vor allem technikhistorische Studien haben mittlerweile die lange Zeit unangefochtene implizite Hypothese des "one-best-way" in der Technikentwicklung nachhaltig erschüttert.28 Es hat sich vielmehr die Erkenntnis durchgesetzt, daß Technikentwicklungen soziale Prozesse sind, die hochgradig selektiv verlaufen und keineswegs einer dominanten technikimmanenten Entwicklungslogik unterliegen.29 Einer über die deskriptive Rekonstruktion von Technikentwicklungen hinausgehenden wissenschaftlichen Perspektive muß es darum gehen, die jeweiligen Selektionsfilter von spezifischen

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Technikentwicklungen zu identifizieren, konzeptionell-theoretisch zu erfassen und empirisch zu verifizieren. Ziel ist es, die relevanten Faktoren bei der Entstehung und Einfuhrung neuer Techniken sowohl in Form generalisierter Hypothesen- und Modellbildung als auch in der konkreten Analyse einzelner Techniken näher bestimmen zu können. Im Rahmen der Technikgeneseforschung wurde auch das Leitbild-Konzept erarbeitet.30 Leitbild meint die verbindliche Verständigung der in einem Technikfeld involvierten Akteure sowohl über Anforderungen an die realistisch erscheinende technische Konfiguration als auch über den gewünschten Sinn bzw. die Nutzung der konkreten Technik oder des Artefaktes. Erzeugung, Stabilisierung und auch die Transformation von Leitbildern sind ein komplexer Prozeß, in den wirtschaftliche, politische und Status-Interessen, professionelle und andere kollektive Traditionsbestände und nicht zuletzt gesellschaftliche Wert- und Zielvorstellungen sowie gebündelte individuelle Wunschvorstellungen eingehen. Das Leitbild-Konzept ist Ausdruck einer kulturalistischen Perspektive auf die Entstehung und Konsolidierung bzw. Stabilisierung von Techniken.31 Leitbilder als kollektive Projektionen sind in bestimmbaren sozialen Zusammenhängen verortet; sie sind nicht bloße individuelle, sondern kollektive Vorstellungen, die allerdings dezentral und ohne eine dirigistische Instanz entstehen und sich verfestigen. "Leitbilder bündeln die Intuitionen und das (Erfahnings)Wissen der Menschen darüber, was ihnen einerseits als machbar und andererseits als wünschbar erscheint."32 Leitbilder sind Orietitierungsbi\i&a für die beteiligten Akteure, die sich im per definitionem unsicheren Entwicklungsprozeß neuer Techniken nicht mehr auf das tradierte Wissen allein verlassen können. In dieser Dimension des Leitbildes zeigt sich sein Doppelcharakter. Das Leitbild kann einerseits eine Bündelung von technischen Entwicklungsoptionen verschiedener und dezentral agierender Akteure fördern. Technische Alternativ- und Gegen-Entwürfe können auch dann Durchsetzungschancen erhalten, wenn sie nicht auf bereits etablierte technische Lösungen und den jeweiligen "Stand der Technik" verweisen können. Daß Leitbilder nicht nur diese Kraft der Fokussierung in einem zunächst unsicheren Suchprozeß entfalten, sondern andererseits

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auch zur Ausblendung von technischen Entwicklungsalternativen beitragen können, veranschaulicht Fleischmann in seinen Betrachtungen zum Wettbewerb zwischen Technologien des Güterverkehrs: "Es ist ein Paradigma oder ein Dogma, daß Eisenbahnverkehr mit Lokomotiven und mechanisch angekoppelten Waggons erfolgt, wobei im Güterverkehr - von einigen Linienzugverbindungen abgesehen - leider ein Rangieren von Waggons notwendig ist. Die Idee, auf Lokomotiven zu verzichten und jeden Waggon mit einem eigenen Antrieb, z.B. mit einem in eine Achse integrierten Elektromotor zu versehen, ist für viele 'Eisenbahner1 offenbar undenkbar."33 Die prinzipielle technisch-kontruktive Offenheit, die Leitbilder ermöglichen können, wird nicht selten beschränkt durch die mentalen Blockaden ihrer Akteure. Als soziale Kommunikationsund Organisationsleistungen unterliegen Leitbilder zudem einer gewissen Trägheit gegenüber Veränderungen und können nicht von äußeren Instanzen per Weisung außer Kraft gesetzt, ausgetauscht oder beliebig geformt werden. Gerade weil Leitbilder Ergebnisse kollektiver Verständigungsprozesse sind, zeichnen sie sich durch eine besondere Resistenz gegenüber Versuchen der externen Einflußnahme aus. Das gilt auch in umgekehrter Richtung fui die Chancen "technokratischer Leitbildproduktion": "Leitbilder können zwar gestaltet, nicht jedoch 'gemacht' werden. Es ist möglich, vorhandene Leitbilder zu identifizieren und zu explizieren und sie in eine bestimmte Richtung zu transformieren. Man kann jedoch Leitbilder nicht wie in einer Retorte synthetisieren, um sie dann den Akteuren technikgenetischer Prozeßnetzwerke - sei es von 'oben' oder von 'außen' - schnell, schmerzarm und wirkungsvoll zu injizieren."34 Die Figur des Leitbildes als kollektive Projektion schließt manipulations- und verschwörungstheoretische Verdächtigungen genauso wie eine vorschnelle Instrumentalisierung als politisches Steuenmgsinstrument aus. Leitbilder repräsentieren reale kollektive Interessen, Ansprüche und Zukunftsprojektionen, die sich an Kaufverhalten, Wahlentscheidungen und Alltagspraxen der Nutzung und Aneignung ablesen lassen. Forderungen nach einem "neuen" oder "besseren" Leitbild bleiben solange lediglich normativ und dem Gegenstand äußerlich, bis sie nicht auch durch eine mobilisierbare gesellschaftliche Basis gestützt werden.

4. Kap.: Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns Leitbilder stellen einen gemeinsamen Fluchtpunkt der an der Entstehung von technischem Wissen beteiligten Individuen und Institutionen dar. Damit ist die Einstellung und Vergewissening einer gemeinsamen Sichtweise der ansonsten höchst unterschiedlichen Einzelakteure in komplexen Interaktionen mit einer Vielzahl von Beteiligten, wie sie Technikentstehungsprozesse in aller Regel darstellen, gemeint. In dieser "dezentral-synchrone Voradaption" genannten Funktion von Leitbildern steckt eine Interaktion zwischen verschiedenen Akteuren ermöglichende Koordinationsieistung : "Diese Abstimmungsleistung ist keine Standardisierung oder Homogenisierung, in der die spezifischen Bewertungsmechanismen eingeebnet und einander gleich gemacht werden. Die verschiedenen Bewertungspfade werden vielmehr in ein gemeinsames Richtungsfeld eingebunden. Dort können sie parallel laufen oder deckungsgleich sein, durchaus auch divergieren oder konvergieren, sich berühren oder schneiden. Wesentlich bei dieser synchronen Voradaption ist zum einen, daß die je besonderen individuellen und/oder kollektiven Bewertungspfade auf ein und demselben Richtungspfad verlaufen und mögliche andere Richtungsfelder grundsätzlich ausgeschlossen werden alle haben den gleichen Wahrnehmungshorizont, 'sehen' in die gleiche Richtung -, zum anderen, daß es zu dieser Voradaption keines wie auch immer gearteten Zentrums bedarf, welches durch seine permanente Aktivität die Synchronisationsleistung zustande bringt - die Voradaption erfolgt dezentral."35 Leitbilder in Entstehungsprozessen von Technik erlauben also eine Bandbreite konkreter technischer Lösungsmöglichkeiten, sie bedingen keine ausschließende Verengung auf bestimmte Lösungswege. Diese Bandbreite von Entwicklungsoptionen wird im Zuge der Schließung einer Techniklinie jedoch schmaler. Zudem wächst mit der Bildung und Ausweitung von Nutzungskontexten neuer Techniken die Zahl der Akteure. Die Koordinierungsleistung umfaßt bei hochgradig vergesellschafteten Artefakten nicht nur die unmittelbar am Geneseprozeß Beteiligten, sondern auch die Nutzer und die für die Reglementierung der gesellschaftlichen Nutzung Verantwortlichen. Die Attraktivität und Stärke von technischen Leitbildern hängt nicht zuletzt auch von der imaginativen Kraft von Begriffen und Metaphern ab, da in ihnen das, was Men-

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sehen fur machbar ansehen, und das, was sie für wünschbar halten, untrennbar ineinander verschmilzt und in bildhafter Gestalt auskristallisiert. Worin liegt die spezifische Leistung der Metapher, die die sprachliche "Verbildlichung" von Leitbildern in aller Regel abgibt? Mambrey, Pateau, Tepper unterscheiden sogar zwischen Leitbildern und Metaphern bzw. dem "metaphorischen Szenario", dem sie einen eigenständigen kategorialen Rang einräumen.36 Ohne attraktive Sprachbilder kommen Leitbilder offenbar kaum aus, wie für die neuen Informations- und Kommunikationstechniken37 und für die Computervernetzung38 exemplarisch nachgewiesen wurde. Es spricht viel dafür, die Spezifik des Leitbild-Konzeptes auf Akteursebene in seiner Interdiskursivität und auf der Funktionsebene in seiner Motivierungsfunktion zu suchen. "Angesichts der wachsenden Komplexität in den Handlungsnetzwerken und der damit einhergehenden Kommunikations- und Koordinationsprobleme werden große Erwartungen in Leitbilddiskurse gesetzt. Diese können in unterschiedlichen Entwicklungsphasen von Technisierungsprozessen (Genesediskurs, Anwendungsdiskurs und Folgendiskurs) und in unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen und Akteurskonstellationen (in Unternehmen, Wissenschaft, Politik, sozialen Bewegungen etc.) stattfinden".39 Das Leitbild erfaßt begrifflich prägnant die hohe Übereinstimmung verschiedener und potentiell in Interessengegensätze geratender Akteure sowohl über die technischen Grundkonfigurationen als auch über Sinn und Nutzen einer Technik bzw. eines Artefaktes. Leitbilder mit ihrer spezifischen kognitiven Aktivierungsqualität "mobilisieren die ganze Persönlichkeit"; sie betreffen die Beteiligten nämlich nicht nur auf der kognitiven, sondern auch auf der emotionalen Ebene. Ein Technikentstehungsprozeß wird stark dadurch beeinflußt, ob die einzelnen Akteure mit "ganzem Herzen" beteiligt sind. Ein solches Engagement hängt nicht zuletzt von der mobilisierenden und motivierenden Kraft von Leitbildern ab. In der Motivierungsleistung liegt neben der Orientierung und Koordinierung die dritte Dimension von Leitbildern. Schließlich spielt die imaginative Kraft eines Leitbildes auch eine wichtige Rolle für die internalisierte Bereitschaft zur Kooperation innerhalb heterogener und interessengeleiteter Gruppen. Kraft der gemeinsamen Leitbilder kann die interpersonelle Stabilität ohne äußeren Zwang

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und ohne persönliche Sympathiebande auch über einen längeren Zeitraum gelingen. Eine in Arbeitszusammenhängen der Wissens- und Technikproduktion oftmals anzutreffende gruppendynamische Stabilität ist keineswegs selbstverständlich: "Was die Produzenten technischen Wissens trotz aller sachlichen Schwierigkeiten und persönlichen Widrigkeiten wieder und wieder zuammenarbeiten läßt, ist ein permanenter Selbstzwang zur Kooperation und Internalisation, ein Selbstzwang, der aus dem Bild resultiert, das sie leitet."40 Aus technologiepolitischer Sicht ist vor allem bedeutsam, daß im hier skizzierten Leitbild-Modell der Staat in komplexen Technikgeneseprozessen nur ein Akteur unter mehreren ist. Er kann zwar durchaus proaktiv zur Verstärkung und Konsolidierung eines Leitbildes beitragen, allerdings dürfte es für ihn, wie fur andere Akteure auch, ungleich schwerer sein, etablierte Techniklinien zugunsten grundlegender Alternativen zu beenden. Die in Fragestellungen der sozialwissenschaftlichen Technikforschung nicht seltene Annahme einer lediglich verschütteten und daher nur zu identifizierenden Interventions- und Steuerungsoption des Staates ist - zumindest bei großtechnischen Systemen und komplexen Artefakten - mit Skepsis zu betrachten, wie das Beispiel des ambivalenten Erfolges des Automobils belegt.

4. Das Beispiel des Automobil-Leitbildes Alle drei zuvor skizzierten Funktionen von Leitbildern, die Orientierungs-, Koordinierungs- und Motivierungsfunktion, wirken zeitgleich zusammen, sie durchdringen sich wechselseitig und stützen einander ab. Es ist nicht zuletzt das Zusammenspiel dieser Funktionen, durch das Leitbilder die Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozesse der Menschen nachhaltig und folgenschwer prägen. Anschaulich zeigt sich dies bei der Stabilität technischer Leitbilder wie dem Automobil-Leitbild.41 Dieses Leitbild, mit dem die Dominanz des Automobils in der physischen Mobilität insgesamt festgeschrieben ist, strukturiert und bestimmt nun schon seit vielen Jahren die Verkehrspolitik in allen entwickelten Industrieländern. Es ist mit einer überaus konvergenten technischen Realisierung verbunden, insbesondere was den Verbrennungsmotor als techni-

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schem Kern des Automobils angeht. Damit dürfte es nicht nur hinsichtlich der Stabilität, sondern auch in der Reichweite und in seiner Wirkungsgeschichte eines der erfolgreichsten Leitbilder überhaupt sein. In Anbetracht des trotz aller Schädigungen und Dysfunktionalitäten anscheinend ungebrochenen Siegeszuges des Autos ist Vorsicht gegenüber der These geboten, wonach es einer erfolgreichen mobilitätspolitischen Innovationsstrategie lediglich an Orientierungswissen und einer adäquaten politischen Instrumentalisierung mangele. Das Automobil ist ein Artefakt, das wie kein anderes neben seinen Gebrauchsqualitäten als flexibles und polyvalentes Transportmittel mit vielfältigen Interessen und Gefühlen der meisten Menschen - nicht nur in den westlichen Industrieländern - verbunden ist. Das Automobil hat mit seiner einzigartigen Verbreitung und fast generellen Verfügbarkeit eine hohe kulturelle Aufladung als Symbol für Wohlstand, persönliche Bewegungsfreiheit und sozialen Fortschritt erhalten. Es hat eine wichtige ökonomische Bedeutung erlangt und zu weitgehend autozentrierten Wohn-, Siedlungs-, Freizeitund Wirtschaftsstrukturen geführt. Die gesellschaftspolitische Funktionssicherung ist sowohl für die Nutzer wie auch für die Hersteller des Artefaktes Automobil relevant, weil er beiden eine entlastende Handlungs- und Erwartungssicherheit gibt, die gerade bei einem so komplexen Produkt von hohem Nutzen ist. Leitbilder markieren Verständigungsräume, in denen die Akteure in einem Technikfeld mit dem Ziel agieren, einen tragfähigen Konsens über die gewünschte und für realistisch gehaltene Entwicklung einer Technik bzw. eines Artefaktes zu erreichen und/oder zu erhalten. Obgleich die verschiedenen Akteursgruppen - im vorliegenden Fall: die Autoindustrie, die Nutzer und der Staat - mit unterschiedlich gewichteter Definitionsmacht ausgestattet sind, können sie nicht autonom agieren oder gar die Automobil- und damit die Verkehrsentwicklung determinieren. Die Verständigungsleistung, die dem stabilen Leitbild des Automobils als Hauptverkehrsmittel mit funktionalem Universalcharakter und einer Reihe klar definierter und unabdingbarer Wesensmerkmale zugrunde liegt, ist keine einseitige Aktion der trotz aller internen Konkurrenz überaus homogenen Autoindustrie. Vielmehr bedarf es für den Erfolg und die Stabiii-

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tät auch der "gesellschaftlichen Sinnkonstitution"42. Im Zuge der sozialen Akzeptanz und Aneignung des technischen Produktes und einer damit einhergehenden kulturellen Besetzung gehen Hersteller und Nutzer eine Art Produktkomplizenschaft ein. Die Automobilzentrierung der Verkehrspolitik und die mittlerweile fast synonyme Gleichsetzung von Mobilität mit Automobilität ist nur in einer Zusammenschau von kollektiver Aneignung des Artefaktes und ihrer politisch-administrativen Förderung zu erklären. In der Anfangsphase des bundesdeutschen Automobil-Leitbildes erbrachte der Akteur Staat als Nationalstaat eine eigenständige Verkehrs- und mobilitätspolitische Steuerungsleistung. Und er tat dies, indem er insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg das Automobil steuerlich, infrastrukturell und ideologisch förderte. Der Systemcharakter des Straßenverkehrs verfestigte sich mit seiner massenhaften Verbreitung und mit dem eigens fur den Autoverkehr geschaffenen Straßennetz sowie beispielsweise mit in Ampelanlagen und Parkplätzen materialisierten Gebrauchs- und Nutzungsvorschriften. Die Träger des Automobil-Leitbildes sind ein Arrangement eingegangen, in dem Formen negativer Koordinierung und die Rücksichtnahme der Akteure untereinander vorherrschen. Staatliche Politik gewinnt ihre Legitimität und Effektivität durch ihren Verzicht auf Umsteuerung und durch ihre Festlegung auf eine status quo-Sicherung durch Feinkorrektur und materiell-infrastrukturelle sowie zunehmend durch moderierendkoordinierende Vorleistungen. Gefragt ist der "sichtbare" Staat, der diskursgerecht in der Lage ist, verschiedene gesellschaftliche Interessen und divergierende bzw. konfligierende Ansprüche an Mobilität und Verkehr und die Folgen ihrer technischen Realisierung zu integrieren und zu puffern. Ganz im Gegensatz hierzu hat der Nationalstaat zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in den 30er und besonders in den 50er und beginnenden 60er Jahren eher "unsichtbar" agiert und dabei initiativ und proaktiv am Aufbau des Automobil-Leitbildes und seiner verkehrspolitischen Hegemonialstellung mitgewirkt. Der Nationalstaat als Initial- und Etablierungsinstanz des entstehenden Automobilismus hat allerdings erheblich an Steuerungspotenz verloren, er kann eine "Verkehrswende" - ohne die Unterstützung oder gar gegen den Widerstand der ande-

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ren Akteure - nicht leisten. Ursachen dafür sind zum einen die Systemhaftigkeit des quasi großtechnischen Systems Automobil sowie die kulturelle Dimension des Automobilismus, die sich sowohl ökonomischer als auch politischer Handlungsrationalität entziehen, und zum anderen die Verlagerung von politischen Entscheidungskompetenzen auf supranationale Ebenen, insbesondere im Zuge der europäischen Integration. Auf der anderen Seite gewinnen kommunale und regionale Politikinstanzen an Bedeutung, weil diese verstärkt zum Adressaten der Ansprüche der Bürger werden und dem Problemdruck in umweit-, gesundheits- und verkehrspolitischer Hinsicht unmittelbar ausgesetzt sind.

5. Optionen einer realistischen Technologiepolitik Die in Leitbildern ausgedrückten Verständigungen und Orientierungen können - wie in dem hier behandelten Automobilbeispiel trotz hoher sozialer Kosten - offenbar eine überaus robuste Stabilität ausbilden. Der Umbau eines bisher erfolgreichen Leitbildes scheint vor allen Dingen auch daran zu scheitern, daß die mit diesem Leitbild verbundenen Orientierungs- und Strukturierungsleistungen ohne ein gleichwertiges ErsatzLeitbild kaum kompensiert werden können. Das potentielle nachautomobile Leitbild einer "Multimobilität" beispielsweise, zwar vielfach gewünscht und eingeklagt, scheint hierfür noch viel zu wenig konturiert und profiliert, um als Ersatz fungieren zu können. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Nationalstaates für die Karriere eines nachautomobilen Leitbildes sind, selbst wenn es ein prioritäres mobilitäts- und technologiepolitisches Ziel wäre, zunächst einmal wenig positiv einzuschätzen. Der nationalstaatliche Akteur hat seine einmal vorhandenen Gestaltungspotentiale, zumindest

bei

großtechnisch

konfigurierten

und

Infrastrukturen

verfestigten

„systemischen" Techniken, verloren. Die Chance für eine neue Gestaltungsinitiative auf dieser politischen Ebene liegt primär in einer Moderatorenfunktion unter Nutzung von Instrumenten symbolischer Politik. Was ist technologiepolitisch überhaupt noch möglich und realistisch? Abgesehen von grundsätzlichen Steuerungsproblemen staatlicher Politik ist auch der Einsatz finanzieller Förderungsmittel zunehmend beschränkt.

4. Kap. : Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns

8 7

Die klassische staatliche Forschungsförderung bildet nur einen Bruchteil der gesamten volkswirtschaftlichen Forschungsaufwendungen, auch und gerade in Hochtechnologiefeldern. Lediglich in kleinen Nischen können staatlich finanzierte Forschungsprojekte eigenständige Innovationsleistungen initiieren. Eine solcherart selektive Innovationsförderung hat in der Regel Pilotcharakter und schafft im günstigsten Fall Experimentierräume für Innovateure. Neben der beispielhaften und experimentellen Förderung von technischen Alternativentwicklungen und konkurrierenden Technikideen sind primär indirekte Maßnahmen, durch die ein umfassender und systematischer gesellschaftlicher Dialog über potentielle technologische und gesellschaftliche Zukünfte angestoßen wird, möglich. Die Unternehmen, die Wissenschaft, die Verbraucher, aber auch die Kritikergruppen in einzelnen Technikfeldern stellen Wissenskulturen dar, die üblicherweise kaum oder gar nicht zusammen kommen. Gleichwohl sind sie in ihrer Gesamtheit aufeinander angewiesen, wenn Entscheidungen über künftige Technik- und Produktentwicklungen anstehen und vor allem tragfahig sein sollen. Für die Schaffung eines breiten Dialogs kann der Staat eine wichtige Initiatorenrolle übernehmen. Schließlich kann der Dialog zwischen verschiedenen Wissenskulturen, besonders wenn die einzelnen Kulturen bisher abgeschüttet waren oder gar in Gegnerschaft zueinander standen, zu technischen oder sozialen Innovationen fuhren. „Je größer ihre Zahl, je breiter und tiefer der Pool, desto mehr nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, auf konsensfähige Ideen zu stoßen, die im Hinblick auf das 'Wünschbare' breite Zustimmung finden und im Hinblick auf das 'Machbare' hohe Plausibilität erreichen."43 Eine solche leitbildorientierte Technologiepolitik ist sicherlich beschwerlich und der Erfolg ungesichert. Zudem wird sie dadurch kompliziert, daß eine permanente Öffentlichkeit gewährleistet werden muß. Denn von dem, der intendiert oder nicht intendiert aus dem Prozeß der Selektion und Bewertung künftiger technischer Pfade oder neuer Produkte ausgeschlossen ist, ist nicht zu erwarten, daß er zur Trägerkoalition eines künftigen technischen Leitbildes gehört. Daß dieses zunächst eher abstrakt skizzierte Politikkonzept so weit von der zumindest teilweise bereits bisher gepflegten Praxis gar nicht entfernt ist, zeigen die diversen En-

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4· Kap.: Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns

quete-Kommisionen des Deutschen Bundestages. In den Enquete-Kommissionen wurden seit den 70er Jahren zu einigen zentralen technikpolitischen Fragen, beispielsweise zur „künftigen Kernenergiepolitik" oder zur „Gentechnik" unter Beteiligung aller politischen Akteure und in einem breiten Pluralismus gesellschaftlicher Wissenskulturen versucht, die technischen Leitbilder der verschiedenen Entwicklungspfade zu identifizieren und deren Folgen zu beurteilen. Die Krise des Nationalstaates als Instanz „harter" Techniksteuerung eröflhet die Chancen, auf dem Wege „weichei" Interventionen in den Prozeß der Technikentstehung eine neue Position einzunehmen. Mehr als Vermittler und Moderator tritt der Staat auf. Das ist die Rolle, die er in einem Konzept leitbildorientierter Technologiepolitik einnimmt, in dem kein Akteur allein über das Ob und Wie bestimmter Technikentscheidungen bestimmen kann, weil neben den Kriterien technischer Machbarkeit und ökonomischer Verwertbarkeit auch die gesellschaftliche Akzeptanz und die kulturelle Adaption in den Wert- und Lebensstilmustern der Kundschaft erfüllt sein müssen. Gleichzeitig gerät der Staat zunehmend in die Position eines Wächters nicht- bzw. unterrepräsentierter Interessen - beispielsweise zukünftiger Generationen (s.a. 2. Kap.) - , die verstärkt in die Geneseprozesse neuer Techniken und Produkte einfließen müssen, wenn diese das Prädikat nachhaltig verdienen sollen. Anmerkungen 1

Wolf (1986) Ropohl, Schuchardt, Lauruschkat (1984) 3 Weber (1985) 4 Dierkes, Knie, Wagner (1988) 5 Eichener, Heinze, Voelzkow (1991) 6 Ropohl, Schuchardt, Lauruschkat (1984) 7 Lenk (1994) 8 Jänicke (1986) 9 Luhmann (1988) 10 Seeger, Kubicek (1993), S. 25 11 Simonis (1992) 12 Scharpf(1987) 13 Beck (1986) 14 Böhret (1990) 15 Willke (1987); Luhmann (1986) 16 Scharpf (1992), S. 95f. " ebenda, S.101 18 Glagow, Willke (1987) 2

4. Kap. : Technologiepolitik - Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handdns

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 34 37 38 39 40 41 42 43

Simonis (1995) Martinsen (1995) Scharpf (1985) Ebenda, S. 350 Ebenda Werle (1995) Im Obeiblick: Dierices, Canzler, Maíz, Knie (1995) Memorandum (1984); National Research Council (1988); Dierkes, Marz (1991) Dierkes, Knie (1994, S. 83f.) Z. B. Radkau 1989 Hughes (1983); Noble (1984); Lutz (1986) Dierkes, Hoffinann, Marz (1992) Rammert (1994) Dierkes, Hoffinann, Marz (1992), S. 42 Fleischmann (1993), S. 12 Dierkes, Hoffinann, Marz (1992), S. 43f. Ebenda, S. 46f. Mambrey, Pateau, Tepper (1995), S. 106ff. Bockholt, Kohl, Schlosser, Schmidt (1993) Canzler, Helmers, Hoffinann (1995) Seeger, Kubicek (1993), S. 27 Dierkes, Hoffinann, Marz (1992), S. 56 Canzler, Knie (1994); Dierkes, Buhr, Canzler, Knie (1995); Canzler (1996) Dierkes, Knie (1994), S. 91 Dierkes, Hoffinann, Marz (1992), S. 154

89

90

5. Kap.: TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

5. Kapitel Technikfolgenabschätzung - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik ? Versuch einer Kritik Otto Ullrich

1. Die kulturell-religiöse Überhöhung von Technik in der Moderne Vergleicht man unsere Industriekultur, die vor rund dreihundert Jahren in Europa sich auszuprägen begann, und die in den letzten hundert Jahren zum beherrschenden "Entwicklungsmodell" für die Welt wurde, mit anderen Kulturen in der langen Menschheitsgeschichte, so fällt als eines der herausragenden Merkmale eine außerordentlich hohe Wertschätzung für technisch-materielle Umformungsprozesse auf. Auch andere Kulturen verwendeten schon sehr lange eine große Zahl ausgesuchter und umgeformter gegenständlich-technischer Hilfsmittel für den Nahrungserwerb, die Behausung und Kleidung, den Angriff und die Verteidigung, für rituelle Handlungen, Spiele und den künstlerischen Ausdruck. In diesem allgemeinen Verständnis ist "Technik" so alt wie der Mensch. Epochenbestimmend neu ist jedoch, daß in der sich herausbildenden Neuzeit "Technik" zum ersten Mal kulturell-religiös überhöht wurde. Die zweckrationale Manipulation von Materie wurde "weltanschaulich" ausgedehnt zum universalen Prinzip der Praxis, der Erkenntnis und der geschichtlichen Perspektive. Dieses metaphysische Fundament der Moderne ist kulturhistorisch als Veränderung des Wahrheit sbegriffs, der Heilserwartungen oder der Geschichtsphilosophie vielfältig und aus vielen Perspektiven beschrieben worden. Die philosophisch-kulturelle Überhöhung von manipulierbaren mechanischen Verknüpfungen führte zu einer Wissenschaft von der Natur, die vom Ansatz her technokratisch ist, deren Erkenntnisinteresse die Erzeugung machtförmigen Wissens ist. Der gelungene technische Zugriff wird zum Wahrheitskriterium der neuen Wissenschaft. Wir erkennen nur, was wir herstellen können, heißt es später bei Kant.1

S. Kap.: TA- ein Konzept zur politischen Gestaltung von TechnikT

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"Herstellen" wird überhaupt zum Imperativ der Moderne, zum umfassenden Zwang der Neuen Zeit. Die Heilserwartung im Jenseits, die vertikale Transzendenz der alten Epoche wird umgedeutet zur horizontalen Transzendenz, zur Heilserwartung in der Geschichte durch die herstellende Tatkraft der Menschen in materieller Produktion. Durch Arbeit, Wissenschaft und Technik sollte nach Francis Bacon, einem frühen programmatischen Theoretiker der Neuen Zeit, ein "Schleichweg ins Paradies" gefunden werden. Erst nach dem praktischen Scheitern des "Projekts der Moderne" wird heute erkennbar, daß die Annahme, durch "Produktivkraftentfaltung" sei eine unfehlbare Bedingung für Erlösung, Glück und Emanzipation gegeben, das Selbstverständnis der Moderne regelrecht "verhext" hat. Diese Annahme stellt sich nun als die große Illusion der Epoche heraus.2

2. Die schleichende Gewöhnung an die Dominanz ökonomisch-technischer Rationalität Sozialhistorisch gesehen verlief der Prozeß der industriekulturellen Zivilisation nicht als Höherentwicklung "der Technik" durch "die Menschen", wie aus einer ahistorischen Sicht des Siegers gerne erzählt wird, sondern als Prozeß von Unterdrückung und Ausbeutung. Die industrielle Technik als Maschinerie der Fabrik war zuerst und vor allem Disziplinierungskorsett der Fabrikherren, um störrischen, eigenwilligen und eigeninteressierten Menschen "ihren unsteten Arbeitstag abzugewöhnen und sie dazu zu bringen, sich mit der unveränderlichen Ordnung eines komplexen Automaten zu identifizieren."3 Mit industriellen Maschinen konnte Herrschaft durch Technik "versachlicht" werden. Herrenzwang wird zum Sachen-Zwang, Technologie zur fast unangreifbaren Herrschaftslegitimation.4 In der langen Phase der "ursprünglichen Akkumulation des Kapitals" erfolgte der industrielle Technikeinsatz in brutaler Rücksichtslosigkeit gegenüber Menschen und Natur. Massenverelendung, Kulturauflösung und Naturzerstörung waren die bedenkenlos hingenommenen "Folgen". "Der entstehende Industrie-Kapitalismus erschien als infames Vorhaben einer Minderheit skrupelloser Unternehmer, die zu ihrem eigenen Vor-

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S. Kap.: TA- ein Koniept zur politischen Gestaltung von TechnikΤ

teil ein ausbalanciertes gesellschaftliches und kulturelles Geflige zerstörten."5 Verzweifelter und langanhaltender Widerstand gegen die radikale Minderheit industrieller Kapitalisten konnte nicht verhindern, daß die neue Produktionsweise durchgesetzt wurde. Es folgte ein Prozeß der schleichenden Gewöhnung an die scheinbar unabänderlichen Tatsachen der neuen Rationalität der ökonomisch-technischen Gesellschaft. Die organisierte Arbeiterbewegung übernahm schließlich den Fortschrittsmythos der Moderne und erwartete auch für sich "letztlich" einen Gewinn durch den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt. Das neue Produktionssystem, das mit Hilfe verwissenschaftlichter Technik Materie immer schneller und in immer größeren Mengen zu Waren umformte, produzierte noch schneller die dazugehörigen Wünsche, Bedürfiiisse und Verhaltensweisen.6 Die suchtartige Dynamik des industriellen Produktivismus verschränkte sich mit dem Konsumverhalten einer großen Zahl von Menschen. Es bildeten sich scheinbar "unverzichtbare" industrielle Konsum- und Komfortstandards mit einem sehr hohen Einsatz von Energie, Material und Technik heraus. "Zwecke, die zunächst ungebeten und vielleicht zufällig durch Tatsachen technischer Erfindung erzeugt wurden, werden zu Lebensnotwendigkeiten, wenn sie erst einmal der sozialökonomischen Gewohnheitsdiät einverleibt sind, und stellen dann der Technik die Aufgabe, sich ihrer weiter anzunehmen und die Mittel zu ihrer Verwirklichung zu vervollkommnen." Der anfanglich nur von einer Minderheit vorangetriebene Prozeß der Warenproduktion, Technisierung und Rationalisierung, begleitet und unterstützt zwar auch durch einen ungeplanten "Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias), versteinerte zu einem "Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber), das die industriellen Menschen in "Sachzwängen" von Produktion, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzerhalt und Konsumgewohnheiten

gefangenhält.

Schließlich

überwölbt

und

durchdringt

das

"zwingende Ethos der Technik" (Hans Freyer) so sehr unsere Kultur, daß nicht nur

5. Kap.: TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

93

funktional ausdifferenzierte Institutionen sich dem herstellenden Ethos der Technik verschreiben, sondern technische Denkformen auch in der Sprache dominant werden. 8

3. Der Staat als Technikentsorger und Technikförderer In der späten Phase des industriellen Kapitalismus gewinnt aus vielen Gründen für die Technikentwicklung der Staat eine zunehmende Bedeutung. Die sehr hohen Extemalisierungen der industriellen Produktionsweise in Form von Müllbergen, Luft-, Wasserund Boden-"verschmutzungen" sowie periodischer und dauernder "Freisetzung" von Menschen von ihren Möglichkeiten zur Lebenssicherung mußten im Interesse der Fortsetzung dieser Produktionsweise, zumindest soweit sie funktionsnotwendig waren, "abgemildert" werden. Diese Funktion wurde arbeitsteilig dem Staat zugewiesen. Er versucht, über "Entsorgungseinrichtungen" und teilweise auch über gesetzliche Vorschriften, die Externalisierungen des industriellen Produktivismus und Konsumismus zu kompensieren, zu reparieren und auch zu begrenzen. Die nachträgliche Entsorgung und Reparatur sind sehr kostspielig. Da der Staat sich darauf eingelassen hat, die immer teurer werdende Entsorgung und Reparatur aus Steuereinnahmen zu finanzieren, manövriert er sich in eine ausweglose Zwangssituation. Um hohe Steuereinnahmen zu erzielen, unterstützt er eine Politik des Wirtschaftswachstums, wodurch er aber genau die Probleme, die er mit dem eingenommenen Geld entsorgen und reparieren will, bislang zusätzlich verstärkt.^ Da der Staat wegen sozialer und ökologischer Entsorgungsaufgaben und wegen der Infrastrukturkosten für die Warenproduktion und Technikentwicklung an hohen Steuereinnahmen interessiert ist, und da er das Produktions- und Wachstumsinteresse zum Staatsinteresse erhoben hat, versucht er konsequenterweise, zunehmend stärker auch Vorsorgeleistungen für wirtschaftliches Wachstum zu erbringen. Als Motor für wirtschaftliches Wachstum fungiert in entwickelten Industriegesellschaften die wissenschaftlich-technische Innovation. Das gilt noch stärker fur überentwickelte Industriegesellschaften auf einem sehr hohen materiellen Versorgungsniveau. Da hier neue Märkte, neue und zusätzliche materielle Bedürfhisse und somit weiteres Wirtschafts-

94

5. Kap.: TA-ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

Wachstum im wesentlichen erhofft werden über die Entwicklung "Neuer Technologien", interpretiert der Staat seine Vorsorgeleistung immer stärker als Technologieförderung.

