Die Erscheinung der Erscheinung: J.G. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 - Zweiter Zyklus 3465046315, 9783465046318

The Wissenschaftslehre of 1804/II is one of the most challenging texts of German Idealism in general and of Fichte'

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Die Erscheinung der Erscheinung: J.G. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 - Zweiter Zyklus
 3465046315, 9783465046318

Table of contents :
Einleitung
1. Vortrag: Formulierung der anfänglichen und grundsätzlichen Frage der Wissenschaftslehre von 1804/II
2. Vortrag: Fichtes Ansicht über den 'liebsten Hörer' seiner Wissenschaftslehre. Die 'Umschaffung' des Selbst durch die Wissenschaftslehre
3. Vortrag: Aufgabe der Wissenschaftslehre: Darstellung des reinen Wissens
4. Vortrag: Abschluss der 'Prolegomena' und Beginn der Wissenschaftslehre
5. Vortrag: Hinzufügung zweier weiterer 'Prolegomena'
6. Vortrag: Eingeschobene methodologische Betrachtungen
7. Vortrag: Analyse (auf einer höheren Reflexionsstufe) der Form der Zweiheit von Bild und Abgebildetem
8. Vortrag: Zusätzliche Bemerkungen zu den Grundbegriffen der 'Begriff-Licht-Sein-Operation'
9. Vortrag: Nochmals zu den 'Prolegomena'
10. Vortrag: "Leben", "Licht" und "Begriff"
11. Vortrag: Die verschiedenen 'Spielarten' des Realismus und des Idealismus auf der zweiten Genetisierungsstufe
12. Vortrag: Nochmals zu den Grundsatndpunkten des Idealismsu und des Realismus
13. Vortrag: (Berichtigende) Vorbemerkungen zur Methode
14. Vortrag: Vier Einwände gegen Schelling
15. Vortrag: Das Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre
16. Vortrag: Die kategorische und die problematische Selbstkonstruktion des Selbst
17. Vortrag: Unterscheidung der Wissenschaftslehre von anderen Systemen (insbesondere vom Schelling'schen)
18. Vortrag: Berücksichtigung (nach der begrifflichen Bestimmung der Selbstkonstruktion des Seins) der anschaulichen Seite derselben: Bestimmung der Selbstkonstruktion als 'Sehen'
19. Vortrag: Wiederholende Betrachtungen
20. Vortrag: Wiederholung der Einsichten vom Ende des vorigen Vortrags mithilfe einer neuen (synthetischen) Darstellungsart
21. Vortrag: Erste (eingeschobene) Erörterung der Vernunftlehre in der Phänomenologie
22. Vortrag: Die nun anstehende Aufgabe: die Genetisierung des transzendentalen Wissens
23. Vortrag: Ableitung des (den 'realistischen' Standpunkt kennzeichnenden) Inhalts der Einheit von Sein und Sichgenesis
24. Vortrag: Das 'Soll' als Bedingung des Selbstprojizierens
25. Vortrag: Die Bildlehre. Deduktion der realen Voraussetzung des Gesetzes
26. Vortrag: Vorblick auf die drei letzten Vorträge
27. Vortrag: Vertiefung des Wesens des Sehens (qua Bedingung der Gewissheit)
28. Vortrag: Abschluss der im vorigen Vortrag begonnenen Genetisierung
Tabellarische Aufstellung der 25 Grundbestimmungen des Wissens in der Wissenschaftslehre von 1804/II
Schluss
Siglen
Personenregister
Sachregister

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A L E X A NDER SCH NEL L

DIE ER SCHEI N U NG DER ER SCHEI N U NG J. G. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 Zweiter Zyklus

V IT TOR IO K LOSTER M A N N

https://doi.org/10.5771/9783465146315 .

A L E X A NDER SCH NEL L DI E ER SCH EI N U NG DER ER SCH EI N U NG

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A L E X A N DE R S C HNE LL

DIE ERSC HEINUNG DER ERSCHE INUNG J .  G . FI C H T ES WI SSE N S C HA FTS LEHRE VON 1 8 0 4 – Z WE I TE R Z Y K LU S

VITTORIO KLOSTERMANN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen N ­ ationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2023 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktions­verfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier  ISO 9706 Druck und Bindung: docupoint GmbH, Magdeburg Printed in Germany ISBN  978 - 3 - 465 - 0 4631 - 8

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Für Marco Ivaldo in freundschaftlicher Verbundenheit

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INHALTSVERZEICHNIS Analytisches Inhaltsverzeichnis ................................................................. 9 Einleitung............................................................................................... 21 Erster Vortrag ........................................................................................ 43 Zweiter Vortrag ...................................................................................... 51 Dritter Vortrag ....................................................................................... 56 Vierter Vortrag ....................................................................................... 64 Fünfter Vortrag ...................................................................................... 76 Sechster Vortrag ..................................................................................... 81 Siebenter Vortrag.................................................................................... 85 Achter Vortrag ....................................................................................... 87 Neunter Vortrag ..................................................................................... 91 Zehnter Vortrag ..................................................................................... 94 Elfter Vortrag ....................................................................................... 100 Zwölfter Vortrag .................................................................................. 107 Dreizehnter Vortrag ............................................................................. 111 Vierzehnter Vortrag .............................................................................. 115 Fünfzehnter Vortrag ............................................................................. 122 Sechszehnter Vortrag ............................................................................ 126 Siebzehnter Vortrag .............................................................................. 133 Achtzehnter Vortrag ............................................................................. 136 Neunzehnter Vortrag ............................................................................ 138

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Inhaltsverzeichnis

Zwanzigster Vortrag ............................................................................. 142 Einundzwanzigster Vortrag ................................................................... 147 Zweiundzwanzigster Vortrag................................................................. 151 Dreiundzwanzigster Vortrag ................................................................. 156 Vierundzwanzigster Vortrag .................................................................. 161 Fünfundzwanzigster Vortrag ................................................................. 165 Sechsundzwanzigster Vortrag ................................................................ 171 Siebenundzwanzigster Vortrag .............................................................. 176 Achtundzwanzigster Vortrag ................................................................. 181 Die 25 Grundbestimmungen des Wissens in der Wissenschaftslehre von 1804/II .................................................................. 191 Schluss ................................................................................................. 195 Siglen ................................................................................................... 213 Personenregister ................................................................................... 215 Sachregister .......................................................................................... 217

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ANALYTISCHES INHALTSVERZEICHNIS Einleitung Vorstellung des ‚zusammengehörigen Ganzen‘ der vier Vorträge der Wissenschaftslehre von 1804 und 1805. Die absolute Notwendigkeit des gedanklichen Selbstvollzugs für die Ausbildung des genuinen ‚Gegenstands‘ der Wissenschaftslehre. Die Spannung zwischen unzugänglichem Absoluten und notwendiger Selbsterzeugung. Nutzen und Grenzen des Kommentars einer solchen Textgattung. Das Problem der Gliederungsstruktur sowie des Gliederungsprinzips. Vorstellung der Auslegungsthesen bei Gueroult, Widmann, Janke, Meckenstock, Ivaldo und Asmuth. Der Ausgangspunkt der Auslegung: der Grundgedanke des Transzendentalismus. Ableitung der Struktur der Fünffachheit aus diesem Grundgedanken. Die methodologische Fünffachheit der Wissenschaftslehre von 1804/II: die zwei ‚Grundschemata‘ (Fünffachheit; Einheit [A] und zwei Divisionsfundamente [S, D und x, y, z]) und die zwei ‚Grundoperationen‘ (‚Begriff-Licht-Sein-Operation‘ und ‚Bildlehre‘) sowie das ‚Prinzip der Phänomenologie‘. Aufweisung der fünf ‚Genetisierungsstufen‘ sowie der 25 „Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens“ auf der Grundlage der Reflexion auf die vermittelte ‚Einheit‘ im Grundgedanken des Transzendentalismus. Sinn und Rolle der ‚Genetisierung‘. Die Frage nach ‚Auf‘- und ‚Abstieg‘ in der Wissenschaftslehre von 1804/II. Allgemeine Gliederung des Textes. Das Problem der Erstreckung der ‚Prolegomena‘. I. Vortrag Formulierung der anfänglichen und grundsätzlichen Frage der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die fundamentale Rolle des Bezugs von Denken und Sein. Der Anfang der Philosophie mit dem ‚Leben‘ und dem Vermögen, eigens zu denken. Das Denken als ein dem Leben nicht äußerliches. Auseinandersetzung mit Schelling hinsichtlich des Status des ‚Seins‘ in der Transzendentalphilosophie. Affirmation der Existenz einer einzigen Wahrheit. Die Notwendigkeit, diese aus sich selbst zu erzeugen. Das Wissen qua genuiner Gegenstand der Wissenschaftslehre. Grundproblem: Spannung zwischen je schon seiender Wahrheit und nur aus dem Denken zu erzeugender Wahrheit. Lösung dieser Spannung durch die Einsicht, dass das Sein (und somit die Wahrheit) je mit dem Denken korreliert. Die Aufgabe (und zugleich die Grenze) für den Wissenschaftslehrer, die Bedingungen für diese Einsicht zu liefern. Die Notwendigkeit, ‚energisch‘ zu denken, um diesen Bezug von Denken und Sein (bzw. Wahrheit) sowie deren Verbindung zum Leben eigens herstellen zu können. Die zweifache Bedeutung von Sein und Denken. Drei Bemerkungen zu Denken und Sein auf der Stufe des empirischen und des transzendentalen Wissens.

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Der Status der ‚Prolegomena‘. Die Erstreckung der ‚Prolegomena‘ innerhalb der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die ‚Prolegomena‘ und die ‚Einweihung‘ in die Philosophie. Das Zusammenfallen von Philosophie und Wissenschaftslehre. Definition der Philosophie: Zurückführung alles Mannigfaltigen auf absolute Einheit. Das Mannigfaltige als Wandelbares, die Einheit als Unwandelbares. Die zweifache Bedeutung der ‚Zurückführung‘. Die Bedeutung der ‚Einheit‘. Drei Argumente dafür, dass es nur eine einzige Einheit in der Philosophie geben kann: das Argument der ‚Unmöglichkeit der Übereinstimmung‘, das Argument des ‚Selbstwiderspruchs‘ und ein ‚historisches‘ Argument. Die Stiftung der Transzendentalphilosophie im und durch das reine Wissen oder Wissen an sich als Wissen von der Einheit und Disjunktion von Denken und Sein. Abweisung der Auffassung, die Wissenschaftslehre sei ein einseitiger Idealismus oder ein einseitiger Realismus (Schelling). II. Vortrag Fichtes Ansicht über den ‚liebsten Hörer‘ seiner Wissenschaftslehre. Die ‚Umschaffung‘ des Selbst durch die Wissenschaftslehre. Nochmals zum ‚reinen Wissen‘ als ‚Wahrheit und Gewissheit an und für sich‘. Der Einheitspunkt (= A) dieses reinen Wissens über die Bewusstseinsspaltung hinaus. Das ‚lebendige Bild‘ dieses höchsten Einheitspunktes. Die Notwendigkeit einer freien Reproduktion der Wissenschaftslehre als Hauptcharakteristikum des Philosophierens überhaupt. Die Setzung und die Vernichtung des höchsten Einheitspunktes (A). Vorläufiger Standpunkt: das ‚Weder-Noch‘ von Denken und Sein in A und das ‚Zugleich‘ von Denken und Sein in der Erscheinung. Bemerkung zur Bedeutung des Begriffs der ‚Einsicht‘. Die zweifache Spaltung von A in Denken und Sein und in x, y, z. Die zweite Spaltung (in x, y, z) und ihr Bezug zur kantischen Transzendentalphilosophie. Fichtes Wissenschaftslehre und Spinoza. Die ‚drei Absoluta‘ bei Kant. Erstes Absolutes (in der Kritik der reinen Vernunft): das empirische Ist (‚Sinnliches‘). Der Bezug zu Locke. Zweites Absolutes (in der Kritik der praktischen Vernunft): die moralische Welt (‚Übersinnliches‘). Drittes Absolutes (in der Kritik der Urteilskraft): das Band von Sinnlichem und Übersinnlichem. Zwei Hauptunterschiede zwischen dem kantischen und dem Fichte’schen Ansatz: 1.) Behauptung der Trennung der Spaltungen von Denken und Sein bzw. von Sinnlichem, Übersinnlichem und dem Band beider (Kant); die Aufgabe, die mittelbare Einsicht beider Spaltungen durch die ‚höhere Einsicht ihrer Einheit‘ sowie des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses dieser Spaltungen zu erweisen (= Lieferung der genetischen Ableitung dieses Bandes und die Bestimmung des Gehaltes von x, y, z) (Fichte); 2.) Bedingung der Möglichkeit der Synthetizität a priori (Kant) vs. gegenseitige Vermittlung von Synthetizität a priori und Analytizität (Fichte).

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III. Vortrag Aufgabe der Wissenschaftslehre: Darstellung des reinen Wissens. Problem: Diese Darstellung besteht in der Darstellung eines nicht Darstellbaren. Erste Aufstellung der gleichzeitigen Spaltung von A in S und D sowie in x, y, z. Das Problem der Nichtdarstellbarkeit in diesem Schema. Der Unterschied zwischen Kants faktischer Darstellungsart und Fichtes Genesis. Das Für-sich-Bestehen (= Substanzialität) des Wissens. Zwei Schritte (ein faktischer und ein genetischer) zur Beantwortung der Frage, wie es zur substanziellen Einheit des Wissens kommt. Die sich selbst realisierende Wissenschaftslehre als Selbstrealisierung des Wissens. Die Zweideutigkeit des Begriffs der ‚Objektivität‘ und ihr Bezug zu zwei Auffassungen der Einheit. Erster Schritt: die Aufweisung zweier Begriffe der Einheit des Wissens: die unveränderliche (faktisch sich aufdrängende) Einheit des Wissens qua ‚reinem Unwandelbarem‘ und die Einheit des im konkreten Vollzug bestimmter Wissensfälle aufscheinenden ‚rein(en) Wandelbaren‘. Zweiter Schritt: die Aufweisung des genetischen und mittelbaren Bedingungsverhältnisses zwischen den beiden Termini dieser Zweiheit. Das rein Unwandelbare qua ‚Sicherzeugen des Wissens‘ und das rein Wandelbare qua ‚Bedingung dieses Sicherzeugens‘. Der revolutionäre Begriff der ‚Einheit‘ (qua ‚Wandel überhaupt‘) und dementsprechend der ‚Philosophie‘ in der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die Wissenschaftslehre qua Selbstdarstellung oder Selbstkonstruktion des Wissens. ‚Genesis‘ und ‚Faktizität‘. Die ‚Synthesis post factum‘ bei Kant. Das Zusammenfallen von Synthesis a priori und Analysis bei Fichte. Die Erscheinung des Wissens als höchste Faktizität in der Wissenschaftslehre. IV. Vortrag Abschluss der ‚Prolegomena‘ und Beginn der Wissenschaftslehre. Nochmals zur Frage nach dem Einheitspunkt von A einerseits und den beiden Disjunktionsfundamenten S und D sowie x, y, z andererseits. ‚Konstruktion‘ und ‚Nachkonstruktion‘. Die Rolle der Vernichtung bei der Bestimmung des Verhältnisses von Konstruktion und Nachkonstruktion. Die Selbstvernichtung der Nachkonstruktion. Das ‚Begreifen des Unbegreiflichen‘. Bemerkungen zum Begriff ‚im gleichen Schlage‘, zum Verhältnis von Einheit/Disjunktion und höchster Einheit/Bewusstsein sowie zur Unterscheidung von ‚Intelligieren‘ und ‚Begreifen‘. Die Einsicht des Unbegreiflichen durch Setzung und Vernichtung des Begreifens = die Einsicht der absoluten Einheit qua instantane Setzung und Vernichtung des Bewusstseins. Die ontologische Relevanz der Erzeugung dieser Einsicht: die Absetzung des ‚toten Seins‘ als ‚Träger der Realität‘. Die zweifache Genetisierung des Wandels (durch die notwendige Setzung des Begriffs) und der

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Unwandelbarkeit (durch seine Vernichtung), wodurch zugleich der Grund aller Realität offenbar wird. Die erste Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘ (d. h. hier: der notwendigen Vereinigung von Begreiflichem und Unbegreiflichem) und ihre vier Eigenschaften: Rolle des „Soll“; zweifache Gleichsetzung: Unbegreifliches = Unwandelbares und Begreifliches = Wandelbares; Genetisierung der Unbegreiflichkeit; Status des ‚Einleuchtens‘. Beantwortung zweier ‚Was-Fragen‘: 1.) bezüglich der Unbegreiflichkeit: Ergebnis der Genetisierung der Unbegreiflichkeit = Substanzialität des absoluten Wissens; 2.) bezüglich des substanten Wissens: die Sicherzeugung der Unbegreiflichkeit. Unterscheidung von ‚Begriff‘ und ‚Intuition‘. Das Licht qua genetisches Prinzip des absoluten Wissens (= erste Grundbestimmung des Wissens). Die zweite Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘: die ‚Begriff-Licht-Sein-Operation‘. Der ‚höhere Standpunkt‘ des zweiten Teils des vierten Vortrags: das Abbild und das Urbild der Wissenschaftslehre selbst als Elemente der (im fünfundzwanzigsten Vortrag zu entwickelnden) Bildlehre. Das gegenseitige Bestimmungsverhältnis von ‚Grundoperation der Genesis‘ und Bildlehre qua „Einheitsaugpunkt“ der ersten Genetisierungsstufe. Die dritte Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘: das „Grundgesetz alles Wissens“. Die Form dieser dritten Formel. Das ‚Wir‘ als Quelle der Einsicht. Die dem entgegenstehende Selbsterzeugung der Vernunft als Quelle der Einsicht. Das Einleuchten beider Glieder der Alternative. Die Notwendigkeit der Genetisierung eines „innerlich sich selbst Gleichbleibenden“. Immanenz und Emanenz. Die vierte Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘. V. Vortrag Hinzufügung zwei weiterer ‚Prolegomena‘. Faktizität und Genesis. Die „Einsicht der Einsicht des Lichts“ als zweite Grundbestimmung des Wissens. Die fünfte Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘. Skizzierung verschiedener ‚Szenarien‘ zur Vorbereitung des weiteren Gangs der Wissenschaftslehre. VI. Vortrag Eingeschobene methodologische Betrachtungen: 1.) Die Wissenschaftslehre begreift nicht die absolute Einheit und sie schaut sie auch nicht an, sondern sie ist sie. 2.) Die Wissenschaftslehre ist eine Prinzipienlehre, die den Einheits- und Disjunktionspunkt aufsucht. 3.) Das Verschmelzen des Konkreszierens mit dem ‚Akt‘ qua Einsicht des Prinzips. 4.) Die Einheit der Relata geht den Relata voraus. 5.) Die Notwendigkeit der Vernichtung des Begriffs.

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Aufstellung eines Schemas, das Auf- und Abstieg der Wissenschaftslehre veranschaulichen soll (die Wissenschaftslehre von 1804/II beschränkt sich letztlich jedoch auf den Aufstieg). VII. Vortrag Analyse (auf einer höheren Reflexionsstufe) der Form der Zweiheit von Bild und Abgebildetem. Der „Urbegriff“ qua dritte Grundbestimmung des Wissens. Das innere Durch(einander) von Licht und Abbild des Lichts. Skizzierung zum Verhältnis von „Urbegriff“ und „absolutem Licht“. VIII. Vortrag Zusätzliche Bemerkungen zu den Grundbegriffen der ‚Begriff-Licht-Sein-Operation‘. ‚Immanenz‘ und ‚Emanenz‘. Der materiale Inhalt des Lichts. Gleichsetzung von Licht, Leben und Realität. Das „absolute Licht“ bzw. „Urlicht“ als vierte Grundbestimmung des Wissens. Die zwei systematischen Grundgedanken des ersten Teils der Wissenschaftslehre von 1804/II und das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Begriffssetzung und Lichtsetzung. IX. Vortrag Nochmals zu den ‚Prolegomena‘. Zusammenfassung der Vorträge IV bis VII. Vorblick auf die Seins- und die Erscheinungslehre. Ungereimtheiten in der Architektonik der Wissenschaftslehre von 1804/II. Vergleich zwischen der Wissenschaftslehre von 1804/II und der Wissenschaftslehre von 1804/I. X. Vortrag „Leben“, „Licht“ und „Begriff“. Die Frage nach dem Einheits- und Disjunktionspunkt von „Urbegriff“ und „Urlicht“. Fichtes Bestimmung des Begriffs. Das Wesen des „Urlichts“. Der Bezug zwischen Begriff und Licht. „0“ qua „neues Licht“. Nochmals zum Unterschied zwischen ‚Faktischem‘ und ‚Genetischem‘. Drei Ebenen des Faktischen. Die spezifischen Disjunktionen des Urbegriffs und des Urlichts. Die Unmöglichkeit, den Begriff aus „0“ abzuleiten. Die Ableitung von „0“ aus dem Begriff mittels des „Soll“ (= fünfte Grundbestimmung des Wissens). Zusammenfassung des ersten Teils der Wissenschaftslehre von 1804/II. XI. Vortrag Die verschiedenen ‚Spielarten‘ des Realismus und des Idealismus auf der zweiten Genetisierungsstufe. Die Frage nach der Möglichkeit, dem Ich oder der Erscheinung (= Durch) ein lebendiges Sein zugrundezulegen. „Horizontale“ und „perpendikuläre“ Reihe von „Durch“ und „Leben“. Das Prinzip der Ableitung des Lichts aus dem Begriff. Bemerkung zum „Soll“ in Bezug auf den theoretischen und den praktischen Teil der Grundlage.

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Der durch die Energie (qua Prinzips des Begriffs) gekennzeichnete (niedere) Idealismus als sechste Grundbestimmung des Wissens. Die Abweisung von Energie und Intuition qua „leerer Schein“ durch den niederen Realismus: geschlossenes, inneres Leben = „0“ qua siebte Grundbestimmung des Wissens. Die zwei Wahrheitsbegriffe des Idealismus und des Realismus. Die Rolle des Bildes in Fichtes Wahrheitsbegriff, in dem Idealismus und Realismus zusammenfallen. Vorblick auf die weiteren Auseinanderlegungen des Realismus und des Idealismus. Wahrheitslehre und Irrtumslehre. XII. Vortrag Nochmals zu den Grundstandpunkten des Idealismus und des Realismus. Die gegenseitige Zurückweisung beider. Bestimmung des „höheren Realismus“ (= achte Grundbestimmung des Wissens) qua absolute Sichkonstruktion in Einheit mit dem Licht. Widerlegung des „höheren Realismus“ durch den „höheren Idealismus“ (= neunte Grundbestimmung des Wissens) qua Intuition der Reflexion des unbedingten Ansich. XIII. Vortrag (Berichtigende) Vorbemerkungen zur Methode. Erläuterung des Grundgegensatzes von ‚höherem Realismus‘ und ‚höherem Idealismus‘. Widerlegung des ‚höheren Idealismus‘. Kritik an Reinhold. Zurückweisung des durch das Selbstbewusstsein gekennzeichneten ‚höchsten Idealismus‘. ‚Tathandlung‘ und ‚Genesis‘. „Gefundenes Ich“ und „erzeugtes Ich“. Unterscheidung von Wissenschaftslehre als ‚Wissenschaft‘ und den ‚Deduktionen‘ der Wissenschaftslehre. Das „Urfaktum“ bzw. „Grundphänomen“. XIV. Vortrag Vier Einwände gegen Schelling. Nochmals zum ‚höchsten Idealismus‘ und seiner Widerlegung aufgrund seines Unvermögens, vom Seins-Setzen Rechenschaft abzulegen. Die Rolle der „Urphantasie“. Widerlegung des durch das intelligierte Ansich gekennzeichneten ‚höchsten Realismus‘. Das Zusammenfallen von ‚noch höherem Idealismus‘ und ‚noch höherem Realismus‘ (aus dem sich das „lebendige, ‚kategorisch‘ selbstkonstruierte Sein“ ergeben wird) als zehnte Grundbestimmung des Wissens. Die ‚Wesenslehre‘ (1804/I) qua ‚Seinslehre‘ (1804/II). Der ‚abgründige Umschlagspunkt‘ an der Schwelle der Seinslehre.

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XV. Vortrag Das Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre. Die vier Grundcharakteristiken des Seins: 1.) Sein als ‚Von sich‘ und ‚Durch sich‘; 2.) Sein als ‚In sich‘; 3.) Sein als „esse in mero actu“; 4.) Zusammenfallen von ‚Sein‘ und ‚Wir‘. Das Verhältnis des Prinzips der Wahrheits- und Vernunftlehre zum ersten Grundsatz der Grundlage. Der Status des Idealismus. Der Status des ‚absoluten Ich‘. XVI. Vortrag Die kategorische und die problematische Selbstkonstruktion des Seins. Die Wahrheits- und Vernunftlehre als ‚Lichtlehre‘ und die Erscheinungslehre als ‚Begriffslehre‘. Die vermittelnde Rolle des ‚Wir‘ (zwischen ‚Seinslehre‘ und ‚Erscheinungslehre‘). Das „lebendige, ‚problematisch‘ selbstkonstruierte Sein“ als elfte Grundbestimmung des Wissens. Das ‚Soll‘ (= zwölfte Grundbestimmung des Wissens) als In-das-Sein-Setzen der ‚Hypothetizität‘ und als Grundlage der Genetisierung des Seins. Erster Schritt der Charakterisierung des ‚Soll‘: der Zusammenhang von Genesis der Selbstkonstruktion und Genesis des Bewusstseins. Die Implikation der faktischen Voraussetzung des Projizierens im Sich-als-sich-selbst-konstruierend-Projizieren des Seins. Die ‚kategorische Hypothetizität‘. Quasi-phänomenologische Analyse des ‚Soll‘. Zwei Grundcharakteristiken des ‚Soll‘: das ‚Sich-selber-Machen‘ als transzendental gewendete ‚causa sui‘ Spinozas und das ‚Auf-sich-selber-Ruhen‘ als transzendental gewendete ‚creatio continua‘ Descartes’. Zwei abschließende Bemerkungen zum ‚Soll‘. XVII. Vortrag Unterscheidung der Wissenschaftslehre von allen anderen Systemen (insbesondere vom Schelling’schen): Bewusstsein der Notwendigkeit der ‚Ableitung der Erscheinung‘. Zweiter Schritt der Charakterisierung des ‚Soll‘. 1.) Abschließende Charakterisierung der ‚kategorischen Hypothetizität‘. 2.) Herausstellung einer ‚transzendentalen Verdoppelung‘ (= ‚Soll als Soll‘ bzw. ‚Als‘) qua dreizehnter Grundbestimmung des Wissens. 3.) Erweis des Wirklichwerdens der idealen Selbstkonstruktion des Seins. XVIII. Vortrag Berücksichtigung (nach der begrifflichen Bestimmung der idealen Selbstkonstruktion des Seins) der anschaulichen Seite derselben: Bestimmung der Selbstkonstruktion als ‚Sehen‘. Entgegensetzung von ‚neuem höheren Idealismus‘ und ‚neuem höheren Realismus‘. Das ‚Von‘ als ‚reine Vernunft‘ und Wesen des ‚Soll‘ (= vierzehnte Grundbestimmung des Wissens), worin Sein und Selbstkonstruktion vereinigt werden. Drei vorbereitende Bemerkungen zur Genetisierung des ‚Von‘:

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Unterscheidung des Standpunkts der Wissenschaftslehre und dem des gewöhnlichen Wissens; Aufhebung des Unterschieds von idealer und realer Selbstkonstruktion im ‚höchsten Realismus‘; Aufweisung einer Zweiheit in der Vernunfteinheit. Vergleich mit dem Ansatz Jacobis hinsichtlich des Bezugs von ‚Sagen‘ und ‚Tun‘. XIX. Vortrag Wiederholende Betrachtungen. Bestimmung des sich selbst konstruierenden ‚Von‘. ‚Von‘ bzw. Licht als ‚Von‘ und ‚Durch‘. ‚Von‘ als ‚kategorische Hypothetizität‘. ‚Von‘ und ‚Wir’. Zwei Bestimmungen der Einheit des Lichts. Gegenseitiges Durchdringen von ‚Von‘ und ‚Durch‘ bzw. von Licht und Genesis. Neuer Begriff des Lichts und ‚neues Von‘. Neues Licht als transzendentale Bedingung des ‚neuen Von‘. Zusammenfallen von ‚neuem Von‘ und ‚Wir‘ in der „Urerscheinung“. XX. Vortrag Wiederholung der Einsichten vom Ende des vorigen Vortrags mithilfe einer neuen (synthetischen) Darstellungsart. Genetisierung des ‚Von‘ und der Selbstkonstruktion. Die „Urerscheinung“ (= fünfzehnte Grundbestimmung des Wissens) als Erscheinung im Licht. Vergleich mit dem § 1 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95. Beweis der Rechtmäßigkeit der Identifikation von Licht und ‚neuem Von‘ durch deren bloße Möglichkeit und Faktizität. Nochmals zum gegenseitigen Durchdringen von Licht und Genesis. Ableitung des „sekundären Wissens“. Das ‚neue Von‘ (= absolute Selbstgenesis) qua ‚Urlicht‘. XXI. Vortrag Erste (eingeschobene) Erörterung der Vernunftlehre in der Phänomenologie. Vorgriff auf den Disjunktionsgrund von faktischem und genetischem Wissen bzw. von Sein und Genesis. Die Bedeutung dieser erneuten Einführung des ‚Soll‘. ‚Soll‘ und Sein. Das innere Sichgenesis und objektive Ansicht derselben vereinigende ‚höhere Prinzip‘. Das „höchste Wissen“ als „positive Nichtsichgenesis“. Vorgriff auf den Standpunkt der Vernunft und auf ihr Verhältnis zum Verstand. XXII. Vortrag Die nun anstehende Aufgabe: die Genetisierung des transzendentalen Wissens. Vorblick auf die letzten beiden ‚Genetisierungsstufen‘. Die Genetisierung des Seins im Wissen. Das ‚Sein-Erscheinung-Wissen-Schema‘ setzt sich in der Phänomenologie an die Stelle des ‚Begriff-Licht-Sein-Schemas‘. Die drei Hauptcharakteristiken der Deduktion des Seins. Die Disjunktion von gewöhnlichem und transzendentalem Wissen. ‚Objektives und intelligibles‘ Zusammenfallen von Licht und ‚Wir‘ als Grundcharakteristikum des transzendentalen Wissens.

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Anmerkung zur Gliederung der Phänomenologie. Das ‚neue Soll‘ qua ‚Wir‘ als sechzehnte Grundbestimmung des Wissens. Die Rolle der ‚kategorischen Hypothetizität‘ (als Wesen des ‚Wir‘) in dieser Grundbestimmung des Wissens. Das genetische Vereinigen als das genuin Schöpferische der Methode der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die Genesis absoluter Sichgenesis als Form der Einsicht des Sein und Sichgenesis (bzw. Licht) vereinigenden transzendentalen Wissens. Vier Bestimmungen dieser (den ‚idealistischen‘ Standpunkt kennzeichnenden) Form. XXIII. Vortrag Ableitung des (den ‚realistischen‘ Standpunkt kennzeichnenden) Inhalts der Einheit von Sein und Sichgenesis. Gewissheit (= siebzehnte Grundbestimmung des Wissens) als genuine Wissensart des transzendentalen Wissens. Gewissheit als Einheit abzuleitender (Seiten)glieder (= „Modifikationen“ der Gewissheit). Auseinanderlegung des Gehalts der Gewissheit. Die vier Momente des ‚Was‘ der Gewissheit: 1.) Auf-sich-selber-Beruhen; 2.) reine Unveränderlichkeit; 3.) absolute Indifferenz; 4.) gegenseitige Bedingung von „Qualität“ und „Quantitabilität“. Gewissheit als Prinzip der Erscheinung und als Einheit von ursprünglichem Licht und lebendigem Sein. Die Legitimation (= das ‚Wie‘) der Gewissheit durch die Aufweisung des Zusammenfallens von ‚Wir‘ und „Gewissheit“ selbst. Ableitung der „Modifikationen“ bzw. „Grundbestimmungen“ der Gewissheit: Projizieren (bzw. Sichprojizieren) als Anschauung sowie Anschauung der Anschauung = Sein des Wissens. XXIV. Vortrag Das ‚Soll‘ als Bedingung des Selbstprojizierens. Die Funktion dieses neuen ‚Soll‘. Das ‚Gesetz‘ (= achtzehnte Grundbestimmung des Wissens). Die Genetisierung dieses Gesetzes im ‚Gesetz der Gesetzmäßigkeit‘ überhaupt, d. h. im ‚Gesetz des Gesetzes‘ (= neunzehnte Grundbestimmung des Wissens), als Mittelglied des realen Sichprojizierens und der stehenden Intuition. ‚Äußere Form‘ und ‚innere Materie‘ des Wesens des Wissens (qua Licht) und ihr gegenseitiges Bedingen. Scheinbare Faktizität der Genetisierung der Gesetzmäßigkeit. XXV. Vortrag Die Bildlehre. Deduktion der realen Voraussetzung des Gesetzes. Die innere Einheit von Setzen des Gesetzes und Selbstbilden des Bildes. Aufgehen des idealistischen und des realistischen Standpunkts in dieser ursprünglichen Einheit. Das ‚Bild als Bild‘ als eigentlicher Standpunkt des Wissens. Die drei Grundmomente der ‚Bildlehre‘. Das Gesetz des Bildes als zwanzigste Grundbestimmung des transzendentalen Wissens. Die die ‚Wissenschaftslehre in specie‘ kennzeichnende Einsicht der Genesis des wirklichen Daseins und Erscheinens des absoluten Wissens in uns als

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Eröffnung der fünften Genetisierungsstufe. Reziprozität von Zur-Wissenschaftslehre-Kommen-Sollen bzw. Zum-absoluten-Wissen-Kommen-Sollen und Erscheinung (bzw. Dasein) des absoluten Wissens. Gegenseitiges Bedingungsverhältnis der Einsicht ‚das Dasein ist durch das Soll des Seins‘ und der Bedingtheit des absoluten Wissens durch das Dasein dieses absoluten Wissens. Der Einheitspunkt dieser beiden Glieder (= ‚absolute Position der Genesis des Daseins des absoluten Wissens‘) als einundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens. Vergleich zwischen Wissenschaftslehre und christlicher Lehre. Einerleiheit von absolutem Wissen und ewigem, seligem Leben. Vorblick auf die vier ‚Standpunkte‘ der absteigenden Ebene im letzten Vortrag. Auflösung des Paradoxes der Behauptung des alleinigen ‚Werts‘ des absoluten Wissens der Wissenschaftslehre sowie der ‚Wertlosigkeit‘ der ‚Wissenschaftslehre in specie‘ im Kontrast zur eigentlichen systematischen Bedeutung der ‚Wissenschaftslehre in specie‘. XXVI. Vortrag Vorblick auf die drei letzten Vorträge. Wiederholende Bestimmung der Gewissheit (mittels einer die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ legitimierenden transzendentalen ‚Verdoppelung‘ der Genetisierung auf der vorigen Genetisierungsstufe). Das ‚ideale Sehen oder Anschauen‘. Das ‚innerlich sich äußernde Sein‘ qua Sein des Sehens. Zwei Begriffe des Seins und zwei Begriffe des Sehens. Der „Trieb“. Das ‚Wir‘ als zweiundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens. Das Prinzip des ‚Zum-Wir-Werdens‘ des absoluten Wissens. Anmerkung zum Verhältnis zur ‚Seins‘- und ‚Erscheinungslehre‘ sowie zur ‚Fünffachheit‘. Vorgreifender Hinweis auf ‚neue Synthesen‘ bezüglich 1.) der Vereinigung von ‚Wahrheit an sich‘ und ‚Erscheinung‘ sowie 2.) eines ‚besonderen entäußernden Prinzips‘ zwischen Wissen und Erscheinung des Wissens. XXVII. Vortrag Vertiefung des Wesens des Sehens (qua Bedingung der Gewissheit). Das ‚energisch gefasste‘ Sehen. Die Setzung des Daseins des Sehens (= dreiundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens). Die Rehabilitierung des ‚ontologischen Arguments‘ mittels der Ermöglichung – durch das Sichvernichten – des Sichbeziehens auf ein Anderes. Der Standpunkt der ‚absoluten Vernunft‘. Fichtes Vernunftbegriff im Kontrast zu jenem Kants. Vereinigung von absolutem Wissen und ‚Wir‘. Faktische Vernunfteinsicht und (vermeintlich) genetische Vernunfteinsicht. Fünf Gründe, weshalb damit aber noch nicht das ursprüngliche und absolute Dasein der Vernunft erreicht wurde. Beginn der Genetisierung der vierundzwanzigsten Grundbestimmung des Wissens: die Genetisierung des Faktums des Sich-Machens der Vernunft im ‚abgründigen Umschlagspunkt‘. Gegenseitige Abhängigkeit von Genesis und

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Gesetz, von Erscheinung und Freiheit. Wissenschaftslehre als unmittelbare Äußerung und Leben der Vernunft. XXVIII. Vortrag Abschluss der im vorigen Vortrag begonnenen Genetisierung. Das ‚notwendige Sich-intuierend-Machen‘ der Vernunft als Grund ihres Daseins überhaupt. Abweisung der Intuition in diesem Sichmachen der Vernunft. Das absolute, innere, effektive Sichmachen der Vernunft als vierundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens. Resultat einer neuerlichen Objektivierung: die ‚absolut ursprüngliche‘ Disjunktion von Machen des Subjekts (Bilden) und Machen des Objekts (Urkonstruktion). Vier Glieder bzw. ‚Effekte‘ des Sichmachens der Vernunft: Subjekt, Objekt, Bilden und Urkonstruktion. Resultat des Zurückhaltens dieser neuerlichen Objektivierung: Wirkliche Einsicht der einen Vernunft im Zusammenfallen von ursprünglichem Machen und nachmachendem Bild sowie von Ich und Wissenschaftslehre. Die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ qua Erscheinung der entstehenden Vernunft als entstehender (= fünfundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens) im ‚abgründigen Umschlagspunkt‘ des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von sichmachender Vernunft und Ich (= Bewusstsein und Selbstbewusstsein). Die für die Erscheinung und für das Verhältnis von Wissen und Sein transzendental legitimierende Funktion der ‚Erscheinung der Erscheinung‘. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von ‚Erscheinung der Erscheinung‘ und faktischer Erscheinung. Das sich im ‚ersten Grundgesetz‘ sowie in der ‚ersten Anwendung‘ des Grundsatzes aussprechende Zusammenfallen von Wissenschaftslehre qua Erscheinungslehre und der die Wissenschaftslehre zu ihrem eigenen Selbstverständnis bringenden ‚Wissenschaftslehre in specie‘. Das Verhältnis der Prinzipien der Seins- und der Erscheinungslehre zum ersten Grundsatz der Grundlage. Kurze Ableitung (dank ‚gesonderter Prinzipien‘) der ‚Realität‘ und ihrer möglichen Ansichten. Parallele zur Anweisung zum seligen Leben. Die ‚Standpunkte‘ der ‚Realität‘ und ihre ‚Grundprinzipien‘. Die Entsprechung derselben mit den fünf ‚Grundmomenten des transzendentalen Wissens‘. Kurzer Hinweis auf die daraus hervorgehenden 25 ‚ursprünglichen Grundbestimmungen des Wissens‘. Zwei abschließende methodologische Bemerkungen. Kurzes Fazit zu den Grundgedanken der Phänomenologie. Tabellarische Aufstellung der 25 Grundbestimmungen des Wissens in der Wissenschaftslehre von 1804/II

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Schluss Zur Methode der Wissenschaftslehre von 1804/II. Zur Gültigkeit der formallogischen Gesetze. Das Projekt einer transzendentalen Logik. Die lebendige Vollzugshaftigkeit. Die Selbstvernichtung. Der sich entziehende ‚Umschlag‘. Zum wesentlichen Gehalt der Wissenschaftslehre von 1804/II. Aufzählung der inhaltlichen Ausgestaltung der 25 Grundbestimmungen des Wissens. Zusammenfassung der Quintessenz der Phänomenologie. Die fünf Hauptthesen der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die Verortung der Wissenschaftslehre von 1804/II zwischen Transzendentalphilosophie und Ontologie. Die Verbundenheit von Transzendentalität und Phänomenalität bei Kant und Fichte.

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EINLEITUNG Bien que Fichte affirme l’existence de 25 moments fondamentaux du Savoir […], il n’indique à peu près nulle part dans son exposé la division en synthèses et en points de vue. Plus encore que dans la Wissenschaftslehre 1801, peut-être, l’armature de la déduction reste invisible. 1

M. Gueroult

Die Principien sind, in der höchstmöglichen Klarheit und Bestimmtheit hingestellt; den Schematismus kann Jeder sich selber machen, der die Principien wahrhaft verstanden und durchdrungen hat. 2

J. G. Fichte

Der zweite Zyklus 3 der Fichte’schen Wissenschaftslehre von 1804 gehört zu den denkerischen Höchstleistungen der abendländischen Philosophie. Er muss daher auch dank der Genauigkeit der Ausführung und aufgrund seines systematischen Gehalts noch vor der – aus historischer Perspektive – deutlich wirkungsmächtigeren Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 als Fichtes Hauptwerk angesehen werden. Die Geschichte dieser Vortragsreihe ist freilich eine ganz eigene. Zwar hat Fichte sie (in 28 ‚Vorträgen‘) öffentlich – in seiner Berliner Wohnung – abgehalten, nämlich gut zwei Monate nach Kants Ableben zwischen dem 16. April und dem 8. Juni 1804, aber besonders zahlreich war – gemessen an dem erhofften Wirken dieses Denkens – das anwesende Publikum nicht. 4 Sie schließt an einen unmittelbar zuvor (zwischen dem 17. Januar und dem 29. März desselben Jahres) am gleichen Ort veranstalteten ersten Vorlesungszyklus von 30

1 „Obwohl Fichte die Existenz von 25 Grundmomenten des Wissens behauptet [Gueroult bezieht sich explizit auf die letzten beiden Seiten der Wissenschaftslehre von 1804/II (GA II/8, S. 418– 420)], zeigt er nahezu an keiner Stelle seines Vortrags die Teilung in Synthesen und Standpunkten an. Mehr noch vielleicht als in der Wissenschaftslehre 1801 bleibt die Armatur der Deduktion unsichtbar“, M. Gueroult, L’Évolution et la structure de la doctrine de la science chez Fichte, Paris, Les Belles Lettres, 1930, Band II, S. 109 (Anmerkung 10). 2 GA II/8, S. 420. 3 Zur Anzahl der Zyklen insgesamt siehe die Fußnote 7. Der Band II/8 der J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ist ausschließlich diesem zweiten Zyklus gewidmet. Er druckt die beiden verfügbaren Versionen dieses Textes – nämlich die Fassung der Sohnes-Ausgabe in den ‚Sämtlichen Werken‘ sowie die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Halle aufgefundene ‚Copia‘ – ‚en regard‘ ab. Unter Berücksichtigung der durch den Setzer verursachten Druckfehler in der Sohnesausgabe ist diesem Text gegenüber der ‚Copia‘ inhaltlich der Vorzug zu geben. 4 Unter den ca. 20–40 Teilnehmenden befanden sich Frauen und Männer (Ärzte, Juristen, Literaten, Lehrer usw.) sowie „erste Staatsmänner“, wie die eigentlich der europäischen Außenpolitik gewidmete Wochenschrift ‚Nordische Miszellen‘ im Mai 1804 mitteilte (siehe hierzu R. Lauth, GA II/8, S. XLIII).

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‚Vorträgen‘ an (= die Wissenschaftslehre von 1804/I), 5 der für diejenigen, die ihm nicht haben beiwohnen können, „in einer andern“, und wie Fichte hoffte, „noch klärern Form“6 wiederholt werden sollte. 7 Publiziert wurde sie erstmals 1834, d. h. zwanzig Jahre nach Fichtes und drei Jahre nach Hegels Tod. Diese Veröffentlichung im zweiten Band der ‚Nachgelassenen Werke‘, die Fichtes Sohn Immanuel Hermann zu verdanken ist, hat philosophiegeschichtlich praktisch keinerlei Wirkung ausgeübt: weder bei dem erst zwanzig Jahre später (1854) verstorbenen Schelling, noch bei den maßgeblichen Philosophinnen und Philosophen des späteren 19. sowie des gesamten 20. Jahrhunderts – und das gilt auch noch bis heute. Der Tatbestand, dass dieses Meisterwerk von Anfang an und nun bereits seit über 200 Jahren ein mehr oder weniger unbemerktes Dasein fristet, steht – so die paradoxe Situation – in auffälligem Missverhältnis zu seiner fundamentalen philosophischen Bedeutung. Fichtes Wissenschaftslehre 8 allgemein, und die hier betrachtete Fassung insbesondere, gehört zu jener Art von Texten, die den denkerischen Selbstvollzug der einzelnen Leserin nicht bloß ausdrücklich empfehlen, sondern für das Verständnis des darin Behandelten selbst zur absoluten Voraussetzung haben. Mit dieser Anweisung schließt Fichte einerseits an Platons Dialoge, andererseits an Descartes’ Meditationen über die erste Philosophie an. Ohne einen solchen Selbstvollzug hat die Wissenschaftslehre keinen angebbaren Gegenstand. Damit stellt GA II/7, S. 66-235. Manuskript VI. 1, Varia 3: Ir (im Fichte-Nachlass der Deutschen Staatsbibliothek Berlin), zitiert aus J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 18042, Hamburg, F. Meiner, 1977, S. 8. 7 An den zweiten schloss sich noch ein dritter Vortrag an (= die Wissenschaftslehre von 1804/III), den Fichte zwischen dem 5. November und dem 31. Dezember ebenfalls in Berlin auf 24 Sitzungen verteilte (GA II/7, S. 301-368). Die Erlanger Wissenschaftslehre vom Sommer 1805, die in 29 ‚Stunden‘ vor einem akademischen Publikum vorgetragen wurde, wird zudem als „4ter Vortrag der Wissenschaftslehre“ bezeichnet (GA II/9, S. 179-311). Die insgesamt vier Fassungen von 1804 und 1805 machen demnach ein zusammengehöriges Ganzes aus, auch wenn inhaltlich und strukturell mitunter doch deutliche Abweichungen – vor allem zwischen 1804/I und 1804/II (bzw. 1804/III) sowie zwischen 1804/II (bzw. 1804/III) und 1805 – festzustellen sind. Ein Strukturvergleich zwischen all diesen Fassungen steht noch aus und bleibt deswegen – heute vielleicht mehr denn je – ein bedeutendes Forschungsdesiderat. 8 Insgesamt liegen in der Gesamtausgabe achtzehn (vollständige bzw. teilweise erhaltene) Fassungen der Wissenschaftslehre vor: die Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie & Praktische Philosophie (1793/94), die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), die Wissenschaftslehre nova methodo (Hallesche Nachschrift sowie die Nachschrift Eschen) (1796/97), die Wissenschaftslehre nova methodo (Nachschrift Krause) (1798/99), die Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre (1800), die Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02), die Wissenschaftslehre 1804/I, die Wissenschaftslehre 1804/II, die Wissenschaftslehre 1804/III, die Erlangener Wissenschaftslehre (1805), die Königsberger Wissenschaftslehre (1807), die Wissenschaftslehre 1810, die Wissenschaftslehre 1811, die Wissenschaftslehre 1812, die Wissenschaftslehre 1813/I (Frühjahr), die Wissenschaftslehre 1813/II (Herbst) sowie die Wissenschaftslehre 1814. Systematisch von Belang sind ferner die Diarien I, II und III von 1813 (bis Anfang 1814) sowie diverse (späte) Einleitung(svorlesung)en in die Wissenschaftslehre. 5 6

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dieser Vortragszyklus eine völlig eigenständige Textgattung dar – bzw. er führt, und das kann nicht hoch genug geschätzt werden, zur Aufhebung der Vertextlichung und Verschriftlichung der Philosophie überhaupt, da alles allein auf den eigenen Denkvollzug ankommt. Dadurch ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit, die nicht nur das Verständnis überhaupt erschwert, sondern die Möglichkeit ihres ‚Kommentars‘ oder ihrer ‚Erläuterung‘ – und genau das soll hier versucht werden – in Frage stellt. Ein Kommentar geht von der Voraussetzung aus, dass es etwas zu Kommentierendes und dadurch in gewisser Weise Festgesetztes oder ggf. erst Festzusetzendes gibt, das den von der Autorin dargelegten Gedanken (nicht eine subjektive Sichtweise, sondern das objektiv Intendierte) wiedergibt. Wenn aber außer dem angegebenen, je zu leistenden Selbstvollzug dieser Gehalt gar ‚nichts‘ ‚ist‘, sondern im Selbstvollzug allererst erzeugt wird, wie soll dann ein solcher Kommentar möglich sein? Wie kann man ferner überhaupt gewiss sein, dass die Auslegung wirklich den Gehalt trifft? Und wie soll gewährleistet sein, dass das von der Leserin Verstandene seinerseits sowohl der Intention des Kommentars als auch jener des zu kommentierenden Textes entspricht? 9 Wie kann – noch darüber hinaus – Fichte dem zuweilen an ihn adressierten Solipsismusvorwurf (bzw. dem Nihilismusvorwurf), 10 der sich auf die absolute Selbstsetzung des Ich in der Grundlage zu berufen können meinte, entgehen? Laut seiner Grundauffassung kommt der Gegenstand der Wissenschaftslehre der tatsächlichen Realisierung und damit auch der überzeugenden Rechtfertigung des transzendentalen Wissens, des Wissens als Wissen, gleich – es „gibt“ also, wie er es ausdrückt, „Wahrheit“. Zugleich besteht – wie bereits die ‚Begriffsschrift‘ von 1794 indirekt eingeräumt hatte 11 – ein Abgrund zwischen jenem performativen Vollzug und jeglicher Darstellung12 davon – das gilt insbesondere für die von Fichte selbst gelieferten Fassungen der schriftlich niedergelegten Wissenschaftslehre, aber selbstverständlich auch, und a fortiori, für jeglichen Kommentar derselben. In der Wissenschaftslehre ist in Bezug auf ihren Gegenstand die Spannung zwischen unzugänglichem Absoluten und notwendiger Selbsterzeugung auszuhalten. Diese Schwierigkeit wird von Fichte ernst genommen und reflektiert. Die Wissenschaftslehre von 1804/II versteht sich als Lösung des darin ausgedrückten Problems. 9 Eine Form des hier dargestellten Problems wird über ein Jahrhundert später in Heideggers Behandlung des ‚hermeneutischen Zirkels‘ wieder auftreten. 10 Siehe etwa Jacobis berühmtes „Sendschreiben“ an Fichte, F. H. Jacobi: Brief an Fichte in Jena vom 3.-21.3.1799 nebst drei Beilagen und einem Anhang, in GA III/3, S. 224-281, hier: S. 238, 240f. und 245. 11 J. G. Fichte, „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft“, GA I/2, S. 140-147. 12 Gefordert wird also – in den Begriffen der Wissenschaftslehre von 1804/I – die „absolute Darstellung, als sich absolut darstellend“ (GA II/7, S. 85) – was freilich gerade auch das Problem ausmacht.

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Wenn man die zwar immer weiter anwachsende, aber der spezialisierten Fichte-Forschung vorbehaltene Literatur13 zu diesem Text betrachtet, fällt sofort ins Auge, wie unterschiedlich die Auslegungen, wie voneinander abweichend die Perspektiven sind, von denen aus das Verständnis des Textes erschlossen werden soll. Das liegt nicht an einer bloß einseitigen Sichtweise der jeweiligen Kommentatorin, sondern an der Natur des darin behandelten Gegenstands selbst. Dadurch wird angezeigt, dass der hier versuchte Ansatz selbstverständlich auf exakt dieselben Schwierigkeiten trifft wie jeder andere auch. Es kann nur darum gehen, dazu beizutragen, was Fichte auch selbst postuliert und unterstreicht: nämlich die Bedingungen des Verständnisses offenzulegen, was nichts anderes bezwecken kann, als ihm darin zu folgen, zum besagten denkenden Selbstvollzug anzuleiten. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass es nicht doch Kriterien dafür gibt, wie sich die Lesarten in Bezug auf ihre ‚Trefflichkeit‘ (oder ggf. auf ihre fehlende Sachangemessenheit) unterscheiden lassen (dazu gleich mehr). Was die Wirkungsgeschichte angeht, müssen zunächst – angesichts der vielbeschworenen Dunkelheit des Textes – die Voraussetzungen für ein breiteres Verständnis desselben geschaffen werden. Es kann nicht bei allgemeinen Hinweisen 13 Zu nennen wären u. a. C. Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800-1806, Stuttgart-Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 1999; R. Barth, Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein. Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff – Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege, Tübingen, Mohr Siebeck, 2004; J. Beeler-Port, Verklärung des Auges. Konstruktionsanalyse der ersten Wissenschaftslehre J. G. Fichtes von 1804, Bern/Berlin usw., Peter Lang, 1997; M. Brüggen, Fichtes Wissenschaftslehre. Das System in den seit 1801/02 entstandenen Fassungen, Hamburg, F. Meiner, 1979; J.-C. Goddard & A. Schnell (Hsg.), L’Être et le phénomène. La Doctrine de la Science de 1804 de J.G. Fichte. Sein und Erscheinung. Die Wissenschaftslehre 1804 J.G. Fichtes, Paris, Vrin, 2009; M. Gueroult, L’Évolution et la structure de la doctrine de la science chez Fichte (op. cit.); M. Ivaldo, I Principi del Sapere. La visione trascendentale di Fichte, Napoli, Bibliopolis, 1987; W. Janke, J. G. Fichte. Wissenschaftslehre 1804. Text und Kommentar, Frankfurt am Main, V. Klostermann, 1966; ders., Fichte. Sein und Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin/New York, W. de Gruyter, 1970; ders., Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York, W. de Gruyter, 1993; G. Meckenstock, Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804-1806, Göttingen, 1973; ders. Vernünftige Einheit. Eine Untersuchung zur Wissenschaftslehre Fichtes, Frankfurt am Main/Bern/New York, Peter Lang, 1983; H.-J. Müller, Subjektivität als symbolisches und schematisches Bild des Absoluten. Theorie der Subjektivität und Religionsphilosophie, Königstein, Forum Academicum, 1980; C. A. Riedel, Zur Personalisation des Vollzuges der Wissenschaftslehre J. G. Fichtes. Die systematische Funktion des Begriffes "Hiatus irrationalis" in den Vorlesungen zur Wissenschaftslehre in den Jahren 1804/05, Stuttgart, F. Steiner, 1999; U. Schlösser, Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 als Kritik an der Annahme entzogener Voraussetzungen unseres Wissens und als Philosophie des Gewißseins, Berlin, Philo Verlagsgesellschaft, 2001; A. Schmidt, Der Grund des Wissens. Fichtes Wissenschaftslehre in den Versionen 1794/95, 1804/II und 1812, Paderborn/München/Wien/Zürich, F. Schöningh, 2004; I. Schüßler, Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wissenschaftslehre. Grundlage der Gesamten Wissenschaftslehre 1794/95. Zweite Darstellung der Wissenschaftslehre 1804, Frankfurt am Main, V. Klostermann, 1972; S. Schüz, Transzendentale Argumente bei Hegel und Fichte. Das Problem objektiver Geltung und seine Auflösung im nachkantischen Idealismus, Berlin/New York, W. de Gruyter, 2022; J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 18042 (op. cit.).

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und Kurzresumées bleiben, sondern der Text muss sowohl als ganzer möglichst wortgetreu ausgelegt, als auch in seiner allgemeinen inhaltlichen Bedeutung interpretiert werden. Daher kann nicht bloß „Jeder“ den Schematismus (d. h. die genauen Ausgestaltungen dessen, was die ‚Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens‘ der Wissenschaftslehre ausmacht) „sich selber machen,“ 14 sondern er bzw. sie muss es auch. Dieser zweifachen Aufgabe verschreibt sich der vorliegende Kommentar. Von hier aus ließe sich dann die darin entwickelte grundlegende Position gegenüber den anderen Systemen der Klassischen Deutschen Philosophie – und dabei in erster Linie gegenüber dem späten Schelling und dem späten Hegel – stark machen. Und darüber hinaus wäre es ein nicht unbedeutendes Desiderat, die Aktualität Fichtes im zeitgenössischen Kontext zu erörtern. 15 Ein wichtiger Aspekt der Rezeptionsgeschichte, der zugleich systematisch von höchster Relevanz ist und aus diesem Grunde im Mittelpunkt dieser Einleitung stehen soll, bezieht sich auf die Struktur des Textes. Gibt es eine klare Gliederung und wenn ja, worin besteht das Gliederungsprinzip? Wie gestaltet sich die Struktur selbst? Aber auch den inhaltlichen Aufbau gilt es zu klären: Wieviel Teile gibt es insgesamt und wie sind diese systematisch einzuschätzen und zu bewerten? Diese Fragen gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig. Der erste Punkt, den es vor allen anderen zu klären gilt, betrifft das Gliederungsprinzip. Mit der Klarstellung desselben steht und fällt die Möglichkeit, die Sachangemessenheit des Selbstvollzugs von Fichtes Gedankengebilde zu erproben und zu verifizieren und auch die entsprechenden Kriterien dafür mitzuliefern. 16 Was ist der bestehenden Literatur hinsichtlich des Status und ggf. der Rechtfertigung des Gliederungsprinzips zu entnehmen? Zunächst sollen die wichtigsten Studien zur Struktur des Textes kurz vorgestellt werden 17 – nämlich die von Gueroult, Widmann, Janke, Meckenstock, Ivaldo und Asmuth. Bei dieser Darstellung wird unvermeidlich auf Begriffe Bezug genommen, die erst im Kommentar selbst verständlich gemacht werden können. *

GA II/8, S. 420. Diese Richtung hat der Verf. – zumindest in Bezug auf die zeitgenössische transzendentale Phänomenologie – verschiedentlich verfolgt: Siehe Was ist Phänomenologie?, Frankfurt am Main, Klostermann, 2019; Wirklichkeitsbilder, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015 und insbesondere Seinsschwingungen, Tübingen, Mohr Siebeck, 2020. 16 Ich danke Leonard Ip für diesen klärenden Hinweis. 17 Ein Teil der folgenden Darstellungen stützt sich auf die äußerst hilfreichen Ausführungen von J. Beeler-Port, Verklärung des Auges, op. cit., insbesondere S. 85-117. Dessen Konstruktionsanalyse der Wissenschaftslehre von 1804/II bleibt eng an die Arbeiten Wolfgang Jankes angelegt, bezieht dabei aber insbesondere den zweiten Teil dieser Fassung der Wissenschaftslehre mit ein. 14 15

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Gueroult. Das Instrumentarium für die Bestimmung der Struktur der Wissenschaftslehre von 1804/II ist laut Martial Gueroults wegweisendem Monumentalwerk aus dem Jahre 1930 bereits in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 angelegt. 18 Darin wird – so seine originelle These – die Grundunterscheidung von „analytischem“ und „synthetischem“ Prozess eingeführt. Der analytische Prozess stellt die Konstruktionsprinzipien des Selbstbewusstseins auf; der synthetische Prozess konstruiert das Bewusstsein selbst nach geometrischer Art. Für die Wissenschaftslehre entscheidend ist insbesondere der analytische Prozess. Er nimmt die gesamte Wissenschaftslehre von 1804/II ein (nachdem er in der Grundlage lediglich die ersten drei Paragraphen umfasste; der synthetische Prozess mit den ihm eigenen Konstruktionen macht laut Gueroult den theoretischen und den praktischen Teil derselben [also die §§ 4-11] aus). Erst von der Bestimmung des analytischen Prozesses aus lasse sich dann – mittels des synthetischen Prozesses – die Konstruktion von Bewusstsein und Wirklichkeit analog zur geometrischen Konstruktion vollziehen. Etwas anders ausgedrückt: Der analytische Prozess liefert die Bedingungen des (Selbst)bewusstseins. Auf dieser Grundlage wird es synthetisch konstruiert – und zwar mithilfe der Selbstvernichtung des analytischen Prozesses. Daraus folgt dann auch die Konstruktion der Wirklichkeit. Diese synthetische Konstruktion sei aber gar nicht mehr Gegenstand der Wissenschaftslehre von 1804/II selbst. 1804 halte Fichte zwar der Sache nach an der Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischem Prozess fest, aber die Unterteilung in 25 Synthesen (im Sinne von ‚Grundbestimmungen des Wissens‘) erfolgt nicht, wie in der Grundlage, im synthetischen, sondern im analytischen Prozess. 19 Mit anderen Worten, die sich darin aussprechende fünfmalige Fünf(fach)heit wird innerhalb der Genetisierung der Prinzipien des transzendentalen Wissens selbst strukturell herausgearbeitet. Hierfür sind laut Gueroult drei Verfahrensweisen notwendig und maßgeblich. Zwei davon sind auch – was die Wissenschaftslehre von 1804/II angeht – zweifellos zutreffend; die dritte kann der hier vertretenen Auffassung zufolge jedoch nicht aufrechterhalten werden. Zum einen stellt Gueroult eine Bewegung heraus, die in der Wissenschaftslehre von 1804/II kontinuierlich zwischen zwei Gesichtspunkten hin- und herschwingt. Alle Synthesen lassen sich demnach entweder einem realistischen oder einem idealistischen Standpunkt – bzw. der Überwindung dieser Zweiheit – zuordnen. Zum anderen stellt Gueroult stimmig heraus, dass insgesamt fünf „Reflexionsstandpunkte (points de vue de la réflexion)“ auszumachen sind, innerhalb derer jeweils eine Fünffachheit entwickelt wird, sodass sich daraus insgesamt 25 Grundbestimmungen des Wissens ergeben. Was hingegen – mit einer M. Gueroult, L’Évolution et la structure de la doctrine de la science chez Fichte (op. cit.). Auf die Tatsache, dass dies methodologisch nicht unproblematisch ist, hat bereits J. BeelerPort hingewiesen, Verklärung des Auges, op. cit., S. 91. 18 19

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bedeutenden Ausnahme – als rein konstruiert erscheint, ist die Auffassung, dass im Übergang von einem Reflexionsstandpunkt zum jeweils nächsten, die letzte Synthese des vorherigen mit der ersten Synthese des auf ihn folgenden identisch seien. (Das trifft allein auf den Übergang von der zehnten auf die elfte Grundbestimmung des Wissens zu, wobei diese allerdings eine jeweils unterschiedliche Funktion haben.) 20 Nicht nur ist diese Auffassung faktisch nicht belegbar, sondern auch arithmetisch ist es auf diese Weise unmöglich, zu 25 gehaltlich unterschiedenen Grundbestimmungen des Wissens zu kommen. 21 Gleichwohl muss Gueroults Kommentar als bahnbrechend bezeichnet werden, was in der Forschung insofern durchaus anerkannt wurde, als sich die maßgeblichen Kommentare nach ihm in der Mehrzahl mit seinen Grundthesen auseinandergesetzt haben. An diesem positiven Befund ändert auch weder die – systematisch unzutreffende – Kritik von Brüggen 22 noch die von Beeler-Port 23 etwas. Denn die Grundstruktur des Wissens ist nicht „kunstvoll verborgen“ und sie verbleibt auch nicht „unsichtbar“. Für das Verständnis der Struktur des Textes ist und bleibt Gueroults Dissertation daher ganz ohne Zweifel – trotz unübersehbarer Schwächen – ein wesentlicher Ausgangspunkt. Widmann. Zwar stimmt Widmanns berühmte Strukturanalyse der Wissenschaftslehre von 1804/II (1977) in wichtigen Ergebnissen mit der von Gueroult überein, jedoch ist die von ihm angewandte Methode eine völlig andere. Diese geht von Fichtes Satz in der vierten Lehrstunde des Sonnenklaren Berichts an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie (1801) aus, dass die Wissenschaftslehre „sich ein ihr durchaus eigentümliches Zeichen-System geschaffen hätte, dessen Zeichen nur ihre Anschauungen, und die Verhältnisse derselben zueinander, und schlechthin nichts außer diesen, bedeuten“. 24 Genau ein solches Zeichensystem bzw. in Wahrheit vier davon wird bzw. werden von Widmann ausgearbeitet. Diese seien für alle Fassungen der Wissenschaftslehre gültig, insbesondere aber für die Wissenschaftslehre von 1804/II, da sie laut Fichtes eigenem Bekunden in ihrer Form „vollendet“ 25 sei. Ohne auf die Aufstellung jener Zeichensysteme hier im Einzelnen einzugehen, sollen lediglich die Hauptgedanken kurz umrissen werden. 20 Die zehnte Grundbestimmung des Wissens wird durch den Grundsatz der Seinslehre ausgedrückt, der die kategorische Selbstkonstruktion des Seins darlegt. Die elfte Grundbestimmung besteht in der problematischen Selbstkonstruktion des Seins, die sodann einen weiteren Aufstieg erfordert. Ausgerechnet diesen Punkt aber hat Gueroult, wie das auch durch Jankes Kritik (in seinem ersten Fichte-Buch) an dessen Auslegung bestätigt wird, gar nicht gesehen! 21 Beeler-Port sieht diese Verfahrensweise dennoch als berechtigt an, weil sie es nach seinem Dafürhalten vermag, „eine notwendige Ordnung aller Synthesen herbeizuführen“, Verklärung des Auges, op. cit., S. 90. 22 M. Brüggen, Fichtes Wissenschaftslehre, op. cit., S. 10 (Anmerkung 13). 23 J. Beeler-Port, Verklärung des Auges, op. cit., S. 90. 24 GA I/7, S. 237. 25 GA II/8, S. 92 und 330.

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Widmann nimmt Fichte beim Wort, mit „mathematischer Evidenz“ 26 zu verfahren (ohne zu berücksichtigen, dass zum Beispiel im III. Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804/II eine klare Abgrenzung der Philosophie gegenüber der Mathematik stattfindet, da letztere nur der faktischen, nicht aber – wie eben die Philosophie – der genetischen Evidenz fähig ist). 27 Dabei meint er, die Kriterien der mathematischen Formalisierung der Wissenschaftslehre selbst entnehmen zu können. Dies ergibt vier „Grundprinzipien“ und – daraus abgeleitet – 16 „Grundterme“ eines ersten Zeichensystems. Diese vier Grundprinzipien werden in einem zweiten Zeichensystem in vier „Bildformeln“ „umgeformt“, was ihre „Ordination“ sichern soll. Diese Ordination bedürfe aber noch eines dritten Zeichensystems, das die „Operationsregel“ liefert, „mit der die Ordination der Grundprinzipien in der Wissenschaftslehre mechanisch reproduziert werden“ 28 könne. Ein letztes Zeichensystem – das dem umgangssprachlichen „Code der subjektiven und intersubjektiven Erfahrung“ 29 entspricht – soll diesen Formalisierungsprozess abschließen. Dabei rekurriert Widmann auf das „transzendentale Strukturschema der Fünffachheit“, 30 auch wenn diese nach seinem Dafürhalten nur als „Anhaltspunkt“ bei der Analyse des Textes herhalten kann und gar nicht genetisch abgeleitet wird (was gleichwohl möglich ist, wie gezeigt werden soll). Widmann stellt so ein eigenes formales System des Wissens auf, das dann mit dem Text der Wissenschaftslehre von 1804/II konfrontiert wird, um zu prüfen, inwiefern er jenem „formalen Calculus“ entspricht. Das Problem dabei ist aber, dass Widmanns System es im Grunde gar nicht gestattet, den Fichte’schen Text besser zu verstehen. Allenfalls kann dieser dazu herhalten, Widmanns formales System zu „verifizieren“. Das bedeutet, dass Widmanns Konstruktion als Kommentar nicht besonders tauglich, sondern nur für diejenige Leserin von Nutzen ist, die den Text bereits voll erfasst hat und auf gewisse Punkte, die in systematischer Hinsicht Schwierigkeiten bereiten, einzugehen gewillt ist. Dementsprechend sieht sich Widmanns Kommentar auch einer teilweise harschen Kritik ausgesetzt. Gemeinsamer Grundtenor dieser Kritik ist die angeprangerte Unzulänglichkeit der rein formalistischen Verfahrensweise, die sich mit dem transzendentalphilosophischen Ansatz Fichtes nicht in Einklang bringen lässt. Trotz einiger hilfreicher Entdeckungen ist Widmanns Studie also eher ungeeignet, den Fichte’schen Text von innen her zu verstehen und auszulegen.

26 Siehe GA II/8, S. XX. Vgl. auch den Brief Fichtes an Franz Volkmar Reinhard vom 15. Januar 1794: „Die Form der Deduktion [in der Philosophie] ist die gleiche, wie sie in der Mathematik gilt […]“, GA III/2, S. 40. 27 GA II/8, S. 46f. 28 J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, op. cit., S. 248. 29 J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, op. cit., S. 276. 30 J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, op. cit., S. 15.

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Janke. In seinem Buch Fichte. Sein und Reflexion (1970) arbeitet Wolfgang Janke ebenfalls zunächst in einer gewissen Selbständigkeit ein Methoden-Konzept heraus, das Fichtes Ansatz in der Wissenschaftslehre von 1804/II prägnant und konzis – und in Abhebung gegenüber dem Verfahren in der Grundlage – darstellen soll. Dabei entsagt dieses Methoden-Konzept aber völlig dem Formalismus Widmanns und zeigt vielmehr, wie sich Fichtes Vorgehen konkret nachvollziehen lässt. Janke geht es dabei um die Erklärung der genetischen bzw. genetisierenden Verfahrensweise der Wissenschaftslehre. Sofern dieser „Antiformalismus“ allerdings jeglichen formalen Aspekt – und darunter auch die „Fünffachheit“ – zurückweist, schüttet er sozusagen das Kind mit dem Bade aus. So zutreffend Jankes Insistieren auf der Reflexion auch sein mag, ist es gerade, wie zu zeigen sein wird, die Reflexion auf die „höchste Tatsache des Bewusstseins“, nämlich die der Einheit von Sein und Denken, durch welche sich die Grundstruktur des transzendentalen Wissens eben als Fünffachheit erweist. Wie dem auch sei, 31 jenes Methoden-Konzept setzt sich an die Stelle des thetisch-antithetischen Verfahrens der Grundlage, das immer neue Antithesen entdeckt, bis die höchste Einheit dank einer „synthetischen Handlung“ erreicht wird. Laut Janke wird mit der Wissenschaftslehre von 1801/02 ein Verfahren inauguriert, das nicht mehr – wie die Grundlage – die Einheit des Selbstbewusstseins (= Ich), sondern das absolut wissende Wissen selbst als letzten Grund des Wissens ansieht. Dieses konstruiert dabei nicht nur sich selbst (in einer von Fichte so genannten „Selbstkonstruktion“), sondern diese Selbstkonstruktion des Wissens wird ihrerseits genetisiert (wobei Janke sich auf den ersten Teil der Wissenschaftslehre von 1804/II beschränkt und damit den wahren Zielpunkt dieser Fassung der Wissenschaftslehre noch gar nicht erreicht, wenngleich er ihn auch zutreffend erahnt). Für Janke wird der Hegel’sche Übergang von Bewusstsein zu reiner Identität von Sein und absolutem Wissen, von ‚Ich‘ zu ‚reinem Sein‘, somit bereits bei Fichte, und zwar zwischen 1794 und 1801, vollzogen. Diese ‚Kehre‘ finde in der Wissenschaftslehre von 1804/II ihren systematischen Abschluss. 1804 vollendet sich ein Prozess, bei dem die dreigliedrige Dialektik von TheseAntithese-Synthese durch die Zweiheit Faktum-Genesis ersetzt wird. Das entspricht dem Befund, dass eine „indirekte Methode“ zugunsten einer „direkten Methode“ fallengelassen wird. Letztere besteht, wie gesagt, in der „genetischen Methode“. Was zeichnet diese aus? Die genetische Methode geht immer von einer ‚Dass‘-Setzung aus, d. h. von einem Faktum, von einer faktischen Einsicht, um dann in einem zweiten Schritt eine ‚Wie‘-Frage zu beantworten, nämlich die Frage, „[w]ie, aus welchem Prinzip 31 Kritisch anzumerken wäre ferner, dass Janke nicht die Bedeutung der fünf Reflexionsstufen im genetischen Gang der Wissenschaftslehre von 1804/II erkannt und gewürdigt hat. Das dürfte allerdings der Tatsache geschuldet sein, dass er in seinem Kommentar nicht auf die „Phänomenologie“ eingegangen ist.