4. Wird eine substantielle "Technikfolgenabschätzung" möglich sein? Die hier nur sehr grob angerissenen Dimensionen zur Bedeutungs- und Funktionsanalyse von Technik in der Industriekultur, nämlich die philosophisch- religiöse Überhöhung von Wissenschaft und Technik, die Funktion der industriellen Maschinerie als Ausbeutungs- und Beherrschungsmedium, die schleichende Gewöhnung an den technisch dynamisierten Konsumismus, die Durchdringung und Besetzung der Sprache und des Denkens durch Technozismen und die dem Staat aufgelasteten Funktionen als Technikentsorger und Technikfbrderer, beschreiben den Rahmen, in dem ein Konzept der "Technikfolgenabschätzung und -bewertung" zu beurteilen wäre. Erst mit diesen historisch-kulturellen Zusammenhängen, Hintergründen und Antrieben kann geklärt werden, wie weit Konzepte zur Technikfolgenabschätzung - oder auch andere Konzepte zur Technikgestaltung - historisch selbstaufgeklärt sind, wie tiefgreifend und weitreichend sie sind, und welche verändernde Wirkung sie in institutionalisierter Form entfalten könnten. Idealtypisch könnte eine "Technikfolgenabschätzung und -bewertung" ja folgendes bedeuten: Wissenschaftlich angeleitete "Einrichtungen" versuchen, möglichst viel an "Folgen" für die Kultur, die Gesellschaft und die Natur von vorhandenen und propagierten Techniken herauszubekommen. "Aufwand" und "Folgen" dieser Techniken werden verglichen

mit

technischen

und

sozialen

"systemaren

Alternativen"

(Ueberhorst) hierzu. In einem breiten "gesellschaftlichen Diskurs" werden dann die Ergebnisse bewertet. Schließlich wird anhand dieser Bewertungen und Kriterien in demokratisch-politischen Entscheidungsprozessen zwischen Techniken und Techniklinien ausgewählt. In einer Gesamtbilanz "günstige" Techniken werden gefördert, und je nach der Schadwirkung werden andere Techniken umgebaut, abgebaut oder gar nicht erst eingeführt.

S. Kap.: TA- ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik7

9 5

Für eine wirklich demokratische Gesellschaft wäre dieser Umgang mit Technik selbstverständlich. In einer "technikbesessenen" Gesellschaft wie der unsrigen ist ein souveräner Umgang mit Technik jedoch sehr erschwert. Gegenwärtig ist hier eine große Kluft zu beobachten zwischen Wissen und Verhalten. Auf der einen Seite ist das Wissen über die verheerenden mitweltzerstörenden Wirkungen des technikzentrierten Projekts der Moderne stark angewachsen. Spätestens seit der Weltklimakonferenz in Rio ist in ein breiteres Bewußtsein getreten, daß unsere industrielle Produktions- und Lebensweise nicht verallgemeinerbar und zukunftsfähig ist. Immer mehr Menschen wissen, daß der ehemals als alternativlos angesehene fossilgetriebene Fortschritt aus Überlebensgründen dringend durch "nachhaltige" Techniken, Produktions- und Lebensweisen abgelöst werden müßte. Auf der anderen Seite dringt dieses Wissen in die Alltagsroutinen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft handlungsleitend nicht ein. Es wird stattdessen noch stärker am Fetisch "wissenschaftlich-technischer Fortschritt" festgehalten, von dessen immer schnellerem Produktionstempo man sich alle Problemlösungen erhofft. Eine Fraunhoferstudie zur "Produktion im 21. Jahrhundert" beispielsweise fordert in der Umsetzung von Techniken "schnellstes trägheitsfreies Reagieren". Ein simultanes Forschen, Entwickeln und Vermarkten sei erforderlich, um im Globalisierungswettlauf mithalten zu können. 10 Hier bleibt kein Spielraum für Folgenabschätzungen, vergleichende Bewertungen und demokratische Entscheidungsprozesse. Wie man sieht, müssen noch sehr viele grundlegende "eingefahrene" Sachverhalte in unserer Gesellschaft diskutiert, neu durchdacht und verändert werden, bevor eine substantielle Technikfolgenabschätzung in der skizzierten Weise möglich sein wird. Einige dieser Themen möchte ich im folgenden ansprechen.

5. Vertrauen als Brücke zwischen Wissenschaft und Politik Dem hochspezialisierten Wissen der technikvorantreibenden Wissenschaften vermögen inhaltlich nicht einmal die Wissenschaftler untereinander zu folgen. An den Schnittstellen zwischen Politik und Wissenschaft in Form von Beratungsgremien, Kommis-

gg

5. Kap.: TA- ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

sionen oder Anhörungen mußten und konnten die Technikvisionäre aus der Wissenschaft den Politikern nur Informationen auf einer vergleichsweise oberflächlichen Plausibilitätsebene vermitteln. Ob die angepriesenen technischen "Zukunftsprojekte" tatsächlich die Ziele der Politik nach Wohlstand, Wirtschaftswachstum, Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit oder etwa billiger Energieversorgung ohne zu große Kosten und "Nebenfolgen" erfüllten, konnte als Wissen den Politikern nicht vermittelt werden. Dies war als Wissen in der Regel auch gar nicht vorhanden. Wissen wurde ersetzt durch Vertrauen in die "führenden" und "weltweit anerkannten" Experten. Die Wissenschaftler interpretierten und nutzten die unvollständige Informationsübertragung zu den Politikern über die Außenbeziehung „Vertrauen" gleichzeitig als verhaltensentlastende Delegation von Verantwortung. Politiker übernahmen so die Rolle, etwas formal zu verantworten, das sie weder in den Entstehungsbedingungen noch in den Auswirkungen wissend durchschauen konnten. Für Vertrauen als zulässige Außenbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik galt als begründendes Kriterium eine unterstellte hohe Selbstkontrolle der Wissenschaft. Wer mit Titeln und hohen Funktionsstellen im Wissenschaftssystem von der entsprechenden scientific community ausgelesen und ausgezeichnet worden ist, der sei von ihr durch einen langen Selektionsprozeß so gründlich überprüft worden, daß seine Aussagen als "wissenschaftlich seriös" und somit vertrauenswürdig anerkannt werden könnten. Die Bevölkerung konnte ihrerseits bei staatlichen Technikprojekten den Politikern vertrauen, da diese sich ja auf Aussagen anerkannter Fachleute stützten. Vertrauen als wichtiger "Sozialkitt" zwischen Wissenschaft, Politik und Bevölkerung wurde zudem entscheidend gefestigt durch den gemeinsamen Fortschrittsglauben. Es bestand ein ungewöhnlich hoher Konsens in der Auffassung, daß wissenschaftlich- technischer Fortschritt "letztlich" immer auch zu sozialem Fortschritt fuhren würde. Dieses auf Glauben und Vertrauen sich gründende Gebäude der arbeitsteiligen Struktur für politisch verantwortete Technologieprozesse ist in letzter Zeit nachhaltig erschüttert worden, weil gleich mehrere Pfeiler eingestürzt oder erodiert sind. Große Teile der Bevölkerung, die sich etwa in Bürgerinitiativen gegen technische Großpro-

5. Kap.: TA- ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

97

jekte organisierten, artikulieren einen starken Vertrauensverlust gegenüber Politik und Wissenschaft. Im politischen System gibt es eine größer werdende Fraktion, die die Außenbeziehung Vertrauen zu der Wissenschaft nicht mehr als tragfähige Brücke ansieht. In einem schmerzvollen Lernprozeß formuliert mittlerweile die Partei, die noch vor kurzem großes Vertrauen gegenüber dem wissenschaftlich- technischen Fortschritt hatte, nun deutliches Mißtrauen und vorsichtige Ausstiegsszenarien für Techniklinien, die sie selbst tatkräftig vorangetrieben hatte. Der ehemalige Bundesminister für Forschung und Technologie Volker Hauff beispielsweise bekennt heute, daß er unter anderem vom Brüter-Visionär Häfele sich in die Irre hat fuhren lassen. Gerade bei den großtechnischen Projekten, bei denen Politiker am meisten auf das Vertrauen in die "sachliche Neutralität" der beteiligten Wissenschaftler angewiesen wären, zeigte sich, daß Informationen und Interessen unentwirrbar verknüpft sind. Mit den technischen Großprojekten ist nämlich ein neuer Wissenschaftstyp entstanden, der auch von ihren Betreibern als "Projektwissenschaft" herausgestellt wurde. 11 In Projektwissenschaften, beispielsweise im "Projekt Kernenergie", erweisen sich Projektexperten nicht als neutrale Sachberater, sondern in bislang ungewohnter Weise als durchsetzungsorientierte und interessengebundene Lobbyisten. Sie entwickeln ein hohes unbeirrbares Interesse, "ihr" Projekt durchzusetzen und zu realisieren. Folgerichtig versuchen sie, Informationen und die Produktion von Informationen zu unterdrücken, die ihr Projekt gefährden könnten. Das fuhrt dazu, daß Kenntnisse über negative Folgen ihres Projekts und über funktional äquivalente Alternativen zu ihrem Projekt von ihnen selbst kaum erarbeitet werden, obwohl das Vertrauen in die unterstellte Selbstkontrolle der Wissenschaft dies eigentlich mit einschließt. Von Wissenschaftlern, die nicht dem Projekt angehören, sind Informationen über Schwierigkeiten, Probleme und negative Folgen des Projekts nur schwer zu erarbeiten, weil die Projektwissensproduktion eng mit der Tätigkeit im Projekt verbunden ist. Insgesamt ergibt sich der Sachverhalt, daß die unterstellte Selbstkontrolle der Wissenschaft als rationales Kriterium fur die Außenbeziehung Vertrauen bei Projektwissenschaften nur in sehr unzureichendem Maß gegeben ist.

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J. Kap. : TA -ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik7

Zu dem aufgekündigten Vertrauen großer Bevölkerungsgruppen gegenüber staatlicher Technologiepolitik und den Projektwissenschaften, zu dem Erkennen von Politikern, daß Projektwissenschaften interessengebunden sind, kommt hinzu, daß aus der scientific community selbst, zumindest zu technischen Großprojekten, eine so starke grundsätzliche Kritik vorgetragen wird, die sich nicht mehr interpretieren läßt als die auch im Wissenschaftssystem übliche Spannweite "abweichenden Verhaltens". Alles zusammen und auch das Erblassen des Fortschrittsmythos insgesamt haben dazu gefuhrt, daß der ehemals hohe technologiepolitische Konsens in der Bundesrepublik, aber ebenso auch in einigen anderen westlichen Industrieländern, nachhaltig zerbrochen ist und daß nun nach Auswegen gesucht wird.

6. Zurück zum alten technologiepolitischen Konsens? Von Strukturkonservativen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wird aus Machterhaltungsgründen das Banner des wissenschaftlich-technischen Fortschritts gegenwärtig am unreflektiertesten weitergetragen und naheliegend versucht, Wege zu finden, den bequemen alten technologiepolitischen Konsens auf der Basis von Vertrauen wieder herzustellen. Funktionäre der Projektwissenschaften plädieren, wo immer sie können, eindringlich dafür, doch zum alten Vertrauen zu ihnen zurückzukehren. Zeitungsanzeigen von Mitgliedern der „Kernenergiegemeinde" beispielsweise sind überschrieben mit "Wir suchen Ihr Vertrauen", und im Text heißt es: "Wir wissen, wovon wir sprechen. Deshalb appellieren wir an Sie: Schenken Sie uns auch in Zukunft Ihr Vertrauen."12 Zum Teil können Wissenschaftler und Techniker gar nicht verstehen, warum ihnen das Vertrauen entzogen wurde, und vermuten neben Unaufgeklärtheit auch Böswilligkeit und krankhaftes Verhalten. Oder in der Öffentlichkeitsarbeit von Wirtschaftsfunktionären wird die "Wiederherstellung des Konsens" zum rhetorischen Universalargument.13 Auch hier wird machtarrogant der Lernprozeß nur von den anderen gefordert. Die das Vertrauen aufgekündigt haben, sollen "zurück" zum alten Konsens, hier der Befürwortung der Atomenergie.

S. Kap.: TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

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Daß vorwärtsgerichtet ein neuer Konsens gefunden werden müßte für den Ausstieg aus der Atomenergie, kommt ihnen noch nicht in den Sinn. Auch fur strukturkonservative Politiker ist es naheliegend und zunächst am einfachsten, den Verlust an Vertrauen und Glaubwürdigkeit ihnen gegenüber durch eine semantische Problembearbeitung abzugleichen. Sie vermuten, es müsse an der mangelnden Aufklärung der Bevölkerung über die "Unverzichtbarkeit" und über die hohen wirtschaftlichen "Chancen" bei Technologieprojekten liegen, daß bei ihr die sicher auch vorhandenen "Restrisiken" ein ängstigendes Übergewicht erhielten. So wird der Protest gegenüber bestimmten Technikentwicklungen gedeutet als "vagabundierende Angst", die sich mangels geeigneter wirklicher Gründe unberechtigterweise gerade an den neuen und vielversprechendsten Projekten festsetzt. Bei dieser Einschätzung der Problemlage ist eine Veränderung auf der technisch-stofflichen Ebene kaum erforderlich. Wichtig seien vor allem vertrauensbildende und entsorgende Maßnahmen auf der Ebene der Sprache, der Wahrnehmung und Bewertung. In vertrauensbildender Absicht wird verbal zugestanden, die Ängste der Bevölkerung "ernst zu nehmen", aber man ist überzeugt, vor allem durch "beharrliche Aufklärung" und ohne grundsätzliche Änderung der Wirtschafts- und Technologiepolitik die Bevölkerung von ihren "irrationalen Ängsten" befreien zu können. Da diese Probleminterpretation und -bearbeitung in der Politik und Wissenschaft und in den dazugehörigen Bürokratien immer noch vorherrschend sind, könnten Einrichtungen zur Technikfolgenabschätzung überwiegend funktionabel gemacht werden zur Wiedergewinnung des alten technologiepolitischen Konsenses. Die Wahrscheinlichkeit für diese Problemverdrängungsfunktion einer TA-Einrichtung wächst, wenn folgende "Randbedingungen" gegeben sind: - Wenn die Politik weiterhin aufgrund des Wachstumsparadigmas sich als Technikförderer und -vorantreiber interpretiert. Strukturell müssen dann "Chancen" weit höher bewertet werden als "Risiken". Gründliche und umfangreiche TA-Prozesse zur Entscheidungsvorbereitung würden selbstverständlich die gelderzeugende Umsetzungsgeschwindigkeit technischer Entwicklungen verringern. Dies ist nicht im Interesse deijenigen, die fur Wachstumsimpulse sogar beschleu-

100

5. Kap. : TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

nigten "Technologietransfer" fordern. Wynne hatte fur die USA festgestellt, daß ein wesentliches Motiv der TA-Bewegung Konsensbeschaffungsrhetorik sei, um auf der Basis eines "materialistischen Verbraucher-Paradigmas in einer "liberal-demokratischen' Gesellschaft" am "anscheinend bequemen Glauben festhalten zu können, der Prozeß der Technisierung könne weiter expandieren, ohne daß dies mit fundamentaler Opposition in der Gesellschaft verbunden wäre." 14 - Wenn die TA-Einrichtung zwar so "groß" ist, daß sie als Entlastungseinrichtung von Parlamentariern wahrgenommen werden kann, aber so "klein" gehalten wird (in Ausstattung, kritischer Kompetenz und institutioneller Einbindung), daß sie faktisch die übliche Technologieförderungspolitik nicht stören und verzögern kann. Auch bei einer sogenannten großen TAEinrichtung mit etwa hundert Folgenabschätzern bliebe übrigens die Wirkungsforschung gegenüber der staatlichen Technikförderung, ausgedrückt in Aufwendungen an Geld und Menschenstunden, immer noch in einem krassen MißVerhältnis. Ob sich die Industriegesellschaft auf eine einigermaßen angemessene Relation zwischen Institutionen, die Technikentwicklungen vorantreiben und Technikwirkungen erforschen, einrichten wird, bleibt aufgrund der dominanten Herstellungsinteressen ohnehin sehr fraglich. Allein für den Chemiebereich wurde festgestellt (vom Toxikologen Otmar Wassermann), daß bei einem sofortigen Produktionsstopp von neuen chemischen Stoffen den hundert Jahren modemer Chemie etwa zweihundert Jahre Toxikologie anzuschließen wären, wenn man das toxikologische Risiko der vorhandenen chemischen Produkte erkennen wollte. Ein nur noch als grotesk zu bezeichnendes Verhältnis zwischen Herstellen-Können und Verantwoiten-Können, zwischen Risikoproduktion und Wirkungswissen, scheint für Wachstumsgesellschaften auf der Grundlage verwissenschaftlichter Technik konstitutiv zu sein. - Schließlich werden TA-Einrichtungen tendenziell eher zur semantischen Problembearbeitung beitragen, wenn sie nicht mit einer grundlegenden Parlamentsreform verbunden werden. Gegenwärtig ist der Engpaß bei Parlamentariern nicht fehlende Information über Technikfolgen, die eine TA-Einrichtung erst produzieren müßte. Es gibt zwar viel zu wenig Wirkungswissen über den Technikeinsatz, aber es ist bereits jetzt weit mehr Folgenwissen vorhanden, als von Politikern aufgenommen und handlungsleitend verarbeitet werden kann. Der Engpaß bei Parlamentariern ist die verfugbare Zeit. Ihr Zeitbudget zerrinnt in der geschäftigen Betriebsamkeit als aktives Objekt in der parlamentarischen Alltagsroutine.

5. Kap.: TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

101

7. Ist "Primat der Politik" ein aussagekräftiges Kriterium? Was müßte nun geschehen, damit TA-Einrichtungen sich in Richtung eines Beitrags zur verantwortlicheren Technologiepolitik entwickeln? Aus der Sicht der Politiker scheint vieles geklärt zu sein, wenn der "Primat der Politik" gewährleistet wäre, wenn Technikentwicklungen "politisch gesteuert" werden könnten. Aus der vielfach empfundenen Ohnmacht eines normalen Parlamentariers ist das ein verständlicher Wunsch, auch aus der Sicht derjenigen, die nicht wollen, daß die "Wirtschaft" oder die "Wissenschaft" die Technikentwicklung alleine bestimmen. Das politische System wird hier als Instanz gesehen, die in der funktional ausdifferenzierten, in Einzelinteressen zerfallenen Industriegesellschaft das Allgemeininteresse vertritt. So wird im ersten Bericht der Enquetekommission "Technikfolgenabschätzung" als wichtiges Gütemerkmal einer TA-Einrichtung "der Primat der Politik" herausgestellt. Hat diese Forderung ohne genauere Bestimmung von neuen Politikstilen (Ueberhorst) und neuen Mitbestimmungsformen eine problemlösende Funktion? Wenn jetzt gefordert wird, die Politik müsse endlich die Technikentwicklung bestimmen, sollte nicht vergessen werden, daß fast ausschließlich alle Technikentwicklungen zumindest nicht gegen den Willen der bisherigen Bundesregierungen entstanden sind. Die überwiegende Zahl gerade der problematisch gewordenen Techniklinien, vor allem von den Großprojekten, ist ja sogar durch den entschiedenen Willen der Politik vorangetrieben worden. Ohne die staatliche Politik mit ihrer Möglichkeit, riesige Summen an Steuergeldern ausgeben zu können, ohne die geldabschöpfenden Zentralregierungen in den Industrieländern also, gäbe es keine Atombomben, kein großes Kriegsgerät, keine Atomkraftwerke, Schnellen Brüter und Wiederaufbereitungsanlagen und keine Weltraumraketen. Oder auch das Techniksystem Automobilismus, das laut Umweltbundesamt der größte Luftverschmutzer und krankmachende Lärmerzeuger ist, hätte sich ohne die massive staatliche Förderungspolitik und ohne den forcierten staatlichen Straßenbau niemals in dieser Stadt- und landschaftszerstörenden Weise und zu dieser massenhaft todbringenden Maschinerie ausbreiten können. Auch die synthetischen Giftstoffe der Kohlenwasserstoffchemie oder die Mikroelektronik und die Gentechnik

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5. Kap.: TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

hatten ihren Ausgangspunkt durch staatliche Rüstungspolitik. Selbstverständlich hätten diese problematischen Technologieprojekte auch nicht ohne das Wissenschaftssystem entstehen können. Aber gerade das famose Zusammenspiel zwischen dem Geldgeber Staat und den Projektwissenschaften hat einen sehr großen Teil der schwerwiegendsten Technikfolgenprobleme entstehen lassen. Trotz der langen Kette verfehlter staatlicher Technologiepolitik ist noch kaum erkennbar, daß das politisch-parlamentarische System daraus Konsequenzen gezogen hätte. Immer noch werden Techniken mit sehr großem Risikopotential und Gefahren maßgeblich vom Staat vorangetrieben oder unterstützt, obwohl er durch gemachte Erfahrungen und durch vorhandenes Wissen genügend gewarnt sein könnte. So wurden beispielsweise vor allem durch staatliche Politik und Finanzierung unter dem Etikett "Modernisierung des Telefonnetzes" mit dem ISDN-Projekt die Grundlage für eine elektronische Informatisierung der privaten Haushalte und verstärkte betriebliche Rationalisierung gelegt, obwohl dieses Projekt erkennbar mit sehr großen sozialen Risiken verbunden ist. 15 Wie bei anderen technischen Großprojekten wußten beim ISDN die steuergeldverteilenden Politiker nicht, was sie tun, obwohl sie es hätten wissen können. Wiederum entstand durch die aktive Rolle der Politik ein überaus riskantes Technologieprojekt, weil der Glaube an den unaufhaltsamen technischen Fortschritt, das Vertrauen in die Technikvisionäre mit ihren technologischen Versprechungen für Wachstum, Konkurrenzfähigkeit und Modernität alle Folgeprobleme systematisch verdrängte. Denn wiederum fand vor der Einfuhrung dieser Technik keine öffentliche und keine parlamentarische Diskussion über den Sinn dieser Technik und über mögliche Alternativen zu ihr statt. Wiederum trafen die Installateure und politischen Verantwortungsnehmer keine Überlegungen und Finanzierungsvorhaltungen für die

"Entsorgung"

dieses Techniksystems,

denn was mit

den millionenfach

"Freigesetzten" wird, mit den unausweichlichen Grundrechtsaushöhlungen, der weiteren Verödung menschlicher Kommunikation war ihnen gleichgültig. Noch bevor der Schnelle Briiter in Kalkar als grandioser politischer Irrtum "bewältigt" und bereinigt worden war, leistete die Politik sich mit dem ISDN einen Schnellen Brüter der Nach-

5. Kap.: TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

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richtentechnik mit verblüffend vielen Parallelen zu den Fehlentscheidungen im atomaren Bereich.16 Ein noch wesentlich größeres Risiko- und Gefahrenpotential stellt die Gentechnik dar, weil diese Technik erheblich tiefer in die Lebensbedingungen eingreift und diese Veränderungen räumlich und zeitlich sehr weit ausgreifen können. Hier gibt es Gefahren, die unter keinen Umständen eingegangen werden dürfen. Freigesetzte genmanipulierte Bakterien oder Viren können weltweite verheerende, irreversible Folgen haben. Ob dann eine "neue rätselhafte tödliche Krankheit" aus einem Genlabor stammt, wird aufgrund der schwierigen kausalen Beweisführung nachträglich kaum festgestellt werden können. Die Technikoptimisten unter den Genwissenschaftlern behaupten zwar, daß durch entsprechende Sicherheitsstandards eine Freisetzung von gefährlichen Produkten ausgeschlossen sei. Aber die hier erforderliche absolute Sicherheit gibt es nicht. Bei Gefährdungen dieser Größenordnung sollte nicht wie bisher die Hoffnung auf den glücklichen Ausgang, sondern eine "Heuristik der Furcht" 17 handlungsleitend sein. Darum wäre es "sachgerechter", auf die kritischen Stimmen innerhalb der Genwissenschaft zu hören. 18 Um die Gentechnik für den Bundestag durchsichtiger zu machen, hat zwar eine Enquete-Kommission einen Bericht mit vielen Empfehlungen erstellt. Aber die wissenschaftlichen und ökonomischen Herstellungsinteressen haben in dieser Kommission ein erdrückendes Übergewicht behalten. Die Technik zur Manipulation der "Geheimschrift des Lebens" mit qualitativ neuartigen Gefahren wurde letztlich wie eine übliche Technik abgehandelt, die halt wie jede andere ihre "Chancen und Risiken" habe. Risiken werden in dem Bericht der Kommission zwar genannt, aber die Blendungen durch die von der Wissenschaftsgemeinde versprochenen Chancen sind erneut so groß, daß es im wesentlichen auf Empfehlungen zur weiteren großzügigen staatlichen Forschungsförderung hinausläuft, damit die deutsche Genwissenschaft und Chemieindustrie beim "achten Tag der Schöpfüngsgeschichte" kräftig mitmischen können. ISDN und Gentechnik sind nur zwei herausragende Beispiele für heute bereits als höchst problematisch erkennbare Techniklinien, die dennoch fast bedenkenlos auch

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S. Kap.: TA-ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

von der politischen Seite vorangetrieben werden. Es gibt zahlreiche "kleinere" Beispiele von erkennbar gefährlichen Techniken, die trotz vorhandenen Folgewissens und trotz vorhandener günstigerer technischer Alternativen von der Politik nicht nur geduldet, sondern sogar gefordert werden. Zu nennen wäre etwa der Diesel-Pkw. Obwohl lange bekannt ist, daß Dieselfahrzeuge u.a. das krebserregende Benzo(a)pyren in deutlich größeren Mengen als benzingetriebene Fahrzeuge ausstoßen, und obwohl die bislang größte staatliche Einrichtung fur Folgewirkungswissen, das Umweltbundesamt, über Jahre vor diesem Fahrzeugantrieb warnt, ignoriert die Politik dieses Wissen und forderte sogar noch den Diesel-Pkw als angeblich "umweltfreundliches" Fahrzeug durch Steuervergünstigungen. Die Folge ist: Der Diesel-Pkw verbreitete sich rasant, und die deutsche Automobilindustrie optimiert für ihre "Sparfahrzeuge" die falsche Motorlinie. Ein aktuelles Beispiel ist der Transrapid. Obwohl selbst der zuständige Bundesverkehrsminister diese Verkehrstechnik verkehrspolitisch für nicht erforderlich hält, werden die Kritiker mit begründetem Wissen über nachteilige Folgen und über weit kostengünstigere Alternativen machtarrogant als "Bedenkenträger" abgekanzelt und ignoriert. Wieder wird gegen vorhandenes besseres Wissen, auch aus dem Verkehrsministerium selbst, eine sehr problematische Techniklinie vorangetrieben, weil der Fortschrittsglaube von Politikern und, in diesem Fall, das Subventionsinteresse der beteiligten Industrie durchsetzungsfähiger sind als realitätsorientiertes Wissen über Folgen, Kosten und Alternativen. Insgesamt kann festgestellt werden, daß mit der Techniksteuerung durch die Politik, verstanden als zentralstaatliche Politik der Technikforderung, Technikentsorgung und Duldung von Techniklinien in Form von bewußtem weitgehendstem Regelungsverzicht, bis jetzt hinsichtlich sozialer und ökologischer Folgen - ganz abgesehen von der staatlich vorangetriebenen Kriegstechnik - sehr schlechte Ergebnisse erzielt wurden. Man müßte also genauer klären, was der "Primat der Politik" in Zukunft Wünschenswertes bedeuten könnte, damit nicht die alten Fehler staatlicher Technologiepolitik nur mit "Neuen Technologien" wiederholt werden.

S. Kap.: TA- ein Konzept air politischen Gestaltung von Technik?

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8. Einige Bedingungen für eine politische Gestaltung von Technik Die Idee einer politischen Gestaltung von Technik könnte von dem demokratischemanzipatorischen Ziel geleitet sein, daß alle von einer Technikentwicklung "Betroffenen", zumindest alle "betroffenen" Menschen als gleichberechtigte politische Wesen mitentscheiden können sollten, und daß sich nicht partikulare Interessen auf Kosten anderer über Machtprozesse durchsetzen. Wird politische Gestaltung der Technik in diesem Sinne verstanden, wäre eine Befreiung des Begriffs des Politischen aus seinen gegenwärtigen Verengungen notwendig und eine damit verbundene tiefgreifende gesellschaftlich-institutionelle Innovation fur demokratische Mitbestimmungsprozesse. An welche Veränderungen dabei zu denken wäre, kann hier nur mit einigen Stichworten erwähnt werden. Eine große Einschränkung von Politik hat sich in den Industriegesellschaften ergeben durch eine dem Geist demokratische Verfassungen widersprechende Verselbständigung von Regierung und staatlicher Bürokratie gegenüber dem Parlament. Die Ministerialbürokratien haben sich weitgehend verfilzt mit partikularen Herstellungs- und Erwerbsinteressen und sind nur sehr schwer zu steuern von im Parlament günstigenfalls vertretenen allgemeinen Interessen, obwohl dies im demokratischen Politikmodell so gedacht war. Wenn der Gedanke einer demokratisch verfaßten Republik glaubwürdig und lebendig werden soll, müßte diese Verselbständigung durch einschneidende Strukturreformen des parlamentarisch-bürokratischen Systems eingeschränkt werden. In diesen Zusammenhang gehörte auch die lange als dringend notwendig angesehene Parlamentsreform, die Parlamentariern die Chance böte, von schlecht informierten aktiven Objekten zu verantwortlich handelnden Subjekten zu werden. Um dies zu erreichen, müßte ebenfalls sehr viel verändert werden. Notwendig wäre eine neue politische Kultur, ein Wechsel vom positionellen, nur machtorientierten zum diskursiv angelegten Politikstil.19 Diskursive Auseinandersetzungen zu Technikthemen und damit verantwortliches Entscheiden erfordern inhaltliche Kenntnisse über die zur Entscheidung anstehenden Techniken und über die Alternativen zu ihnen. Darum muß einerseits die verfügbare Zeit der Parlamentarier zum Informieren, Nachdenken und Argu-

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5. Kap.: TA- ein Konzept zur politischen Gestaltung von TechnikÎ

mentieren über wirkmächtige Techniken stark ausgeweitet und gleichzeitig der Umfang der Technikförderungen drastisch eingeschränkt werden. Das politisch- parlamentarische System würde auf diese Weise die äußeren Bedingungen für verantwortlicheres Entscheiden verbessern. Die Entscheidungsgeschwindigkeit des Parlaments für Technikförderungen würde sich dadurch verringern, was zu begrüßen wäre, denn so würde wenigstens die Politik einen bislang von niemandem verantworteten beschleunigten Technisierungsprozeß nicht auch noch blind verstärken. Auf sehr hoher Abstraktionsebene in den Medien Glaube und Geld, in der Kombination von "Glaube an Technikvisionen" und Abstimmungen über "Haushaltspakete", können selbstverständlich Entscheidungen viel schneller getroffen werden. Angesichts der bisherigen sehr negativen Erfahrungen mit zentralstaatlicher Technikförderung wäre es vermutlich am sinnvollsten im Sinne sozialer und ökologischer Verträglichkeit, wenn Zentralstaaten möglichst keine monetären Technikförderungen betrieben, sondern vor allem über ihr eigentliches Steuerungsmedium, über Vorschriften und Gesetze, die soziale und ökologische Verträglichkeit von Technikentwicklungen zu gewährleisten suchten. Die politisch-parlamentarischen Systeme haben sich weitgehend instrumentalisieren lassen für den eindimensionalen und ziellosen Zweck des Wirtschaftswachstums. Das hat u.a. dazu gefuhrt, daß über riesige Staatsverschuldungen die Regierungen jeweils "ihre" Industrien in einen gnadenlosen Wettlauf hineinsubventionieren, bei dem niemand Sieger werden kann, sondern nur die Menschen und die Natur auf der Strecke bleiben.20 In der blinden und zerstörenden Betriebsamkeit, diesen Zweck durch technischen Fortschritt zu erreichen, hat auch die Politik aus den Augen verloren, ob die verfolgten Zwecke, für die immer nur neue Mittel gesucht werden, überhaupt begründet worden sind. Politik als diskursiver Prozeß hätte nicht nur die bisher nicht wahrgenommene Aufgabe, für bestimmte Zwecke alternative technisch-soziale Mittelsysteme zu erkunden, auszuwählen und zustimmungsföhig zu machen. Wichtiger noch wäre, politisch-philosophische und politisch-ethische Begründungen für "Wirtschaften" und fur "Technikentwicklungen" zu Bewußtsein zu bringen. Durch einen politischdiskursiven Prozeß der Verständigung über Begründungen könnte der starre Blick auf

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Wachstum, technischen Fortschritt und materiellen Konsum vielleicht etwas gelockert werden, und Politik könnte zurückfinden zu einer ihr angemesseneren umfassenderen Zielsetzung. Wenn politische Gestaltung von Technik bedeuten soll eine Mitbestimmung der von einer Technikentwicklung "Betroffenen", dann muß auch die gegenwärtige Vertretungskompetenz der parlamentarisch-repräsentativen Politik kritisch überprüft werden. Zur gegenwärtigen Verantwortungsfiktion der Politik gesellt sich die Vertretungsanmaßung der Parlamentsmehrheit. Diese weiß zwar, daß sie nicht alle Interessen vertritt, glaubt aber, im Interesse aller entscheiden zu dürfen. Typischerweise sind die Interessen, die nicht um das Produktionsinteresse herum assoziiert und organisiert sind, auch im Parlament sehr schwach vertreten. Dennoch sind die aus den vorhandenen politischen Foren ausgegrenzten und nicht organisierten Interessen von parlamentarischen Technikentscheidungen oft sogar besonders stark betroffen. Für eine politische Technikgestaltung im umfassenderen Sinn werden eine Reihe von sozialen Innovationen erforderlich sein, die die unvollständige Vertretungskompetenz der Parlamente in Fragen wirkmächtiger Techniken ergänzen. Bei Genehmigungsverfahren von Technikprojekten könnte an neue Foren für Verträglichkeitsprüfungen gedacht werden, in denen beispielsweise auch die bislang nicht organisierten Interessen von Kindern, alten Menschen, nichtberufstätigen Frauen, ungeborenen Menschen, von Tieren, Pflanzen und allgemeinen Lebensinteressen nach gesunder Umwelt, vertreten durch jeweils engagierte Menschen, "Sitz und Stimme" haben.21 Parteipolitik und parlamentarisch-repräsentative Politik können zumindest im Bereich der Technikgestaltung nur ein Teilelement in einem erweiterten Begriff des Politischen sein. Die Chancen fur einen bewußteren und verantwortlicheren Umgang mit Technik werden größer, wenn die Entscheidungs- und Mitbestimmungsstrukturen dezentraler sind und sich auf kleinere und überschaubarere Einheiten beziehen. Als Bedingung fur eine umfassendere politische Gestaltung von Technik müßten die gegenwärtigen auf relativ wenige Akteure konzentrierten Institutionen in Politik, Wirtschaft und Technikwissenschaft transformiert werden in basisdemokratische Strukturen, in denen Mil-

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5. Kap.: TA - ein Koniepí zur politischen Gestaltung von Technik?

Honen Akteure ihre Geschicke selbst bestimmen könnten. Auf der Ebene einer regional und kommunal orientierten Wirtschafts- und Technologiepolitik würde eine basisdemokratisch ergänzte Politik sich an Bedürfnissen und Ressourcen der Region und nicht des Weltmarkts ausrichten.22 Auf dieser Ebene und mit dieser Orientierung könnte auch eine Politik der Technikförderung einen neuen Sinn bekommen, wenn die Genese von Technikentwicklungen von Anbeginn an Kriterien der sozialen und ökologischen Verträglichkeit gebunden wird. Sozial und ökologisch verträgliche "Technikgestaltung" ist so auch der umfassendere, basisdemokratischere Begriff gegenüber dem Begriff der "Technikfolgenabschätzung", der letztlich die vorhandenen undemokratischen Strukturen der Technikgenese nicht antastet und im wesentlichen auf nachträgliches Vorsorge- und Entsorgungswissen zielt fur bereits entwickelte Techniken. Solange ausreichende basisdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten bei riskanten und gefährdenden Techniken nicht gegeben sind, ist auch jede Form des gewaltfreien Widerstands gegen lebensbedrohende Entscheidungen aus den Zentren von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft als wichtige politische Tätigkeit einzustufen.