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und nach welchem Gesetz […] uns (d. i. dem absoluten Wissen selbst) diese Einsicht“32 entstand. Das wird so lange fortgesetzt, bis die „absolute Genesis“ 33 erreicht wird. Die Wohlgegründetheit der Transzendentalphilosophie hängt voll und ganz vom Gelingen dieses genetischen Verfahrens ab. Es ist Jankes grundlegendes Verdienst, dessen Bedeutung bei Fichte – aber eben auch für die Transzendentalphilosophie überhaupt – in den Vordergrund gerückt zu haben. Meckenstock. In seinen beiden Dissertationsschriften 34 (der Theologie und der Philosophie) legt Günter Meckenstock u. a. eine Auslegung der Wissenschaftslehre von 1804/II vor, die – wie der Titel der ersten Dissertation von 1973 schon sagt – auf den Begriff der „Fünffachheit“ zentriert ist. Es kann ihm bloß darin beigepflichtet werden, das „Schema der Fünffachheit“ als „Konstruktions- und Gliederungsprinzip“35 des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre herauszustellen. Nach Gueroults und Jankes Arbeiten stellt das einen dritten Meilenstein in der FichteForschung zu dieser Fassung der Wissenschaftslehre dar. Das betrifft auch die Würdigung der Kombination von synthetischer und analytischer Methode. Wie das schon bei Janke der Fall gewesen ist, wird zudem auch die entscheidende Rolle des genetischen Verfahrens herausgestellt. Und schließlich wird die Gliederung selbst – in fünf ‚Reflexionsstandpunkte‘ und insgesamt 25 ‚Synthesismomente‘ – völlig treffend dargelegt. Der hier vorgelegte Kommentar besteht in einem erneuten Versuch eines argumentativen Nachvollzugs der 25 ‚Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens‘ in der Wissenschaftslehre von 1804/II auf der Basis ganz ähnlicher methodologischer Ausgangspunkte wie denjenigen, die von Meckenstock herausgestellt worden sind. Aus all diesen Gründen verdienen die Arbeiten des Kieler Theologie-Professors, wieder mehr in den Vordergrund gerückt zu werden, da ihr systematischer Beitrag zum Verständnis der Berliner Wissenschaftslehren um 1804 durchaus bedeutsam ist. Ivaldo. Marco Ivaldo macht im vierten Kapitel von I Principi del Sapere. La visione trascendentale di Fichte (1987) noch einen weiteren, höchst interessanten Gliederungsvorschlag. In den ersten acht Vorträgen werde der Übergang vom reinen Wissen bzw. dem ‚Prinzip des Wissens‘ zum absoluten Prinzip bzw. dem ‚Prinzip des Prinzips‘ herausgearbeitet. Daran schließe sich ab dem IX. Vortrag eine aufund eine absteigende ‚Phänomenologie‘ an, deren Gipfel- und Umschlagspunkt Fichtes ‚Wahrheitslehre‘ sei. Laut Ivaldo liefere die ‚absteigende Phänomenologie‘ entscheidende Erkenntnisse in Hinblick auf die systematische Bedeutung von W. Janke, Fichte. Sein und Reflexion, op. cit., S. 313. Ebd. 34 G. Meckenstock, Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806, op. cit.; Vernünftige Einheit. Eine Untersuchung zur Wissenschaftslehre Fichtes, op. cit. 35 G. Meckenstock, Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806, op. cit., S. 90. 32 33

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Fichtes Wissenschaftslehre insgesamt. Ein weiterer wesentlicher Punkt dieser Auslegung liegt in der zutreffenden Einsicht, dass in der Wissenschaftslehre von 1804/II die Wissenschaftslehre mit der Erscheinungslehre zusammenfällt. Asmuth. In seiner Dissertation (1999) hat Christoph Asmuth der Strukturfrage der Wissenschaftslehre von 1804/II ein kurzes Kapitel gewidmet. 36 Dreh- und Angelpunkt für die Deutung der Struktur des Textes stellt für ihn der XV. Vortrag dar. Er sieht in ihm den Anfang der Wissenschaftslehre, da erst hier die grundlegende ‚innere Anschauung‘ der Wissenschaftslehre – und nicht lediglich der äußere Text – zum Ausdruck kommt. Diese lässt sich nur durch Destruktion des Blicks und dessen Ablösung vom Erblickten fassen. Und hierfür liefert Fichte keine Gliederungsbezeichnung und – so lautet Asmuths originelle These – kann das auch gar nicht, da eine jede Gliederung eine verstandesmäßige Artikulation voraussetzt, die jedoch von der Wissenschaftslehre selbst notwendigerweise abzuweisen ist. Asmuth macht sich somit für eine Interpretationshypothese stark, die begründet, weshalb die Struktur- und Gliederungsfrage vom Standpunkt der eigentlichen Wissenschaftslehre gar nicht relevant sein kann. Folgerichtig weist er auch Interpretationsansätze wie die von Gueroult und Widmann 37 (oder auch Meckenstock) entschieden zurück, da sie diskursiven Artikulierungsformen verpflichtet sind, die dem genuin anschaulichen, blickhaften, sehenden Wesen des Wissens entgegenstehen. 38 * Der Ansatz, der hier verfolgt wird, richtet sich nicht primär nach Fichtes spärlichen Anmerkungen zur Frage nach dem Gliederungsprinzip der Wissenschaftslehre von 1804/II, sondern folgt gebotener Weise der inneren Kohärenz des Ganzen, 39

36 C. Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 18001806, op. cit., S. 193–201. 37 A. a. O., S. 196 (Anmerkung 8). 38 Weitere sehr lehrreiche Kommentare sind die von R. Barth (2004), U. Schlösser (2001), A. Schmidt (2004) und S. Schüz (2022). 39 Wenn aber genau dieses Auslegungsprinzip sowie Fichtes Betonung der Rolle der Fünffachheit beherzigt werden, dann gerät man an mehreren Stellen in Konflikt mit dessen eigenen Anmerkungen zur Gliederung dieser Fassung der Wissenschaftslehre. Das stellt ohne Zweifel ein nicht wegzudiskutierendes und auch nicht unerhebliches Problem dar. Es kann aber auch als das kleinere Übel angesehen werden – denn, wenn man Fichtes Anmerkungen zur Struktur folgt, ist ein kohärentes Ganzes womöglich schlicht nicht abbildbar. Auch wird von Fichte stets verlangt, die Wissenschaftslehre eigens zu vollziehen, was einen jeweils eigenen Gliederungsvorschlag implizieren muss und kein buchstabengetreues Befolgen der entsprechenden Anweisungen Fichtes bedeuten kann. Es muss hier also der gordische Knoten so durchschlagen werden, dass in der Tat – um das noch einmal zu betonen – der größtmöglichen Stichhaltigkeit und Folgerichtigkeit des zu vollziehenden Gedankengebildes in jedem Fall der Vorrang gegenüber allen weiteren Hinsichten einzuräumen ist.

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sofern diese sich im eigenen Vollzug gleichsam aufdrängt.40 Nichts trifft genauer auf diese Anforderung zu als das, was Fichte selbst am Anfang des dritten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 dazu anmerkt: „Wer nicht das Ganze in seinem Einheitspunkt begriffen, es daraus ableiten, willkürlich nach allen Seiten zerlegen kann, der besitzt auch nicht die Sache.“ 41 Den Anhaltspunkt und den Leitfaden liefern die gleich zu erläuternden ‚Grundschemata‘ sowie die gedanklichen ‚Grundoperationen‘, die von Fichte explizit herausgestellt werden und den gesamten Text durchziehen. Alles entscheidend ist aber der Ausgangspunkt, auf den diese Schemata und Operationen zurückgeführt werden (können), nämlich der Grundgedanke des Transzendentalismus. Dieser besagt, dass es zwar ein Grund- und Einheitsprinzip des Wissens gibt, dass dieses aber durch die Zweiheit von Objekt (Sein) und Subjekt (Denken) vermittelt ist. Jedes Sein ist ein zu denkendes, und jedes Denken ist Denken eines je Seienden: „Denn dasselbe ist Denken und Sein.“ 42 So wie nicht vom bloßen Ansich-Sein ausgegangen werden kann (einseitiger Realismus), so lässt sich auch das Wissen nicht auf reines Denken bzw. bloß immanentes Bewusstsein zurückführen (einseitiger Idealismus). Beides muss vielmehr zugleich berücksichtigt werden, weshalb auch, wie Marco Ivaldo hervorgehoben hatte, die Auseinandersetzung zwischen dem Realismus und dem Idealismus (bzw. den unterschiedlichen Spielarten derselben) von zentraler Bedeutung für diesen Ansatz der Wissenschaftslehre sein wird. Was ergibt sich aus dieser Perspektive? In der Wissenschaftslehre von 1804/I hat Fichte ganz allgemein – von dem Bezug zwischen „substanziellem Sein“ und seiner „Äußerung“ im Wissen ausgehend – die Fünffachheit von 1.) Prinzip ‚A‘, 2.) Prinzipiat ‚B‘, 3.) Grund und Abspiegelung A – B, 4.) Grund und Abspiegelung B – A und 5.) Vereinigung A × B (womit gemeint ist, dass sich A und B nur gegenseitig jeweils durch das andere begreifen lassen) aufgestellt. 43 Im zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 wendet Fichte dieses Verfahren auf die kantische Begründung der Transzendentalphilosophie an. Wir haben es hierbei zunächst mit Sein und Denken sowie mit ihrem Einheitsprinzip zu tun. Aus dieser Dreiheit folgt eine Fünffachheit 44 von 40 Daher nimmt der hier vorliegende Kommentarversuch auch keinerlei Anleihen an früheren Auslegungen, auch wenn rückblickend in systematischer Hinsicht durchaus gewisse Ähnlichkeiten – insbesondere mit Jankes und Meckenstocks Ansätzen – auszumachen sind (und beide sich darin vielleicht auch in gewisser Weise miteinander vermitteln lassen). 41 GA II/7, S. 302. 42 Parmenides, Lehrgedicht, Fragment 5 (DK). 43 GA II/7, S. 85. 44 In lehrreichen Ausführungen hat Janke die verschiedenen Bedeutungen der „Fünffachheit“ in Fichtes Werk herausgearbeitet (Vom Bilde des Absoluten, op. cit., S. 237ff.). Mindestens vier Bedeutungen lassen sich unterscheiden: die „formale“, die „methodologische“, die „materiale“ und die „geschichtsgründende“ Fünffachheit. Die formale Fünffachheit setzt nicht nur Objekt (Sein) und Subjekt (Denken) miteinander in Beziehung, sondern auch – auf einer höheren Ebene – Wirklichkeit

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Grundmomenten – sofern man 1.) das Sein oder 2.) das Denken jeweils isoliert betrachtet oder 3.) Sein in Bezug auf Denken oder 4.) umgekehrt Denken in Bezug auf Sein in den Blick nimmt 45 oder sich schließlich 5.) auf den Schwebepunkt zwischen diesen vier Momenten fokussiert – also: 1.) A; 2.) B; 3.) A  B; 4.) B  A; 5.) Einheits- und Disjunktionspunkt jener vier Momente. Das bedeutet, dass auf einer unteren Ebene der Standpunkt nur des Denkens bzw. nur des Seins eingenommen wird; dass auf einer höheren Ebene der Bezug von Denken zu Sein bzw. umgekehrt betrachtet wird (Transzendentalismus heißt somit nicht lediglich Korrelationismus, sondern er bringt zwei konstitutive Ebenen ins Spiel); und dass schließlich ein Schweben zwischen diesen beiden Ebenen bzw. den vier Standpunkten statthat. Die Reflexion hierauf – die das höchste methodologische Prinzip des gesamten Verfahrens ausmacht – ermöglicht es, im Gegensatz zu Gueroults Auffassung, die „Armatur der Deduktion“ der Wissenschaftslehre von 1804/II „sichtbar“ zu machen. Von hier aus können die beiden erwähnten ‚Grundschemata‘ vorgestellt werden. Die letzten beiden Absätze des IV. Vortrags betonen von vornherein die (Sinnenwelt) und Überwirklichkeit (Ideen- und Freiheitswelt). Fünftes Glied der Elemente des Wissens ist die ursprünglich disjungierende und vereinigende intellektuelle (Selbst)anschauung. Die methodologische Fünffachheit ist gerade für die Wissenschaftslehre von 1804/II maßgeblich, in der sie am eindringlichsten entwickelt wird. Die organische Einheit von Denken und Sein, Begriff und unbegreiflichem Licht, wird dabei „aus den Mittelgliedern des Durch, Soll und Von am Leitfaden einer je fünffach reflektierbaren Fünffachheit durchdrungen“ (Vom Bilde des Absoluten, op. cit., S. 238). Man kann auch sagen, dass hier – erneut in Jankes Worten – eine Triplizität in der Fünffachheit durchkonstruiert wird. Im Wissen werde dabei folgendermaßen vorgegangen:1.) von a zu b (vom Bild zum Sein); 2.) von b zu a (vom Sein zum Bild); 3.) im Schweben zwischen ab und ba; 4.) von ab zu ba (von der Selbstkonstruktion des [Ansich-]Seins ausgehend); 5.) von ba zu ab (vom Selbstbewusstsein ausgehend). (Dieses von den ersten beiden Zyklen der Wissenschaftslehre von 1804 abweichende Verfahren kommt auch bereits – auf eine wiederum modifizierte Weise [1.) A; 2.) B; 3.) A  A+B; 4.) B  A+B; 5.) absolute Vereinigung der vier synthetischen Handlungen] – im Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen [Jena, Gabler, 1795; GA I/3, etwa S. 184f.] zur Anwendung.) Ferner ist die materiale Fünffachheit Thema des letzten Vortrags der Wissenschaftslehre von 1804/II (sie wurde auch schon am Ende des XXX. Vortrags im ersten Zyklus angesprochen). Sie entfaltet die fünf möglichen Standpunkte der Vernunft in den vier Grundprinzipien der Natur, der Legalität, der Moralität, der Religion sowie dem vereinigenden Prinzip der Wissenschaftslehre. Die historische Fünffachheit liefert schließlich das Gliederungsschema einer – freilich nicht unstrittigen – Menschheitsgeschichte. Abschließend soll noch hinzugefügt werden, dass Fichte im Privatissmum von 1803 vorschlägt, die fünf Sinne dem Prinzip der Fünfachheit gemäß zu ordnen (GA II/6, S. 364). Zwar äußert er sich hierzu nicht näher, vielleicht kann man aber folgende Gliederung in Betracht ziehen: niedere Ebene: Geruchssinn  Geschmackssinn; höhere Ebene: Hörsinn  Tastsinn (das Hören steht dem Verstehen, das Tasten dem Er-fassen und Begreifen nahe); Vermittlungspunkt (der „edelste und höchste“ Sinn): Gesicht. Der Geruchs- und der Hörsinn beziehen sich jeweils auf äußere Einwirkungen, der Geschmacks- und der Tastsinn haben einen unmittelbaren, inneren Kontakt mit dem Empfundenen zur Voraussetzung. Daher können jene mit dem (mittelbaren) Denken, diese mit dem (unmittelbar angeschauten) Sein in Verbindung gesetzt werden. 45 Die Reihenfolge der ersten beiden wie auch der zweiten beiden Standpunkte ist unerheblich.

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Bedeutung der Fünffachheit 46 für die Verfahrensweise der Wissenschaftslehre in Bezug auf die ihr eigens zukommende Verständnis- und Bewusstseinsweise (d. h. auf das, was Fichte das ‚Intelligieren‘ nennt). Diese Fünffachheit macht das erste formale ‚Grundschema‘ der Wissenschaftslehre aus, das für sie im gesamten Zyklus gültig bleiben wird. Das zweite formale ‚Grundschema‘ wird bereits zuvor in den letzten drei Absätzen des II. Vortrags eingeführt. Es besteht seinerseits aus fünf Gliedern, die sich in zwei sogenannte Divisionsfundamente aufteilen – nämlich Sein (S) und Denken (D) einerseits sowie ‚x‘, ‚y‘ und ‚z‘ andererseits. Dieser zweifachen Teilung steht das ‚Einheits- und Disjunktionsprinzip‘ (vorläufig als ‚A‘ bezeichnet) gegenüber, aus dem die Divisionsfundamente abgeleitet bzw. auf welches diese zurückgeführt werden sollen: A S – D 

x, y, z

Die beiden Divisionsfundamente stehen sich nicht statisch gegenüber, sondern sie bedingen sich gegenseitig (was durch den Doppelpfeil dargestellt wird). Wichtig ist ferner zu betonen, dass diese fünf Glieder in zweifacher Hinsicht Variablen sind. Sie müssen als unbestimmte auf ihren Gehalt hin bestimmt werden (was natürlich insbesondere auch für ‚A‘ gilt). Und sie können darüber hinaus reihum jede einzelne Stelle des Schemas besetzen. Zum Beispiel so: A

oder so:

S



D

y x



z

Eine mögliche Formulierung der durch die Wissenschaftslehre gestellten Aufgabe könnte darin bestehen, dass diese Schemata und ihre Variablen inhaltlich auseinanderzulegen wären.

46 Die Berufung auf die Zahlensymbolik in der Freimaurerei ist nicht sehr ergiebig, da in ihr vor allem die Dreizahl und die Vierzahl von Bedeutung sind.

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Zu den beiden formalen ‚Grundschemata‘ muss noch hinzugefügt werden, dass das erste für alle Fassungen der Wissenschaftslehre überhaupt gilt (sofern es ja aus der Grundidee der Transzendentalphilosophie hervorgegangen ist), während das zweite für die Wissenschaftslehre von 1804 spezifisch ist, die sich insbesondere am kantischen 47 Grundansatz orientiert, so wie er sich in den drei Vernunftkritiken darbietet. Somit kommt dem ersten ‚Grundschema‘ gegenüber dem zweiten eine systematisch umfassendere Bedeutung zu. Über diese beiden formalen ‚Grundschemata‘ hinaus müssen für das Verständnis der genuinen Methode der Wissenschaftslehre von 1804/II, wie gesagt, auch noch zwei ‚Grundoperationen‘ 48 betrachtet werden, die den ersten beiden ‚Grundbestimmungen des Wissens‘ 49 entsprechen werden und dadurch eine erste – und fundamentale – Ausgestaltung der inhaltlichen Bestimmung von x, y und z sowie von S und D verwirklichen. Die erste ‚Grundoperation‘ besagt, dass das unaussprechliche Prinzip des transzendentalen Wissens sich nur äußern, d. h. wahrhaftig realisieren kann, wenn das Begreifen bzw. das Bewusstsein zugleich – ‚in einem Schlage‘ – gesetzt und vernichtet bzw. vernichtet und gesetzt wird. Das vernunftmäßige Intelligieren des Prinzips besteht in diesem instantanen und dabei auch je umschlagenden Geschehen einer Vernichtung und Setzung des (durch die SubjektObjekt-Spaltung gekennzeichneten) Bewusstseins. Was ebenfalls und zugleich statthat, ist die Absetzung des „Seins“ als, wie es an anderer Stelle heißt, „Träger der Realität“. Damit erweist sich auch die ontologische Relevanz dieser ersten ‚Grundoperation‘. 50 Ihre treffendste Formulierung (in der Aufzählung ihrer fünf Formulierungen die zweite) lautet:

47 Dass Kant unmittelbar vor dem zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 verstarb, liefert nur einen äußeren Anlass für die verstärkte Auseinandersetzung mit ihm in dieser Vortragsreihe. 48 Der Begriff der ‚Grundoperation‘ lehnt sich an Eugen Finks Gedanken einer „operativen“ (im Gegensatz zu einer „thematischen“) Begrifflichkeit an, siehe dazu E. Fink, „Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie“, in Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, F.-A. Schwarz (Hsg.), Freiburg/München, Karl Alber Verlag, 1976, S. 180–204. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass diese ‚Grundoperationen‘ nicht bei jeder Gelegenheit eigens thematisiert werden (auch wenn Fichte sie zu Anfang explizit einführt und erläutert), sondern vielmehr durch den gesamten Vortragszyklus hindurch unterschwellig (d. h. ‚operativ‘) fungieren. 49 Die Bedeutung dieses Begriffs wird weiter unten erläutert. 50 Zu diesem ersten Verhältnis von Licht und Begriff (bei dem die Begriffssetzung [und -Vernichtung] die Voraussetzung für die mögliche Äußerung des Lichts ist) wird sich im VIII. Vortrag noch ein zweites hinzugesellen, mittels welchem umgekehrt die Voraussetzung des Lichts als die Bedingung für das Zum-Leben-Kommen des Begriffs herausgearbeitet wird. Beide Verhältnisse bedingen sich gegenseitig. Dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis, das diese beiden ‚Grundgedanken‘ des ersten Teils der Wissenschaftslehre von 1804/II miteinander verbindet, macht den systematischen Kern dieses ersten Teils aus.

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Soll 51 es zur Äußerung und Realisation des reinen Lichtes 52 kommen, so muss der Begriff gesetzt sein, um durch das unmittelbare Licht vernichtet zu werden: denn darin eben besteht die Äußerung des reinen Lichtes; das Resultat aber, und gleichsam der tote Absatz dieser Äußerung ist das Sein an sich, welches darum, weil das reine Licht zugleich Vernichtung des Begriffs ist, ein Unbegreifliches wird. 53

‚x‘, ‚y‘ und ‚z‘ werden hier also jeweils mit dem „Begriff“, dem „Licht“ und dem „Sein“ gleichgesetzt. Die zweite ‚Grundoperation‘ ist das Herz der ersten Ausarbeitung einer „Bildlehre“.54 Ihre Quintessenz besteht in der Einsicht, dass jede Darstellung des Prinzips, jedes Fassen und Begreifen seiner Realisation, stets nur in einem Bild derselben geliefert werden kann, was seinerseits nach einer Vernichtung verlangt, um dadurch das Abgebildete (d. h. eben das Prinzip) vorscheinen lassen zu können. „S“ steht hier für das (abgebildete) Prinzip und „D“ für das besagte Bild davon. Das Bild, sofern es ein solches des transzendentalen Wissens ist, ist stets ein Festsetzen dessen, was selbst weder ein Festgesetztes ist, noch überhaupt sich festsetzen lässt (zugleich kann es aber – und das ist ein anderer Ausdruck der Aufgabe der Wissenschaftslehre – ‚gerechtfertigt‘ bzw. ‚genetisiert‘ werden). Fichte fasst es als ein Gemachtes – als ein Faktum – auf, wobei die Betonung auf dem Partizip Perfekt eines vorgängigen Tuns liegt, das gerade die Genetisierung jenes Faktums ausdrückt. „Faktum“ und „Genesis“ des transzendentalen Wissens bezeichnen also den Spannungsbogen, der in der Wissenschaftslehre aufgezogen wird. Von hier aus kann Fichte die erste, bloß faktische Bestimmung des Wissens liefern. Dieses stellt sich mittels zweier Aspekte dar. Jedes Wissen, ganz gleich worauf es sich bezieht, hat mit jedem anderen Wissen gemein, ein Wissen zu sein. Darin besteht die „qualitative Einheit“ des Wissens – d. h., wie gesagt, jedes Wissens. Diese Einheit steht unumstößlich fest. Das Wissen hat aber auch noch eine zweite Einheit. Wenn wir nämlich nicht irgendein Wissen betrachten, sondern dieses konkrete Wissen und dann noch jenes, und dann vielleicht auch noch eine endliche Reihe anderer (die alle zusammen eine ‚Wandelbarkeit‘ ausmachen), dann kommt diesen konkreten Wissensfällen, zusammengenommen, ihrerseits 51 Wie wir sehen werden, ist das „Soll“ einer der Grundbegriffe der Berliner Wissenschaftslehren. Das gilt bereits für die Wissenschaftslehre von 1804/I – siehe den XIV. und den XXI. Vortrag sowie insbesondere den XXVIII Vortrag, GA II/7, S. 221, Z. 28ff. 52 „Licht“ steht hier überall (wie auch schon in der Wissenschaftslehre von 1804/I) für die Instanz, in der das Prinzip des Wissens (reale Seite) und das Selbstbewusstsein (ideale Seite) zusammenfallen. 53 GA II/8, S. 58. 54 Es handelt sich insofern bloß um eine ‚erste‘ Ausarbeitung, als an dieser Stelle der Wissenschaftslehre von 1804/II die ‚Bildlehre‘ lediglich die Bildsetzung und -vernichtung enthält. Das dritte Moment der ‚Reflexibilität‘, das die Identität von bildhafter Erscheinung und Sicherscheinen aufweist, kommt erst in den späten Berliner Wissenschaftslehren zum Tragen. Allerdings enthält die spezifische Ausarbeitung der ‚Bildlehre‘ im XXV. Vortrag ebenfalls schon drei Momente, sodass mit Fug und Recht behauptet werden kann, dass die spätere ‚Bildlehre‘ bereits 1804 angelegt ist.

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eine durch das Bewusstsein konstituierte Einheit zu. Erstere Einheit nennt Fichte das „rein Unwandelbare“, letztere, sofern sie sich aus den wandelbaren konkreten Wissensvollzügen ergibt, das „rein Wandelbare“. Für das rein Unwandelbare steht das Sein, für das rein Wandelbare in gleichem Maße das Bewusstsein, das Denken und auch die Erscheinung. Und man kann schließlich noch sagen, dass das rein Unwandelbare die realistische und das rein Wandelbare die idealistische Position vorzeichnet. Jedenfalls ergibt sich aus dieser faktischen Wissensbestimmung eine neue Zweiheit (für die abermals „S“ und „D“ stehen), ein Spannungsverhältnis zwischen Sein und Erscheinung, das der Teilung des Vortragszyklus in eine „Seinslehre“ (erster Teil) und in eine „Erscheinungslehre“ (zweiter Teil) zugrunde liegt (diese Unterscheidung wird unten näher präzisiert). Aus alledem ergeben sich also vier Momente: die beiden formalen Schemata sowie die beiden dynamischen ‚Grundoperationen‘. Sie unterliegen gemeinsam noch einem fünften Moment – dem Grundsatz der Wissenschaftslehre qua Erscheinungslehre (= Phänomenologie) wie auch der ‚Wissenschaftslehre in specie‘, 55 welcher der Deduktion der Erscheinung zugrunde liegt und ganz am Ende des Vortragszyklus formuliert wird: Soll die [absolute] Einheit [der Vernunft] genetisch erscheinen, so muss in der Erscheinung das Bewusstsein, von welchem abstrahierend ausgegangen wird, erscheinen als ein absolut Wandelbares. 56

Die Tatsache, dass hier „abstrahierend“ vom Bewusstsein ausgegangen wird, verweist auf jene Bewusstseinsvernichtung, die auch in der ersten ‚Grundoperation‘ zum Ausdruck kommt. Entscheidend ist aber vor allem, dass in diesem Grundsatz, der mit dem Bezug auf die ursprüngliche faktische Wissensbestimmung (d. h. durch den Anschluss an das „Unwandelbare“ und das „Wandelbare“) ganz offenkundig den Kreis der gesamten Vortragsreihe schließt, über Sein (qua Einheit der Vernunft) und Erscheinung hinaus noch von einer ‚Erscheinung der Erscheinung‘ die Rede ist. 57 Der Grundsatz der Phänomenologie setzt somit zu „Sein“ 55 Zur das eigene Verstehen der Wissenschaftslehre kennzeichnenden ‚Wissenschaftslehre in specie‘ merkt Fichte in den Tatsachen des Bewusstseins von 1813 an: „So ist also die W.L. [gemeint ist: die Wissenschaftslehre ‚in specie‘] wieder ein Verstehen des absolut ursprünglichen Verstehens selbst: eine Reflexion, und Besinnung darauf. Nun wird es uns hoffentlich nicht einfallen, diese als ein neues Geschöpf [hinzustellen], losgerissen von der Gesezmässigkeit der Erscheinung überhaupt: wir müssen drum sagen: ein solches Verstehen des absoluten Verstehens ist schlechthin möglich, gesezt gegeben, durch das formale Seyn der Erscheinung: wir werden, wenn wir den Verstand zu fassen begehren, in seiner höchsten Einheit, ihn so fassen müssen, daß durch ihn die W.L. selbst mit erklärt wird, u. als begründet erscheint […]“, GA II/15, S. 128. 56 GA II/8, S. 416. 57 Dabei darf diese ‚Erscheinung der Erscheinung‘ nicht abwertend als ‚Schein des Scheins‘ aufgefasst, sondern muss als die höchste Genetisierung – nämlich als die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ des Seins – verstanden werden, durch die ersichtlich wird, inwiefern ‚Wissenschaftslehre‘ und

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und „Erscheinung“ ein drittes Glied hinzu – die ‚Erscheinung der Erscheinung‘, die am Schlusspunkt der Phänomenologie die Stelle und die Rolle des das Sein genetisierenden Lichts einnimmt. Dadurch stellt sich heraus, dass letztlich ‚x‘ als Sein, ‚z‘ als Erscheinung und ‚y‘ als ‚Erscheinung der Erscheinung‘ bestimmt werden. Diese Fünffachheit der beiden Schemata, der beiden ‚Grundoperationen‘ sowie des Prinzips der Phänomenologie ist zunächst scheinbar eine bloß numerische. Eine inhaltliche Gleichartigkeit mit der Fünffachheit als fundamentalem formalen Schema wird nirgends explizit herausgestellt. Zwar ‚dynamisieren‘ die ‚Grundoperationen‘ gleichsam die ‚Grundschemata‘ und die ‚Grundoperationen‘ bedingen sich in gewisser Weise auch gegenseitig; aber Fichte zeigt nirgends an, dass er eine solche Entsprechung zwischen der hier herausgestellten Fünffachheit und der Fünffachheit überhaupt gesehen hätte (was der hier angenommenen Wohlgegründet dieser Entsprechung freilich keinen Abbruch tut). Entscheidend ist dagegen, was Fichte ganz am Ende des Vortragstext unterstreicht – dass nämlich die Fünffachheit sich unmittelbar aus der Reflexion auf die Einheit 58 ergibt 59 (unter ‚Einheit‘ ist hier die Einheit der den Transzendentalismus fundamental kennzeichnenden Sein-Denken-Korrelation zu verstehen). Das entspricht auch der grundlegenden Revision, die er bezüglich der Definition der Philosophie unternimmt, wonach alles Mannigfaltige zwar (gemäß der traditionellen Auffassung) auf absolute Einheit zurückzuführen, zugleich aber diese Einheit auch (und darin besteht die durch die Transzendentalphilosophie vollzogene Neuerung) mit der Korrelativität von Denken und Sein zu vermitteln sei. Genau auf dieses Vermittlungsverhältnis in der Einheit richtet sich also die Reflexion. Reflektiert wird, um das aufgrund der entscheidenden Bedeutung für die gesamte Verfahrensweise noch einmal zu betonen, die Funktion der Sein-Denken-Korrelation im Hinblick auf die Einheit des Wissens. Dadurch erweist sich die angezeigte Fünffachheit nicht lediglich als formales ‚Grundschema‘, sondern als transzendentale Matrize der Genesis des transzendentalen Wissens überhaupt. Die Fünffachheit wird nicht einfach dogmatisch aufgestellt, sondern bekundet sich als der analytischsynthetischen Methode der Wissenschaftslehre gemäß. 60 Das transzendentale Wissen zerfällt dann in fünf Genetisierungsstufen, die ihrerseits jeweils fünf ‚Phänomenologie‘ letztlich zusammenfallen. Die „Erscheinung der Erscheinung von der Erscheinung“ betrifft dagegen, wie Fichte im VI. Vortrag kurz erwähnt, das empirische Seiende. 58 Diese Reflexion auf die Einheit liegt – der hier vertretenen Auffassung zufolge – der Unterteilung in „25 Grundbestimmungen“ des transzendentalen Wissens zugrunde. Dass diese Unterteilung in 5x5 Momente die Struktur und Gliederung der Wissenschaftslehre von 1804/II bestimmt, wurde bereits – auf eine jeweils andere Art – von Martial Gueroult (L’Évolution et la structure de la doctrine de la science chez Fichte, op. cit.) und Joachim Widmann (op. cit.) gesehen. 59 GA II/8, S. 420, Z. 3–4. 60 Das von Josef Beeler-Port angemahnte Desiderat ist damit erfüllt, siehe J. Beeler-Port, Verklärung des Auges, op. cit., S. 47.

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Grundbestimmungen enthalten, woraus also sich insgesamt 25 Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens ergeben. Es gehört wesenhaft zum Selbstvollzug der Wissenschaftslehre Betreibenden, diese 25 Grundbestimmungen selbst aufzufinden bzw. zu erzeugen. Das alles wirft wiederum folgende grundlegende Fragen auf: Worin besteht die Grundstruktur des Textes und was hat es dabei genau mit den 25 Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens auf sich? Inwiefern kann dabei von ‚Aufstieg‘ und ‚Abstieg‘ gesprochen werden? Was kennzeichnet die fünf Genetisierungsstufen? Wie verhalten sich diese zur Seins- und zur Erscheinungslehre? Welche Rolle kommt dabei in architektonischer Hinsicht dem „Grundsatz“ zu – bzw. den Grundsätzen, denn es gibt derer in Wirklichkeit zwei? 61 Wie ordnen sich diese Grundsätze der Seins- und Erscheinungslehre in die Gesamtarchitektonik des Vortragszyklus ein? Und bis wohin erstrecken sich die „Prolegomena“? Dass die Wissenschaftslehre von 1804/II offenkundig zwei Teile hat, geht aus mehreren expliziten Hinweisen hervor. Zunächst, und das scheint jegliche diesbezügliche Frage im Keim zu ersticken, sagt Fichte ausdrücklich, dass sie in eine Wahrheits- und Vernunftlehre einerseits und in eine Erscheinungslehre andererseits zerfällt. Beide haben ihren eigenen „Grundsatz“. Und beide unterscheidet die offenbar vollzogene Richtung (in „Aufstieg“ und „Abstieg“). 62 Dieser Rahmen kann und muss ganz ohne Zweifel zur Orientierung dienen. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass diese Unterteilung zu grob ist und auch weder der inneren Struktur noch der eigentlich vollzogenen Verfahrensweise der Wissenschaftslehre von 1804/II gerecht wird. Was ist der Befund, wenn man streng von dem darin maßgeblichen Verfahren ausgeht? Fichte verfährt jedes Mal so, dass wir 1.) Etwas vollziehen, in dieser Vollziehung ohne Zweifel geleitet durch ein unmittelbar in uns tätiges Vernunftgesetz. – Was wir in diesem Falle eigentlich, in unserer eigenen höchsten Spitze sind, und worin wir aufgehen, ist doch noch Faktizität. – Dass wir sodann 2.) das Gesetz, welches eben in diesem Vollziehen uns mechanisch leitete, selber erforschen und aufdecken; also das vorher unmittelbar Eingesehene, mittelbar einsehen aus dem Prinzip und Grunde seines Soseins, das vorher faktisch als also bestimmt eingesehene, einsehen warum es also bestimmt sei, also in der Genesis seiner Bestimmtheit es durchdringen. Auf diese Weise nun werden wir von faktischen Gliedern aufsteigen zu ihren genetischen; welches Genetische denn doch wieder in einer anderen Hinsicht faktisch sein kann, wo wir daher gedrungen sein werden, wieder zu dem, in Beziehung auf diese Faktizität, Genetischen aufzusteigen, so lange bis wir zur absoluten Genesis, zur Genesis der Wissenschaftslehre hinaufkommen. 63 GA II/8, S. 229, Z. 2 und S. 416, Z. 7. Dass es einen Auf- und einen Abstieg gibt, kennzeichnet sowohl die Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 als auch den „4ten Vortrag der Wissenschaftslehre“ vom Sommer 1805 (= Erlanger Wissenschaftslehre). 63 GA II/8, S. 76. 61 62

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Wenn die Leserin sich diese Anweisung eines Aufstiegs von den faktischen zu ihren genetischen Gliedern zu Herzen nimmt und streng befolgt, dann lässt sich zeigen (und dieser Kommentar wird das minutiös nachzeichnen), dass in diesem Vortragszyklus insgesamt mehr als 25 Fakta genetisiert oder, wie man das auch ausdrücken könnte, mehr als 25 genetische Konstruktionen vollzogen werden. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass die erste und die letzte Konstruktion, die inhaltlich identisch sind, gar keine genuin genetischen Konstruktionen, sondern rein faktische Aufstellungen sind und die anderen Konstruktionen einen subsidiären, allenfalls die eigentlichen Genetisierungen unterstützenden Charakter haben. 64 Kohärent festhalten lassen sich 25 Konstruktionen, die sich in fünf Gruppen unter die fünf Genetisierungsstufen einordnen. Diese 25 Konstruktionen werden von Fichte als „Grundbestimmungen des Wissens“65 bezeichnet. Die Anordnung in fünf Genetisierungsstufen und fünf sich jeweils darin einfügende Grundbestimmungen des Wissens (was also insgesamt 25 solcher Grundbestimmungen ergibt) 66 dient als Leitfaden der Interpretation, die sich streng an den von Fichte selbst vollzogenen Genetisierungsprozess hält. Sofern man nun jene – aufgrund ihrer Bedeutung in voller Länge zitierte – Anweisung ernst nimmt (was hier der Fall ist), gerät man strukturanalytisch in einen Konflikt mit Fichtes Behauptung eines Aufstiegs und eines Abstiegs. Der Fortgang der Genetisierungen verläuft vielmehr im Sinne eines kontinuierlichen Aufstiegs 67 „bis […] zur absoluten Genesis, zur Genesis der Wissenschaftslehre“! Das bedeutet, dass zum einen der Grundsatz der Wahrheits- und Seinslehre nicht der höchste Grundsatz der Wissenschaftslehre sein kann und dass zum anderen der Gipfelpunkt der Wissenschaftslehre das Resultat der Erscheinungslehre ist, was darauf verweist, dass in fine die Wissenschaftslehre mit der Phänomenologie zusammenfällt. Dem entspricht noch ein weiterer Punkt, der abermals eine Korrektur des Fichte’schen Wortlauts erfordert (auch wenn sich das etwas schwieriger gestaltet). Überall, wo von der „Wahrheitslehre“ die Rede ist, wird sie auch Wie sich das einzeln darstellt, lässt sich nur an der konkreten Textinterpretation ausweisen. GA II/8, S. 418. 66 Zur „Fünffachheit der Fünffachheit“, vgl. die Wissenschaftslehre 1812, GA II/13, S. 85. 67 An einer Stelle spricht Fichte zwar von einem „Hinabsteigen“ (GA II/8, S. 264); dem wird aber noch im selben Vortrag widersprochen, wenn er betont, dass er weiterhin „aufsteigend verfährt“, weil das Prinzip noch gesucht werde (GA II/8, S. 270). Der weitere Gang dreht diese Richtung auch nicht mehr um. Deshalb muss deutlich betont werden, dass in der Wissenschaftslehre von 1804/II niemals ein Abstieg stattfindet, sondern von der ersten bis zur letzten Grundbestimmung des transzendentalen Wissens ein unaufhörlicher Aufstieg vollzogen wird! In der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 hat tatsächlich ein Auf- und Abstieg stattgefunden, und das wird – wie gesagt – auch für die Wissenschaftslehre von 1805 der Fall sein. Weshalb auch im Frühling 1804 von einem „Hinabsteigen“ die Rede ist, lässt sich nur dadurch erklären, dass Fichte ursprünglich die Absicht hatte, auch die „Erscheinung der Erscheinung von der Erscheinung“ abzuleiten, was tatsächlich einen Abstieg bedeutet hätte. Dieser Vortragszyklus beschränkt sich aber auf die höchste Genetisierung – die der ‚Erscheinung der Erscheinung‘. Deshalb wird darin ausschließlich ein Aufstieg vollzogen. 64 65

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als „Vernunftlehre“ bezeichnet. Das bezieht Fichte auf den ersten Teil dieses Vortragszyklus. Zudem sagt er im XXVII. Vortrag, dass die Vernunftlehre „der erste und höchste Teil der Wissenschaftslehre“68 sei. Diese mündet aber in der 24. und der 25. Grundbestimmung des Wissens in der höchsten Ausgestaltung einer solchen Vernunftlehre. Damit erweist sich die Vernunftlehre auch als „höchster Teil“ der Erscheinungslehre. Auch das läuft darauf hinaus, dass die Wahrheit der Wahrheits- und Seinslehre die Erscheinungslehre ist. Der Einsicht, dass es sich in diesem Vortragszyklus um ein fortlaufendes Aufsteigen handelt, entspricht der Gehalt der fünf Genetisierungsstufen (bzw. dem, was Gueroult die „Reflexionsstandpunkte“ genannt hat). Diese machen die eigentlichen Teile der hier vorgetragenen Wissenschaftslehre aus. Auf der ersten Stufe, die vom IV. bis zum X. Vortrag reicht, wird die fundamentale Fünffachheit aufgestellt, die für den gesamten Zyklus gilt. Es handelt sich dabei um die Fünffachheit von Sein, formalem Begriff, Leben (bzw. Licht), Urbegriff und Soll. Diese Momente spielen auf der zweiten Stufe verschiedene Spielarten des Idealismus und Realismus durch. Die Vernichtung des höchsten Realismus (mit dem der höchste Idealismus letztlich zusammenfällt) mündet im Grundsatz der Wahrheits- und Seinslehre. Dieser Grundsatz ist der Umschlagspunkt zwischen dieser Wahrheits- und Seinslehre selbst einerseits und der Erscheinungslehre andererseits. Die die Erscheinungslehre ausmachenden drei folgenden Genetisierungsstufen entsprechen jeweils einer bestimmten Genesis: der Genesis des Seins, der Genesis des transzendentalen Wissens (qua Erscheinung des Seins) und der Genesis der Erscheinung (qua ‚Erscheinung der Erscheinung‘). Die Genesis der Erscheinung mündet schließlich in der Ausformulierung des Grundsatzes der Erscheinungslehre, wobei diese Erscheinungslehre – ganz wie die Wahrheits- und Seinslehre in Bezug auf ihren eigenen Grundsatz – lediglich in dieser Ausformulierung des Grundsatzes besteht. Die letzte Frage betrifft den Status und die Erstreckung der „Prolegomena“. Dieser Punkt ist in der Forschung – zu Recht – umstritten. 69 Auch hier ist es so, dass Fichtes eigene Angaben den Anlass zu möglichen Missverständnissen bieten (und in jedem Fall zu höchst unterschiedlichen Auslegungen). In den „Prolegomena“ wird vordergründig der Begriff der Wissenschaftslehre – aber selbstverständlich nicht diese selbst – gegeben. Zwei Lesarten bieten sich an. Entweder man beschränkt sich auf die faktische Aufstellung der ersten genetischen Konstruktion – dann enden die ‚Prolegomena‘ am Anfang des IV. Vortrags. Oder – wie es, wie gesagt, von Christoph Asmuth vorgeschlagen wurde – man lässt die eigentliche Wissenschaftslehre erst mit der Wahrheits- und Seinslehre beginnen, GA II/8, S. 400. S. Schüz merkt zurecht an, dass der Übergang der „Prolegomena“ zur „Wissenschaftslehre selber“ „fließend“ ist, Transzendentale Argumente bei Hegel und Fichte. Das Problem objektiver Geltung und seine Auflösung im nachkantischen Idealismus, op. cit., S. 287. 68 69

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weil die Aufstellung der fundamentalen Fünffachheit und das Durchspielen der verschiedenen Idealismen und Realismen noch nicht das eigentliche Genetisierungsverfahren, das in der Wissenschaftslehre zur Anwendung kommt, ausmachen. Dann erstreckten sich die ‚Prolegomena‘ bis zum Ende des XIV. Vortrags. Der ersten Lesart ist aber aufgrund der Herausstellung der fünf Genetisierungsstufen und den vereinzelten Anmerkungen Fichtes zum Übergang der „Prolegomena“ in die Wissenschaftslehre selbst der Vorzug zu geben. Es gibt jedoch auch Argumente für andere Aufteilungen, weshalb auch nur moderat für diese Auslegung der Erstreckung der ‚Prolegomena‘ plädiert werden kann. Die gleich noch anderweitig zu betrachtenden Schwierigkeiten in Bezug auf den „Anfang der Philosophie“ betreffen offensichtlich auch das Wesen der ‚Prolegomena‘ selbst. Fichte hat es in diesem Vortragszyklus nicht unternommen, diesbezüglich für völlige Klarheit zu sorgen. * Der hier versuchte Kommentar verfährt analytisch und zeichnet textnah den gesamten Gedankengang der Wissenschaftslehre von 1804/II nach. Ein kurzer Schlussteil – der auch einleitend zur Orientierung herangezogen werden kann – bietet am Ende einen synoptisch-synthetischen Überblick über die weitverzweigten und verwickelten Gedankenwege, um die in ihnen entfaltete Argumentation auf das Wesentliche zu konzentrieren. In beiden Ansätzen kommt der Erscheinungslehre mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit zu wie der in der Sekundärliteratur weit häufiger behandelten Wahrheits- und Vernunftlehre. Die sogenannte „Phänomenologie“ soll dabei in ihrer systematischen Bedeutsamkeit herausgestellt werden, womit versucht werden soll, den Anspruch einzulösen, die „Grundzüge der Phänomenologie Fichtes“ 70 vorzulegen. Nur so lässt sich nämlich der Eigenwert dieser Fassung der Wissenschaftslehre sowie ihr Mehrwert innerhalb der Denkentwicklung Fichtes – aber auch der Klassischen Deutschen Philosophie insgesamt – deutlich machen. 71

70 So lautet der Untertitel von W. Jankes bahnbrechender Untersuchung Vom Bilde des Absoluten (1993). 71 Ich danke sehr herzlich Leonard Ip, Zhou Chibo, Niklas Jaenecke, Seongkyeong Joung und Dr. Gesa Wellmann für die außerordentlich anregenden und hilfreichen Bemerkungen und Diskussionen, die zu einer substanziellen Verbesserung des Manuskripts beigetragen haben. Zudem danke ich Leonard Ip, Niklas Jaenecke und Zhou Chibo für die Erstellung des Namens- und Sachregisters.

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ERSTER VORTRAG Der erste Vortrag soll klären, worin die Wissenschaftslehre eigentlich besteht. Er eröffnet die sogenannten „Prolegomena“, 72 die zunächst einen Begriff derselben liefern. Aus diesem geht hervor, dass die Wissenschaftslehre mit der Transzendentalphilosophie zusammenfällt, die ihrerseits durch einen eigentümlichen Bezug zwischen Denken und Sein charakterisiert ist. In den „Prolegomena“ wird dieser Bezug aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachtet. Fichte tastet sich behutsam heran, indem er eine erste Frage aufwirft: Wie kann ‚es‘ zum Leben kommen? Diese Frage impliziert einen kaum verhehlten Aufruf, der zwei unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Bedeutungen hat. Es soll zum Leben kommen, heißt zum einen: Es soll eigens gedacht werden. Sapere aude! 73 – womit von vornherein die Verbindung zu Kant, dem ‚Entdecker‘ der Transzendentalphilosophie, deutlich gemacht wird (was uns im Folgenden auch immer wieder beschäftigen wird). Nun ist heutzutage (damit meint Fichte den Anfang des 19. Jahrhunderts, aber man kann sich fragen, ob das nicht noch immer Gültigkeit hat) das Denken, das keinesfalls als ein dem Leben entgegengesetztes angesehen werden darf, sondern als ein Teil davon aufgefasst werden muss, in der empirischen Tatsächlichkeit, im ‚Faktischen‘ gefangen – Fichte sagt: im „Historischen“, „Symbolischen“, also im nur Behaupteten, nicht eigens Vollzogenen. Es soll dagegen eine ‚lebendige‘ Philosophie begründet werden, d. h. eine solche, die sich über das faktisch Gegebene erhebt und nicht im seichten, allseits dominierenden Realismus aufgeht, der das Seiende in seinem (Da-)Sein je schon voraussetzt und das ursprüngliche, wesentliche Fragen von vornherein abschneidet. Es geht dabei um nichts Geringeres als um den Aufweis, wie sich das Wissen – das ‚Wissenswissen‘ – aus dem Leben begründen lässt. 74

Dieser Begriff wird in der Folge bestimmt und erläutert. I. Kant, „Was ist Aufklärung?“, in Kant’s gesammelte Schriften (Band VIII), herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig, W. de Gruyter, 1923, S. 35. Dass mit der damit verbundenen ‚Selbstbesinnung‘ zugleich auch das Wesen des ‚transzendentalen Idealismus‘ getroffen wird, geht aus dem Brief von Fichte an Friedrich Johannsen vom 31. Januar 1801 hervor: „Es gibt durchaus nichts, das leichter zu verstehen wäre, als der transzendentale Idealismus; und nur das Zweifeln, ob man ihn auch wohl recht verstehen möge, das Suchen eines Sonderbaren und Geheimnisvollen hinter ihm, und besonders ungebetene Erklärer machen ihn schwer. Man erwirbt sein Verständnis nicht durch Nachdenken und Grübeln, sondern man erhält es in Einem Momente durch einen Blick in sich selbst, den man von nun an fest halten muss. Er besteht in der Selbstbesinnung, dass man eben rede, denke, sehe, höre, wenn man redet, denkt, sieht, hört; und diese sollte doch wohl nicht so schwer an den Menschen zu bringen sein. Philosophisches Geschick besteht in dieser habituell gewordenen Selbstbesinnung“, GA III/5, S. 8f. 74 Siehe hierzu R. Lauth, „J. G. Fichtes Gesamtidee der Philosophie“, in Zur Idee der Transzendentalphilosophie, München, Verlag Anton Pustet, 1965, S. 76. Vgl. auch a. a. O., S. 83: „Aus alle dem geht hervor: ich muss wissen – nicht nur die Wahrheit fühlen –, wenn ich wahrhaft leben will.“ 72 73

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Dass „es“ zum Leben kommen solle, bezieht sich zum anderen aber auch auf eine Auseinandersetzung mit Schelling, die Fichte seit mehreren Jahren (genau genommen seit seinem Abschied aus Jena, der mit Schellings Ausarbeitung seines „Identitätssystems“ zusammenfällt) geführt hatte und in einem gemeinsamen Schriftwechsel, der im Januar 1802 allerdings schon früh abbrach, dokumentiert ist. Diese Auseinandersetzung, zu der auch Fichtes Debatten mit Jacobi zu rechnen sind, betrifft die Rolle des „Seins“ im Rahmen der Transzendentalphilosophie. Seit der ersten, von diesem Disput geprägten Fassung der Wissenschaftslehre, der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02, widmet Fichte dem Seinsbegriff, der zur Jenaer Zeit eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte, eine deutlich höhere Aufmerksamkeit, als das zuvor der Fall war. Wie etwa aus dem wichtigen Brief Fichtes an Schelling vom 31. Mai 1801 (der erst am 7. August verschickt wurde) hervorgeht, 75 wirft Fichte Schelling vor, dass dieser das Sein zu niedrig (und dadurch dogmatisch) ansetze und somit auch nicht von ihm ausgegangen werden könne – eben weil ein solcher Gestus es zu einem ‚toten‘ Sein 76 mache, dieses aber vielmehr als lebendiges angesehen und dementsprechend auch aufgezeigt werden müsse. 77 Dass es zum Leben kommen solle, bezieht sich also auch auf das Sein. Die Wissenschaftslehre von 1804/II unternimmt beträchtliche Anstrengungen, um dieser Forderung zu genügen. Beide Bedeutungen jenes Aufrufs zusammengenommen weisen darauf hin, dass, wenn es hier um das „Leben“ geht, (Selbst)Denken und Sein adressiert sind und dies – wie sich gleich zeigen wird – insbesondere auch deren gegenseitigen Bezug betrifft. Die anfänglich aufgeworfene Frage nach dem Wie des „Zum-Leben-kommen-Sollens“ weist also auf zwei Grundbegriffe voraus – eben die des Denkens und des Seins –, die für die Wissenschaftslehre absolut wesentlich sind. 78 Daran arbeitet sich Fichte mittels eines weiteren Begriffs ab – nämlich dem der Wahrheit. Die Wissenschaftslehre legt von vornherein fest: Es gibt eine – einzige – Wahrheit, und diese kann nur von einem jeden aus sich selbst erzeugt werden. Darin erstreckt sich das Gebiet des ‚Wissens‘, das genuiner Gegenstand der ‚Wissenschaftslehre‘ ist. Diese Wahrheit besteht – in einer ersten, noch sehr rohen Annäherung – in der Einsicht 79 des Grundprinzips von Wissen und Sein.

GA III/5, S. 43–53, insbesondere S. 46. Siehe etwa GA II/9, S. 219. 77 Das wurde bereits in einer „vorläufigen Erwägung“ in der Einleitung der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 ganz deutlich ausgesprochen, siehe GA II/6, S. 130. Vgl. auch GA II/10, S. 169, Z. 14–15. 78 Im X. Vortrag wird darüber hinaus eine technische Bedeutung des ‚Zum-Leben-KommenSollens‘ entwickelt, die in der Genetisierung der fünften Grundbestimmung des transzendentalen Wissens mündet. 79 Zum Begriff der ‚Einsicht‘, siehe den II. Vortrag. 75 76

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Mit dem Angegebenen ist eine nicht unerhebliche Schwierigkeit angezeigt: Wie kann etwas sowohl immer schon sein (sonst könnte ja nicht behauptet werden, dass es dies „gäbe“), als auch nur aus dem Denken erzeugt werden? Damit wird erneut auf das grundlegende Verhältnis hingewiesen, von dem schon am Anfang die Rede war: nämlich auf jene Bezughaftigkeit, die für Fichtes Transzendentalismus – und, wie sich im weiteren Verlauf der Geschichte der abendländischen Philosophie zeigt, auch für die Transzendentalphilosophie tout court – zentral ist. Sein kann nur im Denken gefasst werden. Und dass dies so ist, wird wiederum eingesehen. Es wird also bereits hier deutlich, dass sich jener Bezug von Denken und Sein nicht auf ein gegenseitiges Vor-sich-Hinsetzen eines Subjekts und eines Objekts beschränkt. Zu der Einsicht dieses höheren, das transzendentale Wissen kennzeichnenden Bezugs merkt Fichte allerdings einschränkend an: Der Vortragende [= der Wissenschaftslehrer] k[ann] nur die Bedingungen der Einsicht angeben; diese Bedingungen m[uss] nun jeder selbst in sich vollziehen, sein geistiges Leben in aller Energie daransetzen, und sodann w[ird] die Einsicht ohne alles sein weiteres Zutun sich schon von selbst ergeben. 80

In einer Hinsicht gibt es also immer schon „Wahrheit“. 81 Wäre das nicht der Fall, dann würde es keiner Philosophie bedürfen und dann könnte es auch gar keine Philosophie geben. In einer anderen Hinsicht aber ist das höchste Wissen und Erkennen etwas, das nicht einfach ist, sondern allererst erzeugt werden muss. Dieses Erzeugen steht in dieser Fassung der Wissenschaftslehre im Zentrum des transzendentalphilosophischen Ansatzes. Zunächst hat, allgemein formuliert, dieses Erzeugen Bedingungen – weshalb die Rolle des Wissenschaftslehrers darin besteht, diese Bedingungen anzugeben, um den Lernenden durch Selbstvollzug zum Wahren hinzuführen. In einem ersten Schritt wird demnach gedacht, es wird das Denken beansprucht. Das muss nun auf eine gewisse Weise geschehen, die der Wissenschaftslehrer anzeigt und lehrt, die aber das Selbstdenken zur absoluten Voraussetzung hat. Und dann kommt es in einem zweiten Schritt auch zum Sein. Mittelglied ist hierbei die „Energie“: Denken  Energie  Sein Durch ‚energisches Denken‘ „ergibt“ sich die (höchste) Einsicht („von selbst“). Denken ist erst einmal „bloßes“ Denken, es sagt nichts über das Sein aus. Wenn das Denken aber auf eine der Wissenschaftslehre angemessene Weise geschieht, nämlich „energisch“, dann kommt es zum Sein – und das heißt: zum Leben. Was ist mit „Denken“ und „Sein“ genau gemeint? 80 81

GA II/8, S.4. Ebd.

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Sein und Denken haben jeweils zwei Bedeutungen. Auf der einen Seite bezeichnet das Sein das Sein des Seienden. Nicht in der Bedeutung Heideggers (wie immer sie auch geartet sei), sondern in der Bedeutung von: Sein des real Seienden, der Welt (man könnte auch sagen: des ‚ganzen‘ Seienden). Das Sein in dieser ersten Bedeutung ist aber kein An-sich-Sein, sondern es steht – und es ist eben Kants Grundverdienst, dies ein für alle Mal aufgezeigt zu haben – in der nicht aufhebbaren Korrelation zum Denken (Fichte spricht von „Disjunktion“, die nach einem „Einheits“prinzip verlangt). Und damit ist zugleich die erste Bedeutung von Denken angezeigt: Es ist das Denken im Sinne des Begreifens des Seins (Fichte sagt auch: das Denken ist der „Begriff“ [des Seins]). Oder anders ausgedrückt: Das Denken ist das Bewusstseinssubjekt, während das Sein das Bewusstseinsobjekt bezeichnet. Beide kennzeichnen das je in Subjekt und Objekt gespaltene Bewusstsein. Auf der anderen Seite stehen „Sein“ und „Denken“ nicht mehr für ‚weltliches‘ Sein und dessen Zugang im und durch das Denken, sondern – und allein davon (und nicht vom ‚weltlichen‘ Sein) handelte der oben eingeführte ‚höhere Bezug‘ – für das Wissen. Nicht für das Wissen von jenem ersten, weltlichen Sein also, sondern von dem übergeordneten Wissen von allem Sein und Denken. In ihm findet überhaupt kein Bezug zur Welt mehr statt, sondern hier sind wir rein auf der Ebene des transzendentalen Wissens, die über die Spaltung des Bewusstseins hinausgeht. Auf dieser Ebene wird also ebenfalls gedacht. Das ist die zweite Bedeutung von Denken (welches vom Anschauen nicht ablösbar ist – das wird uns noch eingehend beschäftigen). Und dieses Denken hat auch einen Seinsstatus (dadurch unterscheidet sich Fichte grundsätzlich von Kant)! Dieses Sein ist das Sein des (transzendentalen) Wissens oder der „Einsicht“ und macht seinerseits dessen zweite Bedeutung aus. Nota bene 1: Wir haben hier also zwei Stufen. Die eine betrifft das weltliche Sein, die andere das transzendentale Wissen (in dessen spezifischem Sein). Beide sind keineswegs unabhängig voneinander, sondern stehen in einem bestimmten Bedingungsverhältnis zueinander. Die Aufklärung dieses Verhältnisses gehört zu den Hauptaufgaben der Wissenschaftslehre von 1804/II. Nota bene 2: Dabei ist aber die Art des Verhältnisses von Denken und Sein auf beiden Stufen nicht dieselbe. Auf der Stufe des weltlichen Seins ist das Denken Denken des Seins: Kein Sein ohne Denken, kein Denken, das nicht Denken von Sein wäre (für diese Gegenseitigkeit steht der Begriff der bewusstseinsmäßigen ‚Korrelation‘). Auf der Stufe des transzendentalen Wissens dagegen, d. h. der Einsicht, kann von „Sein“ nur durch ‚energisches‘ Denken gesprochen werden (es handelt sich also nicht um ein bloß ‚korrelatives‘ Verhältnis, sondern um ein solches, das Sein und Denken, wie zu Anfang gefordert, mit dem Leben verbindet). Das Sein der Einsicht ist nur unter einer bestimmten Bedingung, die Fichte das „Soll“ nennen wird. Dieses „Soll“ klärt das in der ersten Bemerkung

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angesprochene Bedingungsverhältnis von Sein der Welt und Sein der Einsicht auf. 82 Nota bene 3: Das transzendentale Wissen und seine Bestimmungen – qua Gegenstand der Wissenschaftslehre – ist nicht auf der Ebene des weltlichen Seins angesiedelt. Der Begriff des „Erzeugens“ muss also auch so verstanden werden, dass mit dem dergestalt Erzeugten etwas gänzlich „Neues“ gemeint ist, das allein in der Wissenschaftslehre mittels des eigenen performativen Denkvollzugs (der universal aufzufassen ist und sich nicht auf empirische Individuen beschränkt) sichtbar und bekannt gemacht werden kann. Da diese letzte Bemerkung sich auf die Aufgabe der ‚Prolegomena‘ bezieht, muss klargestellt werden, was ihr Gegenstand genau ist. Auch muss – über das zu dem bereits über die Erstreckung derselben einleitend Gesagte hinaus – womöglich deutlich gemacht werden, bis wohin diese ‚Prolegomena‘ reichen. Beides hängt zusammen und lässt sich nicht eindeutig entschlüsseln. Das liegt daran, dass Fichtes Ankündigungen mit dem in der vorgelegten Darstellung effektiv Vollzogenen nicht übereinstimmen. Allgemein ist zunächst voranzuschicken, dass Fichte der Begriff der ‚Prolegomena‘ ohne Zweifel sehr wichtig ist, da er in allen drei Fassungen der Wissenschaftslehre von 1804 zur Sprache kommt und den Ausführungen zur Wissenschaftslehre selbst dort jeweils vorangestellt wird. Der „vierte Vortrag“ der Wissenschaftslehre von 1805 enthält dagegen keine ‚Prolegomena‘. Lediglich in der Erlanger „Propädeutik“ ist davon die Rede: Fichte setzt sie am Anfang ihrer „Einleitung“ mit „Vorerinnerungen“ 83 gleich. In der Wissenschaftslehre von 1804/I kündigt Fichte einleitend an, dass die ‚Prolegomena‘ bis zur dritten Stunde reichen. Er setzt dies dort auch in die Tat um. In dem zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 wird am Anfang angekündigt, dass sie sich bis zum Ende des IV. Vortrags erstrecken sollen – Fichte plante, die erste Woche eben diesen ‚Prolegomena‘ zu widmen. Man stellt im weiteren Verlauf jedoch fest, dass er das Angekündigte nicht einhält, weil auch nach dem IV. Vortrag noch an zwei weiteren Stellen von ‚Prolegomena‘ die Rede sein wird – wenn auch auf eine ziemlich unbestimmte Weise. 84 Dabei lassen vor allem die letzten Bemerkungen zu den ‚Prolegomena‘ (also jene im IX. Vortrag), wenn man 82 Auch hier kann wieder auf ein Verhältnis der ‚Fünffachheit‘ hingewiesen werden: Sein und Denken auf der ‚weltlichen‘, empirischen Ebene; Sein und Denken in der Sphäre des transzendentalen Wissens; und schließlich der Einheitspunkt (‚Soll‘) dieser vier Positionen. 83 GA II/9, S. 36. 84 Nämlich am Anfang des V. sowie am Anfang des IX. Vortrags. Fichte gibt im V. Vortrag an, dass er sich noch weiterhin mit den „Prolegomena“ zu beschäftigen beabsichtigt. Im IX. Vortrag erfährt die Leserin, dass der VII. Vortrag noch in den „Prolegomena“ verblieben, während der neunte schon darüber hinausgelangt sei. Das Ende der „Prolegomena“ wäre laut dieser Stellungnahme irgendwann am Anfang der dritten Woche anzusiedeln.

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Erster Vortrag

Überlegungen zur Struktur des ersten Teils mit in Betracht zieht, keine klare Linie erkennen. Hierauf wird im Kommentar des IV. Vortrags, der meiner Auffassung zufolge bereits über die ‚Prolegomena‘ hinaus ist (und zwar aus Gründen, die an geeigneter Stelle nachgeliefert werden), zurückzukommen sein. Wenn man sich schlicht an das hält, was Fichte inhaltlich zur Bestimmung der ‚Prolegomena‘ sagt, stechen zwei Aspekte hervor. Zum einen liefern sie den Begriff der Wissenschaftslehre (und nicht diese selbst). Sie sind also jener – propädeutische – Teil der Wissenschaftslehre, der 1794 in der „Begriffsschrift“ separat von der Grundlage abgedruckt wurde. Zum anderen, und das hängt damit zusammen, legen sie lediglich „Historisches“ – im Sinne von „Faktischem“ – fest und gehen (noch) nicht auf die Genesis ein. In diesem Zyklus kommen zu diesen Anmerkungen, die für alle drei Fassungen der Wissenschaftslehre von 1804 gültig sind, noch einige genauere Präzisionen hinzu. Die ‚Prolegomena‘ dienen der „Einweihung“ 85 in die Kunst des Philosophierens. Das erinnert sehr stark an das Lehrgedicht des Parmenides, in dem der Jüngling seinerseits – dank dem Hinweis der Göttin auf den Weg des Seins und der Wahrheit – in die Philosophie eingeweiht wird. Und so wie die Göttin das berühmte „κρῖναι δὲ λόγῳ“ 86 ausspricht – beurteile mit dem Logos (mit dem Denken, durch das Begreifen) –, so legt auch Fichte als „erstes Prolegomenon“ fest, dass der Gegenstand der Wissenschaftslehre, wie ja auch zuvor schon betont wurde, eigens von der bzw. dem selbst Denkenden erzeugt werden muss (und nicht als schon vorliegend betrachtet werden kann). Es soll damit jenem Einheitspunkt Existenz gegeben werden, um den es in der Wissenschaftslehre grundlegend geht. Das ist wörtlich zu verstehen: Das transzendentale Wissen kommt lediglich einem Punkt gleich, dessen Wesen es zu fassen gilt. Dabei werden bereits jene „Regeln des Denkens“ zur Sprache gebracht, die dann die eigentliche Wissenschaftslehre durchziehen werden. Aber mit dem besagten Begriff der Wissenschaftslehre besitzt man keinesfalls auch die Wissenschaftslehre selbst. Die ‚Prolegomena‘ nehmen die Wissenschaftslehre also nicht vorweg und noch weniger machen sie diese überflüssig. Wer glaubt, sich der Wissenschaftslehre durch die ‚Prolegomena‘ entheben zu können, bleibt „Raisonneur“ und wird in die Philosophie keinen Eingang finden. * Wissenschaftslehre ist eine Art von Philosophie. Da es aber streng genommen nur eine echte Philosophie gibt und die Wissenschaftslehre den Anspruch hat, eine solche zu sein, fällt laut Fichte die Wissenschaftslehre mit der Philosophie zusammen. Wie begründet er diese Behauptung, die, wie man sieht, auf eine 85 86

GA II/8, S. 6. Parmenides, Lehrgedicht, Fragment 7 (DK).

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äußerst gewagte, aber zu seiner Zeit 87 nicht unübliche Art den Begriff der ‚Philosophie‘ qua ‚Liebe zum Wissen‘ durch den Begriff der ‚Wissenschaft‘ bzw. – bei Fichte – durch den der ‚Wissenschaftslehre‘88 ersetzen soll? Zunächst einmal legt Fichte die Wesensdefinition der Philosophie ihrem traditionellen Verständnis gemäß fest: Sie bestehe in der Zurückführung alles Mannigfaltigen auf absolute Einheit.89 Das „Mannigfaltige“ bezeichnet dabei das, was einen Gegensatz hat, was einer Unterscheidung fähig ist. Die „Einheit“ qua Absolutes 90 betrifft das In-sich-Geschlossene, das Wahre, das Unwandelbare. Und die „Zurückführung“ ist in doppelter Richtung zu verstehen: Es geht um ein wechselseitiges Begreifen des Mannigfaltigen durch das Eine und umgekehrt. Die Einheit ist Einheitsprinzip der Mannigfaltigen; und die Mannigfaltigen sind Prinzipiate der Einheit (und von nichts sonst). Auf der Grundlage dieser Definition könnte es scheinen, die Philosophien unterschieden sich durch das, was sie jeweils als das „Eine“ bestimmen. Das ist aber nur eine gleichsam empirische, „historische“ Auffassung der Philosophie. Kann es überhaupt verschiedene Auffassungen des „Einen“ – also verschiedene „Prinzipien“ – geben? Fichte verneint das entschieden. Er macht dafür drei Argumente geltend (das Argument der ‚Unmöglichkeit der Übereinstimmung‘, das Argument des ‚Selbstwiderspruchs‘ und ein ‚historisches‘ Argument). 1.) Wäre es möglich, verschiedene Konzeptionen des „Einen“ zu haben, so hätte man verschiedene Prinzipiate. Dann gäbe es aber untereinander nicht zusammenhängende Welten – „und es wäre sodann“, so lautet Fichtes Schlussfolgerung, „gar keine Übereinstimmung über irgend Etwas möglich“. 91 Vielheit der Prinzipien  Vielheit der Welten  keine Übereinstimmung Diese Schlussfolgerung ist insofern radikal, als denkbar wäre, dass verschiedene Grundansichten über die Welt vielleicht partielle Übereinstimmungen zuließen. 87 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Hamburg, F. Meiner, 1988, S. 6: „Daran mitzuarbeiten, dass die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, – ist es, was ich mir vorgesetzt.“ 88 Die Geburtsstunde des Begriffs der „Wissenschaftslehre“ selbst ist offenbar der Brief Fichtes an Karl August Böttiger vom 1. März 1794, in dem er die „Wißenschaftslehre“ von der „bloßen Liebhaberei des Wißens oder der Philosophie“ abhebt, GA III/2, S. 72. 89 GA II/8, S. 8. Vgl. C. C. E. Schmid, „Bruchstücke aus einer Schrift über die Philosophie und ihre Principien“, in Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, F. I. Niethammer (Hsg.), Neu-Strelitz, Buchhändler Michaelis, 10. Heft, 1795, S. 102: „Wir suchen also Einheit. Dieses Zurückführen alles Mannichfaltigen auf Einheit ist das ganze, große Anliegen der Philosophie, welche durch Bestimmung dieser Einheit in Einem obersten Grundsatze ihr Wesen und Dasein empfängt.“ 90 Da das „Eine“ das „Absolute“ ist, kann die Philosophie auch als „Darstellung des Absoluten“ bestimmt werden. 91 GA II/8, S. 10.

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Fichte meint aber wohl, dass verschiedene Philosophien Ausdruck unterschiedlichen Mensch-Seins sind und diese unterschiedlichen Menschen sich letztlich nicht verstehen (was sich zumindest empirisch häufig bestätigt). 2.) Das Absolute schließt es per definitionem aus, ein ‚Vieles‘ (also ‚NichtEines‘) zu sein. Denn wenn es das wäre, könnte es nur ein Relatives sein, das nach einer übergeordneten Einheit verlangte. Damit würde es in Widerspruch zu sich selbst geraten und sich selbst aufheben. 3.) Die Wissenschaftslehre hat ein Einheitsprinzip, das von allen anderen Philosophien unterschieden ist (das ist kein systematisch-sachliches, sondern ein bloß historisches Argument). Alle Philosophien vor Kant setzten das Eine als ein An-sich(-Seiendes), als ein „totes Ding“. 92 Das gelte dann auch wieder für die Philosophie nach Kant (insbesondere bei Schelling) – mit Ausnahme von Fichtes Wissenschaftslehre selbst (bzw. wohl auch von Hegel). Kant selbst dagegen habe eingesehen, dass es zum Leben nur kommen kann, wenn das Sein als in einer Sein-Denken-Korrelation befindlich aufgefasst wird. Das bringt es mit sich, dass die absolute Einheit eine höhere Einheit einer tiefer liegenden Disjunktion ist, nämlich eben von der von Denken und Sein. Damit ist diese höhere Einheit sowohl Prinzip der Einheit als auch Prinzip der Disjunktion. Fichte nennt sie das „reine Wissen“. 93 Dies ist kein Wissen von einem Objekt, sondern Wissen als Wissen, „Wissen an sich“. 94 Das Wissen von einem Objekt kommt dem Bewusstsein zu, welches je durch die Subjekt-Objekt-Spaltung gekennzeichnet ist. Das reine Wissen dagegen ist über jedes Bewusstsein hinaus. Dies entdeckte nun Kant, und wurde dadurch der Stifter der Transzendental-Philosophie. Die Wissenschaftslehre ist Transzendental-Philosophie, so wie die Kantische, darin also ihr ganz ähnlich, dass sie nicht in das Ding, wie bisher, noch in das subjektive Wissen, was eigentlich nicht möglich: – denn wer sich auf das zweite Glied besönne, hätte ja auch das erste; – sondern in die Einheit beider das Absolute setzt. 95

Die Einheit der Wissenschaftslehre ist also das „reine Wissen“. Zu behaupten, die Wissenschaftslehre sei ein einseitiger Idealismus (sofern sie sich in der Tat als „Idealismus“ ausgegeben hatte), der das Absolute als Ich oder Bewusstsein auffasst (und dabei das Seins-Korrelat unterschlägt), geht laut Fichte am Grundstandpunkt der Wissenschaftslehre völlig vorbei. 96 Er wirft nun Schelling vor, gerade den entgegengesetzten Gestus zu vollziehen, nämlich das Absolute in das Sein unter Unterschlagung des Bewusstseins-Korrelats zu setzen – und dabei trotzdem den „Ich“-Begriff noch weiter zu verwenden. Schelling habe in seinem 92 93 94 95 96

GA II/8, S. 12. GA II/8, S. 14. Ebd. Ebd. Im XIII. Vortrag (GA II/8, S. 200 unten) wird sich Fichte hierüber nuancierter äußern.

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einseitigen Realismus den transzendentalen Standpunkt Kants (sowie seinen eigenen [also denjenigen Fichtes 97]) schlicht nicht begriffen. ZWEITER VORTRAG Nachdem der Bezug der Wissenschaftslehre zur Transzendentalphilosophie allgemein und dabei die in ihr enthaltene Bezughaftigkeit von Denken und Sein herausgestellt wurde, macht sich Fichte daran, sein Verhältnis zu Kant näher zu bestimmen. Vorher bringt er aber zwei kurze einleitende Bemerkungen an. Erste Bemerkung: Fichte gibt zunächst an, welches ihm sein ‚liebster‘ Zuhörer wäre. Er wünschte sich von ihm, dass er die Wissenschaftslehre nicht wie eine doktrinäre Darstellung auffasste, die einfach auswendig gelernt würde, sondern dass ihr Gehalt mit einem gewissen Abstand frei reproduziert werde. Dabei kann auch der Gang selbständig gewählt werden: von vorne nach hinten oder umgekehrt, oder auch von der Mitte aus und dann zugleich aufsteigend und ableitend. Zweite Bemerkung: Die Wissenschaftslehre bringt neue Ansichten hervor und verursacht dadurch eine Umschaffung unserer98 selbst; das sorgt außerdem dafür, dass man ihren Gehalt am Sichersten behält. In der letzten Stunde wurde bemerkt, die höchste Einheit sei das „reine“ (nicht das objektive!) Wissen. Fichte nennt es nun die „Wahrheit und Gewissheit an und für sich“. 99 „An und für sich“ heißt: nicht ‚von etwas‘, weil das die für das Bewusstsein charakteristische Subjekt-Objekt-Spaltung bzw. die „Disjunktion“ zwischen Sein und Wissen einführte, die auf dieser höchsten Ebene nicht mehr gültig ist. Das ist der von der Wissenschaftslehre anvisierte „Punkt“. Der ganze folgende Weg wird einzig und allein in der „Steigerung der Klarheit dieses Einen Begriffs“ 100 bestehen. Dabei müsse [j]eder mehr als die bloße tote Formel, er muss ein lebendiges Bild jener Einheit bei sich führen, das ihm stehend und fest sei, und ihm nie verschwinde. An dieses sein stehendes Bild nun wende ich mich mit meinem Vortrage; dieses wollen wir weiter bilden und verklären. Wer es nicht hätte, dem könnte ich durchaus nicht beikommen, und für ihn verwandelte sich meine ganze Rede in eine Rede über das reine Nichts, indem ich in der Tat über nichts spreche, außer über dieses Bild. 101 97 Zu dieser endgültigen Erkenntnis war Fichte schon in seinem Brief an Schelling vom 31. Mai 1801 gelangt, GA III/5, S. 45, Z. 6f. 98 Dies bedeutet weniger eine Wandlung unseres inneren Wesens qua Person als vielmehr die ‚Genesis des Wir‘ überhaupt, was bereits auf einen wesentlichen Aspekt der ‚Erscheinungslehre‘ vorausweist. 99 GA II/8, S. 20. 100 GA II/8, S. 22. 101 Ebd.