9. Die qualitativ neuen Gefahren verwissenschaftlichter Technologien Im Prozeß der Technikfolgenabschätzung und -bewertung spielt eine herausragende Rolle die Einschätzung von Risiken. Das vorherrschende Modell zur Einstufung von Risiken orientiert sich an alter Erfahrung im bisher möglichen Umgang mit "normalen" Techniken: Jede Technik hat ihre Chancen und Risiken. Durch Versuch und Irrtum könne man im Entwicklungsprozeß der Technik praktisch herausfinden, wie die Risiken zu begrenzen sind. Man lerne so im Umgang mit der Technik, ihre Chancen zu nutzen und ihre Risiken auf ein "vertretbares", "verantwortbares" Maß zu beschränken. Selbstverständlich bliebe trotz aufwendigster Vorkehrungen bei jeder Technikanwendung ein "Restrisiko". Dieses müsse jedoch akzeptiert werden als Preis für den Fortschritt. Das Restrisiko wird gleichsam verrechnet mit den Vorteilen der Techniknutzung, und in einer Güterabwägung zwischen Nutzen und Restrisiko könne man

5. Kap.: TA- ein Konzept zur politischen Gestattung von Technik?

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feststellen, daß der jeweilige technische Fortschritt trotz größer gewordener Risiken sich immer noch lohne. Die Verrechenbarkeit von Risiken mit den erzielbaren Gewinnen ist das zentrale Postulat herrschender Technikbewertung. Ein aus der Versicherungsmathematik stammendes Kalkül, das unterschiedliche Schadensgrößen mit Eintrittswahrscheinlichkeiten multipliziert und so zu einer einzigen Bewertungsziffer gelangt, wurde zur vereinheitlichenden Denkschablone, die alle Risiken quantitativ vergleichbar machte. Auf diese Weise wurden atomare Gefahren mit möglichen globalen Schadensgrößen heruntergerechnet zu verschwindend kleinen Risikokennziffern, die man dann mit Zigarettenrauchen und Autofahren verglich, und nur die Akzeptanzforscher wunderten sich, daß Laien dieser Verrechnung in ihrer Wahrnehmung von Risiken und Gefahren nicht folgten. 23 Diese Auffassung von Technik und technisch erzeugten Risiken ist durch den "Fortschritt" verwissenschaftlichter Technik selbst als überholt zu betrachten. Der wissenschaftlich geleitete Zugriff auf die Natur erzeugt qualitativ neuartige Gefährdungen, die prototypisch beim ersten Atombombentest 1945 vor Augen gefuhrt wurden. Damals bot der beteiligte Physiker Fermi Wetten an, ob der bevorstehende Atomblitz nur den Himmel über New Mexico oder in einer ungebremsten Kettenreaktion die Atmosphäre über der ganzen Erde in Brand setzen werde. Nicht nur Fermi, auch andere Atomphysiker hielten damals einen "Brand" des ganzen Planeten für möglich, was sie nicht von ihrem Experiment abhielt.24 Technisches Handeln von Menschen war immer mit Veränderungen in der Natur verbunden, aber praktisch bis zur Gegenwart war die Natur nie als Ganzes möglicher Gegenstand des Handelns, sie war nie "als Natur" durch die Menschen gefährdet. Durch den heute möglichen tiefen Eingriff in die Natur, durch den Zugriff auf die "Geheimschrift der Materie", durch die Manipulation von Atomkern und Zellkern oder durch die chemische Synthese erdfremder Substanzen und durch das massenhafte Freisetzen ökologisch unverträglicher Stoffe setzen Menschen zum ersten Mal die Überlebensbedingungen auf der gesamten Erde aufs Spiel.

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5. Κ/φ.: ΤΑ- ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

Dieser neue Sachverhalt zwingt zu einer Korrektur des skizzierten alten Modells für die Bewertung von und den Umgang mit Techniken. Es gibt zwar immer noch eine große Zahl von "normalen" technischen Entwicklungen, die nach dem Verfahren der Güterabwägung von Chancen und Risiken, nach der ingenieursmäßigen Prozedur über Versuch und Irrtum zur akzeptierbaren Reife gebracht werden können. Daneben existiert jedoch eine größer werdende Zahl von physikalischen, biologischen und chemischen Techniken, die einen grundsätzlich anderen Umgang notwendig machen. Wenn eine Technik irreversible Eingriffe in bislang ungeahnter räumlicher und zeitlicher Ausdehnung verursachen kann, die gegenwärtiges und zukünftiges Leben global bedrohen, dann ist ein experimenteller "Versuch" mit dieser Technik, ein Erproben und Weiterentwickeln unter keinen Bedingungen verantwortbar, weil der erste Versuch, wie beim Experiment "Zündung der Atombombe", der letzte Irrtum sein könnte. Auf den Grad der Wahrscheinlichkeit einer möglichen irreversiblen, räumlich und zeitlich nicht eingrenzbaren Katastrophe kann es nicht ankommen. "Wenn ein Ereignis eintritt, dann ist es gleichgültig, wie wahrscheinlich es zu einem früheren Zeitpunkt war. Die Qualifikation eines Ereignisses als mehr oder weniger wahrscheinlich dient nur als Orientierung beim Eingehen eigener Risiken. Entscheidend dabei ist, daß deijenige, den Gewinn und Verlust betreffen, derselbe ist. Auch eine Gesellschaft kann konsensuell Risiken eingehen z.B. beim Autoverkehr, solange die vom Risiko Getroffenen prinzipiell dieselben sind wie die, die die Vorteile genießen. Das schließt nicht aus, daß dieses Risiko ungerechtfertigt und unvernünftig ist, wie dies beim heutigen Autoverkehr der Fall ist. Niemals aber kann es erlaubt sein, daß eine bekannte und feststehende Zahl von Menschen sich Vorteile verschafft auf Kosten des Risikos anderer Menschen, die überhaupt nicht gefragt werden. Der Wahrscheinlichkeitskalkül ist hier fehl am Platz. Niemand darf das Leben eines anderen verwetten, nur weil die Wahrscheinlichkeit eines günstigen Wettausgangs sehr hoch ist." 25 Es gibt also Techniken, bei denen allein das mögliche Schadensausmaß Beurteilungskriterium sein muß, das nicht verrechnet werden kann mit Eintrittswahrscheinlichkeiten oder "Chancen" in Form von Verbesserungsvermutungen für irgendein Produkti-

S. Kap.: TA- ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

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onsverfahren oder Produkt. Wir haben nicht das Recht, unsere augenblicklichen Wertschätzungen für Produktionssteigerungen "zum Maßstab dafür zu machen, was wir künftigen Generationen als natürliches Erbe hinterlassen. Da wir das Erbe nicht vermehren und nicht ergänzen können, können ja unsere Eingriffe in den Bereich des Lebens immer nur auf Herbeiführung eines status quo minus hinauslaufen. Darum ist es falsch, bei Entscheidungen dieser Art das Prinzip der Güterabwägung statt eines unbedingten Verbots einführen zu wollen."26

10. Der erste Schritt zur verantwortbaren Technik: Die Unterscheidung von Risiko und Gefahr Für den angemessenen Umgang mit dem neuen Typus von Technik ist die vor allem von Ulrich Beck in die Diskussion gebrachte Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr wichtig. In vorindustriellen Gesellschaften gab es Gefahren, denen Menschen schicksalhaft ausgeliefert waren. In Industriegesellschaften wurde versucht, Gefahren in kalkulierbare, begrenzbare und kompensierbare Risiken zu transformieren. Durch Vorsorge und Sicherheitsvorkehrungen sollten "Unglücke" seltener auftreten, und wenn sie doch geschehen, durch Einrichtungen der "vorsorgenden Nachsorge" (Beck) in ihren Schadwirkungen begrenzt und kompensierbar sein. Nach einer Dampfkesselexplosion oder einem Verkehrsunfall kann es Verletzte, Tote und Sachschäden geben. Aber Feuerwehr, Notarztwagen, Technischer Hilfsdienst, Polizei, Krankenhaus, Versicherungen, Rechtsanwälte und Gerichte "regeln" die Folgen dieses Unfalls. Sie mildern und beseitigen die Schäden, zahlen Entschädigungen, räumen den Unfallort, überfuhren also das Geschehen in ein "geordnetes Nachher". Für einzelne Betroffene kann dies zwar Tod und Schmerz bedeuten, aber für die Gesellschaft ist es ein "normaler Betriebsunfall", ein kalkulierbares und akzeptierbares Risiko. Nicht zuletzt gründet sich ja hierauf die Versicherungswirtschaft. Diese Situation ändert sich grundlegend mit dem Auftreten verwissenschaftlichter Technologien mit großer Eindringtiefe in die Struktur der Materie und den damit ver-

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¿ Kap.: TA-ein Konzept tur politischen Gestaltung von Technik?

bundenen qualitativ neuen Gefährdungen, die weit in den Raum und die Zeit ausstrahlen und über deren Wirkungen kein vorsorgendes Wissen vorhanden ist. Vielen ist der Rückfall in die Gefahrengesellschaft durch "fortschrittliche" moderne Technik spätestens seit Tschernobyl klar geworden. Die Folgen dieses "Unfalls" sind weder örtlich und zeitlich noch sozial und im Ausmaß eingrenzbar. Die Opfer von Tschernobyl sind noch nicht einmal alle geboren. Alle vorhandenen Einrichtungen zur Schadensbewältigung von der Feuerwehr bis zu den Ärzten versagen fast vollkommen. Die Bevölkerung ist praktisch ohne staatlichen Schutz. Durch bestimmte fortschrittliche Technologien werden also die Einrichtugnen der vorsorgenden Nachsorge unterlaufen. Nach einem Unfall gibt es kein "geordnetes Nachher" mehr, sondern nur noch Chaos, Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung. Die Gesellschaft, die gelernt hatte, mit Risiken kalkuliert zu leben, fällt mit diesen Techniken wieder zurück in die Hilflosigkeit gegenüber Gefahren. Aufgrund verwissenschaftlichter Technologien leben wir also in einer Gefahrengesellschaft und nicht mehr in einer Risikogesellschaft.27 Was ansteht, wäre eine Rückkehr zur Risikogesellschaft. Hierzu ist es erforderlich, zwischen Risiko und Gefahr, zwischen bloß riskanten Techniken und gefahrvollen Techniken, zu unterscheiden. Ein mögliches Kriterium für diese Unterscheidung wäre die "Verweigerung des privatrechtlichen Versicherungsschutzes. Dieses Kriterium greift nicht nur gegenüber der Kernenergie, sondern auch gegenüber breiten Teilen der chemischen sowie der in der Entwicklung befindlichen gentechnischen Industrie."28 Für "nichtnormale" Techniken, die irreversible Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlage einschließen, gibt es keine "Normalisierung unseres Umgangs", wie etwa die Gentechnik-Enquetekommission für die Gentechnik vorschlägt. Diese Techniken sind nach keinem Nutzenkalkül und von keiner Institution verantwortbar. Der Begriff der Verantwortung ist im politischen Feld nicht nur durch die beschriebene Verantwortungsfiktion der politisch-formalen Verantwortungsnehmer sehr stark entleert worden. Wenn Politiker, die nicht sicher sein können, ob sie in vier Jahren noch irgendeinen Einfluß haben, behaupten, sie könnten Techniken verantworten, die gefährdende Wir-

S. Kap.: TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

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kungen über Tausende von Generationen ausüben, dann hat der Begriff der Verantwortung jeden Sinn verloren. Politiker und andere "Entscheidungsträger" müßten angesichts der neuartigen Technikgefahren erkennen lernen, was sie nicht verantworten können, und das auch zum Maßstab ihres Handelns machen. Vielleicht fällt die Einsicht, daß es eine Gruppe von Techniken gibt, die unter keinen Umständen verantwortbar sind und darum nur verboten werden können, vielen so schwer, weil gesehen oder geahnt wird, daß dies Folgen auch für bislang als vertretbar eingestufte Techniken, Produktionsverfahren und Konsumgewohnheiten hätte. Globale Vergiftungen, die Zerstörung des UV-Schutzschildes der Erde, Klimakatastrophen durch CC>2-Erhöhungen sind eben auch durch das Mengenproblem der Herstellungskultur gegeben, durch millionenfache scheinbar unverzichtbare industrielle Konsumgewohnheiten, Bequemlichkeitsstandards, Arbeitsplätze und Profitchancen. Die Erkenntnis, daß es Techniken gibt, die nicht nach dem bisher üblichen Verfahren der Chancen-Nutzung und der Risiken-Begrenzung handhabbar sind, hat für das T A Konzept als Instrument der Politikberatung wichtige Konsequenzen. In der T A Debatte wird von Skeptikern seit Jahren vorgetragen, daß eine Folgenabschätzung mit hinreichender Genauigkeit gar nicht möglich sei, weil das Wirkungsfeld von Techniken viel zu komplex und die Prognosefahigkeiten zu gering seien. Die Schwierigkeit der Vorhersehbarkeit von erwünschten und unerwünschten Technikfolgen wird dann als Aufforderung zum politischen Gestaltungsverzicht von Technik umgemünzt. Bei Techniken mit irreversiblem Gefährdungspotential für die natürlichen Lebensgrundlagen ergibt sich aufgrund der extrem asymmetrischen Relation zwischen Chancen und Gefahren eine einfachere Entscheidungssituation. Man kann hier wissen, was man nicht tun darf. Für die Gewinnung eines neuen technologiepolitischen Konsenses lassen sich zwei Bedingungen angeben für eine mögliche neue Grundlage des Vertrauens zwischen Bürgern, Politikern und technikerzeugenden Wissenschaftlern. Bei gefahrerzeugenden Techniken muß eine neue Beweislastverteilung erfolgen. Nicht die Gefährlichkeit, sondern die Ungefährlichkeit muß glaubhaft gemacht werden. Als institutionelles

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5. Kap. : TA - ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?

Verfahren hierfür bietet sich an, kritische Einzelstimmen aus der Wissenschaftsgemeinde nicht auszugrenzen. "Der Laie hat das Recht, der Überzeugungskraft eines Arguments so lange zu mißtrauen, wie eine durch Qualifikation oder Zahl nennenswerte Minderheit von Fachleuten durch das Argument nicht überzeugt wurde. 2 9

Anmerkungen 1) Vgl. z.B. Keller (1986) oder Unseld (1992): "Unsere Kultur hat als erste eine Bedeutung der Welt für uns erfunden, in der die expansive Entwicklung von technischen Mitteln eine zentrale Rolle in der Subjektkonstitution innehat. (S. 58) 2) Vgl. z.B. Habermas (1983) und Böhme (1993) 3) Ure (1835) 4) Vgl. Ullrich (1977) 5) Sieferle (1983), S. 215 6) Vgl. für das Beispiel Automobil Sachs (1986) 7) Jonas (1981), S. 77 8) Vgl. z.B. Freyer (1960) oder auch Bahr (1983) 9) Vgl. Jänicke (1986) 10) Fraunhofer-Gesellschaft (1994), S. 40f 11) Vgl. z.B. Häfele (1963) 12) Z.B. in DIE ΖΕΓΓ vom 27.06.1986 13) Vgl. z.B. Bennigsen-Foerder (1986) und die späteren (gescheiterten) "Konsensgespräche". 14) Wynne (1986), S. 156 15) Vgl. z.B. Kubicek/Rolf (1985) und Mettler-Meibom (1994) 16) Vgl. Kubicek (1986) 17) Jonas (1984), S. 63f 18) Vgl. z.B. Kollek et al. (1986) 19) Vgl. Ueberhorst (1985) 20) Vgl. Jänicke (1986) 21) Zur Erweiterung des bürgerlichen Rechtsstaats zur Rechtsgemeinschaft der Natur vgl. MeyerAbich (1984a,b) und (1997) 22) Vgl. Gleich et al. (1992) 23) Vgl. die Studien von O. Renn zur "Wahrnehmung und Akzeptanz technischer Risiken" z.B. (1981) 24) Vgl. Ullrich (1977), S. 465 25) Spaemann (1979), S. 492 26) Spaemann (1979), S. 488 27) Der Buchtitel von Beck (1986) ist also falsch, was auch Beck verspätet angemerkt hat (vgl. z.B. in Huber/Thurn (1993), S. 234). Das gängige Herumreichen des Schlagworts "Risikogesellschaft" aufgrund des unzutreffenden Buchtitels zeigt, daß das Buch entweder nicht gelesen wurde oder daS die neue Situation noch wenig begriffen worden ist. 28) Beck (1993), S. 224 29) Spaemann (1979), S. 496

6. Kap.: Wertgrundlagen der Technikbewertung

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Teil II. Grundlagen der Technikfolgenabschätzung 6. Kapitel Wertgrundlagen der Technikbewertung Hans Lenk, Friedrich Rapp und Günter Ropohl

1. Anfänge der Technikbewertung in der Bundesrepublik Immer schon ist die technische Entwicklung von wertenden Stellungnahmen begleitet worden. In alten Zeiten kleideten sich normative Auffassungen in Märchen, Mythen und Utopien; seit Beginn er Neuzeit finden sie sich zunehmend, wenn auch sehr verstreut, in philosophischen Untersuchungen, sozialwissenschaftlichen Analysen und essayistischen Beiträgen verschiedenartiger Provenienz. Auch sind Wertentscheidungen immer dadurch schon in die technische Entwicklung eingeflossen, daß staatliche und private Auftraggeber ihre Präferenzen für bestimmte technische Lösungsformen geltend machten. Seit es einen allgemein zugänglichen Markt fur technische Produkte gibt, greifen auch die Kaufentscheidungen der Marktteilnehmer wertend in Art und Umfang der Angebotsentwicklung ein. Aber erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ist ein Unternehmen auf den Plan getreten, das den programmatischen Anspruch erhebt, technische Entwicklungen und ihre Folgen ausdrücklich und umfassend an herrschenden Wertsystemen zu messen: die Technikbewertung. „Technikbewertung bedeutet hier das planmäßige, systematische, organisierte Vorgehen, das • den Stand einer Technik und ihre Entwicklungsmöglichkeiten analysiert, • unmittelbare und mittelbare technische, wirtschaftliche, gesundheitliche, ökologische, humane, soziale und andere Folgen dieser Technik und möglicher Alternativen abschätzt, • aufgrund definierter Ziele und Werte diese Folge beurteilt und auch weitere wünschenswerte Entwicklungen fordert, • Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten daraus herleitet und ausarbeitet, so daß begründete Entscheidungen ermöglicht und gegebenenfalls durch geeignete Institutionen getroffen und verwirklicht werden können".1

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6. Kap.: Wertgrundlagen der Technikbewertung

Bekanntlich ist dieses Konzept Ende der 60er Jahre in den USA unter der Bezeichnung „technology assessment" entstanden. In dem Versuch, die im Angelsächsischen inzwischen geläufige Abkürzung TA auch im deutschen zu erhalten, hat man die Übersetzung „Technikfolgen-Abschätzung" vorgeschlagen. Diese Übersetzung ist jedoch insofern irreführend, als das Wort „Abschätzung" eine eher deskriptiv-prognostische Bedeutung hat, während im englischen „assessment" eindeutig die normative Komponente überwiegt. Natürlich - und das wird in der vorstehenden Begriffsbestimmung auch ausdrücklich betont - kann man die Folgen einer technischen Entwicklung nicht bewerten, so lange man sie nicht in ihrer gegenwärtigen Erscheinung analysiert und in ihren zukünftigen Tendenzen abgeschätzt hat. Doch schließlich können Entscheidungen über die technische Entwicklung nicht allein aus deskriptiv-prognostischen Erwägungen abgeleitet werden, sondern bedürfen expliziter Wertgrundlagen. Darum wird hier der Bezeichnung „Technikbewertung" der Vorzug gegeben. Die nun gut eineinhalb Jahrzehnte währende Entwicklungsgeschichte der Technikbewertung in der Bundesrepublik ist an anderer Stelle nachgezeichnet worden 2. Hier soll lediglich daran erinnert werden, daß es wohl eine Tagung des Vereins Deutscher Ingenieure im Jahre 1970 war, auf der erstmals in der Bundesrepublik über den amerikanischen Ansatz des „technology assessment" berichtet wurde 3. Neben einigen anderen Institutionen nahm sich sehr bald der Ausschuß „Philosophie und Technik" im Verein Deutscher Ingenieure unter der Leitung von Simon Moser dieses Programms an und erkannte sehr früh, daß „technology assessment" in vordergründiger Scheinrationalität verharren würde, wenn nicht die werttheoretischen Grundprobleme in Technik und Gesellschaft philosophisch reflektiert würden4. In diesen Diskussionen reifte die Einsicht in die normativen Grundlagen der technischen Entwicklung. Technische Entwicklungen, sei es die Lösungsbestimmung am Reißbrett des Konstrukteurs oder die Prioritätensetzung der staatlichen Technopolitik, gründen nicht nur auf Können und Wissen, sondern ganz wesentlich auch auf Entscheidungen zwischen verschiedenen Möglichkeiten (s.a. 3. Kap.). Entscheidungen aber nehmen, ausdrücklich oder unausdrücklich, letzten Endes aufwerte Bezug. Nun

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6. Kap.: Wertgrundlagen der Technikbewertung

kann man die Kritik am technischen Fortschritt, die in den 70er Jahren wieder auflebte, so verstehen, daß grundlegende Werte geltend gemacht wurden, die von der technischen Entwicklung nicht genügend berücksichtigt oder gar verfehlt werden. Und in der Tat kann man mit guten Gründen bezweifeln, daß die Akteure der technischen Entwicklung, vor allem die Ingenieure und Manager, eingebunden in die bestehenden technisch-wirtschaftlichen Organisationen, bislang die Fähigkeit und die Möglichkeit hatten, grundlegende Werte der Lebensqualität ausdrücklich in ihre konkreten Entscheidungen einzubeziehen. Und auch jene Institutionen, die in ersten Studien das Programm der Technikbewertung auf bestimmte technische Neuerungen anzuwenden versuchten, entbehrten zunächst handhabbarer Wertkataloge, an denen die zu erwartenden Folgen der technischen Neuerungen zu messen wären. Aus diesen Überlegungen leitete der genannte Ausschuß die Aufgabe ab, in Form einer VDI-Richtlinie normative „Grundlagen der Technikbewertung" zu erarbeiten (und erhielt dann auch, nach einer organisatorischen Umstrukturierung im Verein Deutscher Ingenieure, diesen Namen). Die Arbeit im Ausschuß wurde von öffentlichen Tagungen

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sowie einem

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einschlägigen Forschungsprojekt begleitet und befruchtet; inzwischen liegen Teil 1 bis 3 des Richtlinienvorentwurfs vor 7. Im ersten Teil sind Definitionen wichtiger normativer Begriffe zusammengestellt; dazu gehört natürlich auch der Wertbegriff selbst, über dessen Problematik im folgenden einiges zu sagen ist. Der zweite Teil der Richtlinie behandelt die Bedeutung von Wertsystemen für die Technik. Im Mittelpunkt dieses Beitrages soll der Wertkatalog stehen, der im dritten Teil des Richtlinienvorentwurfs erarbeitet worden ist.

2.

Problematik des WertbegrifTs

Unsere Sprache enthält eine ganze Reihe von Begriffen, in denen Vorstellungen davon zum Ausdruck kommen, was sein soll. Der Bedeutung des Wertbegriffs nähert man sich am besten dadurch, daß man ihn in den Zusammenhang mit anderen normativen Begriffen stellt, die also zunächst zu explizieren und vom Wertbegriff abzugrenzen

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6. Kap.: WatgrumUagen der Technikbewertung

sind; die folgende Darstellung orientiert sich am Text des genannten Richtlinienvorentwurfs und benutzt teilweise dessen Formulierungen *. Der konkreteste normative Begriff ist der Begriff des Zieles. Ein Ziel ist ein als möglich vorgestellter Sachverhalt, dessen Verwirklichung erstrebt wird. Beliebige Erscheinungen der Wirklichkeit, so zum Beispiel Zustände, Gegenstände, Handlungen, Prozesse oder Beziehungen, kann man sich als möglich vorstellen und, sofern sie als realisierbar erscheinen, zum Ziel setzen. Bei logischer Analyse enthält der Zielbegriff, wie jeder normative Begriff, zwei Bestandteile: (a) die beschreibende Kennzeichnung des Sachverhaltes und (b) die Auszeichnung dieses Sachverhaltes als erstrebt, erwünscht, gefordert oder befürwortet. Formuliert man beispielsweise zur Entwicklung eines Verbrennungsmotors für einen Personenkraftwagen das Ziel „hohe Motorleistung", so beschreibt man eine wohldefinierte Eigenschaft des Antriebsaggregats und fordert zugleich, daß diese Eigenschaft durch konstruktive Maßnahmen erreicht werden soll. Je konkreter Ziele formuliert werden, desto exakter können sie auch quantitativ bestimmt werden. Im genannten Beispiel wurde eine qualitativ-komparative Skala zugrundegelegt, die etwa die Ausprägungen „hoch", „mittel" und „niedrig" haben mag. Dieses Ziel kann man aber noch weiter konkretisieren, indem man mit Hilfe der einschlägigen physikalischen Größen angibt, welches Drehmoment der Motor in einem bestimmen Drehzahlbereich aufweisen soll; dann kann der Zielertrag in einer kardinalen Skala gemessen werden. Eine solche Konkretisierung eines zunächst allgemeiner formulierten Zieles kann als Unterziel bezeichnet werden. Entsprechend gibt es zu dem Ziel „hohe Motorleistung" auch ein Oberziel, das „hohe Motorqualität" lauten möge. Dieses Oberziel konkretisiert sich nicht nur in der Motorleistung, sondern beispielsweise auch in Zielen wie „lange Lebensdauer" oder „Umweltfreundlichkeit". Es gibt also regelmäßig begriffliche Hierarchiebeziehungen zwischen Oberzielen, Mittel- und Unterzielen derart, daß konkretere Zielformulierungen den allgemeinen Zielvorstellungen subsumiert werden. Zielhierarchien können durchaus mehr als drei Stufen aufweisen und in der höchsten Stufe sehr allgemeine Vorstellungen vom Gewollten oder Erwünschten zum Ausdruck bringen, die dann sprachlich kaum noch als Ziele apostro-

6. Kap.: Wertgrundtagen der Technikbeyvertung

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phiert werden, sondern dem, was der WertbegrifF bezeichnet, bereits sehr nahe kommen. Neben der begrifflichen Hierarchiebeziehung zwischen Zielen können verschiedene Ziele auch in anderen Beziehungen zueinander stehen. Meist verfolgt menschliches Handeln ausdrücklich oder unausdrücklich mehrere Ziele gleichzeitig, und diese verschiedenen Ziele mögen gegeneinander indifferent sein, können aber auch in einer Konkurrenzbeziehung stehen. Beispielsweise gibt es bei der Motorentwicklung nicht nur das Ziel, ein bestimmtes Leistungsniveau zu erreichen, sondern auch das im wirtschaftlichen Interesse des Verwenders liegende Ziel, die zu zahlenden Versicherungsprämien in Grenzen zu halten. Sofern sich die Höhe der Versicherungsprämie an der Motorleistung bemißt, stehen diese beiden Ziele in Konkurrenz zueinander. Auch technisches Handeln hat deshalb immer mit einem ganzen Bündel von Zielen zu tun. Wenn man diese verschiedenen Ziele nach den Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, ordnet, erhält man in rationaler Rekonstruktion ein Zielsystem. Wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will, muß man geeignete Mittel dafür einsetzen. Man spricht dann auch vom Zweck, dem das Mittel dient, und insofern sind die Ausdrücke „Ziel" und „Zweck" mehr oder weniger synonym. Oft sind nun freilich die Mittel, die man einsetzen muß, um ein Ziel zu erreichen, ihrerseits noch nicht ohne weiteres verfugbar. Wenn man solche Mittel erst schaffen muß, sind sie selbst wiederum als Ziele zu betrachten. Und häufig gilt auch die Umkehrung, daß ein Ziel als Mittel zur Verwirklichung eines anderen Zieles anzusehen ist. Um das Ziel „hohe Motorleistung" zu erreichen, mag man das konstruktive Mittel einsetzen, ein hohes Verdichtungsverhältnis vorzusehen, das dann seinerseits zum Ziel wird. Andererseits ist die hohe Motorleistung natürlich kein Selbstzweck, sondern stellt ihrerseits ein Mittel dar, um beispielsweise eine hohe Bergsteigefähigkeit, eine hohe Beschleunigung oder eine hohe Dauergeschwindigkeit des Fahrzeuges zu erreichen. Solche Mittel-ZielKetten sind von logisch anderer Qualität als die zuvor genannten begrifflichen Hierarchiebeziehungen, so daß es zweckmäßig erscheint, hier nicht auch von einer Hierarchie zu sprechen.

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6. Kap.: Wertgrundlagen der Technikbewertung

Die Mittel-Ziel-Beziehung oder Instrumentalbeziehung bringt nun insofern zusätzliche Schwierigkeiten mit sich, als das erstrebte Ziel nur eine unter mehreren möglichen Folgen des eingesetzten Mittels darstellt. Das hohe Verdichtungsverhältnis beispielsweise bewirkt nicht nur eine hohe Motorleistung, sondern hat auch zur Folge, daß die Bauweise des Motors raumsparend ist, daß der Werkstoff stark beansprucht wird, und daß der Motor unter Umständen klopfempfindlich wird. Das sind Nebenfolgen, die zunächst möglicherweise wenig beachtet werden und dann erst in Erscheinung treten, wenn man das ausdrücklich angestrebte Ziel erreicht hat. Indem man solche Folgen identifiziert, entdeckt man nun in der Regel weitere Ziele, die in den Folgen entweder verwirklicht oder verfehlt sind; dadurch erweitert sich das Zielsystem. Die raumsparende Bauweise beispielsweise akzeptiert man gerne als wünscheswerte Nebenfolge und macht sie zum zusätzlichen Ziel; die starke Werkstoffbeanspruchung hingegen erweist sich als unerwünschte Nebenfolge, da sie dem erklärten Ziel der langen Lebensdauer zuwiderläuft. Bei der Auswahl von Mitteln kann also die Tauglichkeit zur Verwirklichung der erklärten Ziele nicht das einzige Entscheidungskriterium sein. Ein Mittel darf nicht nur hinsichtlich seines Mittelcharakters in bezug auf die erklärten Ziele, sondern muß auch hinsichtlich aller seiner anderen Folgen beurteilt werden. Bei der Analyse technischen Handels stößt man also grundsätzlich, auch wenn das den Handelnden selbst nicht immer ausdrücklich bewußt ist, auf ein komplexes Zielsystem, dessen Elemente und Beziehungen zu präzisieren sind. Da fast immer Konkurrenzbeziehungen zwischen einzelnen Zielen auftreten werden, erhebt sich die Frage, welches Ziel man dem anderen im Konkurrenzfall vorziehen soll, mit anderen Worten, welchem Ziel man die Präferenz geben soll. Für die Bestimmung von Präferenzen bei der Entscheidung über Ziele und Mittel benötigt man Auswahlgesichtspunkte, sogenannte Kriterien. Kriterien für die Gewichtung und Auswahl von Zielen sowie für die Beurteilung von Mitteln können aber nur unter Bezug aufwerte gewonnen werden. Präferiert man beispielsweise das Ziel „hohe Motorleistung", bezieht man sich damit letztlich auf den allgemeinen Wert „Freiheit", hier gedeutet als „Bewegungsfreiheit"; gibt

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man dagegen dem Ziel der umweltfreundlichen Betriebsweise den Vorzug, greift man auf den allgemeinen Wert „Umweltqualität" zurück. Damit mündet die Folge begrifflicher Explikationen im Wertbegriff. Es geht in diesem Text also nicht nur um die terminologisch-taxonomische Aufgabe, all jene Begriffe, die darauf abheben, was sein soll, einzeln zu definieren und in eine begriffliche Ordnung zu bringen. Indem die Definitionen nicht einfach eine Liste bilden, sondern eine logisch aufgebaute Kette, implizieren sie eine Art Werttheorie technischen Handelns. Dies trägt dem philosophischen Grundsatz Rechnung, daß Begriffe nur im Rahmen theoretischer Konzepte sinnvoll zu definieren sind. Grundannahmen dieser Werttheorie sind: • Technik ist nicht wertfrei. Technisches Handeln muß ständig zwischen Mitteln und Zielen wählen und benötigt für diese fortgesetzten Auswahlprozesse Kriterien, die nur unter bezug aufwerte gewonnen werden können (s.a. 3. Kap.). • Es gibt eine mehrstellige Stufenfolge von konkreten technischen Zielen bis hin zu allgemeinen menschlichen Werten. Zwar können konkrete Ziele nicht logisch zwingend aus allgemeinen Werten abgeleitet werden, doch nehmen konkrete Ziele implizit durchweg Bezug auf allgemeine Werte. • Es gibt regelmäßig eine Pluralität von Zielen und Werten, zwischen denen, in systemtheoretischer Modellierung, verschiedene Typen von Beziehungen bestehen. Ziel- und Wertsysteme sind jedoch keinefeststehendenGegebenheiten, sondern perspektivische benutzer-, zeit- und situationsabhängige Modelle9 Werte kommen in Wertungen zum Ausdruck und sind bestimmend dafür, daß etwas anerkannt, geschätzt, verehrt oder erstrebt wird; sie dienen somit zur Orientierung, Beurteilung oder Begründung bei der Auszeichnung von Handlungs- und Sachverhaltsarten, die es anzustreben, zu befürworten oder vorzuziehen gilt. Diese Wertdefinition ist ein Kompromiß zwischen sehr unterschiedlichen wertphilosophischen Positionen

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. Obwohl der Wertbegriff - der dem Inhalt nach, etwa in den

Prinzipien des Guten, des Wahren und des Schönen, natürlich schon in der antiken Philosophie geläufig war - doch als philosophischer Terminus erst im vergangenen Jahrhundert von R. H. Lotze eingeführt wurde, erfährt er in der gegenwärtigen Philosophie und in den verschiedensten Einzelwissenschaften heute sehr unterschiedliche

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Auslegungen; sorgfältige Verwendungsanalysen haben an die zweihundert verschiedene Wertdefinitionen gezählt n . Besonders umstritten ist die Frage, wie man sich den Status eines Wertes vorzustellen hat: „Gibt" es Werte? Wenn ja, wie und wo „existieren" sie? Sind Werte objektive Wesenheiten oder Eigenschaften, die außerhalb des menschlichen Bewußtseins und unabhängig davon vorliegen (Wertobjektivismus)? Oder sind Werte nur Wunschvorstellungen im menschlichen Bewußtsein (Wertsubjektivismus)? Kann man schließlich zwischen verdinglichendem Wertobjektivismus und relativistischem Wertsubjektivismus dadurch vermitteln, daß man „Werte" als gesellschaftliche Konstrukte auffaßt, in denen Klassen von subjektiv erwünschten Sachverhalten überindividuell verallgemeinert werden? Auf diese und ähnliche wertphilosophischen Grundfragen vermag heute niemand eine Antwort zu geben, mit der sich alle Denker einverstanden erklären könnten. Darum sagt die oben vorgeschlagene Kompromißformel nicht explizit, was Werte sind, sondern gibt lediglich eine operationalistische und fiinktionalistische Explikation. In operationalistischem Sinn wird festgestellt, daß Werte in Wertungen zum Ausdruck kommen und bestimmend für eine Auswahl oder Bevorzugung sind; konkrete Präferenzund Auswahlentscheidungen werden also als Indikatoren dafür aufgefaßt, daß sich die Entscheidungssubjekte von einem bestimmten allgemeinen Wert leiten lassen. Im funktionalistischen Sinn wird dann erklärt, daß Werte eine orientierende und legitimierende Aufgabe erfüllen, wenn bestimmte Klassen von Handlungen oder Sachverhalten gegenüber anderen ausgezeichnet werden. Wer zu begründen hat, warum er das Ziel verfolgt, den Kraftstoffverbrauch eines Automobils so weit wie möglich zu senken, wird sich, wenn er die Verringerung der Betriebskosten anführt, letzten Endes auf den allgemeinen Wert der Wirtschaftlichkeit im Sinne sparsamen Umganges mit Ressourcen beziehen. Allgemein wird mit Werten ein Anspruch auf Geltung und Zustimmung verbunden. Da im Beispiel der Wert der Ressourcensparsamkeit heute mit allgemeiner Zustimmung rechnen kann, läßt er sich zur Legitimation des genannten technischen Zieles heranziehen. Dabei mag die Frage nach der metaphysischen Seinsweise der

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Werte offenbleiben; es genügt zu wissen, was für eine Rolle die Werte spielen, was sie bewirken, und wie sie festzustellen sind. Umstritten ist es auch, ob Werte grundsätzlich letzten Endes aus menschlichen Bedürfnissen zu erklären sind. Die Schwierigkeit beginnt bereits damit, daß der Bedürfnisbegriff kaum weniger vielfaltig ausgelegt wird als der Wertbegriff 12. Begriffsgeschichtliche Belastungen aus der psychologischen und ökonomischen Tradition haben dazu gefuhrt, daß beide Disziplinen diesen Begriff heute weitgehend meiden und durch „Motivation" bzw. „Bedarf' ersetzen. Vor allem versucht man damit der Gefahr einer Verdinglichung des Bedürfnisbegriffs zu entgehen, die zum Beispiel in dem problematischen Konzept der „wahren" Bedürfnisse bei bestimmten neomarxistischen Autoren offenkundig ist 13. So muß denn auch hier offen gelassen werden, was Bedürfnisse wirklich sind. Es möge eine sprachanalytische Explikation genügen, die lediglich sagt, was mit dem Ausdruck regelmäßig gemeint ist. Bedürfnisse sind demnach der Ausdruck für das, was zur Lebenserhaltung und Lebensentfaltung des Menschen notwendig ist. Was allerdings als unerläßlich gilt, hängt vom jeweiligen Entwicklungsstand von Kultur und Gesellschaft ab; in einer Industriegesellschaft konkretisieren sich die Bedürfnisse anders als bei Naturvölkern. Offensichtlich entspricht der historisch-soziokulturellen Relativität der Bedürfhisse die zeit- und kulturspezifische Varietät von Wertsystemen. Auch gibt es in Wertsystemen mit Sicherheit bestimmte Elemente, in denen Lebenserhaltungs- und Lebensentfaltungserfordernisse der Individuen verallgemeinert sind, die also in der Tat mit Bedürfnissen erklärt werden können. Da aber solche Zusammenhänge nicht für alle Werte ohne weiteres plausibel sind, muß an dieser Stelle offen bleiben, ob Werte nicht auch andere Ursprünge besitzen können; jedenfalls denkt man beim Wertbegriff nicht so sehr an unabdingbare Erfordernisse wie beim Bedürfnisbegriff Schließlich ist noch der Begriff der Norm zu erläutern. Normen sind auf soziale Verbindlichkeit und Vereinheitlichung angelegte Verhaltensregeln, die unter einer gesellschaftlichen Gruppe oder in der Gesamtgesellschaft Verhaltenserwartungen und Handlungsanweisungen bestimmen; Verstöße gegen Normen ziehen Sanktionen nach

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sich, die von der Mißbilligung bis zur Bestrafung reichen können. Während es bei Werten umstritten ist, ob sie grundsätzlich gesellschaftlichen Charakter haben oder ausnahmsweise auch nur fur einzelne Menschen bestimmend sind, tragen Normen grundsätzlich überindividuellen Charakter. Während man sich Werte vorstellen kann, deren Vernachlässigung folgenlos bleibt, zieht der Verstoß gegen Normen in aller Regel gesellschaftliche Sanktionen nach sich. Und während Werte in Umfang und Inhalt nicht selten eine gewisse Unbestimmtheit aufweisen, zeigen sich Normen, schon um sanktionsfähig zu werden, eher als relativ präzise Regeln, die oft schriftlich oder gar gesetzlich festgelegt sind. Gleichwohl sind auch Nonnen finale Konzeptionen, in denen sich Werte konkretisieren. Übrigens gilt dies auch für technische Normen, die nicht nur auf die Vereinheitlichung technischer Lösungen hinwirken, sondern dabei auch implizit oder explizit aufwerte Bezug nehmen 14 Trotz aller begrifflichen und wertphilosophischen Schwierigkeiten scheint es mithin dennoch sinnvoll, konkrete normative Konzepte wie Ziele oder Präferenzen auf einen allgemeinen Wertbegriff zurückzubeziehen und Werte als verallgemeinerte Orientierungskomplexe zu verstehen, die auch für technisches Handeln letzte Richtlinie und Begründung darstellen.

3.

Ein pragmatischer Wertkatalog

3.1. Vorentscheidung Als im letzten Abschnitt von Wertsystemen die Rede war, wurde ausdrücklich betont, daß man sich unter einem Wertsystem keinesfalls eine für immer gegebene statische Entität mit unveränderlichen Elementen und Relationen vorstellen darf. Vielmehr sind Wertsysteme modellistisch zu verstehen, insofern sie eine benutzer-, zeit- und situationsabhängige Abbildung einer bestimmten normativen Konstellation darstellen. Folglich kann es nicht ein einziges Wertsystem geben, sondern es ist eine Vielzahl verschiedenartiger Wertsysteme anzunehmen, die sich schon in ihren Elementen, erst recht aber in Art und Umfang der verschiedenen Relationen voneinander unterscheiden. Schon aus diesem methodologischen Grund, dann natürlich aber auch aus dem

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sozialphilosophischen Grund, daß in einer modernen pluralistischen Gesellschaft kein partikulares Gremium ein allgemeinverbindliches Wertsystem vorschreiben kann - aus diesen beiden Gründen also können sich normative Vorgaben, die hier zur Diskussion gestellt werden, nur auf den Umfang und auf bestimmte typische Relationen möglicher Wertsysteme beziehen. In einem ersten Schritt ist mithin zunächst ein Katalog aufzustellen, der alle relevanten Elemente möglicher Wertsysteme umfaßt. Einer konstruktiv-rationalen Denkhaltung erscheint es zunächst erstrebenswert, für einen derartigen Katalog ein universelles Klassifikationsschema zu entwickeln, in dem alle erdenkbaren Werte ihren Platz finden. Diese spätscholastische Idee einer totalen Systematisierung erweist sich jedoch sehr schnell als undurchführbar. Dafür gibt es einen theoretischen und einen praktischen Grund. Zur theoretischen Begründung muß man sich an das erinnern, was oben ganz allgemein über normative Begriffe gesagt wurde. Auch der Wertbegriff hat selbstverständlich eine deskriptive Komponente, indem er, wenn auch sehr allgemein und nicht besonders trennscharf, eine Klasse von Sachverhalten namhaft macht, der Ziele und Kriterien einer konkreten Wertung zu subsumieren sind. So umschreibt der Wert der Wirtschaftlichkeit die Klasse all jener erwünschten Zustände, Gegenstände, Handlungen, Prozesse, Beziehungen usw., die in der Sphäre der rationalen Aufwands- und Nutzenkalkulation angesiedelt sind. Ein Wert deckt also immer einen bestimmten Bereich tatsächlicher oder möglicher Wirklichkeit ab. Daraus folgt aber, daß eine universelle Klassifikation von Werten eine universelle Klassifikation aller wirklichen und möglichen Erscheinungen in der Welt voraussetzen würde. Ohne nähere Begründung darf man wohl konstatieren, daß all solche Versuche, von den mittelalterlichen „Summen" bis zu der heute im Informationswesen gebräuchlichen dezimalen Universalklassifikation, unzulänglich und unbefriedigend geblieben sind. Somit ist auch nicht zu erwarten, daß eine allseits befriedigende universelle Wertklassifikation gelingen könnte.

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Das pragmatische Argument gegen eine allumfassende Wertklassifikation besteht in dem Hinweis, daß auch Klassifikationen modellistischen Charakter tragen und daher immer nur auf spezifische Verwendungszwecke abgestimmt sein können. Wenn also Werte im technischen Handeln aufgelistet werden sollen, tut man gut daran, den darin implizierten Benutzerbezug von vornherein in Rechnung zu stellen und nicht nach abstrakten Gesichtspunkten einen allumfassenden Wertkatalog zu konstruieren, der möglicherweise eine Reihe von Werten enthielte, die für technisches Handeln irrelevant sind. Der Wertkatalog, der im folgenden vorgestellt wird, trägt also ausgesprochen pragmatische Züge. Will man nun einen solchen technikbezogenen Wertkatalog zusammenstellen, so braucht man glücklicherweise nicht an einem Nullpunkt zu beginnen. Spätestens seit Beginn der 70er Jahre hat sich aus der wirtschaftspolitischen Wachstumsdiskussion herauskristallisiert, daß eine globale quantitative Größe wie das Bruttosozialprodukt nicht ausreicht, um die Qualität der Lebensbedingungen in einer Gesellschaft zutreffend zu erfassen. Aus dieser Einsicht erwuchs das Programm, die zunächst nur als politisches Schlagwort formulierte „Lebensqualität" in meßbaren Sozialindikatoren zu operationalisieren

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. Indem man diese Sozialindikatoren bestimmten Kategorien un-

terordnete, erhielt man eine Art von Wertkatalog für soziotechnische und sozioökonomische Beurteilungen und Entscheidungen. Aber auch die Zuspitzungen der energiepolitischen Diskussion über Chancen und Risiken der Kernenergie bedurften einer rationalen Klärung durch systematische Wertdiskussion und führten ebenfalls zu breitgefächerten Wertkatalogen 16. Diese und ähnliche Ansätze kennzeichnen den Hintergrund, vor dem der folgende Wertkatalog entstanden ist. Dieser Wertkatalog ist in acht Wertbereiche gegliedert, die im Schema (Anhang) dargestellt sind. Für jeden dieser übergeordneten Werte werden dann eine Reihe von Unterwerten aufgelistet, die stichwortartig im Schema zusammengestellt sind. Freilich bedürften diese schematischen Übersichten einiger Erläuterungen, um nicht mißverstanden zu werden. Das Ziel allen technischen Handelns, so kann man in Anlehnung an das Leitmotiv eines Aufgabenkataloges des Vereins Deutscher Ingenieure sagen 17, ist die Sicherung und

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Verbesserung menschlicher Lebensmöglichkeiten durch Entwicklung und sinnvolle Anwendung technischer Mittel. Dann aber sind Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität die entscheidenden Werte zur Orientierung und Legitimation technischer Entwicklungen; die übrigen Werte, selbst Wohlstand und Umweltqualität, haben demgegenüber eine eher instrumentelle Bedeutung. In der technisch-wirtschaftlichen Praxis jedoch sind Ingenieure damit befaßt, technische Mittel zu entwerfen und in ihrem Aufbau und Verhalten angemessen zu gestalten und zu verwirklichen. Die konkrete Ingenieurarbeit ist also zunächst und vor allem an Zielen orientiert, die dem technischen Wert der Funktionsfahigkeit zu subsumieren sind. Dieser, und nur dieser Wert wird als „technisch" apostrophiert, weil seine deskriptiven Elemente sich unmittelbar auf sachtechnische Produkte und Verfahren beziehen. Demgegenüber kann man in analytischer Unterscheidung alle übrigen Werte als nicht-technisch und außertechnisch ansehen, weil sie Klassen von wirklichen oder möglichen Sachverhalten und Handlungen umschreiben, die es mit der Verfassung der Natur, der einzelnen Menschen und der gesellschaftlichen Verhältnisse zu tun haben. Nicht-technisch sind diese Werte selbstverständlich nur ihrem Inhalt nach. Ihrer praktischen Bedeutung nach müssen sie, viel stärker als bisher, in den Entscheidungskriterien technischen Handelns berücksichtigt werden. Das Programm der Technikbewertung ist ja aus der Einsicht heraus entstanden, daß in Vergangenheit und Gegenwart die nicht-technischen Werte von der technischen Entwicklung zu wenig berücksichtigt oder manchmal gar verfehlt werden, und es erhebt den Anspruch, daß diese Werte nun ausdrücklich in die Entscheidungsgrundlagen technischen Handelns einbezogen werden.

3.2. Wertbereiche Selbstverständlich soll damit die Bedeutung des technischen Wertes der Funktionsfähigkeit nicht geschmälert werden. Funktionsfähigkeit konkretisiert sich in einer Reihe von Unterwerten, die durchweg keiner Erläuterung bedürfen. Zur Machbarkeit ist zu sagen, daß es technischem Handeln zunächst immer darum geht, bestimmte Wirkungen überhaupt mit technischen Mitteln herbeizuführen. Es ist dies ein originär technischer

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Impetus zur Realisierung artiiizieller Welten, der freilich nicht zu jedem technologischen Imperativ verkommen darf, demzufolge alles gemacht werden soll, was man machen kann. Wenn allein das Können das Sollen bestimmen würde, gäbe man alle anderen Werte preis. Die technische Effizienz, vor allem der energetische Wirkungsgrad, die stoffliche Ausbeute und die mengenmäßige Produktivität, stellen bereits einen Übergang zu wirtschaftlichen Werten dar, weil dabei der sparsame Einsatz von Ressourcen zur Geltung kommt, der für die Funktionsfähigkeit an sich nicht bedeutsam ist. Effizienz wird dennoch den technischen Werten subsumiert, weil sie in technisch-naturwissenschaftlichen Größen gemessen wird und von den jeweiligen sozioökonomischen Bedingungen unabhängig ist. Die technischen Werte sind freilich nur eine notwendige Bedingung zur Sicherung und Verbesserung menschlicher Lebensmöglichkeiten. Hinreichende Bedingungen dafür werden erst erfüllt, wenn auch den nicht-technischen Werten Rechnung getragen wird. Das gilt zunächst - und gegenwärtig in überragender Weise - für die wirtschaftlichen Werte, die, oft zum Leidwesen der Erfinder und Konstrukteure, Ausmaß und Richtung der technischen Entwicklung maßgeblich bestimmen. Nun unterscheidet die Ökonomie einzelwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge. So werden im Wertkatalog die einzelwirtschaftlichen bzw. bertriebswirtschaftlichen Werte mit dem Begriff der Wirtschaftlichkeit gekennzeichnet, während die gesamtwirtschaftlichen bzw. volkswirtschaftlichen Werte unter den Oberbegriff des Wohlstandes gestellt werden; dabei ist mit Wohlstand nicht der Überfluß gemeint, der gelegentlich mit dem Begriff der Wohlstandsgesellschaft assoziiert wird, sondern lediglich die angemessene Bedarfsdeckung. Soweit bei Teilen der Gesellschaft wichtige Lebensbedürfnisse noch nicht befriedigt sind, wird man die einzelwirtschaftliche Gewinnerzielung zwecks Ausweitung der Produktion und das gesamtwirtschaftliche Wachstum durchaus akzeptabel finden können. Freilich besteht, ebenso wie bei den technischen Werten der Funktionsfähigkeit die Gefahr, das solche Werte absolut gesetzt und um ihrer selbst willen verfolgt werden, wobei den genannten wirtschaftlichen Werten noch die Schwäche anhaftet, daß sie rein formal und indifferent gegenüber den Inhalten der

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Bedarfsdeckung sind. Mit der unangemessenen Dominanz derart formaler wirtschaftlicher Entscheidungskriterien sind sicher manche Fehlentwicklungen in der Technik zu erklären. Darum ist es an der Zeit, auch den metaökonomischen Werten bei technischen Entscheidungen größere Geltung zu verschaffen. Die Sicherheit ist ein nicht-technischer Wert, der in der neueren technischen Entwicklung sehr früh große Beachtung erfahren hat und, unterstützt durch Gesetze, Verordnungen und technische Regeln, vielen Ingenieuren erfreulicherweise so selbstverständlich geworden ist, daß sie Sicherheit bereits als technischen Wert begreifen. Aber wenn man Sicherheit, in klarer Abgrenzung von der Zuverlässigkeit technischer Systeme, als Abwesenheit von Gefahr fur Leib und Leben definiert, hat dieser Wert strenggenommen nichts mit der Funktionsfähigkeit der technischen Systeme zu tun, sondern bezieht sich allein auf die körperliche Unversehrtheit und das Überleben deijenigen Menschen, die von der Entwicklung und Nutzung der technischen Systeme in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Tatsächlich gibt es ja genügend Beispiele dafür, daß technische Systeme bezüglich ihrer Funktionsfähigkeit und ihrer Wirtschaftlichkeit keinen Wunsch offenlassen und dennoch Gefahren fur Leib und Leben heraufbeschwören. Nun gibt es in der Technik, genausowenig wie in anderen Lebensbereichen, absolute Sicherheit. Immer muß, wenn auch vielleicht nur bei sehr niedriger Wahrscheinlichkeit, mit dem Eintreten einer Schädigung gerechnet werden, sei es bei normalem Betrieb, sei es im Falle des Versagens oder sei es auch im Fall des Mißbrauchs des technischen Systeme. Darum quantifiziert man die Sicherheit als den reziproken Wert des Risikos und definiert das Risiko durch das Produkt aus Schadensumfang bzw. Gefahrenpotential und Eintrittshäufigkeit bzw. Eintrittswahrscheinlichkeit. Allerdings hat sich aus den leidenschaftlichen Risikodiskussionen der letzten Jahre herauskristallisiert, daß der „gesunde Menschenverstand" dieser mathematischen Begriffskonstruktion nicht ohne weiteres zu folgen vermag und, da die Schadenswahrscheinlichkeit nichts über den konkreten Einzelfall aussagt, mit einem gewissen Recht allein schon den möglichen Schadensumfang zur Beurteilungsgrundlage macht; selbst wenn das, was in Tschernobyl geschehen ist, nur einmal in hunderttausend Jahren vorkommt, ist es eben doch im

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Jahre 1986 geschehen, und der Schadensumfang, selbst wenn seine volle Höhe noch gar nicht abzusehen ist, wirkt bereits jetzt erschreckend genug. So erweist sich die Begrenzung des Gefahrenpotentials legitimerweise als selbständiger Unterwert der Sicherheit, ganz unabhängig davon, wie wahrscheinlich der aktuelle Schaden ist. Es kommt hinzu, daß menschliches Versagen und menschlicher Mißbrauch in den üblichen Risikokalkulationen kaum erfaßt werden können. So ergibt sich die zusätzliche Sicherheitsforderung, die Möglichkeit fahrlässiger oder mißbräuchlicher Verwendung mit technischen und anderen Mitteln weitgehend auszuschließen. Der Wert der Gesundheit wird definiert als Zustand des psychischen und körperlichen Wohlbefindens des Menschen. Wie man an Indikatoren wie der Kindersterblichkeit und der mittleren Lebenserwartung ablesen kann, hat sich die gesundheitliche Verfassung der Menschen nicht nur mit der Entwicklung der Medizin, sondern auch mit der Technisierung spürbar verbessert. Dennoch gehen von technischen Produkten und Produktionsprozessen nach wie vor auch Gefahren für die Gesundheit aus. Das gilt nicht nur für die Aibeitswelt, wo immer noch technisch bedingte Berufskrankheiten wie z.B. die Lärmschwerhörigkeit auftreten und durch Technisierung und bestimmte Organisationsformen verursachte Überbeanspruchungen psychosomatische Beschwerden hervorrufen können, sondern auch für den privaten Alltag, wenn technische Systeme auf die psychischen und physischen Bedürfnisse der Menschen nicht genügend abgestimmt sind oder doch zu einer ungesunden Lebensführung Anlaß geben. Schließlich treten Gesundheitsgefährdungen auch durch umweltbelastende Produkte und Produktionsprozesse auf, denen sich kaum jemand entziehen kann. So steht der Wert der Umweltqualität mit dem Wert der Gesundheit in einem gewissen Zusammenhang. Der neutralere Begriff „Umweltqualität" ist übrigens mit Vorbedacht anstelle des bereits geläufigen Ausdrucks „Umweltverträglichkeit" gewählt worden und das gilt in noch stärkerem Maße für die „Gesellschaftsqualität" statt der „Sozialverträglichkeit" -, weil im Begriff der Verträglichkeit eine statische Vorstellung mitschwingt, der zufolge Umwelt und Gesellschaft, so wie sie jetzt sind, unverändert zu erhalten sind und technische Systeme diesen Status quo auf keinen Fall verändern

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dürften. Tatsächlich jedoch ist kaum eine Technisierung denkbar, die nicht Umwelt und Gesellschaft auch weiterhin verändern würde. Aber Veränderung an sich ist ja noch nicht abzulehnen, wenn die damit herbeigeführten Qualitäten mit verbreiteten Wertvorstellungen übereinstimmen. Unter Umweltqualität soll in diesem Wertkatalog die Beschaffenheit der natürlichen Umgebung verstanden werden, auch wenn es heute auf der Erdoberfläche kaum noch unberührte Natur gibt; tatsächlich geht es also um die Qualität der durch Technik bereits mehr oder weniger umgestalteten Natur. Zur Begründung dieses Wertes konkurrieren heute zwei sehr verschiedene philosophische Positionen miteinander. (a) Für einen anthropozentrischen Standpunkt ist die Natur letztlich Mittel zum Zweck für den Menschen; nur das Eigeninteresse des Menschen ist maßgebend dafür, in welchem Umfang Natur verändert oder bewahrt wird. (b) Für einen physiozentrischen Standpunkt dagegen ist die Natur Selbstzweck und besitzt einen Eigenwert; daher muß ihr prinzipiell ein Eigenrecht zuerkannt werden, das dem Bearbeitungsrecht des Menschen gleichrangig, wenn nicht gar übergeordnet ist. Man kann sich fragen, ob der physiozentrische Standpunkt nicht, bis zur letzten Konsequenz getrieben, zur Selbstaufgabe der Gattung Menschen fuhren müßte. Doch unabhängig von der grundsätzlichen Einstellung zu diesen Positionen lassen sich praxisbezogene Einsichten und Forderungen zum Verhältnis von Technik und natürlicher Umwelt formulieren, die mit beiden Standpunkten vereinbar sind. Landschaftsschutz und Artenschutz, sparsamer Umgang mit natürlichen Ressourcen und die Minimierung von Immissionen und Deponaten sind Unterweite der Umweltqualität, die angesichts fortgeschrittener Technisierung nicht nur im Interesse der Umwelt an sich, sondern auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Menschen Geltung beanspruchen können. Schließlich sind mit der Persönlichkeitsentfaltung und der Gesellschaftsqualität zwei Werte zu nennen, an denen technisches Handeln zwar grundsätzlich immer orientiert sein sollte, die jedoch bis in die Gegenwart hinein bei technisch-wirtschaftlichen Entscheidungen nur selten explizit zur Geltung gekommen sind. Daß mit der „Gesellschaftsqualität" nicht ein bestimmter gesellschaftlicher Status quo festgeschrieben werden soll, wurde bereits gesagt. Anzumerken ist jedoch noch, daß Persönlich-

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keitsentfaltung und Gesellschaftsqualität in engster Wechselbeziehung zueinander stehen, so daß es bei mehreren Unterwelten wenig sinnvoll erschien, sie eindeutig entweder dem einen oder dem anderen Wert zu subsumieren; Handlungsfreiheit beispielsweise ist zwar ein Wert der Persönlichkeitsentfaltung, kennzeichnet gleichzeitig aber auch die Qualität einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern ermöglicht, diesen Wert zu verfolgen. Aus dieser Überlegung erklärt sich die salomonische Lösung, Individualwerte und Kollektivwerte zwar mit zwei verschiedenen Oberbegriffen zu umschreiben, sie dann aber doch in einer gemeinsamen Rubrik zusammenfassend zu behandeln. In der Auflistung des Schemas wird dann allerdings eine Reihenfolge gewählt, die tendenziell von den individuellen Werten zu den gesellschaftlichen Werten fuhrt. Natürlich ist es kein Zufall, daß mit Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit Grundwerte rechts- und sozialstaatlicher Demokratien genannt werden.

4. Wertkatalog und Wertsysteme Es wird nicht der Anspruch erhoben, dieser Wertkatalog wäre bis ins letzte Detail vollständig; breite gesellschaftlich-politische Diskussion ist erwünscht und notwendig und wird wahrscheinlich gewisse Ergänzungen und Modifikationen erbringen. Der Grundtendenz nach aber deckt dieser Katalog alle wichtigen Elemente ab, die als Bestandteile heutiger Wertsysteme anerkannt sind. Der vorgelegte Entwurf maßt sich also nicht an, der Gesellschaft neue Werte vorzuschreiben, sondern registriert lediglich die Werte, die in unserer Gesellschaft ohnehin gelten. Nur in einer Hinsicht impliziert der Wertkatalog durch den Kontext, in dem er steht, eine präskriptive Aussage: Die Forderung nämlich, daß technische Zielsetzungen und Auswahlentscheidungen über technische Lösungsmöglichkeiten ausdrücklich alle Werte dieses Kataloges berücksichtigen sollen. Das aber ist das erklärte Programm der Technikbewertung: Möglichst alle Folgen einer Technik fur Umwelt und Gesellschaft werden auch nach außertechnischen und außerwirtschaftlichen Werten beurteilt, und der Bewertungsprozeß bleibt nicht auf einen einzelnen Entscheidungsträger beschränkt, sondern wird von einem Netzwerk gesellschaftlicher Einrichtungen vorbereitet, unterstützt und begleitet.

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Freilich reicht für einen konkreten Bewertungsprozeß dieser allgemeine Wertkatalog nicht aus, denn er enthält ja nur die Elemente eines möglichen Wertsytems. Die gesellschaftlichen Meinungsverschiedenheiten entzünden sich im allgemeinen an der Frage, welche Beziehungen zwischen den Elementen des Wertsytems angenommen werden. Es beginnt mit der begrifflichen Hierarchiebeziehung: Konkretisiert sich beispielsweise Handlungsfreiheit in jener individuellen Mobilität, die das private Kraftfahrzeug liefert, oder in der durchgängigen Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrssysteme, die einem die Handlungszwänge der privaten Fahrzeughaltung (Kapitalbindung, Wartung und Instandhaltung, Parkplatzsuche usw.) ersparen? Ferner sind die Ziel-Mittel-Beziehungen diskussionsbedürftig; selbst die im Schema eingetragenen, typischerweise anzunehmenden Instrumentalbeziehungen werden nicht unwidersprochen bleiben. So dient zwar die Funktionsfähigkeit technischer Systeme in einer Vielzahl von Fällen der Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität; der mikroelektronische Minispion, der trotz gesetzlicher Verwendungsverbote von Ingenieuren gebaut und von Unternehmen auf dem Markt angeboten wird, ist gewiß nicht das einzige Gegenbeispiel. Sicherheit fordert die Gesundheit und ist im allgemeinen auch eine Voraussetzung für Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität; dennoch gibt es Zeitgenossen, die etwa die aus Sicherheitsgründen gesetzlich vorgeschriebene Gurtpflicht als Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeitsentfaltung betrachten. Wirtschaftlichkeit ist im Regelfall ein Mittel, um den Wohlstand zu befördern, aber es gibt, und keineswegs nur unter privatwirtschaftlichen Bedingungen, durchaus Fälle, wo isolierte mikroökonomische Strategien der optimalen Bedarfsdeckung oder der Vollbeschäftigung abträglich sind. Doch die größten Probleme tauchen bei den Konkurrenzbeziehungen auf. Zunächst kann auch hier, wie bei den Ziel-Mittel-Beziehungen, wohl jeder typischen Konkurrenzbeziehung ein Gegenbeispiel entgegengehalten werden. Dann aber kommt es zum Schwur, wenn sich die Annahme einer Konkurrenzbeziehung als triftig erweist, und wenn etwa im Einzelfall zwischen Wohlstand und Umweltqualität ein Kompromiß gefunden werden muß; wenn beispielsweise zugunsten einer unversehrten Aulandschaft auf den Bau eines Flußkraftwerks verzichtet und damit die Bedarfsdeckung mit

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elektrischer Energie beeinträchtigt wird. Übrigens bestehen Konkurrenzbeziehungen nicht nur zwischen den acht Wertbereichen, sondern manchmal auch zwischen Unterwerten ein und desselben Wertbereichs; das gilt schon für technische Werte, wenn beispielsweise Genauigkeit und Robustheit nicht zusammen gehen, findet sich bei den nationalökonomischen Werten, von deren Widersprüchlichkeit die Wirtschaftspolitik ein Lied singen kann, und spitzt sich natürlich bei den Werten der Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität zu, wenn beispielsweise anläßlich einer Volkszählung Privatheit und Transparenz in Konflikt miteinander geraten. Der vorgeschlagene Wertkatalog und die Explikation der möglichen Beziehungen zwischen den Werten kann also kein gebrauchsfertiges Rezept dafür liefern, anstehende Probleme einer konkreten Technikbewertung eindeutig zu lösen. Er bietet jedoch eine Grundlage für die Strukturierung normativer technopolitischer Diskurse, indem er den notwendigen Umfang des Bewertungshorizontes markiert, die zu beachtenden Wertelemente aufzählt und die möglichen Beziehungen in den jeweils ad hoc zu konstruierenden Wertsystemen präzisiert. Der vorgeschlagene Wertkatalog versteht sich nicht als Dekalog der Technikbewertung; das einzige Gebot, das er tatsächlich enthält, ist die normative Koordination technischen, wirtschaftlichen und politischen Handelns in der technischen Entwicklung.

Anmerkungen •

Dieser Beitrag ist aus der Arbeit des Ausschusses „Grundlagen der Technikbewertung" im Bereich „Technikbewertung" der Hauptgruppe „Der Ingenieur in Beruf und Gesellschaft" des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) hervorgegangen. Die Verfasser danken den übrigen Ausschußmitgliedern H.H. Holz, A. Hüning, 2. König, E. Oldemeyer, G. Röhlke und H. Sachsse, ohne deren langjährige Mitwirkung die hier vorgetragenen Überlegungen nicht hätten reifen können. So ist es im Grunde nur die Art der Darstellung, wofür die Verfasser die Verantwortung zu übernehmen haben. 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

VDI (1986), S. 1 Huisinga (1985) Bartocha(1971) Moser/Hüning (1975, 1976) Ropohl (1978), Rapp (1982) Ropohl/Schuchaidt/Laruschkat (1984) VDI (1986)

6. Kap.: Wertgrundtagen der Technikbewertung 8) 9) 11) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17)

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VDI (1986), S. 2 ff. Vgl. Stachowiak (1973) Lenk (1975) Vgl. Kmieciak (1976), S. 147 ff. Lederer/Mackensen (1975); Kmieciak (1976), S. 158 ff. Vgl. Moser/Ropohl/Zimmerli (1978) Ropohl/Schuchardt/Laruscbkat (1984) z.B. Zapf (1978) z.B. Enquete-Kommission (1980); Keeney et. al. (1984) VDI (1980), S. 3

Anhang Schema (VDI 1986,19 f.) Auflistung der im Text genannten Werte Funktionsffthigkeit Brauchbarkeit Machbarkeit Wirksamkeit Perfektion - Einfachheit -Robustheit - Genauigkeit - Zuverlässigkeit - Lebensdauer - technische Effizienz

Wirtschaftlichkeit (einzelwirtschaftlich) Kostenminimierung Rentabilität Unternehmenssicherung und Unternehmenswachstum

Gesundheit Körperliches Wohlbefinden Psychisches Wohlbefinden Steigerung der Lebenserwartung Minimierung von unmittelbaren und mittelbaren gesundheitlichen Belastungen - in der Berufsarbeit - in der privaten Lebensdurchführung - durch umweltbelastende Produkte und Produktionsprozesse

Umweltqualität Landschaftsschutz Artenschutz Ressourcenschonung Minimierung von Immissionen Deponaten

Wohlstand (gesamtwirtschaftlich)

Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität

Bedarfsdeckung Quantitatives bzw. qualitatives freitheit

Handlungsfreiheit Informations- und Meinungs-

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6. Kap.: Wertgrundlagen der Technikbewertung

Wachstum Internationale Konkurrenzfähigkeit Vollbeschäftigung Verteilungsgerechtigkeit

Sicherheit

Körperliche Unversehrtheit Lebenserhaltung der Menschheit hqftigkeit Lebenserhaltung des einzelnen Menschen Minimierung des Risikos (Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit) - des Betriebsrisikos

- des Versagenrisikos - des Mißbrauchsrisikos...