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Alles – und damit äußert sich Fichte zur Hauptcharakteristik des Philosophierens überhaupt – kommt darauf an, den Vortrag der Wissenschaftslehre frei zu reproduzieren, eigens ‚nachzuerfinden‘, was voraussetzt, dass diese sich zunächst selbst konstruiert. Diese eigene Nacherfindung seitens des (zuhörenden) Denkenden ist die Voraussetzung dafür, dass auf die rechte Weise Fichtes Vortrag zum Besitzstand eines jeden Zuhörers werden kann. In der letzten Stunde wurde ferner aufgestellt, dass die absolute Einheit des Wissens für die Transzendentalphilosophie in der Einheit von Ding und subjektivem Wissen bestehe. Dies wird nun so umformuliert, dass die (weiterhin noch vorläufige) höchste Einheit (die jetzt als ‚A‘ bezeichnet wird) nicht in das Sein, aber auch nicht in das Bewusstsein, sondern in das „Band“ beider, in „Wahrheit und Gewissheit an und für sich“, 102 gesetzt wird. Hier wird also eine Setzung vollzogen. Das war der erste Punkt, der bereits im ersten Vortrag festgehalten wurde. Nun fügt Fichte einen zweiten Punkt hinzu, der nicht minder wesentlich ist: Diese Setzung bringt nämlich zugleich eine Vernichtung mit sich. Durch die Setzung von A wird der Unterschied zwischen Sein und Denken vernichtet (und genau hierin besteht die „Reinheit“ des „reinen Wissens“ A). Damit wird gesagt, dass A nicht das Zugleich von Sein und Denken, sondern das Weder-Noch beider ist. Das Zugleich von Sein und Denken gilt dagegen (zunächst einmal) 103 für die Erscheinung. Die unzertrennliche Einheit von Sein und Denken in A, die einer Vernichtung dieser Erscheinung gleichkommt, wird in einer Einsicht eingesehen, die gerade über alle Erscheinung hinaus ist. Fichte führt also bereits an dieser Stelle zwei Stufen ein: die untere Stufe der Erscheinung (bzw. des Bewusstseins) und die höhere Stufe der Einsicht (bzw. der Wahrheit und Gewissheit). Nota bene: Auch wenn Fichte an dieser Stelle auf den Begriff der „Einsicht“ nicht näher eingeht, ist es nützlich, von vornherein zu sagen, was genau damit gemeint ist. Der Begriff der „Einsicht“ tritt in der Wissenschaftslehre von 1804/II an die Stelle der „intellektuellen Anschauung“ der Jenaer Zeit. Das heißt aber nicht, dass damit die präzise technische Bedeutung jenes Begriffs übernommen würde. Fichte will vielmehr allgemein darauf hinweisen, dass das genuine Verstehen in einem ‚Sehen‘ besteht – und nicht im bloßen Begreifen. Dieses Sehen ist in einem zweifachen Sinne ein Ein-Sehen: zum einen ist es ein Sehen auf Einheit hin; zum anderen ist es, sofern ‚ein‘- etymologisch auf ‚in‘- verweist, ein inneres, verinnerlichendes Sehen.

GA II/8, S. 20. Der entscheidende Gedanke des III. Vortrags wird sein, eine zwischen A und S – D vermittelnde Instanz einzuführen – das „reine Wandelbare“ –, für welches jenes „Zugleich“ von Sein und Denken ebenfalls gelten wird. 102 103

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Über die ersten beiden Punkte hinaus – die ‚Setzung‘ und die ‚Vernichtung‘ – setzt Fichte noch einen dritten Punkt hinzu. A spaltet sich nicht nur in eine Disjunktion – die in Denken und Sein – sondern auch noch in eine zweite – in x, y, z –, wobei diese zweite Disjunktion eine „Urmodifikation“104 von A sei und dabei x und y und z sowohl im Sein als auch im Denken vorkommen sollen. Für x, y und z gilt also, dass sie durch das für die Erscheinung charakteristische Zugleich von Sein und Denken gekennzeichnet sind. Was motiviert die Einführung dieser zweiten Disjunktion? Sie gestattet es Fichte, die Wissenschaftslehre zur kantischen Transzendentalphilosophie in Beziehung zu setzen – und zwar sowohl hinsichtlich dessen, was beide eint, als auch in Bezug auf den Punkt, an dem sich ihre Wege trennen. Was beide eint, ist, dass A als „Band“ 105 der Untrennbarkeit von Sein und Denken begriffen wird. Was dagegen beide voneinander trennt, ist die Art, wie A aufgefasst wird. Für Kant sei A nur das gemeinsame Merkmal (also der „Begriff“) seiner eigenen drei Urmodifikationen x, y, z. Damit stelle er gewissermaßen drei Absoluta auf, was, wie in der ersten Sitzung ja klar herausgearbeitet wurde, dem Begriff des Absoluten selbst widerspricht und damit zurückgewiesen werden muss. Fichte dagegen nimmt es sich vor, A qua Substanz 106 und nicht qua Modifikation, also „in seiner reinen Selbstständigkeit an und für sich“, 107 aufzuweisen (was übrigens eingesehen, wofür also die „Anschauung“ in Anspruch genommen werden muss). – Fichte vermittelt demnach die Transzendentalphilosophie und den Spinozismus, wie aus den unüberhörbaren Anspielungen auf Spinoza deutlich hervorgeht. – Worin bestehen die drei ‚Absoluta‘, die Fichte bei Kant auszumachen meint? Sie entsprechen den jeweiligen Grundansätzen in den drei Vernunftkritiken. Das Absolute der Kritik der reinen Vernunft sei die sinnliche Erfahrung und insbesondere das in der Erfahrung „zu realisierende 108 Ist“. Erkenntnis muss sich unmittelbar auf Anschauung beziehen und zwar, über das hinaus, was die Funktion der Anschauungen a priori betrifft, mittels des ‚Realen‘, dessen Rolle für die Erkenntnis der Gegenstände möglicher Erfahrung von Kant so zusammengefasst wird: Die Möglichkeit der Gegenstände der Sinne ist ein Verhältnis derselben zu unserm Denken, worin etwas […] a priori gedacht werden kann, dasjenige aber, was die Materie ausmacht, die Realität in der Erscheinung (was der Empfindung entspricht), gegeben sein muss, ohne welches es auch gar nicht gedacht und mithin seine Möglichkeit nicht vorgestellt werden könnte. Nun kann ein Gegenstand der Sinne nur durchgängig bestimmt werden, wenn er mit allen Prädikaten der Erscheinung verglichen und durch dieselbe bejahend oder verneinend vorgestellt wird. Weil aber darin dasjenige, was das Ding selbst (in GA II/8, S. 26. Ebd. 106 Womit freilich nicht die (in Fichtes Augen) ‚tote Substanz Spinozas‘ gemeint ist. 107 Ebd. 108 Dieses „Realisieren“ hängt mit der Rolle des „Realen“ bei der Erkenntnis aufs Engste zusammen. 104 105

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der Erscheinung) ausmacht, nämlich das Reale, gegeben sein muss, ohne welches es auch gar nicht gedacht werden könnte; dasjenige aber, worin das Reale aller Erscheinungen gegeben ist, die einige allbefassende Erfahrung ist: so muss die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne, als in einem Inbegriffe gegeben, vorausgesetzt werden, auf dessen Einschränkung allein alle Möglichkeit empirischer Gegenstände, ihr Unterschied von einander und ihre durchgängige Bestimmung, beruhen kann. Nun können uns in der Tat keine anderen Gegenstände, als die der Sinne, und nirgend, als in dem Kontext einer möglichen Erfahrung gegeben werden, folglich ist nichts für uns ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt. 109

Und bezüglich dieses Realen legt Kant, was den Bezug zum Sein betrifft, in der Kritik der reinen Vernunft nun dar, dass es das ist, „was den Empfindungen überhaupt korrespondiert“ und etwas vorstellt, „dessen Begriff an sich ein Sein enthält“. 110 Diese, alle empirische Realität im Bereich der Erkenntnis kennzeichnende Unmittelbarkeit macht also jenes „in der Empirie zu realisierende Ist“ 111 aus. Es unterscheidet sich insofern von Lockes Begriff des Seins (bzw. des „Ist“), als Locke für die zu sichernde Erkenntnis der realen Außenwelt eine existierende, aber nicht erkennbare Substanz postuliert, die den primären Qualitäten der äußeren Dinge – um diese überhaupt als seiend annehmen zu können – verbindlich zugrunde liegen müsse. Während also laut Kant das „Ist“ unmittelbar die empirische Realität alles zu Erkennenden sichert, nimmt Locke – Descartes’ Gottesbeweis vermeidend, aber dennoch an einer transzendenten (wenn auch unerkennbaren) ontischen Grundlage der Gegenstände festhaltend – eine vermittelnde Instanz an, die für Fichte letztlich eine Inkonsequenz des englischen Empirismus auszumachen scheint. 112 Der am empirischen Ist hängende Ansatz hat aber auch ein zweites Ungenügen. Er kann für die transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis je nur Hypothetizität veranschlagen. Dies gilt für alle diese Bedingungen, insbesondere auch für den ‚höchsten Punkt‘ der Transzendentalphilosophie – die ‚transzendentale Apperzeption‘. Das Ich ist dort allenfalls eine ‚Idee der Vernunft‘, es kann keine konstitutive Erkenntnisfunktion übernehmen und das heißt keine ‚Kategorizität‘ beanspruchen. Da das in Fichtes Augen aber durchaus gefordert werden muss, ist es nach seinem Dafürhalten nur folgerichtig, wenn Kant in der Kritik der praktischen

KrV, A 582f./B 610f. KrV, A 175/B 217. 111 GA II/8, S. 28. 112 Genauso sei auch in der Kritik der reinen Vernunft jeglicher Rückbezug auf etwas Anderes als auf sinnliche Erfahrung – etwa auf „transzendentale Freiheit“ – eine Inkonsequenz, da es Kant grundsätzlich darum gehe, zu zeigen, dass Erkenntnis den Bezug auf letztere zur unbedingten Voraussetzung habe. 109 110

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Vernunft neu ansetzt und dort den „kategorischen Begriff des Ich“ 113 auf eine „übersinnliche“, „moralische Welt“ bezieht. So hätten wir also zwei ‚Absoluta‘, die sich gegenseitig aufheben: die „sinnliche“ und die „übersinnliche“ Welt. Sie stehen insofern im Gegensatz zueinander, als erstere durch bloße ‚Hypothetizität‘, letztere durch ‚Kategorizität‘ gekennzeichnet ist. Dieser Gegensatz verlangt nach einer „gemeinschaftlichen Wurzel“, die für Kant allerdings „völlig unerforschlich“ 114 sei. Daher könne sie sich nicht genetisch aus den beiden Gliedern ergeben (bzw. „mittelbar“ begriffen werden), sondern allenfalls „unmittelbar gefasst“ und dadurch als ein drittes Absolutes – als ein ‚Band‘, welches das Sinnliche und das Übersinnliche miteinander verbindet – aufgestellt werden. Genau hierzu äußert sich Kant laut Fichte in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft. An dieser Stelle kann die Unterscheidung zwischen dem kantischen Ansatz und der Position der Wissenschaftslehre genau bestimmt werden. Während jene Wurzel für Kant letztlich unerforschlich bleibt, was laut Fichte einer dogmatischen Behauptung gleichkommt, geht es ihm in der Wissenschaftslehre explizit darum, jene Zweiheit „aus Einem Prinzip“ 115 abzuleiten. Dass hier ein Prinzip 116 zu veranschlagen sei, wird von Fichte also ausdrücklich betont. Entscheidend ist, dass an keiner Stelle etwas „Unbegreifliches“ 117 übrigbleiben darf. Nichts darf unbegriffen gelassen werden. Das schließt nicht aus, dass die Wissenschaftslehre auf ein „absolut Unbegreifliches“ 118 stoßen wird. Aber dieses muss dann eben in seiner absoluten Unbegreiflichkeit – bzw. „als absolut unbegreiflich“ – begriffen werden. Auf diese Weise wird ein „absolutes Begreifen“ angekündigt, dessen Status es zu erklären gelten wird. Zwischen dem kantischen und dem Fichte’schen Transzendentalismus können also – schematisch zusammengefasst – zwei Hauptunterschiede festgehalten werden: 1.) Für Kant spaltet sich das Absolute unmittelbar in Denken und Sein und, getrennt davon, in Sinnliches, Übersinnliches und das (unbegreifliche) Band beider. Für Fichte hängen diese beiden Spaltungen genetisch zusammen. Das heißt zum einen, dass beide Spaltungen nur mittelbar durch die „höhere Einsicht ihrer Einheit“ eingesehen werden können und zum anderen, dass sie sich wechselseitig bedingen („beides gleich absolut, Eins durchaus nicht ohne das Andere“). 119 A als höhere Einheit sowie Denken und Sein einerseits und x, y, z andererseits GA II/8, S. 28. GA II/8, S. 30. 115 GA II/8, S. 32. 116 Siehe auch den III. Vortrag, wo Fichte explizit von „dem“ Prinzip der Wissenschaftslehre spricht, GA II/8, S. 41, Z. 23. 117 GA II/8, S. 32. 118 Ebd. 119 GA II/8, S. 34. Vgl. diesbezüglich GA II/8, S. 330, Z. 36 (wo „sie“ anstelle von „sich“ zu lesen ist). 113 114

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Dritter Vortrag

stellen nun also die Leerstellen dar, deren inhaltliche Bestimmung Aufgabe und Gehalt der Wissenschaftslehre von 1804/II ausmachen wird. 120 A S – D  x, y, z 2.) Der zweite Hauptunterschied ist theoretischer Natur: Für Kant geht es darum, die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori zu erweisen; Fichtes Grundanliegen ist es aufzuweisen, dass sich Synthetizität a priori und Analytizität gegenseitig bestimmen und durchdringen (wodurch die Synthetizität a priori nicht bloß behauptet wird, sondern in ihrer Möglichkeit überhaupt erklärt werden soll). DRITTER VORTRAG In dem III. Vortrag fährt Fichte zunächst mit der Unterscheidung zwischen der Wissenschaftslehre und dem kantischen Transzendentalismus fort, um dann die für die ‚Prolegomena‘ charakteristische Begriffsbestimmung der Wissenschaftslehre darzulegen und zum Abschluss zu bringen. Vorher weist er aber zunächst auf einen ganz entscheidenden Punkt hin, der – auf der systematischen und architektonischen Ebene – bereits für die Wissenschaftslehre von höchster Bedeutung ist. Die Wissenschaftslehre soll das Wissen darstellen (von dem bereits gesagt wurde, dass es keine inhaltliche Doktrin ausmacht). Aber keine Darstellung vermag je, das Wissen eigens zu fassen. Die Wissenschaftslehre stellt daher ganz bewusst ein nicht Darstellbares dar. Das ist erst einmal eine allgemeine Behauptung (die freilich zu aller Zeit für die gesamte Wissenschaftslehre gültig ist). Hier wird aber auch schon ein Fall angegeben, für den das ganz konkret gilt. Es ist nämlich so, dass A sich in einem Schlag einerseits in S und D und andererseits in x, y, z spaltet. In einem Schlag – das eine ist nicht ohne das andere und umgekehrt. Wenn wir das darstellen oder ‚konstruieren‘ sollen, so müssen wir entweder von S oder von x ausgehen – in der Darstellung haben wir also eine Folge (von einem zum anderen). Das heißt: Das in der Darstellung zu liefernde ‚Bild‘ entspricht nicht dem Darzustellenden. In dem zu Denkenden liegt etwas, das sich durch keine fixierende Nachkonstruktion 120 Dazu muss angemerkt werden, dass jenes Schema nicht statisch gelesen werden darf, sondern völlig dynamisch ist, d. h., dass die darin vorkommenden Termini sich an alle möglichen Stellen des Schemas setzen können. An der Stelle von ‚A‘ kann somit auch ‚y‘ stehen, an der Stelle von ‚S – D‘ ‚x‘, sowie an der Stelle von ‚x, y, z‘ ‚z‘; oder, anderes Beispiel: An der Stelle von ‚S – D‘ kann ‚S‘ stehen, an der Stelle von ‚x, y, z‘, ‚D‘, usw.

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einholen lässt. Es liegt darin eine Einheit, die sich im sprachlichen, schriftlichen usw. Ausdruck nur auseinanderlegen lässt, wodurch diese Einheit eben entgleitet. „Ich konstruiere daher ein durchaus nicht zu Konstruierendes, mit dem guten Bewusstsein, dass es nicht zu konstruieren ist.“ 121 Dieser an einem konkreten Fallbeispiel aufgewiesene Sachverhalt ist, wie gesagt, eine wesentliche Charakterisierung der Wissenschaftslehre und ihres Verhältnisses zu ihrem Gegenstand. Fichte kommt zu einem weiteren grundlegenden Unterschied zwischen der Wissenschaftslehre und dem kantischen Transzendentalismus (über die beiden ersten, im vorherigen Vortrag herausgestellten Unterschiede hinaus). Dieser liegt darin, dass das im II. Vortrag angezeigte Schema von Kant lediglich faktisch aufgestellt, von Fichte dagegen genetisiert wird. Wie bereits angemerkt wurde, fasst Kant die Einheit A als auf drei Arten sich bekundende Akzidenzen auf, wohingegen Fichte sie als Substanz versteht. Während Kant das Wissen sozusagen in drei Ansätzen zu fassen sucht und dabei verschiedene Seiten desselben aufdeckt (diese aber in ihrem Gegenüberstehen belässt), macht Fichte das Wissen zu einem eigenen Für-sich-Bestehenden. Was ist damit gemeint? Wenn ich etwas weiß, dass zum Beispiel Paris die Hauptstadt von Frankreich oder die zehnte Sinfonie Mahlers unvollendet geblieben ist oder auch, dass das Mischen von Farben, je nachdem, ob wir es mit den Farben in der Kunstmalerei (auf der Palette), mit farbigem Licht (zum Beispiel auf einem Bildschirm) oder mit Farbsubstanzen (etwa beim Drucken) zu tun haben, unterschiedlichen Gesetzen unterliegt (weshalb die Grundfarben jeweils verschieden sind), dann bezieht sich das Wissen ganz offenbar jeweils auf einen völlig unterschiedlichen Inhalt, aber dass es sich dabei jedes Mal unveränderlich um ein Wissen handelt, bleibt immer gleich. Fichte antwortet auf die Frage, wie es zu dieser substanziellen Einheit des Wissens kommt, in zwei Schritten – einem faktischen und einem genetischen. Bevor diese beiden nachvollzogen werden, wird erst noch eine weitere Bemerkung zum Wesen der Wissenschaftslehre vorangeschickt. Die beiden besagten Schritte gehören noch zu den ‚Prolegomena‘, sofern damit der Begriff der Wissenschaftslehre präzisiert wird. Wir wissen bereits, dass das noch nicht die Wissenschaftslehre selbst ist, weshalb diese erste Konstruktion auch einen eigenen Status hat. 122 Die Wissenschaftslehre selbst, sofern sie in ihrer eigenen Realisierung betrachtet wird, fällt mit der Realisierung des Wissens (bzw. der Gewissheit) in seiner (ihrer) ‚Substanzialität‘ bzw. „qualitativen 123 Einheit“, wie Fichte auch sagt, zusammen. Die – sich selbst realisierende – Wissenschaftslehre IST GA II/8, S. 36. Was es mit diesem ‚eigenen Status‘ auf sich hat, kann erst im letzten Vortrag geklärt werden. 123 Das ‚Qualitative‘ und die ‚Qualität‘ beziehen sich in dieser Fassung der Wissenschaftslehre – der kantischen Kategorientafel gemäß – immer auf (‚emanente‘, ‚materiale‘) ‚Realität‘ qua Negation der Veränderung (und somit auch von Veränderung abhängend); die Qualität unterscheidet sich somit grundsätzlich vom inneren Wesen, das eine wesentliche, unveränderliche Einheit ist. 121 122

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die Selbstrealisierung des Wissens als rein für sich bestehende Substanz. 124 Das hat Kant nicht geleistet und insofern weicht die Wissenschaftslehre von seinem Transzendentalismus ab. Kommen wir jetzt zu dem eigentlichen Begriff der Wissenschaftslehre, so wie er in diesen ‚Prolegomena‘ umrissen wird. Der erste Schritt ist seinerseits in zwei Unterschritte unterteilt. Es geht zunächst allgemein, wie gesagt, um die Klärung der ‚Einheit‘, d. h. des im ersten Vortrag eingeführten ‚Einheitspunkts‘, und der Art dahin zu gelangen. Um an dieser Stelle Verständnisschwierigkeiten vorzubeugen, ist es notwendig, auf eine terminologische Zweideutigkeit hinzuweisen. Fichte gebraucht den Begriff der ‚Objektivität‘ bzw. des ‚Objektiven‘ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen – und daraus werden sich dann entsprechend zwei unterschiedliche Auffassungen der Einheit ergeben. Zum einen kann ‚Objektivität‘ auf faktisch Seiendes verweisen, auf das, was fixiert wird und dadurch im Gegensatz zur Mobilität und Dynamik des Genetischen steht. Von ‚Objektivität‘ zu abstrahieren, würde dann bedeuten, die Fixierung nicht mitzumachen und das Genetisieren gleichsam in seinem ‚Schweben‘ zu belassen. Zum anderen kann das ‚Objektive‘ aber auch schlicht den Gehalt einer Erkenntnis meinen, dem dann das ‚Subjektive‘ – als die darauf bezogene Erkenntnisleistung selbst – entgegensteht (bzw., genauer gesagt, unablöslich korreliert). Diese beiden Begriffe der Objektivität bzw. des Objektiven stehen nicht auf der gleichen Stufe. Im ersten Fall meint ‚Objektivität‘ das Faktisch-Reale allgemein, im zweiten Fall handelt es sich beim ‚Objektiven‘ um einen besonderen Erkenntnisinhalt. Erster Schritt. Wenn man etwas weiß, dann weiß man nicht nur etwas, sondern dann weiß man auch, dass man weiß. Und dieses Wissen qua Wissen ist je nur eines. Ich weiß in allen möglichen Fällen. Diese Selbigkeit des Wissens qua Wissen – ganz gleich, welcher Art das gewusste Objekt dabei ist – ist „in gänzlicher Abstraktion von der Objektivität […] übrig bleibend[,] also substant, und in aller Veränderung der Objekte stets sich gleich bleibend; also qualitative in sich durchaus unveränderliche Einheit“. 125 Diese Einsicht einer übrig bleibenden Einheit (nachdem von jedem OBJEKT abstrahiert wurde) ist eine unmittelbar gewisse Einsicht. Soweit der erste Teil dieses ersten Schrittes, in dem Fichte bei der Bestimmung dieser ‚unveränderlichen‘ – bzw. wie er im weiteren Verlauf sagen wird, ‚unwandelbaren‘ – Einheit auf der Unabhängigkeit vom Objekt, von der Objektivität, insistiert. Diese unwandelbare Einheit wird festgestellt. Sie drängt sich faktisch auf. In jedem konkreten Wissen, das einen je eigenen Gegenstand hat, zeigt sich

124 Der endgültige Beweis hiervon wird erst im zweiten Teil dieses Zyklus der Wissenschaftslehre geliefert. Dadurch wird sich erweisen, dass die Wissenschaftslehre und die Phänomenologie (im Fichte’schen Verstande) letztlich zusammenfallen. 125 GA II/8, S. 39.

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die unerschütterliche, unwandelbare Einheit des Wissens. Diese Einheit muss nun genetisiert werden. Da ist es aber so, dass in diesem Erheben über das Objekt genauso auch ein Erheben über das Subjekt, das ja in Korrelation zu jenem Objekt steht, stattfindet. Das eine Wissen erweist sich nicht nur als unabhängig vom Objektiven, sondern genauso auch als unabhängig vom Subjektiven. Das klingt zwar unscheinbar, enthält aber einen entscheidenden Punkt. Wenn man sich über das Objektive erhebt, kommt man gewiss zu einer unwandelbaren Einheit. Dadurch aber, dass dem Objektiven jeweils ein Subjektives entspricht und jenes Erheben-über daher immer auch ein solches über das Subjektive ist, tritt eine weitere Einheit des Wissens auf. Wir stoßen auf eine Instanz, die nicht mehr an die Wandelbarkeit nur des Objektiven und auch nicht nur des Subjektiven gebunden ist, sondern an beide in deren Einheit. Diese neue Einheit, die sich zwar ergibt, dabei von uns aber in der Einsicht und durch die Einsicht auch gleichsam erzeugt wird, wird von Fichte als „rein(es) Wandelbare(s)“126 bezeichnet. Legen wir den Unterschied dieser beiden Einheiten des Wissens noch auf eine andere Weise dar. Zum einen ist das Wissen, wenn man eine Vielzahl von Fällen des Wissens in Augenschein nimmt, stets eines, ganz gleich, was gewusst wird. In dieser lediglich abstrakt geführten Betrachtung kommt es auf den Gehalt des Wissens nicht an, man stellt lediglich (faktisch) fest, dass jedes Wissen überhaupt dadurch charakterisiert ist, dass sich in ihm dieses substanzielle eine Wissen bekundet. Zum anderen scheint auch eine Einheit des Wissens auf, die sich aus dem Durchlaufen konkreter Wissensfälle ergibt. Wenn ich weiß, dass A und dass B und dass C usw., dann ist diesen Fällen ebenfalls gemein, dass sie alle je ein Wissen sind. Dieses ist aber keine abstrakt festgestellte, behauptete, gewissermaßen postulierte Einheit, sondern eben die Einheit von diesen Fällen (A und B und C usw.). Diese bewusstseinsmäßige Einheit ergibt sich nur aus den konkret vollzogenen Wissensakten. Sie ist zugleich vorgefunden und erzeugt. Vorgefunden: denn sie stellt sich eben an diesen Fällen stets heraus; erzeugt: ohne den konkret vollzogenen Wissensakt hätte man keinerlei mögliche Erkenntnis davon. Diese zweite Einheit ist also keine faktisch vorgefundene, sondern eine im Bewusstsein und durch das Bewusstsein genetisierte Einheit. Worin besteht dann also die gesuchte Einheit des Wissens? Einerseits in der stehenden, unwandelbaren, „übrig bleibenden“ 127 Einheit, die sich aus der Abstraktion der Objektivität ergab. Andererseits aber auch in der „rein wandelbaren“ Einheit über Objektives und Subjektives hinaus, die im konkreten Wissensvollzug (darin besteht ihre Bewusstseinsmäßigkeit) an konkreten Wissensfällen vorgefunden und erzeugt wird. Fichte antwortet auf jene Frage demnach wiederum mit 126 GA II/8, S. 40 bzw. 41. Im VI. Vortrag nennt er es auch „lebendige[s], absolute[s] Sondern in uns“ (GA II/8, S. 94). 127 GA II/8, S. 38. Vgl. auch GA II/8, S. 58.

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einer Zweiheit! Diese nimmt eine Gegenüberstellung vorweg, die im gesamten weiteren Verlauf ständig wieder auftreten wird – nämlich die zwischen Realismus und Idealismus. Die realistische Position behauptet ein An-sich-Sein, welches das Prinzip seiner Genesis in sich selbst hat (= substanzielles Wissen). Die idealistische Position vertritt die Auffassung, dass die Genesis durch das ‚Wir‘ (= konkreter Wissensvollzug im Durcheinander von An-sich und Für-uns) geleistet werden muss. Jedenfalls haben wir nun durch dieses in apriorischer Evidenz vollzogene Verfahren ein rein Wandelbares, das dem rein Unwandelbaren gegenübersteht. Diese Zweiheit liefert dann die Grundlage für die weiteren genetischen Konstruktionen, die ab dem IV. Vortrag vollzogen werden. Weshalb wird hier also das „rein Wandelbare“ eingeschoben, warum stellt Fichte der Subjekt-Objekt-Spaltung nicht einfach das rein Unwandelbare (= substanzielle Wissen) gegenüber? Die Antwort lautet: gerade weil die Einheit in ihrem Übrig-Bleiben deduziert werden soll. Und dafür bedarf es einer Vermittlung, eines ‚Mittlers‘, zwischen der Subjekt-Objekt-Dualität und der absoluten Einheit. Dieses ‚von uns erzeugte‘ vermittelnde Moment – und damit ist auch der zweite Teil des ersten Schrittes abgeschlossen – ist, wie gesagt, das „rein Wandelbare“. 128 Zweiter Schritt. Eigentliches Resultat des ersten Schrittes ist die Aufweisung einer Zweiheit – über die Subjekt-Objekt-Spaltung hinaus – von rein Unwandelbarem und rein Wandelbarem. 129 Zu erwarten ist im zweiten Schritt, dass die höchste Einheit zu dieser Zweiheit aufgefunden bzw. genetisiert wird. Und das ist auch der Fall. Allerdings führt Fichte zunächst auf eine relativ unangemessene Weise dorthin. Er schreibt (und dabei liegt die sprachliche Ungenauigkeit im zweiten Satz): „Wir sehen bloß ein, dass [das gesuchte Einheitsprinzip] so ist, wir sehen aber nicht ein: was es denn, als diese qualitative Einheit, eigentlich ist. Eben, weil wir nur ein solches Dass einsehen, sind wir in einer Disjunktion, also in zwei Absoluten befangen, der Wandelbarkeit und der Unwandelbarkeit […].“130 Laut der Logik des Gedankengangs stehen aber das „Dass“ und die Disjunktion gerade 128 Das von Fichte festgehaltene „Resultat“ geht auf die zweite Einheit (die des „rein Wandelbaren“) nicht ein. Im weiteren Verlauf der Argumentation nimmt dieses aber eine zentrale Rolle ein. Es ist vielleicht davon auszugehen, dass die Argumentation in verschiedenen Ansätzen entwickelt wurde und im ersten Ansatz das „reine Wandelbare“ noch nicht in seiner ganzen Bedeutung erfasst wurde. Um den Gang des Gedankens schlüssig zu machen, müsste in diesem „Resultat“ jedenfalls festgehalten werden, dass die Einheit A sich an dieser Stelle in zwei Einheiten – die des rein Unwandelbaren und des rein Wandelbaren – aufspaltet und dass nun (wie das in der Folge ja auch explizit dargetan wird) die Einheit für diese neue Disjunktion genetisiert werden muss. Und da das rein Wandelbare, im Gegensatz zum rein Unwandelbaren, ja an den konkreten Wissensvollzug gebunden ist, geht es in dieser Genetisierung insbesondere auch darum, Abstraktion und Konkretheit, Transzendentalität und Empirizität, miteinander zu vermitteln. 129 Folgerichtig spricht Fichte auch ganz zu Anfang des IV. Vortrags von der Notwendigkeit einer „doppelten Konstruktion des Unwandelbaren, und zugleich des Wandelbaren“ (GA II/8, S. 53). 130 GA II/8, S. 40.

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in einem umgekehrten Verhältnis zueinander. Es müsste vielmehr heißen: Da wir hier wiederum in einer Disjunktion befangen sind, weist das darauf hin, dass wir noch ein Faktum (= gerade jenes „Dass“) genetisieren müssen, nämlich das Faktum des Gegenüberstehens von Wandelbarem und Unwandelbarem (sei es auch auf der Ebene des „Reinen“, über jede Empirie hinaus). Worin besteht dieses Was? Hier, in den ‚Prolegomena‘, wo lediglich ein Begriff der Wissenschaftslehre gegeben wird, kann das dementsprechend nur begrifflich-abstrakt beantwortet werden. Die Durchführung bzw. ‚Realisierung‘ davon ist dann nichts Anderes als die Realisierung der Wissenschaftslehre selbst. Die provisorische Antwort der ‚Prolegomena‘ auf die Frage nach dem ‚Was‘, nach dem Wesen, nach der Durchdringung des Prinzips in seiner „Einen absoluten Qualität“ lautet: Die beiden Glieder der Disjunktion (Unwandelbarkeit und Wandelbarkeit 131), zu denen laut Fichtes an dieser Stelle hinzugefügten Bemerkung noch ein Drittes – nämlich die „unerforschliche Wurzel“ beider – hinzukommen „könnte“,132 stehen sich nicht einfach gegenüber, sondern sie stehen in einem genetischen Bedingungsverhältnis zueinander. Dieses ist aber nicht einseitig ausgerichtet (es ist kein gewöhnliches Kausalverhältnis), sondern es ist wechselseitig (wenn auch nicht bloß symmetrisch). Das höchste Prinzip wird daher so bestimmt werden müssen, dass es sich einerseits als Einheits- und Disjunktionspunkt jener Zweiheit erweist und dass es andererseits erklärt, worin genau dieses genetische Bedingungsverhältnis besteht – nämlich darin, dass das substanzielle Wissen die notwendige Grundlage für das konkret vollzogene Wissen ist, umgekehrt aber auch das substanzielle Wissen durch das konkret-faktische Wissen in Vollzug gebracht und dadurch genetisiert wird. Und genau diese Antwort liefert Fichte dann auch – freilich nur auf eine begrifflich-abstrakte Weise – an dieser Stelle in den ‚Prolegomena‘. Unwandelbares und Wandelbares werden dabei jeweils als „Sicherzeugen des Wissens“ und als (bewusstseinsmäßige) „Bedingung dieses Sicherzeugens“ gefasst. 133 Einerseits muss die absolute Einheit (qua reine Unwandelbarkeit) in einem Sicherzeugen bestehen. Damit das auch dem Wissen zugänglich sein kann, 131 Wenn im Weiteren von ‚Wandelbarkeit‘ die Rede ist, dann ist damit immer das ‚rein Wandelbare‘ gemeint. 132 GA II/8, S. 40. Die sich auf diese „unerforschliche Wurzel“ von rein Unwandelbarem und rein Wandelbarem beziehende Bemerkung ist freilich missverständlich, da im weiteren Verlauf dieser Fassung der Wissenschaftslehre ein eigenständiges ‚Drittes‘ nirgends aufgewiesen wird und auch nicht aufgewiesen werden kann. Fichte wird vielmehr darlegen, dass sich beide durch eine Art, die im Folgenden auszuführen ist, gegenseitig genetisch bedingen – nur in diesem Sinne kann von einem ‚Dritten‘ gesprochen werden. Und nur so kann auch das ganz am Ende des II. Vortrags angesprochene gegenseitige Bestimmungsverhältnis des ‚Synthetischen a priori‘ und des ‚Analytischen‘ verständlich gemacht werden. 133 Ebd. Mit der Dualität von „Unwandelbarkeit“ qua absolutem Sein und „Wandelbarkeit“ qua Bedingung der Selbstkonstruktion dieses Seins vermittelt Fichte in der Wissenschaftslehre eine ontologische und eine transzendentalphilosophische Perspektive.

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muss dieses Sicherzeugen erscheinen. Andererseits muss auch – und das betrifft das zweite Glied der absoluten Einheit (also die Wandelbarkeit) – die Bedingung dieses Sicherzeugens aufgewiesen werden. Das geschieht (aus dem gleichen Grunde) so, dass die Erscheinung der Bedingung der Erscheinung des Sicherzeugens genetisiert wird. Dabei ist das Absolute nicht rein mit sich selbst beschäftigt (wie im Falle seiner Selbsterzeugung), sondern diese (erscheinende) Bedingung wird von ‚uns‘ erzeugt – wobei natürlich, was für alle diese Begriffe gilt, der Status des ‚Wir‘ geklärt werden muss. Damit kommt eine Vermittlung ins Spiel. Diese hat dementsprechend zwei Seiten. Einerseits wird in der absoluten (Selbst-)Realisierung des Absoluten das Wandelbare aus dem Unwandelbaren mittelbar gefasst. Andererseits erweist sich aber doch – umgekehrt – das Unwandelbare als durch das Wandelbare bedingt. Das Bedingungsverhältnis ist also auch insofern ein mittelbares, als jedes der beiden Glieder – auf eine unterschiedliche Art und Weise – auf das jeweils andere verweist. Man könnte gewissermaßen behaupten, das Unwandelbare sei die ratio essendi des Wandelbaren und das Wandelbare die ratio cognoscendi des Unwandelbaren. Es sollte damit jedenfalls hoffentlich deutlich geworden sein, worin die wesentliche Rolle des ‚rein(en) Wandelbaren‘ in den ‚Prolegomena‘ besteht 134 und wie sich mit dem angesprochenen wechselseitigen Bedingungsverhältnis von rein Unwandelbarem und rein Wandelbarem der Begriff der Wissenschaftslehre in einem ersten Umriss darlegen lässt. Ohne dass Fichte das eigens herausstellen würde, gelangt er hier zu einem revolutionären Begriff der von der Philosophie gesuchten Einheit sowie der Philosophie selbst. Die Einheit ist nicht mehr eine statische, sondern sie ist „Wandel überhaupt“. 135 Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass die ursprüngliche Einheit Dynamizität, Beweglichkeit ist und nicht statisches Ansich. Die Philosophie hat es mit einer ‚Wahrheit‘ zu tun, die nicht (mehr) das parmenideische unbewegliche Eine ist, sondern Einheit qua Leben 136 – und das ist ein weiterer Grund dafür, weshalb Fichte ganz zu Anfang gefordert hat, ‚es müsse zum Leben kommen‘. Und die bereits angesprochene grundlegende Schwierigkeit der Wissenschaftslehre besteht dann darin, diesem Leben in einer adäquaten Erkenntnis-, Verstehens- oder Wissensform Rechnung zu tragen. Abschließend liefert Fichte noch einige zusätzliche Bemerkungen zur Eigenart der Wissenschaftslehre. Ihr ‚eigentliches Wesen‘ besteht – wie das diese ‚Prolegomena‘ deutlich gemacht haben – in der Beantwortung der Frage nach der Einheit des Wissens, in der Sein und Wesen des Wissens zusammenfallen. Das kann 134 Vorausblickend kann man schon einmal sagen, dass die „Unwandelbarkeit“ „Sein“, die „Wandelbarkeit“ „Begriff“ und die Wurzel beider „Licht“ genannt werden wird. 135 GA II/8, S. 46. 136 Wenn ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Philosophie die „Differenz“ gegenüber der „Identität“ stark macht, wird somit lediglich eine Fichte’sche Einsicht neu entdeckt – wobei Fichte freilich die Einheit keineswegs aufgibt, sondern die Vermittlung von Identität (bzw. Einheit) und Differenz zu fassen sucht.