Kreativität Privatheit Beteiligungschancen Soziale Kontakte und soziale Anerkennung Solidarität und Kooperation Geborgenheit und soziale Sicherheit Kulturelle Identität Minimalkonsens Ordnung, Stabilität und RegelTransparenz und Öffentlichkeit Gerechtigkeit

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an einepartizipative TA

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7. Kapitel Grundfragen und Herausforderungen an eine partizipative Technikfolgenabschätzung Waldemar Baron

1. Erwartungen an Technikfolgenabschätzung und das Problem der Partizipation 1.1 Politische Erwartungen im internationalen Vergleich Unmittelbar nach Gründung des Office of Technology Assessment (OTA) in den USA setzten in europäischen Industrienationen Anfang der 70er Jahre Diskussionen ein, ob und wie Technikfolgenabschätzung parlamentarisch zu institutionalisieren und den jeweiligen nationalen, politischen Anforderungen Rechnung zu tragen sei. Nach ersten gescheiterten Versuchen, Technikfolgenabschätzung in direkter Nachahmung des OTA-Modells zu institutionalisieren, haben sich die politischen Erwartungen an Technikfolgenabschätzung im internationalen Vergleich weitgehend unterschiedlich entwikkelt. Häufig genannte Einwände gegenüber dem OTA als einer technokratischen Amtslösung betreffen eine nicht ausreichende Legitimation sowie mangelnde Partizipationsangebote. Politisch erwartet wurde vom OTA u.a. ein Beitrag, unterschiedliche Einschätzungen und Interessen im Vorfeld der politischen Beratung und Entscheidung auszuloten, zu koordinieren, Kompromißmöglichkeiten zu eruieren und die Chancen fur politische Konsensfindungsprozesse zu begünstigen. Der bereits im Rahmen der Beratungen des OTA-Gesetzes eingebrachte Anspruch, ein öffentliches Forum einzurichten, das eine Artikulation der Interessen und Bewertungen von einzelnen oder Gruppen unabhängig der Einflußnahme von Regierung, Administration und Industrie zuläßt und begünstigt, ist bis zur Schließung des OTA 1995 im wesentlichen nicht eingelöst worden. Über sogenannte Advisory-Panels und einen begleitenden, außerparlamentarisch besetzten Beirat des Lenkungsgremiums wurden nur marginale Beteiligungsmöglichkeiten für öffentliche Institutionen, Wirtschaft und gesellschaftliche

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7. Kap. : Grumt/ragen und Herausforderungen an àne partìzìpatìve TA

Interessengruppen angeboten. Die Beteiligung gesellschaftlicher Interessengruppen erfolgte bei den OTA-Studien in einem relativ späten Stadium und eher zur Absicherung der bereits vorliegenden Ergebnisse. Dies sollte zwar Anfang der 90er Jahre korrigiert werden;1 jedoch dürfte die OTA-Schließung einer überzeugenden Kurskorrektur zuvorgekommen sein. Auch das rein parlamentarisch besetzte Lenkungsgremium des OTA erwies sich, wie von den Kritikern des Modells von Anfang an erwartet, trotz der formaldemokratischen Legitimation als eher hinderlich für Partizipation, gesellschaftliche Vermittlungsprozesse, Verhandlungslösungen, Öffentlichkeit und Konsensfindung. Ganz anders in Bezug auf Partizipation stellt sich die Situation in Dänemark dar. Die parlamentarische Institutionalisierung von Technikfolgenabschätzung wurde 1985 durch Gesetz beschlossen. Das Lenkungsgremium des für parlamentarische Technikfolgenabschätzung zuständigen Sekretariates umfaßt 15 Mitglieder aus wissenschaftlichen und anderen öffentlichen Einrichtungen sowie aus Interessengruppen. Die Anbindung an das Parlament geschieht durch einen eigenen Parlamentsausschuß, welcher auch die Mitglieder des Lenkungsgremiums beruft. Neben der Durchführung von Studien hat die Anregung und Organisation einer öffentlichen Diskussion über wichtige technologiepolitische Fragen ein hohes Gewicht. Die Themenfindung ist nicht ausschließlich dem Parlament vorbehalten, sondern es gehen auch Initiativen vom Lenkungsgremium direkt aus. Von diesem wird erwartet, „umfassende Assessments der technologischen Entwicklung und der möglichen Folgen für Gesellschaft und Bürger zu betreiben und zu initiieren und die öffentliche Technologie-Diskussion zu unterstützen und anzuregen".2 Die öffentliche Diskussion technologiepolitischer Fragen wird über Medien und Informationsinstitutionen unterstützt. Das Lenkungsgremium betreibt ferner aktive Öffentlichkeitsarbeit durch vierteljährliche Herausgabe einer Zeitschrift sowie Förderung und Verbreitung von Informationsmaterialien über technologiepolitische Themen. In den Niederlanden wurde Technikfolgenabschätzung 1986 institutionalisiert und nicht direkt dem Parlament zugeordnet, sondern zwischen Legislative und Exekutive

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an einepartizipative TA

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piaziert. Das Arbeitsprogramm des heutigen Rathenau instituut3 kann nur vom Parlament in Übereinstimmung mit dem für Wissenschaftspolitik zuständigen Minister verabschiedet oder geändert werden. Das Lenkungsgremium umfaßt neun Mitglieder aus Wissenschaft und Technik, deren Berufung ebenfalls in Abstimmung von Legislative und Exekutive erfolgt. An der Themenfindung ist das Rathenau instituut selbst beteiligt, und es konsultiert dazu neben der Wissenschaft auch systematisch gesellschaftliche Interessengruppen. Der partizipative Anspruch ist ähnlich hoch wie in Dänemark. Zu den bearbeiteten Themen finden häufig Konferenzen oder Workshops mit Beteiligung auch gesellschaftlicher Gruppen statt. Diskussionen aus diesen Veranstaltungen fließen in die sogenannten Synthese-Berichte, welche durch das Rathenau instituut erstellt werden, mit ein. Ferner veröffentlicht das Rathenau instituut jährlich sein Programm sowie alle zwei Jahre sogenannte Policy-Berichte. Darüber hinaus werden zu den einzelnen Studien vorläufige Berichte und Arbeitspapiere publiziert, für welche die Autoren verantwortlich zeichnen. Die Konstruktionen zur parlamentarischen Technikfolgenabschätzung für Frankreich, Großbritannien (s.a. 17. Kap.), Deutschland ( s.a. 18. Kap.) und die Europäische Union (s.a. 15. Kap.) sollen hier nicht im einzelnen vorgestellt werden.4 Die Lenkungsgremien dieser Institutionen sind in Anlehnung an das OTA-Modell parlamentarisch besetzt bzw. dominiert. Der partizipative Anspruch ist in diesen Fällen eher gering ausgeprägt, politische Erwartungen sind eher auf interne Politikberatung ausgerichtet. Die Institutionalisierung von Technikfolgenabschätzung beim Europäischen Parlament, das Scientific and Technological Options Assessment Programme (STOA), wird, ebenso wie das Office Parlementaire d'Evaluation des Choix Scientifiques et Technologiques (OPEST) in Frankreich, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Partizipative Ansprüche von STOA sind nicht bekannt. Allerdings signalisiert die Europäische Kommission Interesse an einer partizipativen Komponente der Technikfolgenabschätzung.5

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7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an einepartitipative TA

1.2 Strategisches Rahmenkonzept und Funktionen von Technikfolgenabschätzßtng Welcher Stellenwert kommt Partizipation bei Technikfolgenabschätzung aus Sicht deren Initiatoren und Betreiber zu? Eine viel beachtete Definition von Technikfolgenabschätzung, welche vorrangig auf Forschung und Bewertung ausgerichtet ist, wird von Paschen, Gresser und Conrad 1978 in die deutsche Diskussion eingebracht:6 „Als TA-Analysen bezeichnet man Untersuchungen, die darauf ausgerichtet sind, die Auswirkungen der erstmaligen Anwendung neuer oder in der Entwicklung befindlicher bzw. der verstärkten oder modifizierten Anwendung bekannter Technologien (einschließlich sozialer Technologien) systematisch zu erforschen und zu bewerten, wobei das Schwergewicht auf die unbeabsichtigten, oft mit beträchtlicher Verzögerung eintretenden Sekundär- und Tertiäreffekte gelegt wird".7 Diagnostizieren lassen sich im Laufe der weiteren Diskussion Elemente einer „Idealkonstruktion" von Technikfolgenabschätzung, welcher ein forschungs- und handlungsleitender Charakter zugeschrieben wird. Als Postulate an eine ideale, politikberatende Technikfolgenabschätzung8 lassen sich anfuhren: • Bedingungen und (potentielle) Folgen des Einsatzes von Techniken systematisch identifizieren, abschätzen und bewerten, • mögliche gesellschaftliche Konfliktfelder identifizieren, • alternative, konstruktive Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und aberprüfen, • möglichst rechtzeitig ansetzen (Frühwarnung), • möglichst umfassend analysieren (Gesamtbilanz), • betroffene gesellschaftliche Gruppen umfassend beteiligen (Partizipation) sowie • den Untersuchungsprozeß möglichst transparent, nachvollziehbar, nachprüfbar gestalten. Analysen, die alle Kriterien hinreichend erfüllen, sind bislang nicht durchgeführt worden. Eine einzelne Studie, die allen Anforderungen voll gerecht wird, konnte „noch nirgendwo vorgelegt werden"9. Diese Aussage hat auch heute noch ihre Berechtigung; die genannten Anforderungen haben idealtypischen Charakter, sind nicht aufeinander abgestimmt und folgen unterschiedlichen Logiken aus Wissenschaft und Politik. In der Diskussion um begriffliche Klärung und pragmatische Abgrenzung von Technikfol-

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an eine partizipative TA

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genabschätzung wird der Versuch unternommen, die Erwartungen als „strategisches Rahmenkonzept"10 aufzuwerten. Die Überfrachtung mit z.T. konfligierenden Ansprüchen fuhrt jedoch zu Unscharfen; die Durchführung einer Technikfolgenabschätzung, welche idealtypisch allen Anforderungen Rechnung trägt, wird nahezu zur unlösbaren Aufgabe. Stößt schon die begriffliche Abgrenzung von Technikfolgenabschätzung und vergleichbaren Ansätzen auf Schwierigkeiten, so sind auch die potentiellen Funktionen von Technikfolgenabschätzung umstritten und reichen in ihrem Anspruch von Politikberatung über Bereitstellung von Orientierungs-, Handlungs- und Entscheidungswissen bis zu Konfliktlösung, Techniksteuerung und Technikkritik. Wird Technikfolgenabschätzung an Partizipationsanforderungen und Befunden der Partizipationsforschung orientiert, so reicht ihre Funktion über Politikberatung hinaus und umfaßt ein gesellschaftliches Konfliktlösungs- und Vermittlungspotential.

1.3 Partizipation als Grundsatzproblem einer idealtypischen Technikfolgenabschätzung Partizipation und Öffentlichkeit als wesentliche Bestandteile der Idealkonstruktion von Technikfolgenabschätzung werden in der Praxis bislang eher restriktiv gehandhabt, eine Tatsache, die begründet wird mit „erheblichen Organisations-, Informations- und Kommunikationsschwierigkeiten ..., die sich ergeben, wenn man sich ernsthaft bemüht, die von den Folgen der Technikanwendungen potentiell Betroffenen am TA-Prozeß zu beteiligen", sowie mit „Desinteresse oder sogar Widerstand" der Auftraggeber bei Studien zur Technikfolgenabschätzung11. Als Partizipationsangebote werden nur gelegentlich Mitwirkungsmöglichkeiten an Beiräte und Workshops offeriert, initiiert von den Auftraggebern der Studien oder den Forschern selbst. Öffentlichkeit wird über die Publikation von Ergebnissen nur dann erreicht, wenn Ergebnisse der Technikfolgenabschätzung allgemeinverständlich dargestellt und über gezielte Öffentlichkeitsarbeit bereitgestellt werden. „Die Öffentlichkeit erscheint aus der Sicht akademischer Forschung allenfalls als Adressat der Ergebnisse,

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7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an ânepartizipative TA

die anschließend im Prozeß der gesellschaftlichen Technikbewertung unvorhersehbare Verwendung finden".12 Partizipative Forderungen lassen sich nicht problemlos mit den Ansprüchen etwa nach Frühwarnung und Gesamtbilanz zusammenfuhren, partizipative Technikfolgenabschätzung ist aufwendig, nicht einfach zu handhaben und zum Teil unerwünscht. Von ihrem Anspruch zielt partizipative Technikfolgenabschätzung nicht darauf, Konflikte um jeden Preis zu beschwichtigen, sondern es ist zunächt einmal umgekehrt anzustreben, „Kontroversen in den Untersuchungsgang hereinzuholen, sie möglicherweise zu stimulieren, indem alle Personen, Gruppen, Institutionen u.s.w. an der Untersuchung aktiv beteiligt werden, die in irgendeiner Weise von dem Untersuchungsgegenstand betroffen sind"13. Darüber hinaus geht es darum, Befunde, Entwicklungen, Standpunkte und Interessen zu differenzieren, Tatbestände und Argumente herauszuarbeiten und abzuwägen. Die Ausdifferenzierung von Standpunkten und Interessen ist eine unverzichtbare Voraussetzung fur deren Annäherung, Integration und Kompromisse. Aus dem Postulat möglichst umfassender Partizipationsangebote bei der Durchführung von Technikfolgenabschätzung folgt die Notwendigkeit von zumindest bedingter Öffentlichkeit und umfassender Diskussion der Ergebnisse bereits im Prozeß der Untersuchung. Partizipative Technikfolgenabschätzung wird somit zur Arena der Konfliktaustragung mit Chancen der Konsensbildung. Im deterministischen Verständnis technischer Entwicklungen folgt Technik einer Eigenlogik, die bei Anwendern und Betroffenen lediglich Anpassungsleistungen erfordert. An dieser Vorstellung hat sich eine „ganze Generation von TA-Studien"14 orientiert. Es läßt sich nicht bestraften, und auch dies wird schon zu Beginn der 70er Jahre in den USA befürchtet, daß Technikfolgenabschätzung mißbraucht werden könnte, um politische Entscheidungen für technologische Entwicklungen und Programme subtil durchzusetzen, letztlich also nur der technokratischen Akzeptanzbeschaffung dienlich wäre.

7. Kap.: Grundfragen und Heraurforderungen an einepartizipative TA

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Um so wichtiger erscheint es aus dieser Perspektive, im Untersuchungsprozeß Annahmen und Werturteile transparent und nachprüfbar zu gestalten, Öffentlichkeit über Teilergebnisse möglichst frühzeitig herzustellen und die „aktive Partizipation seitens der durch die Technikanwendung am stärksten betroffenen Gruppen sicherzustellen, weil das Fehlen echter Beteiligungsmöglichkeiten für solche Gruppen das Risiko der Manipulation, der einseitigen Bevorzugung bestimmter Interessen verstärkt"15. Dieser Erkenntnis, die überraschend weitsichtig demokratietheoretische und neokorporatistische Überlegungen impliziert, ist die Empirie bis auf wenige experimentelle Ausnahmen nicht gefolgt.

2. Entwicklung einer Theorie der Technikfolgenabschätzung 2.1 Theoriedefizit der Technikfolgenabschätzung Der unbestrittene Mangel an theoretischen Grundlagen sowie an allgemein anerkannten Methoden und Vorgehensweisen wird insbesondere auf den interdisziplinären Charakter der Technikfolgenabschätzung zurückgeführt. „Die zu bearbeitenden Fragestellungen und Probleme sind durchweg interdisziplinärer Natur und bedürfen deshalb dringend der Weiterentwicklung einer entsprechenden Theoriebildung und Methodologie"16, so der Hinweis eines wegweisenden Memorandums. Als Voraussetzung einer fundierten Technikfolgenabschätzung bedarf es aus dieser Perspektive der Technikfolgenforschung, welche sich charakterisieren läßt als „die wissenschaftliche, d.h. theoretisch orientierte und methodisch kontrollierte Gewinnung notwendiger Informationen"17 bei uneingeschränkter Erfüllung der üblichen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens. Eine analytische Herausforderung der Technikfolgenforschung zielt darauf, das Wissen über gewünschte und unerwünschte Wirkungen bereits genutzter oder sich in der Entwicklung befindlicher Technik zu verbessern und darüberhinaus zu „lernen, wie schädliche Wirkungen minimiert und bereits eingetretene Schäden behoben werden können"18. Technikfolgenforschung wird auf eine Verbreiterung und Verbesserung der methodologischen Grundlagen angewiesen sein. „Ohne Methodeninnovation werden wahrscheinlich auch in Zukunft TA-Studien auf kontroversen Problemfeldern

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7. Kap.: Grundfragen und Heraurforderungen an eine partìzipatìve TA

nur schwer auf breite Akzeptanz stoßen und mehr Anlaß zur Methodenkritik geben, als gesellschaftspolitisch umsetzbare Problemlösungsbeiträge liefern"19. Das Akzeptanzproblem dürfte jedoch durch eine Methodeninnovation allein nicht gelöst werden können, ebensowenig wie über die Methodenfrage das Theoriedefizit der Technikfolgenabschätzung behoben werden kann (s.a. 9. Kap.). Wird die Auffassung geteilt, daß Technikfolgenabschätzung einer grundlegenden Technikfolgenforschung bedarf, dann stellt sich die Frage, ob bereits Technikfolgenforschung partizipativ zu gestalten ist. Diese Frage ist umstritten: Technikfolgenforschung wird einerseits wegen einer möglichen Reduzierung von Komplexität als eher nicht partizipationsbedürftig20 charakterisiert. Einer anwendungsorientierten, partizipativen Technikfolgenforschung wird andererseits zugebilligt, „die organisierten Interessen an einer sozial- und umweltverträglichen Technikgestaltung mit dem erforderlichen Sachverstand zu versorgen"21. Zwischenergebnisse anwendungsorientierter, partizipativer Technikfolgenforschung wären auch „als Anforderungsprofil bzw. Pflichtenheft an die Entwickler und Konstrukteure nach dem Schema eines Regelkreises"22 rückzubinden. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive23 (s.a. 11. Kap.) kommt partizipativer Technikfolgenforschung ein erheblicher Stellenwert zu, nicht zuletzt um die öffentliche Aufnahmebereitschaft für das erzielte Ergebnis zu erhöhen. Mit Blick auf die Relevanz und gewünschte Wirksamkeit der späteren Ergebnisse spricht vieles dafür, bereits bei der Ausformulierung der zu bearbeitenden Fragestellungen im Rahmen der Technikfolgenforschung partizipative Akzente zuzulassen. Partizipation der Technikfolgenforschung hat jedoch dort ihre Grenzen, wo solides wissenschaftliches Arbeiten in Frage steht und Freiheit von Wissenschaft und Forschung behindert werden.

2.2 Systemtheoretische

Ansätze

Technikfolgenabschätzung wird gelegentlich von der Systemanalyse ausschließlich als deren Instrument beansprucht. Aus dieser Perspektive löst sich das Theoriedefizit der Technikfolgenabschätzung insofern auf, als daß dieses gleichzusetzen wäre mit dem Theoriedefizit der Systemanalyse. Werden die theoretischen Grundlagen der Technik-

7. Kap. : Grundfragen und Herausforderungen an eine partizipative TA

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folgenabschätzung derart eingeschränkt, so wird erklärlich, daß die Begründung einer partizipativen Technikfolgenabschätzung auf grundsätzliche Probleme stößt. Im systemtheoretischen Bezugsrahmen läßt sich eine normativ ausgerichtete Partizipation kaum verorten. Eine konsequent systemtheoretisch abgeleitete Technikfolgenabschätzung ist festgelegt auf partielle system- und subsystemimmanente Analysen. Technikfolgenabschätzung aus systemtheoretischer Perspektive ist konzentriert auf einzelne Techniken bzw. Techniksegmente und vernächlässigt systematisch gesellschaftliche Prozesse. Systemtheoretische Ansätze sind im wesentlichen abgeleitet aus naturwissenschaftlichem und technischem Denken, erheben jedoch den Anspruch, auch für die Lösung gesellschaftlicher Konflikte Relevanz zu besitzen. Systemtheoretische Kategorien wie „Anpasssung" und „Gleichgewicht" vereinfachen Zusammenhänge auf problematische Weise, stehen unter Ideologieverdacht und können viele Aspekte im Kontext von Technikfolgenabschätzung nicht angemessen erfassen24. Die Aufgabe der soziologischen Systemtheorie bei Luhmann ist darauf beschränkt, Dysfunktionalitäten aufzuspüren und zu beschreiben. Im Vertrauen auf eine systemimmanente Harmonie geraten Möglichkeiten der Systemverbesserung aus dem Blickfeld. Luhmanns systemtheoretische Version der Demokratietheorie befaßt sich mit Verfahrensstrukturen zur Produktion von Entscheidungen25, ohne einem normativen Anspruch gerecht zu werden. Zwecke des individuellen und kollektiven Handelns sind im funktionalistischen Ansatz Luhmanns nicht vorgegeben. Partizipation wird daher nicht als Garant der Verwirklichung individueller und kollektiver Autonomie betrachtet, sondern als Mittel, um politischen Handlungsspielraum zu verbreitern. Eine normative Begründung von Demokratie wird somit obsolet. „Die Ersetzung der traditionellen normativen, strukturellen und prozeduralen Merkmale von Demokratie durch funktionalistische Kriterien im Hinblick auf die Fähigkeit des Systems, sich selbst zu erhalten, schafft keine genuine Legitimationsbasis für Demokratie"26. Auf der Basis der Funktionalität wird jede Form der Herrschaft legitimationsfähig. Hinzu kommt aus systemtheoretischer Perspektive das Steuerungsdilemma27, welches sich ergibt, wenn einerseits im Rahmen von Technikfolgenabschätzung politische

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7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an einepartízipotive TA

Handlungsmöglichkeiten zu prüfen und darzulegen sind, andererseits die Möglichkeit der politischen Steuerung aus theoretisch abgeleiteten Überlegungen negiert ist. Wird mit Luhmann Politik die Funktion zugewiesen, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu erzeugen, so kann Politik dieser Aufgabe nur gerecht werden, wenn sie steuernd in andere Bereiche eingreift und z.B. Sicherheitsstandards für großtechnische Anlagen, Rahmenbedingungen für den Industriestandort Deutschland oder Anforderungen an berufliche Qualifikationen durchsetzt. Steuerungsleistungen der Politik werden von Luhmann aberkannt, Politik als eigenes System kann letztlich nur sich selbst steuern. Die „integralistische" Gesellschaftstheorie Münchs 28 , welche gesellschaftliche Subsysteme „in einem kontinuierlichen wechselseitigen Austausch von Leistungen" 29 als miteinander verflochten begreift, verbindet Differenzierung und Integration und läßt systemübergreifende Vermittlung zu. Insofern geht der systemtheoretische Ansatz Münchs über Luhmanns Gesellschaftstheorie hinaus. Die Verortung von Technik bleibt in dem systemtheoretischen Bezugsrahmen dennoch problematisch 30 , da Technik „als intersektorales Phänomen" sich kaum zufriedenstellend einem der sogenannten Subsysteme zuordnen läßt (s.a. 3. Kap.). Die von Ropohl aufgezeigte „Dialektik" zwischen „sektoralistischer und integralistischer Gesellschaftstheorie" (theoretische Ansätze von Luhmann und Münch) spiegelt die begrenzte Spannbreite des systemtheoretischen Diskussionsstandes als Bezugsrahmen für Technikfolgenabschätzung wider. Selbst wenn systemtheoretisch eine Selbststeuerungsfähigkeit der sogenannten ausdifferenzierten Funktionssysteme der Gesellschaft durch Selbstbindung der Subsysteme im Rahmen einer dezentralen Kontextsteuerung 31 angenommen wird, kann eine normative Ableitung von Partizipation als Komponente einer demokratietheoretisch begründeten Technikfolgenabschätzung in diesem Bezugsrahmen nicht geleistet werden.

2.3 Demokratietheoretische

Ansätze

Nach Aufgabe des deterministischen Verständnisses von Technikentwicklung werfen die gesellschaftlich konsensuale Gestaltung des wissenschaftlich-technischen Fort-

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an one partizipative TA

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schritts und die Legitimation technologiepolitischer Steuerung erhebliche theoretische und pragmatische Probleme auf. Nicht außer acht gelassen werden darf „die große Gruppe der von technischen Entwicklungen und von Problemsituationen Betroffenen, die aufgrund mächtiger Partizipationsbestrebungen in unserer Gesellschaft die Forderung nach Mitsprache in der Technikfolgenabschätzung erhebt"32. Angesichts dieser Probleme stellt sich im Rahmen der repräsentativen Demokratie die Frage nach den Möglichkeiten einer direkteren Beteiligung des Einzelnen und partikularer Interessen. Fraglich ist, ob und wie partizipative Technikfolgenabschätzung politische Gestaltungsmöglichkeiten erweitern und zur demokratischen Legitimation politischen Handelns beitragen kann. In einem normativ orientierten demokratietheoretischen Bezugsrahmen ist Partizipation darauf ausgerichtet, Uber die zunehmend als unzureichend erfahrenen Wahlakte der repräsentativen Demokratie hinaus Beteiligungs- und politische Mitgestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Der demokratische Verfassungsstaat bindet seine Legitimation an die Zustimmung seiner Bürger. Neben der Institution der freien, gleichen, allgemeinen und geheimen Wahl bestehen politische Partizipationschancen über die Mitwirkung in Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, welche Partialinteressen vertreten. Partizipation gilt als zentrales Handlungsprinzip moderner Gesellschaften, d.h. ohne Partizipationschancen wäre die Gesellschaft nicht mehr konsens- und somit nicht mehr lebensfähig. Aus dieser Perspektive kommt einer partizipativen Technikfolgenabschätzung zunächst als Minimalaufgabe zu, „einerseits Sachinformationen über die Technik und ihre Folgen bereitzustellen, andererseits Interessen und Betroffenheiten in der technischen Entwicklung zu identifizieren und ofFenzulegen"33. Ein analytischer Beitrag partizipativer Technikfolgenabschätzung mit Unterstützung organisierter Interessen wird bereits über eine synoptische Bestandsaufnahme von Partikularinteressen und Abgrenzung konsensualer und konfligierender Themensegmente innerhalb gesellschaftlich umstrittener Problemfelder geleistet. Eine zukunftsorientierte, partizipative Technikfolgenabschätzung, welche sich auch an dem Postulat der Erarbeitung von Handlungs-

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7. Kap.: Grundfragen und Herausfordeningen an einepartizipative TA

optionen zu messen hat, steht vor der strategischen Herausforderung,34 über Bestandsaufnahmen hinaus ihr Konfliktlösungs- und Vermittlungspotential prozedural einbringen. Partizipative Technikfolgenabschätzung vollzieht sich prozedural, indem neben der Wissenschaft Entscheidungsträger und von Entscheidungen direkt oder indirekt Betroffene in den Analyse- und Bewertungsprozeß eingebunden werden und Einfluß erhalten auf den Untersuchungsprozeß, die Ausrichtung von Handlungsoptionen oder auch die Bewältigung von Konflikten mittels Verhandlungslösungen. Ausgehend von diesem Ansatz wird erwartet, bei der Gestaltung von Technikfolgenabschätzung dem Prozeßcharakter

politischer Entscheidungen Rechnung zu tragen und

somit

„prozedurale Rationalität der Politik und substantielle Rationalität der Wissenschaft enger miteinander zu verbinden"35. Infolge einer zunehmenden Partikularisierung von Interessen, Pluralisierung von Wertvorstellungen und Differenzierung von Handlungsfeldern sind staatliche Entscheidungen angewiesen auf gesellschaftliche Aushandlungs- und Verständigungsprozesse im Rahmen der Demokratie, welche u.a. öffentliche Diskussionen über politische Alternativen zur Voraussetzung hat. Bei öffentlichen Technikkontroversen läßt partizipative Technikfolgenabschätzung trotz vorprogrammierter Interessenkonflikte konstruktive Beiträge erwarten. Minimale Anforderungen an gesell schafliche Verhandlungsprozesse liegen aus demokratietheoretischer Perspektive in der Transparenz von Argumentations- und Entscheidungsverläufen36 und aus handlungstheoretischer Perspektive in einem auf „Problemlösung" gerichteten Verhaltensstil der beteiligten Akteure37. Mittels gesellschaftlicher Verhandlungen wird eine höhere Effizienz im Sinne von Gemeinwohl und eine „effektivere Kontrolle über das eigene kollektive Schicksal"38 erwartet.

3. Neokorporatismus als theoretischer Zugang zu TA und Partizipation 3.1 Korporatismus, Neokorporatismus und assoziative Demokratie Wird ein höheres Maß an Partizipation bei Technikfolgenabschätzung zur Diskussion gestellt, so liegt es nahe, sich mit dem politischen Stellenwert von Verbänden zu befas-

7. Kap.: Grundfragen und Heraurforderungen an onepartizipative TA

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sen. Einflußmöglichkeiten und Teilhabe von Verbänden und gesellschaftlichen Interessengruppen, sogenannten organisierten Interessen, an Politikformulierung und -ausfuhrung werden im Rahmen der Korporatismusforschung thematisiert. Der Begriff Korporatismus geht zurück auf eine vorbürgerliche Staatsform, den sogenannten Ständestaat, in dem die öffentliche Gewalt auf gesellschaftliche Teilorganisationen, sogenannte Korporationen, übertragen war. Heute spielen Verbände in allen westlichen Industrienationen als intermediäre Organisationen zwischen den zentralen politisch-administrativen Instanzen und anderen Bereichen der Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Mit der stärkeren Einbindung von Verbänden in die Politik sind zwei gegenläufige Wirkungen kalkulierbar: Zum einen die Durchsetzung gruppenegoistischer Interessen und zum anderen die Mäßigung unterschiedlicher interessensgebunder Forderungen. Neokorporatistische Theorieansätze setzen auf die institutionalisierte und gleichberechtigte Einbindung von Verbänden in die Formulierung und Ausführung von Politik und vorwiegend auf letztere Wirkung. Im Mittelpunkt stehen Austausch-, Verflechtungs- und Verhandlungsprozesse zwischen Politik und gesellschaftlichen Teilbereichen, die daraus erwachsenden Probleme bzw. die Möglichkeiten der Initiierung und Gestaltung von Prozessen der gesellschaftlichen Selbstkoordination und Selbstregulierung. Die prinzipielle Kritik an den neokorporatistischen Ansätzen gilt einer zu starken politischen Einflußnahme der Verbände über die letzten Jahrzehnte. Befurchtet werden sektorale Instrumentalisierung, Blockierung bis hin zur autonomen Steuerung des Staates über „Nebenregierungen" durch organisierte Interessen, welche politische Entscheidungen nicht nur vorwegnehmen, sondern ersetzen könnten. Der Einsatz von Partizipationsinstrumenten und partizipativen Verfahren zur Aushandlung von Interessen im Rahmen neokorporatisitsch geprägter Konzepte läßt andererseits gegenüber direkten Staatsinterventionen eine Reihe von Vorteilen erwarten: eine breitere Basis fur demokratische Teilhabemöglichkeiten, Entlastung der Politik, Selbstkoordination und -bindung gesellschaftlicher Partikularinteressen anstelle von

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7. Kap.: Grundfragen und Hermitforderungen an onepartizipatíve

TA

Fremdsteuerung und selbst im Sinne Luhmanns ein Anknüpfen an Kommunikationsmuster unterschiedlichster Adressaten durch intermediäre Organisationen. Das neokorporatistisch geprägte Organisationsmodell einer staatlich kontrollierten verbandlichen Techniksteuerung im Kontext einer sogenannten assoziativen Demokratie39 ist charakterisiert durch die Delegation von Normung und Technikfolgenabschätzung an privatrechtliche Verbände. Dem Staat verbleiben hiernach im wesentlichen drei Aufgaben: Prozedurale Steuerung, materielle Chancengleichheit der verschiedenen Interessen und Beteiligung verschiedener Ressorts an der gesellschaftlichen Techniksteuerung. Aus dieser Perspektive wird die „Interessengebundenheit der Technikfolgenabschätzung nicht geleugnet ..., sondern, im Gegenteil, die Technikfolgenabschätzung zur Unterstützung der weniger partizipationsfähigen Interessen"40 eingesetzt. Demokratische Teilhabe erweiternde Funktionen der Verbände entsprechend dem Modell einer assoziativen Demokratie bestehen u.a. darin41, entscheidungsrelevante Informationen aus erster Hand bereitzustellen, Interessenausgleich zu begünstigen und auch Minoritäten angemessen zu berücksichtigen, politische Bildung und gesellschaftliche Kompetenzen zu fördern sowie Problemlösungen auf Kooperationsbasis auszuhandeln. Verhandlungsdemokratische Verfahren bieten keine Alternative zu repräsentativer Demokratie und Mehrheitsentscheidungen gewählter Volksvertreter, sondern eine Ergänzung. Ziel ist eine Verschränkung von „Hierarchie und Verhandlung"42 zwischen „Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie", um Vorteile der jeweiligen Verfahren zu nutzen und Nachteile zu mildern.

3.2 Brauchbarkeit der Neokotporatismustheorien für eine partìzipatìve Technikfolgenabschätzung Eine neokorporatistisch geprägte, partizipative Technikfolgenabschätzung zielt auf eine gerechte Abwägung der verschiedenen privaten, sozialen und öffentlichen partikularen Interessen auf der Basis des technisch Machbaren und eine politisch verantwortliche Entscheidungsfindung. Neben der Verpflichtung auf das Ergebnis sind wei-

7. Kap.: Grundfragen und Heraurforderungen an ànepartizipative TA

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tere Voraussetzungen bei neokorporatistischen Aushandlungsprozessen zu erfüllen: organisierte Interessen haben in ihren Zugangsregelungen offen zu sein, und die Verhandlungslösung hat weitgehend im Konsens zu erfolgen. Dies setzt eine innerverbandliche Demokratisierung und Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten voraus, die sich in etwa an denen der Parteien orientieren. Die Diskussion um eine Verlagerung staatlicher Entscheidungen in gesellschaftliche Verhandlungsprozesse läßt sich mit Stichworten wie „Kooperativer Staat", „Abschied vom Staat", „Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat?"43 charakterisieren. Internationale Erfahrungen zeigen, daß in zunehmendem Maße partizipative Verfahren insbesondere im Umweltbereich sich fur eine Konfliktbewältigung zumindest als hilfreich erweisen, wenn auch die gewünschten konsensualen Effekte nicht immer zu erreichen sind. Derartige Verfahren werden zum Teil der Technikfolgenabschätzung zugerechnet und erheben den Anspruch auf Entscheidungsrelevanz, ohne entscheidungskonstitutiv zu sein. Politische Steurung und Entscheidung bleiben dem Staat vorbehalten, insbesondere, wenn der angestrebte Konsens durch gesellschaftliche Verhandlungsprozesse nicht erzielt werden kann. Die Partizipationsforschung zeigt, daß die breite Herstellung von Partizipation und Öffentlichkeit auch gesellschaftskritische Elemente impliziert. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß eine partizipative Technikfolgenabschätzung sich „zunehmend zu einer extraparlamentarischen plebiszitären Bewegung ausweiten und, in regionalisierter Form im Sinne eines radikalisierten Netzwerkansatzes, auch zur Herausforderung zentralstaatlicher politischer Strukturen beitragen" könnte44. Ein hohes Maß an „vertikaler und horizontaler Politikverflechtung"45 führt potentiell zu Konsenszwang, Innovationsfeindlichkeit und Handlungsunfähigkeit des Staates. Bei allen Vorteilen einer Beteiligung eines breiten Spektrums von Interessen bergen partizipative Verfahren doch die Gefahr, notwendige Entscheidungen zu verzögern, zu verhindern und Handlungsunfähigkeit zu erzeugen. Das gesellschaftlich weitgehend anerkannte Ziel der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren konkurriert beispielsweise mit partizipativen Ansprüchen.

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7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an einepartiztpative TA

Nicht alle Streitfragen sind verhandlungsfähig. Liegen bereits polarisierte Einschätzungen vor und wird gleichzeitig das Spektrum der möglichen Kompromißfindungen und Kompensationslösungen in der Fragestellung stark eingegrenzt (Streit um Tempo 130 als Beispiel), bestehen wenig Chancen auf konsensuale Verhandlungslösungen. Aussichtsreiche Verhandlungsprozesse werden situationsgerecht, entscheidungsorientiert, zeitnah und effizient zu gestalten sein, was nicht immer problemlos zu erreichen ist, wie die Praxis zeigt. Nicht unproblematisch ist sicherlich auch die frühzeitige Identifikation der zu beteiligenden organisierten Interessen. Unbestreitbare Chancen einer stärkeren Beteiligung organisierter Interessen im Rahmen einer prozeduralen Technikfolgenabschätzung sind normativer Art. Eine prozedurale Technikfolgenabschätzung mit Beteiligung organisierter Interessen hat gewichtige Vorteile in ihrer legitimatorischen Komponente für Problemlösung, Entscheidungsfindung und Gemeinwohloptimierung. Aus dieser Perspektive bedarf Technikfolgenabschätzung der Auseinandersetzung mit dem gesamten Spektrum der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung, d.h. neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen der konfligierenden Meinungen und Interessen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure. In Hinblick auf politische Entscheidungsträger und die Administration werden einer partizipativen Technikfolgenabschätzung gute Chancen eingeräumt, „die systemimmanenten Schranken, die durch die formalen Zuständigkeitsregelungen in der Verwaltung gegeben sind"46, zu überwinden und neue Einsichten und Lernprozesse bei allen Beteiligten zu ermöglichen.

3.3 Herausforderungen einer demokratietheoretisch abgeleiteten Technikfolgenabschätzung Die potentielle Wahrnehmung von Partizipationschancen ist abhängig von der „Organisations- und Konfliktfähigkeit"47 gesellschaftlicher Bedürfnisse und Interessen. Die Aufgabe der „Fürsprecher" der weniger organisations- und konfliktfähigen, öffentlichen Interessen wird neben öffentlich-rechtlichen Institutionen und den Medien vorrangig staatlichen Instanzen zugeschrieben48. Ehrenamtlich tätige Mitglieder von

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an eine partizipative TA

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Umweltgmppen verfugen über weniger Ressourcen und Informationsmöglichkeiten und sind etwa gegenüber hauptamtlich Beteiligten prinzipiell im Nachteil, wie empirische Versuche mit partizipativer Technikfolgenabschätzung49 zeigen. Chancengleichheit der weniger organisations- und konfliktfähigen gegenüber vor allem wirtschaftlichen Interessen im Rahmen einer prozeduralen Technikfolgenabschätzung wird auf kompensatorische Hilfen angewiesen sein, nicht zuletzt, um es den weniger organisations· und konfliktfähigen Interessen gleichrangig mit anderen beteiligten Interessen zu ermöglichen, den erforderlichen Sachverstand in technischen Details des zur Untersuchung bzw. zur Verhandlung anstehenden Gegenstandsbereiches zu erwerben. Auf der institutionellen Ebene bietet es sich an, die „Folgen- und auch Konsensermittlungsgremien und -einrichtungen stärker miteinander zu vernetzen"50. Der Vorschlag, ein Netzwerk zu konstituieren, das dem Interaktionsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen gerecht wird, findet nahezu bei allen Akteuren der Diskussion um die Institutionalierung von Technikfolgenabschätzung breite Unterstützung. Eine hierarchische Schaltstelle im Rahmen eines solchen Netzwerkes, welche für Federführung und Koordination zuständig ist, erscheint fur dessen Wirksamkeit verzichtbar. Die Wirksamkeit von Netzwerkstrukturen ist im wesentlichen abhängig „von der jeweils gegebenen Verteilung starker und schwacher Dauerbeziehungen zwischen formell unabhängigen individuellen und korporativen Akteuren"51. Hilfreich erscheint eine Organisationseinheit zur Unterstützung der Informations- und Kommunikationsprozesse. Eine solche Organisationseinheit läßt sich als Zentrum für Dokumentation und Information konzipieren52, welches von Wissenschaft, Verbänden, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, industriellen Entwicklungsabteilungen, Koordinationsstäben der Exekutive, parlamentarischen Arbeitsstellen, Öffentlichkeit etc. gleichermaßen gespeist und genutzt werden kann und auch den nur mit knappen Ressourcen ausgestatteten weniger organisations- und konfliktfähigen Interessen zur Verfügung steht. Individuelle Partizipationsfähigkeit hat Artikulationsfähigkeit zur Voraussetzung, welche wiederum rückgebunden ist an Strukturen und Prozesse der technischen Bildung. Wird ein hohes Maß an Partizipationsfähigkeit sozialer Akteure erwartet, so werden

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7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an eine partizipative TA

Bildungsprozesse auch darauf auszurichten sein, partizipative Fähigkeiten und ein Technikverständnis zu vermitteln, welches Technik als gestaltbar begreift (s.a. 3. Kap.) und „in der Verantwortung und Beherrschbarkeit des Menschen beläßt"33. Neben fachlichen gewinnen auf Gemeinwohl ausgerichtete gesellschaftliche Kompetenzen an Bedeutung, welche als „akteurbezogene Voraussetzungen"54 die Partizipationsfähigkeit gewährleisten. Gesellschaftliche Kompetenzen lassen sich als individuelle Voraussetzungen für die „Beherrschung und Gestaltung von Technik durch den Menschen"35 einordnen. Auf institutioneller Ebene läßt sich die Notwendigkeit einer „demokratischen Streitkultur" begründen, in welcher die „Fähigkeit und Bereitschaft zur Korrektur nicht negativ sanktioniert, sondern unterstützt wird"56. Motivation, Aufgeschlossenheit und technisches Interesse können partizipations- und legitimationsfördernd wirksam werden, wenn ausreichende Partizipationsangebote zur prozeduralen Mitgestaltung an technologiepolitischen Problemstellungen eröffnet werden. Auf der wissenschaftlichen Seite wäre der Nachwuchs entsprechend vorzubereiten. Das Bildungssystem ist jedoch auf Interdisziplinarität, die für die Herausbildung einer umfassenden technischen Bildung dienlich wäre, bislang kaum ausgerichtet.

4. Instrumente einer partizipativen Technikfolgenabschätzung und Fazit Partizipative Technikfolgenabschätzung ist ein offener Prozeß, der sich nicht auf ein scheinbar optimales Umsetzungskonzept einengen läßt. Die Diskussion um die Angemessenheit von Partizipationsinstrumenten57 läßt sich nicht auf die einzig richtige Lösung reduzieren. Vielmehr ist zwischen einer Vielzahl an möglichen Lösungen abzuwägen. Um wirksame Partizipation im Prozeß der Technikfolgenabschätzung zu implementieren, werden neuerdings Organisationsmodelle in die Diskussion eingebracht, welche zum Teil bereits im Rahmen der Planungs- und Partizipationsdiskussion der 70er Jahre Anwendung fanden, jedoch nicht zu den erwarteten Politisierungs- und Steuerungseffekten führten. Anwaltsplanung, Planungszelle (s.a. 8. Κεφ.) und Bürgerinitiative als derartige Modelle weisen Nachteile auf, sind häufig zu unpolitisch, zu

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an oneparüüpaüve

TA

155

lokal, zu eindimensional, wenngleich sich Modernisierungstendenzen in einigen Fällen abzeichnen. Beirat, Workshop, Hearing und Enquete-Kommission als klassische, expertenbezogene, häufig projekt- bzw. politikbegleitende Partizipationsinstrumente sind eher elitär angelegt und z.T. der wissenschaftlichen Politikberatung zuzuordnen, gelegentlich werden jedoch auch Vertreter organisierter Interessen einbezogen. Unter partizipativen Aspekten sehr interessant und bedingt der Technikfolgenabschätzung zuzurechnen sind Tribunale, wie z.B. Public Inquiry und Science Court, die der Tradition Großbritanniens entstammen. Mit guten Erfolgsaussichten werden im Rahmen von Technikfolgenabschätzung alternative nicht-direktive Formen der Konfliktlösung erprobt. Als innovativ und erfolgversprechend unter partizipativen Aspekten gelten derzeit u.a. Technikdiskurse, Mediationsverfahren, Consensus-Konferenzen. Für die Realisierung einer demokratietheoretisch abgeleiteten Partizipation im Kontext der Technikfolgenabschätzung stellt sich primär die Frage der Legitimation und Brauchbarkeit der jeweiligen Instrumente. Technikfolgenabschätzung kann niemals zum Ziel haben, politische Entscheidungsprozesse durch nicht ausreichend legitimierte Partizipationsinstrumente zu beeinflussen oder gar in Teilbereichen zu ersetzten. Andererseits

setzt

Technikfolgenabschätzung

sich

dem

Einwand

der

Akzep-

tanzbeschafiung und Folgenlosigkeit aus, wenn für die Beteiligten nicht zumindest die Chance eines Einflusses auf Entscheidungen eröffnet wird. Erst durch das Einbeziehen der Konfliktparteien werden demokratische Verhandlungslösungen möglich.58 Mediationsverfahren zur Konfliktregulierung verdienen erhöhte Aufmerksamkeit. Sie sind Ausdruck eines veränderten Staatsverständnisses, welches geprägt ist durch den verstärkten Einsatz von prozeduralen Steuerungsmitteln, Verhandlungslösungen und Selbstkoordination der sozialen Akteure zur Aushandlung konfligierender Interessen. Die Aussichten auf ein Gelingen solcher Ansätze sind vielversprechend. Partizipative Technikfolgenabschätzung ist angewiesen - soll eine perspektivische Umsetzung gelingen - auf innovative Verfahren, Instrumente und prozeßorientierte Organisationsformen, welche ansatzweise vorliegen und der weiteren konzeptionellen wie

156

7. Kap. : Grundfragen und Herausforderungen an eine participative TA

praktischen Ausgestaltung bedürfen. Eine ergebnisorientierte Technikfolgenabschätzung, die sich primär an der Produktion von Studien orientiert, kommt dagegen über die Bearbeitung von Informationsdefiziten im Vorfeld staatlicher Steuerung kaum hinaus. Es soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, daß einem höheren Informationsniveau über Studien - selbst wenn der partizipative Anspruch von Technikfolgenabschätzung z.B. aufgrund knapper zeitlicher und finanzieller Ressourcen zurückgestellt wird - ein wichtiger Stellenwert fur eine rationale Entscheidungsfindung zukommt. Gegenüber ergebnisorientierten, punktuellen Studien, welche häufig ausschließlich wissenschaftsorientiert verfaßt werden, eröffiiet die Beteiligung organisierter Interessen im Rahmen einer prozeduralen Technikfolgenabschätzung darüberhinaus aussichtsreiche Chancen, •

Informationen aus erster Hand bereits frühzeitig aufzunehmen, einzuordnen, zu bewerten und zu relativieren,



gesellschaftliche Interessen und Werthaltungen in die Formulierung von Zielen und Entscheidungen einließen zu lassen,

• Technik gesellschaftlich akzeptiert und effizient über Selbstkoordination der beteiligten Akteure zu gestalten, •

Konflikte über Verhandlungslösungen (consensual zu bewältigen und Chancen fur politische Konsens findungsprozesse zu begünstigen,



Partizipationsfähigkeit und gesellschaftliche Kompetenzen praxisnah zu erweitern,



technikbezogene Legitimationsdefizite des Staates zu reduzieren und zu einer Staatsentlastung mittels gesellschaftlicher Verhandlungsprozesse beizutragen,



demokratische Teilhabe auf eine breitere Basis zu stellen.

Eine demokratietheoretisch fundierte, partizipative Technikfolgenabschätzung, welche interdisziplinaren wissenschaftlichen Sachverstand mit konkurrierenden gesellschaftlichen Interessen und Wertungen zusammenfuhrt, bringt Risiken, aber auch gute Voraussetzungen mit, um Politik bei der Bewältigung technologiepolitischer Herausforderungen zu unterstützen und in Teilbereichen zu entlasten.

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an onepartizipative TA

157

Anmerkungen 1

Vgl. Schevitz 1993, S. 140 Danielsen 1992, S. 18 3 Ehemals Nederlandse Organisatie voor Technologisch Aspektenonderzoek (NOTA), umbenannt im Juni 1994 4 Vgl. dazu ausführlich Baron 1995 5 Diese Entwicklung ist spätestens seit der dritten von der Europäischen Kommission geförderten und im November 1992 in Kopenhagen stattgefundenen internationalen Konferenz zur Technikfolgen abschätzung mit dem richtungsweisenden Titel „Technology and Democracy - The Use and Impact of Technology Assessment" offenkundig. 6 Die Autoren verfaßten 1974 im Auftrag der Verwaltung des Deutschen Bundestages ein Outachten, das dann in überarbeiteter Fassung 1978 publiziert wurde und große Aufmerksamkeit erzielte. 7 Paschen/Gresser/Conrad 1978, S. 19 8 Vgl. Paschen/Bechmann/Wingert 1981, S. 60ff.; Paschen 1982, S. 58f.; Lohmeyer 1984, S. 55ff; Paschen 1991 9 Paschen 1982, S. 60 10 Paschen 1986; Paschen/Petermann 1992 11 Paschen 1991, S. 89 12 Paschen u.a. 1992, S. 23 13 Paschen/Gresser/Conrad 1978, S. 71 14 Lutz 1991, S. 71 15 Paschen 1986, S. 26f. 16 BMBF 1989, S. 12 17 BMFT 1989, S. 10 18 Mayntz 1992b, S. 40 19 Zangemeister 1992, S. 45 20 Vgl. Levi 1991, S. 472 21 Eichener/Heinze/Voelzkow 1991, S. 13 22 Mai/Eichener 1991, S. 11 23 Vgl. Roßnagel 1993 24 Vgl. Lohmeyer 1984, S. 24 25 Vgl. Luhmann 1969 26 Guggenberger 1991, S. 78 27 Vgl. Luhmann 1989 28 Ropohl 1994 und 1996 29 Münch 1984, S. 62; vgl. auch Zweck 1993 30 Vgl. Ropohl 1996, S. 243fif. 31 Vgl. Willke 1983; Glagow 1984; Glagow/Willke 1987; Willke 1992 32 BMFT 1989, S. 12 33 Bechmann 1992, S. 65 34 Vgl. Baron 1994, S. 72ff. 35 Naschold 1990, S. 172 36 Vgl. Eichener/Voelzkow 1991, S. 168 37 Vgl. Scharpf 1988 und 1992a 38 Scharpf 1992b 39 Vgl. Cohen/Rogers 1992; Eichener/Heinze/Voelzkow 1991 40 Eichener/Heinze/Voelzkow 1991, S. 13 41 Vgl. Cohen/Rogers 1992, S. 423ff. 42 Vgl. Voelzkow 1996 2

158

43

7. Kap.: Grundfragen und Herausforderungen an eineparthipative TA

„Kooperativer Staat" (Ritter 1979 und 1990), „Abschied vom Staat" (Voigt 1983), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat?" (Voigt 1993) 44 Naschold 1987, S. 22 45 Vgl. Schaipf 1989 46 Mai 1993, S. 421 47 Offe 1969 48 Vgl. Mayntz 1992a, S. 34 49 Vgl. GUI 1993, S. 36ff. 50 Zweck 1993, S. 224 51 Scharpf 1993, S. 34 52 Vgl. Ropohl 1996, S. 278ff. 53 Baethge 1991, S. 41 54 Rautenberg 1991, S. 169 55 Hoppe/Eibe 1984, S. 8 56 SarcineUi 1990, S. 51 57 Vgl. Baron 1995 und 1996 58 Vgl. van den Daele 1991, S. 40

& Kap.: Planungszellen - Elementepartizipativer TA

159

8. Kapitel Planungszellen Elemente partizipativer Technikfolgenabschätzung Peter C Dienel

Mit dem Modell Planungszelle/Bürgergutachten (PZ/BG) steht ein Instrument bereit, das auf dem Gebiet der Folgenabschätzung - und zwar unabhängig davon, wie sich die Einsatzbereiche selber verstehen oder benennen (Gesetzesevaluierung, Maßnahmensupervision, Marktforschung, Verfassungsreform, technology assessment,

Ethik-

Kommission usw.) - in Zukunft zunehmend und immer breiter angewendet werden wird. Mit diesem Instrument entsteht absehbar ein neuer Bereich öffentlichen Handelns. Einige Folgen dieser kommenden Entwicklung kann man jetzt bereits erkennen. So werden wir, die Spezialisten, vermehrt lernen, sich im Kreise hörbereiter Laien verständlich zu machen und in Ruhe auf gezielte Rückfragen einzugehen. Kein Fachmann wird davor sicher sein. Wir stehen vermutlich vor einem entsprechenden Ausbau der Expertenrolle. Die Technikfolgenabschätzung (TA) rückt heute u.a. aus zwei unterscheidbaren Gründen auf die Tagesordnung unserer Gesellschaft: - Die Entwicklung neuer Güter und Dienstleistungen wird häufig durch einen zu mangelhaften Benutzerkontakt beeinträchtigt, und - unser demokratisch verfaßtes Steuerungssystem wird seinen selbstgesetzten Zielen zunehmend schlechter gerecht. Der erste dieser beiden Gründe wird allgemein deutlicher wahrgenommen. Er beherrscht damit auch die wissenschaftliche sowie die öffentliche TA-Diskussion. Von daher ist er hier auch als erster zu behandeln.

1. Der defizitäre Benutzerkontakt Die Leerstelle „Benutzerkontakt" in unserer ansonsten relativ gut funktionierenden Gesellschaft wird heute viel diskutiert. Sie ist der eigentliche Anlaß fur die wachsende

160

& Kap.: Planungszellen · Elementepartizipativer TA

(mitunter schon modische) Nachfrage nach der TA. Der Eindruck ist ja nicht unberechtigt, daß noch zu häufig - und zwar nicht nur in zentralgelenkten Wirtschaftssystemen - Jahrräder für Fische" entwickelt und sogar hergestellt und angeboten werden. Genau genommen geht es dabei gar nicht nur um Benutzerkontakte. Es wäre präziser, von Menschenkontakten zu sprechen. Wir sind nicht lediglich in unserer Eigenschaft als Benutzer oder Verbraucher eines bestimmten Gutes oder einer bestimmten Dienstleistung gemeint. Der Mensch ist gefragt, der Verwalter dieser Erde, der Schöpfer der Lebensbedingungen kommender Generationen. Er muß sein Wissen einbringen, einbringen können, damit hier Schritt für Schritt nachhaltiger gelebt werden kann. Bei dieser längst fälligen „Domestikation unserer Möglichkeiten" mit Hilfe einer gut organisierten TA haben wir es mit einem großen Thema zu tun. Es wird uns in das nächste Jahrhundert begleiten. Wir haben nämlich nur diese eine Erde. So kommt es denn auch, daß es zur Zeit eine Vielzahl von mehr oder weniger technischen Versuchen gibt, die als mangelhaft empfundenen Kontaktmöglichkeiten zu verbessern. Auf solche zum Teil mit erheblichem Aufwand betriebenen Verfahren, derartige Kontakte herzustellen oder zu simulieren, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Wir konzentrieren uns vielmehr darauf, daß sich dieser nur bedingt funktionierende Bereich „Benutzerkontakt" durch den Einbau des Instrumentes PZ verbessern läßt. Dieses noch neue Instrument ist fur Probleme, wie sie hier im einzelnen zu lösen sind, überraschend gut geeignet, und zwar sowohl in der Bewertung nichtpolitischer Sachverhalte wie auch in der Bewertung politisierter Probleme.

1.1 Das Beteiligungsinstrument PZ Die PZ ist ein „neues" Instrument. Mit ihm stellen sich viele neue Fragen. Allerdings eröffnen sich auch neue Perspektiven. All das anzusprechen, ist in diesem Rahmen nicht möglich. Es ist aber auch nicht nötig, da es schon eine meist „graue" und noch wenig bekannte, aber relativ umfangreiche Literatur gibt, die sich mit solchen Problemen und mit den entsprechenden Erfahrungen und Perspektiven auseinandersetzt.1

& Kap.: Planungszellen - Elementepartìàpatìver TA

161

Vor allem aber sind auch lesbare, mehr oder weniger kompakte Darstellungen des Verfahrens PZ verfugbar.2 So muß hier nur die Grundstruktur, auf der letztlich auch die erstaunliche Wirkung dieses vermehrfachbaren Bauteiles PZ beruht, wederholt werden; sie ist in einer weitgehend standardisierten Form, eben als Modell PZ, greifbar: 25 Frauen und Männer sind auf diese Weise berechtigt, auf Kosten eines öffentlichen Auftraggebers in 4-5 Arbeitstagen, assistiert von zwei Prozeßbegleitern und in vis-á-vis-Situationen mit Experten (Präsentation, Hearing) sich soweit über eine vorgegebene Aufgabenstellung zu informieren, daß sie gemeinsam in der Lage sind, Lösungswege zu erkennen, entsprechende Empfehlungen zu entwickeln und diese zu bewerten. Die Ergebnisse dieses Crash-Kurses werden zu einem Bürgergutachten (BG) zusammengefaßt, das beim Auftraggeber, wie die Erfahrung zeigt, konkrete Wirkungen auslöst. Ein so attraktiver Beratungsanlaß (als Ernstfall erkennbare Aufgabe, vergütet, freigestellt, informiert durch Experten und Betroffene, faire Gesprächssituation, begründete Aussicht auf Wirkung) wird von den Leuten gern wahrgenommen. Er muß daher geschützt werden. Dieser Gelegenheit würden sich sonst sofort die Interessenten bedienen. Die notwendige Absicherung wird durch eine Vergabe der Teilnahmeberechtigung im richterlich überprüfbaren Zufallsverfahren (mit Hilfe der Einwohnermeldebehörden) geleistet. Über diese wenigen Eckdaten hinaus ist das Verfahren PZ in vielen Details weiterentwickelt worden. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bilden z.B. 5er-Gruppen mit jeweils wechselnder Besetzung. In solchen kleinen Gesprächsgruppen, die im Verlauf des Tages 3-6mal zusammentreten, wird die weitaus meiste Arbeitszeit verbraucht. Damit ist fur den einzelnen Juroren die Chance, sich verbal einzubringen, bemerkenswert groß. Einem mittelgroßen BG für die Generaldirektion Telekom lagen beispielsweise Uber 85.000 Voten und Empfehlungen der einzelnen Teilnehmer zugrunde.3 Im übrigen setzt die PZ neben dem jeweiligen Auftraggeber eine Trägerorganisation voraus, die mit dem behandelten Problem weder verwandt noch verschwägert und also als neutral erkennbar ist. Dieser sog. Durchfuhrungsträger verantwortet auch das Programm, das die aufgabenorientierte, mehrtägige Arbeit der Zufallsjuroren strukturiert,

162

& Kap.: PlaitungsieUen - Elanentepartizipativer TA

und das nacheinander oder gleichzeitig von mehreren PZ'n durchlaufen wird. So haben bereits bis zu 24 PZ'n mit dem gleichen Programm für das gleiche BG gearbeitet. Ein solches PZ-Programm ist in der Lage, sowohl nichtpolitische wie auch politisierte Sachverhalte lösungskräftig anzugehen.

1.2 Bewertung nichtpolitischer Sachverhalte Die Sichtweise von Verbrauchern, Betroffenen oder Kunden ist für die Bewertung neuer Güter und Dienstleistungen von erheblicher Bedeutung. Sie ist nämlich auf eine zunächst unscheinbare, aber manchmal auch sehr überraschende Art anders als die Sichtweise des Produzenten oder des speziell mit der Sache befaßten Experten. Das gilt nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenvorsorge, sondern auch generell für jede Nutzenpriifüng. Es ist diese Außenperspektive, die durch die Planungszelle vermehrt ins Spiel gebracht wird. Diese Sichtweise wird zudem im Laufe der wenigen Arbeitstage in der PZ spürbar verstärkt durch die Informationseingaben von Fachleuten. Das mit der Aufgabenstellung vorgegebene PZ-Arbeitsprogramm informiert kontrovers: Alle betroffenen Interessenpositionen stellen sich dort in Referaten, Anhörungen oder Ortsbegehungen selber dar. Die Laienjuroren reagieren darauf, wie sich beobachten läßt, sehr rational, gezielt, ausgewogen und weiterführend. Dieser „Zusatznutzen Außenperspektive" ist in der TA für alle Schritte des Nach- und Vorausdenkens ein positiver Beitrag. Ihn regelmäßig immer erst in der Abschlußphase

4

eines TA-Projektes in Anspruch zu

nehmen, hieße, sich Teile dieses Nutzens entgehen zu lassen. Ein solches Vorgehen dürfte außerdem bei den Bürgern den Verdacht entstehen lassen, lediglich zur Akzeptanzbeschaffung einbezogen worden zu sein. An den tausenden von PZ-Gesprächsgruppen, die im Rahmen der bisherigen Projekte5 stattgefunden haben, ist des weiteren aufgefallen, daß dieser Zusatznutzen der Außenperspektive in der PZ-Situation regelmäßg mit einem zweiten Faktor kombiniert auftritt: Die Jurorinnen und Juroren sind im Verlauf ihrer radikal befristeten Tätigkeit bemüht, ihr gemeinsames Arbeiten an den Langfristinteressen der Gesamtgesellschaft

8. Kap.: Planungszellen - Elementepartizipativer TA

163

auszurichten. Bei den Teilnehmern gilt es - angesichts der von allen akzeptierten Aufgabe - offenbar als „abweichendes Verhalten", das Optimieren seiner Individualinteressen zu verfolgen und sich bei der gemeinsamen Arbeit nicht vom Gemeinwohl leiten zu lassen. Man will - stellvertretend fur die vielen, die zur Teilnahme nicht berechtigt sind - dem erkennbaren Gesamtinteresse zur Durchsetzung verhelfen! Eine derartige Zielorientierung wäre auch bei der Beurteilung von Technikfolgen nicht nur nützlich, sondern oft auch von grundlegender Bedeutung. So liegt es denn „eigentlich nahe, die Gemeinwohlorientierung der Laien auch zur Bewertung von Techniken einzusetzen".6 Daß und wie sehr eine TA - d.h. deren Ergebnisse und dann deren Wirkung - in dieser Hinsicht durch ein bürgerschaftliches Mitwirken nach dem Modell der Planungszelle verbessert wird, hat sich inzwischen immer wieder zeigen lassen. Belege dafür sind beispielsweise: - Die Beurteilung der Nahverkehrsgegebenheiten und hier möglicher weiterer Optionen durch 300 im Zufall ausgewählte Laien in Hannover.7 Das entsprechende Bürgergutachten bringt insgesamt 191 erstaunlich konkrete, machbare und vielfach innovative Empfehlungen aus der Sicht der Leute. - Die 78 „Regelungsvorschläge" und 43 sog.„Situationsbeschreibungen", die ein Gutachten zur Abprüfung sozialorientierter Regelungsmöglichkeiten im Bereich „neue Medien" im September 1986 8 dem Bundesminister fur Forschung und Technologie vorgelegt hat. Die Sätze dieses BG'ns sind auf der Grundlage der Aussagen von insgesamt 14 Planungszellen gewonnen worden, die, nach zwei Testläufen in Wuppertal, in der Stadt Hannover (575 000 E.), in Morsbach/Sieg (7 000 E.) und in Wetzlar (35 000 E.) gearbeitet haben.

1.3 Bewertung politisierter

Probleme

Die Bedeutung, die eine Hereinnahme der Bürgerinnen und Bürger in TA-Prozesse hat, wird besonders dort sichtbar, wo es nicht mehr nur um technische Einzelprobleme geht, sondern um sog. politische Probleme, wie sie häufig im Zusammenhang mit technischen Entwicklungen zur Entscheidung anstehen. Dort kommen nicht mehr nur Vorteile zum Tragen, die sich aus der Hereinnahme sachbedingter Außenperspektiven ergeben. Vielmehr produziert die Uneigennützigkeit der PZ-Situation, der man ausge-

164

& Kap.: Planungszellen - Elementepaitizipativer TA

setzt ist (keine Beförderung, kein Aufstieg, keine Wiederwahl), Neutralität und Distanz zur Nur-Politik. So erlösen BG'n das politische Geschehen punktuell aus seinem Hang zu unverhältnismäßigen Schaukämpfen, aus der scheinbaren Windstille von PattSituationen oder auch aus den anderen Anlässen, die sich immer wieder für ein bewußtes Nichthandeln finden lassen. Aus der Vielzahl möglicher Belege seien zwei angeführt: - Über die Planung einer Umgehung zur Entlastung der Ortsdurchfahrt im engen Tal hatten sich die beiden „großen" Parteien seit Jahren verkämpft: „Jahrelange

Diskussio-

nen... Selbstblockade! ...Die Diskussion um die Sanierung der Gevelsberger Innenstadt hat sich festgefahren."9 Die Kommunalwahl hatte dann die Quittung gebracht. Die großen Parteien büßten Stimmen ein, und die kleinen Parteien samt Wählergemeinschaft legten kräftig zu. Das löste die Hereinnahme der Bürger mit Hilfe des Modells PZ aus: einstimmiger Ratsbeschluß am 27. Sept. 1990. Ein Bürgergutachten klärte die Situation und ermöglichte die notwendigen Baumaßnahmen.10 - In der baskischen Stadt Astigarraga hatte die letzte Kommunalwähl zu einem Machtwechsel gefuhrt. Herri Batasuna (HB), nach wie vor wählerstärkste Partei, stellte nicht mehr den Bürgermeister. Die laufende Ratsarbeit wurde fortan massiv blockiert. Da sollte der bereits festgelegte Standort für den Bau einer Mehrzweckhalle korrigiert werden. Sein Dilemma brachte den Bürgermeister dazu, „nach neuen Wegen zu suchen".11 Ein Büigergutachten

12

wurde er-

stellt. Die von den Planungszellen erarbeiteten Lösungen waren eindeutig. Die damit realisierbare Baulösung war im übrigen interessanterweise so geartet, daß sie „die Gemeinde praktisch kein Geld gekostet hat."13 PZ-Projekte haben offenbar die Fähigkeit, realisierbare Lösungen auch solcher Probleme zu offerieren, die politisch blockiert sind oder deren Bewußtwerdung gesellschaftlich nicht zugelassen ist, die also tabuiert sind. Worauf beruht diese Fähigkeit? Bürgergutachten scheinen durch ihr Bekanntwerden Gleichgewichte wieder herzustellen, deren Fehlen zur Zeit unter den Kräften, die im politisch-administrativen Teilsystem der Gesellschaft wirksam sind, zu einer verhängnisvollen Unwucht und zu einer schleichenden Fehlorientierung führt.

8. Kap.: Planungszellen - Elementepartìzipatìver TA

165

2. Das Dilemma „Demokratie" Die zweite Begründung dafür, daß die TA heute auf die Tagesordnung rückt, verweist auf einen Notstand, der dem eben Gesagten gegenüber von erhöhter Dringlichkeit ist, auch wenn der Gedanke sich in unserem Zusammenhang etwas abseitig anhört: Die Prozesse der TA sind eine der noch raren Möglichkeiten, zwei Notwendigkeiten gleichzeitig ingang zu setzen, nämlich: - unseren (apathischen oder auch zornigen) Zeitgenossen eine gesamtgesellschaftlich sinnvolle Tätigkeitsmöglichkeit als regelmäßig erwartbar zu erschließen, nämlich den „Staat" selber mit zu vollziehen, sowie - den gesellschaftlichen Steuerungsapparat, das sog. politisch-administrative Teilsystem unserer Gesellschaft, gegenwartsfähiger zu machen. In beiden Hinsichten stellt der Einsatz der PZ im weiten Feld der TA eine der interessantesten Möglichkeiten dar, den Schwierigkeiten, die unsere Gesellschaft mit dem Leitbild der Demokratie hat, auf eine effektive und nachhaltige Weise zu begegnen.

2.1 Hilfe zum Bärgersein In den Reizüberflutungen der modernen Massengesellschaft sind wir anders gefordert als die Menschen früherer Zeiten. Viele reagieren heute eher desorientiert, manchmal wirken sie beinahe entfunktionalisiert. Fast könnte man fragen, ob dem Menschen die Belastungen erhalten bleiben werden, die ihn zum Menschen machen. Diese Entfunktionalisierung zeigt sich auch, und zwar in besonderer Weise, beim sog. Bürger. Spätestens seit der Aufklärung ist der Bürger auch für die moderne Gesellschaft als Fundament allen staatlichen Handelns anerkannt. Die Bürgerin und der Bürger sind der Souverän. Nur mit dem Ausüben der immer voraussetzungsvolleren Bürgerrolle tut man sich schwer. In unserer recht freien Gesellschaft darf man alles mögliche vollziehen, Tennissehen, Konsumrausch, Arbeitslosigkeit, Sex oder Mallorca. Ein Ausüben der Bürgerrolle ist dagegen - bis auf das periodisch angebotene, sehr sinnvolle Unterwerfungsritual der sog. Wahl - nicht vorgesehen. Um die Rolle des Souveräns, des Inhabers des Staates, wahrnehmen zu können, müßte man nämlich 1.) informiert, 2.) be-

166

8. Kap.: PtanungszeUen - Elementepartwipatìver TA

freit zum Langfristdenken im Interesse aller sowie 3.) motiviert zur Teilnahme am Lösen des gerade anstehenden Problems sein. Diese drei Voraussetzungen sind, wie jeder weiß, seit alters nur in kleinräumigen, überschaubaren Verhältnissen gegeben, also im räumlichen (schweizer Talschaft, Kibbuz, griechische Polis) oder im funktionalen Nahbereich (Betrieb, Universität, Philharmonie, Redaktion). Immer häufiger bestehen Abhängigkeiten, die in den Makrostrukturen gesichert sein müssen und nur dort korrigiert werden können. Je stärker wir vernetzt sind (Verkehrsnetze, Informationsnetze, Energienetze, Finanzwelten, Verteidigungsgemeinschaften), um so häufiger lassen sich die Dinge nur noch auf den „höheren Ebenen" bewegen. Dort werden die Rollensegmente des Staatsveranstalters allerdings so gut wie ausschließlich von Professionellen wahrgenommen. Man ist Fraktionsvorsitzende, Dezernent, Richterin oder Abgeordneter. Die Bedingungen, die für das Teilnehmen an der Produktion kollektiv bindender Entscheide gegeben sein müssen, sind für diese fulltimer bereitgestellt. Sie werden für sie von der Gesellschaft vorgehalten: Man hat die bezahlte Zeit und die ZugrifFsmöglichkeiten, sich über den anstehenden Fall zu informieren, ist in der Lage und bereit, die langfristigen Ziele und Werte unserer Gesellschaft gelten zu lassen, und man ist - nicht zuletzt durch Anerkennung und Vergütung - motiviert, an der Lösung mitzuwirken. Die 93% der Bevölkerung, für die die genannten drei Voraussetzungen nicht zustande gebracht werden, sind eine Restkategorie. Sie firmieren als „die Bürgerinnen und Bürger", gehören aber im Normalfall zur wachsenden Menge der Menschen, die politisch überflüssig sind, und die das wissen. Von ihnen wird erwartet, daß sie vernünftig und gelassen reagieren und so die Befügten zu sinnvollem politischen Handeln in die Lage versetzen. Das tun diese Menschen aber vielfach nicht. Weil sie es nicht können. Weil sie gerade nicht unter den Randbedingungen existieren, die ihnen das Bürgersein ermöglichen. Jede soziale Rolle hat Voraussetzungen, ob Zeitungsleserin, Autofahrer oder Urlauberin. Manche Rollen sind lizensiert oder sogar hart sanktioniert. Nicht jeder darf einen Blinddarm herausnehmen oder Bußgeldbescheide erteilen. Beim Bürger allerdings wird angenommen, es gäbe ihn voraussetzungslos allezeit und überall. Eine frustrierte

8. Kap.: PtanungszeUen - Elementepartmpatìver

TA

167

Äußerung beim Interview in der Fußgängerzone gilt als „Bürgermeinung". Jede Woche werden von den Demoskopen uninformierte Klischeevorstellungen eingesammelt und dann in der Entscheidungsfindung ernstgenommen. Parteien, Verbänden und Ministerien zahlen dafür Millionen. Es gibt in unserer Gesellschaft nicht sehr viele soziale Positionen, in denen dem Einzelnen Demokratiefahigkeit ermöglicht oder sogar aufgenötigt wird. Ein Tätigwerden in der PZ leistet das. Die PZ leistet das sogar und vor allem fur den Bereich der Makrostrukturen. Die knappen Chancen zur Einübung der entsprechenden Sichtweisen und Einstellungen sollten aber für möglichst viele zugänglich sein oder gemacht werden. Es geht heute darum,"den Menschen in ihrer Eigenschaft als Souverän die ihnen zustehenden Nachdenk- und Sprechmöglichkeiten in aller Breite zu eröffnen".14 Das gilt auch, und hier besonders, für das Mitarbeiten in TA-Prozessen. Der BDI-Präsident erahnte vielleicht nicht zu Unrecht, daß „das Modell einer partizipativen TA die Gefahr erhöht, daß sich über den Weg der TA ein System der gesamtgesellschaftlichen Mitbestimmung entwickelt".15 Durch seinen Vergleich mit der Mitbestimmung wird allerdings zugleich sichtbar, daß dem Sprecher hier eine bestimmte Form der Betroffenenbeteiligung abschreckend vor Augen stand, leider aber nicht ein Bürgergutachten, das von klar und gesamtgesellschaftlich denkenden Menschen vorgelegt worden war, und das diesen endlich eine Identifikations-Chance eingeräumt hatte, die ihnen seit längerem zugesagt ist. Die PZ verhilft den Menschen zum Bürgersein. Sie eröffnet diesen Zugang gerade auch durch ein Mitarbeiten an den großen Fragen unserer Zeit. Sie hilft aber nicht nur den Menschen als einzelnen. Sie ist auch das seit längerem gesuchte Ersatzteil, das ein normaleres Funktionieren unseres Steuerungssystems bewirken könnte.

2.2 Das Ergäm/ungsteil PZ bringt den Apparat in Ordnung 2.2.1 Der Zustand des Steuerungssystems Das politisch-administrative Teilsystem unserer Gesellschaft ist nicht in bestem Zustand. Es bedarf der gezielten Weiterentwicklung. Und wir wissen inzwischen auch, wo diese Reparatur vor allem ansetzen müßte.