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nur in einer ‚innerlichen Konstruktion‘ dieses Wesens des Wissens geschehen, welche der Selbstkonstruktion des Wissens gleichkommt (‚Konstruktion‘ und ‚Genese‘ sind synonym). Somit fallen ihrerseits die Wissenschaftslehre und die Selbstdarstellung oder Selbstkonstruktion des Wissens (in dessen Wesen) zusammen. Sie gehen gegenseitig ineinander auf und durchdringen sich. Zwar kann man sprachlich und begrifflich (diskursiv) sie nur nach- bzw. auseinander darstellen, aber wesentlich sind sie eins. Sie machen das ‚genetische Urwissen‘ aus. Dieses ‚Urwissen‘ setzt zwei Grundbegriffe der Wissenschaftslehre zueinander ins Verhältnis – den der ‚Genesis‘ und den der ‚absoluten Faktizität‘. Für Fichte besteht der Hauptunterschied zwischen der Wissenschaftslehre und dem kantischen Transzendentalismus (und a fortiori jeder anderen Philosophie) darin, dass die Wissenschaftslehre die einzige ist, die sich zum genetischen Wissen an und für sich erhebt, während der Kantianismus (und alle anderen Philosophien sowieso) auf der Stufe des Faktischen stehenbleibt. Die Wissenschaftslehre lässt keine Faktizität bestehen, sondern genetisiert jegliches Faktum. Das heißt – provisorisch ausgedrückt –, dass das Grundgesetz der Einheit nicht nur ‚mechanisch‘, gleichsam ‚von außen‘, wirken darf, sondern in das Wissen selbst aufgenommen werden muss. Mit anderen Worten, der kantische Transzendentalismus verbleibt auf der Ebene einer „Synthesis post factum“, während die Wissenschaftslehre eine Synthesis a priori entwickelt, die zugleich Analysis ist. Was bedeutet das konkret? Zur Erklärung der Bedeutung der „Synthesis post factum“ reicht es hin, noch einmal auf Kants Ansatz in den drei Vernunftkritiken zurückzublicken. Er entdeckte die zwei Glieder einer Disjunktion – das Sinnliche und das Übersinnliche – und postulierte (eben ‚post factum‘), dass sie in einem ‚Band‘, einem dritten Glied, vereint (synthetisiert) sein müssen, ohne jedoch zu zeigen, wie man von dieser Einheit zu jener Zweiheit kommt. Die Wissenschaftslehre dagegen besteht als einzige in der Verwirklichung eines Ansatzes, der sowohl die Vereinigung (Synthesis) der zwei Nebenglieder als auch die aus der Einheit hervorgehende Zweiheit derselben (Analysis) entwickelt und erklärt. Sie verfährt dabei so, dass sie keine reine Genesis, sondern eine Genesis einer ‚absoluten Faktizität‘ oder, wie Fichte auch sagt, eines „höchsten faktischen Objekts“ (das im Dasein bzw. in der Äußerung des Wissens besteht) verwirklicht. Genau genommen unterscheidet sich die Wissenschaftslehre vom kantischen Transzendentalismus hier in zweierlei Hinsicht. Zum einen stellt die Wissenschaftslehre die ‚höchste Faktizität‘ dar, nämlich die Einsicht des absoluten, unwandelbaren Für-sich-Seins des Wissens, abgetrennt von jeder Wandelbarkeit, während bei Kant das Absolute durch den Wandel von Sinnlichem und Übersinnlichem gekennzeichnet ist und somit auf einer niederen faktischen Evidenzebene beruht. Zum anderen kommt es in der Wissenschaftslehre zur Genesis (dieser höchsten Faktizität), während der kantische Transzendentalismus mit jener faktischen Evidenz an ihr Ende gelangt. Der Grundgedanke der ‚Prolegomena‘ enthält also – um das Ganze zusammenzufassen – zwei wesentliche Aspekte. Einerseits vertritt Fichte die Position

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einer radikalen Genesis, womit er sich von allen anderen Philosophien – auch von der kantischen – absetzt. Andererseits heißt ‚radikale Genesis‘ immer Genesis von Faktizität. Die höchste, ebenfalls allein von ihm entdeckte Faktizität 137 ist die der Erscheinung des Wissens (qua ‚höchstes faktisches Objekt‘, das in der Erscheinungslehre als „Urerscheinung“ bezeichnet werden wird und der ‚Erscheinung der Erscheinung‘ gleichkommt), die zum reinen, absoluten, in sich geschlossenen Wissen (das, wie wir sehen werden, auch als „lebendiges Sein“ bezeichnet werden wird) in ein Verhältnis gesetzt wird und dadurch mit ihm eine Zweiheit eingeht. Das ‚Urwissen‘ wird dann darin bestehen, diese allerhöchste Zweiheit auf ihren Einheitspunkt zurückzuführen bzw. aus diesem hervorgehen zu lassen. Das bedeutet, dass die ‚Wandelbarkeit‘ und die ‚Unwandelbarkeit‘ sich gegenseitig – aber auf eine je eigene Weise – bedingen. Die (ersten) Prinzipien aller Wissenschaften – auch der Mathematik und selbst gewissermaßen der Philosophie – sind bloß faktisch. Nur die Wissenschaftslehre, welche die genetische Evidenz aufzuweisen und die faktische Evidenz daraus abzuleiten sich zur Aufgabe macht, stellt hier die absolute Ausnahme dar. Durch diese Alleinstellung lässt sie sich auch nur aus sich selbst beurteilen und ggf. kritisieren. Die innere Kohärenz macht für sie daher nicht nur das höchste Kriterium der Wahrheit aus, sondern legt auch den Maßstab fest, an dem sie sich selbst allein messen lässt. VIERTER VORTRAG Der III. Vortrag ist in systematischer Hinsicht besonders wichtig, da er mit der faktischen Aufstellung der zwei Einheiten des Wissens sowie mit der Aufweisung des „höchsten Faktums“ sachlich Grundlegendes für alles Folgende vorwegnimmt und dabei zur Klarstellung des Begriffs der Wissenschaftslehre auch den entscheidenden Beitrag leistet. Zudem wurde das ‚Grundschema‘ ‚reines Wissen – Urwissen – Erscheinung des Wissens‘ dort bereits faktisch eingeführt. Mit dem IV. Vortrag beginnt nun das genetische Verfahren. Deswegen sind die ‚Prolegomena‘ im strengen Sinne beendet 138 und die Wissenschaftslehre nimmt ihren eigentlichen Anfang. Es wurde bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, dass und wie sich das Grundprinzip der Gliederung dieser Fassung der Wissenschaftslehre ableiten lässt. Da Fichte diese Ableitung nicht selbst explizit vollzogen hat, wurde das im 137 Diese Faktizität ist nicht die des „Historischen“, „bloß Faktischen“, sondern in der Tat „höchstes Faktisches“, welches das fundamental Neue der Wissenschaftslehre von 1804 ausmacht. Es ist jenes Faktische, dessen das Genetische bedarf, um die Wissenschaftslehre zur „absoluten Genesis“ hinführen zu können. 138 Zu den gegensätzlichen Behauptungen Fichtes hierzu am Anfang des V. Vortrags, siehe den Kommentar an der einschlägigen Stelle.

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Einleitungsteil versucht. Daraus resultierten fünf Genetisierungsstufen oder Reflexionsstandpunkte, die jeweils fünf Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens enthalten, was insgesamt 25 solche Grundbestimmungen ergibt. Am Ende dieses Kommentars werden sie, um einen synthetischen Überblick zu verschaffen, tabellarisch aufgelistet. Der IV. Vortrag liefert mit der ersten Grundbestimmung des Wissens zugleich einen wegweisenden Hinweis zur inhaltlichen Ausgestaltung von x, y, z (gleiches wird dann im folgenden Vortrag für die zweite Grundbestimmung in Bezug auf S und D gelten). Dafür knüpft er an bereits in den ersten Vorträgen erworbene Erkenntnisse an und legt sie weiter auseinander. Den Ausgangspunkt machen, wie so oft, einige einleitende Vorbemerkungen. Die erste Bemerkung setzt das zuvor eingeführte Schema mit den Begriffen von Faktizität und Genesis in Verbindung. Das Schema lautete: A spaltet sich in zwei Divisionsfundamente, nämlich Denken und Sein, einerseits, und x, y, z, andererseits. Die Glieder beider Divisionsfundamente, wie auch diese Fundamente selbst, sind jeweils in einem gemeinsamen Einheitspunkt miteinander vermittelt. Man könnte nun fragen, was der Einheitspunkt der Wissenschaftslehre selbst ist, sofern im ersten Vortrag bereits gesagt wurde, dass das transzendentale Wissen – und damit die Wissenschaftslehre selbst – in einem Punkt besteht. Ist dieser Einheitspunkt die höchste Einheit A? Oder ist er der S und D sowie x, y und z verbindende Punkt? Fichtes Antwort lautet, dass er in Wirklichkeit der (bisher noch nicht angesprochene) Einheitspunkt von A und jenem Punkt (zwischen den Divisionsfundamenten) ist. A steht laut Fichte für objektive, ‚tote‘ Einheit („reine Unwandelbarkeit“), der Punkt für eine „bloße Genesis“ (genauer gesagt: für die Abhängigkeit der beiden Disjunktionsfundamente voneinander). Es soll aber doch darum gehen, eine Genesis von Faktizität – in diesem Fall: von der absolut qualitativen Einheit A – zu realisieren. Daher ist es in der Tat korrekt, das Schema dahingehend zu verfeinern, dass es gilt, im Punkt zwischen A und den beiden Divisionsfundamenten den Einheits- und Disjunktionspunkt von höchster Einheit (reine Unwandelbarkeit) und eben jenen Divisionsfundamenten (reine Wandelbarkeit) anzusiedeln. Fichte nutzt diesen Hinweis, um den Status der Wissenschaftslehre noch einmal zu verdeutlichen. Wie bereits gesagt, besteht eine unüberwindliche Kluft zwischen dem inneren, genetischen Vollzug des Wissens und seiner äußeren Darstellung, ganz gleich ob diese begrifflich gefasst, sprachlich artikuliert oder schriftlich niedergelegt wird. Jede von Fichte (in Buchform, in Vorlesungsmanuskripten usw.) vorgelegte Fassung der Wissenschaftslehre ist je nur eine ihrer äußeren Darstellungen – und nicht sie selbst! Die Wissenschaftslehre selbst ist die innere Realisierung des Wissens. Um diesen Unterscheid zu verdeutlichen, führt Fichte die Begriffe der (genetischen) „Konstruktion“ und der „Nachkonstruktion“ ein. Dabei muss hervorgehoben werden, dass die Konstruktion (genauer: die Urkonstruktion) und die Nachkonstruktion – ganz wie rein Unwandelbares und rein Wandelbares im III. Vortrag – bereits die Unterscheidung von Realismus und

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Idealismus in sich bergen. Die Urkonstruktion ist die ursprüngliche Selbstkonstruktion des An-sich, während die Nachkonstruktion durch die Vermittlung von zu Konstruierendem und „Wir“ (bzw. durch deren gegenseitiges „Durch[einander]“) bestimmt ist. Dabei liegen auch Begreifen, Begriff, Bewusstsein stets auf der Ebene der verbildlichenden Darstellung (d. h. der Nachkonstruktion) – und ihre fundamental wichtige Rolle in der Wissenschaftslehre besteht darin, dass sie die genetisierende Funktion für die Urkonstruktion selbst haben (welche sie ihrerseits, wie schon gesagt, bedingt). Fichte macht darauf aufmerksam, dass in dem dynamischen Verhältnis, das den Bezug von Konstruktion und Nachkonstruktion, von innerer Realisation und äußerem Begreifen, kennzeichnet, der Begriff der Vernichtung erneut (nachdem er ja bereits im zweiten Punkt des II. Vortrags auftrat) ins Spiel kommt. Man kann etwa – sich auf das Schema des Anfangs dieses Vortrags beziehend – sagen, man gehe von A aus, zeige, dass das nicht genügt, und knüpfe den Punkt daran; oder genau umgekehrt: man geht vom Punkt aus, um zu A zu gelangen, weil der Punkt gleichfalls nicht genügt; wobei diese auseinanderlegende Darstellung jedoch in jedem Falle völlig unzulänglich bleiben muss, da es um die Einheit geht, die sich durch diese sukzessive Darstellung jedoch gar nicht fassen lässt. Das Nachkonstruieren kommt an das ursprüngliche Konstruieren niemals heran. Das reine Wissen lässt sich durch das Begreifen nicht einfangen. Was geschieht hier? Das Ausgehen von A oder vom Punkt genügt nicht. Weshalb? Weil beides eine ungenügende Ausdrucksweise darstellt. Nicht, weil uns „die Namen fehlen“ 139 würden, sondern weil das auseinanderlegende Fixieren hier eben der Sache nach völlig unangemessen ist. Und deswegen geht Fichte einen ganz entscheidenden Schritt weiter, der die Konsequenz aus diesem Sachverhalt ziehen und den Kernpunkt der inneren Konstruktion der Wissenschaftslehre ausmachen wird: Er deckt nämlich den Begriff der Selbstvernichtung des Begriffs bzw. der Nachkonstruktion auf. 140 Dies drückt sich, ganz allgemein formuliert, in dem folgenden Gedanken aus, der prägnant im „Begreifen des Unbegreiflichen“ mündet: „da Nachkonstruieren Begreifen ist, und dieses Begreifen hier, als an sich gültig, ausdrücklich sich selber aufgibt; so ist hier eben das Begreifen des durchaus Unbegreiflichen, als Unbegreiflichen.“ 141 Das Begreifen gibt sich ausdrücklich selbst auf – und zwar, weil Fichte nicht nur seine Unangemessenheit für das Aufgehen in der Konstruktion erkennt, sondern auch, und darin besteht der weiterführende Gedanke, das Begreifen ausdrücklich als das zu beseitigende Hindernis für die entsprechende höhere Einsicht 139 E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Husserliana X, R. Boehm (Hsg.), Den Haag, M. Nijhoff, 1966, S. 75. 140 Die „Selbstvernichtung“ ist von Fichte bereits in der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/1802 eingeführt worden. 141 GA II/8, S. 54.

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ansieht. Diese höhere Einsicht ist das „Begreifen des Unbegreiflichen“ oder auch das „Intelligieren“. Sie ist das eigentliche Erkenntniswerkzeug bzw. die genuine Wissensform des Wissenschaftslehrers. Es kristallisiert sich somit eine ‚Grundoperation‘ heraus, welche die erste Grundbestimmung des transzendentalen Wissens ausmachen wird und damit nicht nur numerisch, sondern auch inhaltlich ersten Ranges ist. Dieser ‚erste Rang‘ wird noch dadurch erhöht, dass diese ‚Grundoperation‘ im Kern auch der letzten Grundbestimmung des Wissens, die mit dem ‚Prinzip der Erscheinungslehre‘ zusammenfällt, entspricht. 142 Im Herzen dieser ‚Grundoperation‘ liegt die Selbstvernichtung des Begreifens. Damit die Einsicht in das Wesen der qualitativen Einheit möglich ist, muss sich das Begreifen dieser Einheit selbst vernichten. Denn ganz gleich wie das Begreifen auch immer verfährt, ganz gleich von wo es ausgeht, dieses Verfahren erweist sich prinzipiell als inadäquat und muss deswegen vernichtet werden. Bevor diese erste Grundbestimmung des Wissens präzise gefasst werden kann, müssen drei Bemerkungen vorausgeschickt werden. Nota bene 1: Der Ausdruck bzw. das Moment, der/das im Punkt der Genetisierung der Faktizität entscheidend ist, lautet: „im gleichen Schlage“. „Im gleichen Schlage“ finden zwei Ereignisse in zwei unterschiedlichen „Verhältnissen“ statt. Erstes („höheres“) Verhältnis: Die Realisierung der absoluten Einheit findet „im gleichen Schlage“ von A und vom Einheitspunkt ausgehend aus statt. Zweites („tieferes“ oder „niederes“) Verhältnis: Die Spaltung von A in das Divisionsfundament S – D und in das Divisionsfundament x, y, z findet ebenso „im gleichen Schlage“ statt. Und dabei folgt das niedere Verhältnis aus dem höheren. Nota bene 2: Das Bewusstsein, das durch die Subjekt-Objekt-Spaltung gekennzeichnet ist, hat sein Prinzip in der Sonderung oder Spaltung in die Divisionsfundamente. Die Unterscheidung von Einheit und Disjunktion kommt also der Unterscheidung von höchster Einsicht und Bewusstsein gleich. Nota bene 3: Diese Unterscheidung lässt sich noch auf eine andere Art ausdrücken. Die absolute Einheit betrifft ein Sein „an und für sich“. Es handelt sich dabei um eine Geschlossenheit, die „unser“ nicht bedarf. Alles läuft hier in einer inneren (Selbst-)Konstruktion ab. In der Sonderung bzw. im Bewusstsein vollzieht sich die von uns geleistete Nachkonstruktion. Dies betrifft das „Für-uns“. Hierbei unterscheidet Fichte das bereits angesprochene „Intelligieren“, das ein konstruierendes Einsehen oder ein einsehendes Konstruieren jenseits des Bewusstseins ist (und das der Wissenschaftslehre auch zugänglich ist, allerdings niemals faktisch!), und das „Begreifen“, das, wie gesagt, im Register der 142 Siehe den XXVIII. Vortrag. Mit der Entsprechung von erster und letzter Grundbestimmung des Wissens in der Wissenschaftslehre von 1804/II bildet diese einen Kreis aus, was ihr einen systematischen Charakter verleiht.

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Bewusstseinsspaltung statthat. Nun ist aber die erstere Ansicht (bzgl. der absoluten Einheit) die realistische und die letztere (bzgl. des ‚Für-uns‘) die idealistische. Daraus folgt noch einmal, dass die Urkonstruktion auf Seiten des Realismus und die Nachkonstruktion auf Seiten des Idealismus ist. Auf dieser Grundlage kann nun die angesprochene erste Grundbestimmung des transzendentalen Wissens ausformuliert werden. Diese spricht sich folgendermaßen aus: Soll das Unbegreifliche (das Unwandelbare) eingesehen werden, so muss das Begreifen (das Wandelbare) vernichtet werden. Aber um vernichtet werden zu können, muss es gesetzt sein. Das Unbegreifliche kann nur durch Setzung und Vernichtung des Begreifens eingesehen werden. Die Einsicht verlangt nach Setzung und Vernichtung. 143 Wie wird aber durch Setzung und Vernichtung die gesuchte Einsicht tatsächlich möglich und die Einheit auch fassbar? Weshalb stehen wir nach der Vernichtung nicht einfach wieder da, wo wir bereits vor der Setzung standen? Weil es sich nicht um ein sukzessives Setzen und Vernichten handelt, sondern um eine zweifache Erzeugung (der Sonderung [Setzung des Begriffs] und der Einheit [mittelbar durch die Begriffsvernichtung]), die – und das ist der entscheidende soeben angesprochene Punkt – „in demselben Schlage“144 statthat! Die Einsicht der absoluten Einheit ist nichts anderes als instantane Setzung und Vernichtung des Bewusstseins (qua Begreifen, sofern in diesem die Subjekt-ObjektSpaltung vollzogen wird, die es hier ja gerade zu überwinden gilt). 145 Diese Erzeugung der Einsicht hat nun aber nicht nur eine gnoseologische, sondern auch eine ontologische Relevanz. Dadurch, dass „im selben Schlage“ auch die Spaltung in S – D und in x, y, z statthat, und wir gerade versuchen, verständlich zu machen, worin x, y, z bestehen, 146 muss man sich vor Augen halten, dass jene ‚Grundoperation‘ der Setzung und Vernichtung gerade S und D (in ihrer transzendentalen Korrelation) betrifft. D (= Denken) steht für den Begriff bzw. für die Wandelbarkeit. S (= Sein) steht für die absolute Einheit bzw. für die 143 Man kann – ohne freilich die theologische Note dabei zu sehr betonen zu wollen – hierin womöglich eine säkularisierte Form der christlichen Vorstellung der Auferstehung anklingen hören. Diese Analogie gilt aber nur bedingt, da Fichte jede Form von Faktizität zu genetisieren beansprucht, während die Auferstehungsvorstellung als Faktum der christlichen Glaubenslehre in gewisser Hinsicht eine solche Faktizität in sich trägt. 144 GA II/8, S. 56. 145 Die ‚Grundoperation der Genesis‘ hat zwei wesentliche Bestimmungen: erstens die Gleichsetzung von Verwirklichung des Prinzips und sowohl instantanem als auch simultanem Zweifachgeschehen von Bewusstseinssetzung und -vernichtung; zweitens – und das ist zugleich der Grundgedanke der Transzendentalphilosophie – die innere Spaltung in Begriff und Sein. Das absolute Wissen ist beides in einem konkreszierenden Akt. (Im VIII. Vortrag wird Fichte erläutern, dass die erste Bestimmung [insbesondere die Unbegreiflichkeit] die Form und die zweite Bestimmung den materialen Inhalt des reinen Lichtes ausmacht.) 146 x = Begriff, Sonderung, Wandel; z = Unbegreifliches, Einheit, Unwandelbarkeit; y = Einheits- und Disjunktionspunkt beider.

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Unwandelbarkeit. Wenn nun in jener ‚Grundoperation‘ der Begriff bzw. das Denken vernichtet wird, dann bleibt nur noch das Sein übrig, das dabei aber eben zu einem unbegreiflichen wird. Und dieses Sein wird dadurch in seiner Absolutheit, die eine unbegreifliche (zugleich aber auch das in sich geschlossene Leben) ist, genetisiert. In eins damit wird die ontologische Grundlage alles Seienden, d. h. der „Träger der Realität“ (den Fichte „totes Sein“ nennt) abgeleitet. 147 Wir haben also, wenn man das Ganze prägnant zusammenfasst, eine zweifache Genetisierung (womit Fichte die kantische Synthesis post factum überwindet): die des Wandels (durch die notwendige Setzung des Begriffs); und die der Unwandelbarkeit (durch seine Vernichtung), durch welche zugleich auch – auf einer gleichsam niederen Stufe – der Grund aller Realität offenbar wird. Fichte geht danach zur „authentischen Beschreibung“ des Kerns der ersten Grundbestimmung des Wissens über. Ihre Bestandteile sind das „Begreifliche“ (rein Wandelbare) und das „Unbegreifliche“ (rein Unwandelbare). Bezüglich ihrer „Einheit“ merkt Fichte an: Die organische Einheit beider ist Konstruktion oder Begriff, und zwar der absolute Eine, von nichts Bestehendem abgezogene Begriff, da ja sein eigenes Bestehen an sich, daher das Bestehen alles Begreiflichen geleugnet wird. Ferner, die Konstruktion als Konstruktion wird nun durch die Evidenz des für sich Bestehenden geleugnet; also wird durch diese Evidenz grade das Unbegreifliche, als Unbegreifliches, und schlechthin nur als Unbegreifliches, und nichts mehr gesetzt; gesetzt durch die Vernichtung des absoluten Begriffs, der eben deswegen, damit er nur vernichtet werden könne, gesetzt sein muss […]. 148

Den Grundgedanken Fichtes zu fassen, wird dadurch erschwert, dass dieser terminologisch keine eindeutig festgelegten und durchgängig durchgehaltenen Unterscheidungen trifft. Streng genommen müsste man unterscheiden: auf der Seite des Intelligierens (also des inneren Vollzugs der Wissenschaftslehre oder der Realisierung des reinen Wissens) – Konstruktion, Intelligieren, Unwandelbares, für sich Bestehendes, An-und-für-sich-Sein; auf der Seite des Bewusstseins – Nachkonstruktion, Begriff, Wandelbares, Äußerung, Sein-für-uns. Im ersten (wie auch im letzten) Satz wird „Begriff“ somit in gewisser Weise missverständlich gebraucht. 149 Warum spricht Fichte vom „Begriff“, wenn er doch das einzusehende Konstruieren der Selbsterzeugung des Wissens selbst meint? Dies liegt darin begründet, dass es ja auch im Urwissen ein Einsehen oder Verstehen geben muss, das Fichte hier nun eben als den „Einen“, „absoluten“ „Begriff“ bezeichnet (was eben deswegen unglücklich ist, weil „Begriff“ gewöhnlich kein (ein)sehendes 147 Es ergeben sich hier also zwei Seinsbegriffe – das ‚lebendige Sein‘ der absoluten Einheit und das ‚tote Sein‘ der Realitätsgrundlage. 148 GA II/8, S. 56. 149 Im VII. Vortrag wird der „Urbegriff“ eingeführt, der den Gebrauch von „Begriff“ an dieser Stelle im Nachhinein verständlicher erscheinen lässt.

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Verstehen meint). Es muss also darauf geachtet werden, dass dieser „Eine, absolute Begriff“ nicht der (sonst als „Begriff“ bezeichnete) Bewusstseinsmodus der Nachkonstruktion ist. Auch sollte im zweiten Satz des zitierten Auszugs nicht „Konstruktion“, sondern „Nachkonstruktion“ stehen, weil ja allein die Nachkonstruktion, die dem Selbst-Konstruieren des Urwissens im Wege steht, vernichtet werden muss. Wie dem auch sei – Fichte stellt eine erste Formel der notwendigen Vereinigung von Begreiflichem (rein Wandelbarem) und Unbegreiflichem (rein Unwandelbarem) auf (diese soll hier als ‚Grundoperation der Genesis‘ bezeichnet werden, die noch in weiteren Formeln zum Ausdruck gebracht werden wird): Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muss der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet werden könne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffs leuchtet das Unbegreifliche ein. 150

In dieser ersten Formel sind vier wichtige Aspekte besonders hervorzuheben. Erstens wird das Ziel, das Geforderte, durch ein „Soll“ zum Ausdruck gebracht. Dieser Punkt wird später von ganz zentraler Bedeutung sein. Zweitens setzt Fichte ausdrücklich Unbegreifliches und Unwandelbares sowie Begreifliches und Wandelbares gleich. Da hier die Notwendigkeit der Begriffssetzung aufgewiesen wird, dies aber durch diese Gleichsetzung von Begreiflichem und Wandelbarem genauso auch die Notwendigkeit des Wandels deutlich macht, wird damit die gesuchte Genetisierung der Einheit von Wandelbarem und Unwandelbarem (siehe den III. Vortrag) geleistet. Drittens genetisiert jene Formel die Unbegreiflichkeit – es sollte aber doch das reine Für-sich-Bestehen des absoluten Wissens genetisiert werden. Es handelt sich demnach nur um einen ersten Schritt, der eben der Unbegreiflichkeit Rechnung trägt. Und viertens wird die Verstehensart des Gesuchten als „Einleuchten“ gefasst – und bereits nicht mehr als Begriff (!). Auf diese letzten zwei Punkte geht Fichte zunächst näher ein, indem er jeweils eine „WasFrage“ beantwortet. Was ist genau die „Unbegreiflichkeit“? Sie ist die Negation des Begreiflichen, das vom Begriff herstammt. Das Negierte trägt aber das Merkmal dessen, wovon es die Negation ist, an sich. Das wird hier aber ausdrücklich und bewusst negiert. Daher hat die Genetisierung der Unbegreiflichkeit jene der Absolutheit, des reinen Für-sich-Bestehens, der Substanzialität des absoluten Wissens, zum Ergebnis. Was ist ferner das „substante Wissen“? Was macht sein Wesen aus? Es besteht in der Sicherzeugung der Unbegreiflichkeit, die sich der Begriffsvernichtung 150 GA II/8, S. 56. Hierin wird die Seinsabsetzung (siehe die zweite Formel), die in der Folge einen bedeutenden Bestandteil der ‚Grundoperation der Genesis‘ ausmacht, noch nicht ausgedrückt. Es ist bemerkenswert, dass das genauso auch für den „ersten Grundsatz“ der Phänomenologie (siehe den XXVIII. Vortrag) gelten wird. Die erste und die letzte Grundbestimmung des Wissens fallen in dieser Hinsicht zusammen.

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durch Evidenz verdankt. Dabei wird nun eine neue wesentliche Unterscheidung eingeführt – die der verstandesmäßigen Seite („Begriff“) und die der anschaulichen Seite („Intuition“). Deren besondere Rolle wird jeweils folgendermaßen präzisiert. Die Rolle des Begriffs ist negativ: Das Absolute ist nur unbegreiflich, wenn sich der Begriff an ihm versucht. Die Rolle der Intuition ist dagegen positiv: Qua „genetische Evidenz“ gewährleistet gerade sie die gesuchte Genesis. Dafür wird nun wiederum der Begriff des Lichts eingeführt. Das Licht ist – ganz allgemein formuliert – das Prinzip der Bewusstheit überhaupt. Das reine Licht – von dem Fichte sagt, dass die Substanzialität dessen „Korrelat“ oder „Exponent“ (im Sinne der genetisierten Äußerung) 151 ist – ist das genetische Prinzip des absoluten Wissens. „Das reine Licht zeigt sich in sich selber als Genesis.“ Damit verfügt Fichte über alle wesentlichen Begriffe, um eine zweite Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘ aufzustellen: Soll es zur Äußerung und Realisation 152 des reinen Lichtes kommen, so muss der Begriff gesetzt sein, um durch das unmittelbare Licht vernichtet zu werden: denn darin eben besteht die Äußerung des reinen Lichtes; das Resultat aber, und gleichsam der tote Absatz dieser Äußerung ist das Sein an sich, welches darum, weil das reine Licht zugleich Vernichtung des Begriffs ist, ein Unbegreifliches wird. 153

In dieser Formel wird das Verhältnis von „Soll“, „Begriff“, „Licht“ und „Sein“ genetisch gefasst. Sie soll hier als die Formel der „Begriff-Licht-Sein-Operation“ bezeichnet werden. Ganz allgemein und zugleich prägnant dargestellt besagt diese Formel, dass, wenn es darum geht, den Bezug von Sein und Denken eigens zu fassen, dies zur Voraussetzung hat, vom gegenseitigen Bezug von Intelligieren (Licht) und Bewusstsein (Begriff) auszugehen (eine – ideale – Ebene, auf die man sich somit zuvörderst erheben muss), von dem aus das Sein dann allererst abgeleitet werden kann.154 Diese ‚Operation‘ wird den gesamten zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 durchziehen. Hierbei wird auf das Sein des Lichts selbst – qua „lebendiges Sein“ – noch nicht eingegangen, seine „Realisation“ bleibt

151 Die Gedanken werden von Fichte in einer überaus gedrängten Form dargestellt. ‚Licht‘ und ‚Sein‘ stehen in zwei verschiedenen Verhältnissen zu einander, je nachdem, ob das Sein des Lichts selbst oder das Sein der Realität gemeint ist. Während Fichte das Sein des Lichts als ‚Korrelation‘ oder ‚Exposition‘ (eben von Licht und Sein) fasst, wird er für das Verhältnis von Licht und Realität, wie später ausführlich erläutert wird, den Begriff der ‚Absetzung‘ gebrauchen. 152 In der ersten Formulierung stand das ‚Einleuchten‘ im Vordergrund, hier spricht Fichte von ‚Äußerung‘ und ‚Realisation‘, später wird noch von ‚Wirklich-dazu-kommen-Sollen‘ bzw. ‚Realiterkonstruiert-werden-Sollen‘ die Rede sein: Alle diese Begriffe nehmen jenen der ‚Erscheinung‘ vorweg, der die letzte Grundbestimmung des Wissens – das Prinzip der Erscheinungslehre bzw. Phänomenologie – entscheidend bestimmen wird. 153 GA II/8, S. 58. 154 Diese ‚Operation‘ kennzeichnet grundlegend den Fichte’schen transzendentalen Idealismus.

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ontologisch noch offen. Wenn von „Sein“ die Rede ist, betrifft das zunächst nur das „niedere“, „abgesetzte“ Sein qua „Träger aller Realität im Wissen“. Entscheidend in dieser ‚Grundoperation‘ ist, dass das Licht überall als das eine Prinzip von Sein und Begriff wirkt. Dabei ist das Unbegreifliche nur unbegreiflich – und sonst nichts. Ihm kann keine weitere „okkulte Qualität“155 zugesprochen werden (sonst verfiele man wieder in die Faktizität, der sich selbst Kant nicht zu entziehen vermochte). Es wird sich zeigen, inwiefern sich dabei das absolute Wissen als die „Wechselwirkung des Lichts mit sich selber“ 156 in dessen jeweiligem Verhältnis zum „Begriff“ und zum „unbegreiflichen Sein“ erweisen wird. Alle genetischen Konstruktionen des ersten Teils der Wissenschaftslehre von 1804/II werden auf dieses eine Prinzip zurückgeführt bzw. daraus abgeleitet werden. Nota bene. Diese ‚Begriff-Licht-Sein-Operation‘ tritt auch in der Anweisung zum seligen Leben (1806) wieder auf. Fichte weist dort in Bezug auf das Verhältnis von ‚A‘ (= Sein) und ‚B‘ (= Erscheinung) auf den ‚Durchkreuzungspunkt‘ (= ‚ב) hin, der beide miteinander vermittelt. (Dabei kommt aber auch die Durchkreuzung selbst von ‚A‘ und ‚B‘ ins Spiel [‚A×B‘ bzw. ‚B×A‘], die von dem Durchkreuzungspunkt unterschieden werden muss und das eigentliche ‚Bewusstsein‘ ausmacht.) Es erweist sich somit, dass die ursprüngliche Zweiheit von ‚A‘ und ‚B‘, von ‚Sein‘ und ‚Dasein‘ bzw. von ‚Gott‘ und ‚Erscheinung‘, in Wirklichkeit eines dritten, vermittelnden Gliedes bedarf, nämlich der ‚Liebe‘, die gewissermaßen das affektive ‚Pendant‘ zum ‚Licht‘ darstellt. Was in der Wissenschaftslehre von 1804/II ‚Sein‘, ‚Begriff‘ und ‚Licht‘ heißt, wird also in der Anweisung zum seligen Leben seine Entsprechung in ‚Sein‘, ‚Dasein‘ und ‚Liebe‘ finden. 157 * Mit jenen Bemerkungen, die sich auf die ‚Begriff-Licht-Sein-Operation‘ beziehen, schließt Fichte den ersten Teil des IV. Vortrags ab. Im zweiten Teil, der die Voraussetzungen für die zweite Grundbestimmung des transzendentalen Wissens liefert, wird die erste Grundbestimmung auf einen „höheren Standpunkt“ erhoben: Dabei wird ein „Einheitsaugpunkt“ 158 angezeigt, welcher der Zusammenfassung und Reproduktion des bereits Entwickelten dienen soll. Inwiefern handelt es sich hierbei um einen „höheren Standpunkt“ und was ist insbesondere mit dem „Einheitsaugpunkt“ gemeint?