168

& Kap.: Planungszellen - Elementepartizipativer TA

Einrichtungen innerhalb der gesellschaftlichen Steuerungsapparatur entwickeln - wie übrigens alles Leben und alle sozialen Organisiertheiten

- Eigeninteressen

(Besitzstandswahrung, Überleben, Expansion). Man sieht der Alhambra in Cordoba und der Verbotenen Stadt in Peking an, wer da wohnen durfte. Die sozialen Mechanismen zur Realisierung dieser Eigeninteressen sind sehr vielgestaltig. Sie reichen von der Installation spezifisch abhängiger und blind ergebener Personengruppen (cf. Führungspositionen für Eunuchen an den Höfen Persiens, Chinas, der Osmanen) bis hin zur Absicherung des Apparates (in antiken Großreichen oder neuzeitigen Diktaturen) durch Vergöttlichen des Imperators. Nun sind Eigeninteressen an sich funktional. Einrichtungen im Steuerungssystem - also etwa Parlamente, Gerichte, Beiräte, Verwaltungen - dürfen allerdings ihren Eigeninteressen nicht einfach überlassen bleiben. Sie sollen ja letztlich nicht so sehr ihr eigenes Überleben planen, sondern sich in ihren Maßnahmen am Allgemeininteresse der Gesellschaft orientieren. Dennoch ist es so, wie es ist: Die Eigeninteressiertheit dieser Einrichtungen ist latent dominant. Und das hat Folgen. Der einäugige, auf sich verkrümmte Entscheidungsinput, der sich daraus ergibt, zeitigt Wirkung, und zwar, weil er im Steuerungssystem selber ansetzt, sehr unmittelbar. Der Vollzug einer Maßnahme wird umgehend eingeleitet oder eben ausgesetzt. Manches entscheidend Wichtige wird überhaupt nicht angefaßt. Wenn man diesen Pharaonen die Zeit läßt, dann stehen ihre selbstverliebten Mega-Projekte tatsächlich da, mitunter sogar für kommende Generationen. Das ständige Abdriften der Institutionen und Prozesse in Richtung auf Selbstsicherung fuhrt zu spezifischen Sehfehlern. Die Leitenden kriegen die Wirklichkeit nicht mehr richtig mit. Der hierfür zeitlos bezeichnende Fall war die bei ihrer Ausfahrt - angesichts der im vorrevolutionären Paris nach Brot Schreienden - erstaunt fragende Königin:"Wenn sie kein Brot haben, warum essen sie keinen Kuchen?" Zu dieser zutiefst problematischen Eigenschaft gesellschaftlicher Steuerungssysteme seien drei Bemerkungen gestattet: Zum einen handelt es sich hier um ein verdecktes Problem. Die Betroffenen sprechen nicht darüber. Mitunter ist ihnen der gemeinte Sachverhalt auch gar nicht bewußt. Er

8. Kap.: PUutungszellen - Elementepartizipativer TA

169

ist, unter den Randbedingungen der Demokratie, nicht einmal darstellbar. Anders als in den Zeiten der Prätorianerkohorten oder der Schweizer Garden leisten sich die derzeit Mächtigen betont unauffällige Herren, body guards, die ihnen als Lakaien zur Verfügung stehen. Positionssensible Probleme werden nicht thematisiert. Selbst im Wahlkampf muß sich Eigeninteresse als Sachbezogenheit verkleiden. Dieses Verdecken hat Folgen. Verdeckte Probleme signalisieren „schleichende Katastrophen"(Böhret). Der desolate Zustand des Steuerungssystems tangiert, das ist das zweite, alle jeweils aktuellen politischen Fragen. Alle Probleme, die in der politischen Apparatur definiert werden, und jeder Lösungsvorschlag, den man dort zur Diskussion zuläßt, werden zu einer Arena, in die die Eigeninteressen der Apparatur direkten Zutritt haben. Andererseits werden Probleme, deren Lösung sich nicht mit der Eigeninteressiertheit der Beteiligten kombinieren läßt oder ihr gar entgegenstehen, ausgeblendet und als „noch nicht reif' abgehakt, und das selbst dann, wenn die Menschheit so weiter auf ihre selbstgemachten Katastrophen zutreibt. So dringend Probleme wie Ökologie, Arbeit, Alter oder Staatsverschuldung erscheinen, Schritte zu ihrer sachgerechteren und rechtzeitigeren Lösung werden offenbar erst möglich, wenn es gelingen würde, das politisch-administrative System gegenwartsfähig zu machen. Zum dritten handelt es sich bei der Deformierung der politischen Entscheidungen durch die Eigeninteressiertheit der Entscheidungsprozesse und -einrichtungen um ein Dauerproblem. Es ist nicht ein für allemal lösbar. Dennoch muß es angegangen werden. Dem System muß heute mehr Akzeptanz für die erforderlichen Vorhaben verschafft und ihm müssen neue Möglichkeiten der Selbstkontrolle erschlossen werden. Es bedarf der Ergänzung. Die Frage ist allerdings, wie die notwendige Optimierung getätigt werden kann.

2.2.2 Suche nach der Ergänzung Es scheint zahllose Wege zu geben, die Entscheidungsleistung dieses zentral wichtigen Teilsystems zu verbessern. Den „Fachleuten" fallen zunächst immer die verwaltungsinternen Optimierungsmöglichkeiten ein (Neue Steuerungsmodelle, mehr Elektronik,

8. Kap.: Planungszellen - Elementepartizipativer TA

170 dezentrale

Ressourcenverantwortung,

Anreizsysteme,

Kooperationsmanagement,

strategisches Controlling, Quality Circles, Strukturreform, kommunaler Produktplan) sowie

eine

vermehrte

Zuwendung

zur

Außendarstellung

der

Einrichtung

(Kundenorientierung, Hot-Lines, PR-Maßnahmen, Bürgernähe) oder auch eine stärkere Einbeziehung von

Verwaltungs-Umwelt (Demoskopie, Bürgersprechstunde des

Ministers, Tage der offenen Tür, Runder Tisch, Mediation). Manches, was da neu aussieht, sind eigentlich nur Umbenennungen. Daß man „Sachverständige aus allen Klassen der Bevölkerung zur Vorbereitung einer Angelegenheit bestellen" kann, und daß diese damit „weniger Gefahr läuft, von der Bevölkerung abgelehnt zu werden", das wußte man schon 1835 bei der Planung der Großherzoglich Badischen Staatseisenbahn.16 Runder Tisch hieß früher Beirat. Mediation hat König Salomo schon betrieben, und in der Demoskopie hatte sich bereits Harun al Raschid hervorgetan. Demgegenüber liefert eine Ergänzung durch das Beteiligungsinstrument PZ dem Steuerungsapparat etwas Neues: uneigennützige, zielorientierte, legitimationskräftige und systemverträgliche Dauerkorrekturmöglichkeiten. Die Suche nach einer solchen partizipativen Ergänzung ist schon vor Jahrzehnten als „eine der Großforschungsaufgaben der Zukunft" gesehen worden.17 Der Apparat hat die genannten Erträge bitter nötig. Deren Nutzung ist durch Einbau des Instrumentes PZ machbar. Das aber setzt eine Rückbesinnung auf den Faktor Bürger voraus.

2.2.3 Rückkehr zum Faktor „ Bürger " Um die vor sich hin funktionierenden Einrichtungen des gesellschaftlichen Steuerungsapparates in Ordnung zu bringen, wird heute vermehrt nach der Bürgerin und dem Bürger gefragt. Zumeist sind es aber Teilfunktionen des Bürgers, die mit der Zitation dieses Begriffes gemeint sind, zum Beispiel - die des Kunden. Wenn Ämter Beratung für den Umgang mit der Verwaltung anbieten, entsprechende Broschüren drucken oder Stadtteilbüros eröffnen, haben sie „Bürger"-Nähe im Sinn. So menschenfreundlich das ist, es ist ergänzungsbedürftig, denn faktisch denaturiert das den Büger zum Kunden.

& Kap.: Planungszellen - Elementepartizipativer TA

171

- Eine andere Teilfìmktion ist die des Betroffenen. Das meiste, was heute unter der Bezeichnung „Bürger"beteiligung läuft, ist der Sache nach Betroffenenbeteiligung. Das gilt für die Mitbestimmung (nach Betriebsverfassungsgesetz) oder fur die Sozialplanung (nach Bundesbaugesetz) genauso wie für die normale Bürgerinitiative. So wichtig das ist, eingeübt wird dort vorrangig das Wahrnehmen organisationsfahiger (oder auch nicht organisationsfähiger) Eigeninteressen. Das Gemeinwohl steht da weniger zur Diskussion. - Am häufigsten und in zunehmendem Maße ist es die Datenquelle , die gemeint ist, wenn im Verwaltungsbetrieb von „Bürger" gesprochen wird. Die für den Innenbetrieb erforderlichen Datenmengen müssen fortgeschrieben werden. Hier figuriert der Bürger als Zähleinheit und, wenn es „qualitativ" wird, als Meerschweinchen oder Fall.

Helfen kann uns beim Zurechtrücken der latent desolaten Verhältnisse aber nur der Bürger in seiner eigentlichen Rolle: der Inhaber. Und den gibt es nicht, jedenfalls nicht einfach kostenfrei. Er muß erst ermöglicht werden. Und wieviel „Bürger" brauchen wir?

2.2.4 Quantifizierung des Bedarfs Es ist immer, nicht nur beim Würzen, die Frage, wie viel man von einem bestimmten Stoff zusetzen muß, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Hier ist zweierlei zu sagen: Wir brauchen den Bürger nicht lebenslang. Es geht nicht um ein großes Erziehungsprogramm, um das Herstellen des „neuen Menschen". An solch hehren Zielen sind schon ganz andere gescheitert. Die Menschen sollten lediglich dann, wenn sie berechtigt oder verpflichtet sind, an der Erörterung und Bewertung von Entscheidungen mitzuwirken, die fìir alle verbindlich sein werden, die Randbedingungen vorfinden, unter denen sie sich wie der Veranstalter, der Inhaber der res publica verhalten können. Und wir brauchen sie nicht alle, jedenfalls nicht gleichzeitig. Die genannte Ergänzung bedarf keiner plebiszitären Breite. Wir müssen nicht für jedes neue Problem jeden Bundesbürger befristet in einen sozialen Kasten setzen, wo er auf die Einsichten anderer zu reagieren hat. Es ist nicht nötig, daß immer jeder einzelne seine Zeit opfert und das Erlebnis „PZ" konsumiert. Der intendierte Effekt funktioniert auch pars pro toto. Es genügt, vertrauenswürdige Leitsignale zuzulassen, an denen sich die Allge-

172

8. Kap.: PtanungaeUen - Elementeparüzipativer TA

meinheit und die öffentliche Meinung orientieren können. Die Bewertungen, Warnungen und Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger zu einem bestimmten Problem werden, wenn ihrem Gutachten die notwendige Öffentlichkeit gewährt wird, solche Signale darstellen. Die sog. Mantelbevölkerung hat offenbar ein Gespür dafür, daß diese Empfehlungen aus einer bestechungsresistenten Situation kommen.

3. Einstieg in ein menschenwürdiges politisches System Gedankliches Schauturnen ist nicht alles. Es mag wichtig sein, Leitvorstellungen zu entwerfen. Solche Konstrukte müssen sich als realisierbar erweisen. Und dann auch realisiert werden. Was ist hier zu tun?

3.1 Die Informationsaufgabe Grundvoraussetzung scheint zu sein, daß sich in unserer Gesellschaft ein gewisses Maß an Informiertheit über die neuen Möglichkeiten einstellt. Da kann einem viel einfallen, wie diese Informiertheit hergestellt werden könnte. Zunächst ist wieder einmal die Wissenschaft dran. Es werden Untersuchungen erscheinen. Dann wäre an die Medien zu denken. Sie werden das Neue punktuell aufgreifen. Ehe es aber zu einer Einführung dieser Jedermann-Beteiligung kommen kann, zu einer Institutionalisierung des Verfahrens PZ, wird sich der Bedarf danach in aller Breite zu artikulieren haben. Die Leute werden davon reden. Sie werden die Durchführung von PZ'n fordern. Es wird Songs geben, vielleicht ein „Lied vom Bürger", das die PZ als neue Möglichkeit preist, mit aufrüttelndem Sound, wie einst die Marseillaise oder Internationale. So etwas wird - auf Kassetten und CD's - durch die Teeniezimmer und Festivals fegen. Es wird aber auch Situationen geben müssen, an denen die neuen Möglichkeiten, die die PZ bereithält, demonstriert werden können.

3.2 Referenzßlle Das eben ist der andere Schritt auf dem Wege zur Realisierung des Entwurfes: Das Produzieren von realisierten Referenzfällen. Die Bedingungen dafür scheinen nicht

173

& Kap.: Planungszellen - Elementepartizipativer TA

günstig. Der Versuch, ein PZ-Projekt einzuleiten, läuft zunächst immer an der Finanzierungsfrage auf. Das Verfahren gilt als teuer. Die Teilnehmer werden vergütet. DM 88.500 wurden für das BG "Rathaus/Gürzenich-Köln" aufgewendet, an dem 250 Laien-Juroren mitgearbeitet hatten.18 Für das Projekt „Telefon der Zukunft" waren über 800.000 Mak erforderlich.19 Das Instrument kostet in der Tat gutes Geld. Der stane Blick auf die Kostenseite erweist sich aber als blind für die Wirklichkeit. Faktisch ist das Verfahren unglaublich billig. Und es bringt viel. Die Analyse konkreter Fälle belegt das.20 Ein BG verbilligt die Prozeßphasen, die für einen Planungs-, Bewertungs- oder Gesetzgebungsfall erforderlich sind. Und es regelt Konflikte. Im Unterschied zu manchen sog. Mediationen ist von den bisher gelaufenen BG'n die Konfliktregelung noch immer geleistet worden. Dank der hunderte von geistigen Tauschprozessen, wie sie bei jedem Problemaspekt eines PZ-Projektes zwischen den dort vertretenen Positionen und Interessen am Gemeinwohl orientiert in den Kleingruppengesprächen stattfinden (fraktale Mediation), trifft das auch bei harten Konflikten zu, etwa bei der Bewertung einer Autobahntrasse durch dem vom Terror geschüttelten Baskenland.21 Der Eindruck, die PZ sei teuer, entsteht lediglich deswegen, weil es bis heute noch keine öffentlichen Mittel gibt, die ausdrücklich fur diese partizipativen Beratungsprozesse designiert sind. Vermutlich werden z.Zt. Millionenbeträge verschwendet, weil man meint, ohne diese Regelungsmöglichkeit auskommen zu müssen. Vielleicht sollte man im Auge behalten, daß es noch keine hundert Jahre her ist, daß in den Haushalten weder Mittel für Flughäfen noch für Autobahnen vorgesehen waren. Jetzt werden hier Milliarden bewegt. Denn reich ist unsere Gesellschaft. Noch nie gab es eine, die so vermögend war. Sie hält sich z.B. 625 000 Reitpferde (ca. 9 Mrd p.a.),

22

deutlich

mehr als sich die Hunnen leisteten. Daß immer noch keine Mittel speziell für die Durchführung von BG'n bereitstehen, darf als ein Zeichen für die bedingte Unfähigkeit der Verwaltung gewertet werden, auf bedrängende Probleme mit dem Ziel sparsamer Haushaltsführung zu reagieren.

174

8. Kap.: PtanungszeUen - Elementepartizipativer TA

Die Forderung erscheint vernünftig: Bereitstellung einer eigenen Finanzmasse fur den Einsatz des Instrumentes BG. Die Ermöglichung des Bürgers ist, wie Frieden, Straße oder Polizei, eine Bringschuld der Gemeinschaft. Bis das aber vollzogen sein wird, muß nach Gelegenheiten gefahndet werden, bei denen sich ein Problemlösungsprozeß als bereits finanzierbar darstellt, bevor er für ein PZ-Projekt genutzt werden kann. Und hier kommt die TA ins Bild! Denn bei den Problemen der TA ist das ja der Fall, und zwar relativ häufig: Die TA bietet eine reale Chancen, BG'n in Gutachtenprozesse einzubeziehen, die als notwendig gelten, und damit in den Transformationsvorgang einzusteigen, der im gesellschaftlichen Steuerungssystem eingeleitet werden muß. Inzwischen ist die CitCon, Citizen Consult - Institut für Bürgergutachten, Bonn/San Sebastian, ein Zusammenschluß ehemaliger Mitarbeiter der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung & Planungsverfahren, Bergische Universität Wuppertal, in der Programmierung und Durchführung von PZ-Projekten aktiv. Diese Leute verfugen über das entsprechende Wissen und haben sich auf das Ingangsetzen solcher Projekte und damit auf das Erstellen von Bürgergutachten spezialisiert. Ihre wissenschaftliche Begleitung sichert die Korrektheit und Vergleichbarkeit der PZ-Ergebnisse und nicht zuletzt die rationelle Weiterentwicklung des Verfahrens. Sie haben auch damit begonnen, das gesamte Ablauf-Know-How für PZ-Projekte, die Rechte und den Namen im Franchiseverfahren an als neutral erkennbare Durchführungsträger (bislang in Deutschland und Spanien) zu vergeben. Gelten dürfte das allerdings nur für eine Übergangszeit. Denn schon in wenigen Jahrzehnten wird die „Ermöglichung des Bürgers" als ein öffentlicher Aufgabenbereich erkannt sein. Unser Staat wird Institutionen einrichten, die - wie Rechnungshof oder Bundesbank - ausgerüstet mit der nötigen Unabhängigkeit hier ihre Aufgabe wahrnehmen. Schon früh gab es dafür Entwürfe.23 Der Basistext 'Die PZ' „träumt von der Gründung eines Partizipationsamtes"24. Jährlich soll für Millionen von Menschen der Zugang zur Bürgerrolle eröffnet werden. Vermutlich stehen wir vor einem echten sozialen Evolutionssprung. Die reflexive Demokratie wird möglich. Das mag in manchen Ländern etwas schneller gehen als bei uns, so vielleicht auch in England. Tony Blair hat sich jedenfalls schon darauf festge-

& Kap.: Plattungszeilen - Elementepartiàpativer TA

175

legt.25 Aber die Befreiung zum Bürger kommt auch bei uns. TA-Projekte werden dabei helfen. Planungszellen sind nämlich überraschend brauchbare Elemente fur eine partizipative Technologiefolgenabschätzung.

4. Unpassende Nachschrift Die sich daraus ergebende Nachschrift wirkt wissenschaftlich deplaciert, ist aber von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung. Es ist deutlich geworden, was das erweiterbare Beteiligungselement PZ langfristig leistet. Dieser sein Beitrag scheint von erheblicher Bedeutung zu sein. Es sind erschreckend wenig alternative Möglichkeiten sichtbar. Damit ergibt sich so etwas wie eine soziale Verpflichtung, diese Möglichkeit hinreichend ernst zu nehmen. Informiertsein verpflichtet. Zur Zeit läuft über Holocaust und Krieg die sog. Goldhagen-Diskussion. Mancher hat da den Eindruck, daß ihn das nicht mehr direkt betrifft. Was könnte man da schon noch tun? Beim Thema „Verbesserung der Demokratie" liegen die Dinge etwas anders: Wir wissen einen Weg. In einem Handbuch mag es unpassend erscheinen, auf ethische Implikationen zu sprechen zu kommen, die uns als Einzelne betreffen. Der hier erörterte Notzustand des Steuerungssystems zielt aber in der Tat zunächst auf den Einzelnen. Unsere sozialen Organisiertheiten

werden

-

angesichts

der

interessenbedingten

politisch-

administrativen Großwetterlage, d.h. angesichts des fast nur noch massenpsychologisch deutbaren allgemeinen Stillhaltens und Wegsehens - sich nicht von sich aus bewegen. Sie sind dazu nicht in der Lage. Es sei denn,angeregt durch uns beide. Anmerkungen 1

Insbesondere auch in der Reihe „Werkstatt-Papiere" der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung & Planungsverfahren, Universität Wuppertal (bisher 56 Hefte) 2 Zum Beispiel in DER SPIEGEL 20/1995,44-54; vor allem aber im Basistext: Dienel (1997) 3 Garbe (1992), S.651 4 Die Akademie für TA in Baden-Württemberg hat 1995/96 bei drei größeren ihrer Projekte „den gesellschaftlichen Diskurs mit der allgemeinen Öffentlichkeit und mit den Betroffenen" in der Form von Planungszellen jeweils erst in der Abschlußphase in ihre Vorhaben einbezogen. So: Wienhöfer (1996),S. 10 5 S. hier zu: „Statusreport '97', in: Dienel (1997), S. 277ff. 6 Gottschalk/Elster (1997),S.166 7 Stiftung Mitarbeit (1996)

176

8

& Kap.: Pianungszellen - Elementepartizipativer TA

Forschungsstelle Bürgelbeteiligung & Planungsverfahren (1992) Westfalenpost, 21. Dezember 1990 10 IGEBP Systeme (1991) 11 Harms (1997), S. 10 12 Laboratorio de Sociologia Jurídica (1992) 13 Harms (1997), S.15 14 Dienei (1993), S.23 15 BDI-Präsident Langemann, zit. bei Naschold (1987), S.26 16 Kech (1904), S.51 f. 17 Dienel (1971), S. 151 18 Bongardt et al (1985), S. 135 19 Forschungsstelle Bürgerbeteiligung & Planungsverfahren (1991) 20 Das Preis/Leistungs-Verhältnis des Bürgergutachtens „Rathaus/Gürzenich-Köln" findet sich eingehend untersucht in: Bongardt et al. (1985), S.113-141 21 S. Dähnhardt(1995) 22 Westdeutsche Zeitung, 28.2.97, S.20 23 Dienel (1997), S. 154-158; 166-172; 248-252 24 Dähnhardt (1995), S.48 25 THE TIMES, Oct.28,1996, p.2 9

9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

177

Teil III. Methoden der Technikfolgenabschittzung 9. Kapitel Methoden der Technikbewertung Günter Ropohl

1. Grundgedanken und Ursprünge Die Technikfolgenabschätzung und Technikbewertung geht planmäßig und systematisch vor; so heißt es in der Definition der VDI-Richtlinie 3780 (VDI 1991). Tatsächlich werden in den Schriften zur Technikbewertung durchgängig geregelte Vorgehensweisen und Methoden beschrieben, die gewährleisten sollen, daß man die Folgen technischen Handelns in nachvollziehbarer Weise ermitteln und beurteilen kann. Da die Technikbewertung diese Aufgabe nicht den einzelnen überläßt, sondern auf die Zusammenarbeit interdisziplinärer Expertengruppen und auf die Steuerungskraft der Politik setzt, erweist sie sich als eine vergesellschaftete Operationalisierung utilitaristischer Folgenethik1. In der Absicht, dem "technology assessment" das Profil einer eigenständigen Wissenschaft zu verleihen, haben sich manche Protagonisten große Mühe gegeben, eine spezifische Methodenlehre der Technikbewertung herauszupräparieren. Tatsächlich aber sind alle Vorgehensweisen und Methoden, soweit sie nicht ohnehin aufgabenabhängig aus beteiligten Einzeldisziplinen zu übernehmen sind, in der zweiten Jahrhunderthälfte in anderen Arbeitsbereichen entwickelt worden, deren gemeinsames Paradigma, bei aller sonstigen Heterogenität, das Denken in komplexen ganzheitlichen Zusammenhängen darstellt, das sogenannte Systemdenken; dieses holistische Paradigma ist dazu bestimmt, die Defizite des in den Wissenschaften vorherrschenden atomistischen Paradigmas zu kompensieren (Ropohl 1991). Konkret hat sich das Systemdenken in etlichen theoretischen und pragmatischen Ansätzen manifestiert, die ich hier nicht näher beschreiben, aber doch zur Orientierung wenigstens aufzählen will. Dazu gehören: Die Kybernetik, die Unternehmensforschung

178

9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

("operations research"), die Organisationstheorie, die Zukunfts- und Planungsforschung, die Systemtheorie, Systemanalyse und Systemtechnik, Teile der Informatik, die Entscheidungstheorie, die Risikoforschung, die industrielle Wertanalyse, das Projektmanagement und andere. Trotz weitgehender Überschneidungen, die ich an anderer Stelle analysiert habe (Ropohl 197S, 22fi), hat sich die offenkundige Verwandtschaft bislang nicht in einem einheitlichen Oberbegriff artikuliert; das Wort "Kybernetik", das ich früher favorisierte, scheint an modischem Glanz verloren zu haben, das Wort "Systemtheorie" leidet zur Zeit vor allem in Deutschland unter sehr speziellen Sonderbedeutungen, und ein aktuelles Kompendium dieser Systemansätze behilft sich mit dem englischen und ebenfalls mehrdeutigen

"systems engineering"

(Daenzer/Huber 1992). So fängt man die ganze Bandbreite dieser Konzeptionen zunächst wohl am besten mit dem weitläufigen Begriff "Systemdenken" ein, obwohl eine systematische Rekonstruktion und Ausgestaltung schließlich doch auf eine wohlverstandene Systemtheorie hinauslaufen wird. Die verschiedenen Systemansätze haben es durchweg mit ganzheitlichen Problemlösungsstrategien zu tun. Charakteristisch ist das Prinzip, den Problemlösungsprozeß selbst als komplexes System von Teilaktivitäten zu modellieren und typische Ablaufstrukturen zu beschreiben und zu empfehlen.

2. Ablaufstruktur der Technikbewertung Für Untersuchungen zur Technikbewertung ist schon 1971 das sogenannte MITRESchema vorgeschlagen worden, das seitdem immer wieder zitiert wird.2 Porter und andere haben diese und einige andere Ablaufstrukturen verglichen; sie haben keine wesentlichen Unterschiede feststellen können, aber doch ein leicht modifiziertes Schema daraus gewonnen, das in Bild 1 - in eigener freier Übersetzung - wiedergegeben wird, da es bestimmte Einzelheiten klarer darstellt als das MITRE-Schema (Porter/Rossini/ Carpenter/Roper 1980, 54ff). Die Untersuchung beginnt mit der Abgrenzung des anstehenden Bewertungsproblems. Das ist keineswegs so trivial, wie es zunächst klingen mag. Je nach Abgrenzung unterscheiden sich nämlich die (a) technikinduzierte und (b) probleminduzierte Technikbe-

9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

179

wertung. Eine technikinduzierte Technikbewertung setzt bei einer konkreten technischen Lösungsform an, die entweder bereits existiert oder doch so weit entwickelt ist, daß sich ihre Ausgestaltung deutlich absehen läßt. So wurde vor gut einem Jahrzehnt die Wärmepumpe als alternative Gebäudeheizung ins Gespräch gebracht, und einsatzfahige Anlagen wurden bereits angeboten. Wenn man erst dann die Frage aufwirft, welche Vor- und Nachteile die Wärmepumpe hat, dann ist eine solche Technikbewertung von der verfügbaren Technik angestoßen worden. Diese Art von Technikbewertung scheint bislang vorgeherrscht zu haben. Sieht man dagegen das anstehende Problem nicht in einer bestimmten Technik, über deren Einführung zu entscheiden ist, sondern in einer gesellschaftlichen Bedürfnislage, die unter Umständen durch die eine oder andere Technik zu bewältigen wäre, dann spricht man von einer probleminduzierten Technikbewertung - wobei, leider etwas mißverständlich, hier nicht das Problem gemeint ist, das jede Technikbewertung darstellt, sondern ein gesellschaftliches Problem, das seinerseits zu dem Untersuchungsproblem fuhrt, verschiedene dafür in Betracht kommende Techniken vergleichend zu bewerten. Im erwähnten Beispiel besteht das gesellschaftliche Problem darin, menschliche Behausungen angesichts beträchtlicher Witterungsschwankungen in einem behaglichen Temperaturzustand zu halten, und unter den technischen Lösungsmöglichkeiten sind dann nicht nur alle Formen der Beheizung in Betracht zu ziehen, sondern auch die bautechnischen Möglichkeiten der Wärmedämmung, die den Beheizungsbedarf theoretisch gegen Null gehen lassen können. So ergibt sich für die zweite Phase der Ablaufstruktur in der probleminduzierten Technikbewertung ganz selbstverständlich, was allerdings auch in der technikinduzierten Technikbewertung die Regel sein sollte: Nämlich nicht nur eine einzige technische Lösung zu beschreiben, sondern auch die vorhandenen und denkbaren Alternativen ausdrücklich in Betracht zu ziehen. Wenn etwa eine Magnetschwebebahn zwischen Hamburg und Berlin zur Diskussion steht, so ist die dann fällige - von den zuständigen Politikern allerdings vernachlässigte - Technikbewertung natürlich technikinduziert; gelegentlich wird übrigens bei derart konkreten Fällen auch von einer projektindu-

180

ft Kap.: Methoden der Technikbewertung

zierten Technikbewertung gesprochen. Aber auch in einem solchen Fall darf sich die Technikbewertung nicht auf diese einzelne Technik beschränken, sondern muß die möglichen Alternativen, hier vor allem den Ausbau einer schienengebundenen Schnellbahnstrecke, ausdrücklich in die Untersuchung einbeziehen. Im nächsten Element der Ablaufstruktur begegnet uns jenes Aufgabenfeld, in dem die Technikbewertung vorgeprägt worden ist: die technische Prognostik. Da die Entscheidungen, die von der Technikbewertung begründet werden sollen, oft recht weit in die Zukunft reichen werden, darf man nicht allein vom technischen Status quo ausgehen, sondern muß auch solche technischen Entwicklungen in Betracht ziehen, die in diesem Zeithorizont zusätzlich eintreten oder herbeigeführt werden könnten. Bei der Prüfung technischer Potentiale sind auch Ideen zu berücksichtigen, die zunächst scheinbar utopisch sind, bei näherer Betrachtung sich vielleicht aber doch als realisierbar erweisen könnten. In der Verkehrstechnik könnte das zum Beispiel eine unterirdische Röhrentrasse sein, in der die Fahrzeuge bei stark reduziertem Luftdruck mit sehr geringem Energieaufwand ähnlich dem Rohrpost-Prinzip bewegt würden; das ist zur Zeit natürlich eine technische Fiktion, die aber für eine langfristige Technopolitik nur dann ausgeschieden werden sollte, wenn man sich von der praktischen Undurchführbarkeit überzeugt hat. Schon an dieser Stelle wird deutlich, daß man sich das Untersuchungsschema nicht als einen linearen Ablauf vorstellen darf, der einfach Schritt für Schritt abzuarbeiten wäre. Vielmehr wird es immer wieder Rückkopplungen zu vorangegangenen Phasen und allfállige Modifikationen geben. Würde sich im Beispiel die Rohrpost-Bahn als nicht völlig unrealistisch erweisen, müßte man zur Beschreibungsphase zurückkehren und diese neue Lösungsidee in den Katalog der möglichen Techniken aufnehmen. Solche Rückkopplungen werden, wie im Bild (Anhang) angedeutet, auch im weiteren Verlauf immer wieder vorzusehen und gegebenenfalls mehrfach zu durchlaufen sein. Porter u. a. schlagen darum vor, nicht von Phasen oder Schritten zu sprechen, sondern die verschiedenen Teilaufgaben lediglich als "Bausteine der Technikbewertung" zu bezeichnen, zwischen denen keine ein für allemal festgelegte zeitliche Reihenfolge besteht.

9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

181

Dieser wichtige Hinweis spiegelt den Übergang vom linearen zum strukturellen Denken wieder, der sich in den Theorien des Problemlösens inzwischen allenthalben findet. Das Ablaufschema ist also lediglich als logisches Gerüst zu verstehen, in dem die verschiedensten heuristischen Prozeduren stattfinden können. Die nächsten beiden Bausteine der Technikbewertung weiten die Betrachtung auf das gesellschaftliche Umfeld aus, in dem die jeweilige Technik einzusetzen ist. Sie haben die Aufgabe, die gegenwärtigen und zu erwartenden Bedürfnissen, Verhaltensmuster und Rahmenbedingungen zu studieren, mit denen die jeweilige Technik in Wechselbeziehungen tritt. Als beispielsweise die Bundespost um 1980 - damals hatte sich noch nicht die Telekom als eigenes Unternehmen gebildet - den Bildschirmtext als universelles Kommunikationssystem in die privaten Haushalte einfuhren wollte, wäre sie gut beraten gewesen, zuvor die soziokulturellen Kommunikationsmuster der Menschen sorgfältiger zu untersuchen. Daß sich nämlich der Bildschirmtext, in der Verknüpfung von Telefon und Fernsehgerät, als eine der wenigen Innovationen des letzten Jahrzehnts erweisen sollte, die definitiv gescheitert sind, das hätte sich durch soziokulturell sensiblere Untersuchungen wahrscheinlich leicht voraussagen lassen. Nach solchen allgemeineren Betrachtungen, die wegen ihrer besonderen Komplexität bei vielen Technikbewertungen, wenn überhaupt, wohl nur skizzenhaft angestellt werden, wendet man sich in den nächsten Phasen den spezifischen Folgen der jeweiligen Technik zu. Gab man sich früher mit der Erwägung zufrieden, daß eine technische Neuerung bei hinreichender Funktionsfähigkeit dem Verwender einen bestimmten Gebrauchsnutzen verschaffen und bei hinreichender Verbreitung dem Hersteller einen angemessenen Gewinn sichern würde, geht die formelle Technikbewertung von der Einsicht aus, daß Technik prinzipiell auf alle Bereiche der natürlichen Umwelt und der soziokulturellen Lebenssituation sich auswirken kann. Bei der Bestimmung der möglichen Folgen empfiehlt sich daher eigentlich eine Art von Ausleseverfahren, das zunächst alles und jedes für möglich hält und bestimmte Folgenbereiche erst dann aus der Betrachtung ausscheidet, wenn sich ihre Unbedeutsamkeit zeigen läßt. Das ist eine überaus strenge Anforderung, die sich praktisch wohl nicht immer einlösen läßt; aber

182

9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

daß sie prinzipiell aufrechterhalten werden muß, zeigt die Erfahrung mit jenem "harmlosen" Treibgas für Sprühflaschen, das sich dann als Schädling der irdischen Ozonhülle erweisen sollte. Hat man die relevanten Folgen bestimmt, sind diese im einzelnen zu analysieren und zu prognostizieren. Dabei postuliert die Technikbewertung, auch die Folgen der Folgen, also die Sekundär- und TertiärefFekte in Betracht zu ziehen. Wenn die Fluorchlorkohlenwasserstoffe das Ozonloch vergrößern, strahlt die Sonne mit größerer Intensität auf die Erde; wenn die intensiveren Sonnenstrahlen die Bildung von Hautkrebs fördern, werden die Menschen aus Rücksicht auf ihre Gesundheit das bislang so beliebte Sonnenbaden einschränken; wenn Sonnenbäder aus der Mode kommen, entfällt ein wichtiger Grund, Urlaubsreisen an südliche Strände zu unternehmen; wenn der Tourismus in den Badeorten spürbar zurückgeht, kommt es zu Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen in den heutigen Urlaubsregionen und so weiter und so weiter. All diese Folgen sind nicht nur ihrer Art nach, sondern soweit wie möglich auch quantitativ zu ermitteln, da es häufig kritische Grenzwerte gibt, die, erst wenn sie erreicht werden, eine Folge wirklich problematisch machen. Die Arbeitsschritte, die ich bisher skizziert habe, lassen sich aus einer wissenschaftlichen Beobachterperspektive relativ neutral ausführen; all jene Teilaufgaben befassen sich ja grundsätzlich allein mit der Frage, was sein kann. Schließlich aber münden diese deskriptiven Untersuchungen in die normative Frage, was sein soll. Natürlich darf auch die Folgen-Bewertung nicht von den privaten Vorlieben oder Abneigungen einzelner Personen bestimmt werden, sondern muß gesellschaftlich und politisch legitimierte, möglichst universell gültige Bewertungskriterien zugrundelegen und deutlich ausweisen. Folgen-Bewertung nimmt dann die Form des normativen Syllogismus, der praktischen Folgerung, an. Wenn man den Schutz des Erdklimas und der menschlichen Gesundheit für wichtiger hält als die Wirtschaftlichkeit bestimmter Treibgase und Kältemittel sowie die Konkurrenzfähigkeit ihrer Produzenten, dann wird sich die Technikbewertung gegen diese Substanzen aussprechen; gewichtet man jene Kriterien jedoch umgekehrt, und befürchtet man eine ernste Krise der Chemischen Industrie, würde die

9. Kap.:Methoden der Technikbewertung

183

Technikbewertung allenfalls die Empfehlung geben, langfristig nach wirtschaftsverträglichen Ersatzstoffen Ausschau zu halten. Tatsächlich scheint in diesem Beispiel zwar nicht eine einzelne Technikbewertung, aber doch die anhaltende öffentliche Diskussion namhafte Hersteller jedenfalls in Deutschland bewogen zu haben, die Produktion von Fluorchlorkohlenwasserstoffen sehr schnell einzustellen. Normalerweise ist mit der Bewertung noch nicht ausgemacht, auf welche Weise nun eine erwünschte Technik gefördert und eine unerwünschte verhindert werden kann. Die Analyse der Steuerungsmöglichkeiten - wie es im Schema zurückhaltend formuliert ist - betrifft letztlich das gesamte Arsenal gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten und reicht von strikten staatlichen Direktiven bis zu unverbindlichen Appellen an die Einsichtsfähigkeit von Korporationen und Bürgern. Damit aber stellt sich die Grundfrage nach der politisch-ökonomischen Ordnung des Gemeinwesens, die immer wieder emotionsgeladene politische Kontroversen provoziert. Es ist dies aber auch eine sozialphilosophische Frage, und so erfordert die Technikbewertung letztlich einen sozialphilosophischen Diskurs, einen Diskurs freilich, der in der vorliegenden Literatur noch kaum expliziert worden ist. Schließlich sind die Ergebnisse der Technikbewertung zu veröffentlichen, und ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß es sich dabei um ein logisches und nicht um ein zeitliches "schließlich" handelt. Wenn nämlich die Technikbewerter auch die Zwischenergebnisse ihrer Arbeit publizieren, können sie manche konstruktive Kritik für den Fortgang der Untersuchung auslösen und fruchtbar machen. Porter u. a. bemerken, daß dieser letztgenannte Schritt in manchen Darstellungen der Ablaufstruktur - so auch im MITRE-Schema - vergessen wird, weil man ihn wohl für selbstverständlich hält. Aber tatsächlich wird dieser Schritt auch in der Praxis nicht selten "vergessen", vor allem dann, wenn der Auftraggeber mit dem Resultat einer Technikbewertung nicht zufrieden ist. Die Ablaufstruktur, die ich skizziert habe, kann natürlich noch weiter verfeinert werden; ich verzichte darauf, weil ich hier lediglich über die Grundzüge der Konzeption

184

9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

informieren will. Dieser Absicht folge ich auch in den nächsten Abschnitten, die einen knappen Überblick über die Methoden der Technikbewertung vermitteln werden.3

3. Methodenkatalog 3.1 Allgemeines Um nicht falsche Erwartungen zu wecken, muß ich zunächst den MethodenbegrifiÇ der in der Literatur zur Technikbewertung vorherrscht, relativieren. Er ist durchweg aus dem amerikanischen Englisch übernommen, wo theoretische Ausdrücke sprachlogisch meist eine Stufe niedriger angesiedelt sind als im Deutschen. Was in der deutschen Wissenschaftsphilosophie "Methode" heißt, etwa die deduktiv-nomologische Methode oder die hermeneutische Methode, das ist im Amerikanischen bereits eine "methodology",

und

das

amerikanische

"method"

heißt

nicht

viel

mehr

als

"Verfahrensweise". In dem bereits erwähnten Lehrbuch von Daenzer u. a. werden diese "methods" dementsprechend als "Techniken" (im weiten Sinn dieses Ausdrucks4) bezeichnet (Daenzer/Huber 1992, 426-567). Da es überdies im Einzelfall subtiler Untersuchungen bedürfte, wann eine Vorgehensweise den Rang einer Methode beanspruchen kann, und wann sie nichts als eine schlichte Verfahrensregel darstellt, werde ich im folgenden die Begriffe "Methode" und "Verfahren" nur näherungsweise unterscheiden können. Bild 2 (Anhang), das der VDI-Richtlinie entnommen ist, enthält eine Zusammenstellung häufig genannter Methoden, die ich nun kurz erläutern möchte. Quantitative Methoden benutzen mehr oder minder exakte Zahlenwerte und rechnerische Beziehungen zwischen solchen Zahlenwerten; qualitative Methoden verwenden keine Zahlenangaben und Meßwerte, sondern operieren mit der sprachlichen Beschreibung von Eigenschaften und Zusammenhängen. Ferner versucht das Schema, die aufgeführten Methoden bestimmten Phasen oder "Bausteinen" der Technikbewertung zuzuordnen; eindeutig gelingt dies aber nur bei den beiden erst- und letztgenannten Methoden, und noch weniger trennscharf geriete die Zuordnung, wenn die Phasengliederung von Bild

9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

185

1 zugrundegelegt würde. Die meisten der folgenden Methoden eignen sich mithin für verschiedene Phasen der Technikbewertung.

3.2 Prognose-Methoden Die Trendextrapolation ist eine Prognose-Methode, die in verschiedenen Disziplinen der Wirtschañs- und Sozialwissenschaften seit langem angewandt wird. Trägt man beispielsweise den Zahlenwert der Weltbevölkerung in einem Koordinatensystem über den Jahren ab, so erhält man fur die letzten beiden Jahrhunderte eine Kurve, die exponentiell, also mit ständig steigendem Wachstum ansteigt; in Bild 3 (Anhang) ist das der Kurventyp C, der freilich fur dieses Beispiel im letzten Teil wesentlich steiler ansteigt. Unterstellt man nun, daß sich diese Entwicklung nach dem Beobachtungzeitpunkt TJ ungebrochen fortsetzt, kann man die Kurve entsprechend verlängern und aus dem Diagramm die Weltbevölkerung für das Jahr 2050 ablesen. Eine aus der Vergangenheit bekannte Entwicklung nimmt man also als beständig an und extrapoliert sie in die Zukunft. Eine Zeitreihe, das ist eine über der Zeit aufgetragene kennzeichnende Größe, wird in ihrem Verlauf mathematisch-statistisch analysiert und als Funktion der Zeit mathematisch präzisiert. Je nach den Ausgangsdaten und gegebenenfalls aufgrund zusätzlicher Annahmen erhält man einen (A) linearen, einen (B) trigonometrischen, einen (C) exponentiellen oder einen (D) logistischen Zusammenhang. Setzt man dann zukünftige Zeitwerte in die Funktion ein, gewinnt man die zukünftig zu erwartenden Zahlenwerte der kennzeichnenden Größe. Meist beschreiben derartige Zeitreihen einen rein statistischen Zusammenhang, der nicht durch erfahrungswissenschaftliche Hypothesen ursächlich erklärt werden kann; dann kann man die Annahme, der bisherige Verlauf werde sich in Zukunft unverändert fortsetzen, in keiner Weise begründen. So läßt sich im Beipiel das exponentielle Bevölkerungswachstum nicht durch ein unumstößliches Gesetz erklären. Theoretisch icuß man vielmehr annehmen, daß der exponentielle Kurvenverlauf, der bis heute gemessen worden ist, lediglich der erste Teil einer logistischen Kurve vom Typ D ist; denn selbstverständlich gibt es für die Erdbevölkerung eine sogenannte Sättigungs-

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9. Kap.: Methoden der Technikbewertung

grenze, die allerspätestens dann erreicht wäre, wenn die Bevölkerungsdichte, sagen wir, auf einen Menschen je Quadratmeter Erdoberfläche angestiegen wäre. Tatsächlich sieht es so aus, als wenn Nahrungs- und Wassermangel schon heute kritische Grenzen des Bevökerungswachstums signalisieren würden, aber wann der sogenannte Wendepunkt erreicht ist, an dem die exponentielle Kurve in den abflachenden Teil der logistischen Kurve umschlägt, ist noch nicht auszumachen. Aber auch wenn es in anderen Fällen für einen bestimmten Kurvenverlauf eine zuverlässige Erklärung gibt, muß man bei der Anwendung der Trendextrapolation gute Gründe dafür haben, daß die bisherigen Faktoren unverändert wirksam bleiben, und daß keine zusätzlichen Faktoren ins Spiel kommen können. "Ceteris paribus" heißt die bekannte Wendung, die vor allem in der Ökonomie gerne benutzt wird und den Vorbehalt zum Ausdruck bringt, daß die Prognose nur unter der Voraussetzung gilt, daß alles Übrige unverändert bleibt. Der Trendextrapolation verwandt ist die historische Analogiebildung, die von einer vergleichbaren früheren Entwicklung auf den zu erwartenden Verlauf einer zukünftigen Entwicklung schließt. Die Vergleichbarkeit wird damit begründet, daß es sich um gleiche, lediglich zeitversetzte Erscheinungen in verschiedenen Erstreckungsbereichen handelt - z.B. die Verbreitung von Computern in den USA und in einem europäischen Land -, oder daß die vorherzusagende Entwicklung wegen einer bestimmten Verwandtschaft als eine Art Wiederholung der früheren Entwicklung im gleichen Erstrekkungsbereich verläuft - ζ. B. die Verbreitung von Spülmaschinen im Vergleich zur früheren Verbreitung von Waschmaschinen im selben Land. Außer der allgemeinen Problematik von Trendextrapolationen erhebt sich hier zusätzlich die Frage, ob die angenommene Vergleichbarkeit tatsächlich in zureichendem Maße gegeben ist. Während sich die beiden bisher genannten Prognosemethoden den Anschein wissenschaftlicher Exaktheit geben - die wie gesagt in der Substanz längst nicht immer eingelöst wird -, setzt die Delphi-Methode von vornherein auf intuitive Zukunftsprojektionen, die freilich von Sachkennern des betreffenden Fachgebiets vorgenommen werden. Dabei legt man die im ersten Durchgang erhobenen Umfrageergebnisse den beteiligten Experten in einem wiederholten Durchgang zur erneuten Urteilsbildung vor,

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damit sie ihre Auffassung im Licht der anderen Expertenmeinungen überprüfen und stark abweichende Positionen gegebenenfalls korrigieren können. Der Erfolg der Methode hängt entscheidend von der Auswahl der befragten Fachleute ab. Dabei ist zu bedenken, daß Fachleute, die an einer bestimmten Entwicklung selber beteiligt sind, ihre Prognosen nicht selten aus übermäßigem Zweckoptimismus speisen. Da die Methode konventionalistisch begründet ist, favorisiert sie die Mehrheitsmeinung und berücksichtig abweichende Auffassungen, wenn sie diese nicht ohnehin zur Anpassung bewegen kann, nur andeutungsweise. Für die Prognose technischer Entwicklungen und ihrer möglichen Folgen darf man sich freilich nicht auf Tendenzen beschränken, die der Qualität nach bereits bekannt sind und lediglich in ihren zukünftigen quantitativen Verlaufsformen abgeschätzt werden brauchen. Oft sind es gerade völlig neue Qualitäten, die der soziotechnischen Entwicklung eine überraschende Wendung geben, und solche neuen Qualitäten dürften sich einem Berechnungskalkül und einer systematischen Abfrageprozedur nur schwer erschließen. "Erfindungen können nur vorausgesagt werden, indem man diese Erfindungen selbst macht" (Pfeiffer 1971, 113, Anm. 11). Dann aber bedarf die Prognose neuer Qualitäten der gleichen Kreativität wie die Erfindung des Neuen. So ist es folgerichtig, wenn für die Technikbewertung auch Verfahren der Kreativitätsförderung vorgeschlagen werden, die aus der allgemeinen Methodik des Problemlösens stammen.

3.3 Heuristische Methoden Wie einzelne Menschen zu neuartigen Ideen inspiriert werden, ist trotz aller Kreativitätspsychologie bislang wenig geklärt. Immerhin hat sich vielfach bestätigt, daß Menschen in einer kleinen Gruppe einander höchst wirksam wechselseitig inspirieren können. Darauf beruht die Methode des Brainstorming, eine intuitiv-heuristische Methode zum Gewinnen und Sammeln von Einfallen. Ein möglichst heterogener Kreis von nicht mehr als zehn Personen wird in aufgelockerter Atmosphäre mit einer Frage konfrontiert und aufgefordert, spontan in freier Assoziation alles zu äußern, was den Teilnehmern dazu gerade in den Sinn kommt. Während des relativ kurzen Gruppengesprächs

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sollen die EinMe grundsätzlich nicht bewertet werden. Ungewöhnliche, auch zunächst absurd erscheinende Ideen, mit denen die Teilnehmer einander gegenseitig anregen können, sind dabei besonders erwünscht. Erst nach Abschluß der Sitzung werden die protokollierten Ideen geordnet, beurteilt und gegebenenfalls weiter bearbeitet. Dem Brainstorming verwandt ist die Synektik, eine Gruppendiskussionsmethode, die sich allerdings über einen längeren Zeitraum erstreckt, ein höheres Maß an Fachwissen einspeist und die Assoziationsfähigkeit der Teilnehmer durch systematische Analogiebildungen fördert. Als planmäßige Organisation von Phantasie scheint dieser Methodentyp besonders geeignet, neuartige Technikkonzeptionen zu skizzieren und bislang nicht bedachte Folgenbereiche zu erschließen. Die nachfolgende Auswertung steht vor der schwierigen Aufgabe, aus der Fülle der unfertigen Ideen die relevanten und erfolgversprechenden Ansätze herauszufiltern, auch wenn sie dem Bearbeiter selbst zunächst ungewöhnlich erscheinen mögen. Man kann nun den kreativen Prozeß als mehr oder minder unbewußten Assoziationsvorgang verstehen, in dem an sich bekannte Elemente zu neuartigen Verbindungen kombiniert werden. Dann kann man versuchen, diesen zunächst unbewußten Kombinationsprozeß rational und intersubjektiv zu rekonstruieren. Das ist der Grundgedanke der morphologischen Methode, die auch als Methode des morphologischen Kastens oder der morphologischen Matrix bekannt ist. Es handelt sich dabei um eine rational-heuristische Suchmethode, die aus der systematischen Auffächerung aller Merkmale und Merkmalsausprägungen einer komplexen Systemklasse kombinatorisch sämtliche denkbaren Systemtypen bildet. Man kann diese Methode dazu benutzen, eine gegebene Mannigfaltigkeit von Strukturen überschaubar zu machen, aber auch antizipativ verwenden, um bisher unbekannte Systemtypen als neuartige Kombinationen aus bekannten Elementen zu generieren. Bild 4 (Anhang) zeigt ein Beispiel, das im Kern auf die fünfziger Jahre zurückgeht,3 wenn ich es auch hinsichtlich der elektronischen Entwicklung ein wenig modernisiert habe. In der linken Randspalte der Matrix stehen die Subsysteme, die eine Uhr enthalten muß, damit sie die Funktion der Zeitanzeige leisten kann. Jede Zeile enthält die möglichen Lösungselemente, mit denen die betreffende Teilfunktion verwirklicht wer-

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den kann. Theoretisch bildet dann jede Kombination aus je einem Element jeder Zeile einen bestimmten Uhrentyp, auch wenn sich praktisch nicht alle Elemente beliebig miteinander kombinieren lassen. Die Elemente der ersten Spalte Al bis Fl beispielsweise ergeben die gute alte Schwarzwalduhr, bei der man natürlich nicht allein das Zahnradgetriebe durch einen Mikroprozessor ersetzen kann. Aber wenn man schon einen Akkumulator B4, einen Schwingquarz D4, einen Mikroprozessor E2 und, bei Einsparung eines Motors C4, eine Flüssigkristall-Anzeige F5 miteinander verknüpft, hilft die Matrix, als geeignete Energiequelle Photoelemente A4 aufzuspüren, die schon in der vierzig Jahre alten Veröffentlichung genannt waren, aber erst kürzlich mit der Innovation der sogenannten Solar-Uhr zum praktischen Einsatz gelangt sind. Die morphologische Methode verlagert die Kreativitätsanforderungen von der Identifikation komplexer Erscheinungen auf die Identifikation der konstituierenden Elemente. Es gibt nämlich kein zwangsläufiges Verfahren, das garantieren könnte, alle kennzeichnenden Merkmale und sämtliche denkbaren Merkmalsausprägungen vollzählig zu erfassen, vor allem, wenn bestimmte Lösungselemente noch gar nicht entwickelt sind. Da in den fünfziger Jahren Mikroprozessoren und Flüssigkristall-Anzeigen nicht bekannt waren, tauchten sie in der ursprünglichen Form der Matrix natürlich auch nicht auf. Ferner bereitet die Auswahl realisierbarer und relevanter Typen aus der Menge der theoretisch kombinierbaren Typen beträchtliche Schwierigkeiten. Aber auch wenn die morphologische Methode nicht jene perfekte "Ars inveniendi" darstellt, von der schon der mittelalterliche Philosoph Raimundus Lullus und der Aufklärungsphilosoph Gottfried Wilhelm Leibniz geträumt hatten, ist sie doch ein sehr fruchtbares Werkzeug für die theoretische und pragmatische Bewältigung von Komplexität. Das formale Schema der Matrix wird in völlig anderer Interpretation auch von der Methode der Vetflechtungs-Anatyse genutzt, die auch als Cross-Impact-Methode bezeichnet wird. Dieser Methode geht es darum, wechselseitige Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Ereignissen zu identifizieren und zu untersuchen; damit ist sie ein heuristisches Hilfsmittel der Folgen-Analyse. Eine Liste der in Betracht kommenden Ereignisse wird gleichermaßen den Zeilen und den Spalten der Matrix zugeordnet.

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Dann wird für jedes Feld der Matrix geprüft, ob zwischen den beiden Ereignissen, die das Feld kennzeichnen, ein Wirkungszusammenhang besteht. Im einfachsten Fall begnügt man sich mit qualitativen Markierungen oder bezeichnet die Stärke des Einflusses mit Rangziffern. Es gibt aber auch verfeinerte wahrscheinlichkeitstheoretische Kalküle, um mithilfe bedingter Wahrscheinlichkeiten anfänglich geschätzte Einzelwahrscheinlichkeiten der Ereignisse und ihrer Wirkungen zu korrigieren. Die Methode eignet sich vor allem dazu, die Interdependenz mehr oder minder gleichzeitiger Entwicklungen überschaubar zu machen. Ob freilich den vorgeschlagenen Quantifizierungsversuchen irgendeine Aussagekraft zukommt, steht dahin.

3.4 Graphentheoretische Methoden Eine andere Gruppe von Untersuchungsverfahren beruht auf der mathematischen Graphentheorie, deren Modelle sich in Form miteinander verknüpfter Knoten sehr anschaulich in Bildern darstellen lassen; vorherrschend ist das Modell des Baumes - genauer gesagt eigentlich einer Baumwurzel -, wie es beispielhaft in Bild 5 zu sehen ist. Problemspezifische Interpretationen der Baumstruktur dienen dazu, komplexe mehrstufige Bedingungsgefuge oder Folgenbündel eines angestrebten oder erwarteten Ereignisses übersichtlich zu machen. Stellt der Knoten an der "Spitze" der Baumwurzel ein Ereignis dar, das erreicht werden soll, so repräsentiert der Baum konvergente Ketten von Instrumentalbeziehungen, die alternativ oder simultan durchlaufen werden müssen, damit jenes angestrebte Ereignis herbeigeführt wird. Da man unter Umständen die Bedeutsamkeit bestimmter Mittel für die Zielerfullung mit Schätzwerten quantifizieren kann, heißt dieses Verfahren auch Relevanzbaum-Analyse. Wenn umgekehrt der oberste Knoten das auslösende Ereignis repräsentiert, bildet der Baum divergente Ketten von Primärfolgen, Sekundärfolgen, Tertiärfolgen usw. ab, die von jenem Ereignis hervorgerufen werden. Besteht das Ausgangsereignis in einer Entscheidung, an die sich divergente Ketten von Folgeentscheidungen anschließen, spricht man auch von einem Entscheidungsbaum. Verknüpft man die Bedingungs- und die FolgenAnalyse beispielsweise für ein bestimmtes Produkt und ordnet man allen Knoten die

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jeweilige stoffliche und energetische Belastung der natürlichen Umwelt zu, kann man daraus durch geeignete Aggregierung eine sogenannte Ökobilanz ermitteln. Auch wenn die Methode es offenläßt, wie die Wissenselemente zu gewinnen sind, aus denen der Baum konstruiert wird, bewährt sie sich nicht nur bei der Strukturierung und Darstellung bekannter Zusammenhänge, sondern auch als Suchschema zum Auffinden weiterer Abhängigkeiten. Eine Quantifizierung ist allerdings wohl nur bei wohldefinierten Problemen sinnvoll, für die empirisch bewährte Zahlenwerte vorliegen. Auch bei der Risiko-Analyse verwendet man Varianten des Relevanzbaum-Verfahrens, wobei wiederum die Bedingungs- und die Folgen-Analyse zu unterscheiden sind. Das zentrale Ereignis - der "Spitzen"-Knoten des Baumes - ist jeweils das mit mit einer bestimmten Eintrittswahrscheinlichkeit bezifferte Versagen eines Systems oder Projekts. Die Bedingungs-Analyse ermittelt deduktiv die Gesamtwahrscheinlichkeit des Versagens aus den Teilwahrscheinlichkeiten von Komponenten-Ausfällen unter Berücksichtigung der Komponentenverknüpfung in der Baumstruktur (FehlerbaumAnalyse); auch kann man induktiv die Fortpflanzung von Komponentenstörungen innerhalb des Systems studieren (Störfallablauf-Analyse). Die Folgen-Analyse untersucht wiederum umgekehrt die von einem Versagen des Systems ausgelösten divergenten Ketten von Schadwirkungen und beziffert diese nach Schadenshöhe und Folgewahrscheinlichkeit; aus diesen Teilanalysen errechnet man schließlich das Gesamtrisiko. Gegen die Aussagefähigkeit von Risiko-Analysen wird eingewandt, daß insbesondere fur neuartige oder nur vereinzelt eingesetzte Komponenten keine verläßlichen Ausfallwahrscheinlichkeiten zu ermitteln sind, daß die Wahrscheinlichkeit menschlichen Versagens in Mensch-Maschine-Systemen grundsätzlich nicht zu beziffern ist, und daß auch die Abschätzung von Folgewahrscheinlichkeiten fur Schäden, die noch nie aufgetreten sind, jeder Grundlage entbehrt.

3.5 Simulationsmethoden Die Modell-Simulation umfaßt eine Vielzahl mathematisierter Planspiele, die von einfachen Optimierungsrechnungen über die anspruchsvolleren Modelle der sogenannten

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Unternehmensforschung ("operations research") bis zu komplexen Systemanalysen reichen, die nur noch mithilfe von Computern zu bearbeiten sind. Im Grundsatz ist die Modell-Simulation ein Berechnungsexperiment, das mögliche Entwicklungen in der Erfahrungswirklichkeit dadurch zu antizipieren versucht, daß es den betreffenden Realitätsbereich mit einem mathematischen Modell abbildet und durch die planmäßige Variation von Variablen und Parametern unterschiedliche Bedingungskonstellationen fingiert, deren Resultate sich dann aus der Modellrechnung ergeben und als mögliche Ereignisse der Realität interpretiert werden. Große öffentliche Beachtung hat diese Methode bereits Anfang der siebziger Jahre gefunden, als mit derartigen ComputerModellen für das irdische Ökosystem die "Grenzen des Wachstums" proklamiert wurden; Bild 6 zeigt die Struktur des damals verwendeten Modells und erläutert unter den rund einhundert Parametern die kritischen Kennwerte, die untereinander und mit zahlreichen anderen Größen in Beziehung stehen (Meadows u. a. 1972, bes. 88-91). Fortgeschrittene Modelle der Computer-Simulation zeichnen sich durch eine Vielzahl von Variablen, durch komplexe Modellstrukturen (Rückkopplungen, hierarchische Stufungen, probabilistische Elemente) und durch Interaktionsmöglichkeiten des Benutzers aus. Modellsimulationen sind ein äußerst leistungsfähiges Werkzeug, um das mögliche Verhalten vielfach vernetzter Systeme zu studieren, vor allem auch dann, wenn Realexperimente nach Lage der Dinge nicht in Betracht kommen und wenn die Gesamtwirkung zahlreicher interdependenter Faktoren intuitiv nicht mehr abzuschätzen ist. Damit werden aber auch intuitive Plausibilitätskontrollen fast unmöglich, und die in den Erfahrungswissenschaften übliche empirische Prüfung ist sinnvoll nur auf Detailzusammenhänge des Modells, nicht aber auf das Modell als Ganzes anwendbar, weil empirische Bestätigungen auch dann zu gewinnen sind, wenn mehrere Modellfehler einander gegenseitig kompensieren. Häufig wird vernachlässigt, daß jede einzelne mathematische Funktion im Modell eine erfahrungswissenschaftliche Hypothese ausdrückt, die aber als solche häufig weder präzisiert noch geprüft ist. So erweisen sich komplexe Simulationsmodelle nicht selten als uneingelöste Forschungsprogramme.

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Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus unzureichenden Datenbeständen, aus der Quantifizierung qualitativer Faktoren und aus der unreflektierten Verwendung möglicherweise nicht angemessener mathematischer Formalismen. Soweit die ModellSimulation auf einer Verknüpfung zahlreicher Trendextrapolationen beruht, sind auch in dieser Hinsicht die entsprechenden Bedenken zu berücksichtigen. Die Szenario-Gestaltung (s.a. 10. Kap.) kann man als eine Art qualitativer ModellSimulation ansehen, da sie mögliche komplexe Zukunftszustände mit verballiterarischen Mitteln ganzheitlich beschreibt; ungeachtet ihres qualitativen Gesamtcharakters integriert die Methode weitestmöglich quantitative Ergebnisse anderer Methoden. Ahnlich einem Drehbuch oder einer utopischen Erzählung repräsentiert das Szenario die in sich stimmige Antizipation eines Bündels aufeinander bezogener, zukünftiger Geschehnisse und Zustände, die unter explizit angegebenen Anfangsbedingungen eintreten können. Für bestimmte kritische Anfangsbedingungen werden meist verschiedene Varianten angenommen, die dann auch zu verschiedenen Szenarien fuhren. Häufig gestaltet man ein Szenario für die Fortschreibung des gegenwärtigen Status quo ("überraschungsfreie Entwicklung") und kontrastiert dieses mit besonders "optimistischen" und besonders "pessimistischen" Szenarien, denen denkbare Extremwerte für die kritischen Anfangsbedingungen zugrunde liegen. Die Szenario-Gestaltung ist eine Mischung aus prognostischem Wissen, intellektueller Kombinatorik und phantasievoller Erzählkunst. Sie sagt nicht, was sein wird, sondern antwortet auf Fragen des Typs "Was wäre, wenn ...". So kommt sie nicht als exakte Planungsgrundlage in Betracht, aber sie ist von großem Nutzen, das Verständnis fur soziotechnische Gestaltungsspielräume zu vertiefen und die Folgenbündel entsprechender Entscheidungsalternativen zu verdeutlichen. Während die meisten Methoden der Technikbewertung ihre Verwandtschaft mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Denkstil nicht verleugnen können, ist die Szenario-Gestaltung offen fur geisteswissenschaftliche Ansätze und literarische Formen der Welterschließung. Hier eröffnen sich aussichtsreiche Perspektiven für eine interdisziplinäre Methodologie.

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3.6 Bewertungsmethoden Ganz gleich, welche technischen Potentiale bestimmt werden, und welche möglichen Folgen einer entsprechenden Entwicklung vorherzusagen sind, all dies bliebe bloße "Technikfolgen-Abschätzung", wenn nicht die Alternativen, über die zu entscheiden ist, auch bewertet werden. Die Bewertung aber ist allein schon darum nicht trivial, weil sie in zahlreichen Dimensionen geschehen muß, die sich nur mit methodischen Hilfsmitteln auf einen Nenner bringen lassen. Dafür ist zunächst die Kosten-Nutzen-Anafyse eingeführt worden, eine Weiterentwicklung der herkömmlichen Wirtschaftlichkeitsbewertung. Sie erfaßt alle Aufwendungen und alle Erträge eines Projekts über die gesamte Nutzungsdauer und macht sie durch Umrechnung in Geldeinheiten und durch Abzinsung auf einen bestimmten Stichtag vergleichbar. Über die traditionelle Wirtschaftlichkeitsrechnung hinausgehend, berücksichtigt man vor allem auch sekundäre, sogenannte externe Effekte und qualitative Auswirkungen, die mit Hilfe bestimmter Umrechnungsfaktoren in Geldwerten ausgedrückt werden. Das Ergebnis der Gesamtbilanzierung wird dann als Entscheidungsgrundlage empfohlen. Die Stärke der Methode liegt darin, daß sie, über technisch-wirtschaftliche Kriterien hinausgehend, ausdrücklich auch metaökonomische Gesichtspunkte der Lebensqualität in die Urteilsbildung einbezieht. Umstritten ist freilich die monetäre Quantifizierung von qualitativen Effekten. So ist versucht worden, ein bedrohtes Menschenleben mit demjenigen Geldbetrag zu bewerten, den der betreffende Mensch im weiteren Leben als Beitrag zum Sozialprodukt erwirtschaften kann. Solche Berechnungen werden damit gerechtfertigt, daß selbst problematische Quantifizierungen immer noch aussagekräftiger sind als ungenaue - und damit meist folgenlose - Qualitätsurteile. Andererseits werden solche Ansätze mit dem Argument kritisiert, daß grundlegende Qualitäten des menschlichen Lebens mit Geldwerten prinzipiell inkommensurabel sind. Demgegenüber versucht die Nutzwert-Analyse, auch Scoring-Methode genannt, der Heterogenität der verschiedenen Bewertungsdimensionen mit entscheidungstheoretischen Modellvorstellungen besser gerecht zu werden. Wie Bild 7 verdeutlicht, werden

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in einer Matrix zeilenweise die zu bewertenden Alternativen und spaltenweise die verschiedenen Bewertungskriterien aufgelistet. In die Felder trägt man dann den Nutzwert jeder Alternative in Bezug auf das jeweilige Bewertungskriterium ein. Im dargestellten Schema werden beispielhaft in der ersten Spalte ordinale Rangziffern benutzt; Alternative L3 hat in Bezug auf ZI den höchsten, Alternative Ln den zweithöchsten und Alternative L2 den niedrigsten Nutzwert. Man versucht es aber auch mit quasikardinalen Skalen wie etwa der aus dem Bildungssystem bekannten Zensuren-Skala von Eins bis Sechs. Schließlich kann man fur jedes Bewertungskriterium mehr oder minder plausible Nutzwert-Funktionen unterstellen, die dem Nutzwert-Beitrag der jeweiligen Alternative eine absolute Zahlengröße zuordnen; Kosten und andere negative Effekte können durch reziproke Nutzenfunktionen erfaßt werden. Nach Gewichtung der Bewertungskriterien ZI bis Zn werden die gewichteten Teilnutzwerte zum Gesamtnutzwert Ν zusammengefaßt, der dann den abschließenden Wertvergleich der Alternativen erlauben soll. Die Methode hat den Vorteil, komplexe Bewertungsprobleme übersichtlich zu strukturieren, intuitive Präferenzen offenzulegen, und dadurch eine rationale Bewertungsdiskussion zu erleichtern, auch wenn die Präferenzen selbst nicht rational begründbar sein sollten. So nützlich die qualitative Anwendung der Methode erscheint, so wenig sollte man sich auf quantitative Berechnungsergebnisse verlassen, selbst wenn sie mit Hilfe verfeinerter Computer-Programme gewonnen wurden. Die angewandten Rechenverfahren nämlich unterstellen meßtheoretische, entscheidungslogische und mathematische Voraussetzungen, die faktisch in der Regel nicht erfüllt sind. Übrigens ist das Schema in Bild 7 (Anhang) strukturgleich mit dem bekannten Problem der Wohlfahrtsökonomie, ob und gegebenenfalls wie man die individuellen Präferenzen verschiedener Personen widerspruchsfrei zu einer kollektiven Präferenzordnung aggregieren kann; man kann dieses Problem abbilden, indem man die Spalten ZI bis Zn als Präferenzordnungen verschiedener Personen interpretiert. Dann wäre es denkbar, diese Methode auch dann anzuwenden, wenn bei einer bestimmten Technikbewertung verschiedene Personen oder Gruppen mit konkurrierenden Wertorientierungen

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aufeinander treffen, und man könnte sich wünschen, auf diese Weise methodisch eine kollektive Entscheidung zu begründen, die für alle Beteiligten akzeptabel erscheint. Tatsächlich hat allerdings der Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Joseph Arrow schon zu Beginn der fünfziger Jahre gezeigt, daß unter angemessenen Bedingungen eine solche Wert ab Stimmung aus logischen Gründen nicht formalisiert werden kann. Auch in dieser Situation also kann die Bewertungsmatrix kein theoretisch zwingendes Ergebnis herbeiführen, aber natürlich entsprechenden Bewertungsdiskussionen immerhin eine übersichtliche Grundlage vermitteln.

4. Kritisch-konstruktiver Ausblick Mit den kritischen Anmerkungen zu den einzelnen Methoden habe ich bereits angedeutet, daß diese keineswegs so simpel zu handhaben sind, wie das in den Lehrbüchern häufig den Anschein hat. Überdies gelangt eine Untersuchung, die zahlreiche ausgeführte Studien zur Technikbewertung ausgewertet hat, zu dem Ergebnis, daß die spezifischen Systemmethoden, die hier charakterisiert wurden, durchgängig "keine explizite Verwendung fanden" (Zimmermann 1993, 45). Das wirft natürlich die Frage auf, ob jene Methoden, im Gegensatz zu den Proklamationen der Lehrbücher, tatsächlich doch nicht hinreichend geeignet sind, oder ob dem Gros der TechnikfolgenAbschätzer das methodologische Reflexionsniveau oder häufig auch schlicht die Zeit fehlen, ihre Arbeit wirklich nach den Regeln der Kunst auszufuhren. Vieles spricht für die letztere Annahme. Technikbewertung wird bislang vor allem von außeruniversitären Einrichtungen im Wege der Projektförderung betrieben. Diese Einrichtungen müssen sich daher fortgesetzt bei Auftraggebern und Förderorganisationen um entsprechende Projektaufträge bemühen und Vorleistungen in die Projektplanung investieren, auch wenn sie angesichts der Konkurrenz der Anbieter gar nicht immer den Zuschlag erhalten. Ist dann ein Projekt eingeworben worden, muß sogleich ein Bearbeitungsteam gebildet werden, auch wenn nicht immer Mitarbeiter bereitstehen, die für das gestellte Thema optimal qualifiziert wären. Schließlich erwartet der Geldgeber zum vorbestimmten Termin den Abschlußbericht und will greifbare Ergebnisse

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sehen, ganz gleich, welche theoretischen und methodischen Schwierigkeiten während der Bearbeitung aufgetaucht sein mögen. Und auch nachher findet man kaum Gelegenheit, sich mit jenen Schwierigkeiten noch einmal prinzipiell auseinanderzusetzen, weil bereits die nächsten Projektanträge und Projekte zu bearbeiten sind. Diese Schwierigkeiten liegen natürlich nicht im Wesen der Technikbewertung, sondern allein in den Unzulänglichkeiten ihrer gegenwärtigen Organisation. Wenn die Begründung und Entfaltung technikbewertender Methoden gelingen soll, muß sich auch die Grundlagenforschung an den Universitäten dieser Aufgabe annehmen. Vor fast zwanzig Jahren schon ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft (die bekanntlich fur die Förderung der Universitätsforschung da ist) eine Studie vorgelegt worden, die empfahl, die methodologische Grundlagenforschung in der Technikbewertung zu entwikkeln und einen entsprechenden Schwerpunkt einzurichten (Krupp, Jochem et al. 1978). Dies ist in der Folgezeit nicht geschehen, und spätere Wissenschaftshistoriker mögen sich darüber streiten, ob die Forschungsgemeinschaft den Förderschwerpunkt verworfen hat, weil sie zu wenig Resonanz unter den Universitätsforschern zu erkennen glaubte, oder ob die Forschung ausgeblieben ist, weil die Forschungsgemeinschaft keine spezifische Förderung angeboten hat. Jedenfalls ist die Technikbewertung in wissenschaftsphilosophisch-methodologischer Hinsicht noch wenig entwickelt. So habe ich mit diesem Beitrag nicht nur einen einführenden Überblick geben wollen, sondern ich möchte zugleich ausdrücklich auf die Notwendigkeit hinweisen, den daraus folgenden Forschungsaufgaben in Zukunft größere Aufmerksamkeit zu schenken.

Anmerkungen 1

Vgl. zu diesem Zusammenhang Ropohl 1996, aus dessen achtem Kapitel längere Passagen in den vorliegenden Beitrag übernommen worden sind. 2 So benannt nach einer amerikanischen Beratungsfirma, die als Urheber gilt; leicht zugänglich beispielsweise bei Huisinga 1985,172ff. 3 Dabei werde ich teilweise Darstellungen benutzen, die sich in einem Anhang zu Teil 4 der Richtlinie VDI 3780,16ff, finden und weitgehend meinen Formulierungsvorschlägen im damaligen Richtli-

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nien-Ausschuß folgen; vgl. auch die Übersichten in: Blohm/Steinbuch 1972, besonders die kritische Diskussion in meinem dortigen Beitrag: Technische Prognostik zwischen Spekulation und Wissenschaft, 171-185; ferner Zimmermann 1993, 33-39. 4 Zum Technikbegriff vgl. Ropohl 1991,16ff. 5 Boesch, W.: Die Organisation industrieller Forschung, Industrielle Organisation 23 (1954) 10, 869874.

i Abgrenzung des Problems

i Beschreibung der entsprechenden Techniken

ι Prognose der technischen Entwicklung

ι Beschreibung der gesellschaftlichen Situation

i Prognose der gesellschaftlichen Entwicklung

* Bestimmung der Folgen

i Folgen-Analyse und -Prognose

* Folgen-Bewertung

i Analyse der Steuerungsmöglichkeiten

i Veröffentlichung der Ergebnisse

Bild 1: Bausteine der Technikbewertung

-

Bild 2: Methoden der Technikbewertung



Nutzwert-Analyse

Kosten-Nutzen-Analyse



Szenario-Gestaltung

quantitativ

Definition Strukturierung

••••

Modell-Simulation

qualitativ

•••••

Verflechtungsmatrix-Analyse

Risi ko-Analyse

Relevanzbaum-Analyse

Morphologische Klassifikation

Delphi-Expertenumfrage

Brainstorming

Historische Analogiebildung

Trendextrapolation

Methode Folgenabschätzung

Phase Bewertung

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••

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