GA II/8, S. 60. Ebd. 157 Siehe GA I/9, S. 143 und insbesondere S. 166. Vgl. N. Jaenecke, „Fichtes Darstellung der genetischen Phänomenologie in der Anweisung zum seligen Leben“, Fichte-Studien, Band 52/2023 (erstes Heft). 158 GA II/8, S. 61. 155 156

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Es wurde bereits gesagt, dass die Aufgabe dieser Fassung der Wissenschaftslehre so umrissen werden kann, dass ein formales Schema aufgestellt wird, das einer spezifischen Interpretation des kantischen Transzendentalismus entnommen wurde, und es dann darum geht, dieses Schema auch mit Inhalt zu erfüllen, d. h. anzugeben, wie ‚x‘, ‚y‘ und ‚z‘ auszulegen und zu bestimmen sind. Wenn man x, y und z mit ‚Begriff‘, ‚Licht‘ und ‚Sein‘ gleichsetzt, was offenbar mit der ‚Begriff-Licht-Sein-Operation‘ geleistet wird, dann erlaubt das zu verstehen, wie Denken und Sein auf einen Einheits- und Disjunktionspunkt bezogen werden können. Man kann aber auch – auf einer höheren Ebene –, und das geschieht im zweiten Teil des IV. Vortrags, darüber reflektieren, wie das in dieser ‚Grundoperation‘ Dargelegte die Nachkonstruktion (bzw. das ‚Bild‘) des Gehalts der Wissenschaftslehre darstellt, in welchem Bezug sie zur eigentlichen Konstruktion steht und wie Nachkonstruktion und Konstruktion ihrerseits auf einen Einheits- und Disjunktionspunkt zurückgeführt bzw. davon abgeleitet werden können. Man kann auch sagen, dass es auf diesem höheren Standpunkt um Abbild und Urbild der Wissenschaftslehre geht und auf ihm der Kern der späteren Bildlehre angelegt ist. Das bedeutet, dass es in der Wissenschaftslehre um die Genesis und Erscheinung des absoluten Prinzips geht. Darin ist nun aber – und das muss hervorgehoben werden – die ‚Grundoperation‘ ihrerseits wirksam! Das heißt, dass das, was der ‚Bildlehre‘ gegenüber auf einer niederen Stufe ist, dennoch für diese bestimmend ist (später wird auch deutlich werden, dass das Umgekehrte ebenso gilt). ‚Bildlehre‘ und ‚Grundoperation‘ sind demnach in einem gegenseitigen Bestimmungsverhältnis und überkreuzen einander. Beide wirken auf eine gegenseitig sich durchdringende Weise zusammen. Dieser Zusammenhang stellt, wenn er im wörtlichen Sinne „ein-gesehen“, d. h. auf die darin angelegte Einheit angeschaut wird, den „Einheitsaugpunkt“ der ersten Genetisierungsstufe der Wissenschaftslehre dar. Um das zu entwickeln, liefert Fichte zunächst die dritte Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘, die das in der zweiten Formel Gesagte lediglich etwas prägnanter ausdrückt: Soll es zu dem [reinen Licht] wirklich kommen, so muss der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifliches Sein gesetzt werden: gesetzt, das Licht solle sein, so ist durch diesen Satz alles das Gesagte [also der Begriff und das unbegreifliche Sein] gesetzt. 159

Dieses „Grundgesetz alles Wissens“, wie Fichte es bezeichnet, „ist wahr und bleibt ewig wahr“ – er unterstreicht die fundamentale Rolle der ‚Grundoperation‘, sie hat den Charakter absoluter Wahrheit. Nun kann über diesen Gehalt (oder Inhalt) dieser Formel hinaus auch auf die Form derselben reflektiert werden. Das geschieht auf dem „höheren

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Standpunkt“ 160 dieses zweiten Teils des IV. Vortrags. Dabei wird deutlich werden, dass und wie die ‚Grundoperation‘ auf einem niederen Standpunkt vollzogen wurde und beide Standpunkte – der „höhere“ und der „niedere“ – zusammen Wesen und Status der „Fünffachheit“ der Wissenschaftslehre zu verdeutlichen gestatten. Bei dieser Reflexion auf die Form macht Fichte folgende bemerkenswerte Entdeckung, die das Verhältnis von Konstruktion und Nachkonstruktion betrifft. Das Grundgesetz des Wissens enthält eine Wahrheit, die klar und deutlich eingesehen wird. Wer sieht sie aber genau ein? Antwort: Wir (qua Gesamtheit der „Ich“) sind es offenbar, die den gesamten Gedankengang frei nachkonstruiert, die Bedingungen der Einsicht erzeugt und schließlich selbst die darin enthaltene Wahrheit eingesehen haben. Bei tieferer Überlegung zeigt sich aber, dass auch ein entgegengesetzter Gedanke Gültigkeit hat. Sofern wir uns nämlich bei dieser Nachkonstruktion notwendigerweise immer schon auf ein vorhergehendes Wissen stützen, können gar nicht wir die alleinige Quelle der Einsicht sein, sondern müssen anerkennen, dass irgendwo im Gedankengang eine Selbsterzeugung der von jedem einzelnen Ich unabhängigen Vernunft hat stattfinden müssen. Denn ansonsten verliefe sich der Gedankengang schlicht in einem unendlichen Regress. Damit wären also nicht wir die Erzeuger der Bedingungen der Einsicht, sondern diese erzeugten sich (durch sich) selbst. Es offenbart sich ein Widerspruch: Handelt es sich bei der angegebenen Einsicht um eine Nachkonstruktion und Erzeugung durch das (einzelne) Ich oder um eine Selbstkonstruktion und Selbsterzeugung (aus) der Vernunft? Um antworten zu können, weist Fichte darauf hin, dass durch die Soll-Formulierung in allen Formeln des Grundgesetzes des Wissens deutlich wird, wie darin nicht das Licht selbst in seiner genetischen Wirksamkeit, sondern nur ein Abbild des Lichts der „Träger der Einsicht“ gewesen ist. Es handelte sich dabei mit anderen Worten nicht um ein unmittelbares Gegebensein des Lichts, sondern nur um ein mittelbares Verhältnis zu demselben. Und anders kann es auch aus den schon beschriebenen Gründen für jedes Bewusstsein bzw. für eine jede Darstellung (in) der Wissenschaftslehre gar nicht sein. Daraus folgt eine wesentliche Erkenntnis, die den Kern des zweiten Teils des IV. Vortrags ausmacht. Es ist bei der Frage, was die letzte Quelle der Einsicht ist – nämlich innere Selbstkonstruktion ([aus] der Vernunft) oder entäußernde Nachkonstruktion (des Ich und in ihm) –, festzustellen, dass die anschauliche Evidenz keinem der beiden Glieder der Alternative einen Vorrang einzuräumen vermag, sondern beides einleuchtet. Wie kann damit umgegangen werden? Es bedeutet, dass auf der Stufe der Entgegensetzung von Denken und Sein, von Ich und Gegenstand, von Subjekt und Objekt, nicht verblieben werden kann, 160

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sondern eine höhere Stufe eines „absolut bei aller Sonderung innerlich sich selbst Gleichbleibenden“161 genetisiert werden muss. 162 Diese genetische Konstruktion einer Einheit bei aller Zweiheit (oder Disjunktion), die am Ende des IV. Vortrags umrissen wird, liefert ein wichtiges Grundmodell für alle weiteren genetischen Konstruktionen der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die Quelle der Einsicht macht eine höchste Sonderung offenbar, in der nicht mehr an sich verschiedene Begriffe (A und der Punkt, Sein und Denken, Sein und Erscheinung usw.), sondern „die Konstruktion und Erzeugung […] derselben Urbegriffe“163 auszumachen sind. Schwierigkeiten bereitet hier Fichtes Kennzeichnung dieser Urbegriffe in dieser genetischen Urkonstruktion. Wir haben es mit der Alternative von innerer Selbstkonstruktion durch die Vernunft und äußerer Nachkonstruktion durch das Wir oder Ich zu tun. Die höchste Sonderung wird von Fichte aber als „Immanenz im Ich“ und „Emanenz in der Vernunft“ 164 bezeichnet. Logischer und folgerichtiger wäre es jedoch, Ich und Emanenz, auf der einen Seite, und Vernunft und Immanenz, auf der anderen Seite, zusammenzudenken. Dagegen ließen sich aber auch zwei Gegenargumente ins Feld führen. Zum einen spricht Fichte an gleicher Stelle von einer „objektivierten“ Vernunft – von „Objektivierung“ kann aber nur in einem Zweierverhältnis die Rede sein, was also dann doch der Rede von einer „Emanenz“ entspräche. Zum anderen, und das hängt damit zusammen, tendiert Fichte hier womöglich dazu, die Terminologie mit jener der Grundlage in Einklang zu bringen (was allerdings an mehreren anderen Stellen gerade nicht geschieht). Dann wäre das Ich das absolute, immanente Sein im Gegensatz zur objektivierten, emanenten Vernunft. (Das entspricht aber, um darauf noch einmal zu insistieren, nicht der üblichen Redeweise in 1804, siehe etwa den XIII. Vortrag.) Wie dem auch sei, abgesehen von dieser terminologischen Unklarheit ist Fichtes Argumentation einleuchtend. Wir haben es insgesamt mit fünf Urbegriffen auf zwei Ebenen zu tun: Sein und Denken (Begriff) auf der unteren Ebene, Konstruktion (Urbild) und Nachkonstruktion (Abbild) auf der oberen Ebene und das alles vermittelnde Licht im Mittelpunkt. Fichte fasst dies in einer vierten Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘ zusammen: Soll [die Evidenz] […] realiter konstruiert werden, so muss sie […] konstruiert werden als schwebend von a zu b, und wiederum von b zu a, und erschöpfend durchaus beides, also schwebend wiederum zwischen dem zwiefachen Schweben [(] was […] eine Drei- oder Fünffachheit der Synthesis gibt[)]. 165 GA II/8, S. 64. Dies ist die gleiche Verfahrensweise wie bei der „phänomenologischen Konstruktion“ (siehe hierzu v. Vf. Wirklichkeitsbilder, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015). 163 GA II/8, S. 64. 164 Ebd. 165 Ebd. 161 162

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Diese gesamte Konstruktion – deren grundlegende Bedeutung für die gesamte Verfahrensweise dieser Fassung der Wissenschaftslehre in der Einleitung hervorgehoben wurde – betrifft nicht nur die eine Ebene (von Denken bzw. Begriff und Sein), sondern auch die andere (von Nachkonstruktion und Konstruktion), sowie das Schweben zwischen beiden. Wenn man sich nur auf eine der Ebenen beschränkt, handelt es sich um eine Dreiheit, wenn beide Ebenen berücksichtigt werden, um eine Fünffachheit der genetischen Synthesis.166 Das Prinzip der Wissenschaftslehre ist das „eine gemeinsame Bewusstsein des Lichts“ – „Bewusstsein“ im Sinne des Intelligierens, nicht des gewöhnlichen (gespaltenen) Bewusstseins –, was zugleich erneut darauf hinweist, dass dieses Prinzip niemals selbst, sondern immer nur als „Bild“ gefasst werden kann (denn das Fassen stellt ja schon eine unüberbrückbare Trennung gegenüber dem Prinzip an sich selbst her). Dieses Prinzip wird in den angegebenen fünf „Modifikationen“167 – d. h. also dem in der Einleitung vorgestellten ersten formalen ‚Grundschema‘ gemäß – betrachtet und entwickelt, die den Leitfaden für die Auseinanderlegung der verschiedenen genetischen Konstruktionen der Wissenschaftslehre abgeben. FÜNFTER VORTRAG In seinem systematischen Hauptteil knüpft der V. Vortrag an die im vorigen Vortrag gelieferte Grundlage der Genetisierung der zweiten Grundbestimmung des Wissens an und stellt diese dann auch explizit auf. Zuvor gibt Fichte an, sich in einem ersten Teil noch weiter mit „Prolegomenen beschäftigen“, 168 was mit der hier vertretenen Auffassung (wonach die „Prolegomena“ bereits am Anfang des IV. Vortrags überwunden seien) offenkundig kollidiert. Wie sind diese widersprüchlichen Positionen 169 in Einklang zu bringen? Der V. Vortrag eröffnet die zweite Woche dieses Vortragszyklus. Die erste Woche sollte den „Prolegomena“ gewidmet sein. Nun enthielt der IV. Vortrag aber Gedanken, die „für eine vierte Vorlesung wohl zu gediegen und tief“170 waren, als dass sie noch den „Prolegomena“ zugeordnet werden könnten. Und das ist auch der Fall, denn angesichts der kohärenten Komposition des Vortragszyklus mussten und müssen diese Gedanken bereits als der eigentlichen 166 Dieses Verfahren verdiente eine viel stärkere Berücksichtigung in der Geschichte der Dialektik innerhalb der abendländischen Philosophie als ihm gemeinhin zukommt. 167 GA II/8, S. 64. 168 GA II/8, S. 66. 169 Dieser Widerspruch wird sogar noch dadurch verstärkt, dass Fichte an gleicher Stelle anmerkt, „mit der stärksten Speise dermalen noch […] verschonen“ zu wollen, was den Eindruck vermittelt, dass die Wissenschaftslehre selbst tatsächlich noch nicht begonnen habe. 170 GA II/8, S. 75.

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Wissenschaftslehre zugehörig angesehen werden. Nicht nur wurde die erste Grundbestimmung im IV. Vortrag ausführlich auseinandergelegt, sondern es wurde dort zudem auch bereits, wie gesagt, die Grundlage für die zweite Grundbestimmung gelegt. Wir haben hier einen exemplarischen Fall einer Diskrepanz zwischen dem, was Fichte sagt, und dem, was er tatsächlich macht.171 Der Kommentar muss der Kohärenz des Ganzen zu Lasten widersprechender Anmerkungen den Vorzug geben. Die vorgeschlagene Lesart lautet also folgendermaßen: Obwohl mit dem IV. Vortrag die Wissenschaftslehre selbst bereits begonnen hat, kommt Fichte am Anfang der zweiten Woche noch einmal auf die „Prolegomena“ zurück. Aber bereits im zweiten Teil des V. Vortrags wird der Gang der Wissenschaftslehre wieder aufgenommen und die zweite Grundbestimmung des transzendentalen Wissens erarbeitet, die dann im VI. Vortrag noch ein zweites Mal entwickelt wird. Zwei „Prolegomenen“ werden im längeren ersten Teil des V. Vortrags zu jenen der ersten drei Vorträge noch hinzugefügt. Sie sind aber systematisch weit weniger bedeutsam als diese. Es soll daher nur sehr kurz auf sie eingegangen werden. Das eine betrifft eine nicht zu vernachlässigende Grundvoraussetzung der Wissenschaftslehre. Vorausgesetzt wird dabei nichts Inhaltliches, sondern nur die – ein besonderes „Talent“ erfordernde – „volle Aufmerksamkeit“. Hierfür ist (allein schon aus terminologischen Gründen) „gründliches wissenschaftliches Studium“ (Fichte meint damit offenbar die Philosophie selbst, aber gewiss auch die Logik) sehr hilfreich. Die „volle Aufmerksamkeit“ verhindert es, dass einem das Sich-selbst-Machen der Wahrheit (das ja das genuine Verfahren der Wissenschaftslehre ist) entgeht oder das Man-selbst-Werden der Einsicht (das sich bei jedem eigentlichen Verstehen einstellt) nicht stattfindet. Das andere Prolegomenon betrifft die Liebe zur Wissenschaft, welche die gleichsam affektive Bedingung für das Sich-Einstellen der Wahrheit sei. Fichte fasst im zweiten Teil des V. Vortrags den ersten Teil des IV. Vortrags zusammen, womit dann, wie gesagt, die Anknüpfung an die erste Genetisierung der Wissenschaftslehre gewährleistet wird. Dabei macht er noch einmal eindringlich auf den Unterschied zwischen Faktischem und Genesis aufmerksam. Die Verfahrensweise ist jedes Mal so, dass in einem ersten Schritt etwas vollzogen wird. Dabei geht das Ich im Gegenstand eines bestimmten Vollzugs auf – und genau darin besteht die Faktizität. Wenn man hingegen das Gesetz, das den Vollzug „mechanisch“ leitet, eigens aufdeckt und so den Grund für die Bestimmung des Bezugs angibt, dann wird die Genesis dieser Bestimmung geliefert. Das 171 Bekanntermaßen hat Fichte den Text jedes einzelnen Vortrags stets am Vortag der jeweiligen Sitzung verfasst. Offensichtlich hat er dann aber nicht den Gesamttext noch einmal durchgearbeitet, sonst hätten ihm die Unverträglichkeiten zwischen dem angekündigten Verfahren und dem tatsächlichen Vollzug auffallen müssen.

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zunächst unmittelbar (faktisch) Eingesehene wird somit mittelbar eingesehen hinsichtlich seines Prinzips und Grundes. Es wird in der Genesis seiner Bestimmtheit durchdrungen. Das dergestalt Genetisierte ist aber in anderer Hinsicht wiederum faktisch und erfordert eine weitere Genesis – und so fort, bis „zur absoluten Genesis, zur Genesis der Wissenschaftslehre“. 172 Das schreibt den Weg vor, der in der Wissenschaftslehre von 1804/II beschritten wird. Dieses Verfahren dient der Orientierung, um sich die vergangenen Gedankengänge leichter ins Gedächtnis zurückzurufen. Was war anfänglich das Faktische? Die gesuchte Einheit, sofern sie nicht in A und auch nicht im Punkt, sondern zwischen beidem liegt. Das wurde also zunächst faktisch aufgestellt. Wenn wir nun danach fragen, wie dabei verfahren wurde, erschließt sich uns die Genesis. Noch einmal genauer zur in Rede stehenden Vorgehensweise: „Dadurch […] wird mir das erst Unmittelbare, eben in diesem materialen Teil Bestehende, mittelbar sichtbar: eine solche Genesis gesetzt, ist freilich eine solche faktische Einsicht gesetzt, aber eben aus und vermittelst unseres Setzens der Genesis.“ 173 Mit anderen Worten: Wir müssen die Genesis setzen, damit verständlich wird, wie die faktische Einsicht überhaupt möglich war (was wir ohne diese Genesis niemals einsichtig machen könnten). Auf den Gedankengang des IV. Vortrags angewandt stellt sich das folgendermaßen dar: Im Hinblick auf die Genesis der Einheit wurde eine Sonderung (A oder Punkt) vollzogen, deren Ungültigkeit unmittelbar eingesehen wurde. Da diese Sonderung der Wandelbarkeit bzw. dem Begriff entspricht, wurde diese also genauso genetisiert wie ihre Vernichtung – es handelt sich demnach um die genetische Evidenz (= Licht) von Setzung und Vernichtung. Genauso evident – also durch das Licht verursacht – war hierbei das Setzen einer Einheit nicht (mehr) in ihrem Für-sich-Bestehen, sondern in ihrer aus der Vernichtung des Begriffs hervorgehenden Unbegreiflichkeit. All das macht die angeführte ‚Grundoperation‘ in ihrer genetischen Evidenz aus. Ergebnis jenes ersten Teils des IV. Vortrags ist – durch die Herausstellung des Lichts als des Mittelpunktes von Einheit und Sonderung (d. h. von Sein und Begriff) – die erste Grundbestimmung des Wissens. Wenn man darauf reflektiert, wird das, was zuvor genetisch war, selbst wiederum faktisch – was nach einer neuen Genesis und somit nach der zweiten Grundbestimmung des Wissens verlangt. Wir haben es dann mit einem Bild des Lichtes zu tun und fragen nun nach der Möglichkeit seiner Genetisierung. Oder anders ausgedrückt, es geht um die Frage, wie die Einsicht dieses Bildes möglich ist. Dabei haben wir folgenden Gegensatz: Die Bedingung dieser Einsicht ist entweder Sache der Selbsterzeugung (ohne jegliches Ich) oder Sache der Erzeugung durch das Ich (des Bildes, das ja der Einsicht des Grundprinzips des Wissens entsprechen soll). Fichte schließt hieraus 172 173

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aber etwas anderes als zu Ende des IV. Vortrags. Zunächst wiederholt er: „Beides ist wahr.“ Dann fügt er hinzu: „Nicht das Licht – und eben so wenig die Einsicht des Lichtes, sondern die Einsicht der Einsicht von dem Lichte steht daher zwischen beiden.“ 174 – Bis hierher geht der Text der Sohnes-Ausgabe, in der Copia wurde am Ende des Satzes noch hinzugefügt: „[zwischen] der Emanenz und der Immanenz 175 […].“ 176 – Es wird deutlich, dass auf dieser höchsten Ebene kein bloßes Schweben zwischen zwei Gliedern – wie zuvor –, sondern eine genuine Einsicht höchstes Prinzip sein wird. Damit ist die zweite Grundbestimmung des Wissens klar benannt. Diese Einsicht ist die der Einheit und Disjunktion von Nachkonstruktion und Konstruktion. Fichte unterscheidet dabei noch einmal – dieser ganze letzte Abschnitt befindet sich ebenfalls nur in der Copia – zwischen dem „Objekt“ und dem „Subjekt“ dieser Einsicht. Das Objekt ist in dieser zweiten Grundbestimmung nicht mehr das Wissen qua Für-sich-Bestehen, qua Substanz, sondern das Licht selbst. Das Licht setzt sich an die Stelle der eingangs eingeführten und behaupteten Substanzialität des Wissens! So wird zugleich die Substanz zur bloßen Form des Lichts herabgestuft. Das Subjekt dagegen ist die Einsicht selbst, die „wirkliche innere Äußerung und Leben des Lichts“. 177 „Wirkliche innere Äußerung“ – diesen an ein Oxymoron erinnernden Begriff wird es zu erläutern gelten. Worin besteht also das „Urwissen“? Was ist der „wahre Mittelpunkt“ dieser höchsten Einsicht, zwischen Licht und Einsicht des Lichts, der einen abermals geforderten 178 „Begriff“ ins Spiel bringen wird? Wie ist die Grundbestimmung der Einsicht der Einsicht vom Licht zu verstehen? Fichte versucht auf der höchsten Stufe der „Immanenz“ sich in das lebendige Konstruieren selbst zu versetzen (das ist womöglich die einzige Stelle des ganzen Werkes, an der er das unternimmt). Er stellt dabei „die Grundinversion“ von „Tun“ und „Sein“ heraus. Hierbei setzen sich Tun und Sein gegenseitig ab – aber auf eine jeweils unterschiedliche Art, weil zwei Seinsbegriffe im Spiel sind. Das Tun setzt das wirkliche Sein ab (den Träger der Realität). Das nicht wirkliche, sondern höchste Sein setzt das Tun ab. Handelt es sich beim höchsten Prinzip im Endeffekt demzufolge um ein Prinzip oder um eine Dualität? Das Ende des V. Vortrags scheint darauf hinauszulaufen, – zumindest negativ – eine Einheit GA II/8, S. 80. Hier scheint es, als schreibe Fichte (auf eine überzeugendere Weise als im IV. Vortrag) die Immanenz der Selbsterzeugung und die Emanenz der Erzeugung durch das Ich zu, denn hier wird das „unmittelbare Tun“ mit dem „Aufgehen in der Immanenz“ gleichgesetzt. Ganz Ähnliches geschieht auch im VIII. Vortrag dort, wo von „innerer“ und „äußerer“ Existenz des Lichts die Rede ist (siehe GA II/8, S. 119 oben). 176 GA II/8, S. 81. 177 Ebd. 178 Diese Forderung äußert sich in der Soll-Formulierung. Das „Soll“ hat aber gerade die grundsätzliche Funktion, der Schelling’schen und Hegel’schen Kritik an der Reflexionsphilosophie zu entgehen und einen Gegenentwurf zu errichten. 174 175

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anzuvisieren. Das lässt sich anhand einer fünften Formel der ‚Grundoperation der Genesis‘, die sich aus Fichtes elliptischen Bemerkungen herausbilden lässt und an die erste Formel anschließt, auf den Punkt bringen (diese Formel ist nicht von Fichte selbst): Soll das Sein jenseits alles Sein einleuchten, so muss das Tun vernichtet werden, und damit es vernichtet werden könne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Tuns leuchtet das Sein jenseits alles Seins ein.

Das Tun werde auf ein nicht wirkliches Sein zurückgeführt und somit nur sekundär „materialisiert“ und dadurch „eigentlich“ – also primär – „intelligiert“ und „idealisiert“, sodass das Sein auch nur im „Sollen“ (in der „bloßen Problematizität“) verbleiben könne, ohne je im Ursprung kategorisch zu werden. Fichte geht dabei so weit zu sagen, dass das Sein sich hier „im Effekt seines Tuns vernichte“. 179 Damit unterliege nicht nur das Tun, sondern auch das (höchste) Sein selbst einer Selbstvernichtung (was auch dadurch bestätigt würde, dass das Sein „in sich selber tot“ sei)! Was folgt daraus? Wenn diese Vernichtung das „Wahre und Rechte“ ist, diese Vernichtung aber die Setzung von der Sonderung von Sein und Tun voraussetzt, dann ist letztere „innerlich um die Nichtsonderung oder Einheit zu konstruieren“. 180 Diese – zu konstruierende – Einheit wäre somit das absolute Prinzip. Das wird alles lediglich hypothetisch formuliert (der Satz beginnt mit „Vielleicht…“), und Fichte geht an dieser Stelle auch nicht weiter darauf ein. Diese Hypothese eines höchsten, sich selbst vernichtenden, nur ‚sollenden‘ – nicht minder ‚toten‘ als ‚lebendigen‘ – Seins wird dann erst an der Schwelle zur Erscheinungslehre wieder aufgenommen. Fassen wir jetzt noch einmal zusammen, welche verschiedenen „höchsten Synthesen“ der absoluten Einheit, deren Genetisierung das reine Wissen ausmacht, sich aus der ‚Grundoperation der Genesis‘ ergeben haben. Es ist deutlich zu spüren, dass Fichte seinen Weg hier noch sucht. Drei Szenarien haben sich dabei herauskristallisiert: Szenario 1: Die Dualität Konstruktion/Nachkonstruktion ist in einem Schweben begriffen, und der Einheits- und Disjunktionspunkt des reinen Wissens liegt zwischen diesen beiden Gliedern der Disjunktion. Szenario 2: Die höchste Einheit wird durch die Genetisierung einer Fünffachheit hergestellt. Dabei wird die Subjekt-Objekt-Dualität durch die Genetisierung eines urbegrifflichen Gleichbleibenden von Immanenz und Emanenz ergänzt. Daraus resultieren zwei Ebenen, die durch das reine Licht vermittelt sind. 179 180

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Szenario 3: Höchste Einheit ist ein von „Soll“ und Licht nicht zu trennendes Sein, das innerlich der ‚Grundoperation der Genesis‘ unterliegt und sich selbst vernichtet. Das erste Szenario entstammt noch den „Prolegomena“. Das zweite Szenario liefert die Grundfolie für die gesamte Wissenschaftslehre ab (auch wenn sich Fichte dessen offenbar erst nach und nach bewusst wird). Das dritte Szenario wird den Ausgangspunkt der Erscheinungslehre bilden. Methodologische Überlegungen werden dann auch im folgenden Vortrag im Mittelpunkt stehen. SECHSTER VORTRAG Am Anfang des VI. Vortrags – der eine Art reflektierenden Einschub darstellt – kündigt Fichte an, dass in ihm das „Schema“ und die „Grundregel“181 für die Art dargelegt wird, wie die verschiedenen Unterscheidungen in Bezug auf den Einheits- und Disjunktionspunkt der Wissenschaftslehre aufzufassen sind. Fünf Punkte sind maßgeblich: 1.) Die höchste Einheit ist keine bloße Einheit an sich, sondern ein Einheitspunkt, der zugleich ein Disjunktionspunkt ist, genauer – da es ja um die Genesis von Bild und Erscheinung des absoluten Prinzips geht: „Prinzip der erscheinenden Einheit und der erscheinenden Disjunktion zugleich.“ 182 Dabei wird nun – wie im III. Vortrag 183 sowie noch einmal zu Anfang des IV. Vortrags 184 und nachdem Fichte zwischenzeitlich 185 auch einen anderen Standpunkt zum Ausdruck gebracht zu haben schien – betont, dass die Wissenschaftslehre jene Einheit nicht anschaut und begreift, also überhaupt nicht adäquat darzustellen vermag (denn das käme einem Objektivieren und d. h. Töten ihres genuinen Gegenstandes gleich), sondern diese im inneren, organischen, tätigen und lebendigen Vollzug eigens ist. Fichte insistiert ausdrücklich auf diesen grundlegenden Aspekt, und dieser ist daher auch für die wesenhafte Charakterisierung der Wissenschaftslehre in diesem Sinne festzuhalten. 2.) Das höchste Prinzip ist immer zugleich Einheits- und Disjunktionsprinzip, es ist die organische Einheit des Einheits- und des Disjunktionsprinzips in ihrer jeweiligen eigenen Organizität. Wissenschaftslehre ist genuin und ausschließlich Prinzipienlehre (alles, was nicht Prinzip ist, gehört zur Erfahrung; die Wissenschaftslehre ist aber rein apriorische 181 182 183 184 185

GA II/8, S. 84. GA II/8, S. 86. GA II/8, S. 43, Z. 21–26. GA II/8, S. 53, Z. 30–31. GA II/8, S. 63, Z. 35–S. 65, Z. 5.

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Sechster Vortrag

Wissenschaft). Und da jedes Prinzip laut dem Vorhergehenden Einheits- und Disjunktionsprinzip ist, steht die Wissenschaftslehre selbst auch immer zwischen der Einheit und der Disjunktion. Zur Einheit, sofern sie noch einmal ins Verhältnis zu dem am kantischen Transzendentalismus orientierten formalen Schema gesetzt wird, merkt Fichte an: Wenn a = absolute für sich bestehende Einheit, α = Einheits- und Disjunktionsprinzip und x, y, z die Grundbegriffe der ‚Grundoperation der Genesis‘ sind, dann ließe sich das so abbilden: x a = α –y z Wenn nun aber a – wie bei Kant – in drei Modifikationen aufträte (also etwa in aa, ab und ac), dann hätte man x aa = αa – y z

x ab = αb – y z

und ac = αc – y

x z

und müsste für αa, αb und αc ein neues gemeinschaftliches α aufsuchen, um das verlangte Einheits- und Disjunktionsprinzip zu erhalten. Genau das ist, formal betrachtet, die Vorgehensweise der Wissenschaftslehre von 1804/II. 3.) Der dritte Punkt beginnt mit der Bemerkung, dass es gar kein Disjunktionsprinzip als solches, sondern nur die Ansicht des einen Prinzips als Disjunktionsprinzips gibt. Das Prinzip ist Einheit (falle diese auch mit der Disjunktion zusammen). Disjunktion gibt es nur, sofern die Wissenschaftslehre das Prinzip zu fassen sucht – daher ist die Disjunktion an Erscheinung bzw. „Ansicht“ gebunden. Die Disjunktion, sofern sie die Genesis der reinen Wandelbarkeit, also des Prinzips des Begriffs (Begreifens, Bewusstseins) betrifft, ist nicht eine Disjunktion in einzelne Glieder, sondern in Disjunktionsfundamente. Auf diese Art soll das Loslösen von jeglicher Faktizität unterstrichen werden. Wie kann dabei eine Synthesis post factum vermieden werden? Indem gezeigt wird, dass die Divisionsfundamente ihrerseits als Glieder einer höheren Einheit eingesehen werden können, in der ihre absolute Einheit und Unabtrennbarkeit offenbar wird. Diese Einsicht – welche die des Prinzips selbst ist – verschmilzt mit dem „Akt“ des Konkreszierens bzw. das Konkreszieren in dieser Einheit ist die Einsicht des Prinzips selbst! Dass die Divisionsfundamente sich dann doch trennen lassen, ist dem Begriff zuzuschreiben (der gerade darum einer Selbstvernichtung unterliegt). Der Begriff bestimmt – und macht insbesondere begreiflich, inwiefern das erste Fundament das zweite auf eine Weise und umgekehrt das zweite das erste auf eine andere Weise bestimmt. Drei Nebenbemerkungen sollen das soeben Auseinandergelegte noch weiter

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Sechster Vortrag

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verdeutlichen. Erstens wird mit dem gerade geäußerten Gedanken des eingesehenen Konkreszierens bzw. der konkreszierenden Einsicht im „Urakt“ das Zusammenfallen von Sein und Tun gefasst, welches die Wissenschaftslehre innerlich kennzeichnet und wodurch sich, wie Fichte sagt, eine „neue Welt“186 eröffnet. Hierdurch wird auch verständlich, an welchem Punkt die genetische Einsicht sich von jeder faktischen absondert. Zweitens ist mit der Einheit der Divisionsfundamente auch die „wissenschaftliche“ – wenngleich auch zunächst leere – „Form“ angegeben, die dem weiteren Gang der Wissenschaftslehre die sichere Orientierung bietet. Und drittens verfügen wir damit nun auch über die genetische Einsicht der Form des gesuchten Prinzips – allerdings noch nicht über die genetische Einsicht des Prinzips selbst, was erst mit der weiteren inhaltlichen Ausgestaltung dieser Form erreicht werden kann. 4.) Fichte betont abermals, dass die im IV. Vortrag begonnene Konstruktion der Einheit nicht irgendeine faktische Sonderung betraf (namentlich die von A und dem Punkt), sondern das „lebendige Sondern“, 187 das dem entspricht, was im III. Vortrag als „rein(es) Wandelbares“ bezeichnet wurde. Das Prinzip der Sonderung ist dabei das Denken selbst und keinesfalls der gedachte Ausgangspunkt irgendwelcher Glieder der Sonderung. 188 Dieses muss sich dann selbst vernichten, weil nur mit dem Aufheben der Sonderung die Einheit aufgehen und einleuchten kann. „Also weg mit Zeichen und Wort! Es bleibt nichts übrig, als unser lebendiges Denken und Einsehen selber, das sich nicht an die Tafel zeichnen, noch auf irgend eine Art stellvertreten lässt, sondern das eben in natura geliefert werden muss.“ 189 Dieses Einsehen ist die Einsicht der Einsicht vom Licht, welche die Einheit erzeugt und nicht derselben entnommen ist. Und diese ist auch die besagte Einsicht des Urakts des Konkreszierens in der höchsten Einheit. Daher ist der Wissenschaftslehrer dieses lebendige Licht; und jeder, der zum Wissenschaftslehrer werden will, muss – wie das im ersten Punkt bereits dargelegt wurde – sich auch in sich und für sich damit identifizieren und darin halten, damit sich die Grundeinsichten der Wissenschaftslehre – und diese selbst – ihm nicht entgleiten. 5.) So viel zum lebendigen Licht. In der abbildenden Betrachtung des Wesens des Lichtes wird das Licht dagegen getötet. Die sich hieraus ergebenden Folgen werden in einem letzten Schritt behandelt. Es muss zwischen Wesen und Sein des Lichtes unterschieden werden. Über das Wesen des Lichtes lässt sich genau das sagen, was im IV. Vortrag über das Wesen des „substanten Wissens“ aufgestellt wurde, nämlich dass es 186 GA II/8, S. 92. In den gleichen Worten kennzeichnet auch Husserl an verschiedenen Stellen seines Werkes die transzendentale Phänomenologie. 187 GA II/8, S. 94. 188 Hiermit knüpft Fichte an eine Argumentation an, die bereits im Paragraphen 9 und insbesondere in den Paragraphen 11–13 der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/1802 entwickelt wurde. 189 GA II/8, S. 94.

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Sechster Vortrag

Sicherzeugung der Unbegreiflichkeit dank der Begriffsvernichtung durch Evidenz ist. Dadurch wird nun das rein Für-sich-Bestehende, das vorher eben dem substanten Wissen zugeschrieben wurde, zum bloßen Produkt des Lichtes (qua dessen Absetzung). Das Sein des Lichtes dagegen – genauer: seine Hauptbestimmung – ist das Leben. Wenn aber das Leben eine Bestimmung des Seins ist, dann bedeutet das, dass Sein und Leben ursprünglich getrennt sind (denn sonst wäre das Leben keine bloße Bestimmung des Seins, sondern dieses Sein selbst). Gerade darin besteht die Tötung des lebendigen Seins durch diese abbildende Wesensbetrachtung, also durch den Begriff. Und dieser Widerspruch zur Behauptung des lebendigen Lichts in dieser seiner Lebendigkeit (siehe den vierten Punkt) macht die notwendige Vernichtung des Begriffs selbst aus. Damit kann Fichte nun das angekündigte Schema 190 auch präzise formulieren: Licht (Ab)setzung

Setzung

Sein

Vernichtung Begriff (Erscheimung qua Urerscheinung) Setzung

Bedingung

• (Erscheinung der Erscheinung) -----------------------------------------------------------

Konkreszieren im Akt

S – D x,y,z (Erscheinung der Erscheinung von der Erscheinung)

Das Licht setzt den Begriff qua Urerscheinung, es macht dessen Grund aus, aber es vernichtet ihn auch (was wiederum die Bedingung seiner Äußerung bzw. Realisierung sowie seines genuinen Einleuchtens ist). 191 Der Punkt wird vom Begriff gesetzt, bedingt ihn aber auch. Der nach unten gerichtete Pfeil bringt jeweils ein Erscheinen zum Ausdruck. Die Lebendigkeit der jeweiligen Erscheinung verdankt sich dabei jener des jeweilig höher liegenden Terms (also die Lebendigkeit 190 Dieses Schema betrifft nicht die Einheit der ‚Grundoperation der Genesis‘ und der ‚Bildlehre‘, sondern nur erstere mit den daraus abgeleiteten Erscheinungsmodalitäten. 191 Das innere Wesen des Lichtes selbst wird durch dieses Bedingen in keiner Weise berührt. Dieses Bedingungsverhältnis betrifft ausschließlich den Begriff qua Erscheinung.

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Siebenter Vortrag

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des Punktes der des Begriffs und die des Begriffs der des Lichts). Gleichwohl muss vor einem groben Missverständnis gewarnt werden. Bis zur „Erscheinung der Erscheinung“ handelt es sich um ein aufsteigendes Genetisieren. Allein die „Erscheinung der Erscheinung von der Erscheinung“ kann als Abstieg zum empirischen Seienden aufgefasst werden. Die gestrichelte Gerade soll diese wesentliche Unterscheidung kenntlich machen. Jener „Abstieg“ (diese Formulierung tritt auch im XVII. Vortrag noch einmal auf) wird hier allerdings lediglich angekündigt; 192 tatsächlich aber kommt, wie schon betont wurde (und genau das könnte durch das Schema, das die unterschiedlichen Erscheinungen linear und sukzessiv verortet, leicht missverstanden werden), die Wissenschaftslehre von 1804/II einem einzigen Aufstieg gleich. SIEBENTER VORTRAG Zunächst fasst Fichte stichwortartig zusammen, was im VI. Vortrag aufgestellt wurde. Das „Tiefere“ in der „ganz neuen Erläuterung“ betraf dabei die Einsicht, dass mit der Entdeckung der Zweiheit von „Bild“ und „Abgebildetem“, von „Nachkonstruktion“ und „Konstruktion“, nicht nur der Weg aus den „Prolegomena“ herausgefunden wurde, sondern eine „neue Welt“ sich eröffnet hat, der nun konkret nachgegangen werden soll. Das wird eine neue Zweiheit ergeben – und zwar eine begriffliche und eine anschauliche Seite, die zwei neue Grundbestimmungen des Wissens ausmachen. Der Ausgang wird folgerichtig nicht beim Inhalt des ersten Teils, sondern bei jenem des zweiten Teils des IV. Vortrags (und den jeweiligen Wiederaufnahmen im V. und VI. Vortrag) genommen. Es wird bei der Synthese von Konstruktion und Nachkonstruktion, konkreter: beim Licht und seinem Bild (= begrifflicher Stellvertreter) angesetzt. Es wird nun aber nicht mehr – wie bisher – der Inhalt dieser Disjunktion (und ihrer gesuchten Synthesis), sondern die Form, d. h. das genetische Verfahren, wie zum Prinzip aufgestiegen werden kann, betrachtet. Diese Genesis der Form, die das Gegenstück zur „materiellen“ Analyse des Lichtes ausmacht (siehe den zweiten Teil des IV. Vortrags und die entsprechenden Wiederholungen in den letzten beiden Vorträgen), mündet im „Urbegriff“, d. h. in der dritten Grundbestimmung des Wissens, der dieser VII. Vortrag gewidmet ist. Bis zum Ende des ersten Teils des IV. Vortrags hatte sich ergeben, dass jede 192 Es ist zu vermuten, dass Fichte sich in den ersten Vorträgen dieses Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 der gesamten Tragweite (und Originalität) insbesondere der im zweiten Teil entwickelten Erscheinungslehre noch nicht bewusst geworden war. Dies wird sich auch in der Folge erneut bestätigen, und zwar überall dort (wie etwa im neunten und im X. Vortrag), wo Schwankungen hinsichtlich der Bestimmung des Gegenstands der Phänomenologie festzustellen sind.

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Siebenter Vortrag

angetroffene Disjunktion nur faktisch auf ihre zugrunde liegende Einheit untersucht werden konnte. Wenn man dagegen auf die Disjunktion im als Abgebildetes und Bild verstandenen Verhältnis von Licht und Stellvertreter desselben reflektiert, dann wird unmittelbar deutlich, dass im Begriff des Bildes der Verweis auf das Abgebildete bereits notwendig enthalten ist et vice versa. Das eine ist ohne das andere gar nicht denkbar. Fichte fasst das solcherart begrifflich gefasste reziproke Verhältnis von Bild und Abgebildetem als neuen Mittelpunkt der Genetisierung der faktischen Gegenüberstellung von Licht und Stellvertreter des Lichts auf. Das Argument, das für Fichte diese Behauptung rechtfertigt, besteht in der Evidenz, dass mit Bild und Abgebildetem nicht zwei verschiedene Glieder, sondern dasselbe gedacht wird. Das gesuchte Prinzip ist daher höher zu verorten als das Licht, das ja der Mittelpunkt der vorigen genetischen Konstruktion war: Es besteht im „Urbegriff“, dessen Inhalt sich als die absolute Einheit darstellt und dessen Vollzug die absolute Disjunktion offenbart. Und so ist die Quelle des absolut Für-sich-Bestehenden nicht mehr das Licht (das vielmehr jetzt zu einem bloßen Disjunktionsglied 193 herabgestuft wird), sondern eben dieser Urbegriff. Es wurde im IV. Vortrag auf einen vermeintlich „missverständlichen“ Gebrauch des „Begriffs“ hingewiesen. 194 Nun wird deutlich, dass Fichte den „Begriff“ vielmehr in zwei sehr unterschiedlichen Bedeutungen fasst – und zwar auf eine einsichtige und eindeutige Weise. Bisher bezeichnete der Begriff (mit Ausnahme der besagten Stelle) lediglich die faktische Erscheinung, die das Licht durch seine Selbstvernichtung bedingte, darüber hinaus hatte er keinerlei spezifischen Inhalt. Ferner kam ihm das Prinzip der Sonderung wesentlich zu. Jetzt verfügt er dagegen einerseits über einen eigenen Inhalt: nämlich das reziproke Verhältnis von Abgebildetem und Bild. Und andererseits ist das Prinzip der Sonderung nur noch die Bedingung seiner Erscheinung. 195 Der Hauptunterschied beider Bedeutungen des Begriffs betrifft aber das Bedingungsverhältnis zwischen Licht und Begriff. Im ersten Fall war dies ein äußerliches, jetzt ist es ein inneres. Vorher war das Licht das setzende Prinzip des Begriffs (bzw. der Erscheinung); umgekehrt bedingte der Begriff (durch seine Vernichtung) die Realisierung des Lichts. Beides wie gesagt äußerlich. Nun ist der Begriff das innere Durcheinander von Licht und Abbild des Lichtes. Wir haben es in der Tat und einleuchtender Weise mit einer absoluten Einheit zu tun, die dem vormalig höchsten Prinzip des Lichts vorauszusetzen ist. Mit diesem „Urbegriff“ ist das dritte Glied der Fünffachheit – d. h. das erste Glied auf der oberen Ebene – (über Sein und Denken bzw. Licht und Einsicht der Einsicht vom Licht auf der unteren Ebene hinaus) gewonnen. Das andere Disjunktionsglied ist, wie deutlich geworden ist, sein Stellvertreter oder Abbild. Es handelt sich um die Stelle in GA II/8, S. 57, Z. 24–25. 195 Fichte setzt Leben und Erscheinung gleich (GA II/8, S. 105, Z. 17), was für das Folgende wichtig sein wird. 193 194

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Achter Vortrag

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Mit dem „Urbegriff“ ist nicht gemeint, Fichte betont das ausdrücklich, dass das Antezedens und das Konsequens in einer bestimmten Ordnung zueinander stünden (ob das Abgebildete dabei bloßes Antezedens oder realiter Antezedens und idealiter Konsequens ist, spielt also, auch wenn dem tatsächlich so sein sollte, keine besondere Rolle), sondern entscheidend ist, dass das „Durcheinander“ – später als „Durch“ bezeichnet – jegliche Folge (in diesem Falle: das Licht) innerlich zusammenhält. Das verlangt nach einem Sprung – dem Sprung vom gewöhnlichen Bewusstsein ins Intelligieren, also in die Wissenschaftslehre, wo – im Gegensatz zur Erscheinung – die diskursive Auseinander-Legung – also die Ordnung in Antezedens und Konsequens – gar nicht statthat. Wie am Ende des V. Vortrags ist auch am Ende des VII. Vortrags in der Copia eine stichwortartige Skizze beigefügt, die im Text der Sohnes-Ausgabe nicht enthalten ist. Dabei handelt es sich um eine kurze Übersicht über den in diesem Vortrag abgehandelten „Urbegriff“ und über das „absolute Licht“, dem sich der VIII. Vortrag zuwenden wird. Der Urbegriff besteht im Akt des Durcheinanders, das – auf der abgeleiteten Ebene der Erscheinungen – ein Consequens idealiter oder ein Consequens realiter hervorbringen kann (Fichte gebraucht hierfür den Begriff der „Modifikation“). Dabei tritt der Begriff aber nicht vollständig heraus. Um Vollständigkeit zu erreichen, müssten alle Glieder der Fünffachheit entwickelt werden. Das ist die Aufgabe der an den ersten Teil anschließenden Phänomenologie. Im Gegensatz dazu steht die andere Sichtweise, die vom absoluten Licht ausgeht. Hier sind die beiden Glieder der unteren Ebene – nämlich ‚totes‘ Sein und formaler Begriff – erforderlich, die, wie wir ja bereits wissen, die Erscheinung des Lichtes ermöglichen (bzw. dieser entsprechen) – darauf wird der nächste Vortrag ausführlich zurückkommen. Von da aus lassen sich dann alle „Modifikationen“ ableiten. Die Erschöpfung aller Glieder bzw. „Modifikationen“ macht die Wissenschaftslehre selbst aus (wie gesagt mit Berücksichtigung der Erscheinungslehre im zweiten Teil der Wissenschaftslehre). Im VII. und VIII. Vortrag werden zunächst der Urbegriff und das absolute Licht in ihrer In-sich-Geschlossenheit dargestellt. ACHTER VORTRAG Die erste Genetisierungsstufe hat zwei Reflexionsebenen. Die erste setzt Licht und Einsicht der Einsicht vom Licht entgegen; die zweite „Urbegriff“ und „absolutes Licht“. Dieses macht die vierte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens aus. Es ist nun Gegenstand des VIII. Vortrags. Die ‚Grundoperation der Genesis‘, so wie sie im ersten Teil des IV. Vortrags vorgestellt wurde, besteht, wenn man davon absieht, wie wir eine Einsicht davon haben, in einer reinen Konstruktion. Was sie zum Ausdruck bringt, ist „das

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Achter Vortrag

Wesen“, „die Wahrheit selber“. Diese Wahrheit – die dabei mit dem „Prinzip“ gleichzusetzen ist – soll und wird als Maßstab und Kriterium für alle weiteren, daraus abzuleitenden Wahrheiten herhalten. Fichtes Anti-Empirismus drückt sich darin aus, dass „Phänomen“ nur sein kann, was sich aus dem Prinzip ableiten lässt. Beides zusammengenommen ergibt die Einstellung des „Intelligierens“ bzw. der „neuen“ „Welt der Wahrheit“. Fichte fasst nun ein weiteres Mal – in den Punkten 1.) und 2.) – die Grundgedanken der beiden Teile des IV. Vortrags zusammen: 1.) Zu den drei Grundbegriffen der ‚Grundoperation der Genesis‘ qua ‚BegriffLicht-Sein-Operation‘ macht Fichte einige zusätzliche Bemerkungen. Das Sein ist ein unbegreifliches Für-sich-Bestehen. Es ist per definitionem ‚tot‘ (denn das Sein meint ‚Bestehen‘, und dies ist jeglicher Lebendigkeit beraubt). Wenn vom „Anschauen Gottes“ die Rede sein sollte oder könnte, dann nur im Sinne einer Gleichsetzung Gottes mit dem lebendigen Licht. Fichte spricht hier auch von der „wahren Existenz“. („Existenz“ meint dabei also nicht das Dasein qua Äußerung des absoluten Seins, sondern das Aufgehen des Absoluten selbst.) Spinoza ist dieser Auffassung insofern schon nahegekommen, als er alles Sein in die Substanz verlegt und somit ebenfalls alles einzelne Seiende, und darunter auch das individuelle Bewusstsein, der Vernichtung preisgegeben hat. Allerdings – so lautet Fichtes Kritik – wurde die Substanz von Spinoza nicht selbst als lebendige gefasst – weil er „seines eigenen Einsehens sich nicht bewusst wurde“. 196 Das ist der Unterschied der Transzendental-Philosophie – und damit auch der Wissenschaftslehre – zum Spinozismus: Diese hat zum Ziel, eben gerade in jenes Leben hineinzuführen. 197 Der Begriff ist das Bewusstsein bzw. das subjektive Denken. Es wird am und durch das Licht vernichtet. Damit wird auch das Ich vernichtet, denn das Ich ist nichts anderes als das Bewusstsein. 2.) Das also noch einmal zur Konstruktion der ‚Grundoperation der Genesis‘, sofern bei ihr von aller An- und Einsicht abstrahiert wird, was natürlich unzulässig ist, da diese Konstruktion in Wirklichkeit – im Buchstaben und im Geiste – eine Nachkonstruktion ist. Um diesem bereits bekannten Sachverhalt Rechnung zu tragen, bezeichnet Fichte Konstruktion und Nachkonstruktion als zwei Arten der Existenz des Lichts: die innere Existenz (d. h. die nun korrekt ausgedrückte ‚Immanenz‘) sowie die äußere Existenz des Lichts (die auch ‚Emanenz‘ genannt werden kann). Die äußere Existenz oder Emanenz beruht auf dem freien Vollzug der GA II/8, S. 116. Der an die Wissenschaftslehre gerichtete Vorwurf des Atheismus wird immer vom Standpunkt eines ‚toten‘ Gottesbegriffs aus formuliert. Dies ist in Fichtes Augen die größte Absurdität, weil gerade die Wissenschaftslehre es ist, die über den einzig rational vertretbaren Gottesbegriff – nämlich Gott qua Licht qua lebendiges Sein – verfügt und somit natürlich keinesfalls der Gottlosigkeit bezichtigt werden kann. 196 197

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Achter Vortrag

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Nachkonstruktion – also auf einem solchen, bei dem es dem Wissenschaftslehrer freisteht, ihn zu realisieren oder auch nicht. Die Selbstkonstruktion auf Seiten der Immanenz wird davon nicht tangiert. Nur durch die zur Darstellung gebrachte Nachkonstruktion in und durch die Wissenschaftslehre kommt es überhaupt zur Emanenz oder äußeren Existenz des Lichts. Die innere Existenz oder auch „innere Äußerung“ des Lichts bedarf, wie gesagt, jener Einsicht nicht, mehr noch: Sie kann streng genommen gar nicht eingesehen werden, da sie aus den genannten, auf die Selbstvernichtung des Begriffs zurückzuführenden Gründen völlig unbegreiflich ist. Die Emanenz ist also mittelbar, „äußerlich im Begriff“; die Immanenz ist unmittelbar, 198 schlechthin „durch sich selber“. 199 Daraus folgt nun ein ganz wesentlicher Punkt. Die eingesehene ‚Wahrheit‘ der ‚Grundoperation‘ besteht primär in der Spaltung in Sein und Begriff. Dass das Licht lebt, bedeutet: Es spaltet sich auf dieselbe Weise. Diese innere Spaltung kommt dem absoluten Licht in seiner erwähnten Unbegreiflichkeit zu, da der Begriff sich selbst vernichtet. Fichte kann demnach festhalten, dass – über die Form der Unbegreiflichkeit hinaus – der materiale Inhalt des lebendigen Lichtes in der (aus demselben Grund ebenso unbegreiflichen) inneren Spaltung in Sein und Begriff besteht. Damit ist aber für das präzise Verständnis des Lichtes auf dieser Ebene noch nicht das letzte Wort gesprochen. Denn wir wissen, dass diese Spaltung die ganze Zeit bereits eingesehen wurde und somit in der Einsicht des Lichtes liegt. Wenn man diese Einsicht vom Lichte abzieht, also die Einsicht negiert, bleibt allein das ungespaltene lebendige Licht übrig. Das Licht ist in seiner Lebendigkeit als höchstes Sein, als höchste Realität, aufzufassen. Alle Merkmale des Bestehenden, des ‚toten‘ Seins, sind abzuwehren. Das bedeutet für die Wissenschaftslehre, dass sie „den Tod bis in seine letzte Verschanzung“ verfolgt, „um zum Leben zu kommen“. 200 Dieses Leben „liegt im Lichte, welches Eins ist mit der Realität, und die Realität geht in ihm auf; und diese ganze Realität als solche, ihrer Form nach, ist überhaupt nichts mehr, als die Grabstätte des Begriffes, der am Lichte sich versuchen wollte“. 201 Das Desideratum wird darin bestehen, aufzuklären, wie dieses Sein fassbar ist, ohne es dogmatisch zu setzen und auch ohne es von vornherein zu töten. 198 Der genuin Fichte’sche Begriff der Unmittelbarkeit ist nicht der kantische und schon gar nicht der Hegel’sche: „Unmittelbarkeit“ bezeichnet bei ihm „Absolutheit“, siehe etwa GA II/8, S. 204, Z. 11–12. 199 GA II/8, S. 118. 200 GA II/8, S. 120. 201 Ebd. So erbaulich der Ausdruck der Realität als „Grabstätte des Begriffs“ sein mag, so missverständlich ist er zugleich: Diese „Grabstätte“ ist nur die Grundlage der Realität qua ‚totem‘ Sein. Inwiefern die Begriffsvernichtung aber auch die Bedingung für das lebendige Sein ist, wird später verdeutlicht.

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Achter Vortrag

Mit der Genetisierung des absoluten Lichts entwickelt Fichte den zweiten systematischen Grundgedanken des ersten Teils der Wissenschaftslehre von 1804/II. Der erste Grundgedanke sprach sich in der ‚Grundoperation der Genesis‘ aus: Soll das Licht sich äußern, so muss der Begriff vernichtet werden (was voraussetzt, dass er zuvor gesetzt wurde). Der zweite Grundgedanke lautet nun: Soll der Urbegriff zum Leben kommen, so muss das absolute Licht vorausgesetzt werden. Beide Setzungen – die des Begriffs und die des Lichts – bedingen sich gegenseitig. Bis hierher gilt es aber zunächst, sich klar vor Augen zu führen, was nun erreicht wurde. Das absolute Licht (= vierte Grundbestimmung des Wissens) erweist sich als viertes Glied der Fünffachheit (d. h. als zweites Glied der oberen Ebene). Für es gilt dasselbe wie für den Urbegriff: Mit seiner Genetisierung erweist sich das vormalig für das Urlicht gehaltene Licht lediglich als abgeleiteter Stellvertreter des absoluten Lichts in dessen lebendigem Sein (auch der Urbegriff stufte ja das Für-sich-Bestehende zu einem bloßen Disjunktionsglied herab). Gegenüber dem, was sich als Urlicht darstellt, war das vorige vermeintliche Urlicht lediglich formales Licht – sich selbst machende Evidenz, die auch nur ein formales Sein zu setzen vermag. Jetzt ist das Urlicht inhaltlich bestimmt: qua lebendiges Sein, qua absolute Realität, die jedem konkret Realen als ontologischer Grund dient. Es ist jenseits jeder Disjunktion und verfügt demzufolge auch über keine Disjunktionsglieder. Das heißt, auf dieser Stufe gibt es nicht nur keinen Begriff mehr, sondern nicht einmal mehr formales Sein und formales Licht. Fichte betont schließlich noch einmal, wie weit die Wissenschaftslehre reicht – nämlich bis zum Begreifen der Grenze des Begreifens (bzw. bis zum Selbsteinsehen der Einsicht): „und jenseits liegt das Eine, rein lebendige Licht: sie verweist daher aus sich heraus an das Leben […].“ 202 Dann stellt sich die Frage, wie der Bezug von Begriff und Leben aufzufassen ist. Oder anders ausgedrückt: Es stehen sich Urbegriff, qua inneres Durcheinander, und Urlicht, qua absolut lebendiges Licht, gegenüber. Und dabei stellen sie sich jeweils in einer inneren In-sich-Geschlossenheit dar. Es ist bisher aber weder klar, wie die Disjunktion 203 in das Urlicht kommt, noch wie Urbegriff und Urlicht miteinander vermittelt werden können. Dieses Problem muss durch die letzte Grundbestimmung des Wissens auf dieser ersten Genetisierungsstufe einer Lösung zugeführt werden.

GA II/8, S. 124. Für die Aufweisung dieses Disjunktionsgrundes muss wieder auf den Begriff – auf eine bisher noch nicht berücksichtigte Bestimmung desselben – zurückgegriffen werden. Dies wird im X. Vortrag erfolgen (ab GA II/8, S. 155, Z. 3ff.). 202 203

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NEUNTER VORTRAG Das geschieht allerdings nicht sofort, denn der IX. Vortrag fasst noch einmal die letzten fünf – und dabei insbesondere die Vorträge IV bis VII – sehr prägnant zusammen, was für das Verständnis alles bis hierher Aufgestellten sehr hilfreich ist. Zunächst kommt Fichte noch einmal auf die Frage zurück, bis wohin die „Prolegomena“ sich genau erstrecken. Das entscheidende Kriterium zur Beantwortung dieser Frage besteht darin, dass ausgemacht werden muss, wo lediglich Faktisches behauptet oder aufgestellt wird und ab wo die eigentliche Genesis beginnt. Dies legt die genaue Grenze zwischen den „Prolegomena“ und der Wissenschaftslehre selbst fest. Laut Fichte lasse sich das aber nicht eindeutig ausmachen, denn, wenn in der Tat zunächst nur Faktisches behauptet wurde, so kam es doch überall schon dort zur Genesis, wo etwa Überlegungen zum Unterschied zwischen bloßem Darstellen und Intelligieren angestellt wurde; auch die Einsichten zum Eintreten in die „neue Welt“, die „Geisterwelt“, gehören selbstverständlich dazu. Im Wesentlichen läuft das auf die Frage hinaus, ob die Genetisierungen der Vorträge IV bis VI sowie „Urbegriff“ und „Urlicht“ aus den letzten beiden Vorträgen schon Teile der Wissenschaftslehre sind oder nicht. Dass jedenfalls von nun an (und das bedeutete in Wirklichkeit: vom X. Vortrag an) dieser Vortragszyklus in die Wissenschaftslehre selbst eintritt, wird von Fichte ganz ausdrücklich erklärt. 204 Aus den oben dargelegten Gründen muss die Auffassung vertreten werden, dass, wenn man die anfänglich von Fichte gelieferte Charakterisierung der „Prolegomena“ ernst nimmt und insbesondere die Ableitung des Grundprinzips der Gesamtgliederung berücksichtigt, die Wissenschaftslehre selbst, wie mehrfach gesagt, bereits seit dem IV. Vortrag begonnen hat. Dagegen bringt Fichte auch an dieser Stelle keinen überzeugenden Einwand vor. Seit jenem IV. Vortrag wurden zunächst fünf Punkte aufgestellt: 1.) Die ‚Grundoperation der Genesis‘ besteht in der Dreiheit Begriff – Licht – Sein, d. h. in der Äußerung des Lichts unter der Voraussetzung der Zerschlagung des Begriffs, wobei deutlich wird, dass einerseits der Begriff auch gesetzt sein muss und andererseits durch jene Begriffsvernichtung sich ein unbegreifliches Sein absetzt. 2.) Dies alles wurde dargestellt; die Darstellung stellt aber – unabhängig von Wort und Schrift – etwas dar: Es verweist auf ein Verhältnis von Bild und Abgebildetem, die sich gegenseitig setzen. 3.) Bild und Abgebildetes stehen dabei in einem Folgeverhältnis: Das Bild folgt aus dem Abgebildeten (setzt es voraus); aber umgekehrt hat auch die Rede vom

204

GA II/8, S. 127, Z. 21f.

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Neunter Vortrag

Abgebildeten nur in Bezug auf ein Bild einen Sinn, folgt also daraus in anderer Hinsicht. 4.) Dieses Verhältnis ist in der Einheit des Lichts verknüpft, nämlich vermittels der beiden möglichen Äußerungsweisen des Lichts (der Immanenz bzw. der Emanenz). 5.) Die ‚Grundoperation der Genesis‘ macht das Wesentliche des Lichts aus; das Folgeverhältnis und sein Bezug zum Licht stellen „Modifikationen“ dieses Wesens dar, die für die Einsicht des Lichts absolut notwendig sind. Hierzu kommt nun folgender Gedanke: 6.) Faktisch wurde ganz zu Anfang (im II. Vortrag) aufgestellt, dass das reine Wissen sich in einem Schlage in zwei Divisionsfundamente spaltet (S – D und x, y, z). Nun wird deutlich, dass das insbesondere für das Licht gilt, und zwar folgendermaßen: Die Einsicht des Lichts spaltet sich in B – L – S und das Licht selbst in S – D, wobei auch hier die Disjunktion unabtrennlich ein und dieselbe ist. Und dazu gesellen sich noch zwei weitere Gedanken, die aber bereits auf die letzten beiden Vorträge Bezug nehmen: 7.) Zwischen Bild und Abgebildetem steht der „Urbegriff“. Er ist durch das „Durcheinander“ beider gekennzeichnet, das kein Folgeverhältnis (also keine „äußere Konsequenz“) mit sich bringt. Der Urbegriff ist somit völlig in sich geschlossen. Im Endeffekt ist dabei unerheblich, was genau durch was vermittelt wird. Das Durcheinander erweist sich daher als ein selbstständiges, für sich bestehendes Wesen. 8.) Gleiches gilt für das dadurch zum „Urlicht“ gewordene Licht: Auch dieses ist völlig in sich geschlossen. Es ist qua absolutes Sein oder absolute Realität ebenfalls selbstständig und für sich bestehend. Diese zweifache Selbstständigkeit stellt eine Unterbrechung des genetischen Zusammenhangs dar – und hat damit noch etwas Faktisches. Dieses Faktische ist aber nicht – wie das in den ersten Vorträgen der Fall war – lediglich präsumtiv aufgestellt, sondern es ist der Ausdruck dafür, dass die behandelten Glieder – also Begriff und Licht – noch nicht radikal genug genetisiert worden sind, d. h., dass sie zumindest teilweise noch faktisch geblieben waren. Diese Faktizität gilt es nun zu überwinden, mit anderen Worten, es geht darum, das Einheits- und Disjunktionsprinzip für den Urbegriff und das Urlicht zu finden. Damit scheint es aber, als verfielen wir wieder in eine Synthesis post factum. Das wird von Fichte jedoch zurückgewiesen, denn diese Einheit wird gerade nicht postuliert, sondern – das ist die Aufgabe des folgenden Vortrags – genetisch konstruiert. Mit anderen Worten, die Aufgabe ist, die synthetische und analytische Einheit von Urbegriff und Urlicht zu genetisieren. Diese überblicksartigen Betrachtungen bieten Fichte auch die Gelegenheit, vorausblickend etwas zu den beiden Hauptteilen dieses Zyklus (also zur Seins- und Erscheinungslehre) zu sagen. Der erste Teil soll die „primäre“ Disjunktion von Urbegriff und Urlicht aufsuchen. Der zweite Teil habe die Aufgabe, die

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„sekundären“ Disjunktionen, d. h. „alle möglichen Modifikationen der erscheinenden Realität“ 205 abzuleiten. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, das Prinzip dieser letzten Ableitung zu bestimmen. Wenn das erst einmal geleistet ist, wird verständlich, dass alles Erscheinende „Erscheinung des Einen wahrhaft Existenten“206 ist. Diese Einsicht gestattet dann, jeglichen Irrtum abzuwehren, insbesondere die Auffassung, man könne zum Leben vom Tod aus gelangen und jenes von diesem her verständlich machen – damit ist gemeint: das wahre Wesen des (‚lebendigen‘) Seins vom unberechtigterweise vorausgesetzten an sich bestehenden (‚getöteten‘) Sein. Es ist äußerst frappant, dass diese Angabe mit dem in der Erscheinungslehre Geleisteten im Grunde nicht vereinbar ist! Die Ableitung der Modifikationen der erscheinenden Realität ist nicht Gegenstand der Phänomenologie in der Wissenschaftslehre von 1804/II. Dort wird vielmehr die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ abgeleitet, d. h. es wird dort das lebendige in sich geschlossene Sein des ersten Teils dieses Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 genetisiert. Das findet aber vor der Betrachtung der erscheinenden Realität statt! Damit scheint deutlich zu werden, dass Fichte sich an dieser Stelle der Gesamtarchitektonik des zweiten Vortragszyklus der Wissenschaftslehre von 1804 noch nicht richtig bewusst gewesen ist. Und tatsächlich kommt das von ihm in Bezug auf die Ableitung der Realität Angekündigte nur im allerletzten Vortrag kurz zur Sprache. Das bestätigt somit die bereits am Ende des VI. Vortrags ausgedrückte Vermutung, der zufolge die ab dem XVI. Vortrag entwickelte Erscheinungslehre ein Novum darstellt, dessen Auseinanderlegung Fichte zuerst noch gar nicht abgesehen hat und der er dann gleichsam in vivo beiwohnte. Schließlich macht Fichte auch noch einige vergleichende Bemerkungen zwischen dem ersten und dem zweiten Vortragszyklus der Wissenschaftslehre von 1804. Diese schreiben sich wieder kohärent in den Zusammenhang dieser Vorträge ein. Folgende Tafel mag diesen Vergleich veranschaulichen: 1804/I inneres Wesen des Wissens (intelligibel) formales Sein des Wissens (intuitiv)

1804/II Begriff Licht

Der Aufgabe, die Einheit von Begriff und Licht zu finden (was also in der Wissenschaftslehre von 1804/II geschehen soll), entspricht jene, aufzuweisen, dass Wesen und Sein des Wissens sich reziprok aufeinander beziehen bzw., dass das

205 206

GA II/8, S. 132. GA II/8, S. 134.

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Intelligieren immer der Intuition bedarf (und umgekehrt) (was in der Wissenschaftslehre von 1804/I geleistet wurde). ZEHNTER VORTRAG Der X. Vortrag ist – ähnlich wie der IV. Vortrag – komplex und reichhaltig. Die in ihm herausgearbeitete fünfte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens bringt die erste Genetisierungsstufe zum Abschluss und weist auf wesentliche Einsichten der folgenden Vorträge voraus. In den ersten Zeilen des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 hatte Fichte betont, dass es darum gehe, das Denken der Philosophie zu einem wirklichen Leben zu bringen. Es wird erst in diesem X. Vortrag verständlich, welche beiden Grundweisen des Lebens von Fichte dabei gedacht werden bzw. auf welchen beiden Problem-Ebenen die Frage nach dem „Leben“ sich überhaupt stellt. Es geht nämlich darum, keine einseitig ‚toten‘ Begriffe von „Licht“ und „Begriff“ zu haben, sondern die Lebendigkeit eben dieser beiden zu erweisen. Das bedeutet Folgendes: „Licht“ (als Prinzip des Realismus) ist ‚tot‘, wenn es nicht in die Bewegung des Begriffs geführt wird (das Begreifen verlebendigt allererst das Sein); „Begriff“ (als Prinzip des Idealismus) ist ‚tot‘, wenn er nur formal und mechanisch im Hin und Her des Durch verbleibt und nicht an das (ihm innewohnende bzw. zugrunde liegende) lebendige Sein gebunden wird. Dieses beides zu vollziehen ist die Aufgabe des X. Vortrags. Fichte setzt bei Urlicht und Urbegriff an und wiederholt, dass die Aufgabe darin bestehen wird, aufzuweisen, dass das Licht genetisches Prinzip das Begriffs ist und umgekehrt, 207 was darauf hinausläuft, dass das Einheits- und Disjunktionsprinzip beider aufzustellen ist. Zunächst muss man sich dabei klar machen, worin die Originalität der Wissenschaftslehre hinsichtlich beider Begriffe besteht. Fichte nimmt in Anspruch, „Begriff“ und „Licht“ (= Intuition, Anschauung, Einsehen) schärfer gefasst zu haben als irgendein anderer Philosoph oder eine andere Philosophin zuvor (insbesondere auch als Kant). Beide haben eine doppelte Eigenschaft. Formal besteht das Licht im Selbst-Machen der Evidenz; inhaltlich im Prinzip lebendigen Seins oder lebendiger Realität (was sich durch die innere Scheidung in Begriff und Sein ausdrücken soll). 208 Der Begriff besteht formal im Ansichtig-Machen, Abbilden oder Bewusst-Werden eines Gehalts; inhaltlich im „Durch“, d. h. darin, dass sich

207 Dieses „Umgekehrt“ liefert einen Hinweis darauf, dass das hier deutlich werdende reziproke Verhältnis ein genuin (im strengen Fichte’schen Sinne) „begriffliches“ ist. 208 Am Ende der Erscheinungslehre werden diese beiden Bestimmungen zusammenfallen.

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etwas immer nur durch etwas anderes begreifen lässt und umgekehrt. 209 Dieser zweifache Sachverhalt wird im weiteren Verlauf noch mit zusätzlichen wesentlichen Erläuterungen des „Begriffs“ und des „Lichts“ ergänzt. Es geht nun darum, das genetische Prinzip von Urbegriff und Urlicht aufzuweisen. Beide haben sich in den drei vorigen Vorträgen in ihrer absoluten Selbständigkeit und in einer – dem jeweils anderen Glied gegenüber in sich geschlossenen – Unabhängigkeit erwiesen. Wie ist dieser Gegensatz zu überwinden? Dies ist nur dadurch möglich, dass Urbegriff und Urlicht auf ihr jeweiliges Wesen reflektiert werden. Nur eine solche Reflexion und Bewusstmachung gestattet es, ein jeweils Faktisches auf die Genetizität hin zu übersteigen. Diese Genetisierung nimmt sich Fichte im X. Vortrag vor. Licht und Begriff werden gleichsam von innen her gefasst. Dadurch ergibt sich in einer Bewegung des „Höherrückens“ eine neue Bestimmung, wenn nicht gar ein neuer Begriff, sowohl des (Ur-)Lichts als auch des (Ur-)Begriffs. Bisher hatte sich das Licht auf eine zweifache Weise gezeigt – einerseits als innerlich und in sich selbst lebendiges (und sich dabei in Begriff und Sein spaltendes); andererseits als in einer äußeren Einsicht gegeben, in welcher jenes innere Leben objektiviert wird. Es geht im Weiteren darum, das Wesen des „inneren Lebens“ selbst zu fassen. Darin wird die eben erwähnte zusätzliche wesentliche Erläuterung des „Lichts“ bestehen. Dieses „innere Leben“ kommt einer Abweisung bzw. einer Negation der Einsicht gleich. Im „absoluten inneren Leben des Lichtes“ liegt dabei auch das „Reale im Wissen“ bzw. der „innere materiale Gehalt“ 210 dieses Wissens. Das bedeutet, Wissensgehalt bzw. Realität stammen nicht aus dem Begriff; an beides kommt der Begriff in keiner Weise heran. Fichte geht sogar so weit, hierin die Sicherung gegenüber Leerheit und Tod des Wissens zu sehen. Durch die Negation der Einsicht werde die Realität wesenhaft bestimmt und abgeleitet. Ohne dass das schon eigens von Fichte betont würde, wird deutlich, dass die innere Bestimmung des Lichts einerseits und des Begriffs andererseits jeweils aufeinander verweisen: So wie das Licht – und dementsprechend die Realität – begriffsunabhängig ist, ist auch der Begriff unabhängig von Licht, Leben und Realität. Aber zugleich liegt die Realität in der Negation des Begriffs, und der Begriff in einem „Durch“, einem „Durcheinander“, das der Realität gegenüber äußerlich ist und an sie wesenhaft nicht heranreicht. Beide negative Bestimmungen beziehen sich auf das, was sie jeweils verneinen.

209 Dieses „Durch“ stellt – „logisch“ betrachtet – die gegenseitige Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit dar. Die Einzelheit wird durch die durch Unmittelbarkeit gekennzeichnete Anschauung geliefert. Die Aufgabe der Wissenschaftslehre wird dann darin bestehen, zu erklären, wie die Vermittlung von Anschauung und Begriff möglich ist und worin sie überhaupt besteht. Für Hegel dagegen besteht der Begriff in der vermittelten Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit. 210 GA II/8, S. 142.

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Was folgt hieraus für Licht und Begriff auf dieser neuen Reflexionsebene? Licht und Begriff sind nicht mehr mit dem vorher bestimmten Urlicht und Urbegriff gleichzusetzen. Das lebendige Licht vernichtet radikal die Einsicht. Die im Urlicht eingesehene Spaltung in Begriff und Sein kann also, im Gegensatz zu dem, was sich vorher ergeben hatte, und was sich nun als „Irrtum“ entpuppt, „in dem wir bisher geschwebt haben“, 211 dem neuen Licht gar nicht zukommen. Für dieses neue Licht gebraucht Fichte das Zeichen „0“ 212 (worunter nicht das „O“, 213 sondern die Null zu verstehen ist). „0“ (Null), weil hier aus der Warte des Begreifens keinerlei Materialität oder Bestimmung vorliegt. Der neue Begriff wird im X. Vortrag jedoch (noch) nicht näher erläutert. Aber dass er unser inneres Wesen betrifft, wird dagegen bereits am Ende des X. Vortrags dargelegt. Nun ist alles beisammen, um die fünfte Grundbestimmung des Wissens präzise fassen zu können, die, wie Fichte betont, auf „das Wesen und den ganzen Inhalt der Wissenschaftslehre“ 214 vorausweist. Vorher schiebt er allerdings noch eine 215 Bemerkung ein, die Inhaltliches mit Gedanken zur Methode verbindet. Es geht dabei noch einmal um den Unterschied zwischen „Faktischem“ und „Genetischem“, der anhand dreier Ebenen des Faktischen erläutert wird. Ausgangspunkt aller genetischen Konstruktionen war die im II. Vortrag erlangte und dann am Anfang des IV. Vortrags wiederholte Einsicht, dass das Wissen der Wissenschaftslehre weder im Einheitspunkt („A“), noch im Disjunktionspunkt (von S und D), sondern in der Einheit von diesem bestimmten Einheits- und Disjunktionspunkt liegt. In diesem ganzen Prozess wird das Denken „durch ein mechanisch-wirkendes Vernunftgesetz getrieben“.216 Es ist bemerkenswert, dass Fichte unterstreicht, dass dieses Durch-das-Vernunftgesetz-Getrieben-Werden ein „faktisches“ ist. Diese Art zu denken muss vom Selbst-Denken – insbesondere dem energischen Denken – unterschieden werden, welches sich als genuin genetisch erweist.

211 GA II/8, S. 146. Dieser „Irrtum“ bestand in zweierlei. Zum einen war es falsch anzunehmen, die Disjunktion in B und S müsse dem inneren Licht zugeschrieben werden. Sie kommt in Wirklichkeit der Einsicht des Lichts zu. Zum anderen war es ein Irrtum zu glauben, mit dem Urlicht und dem Urbegriff seien die ultimativen Bestimmungen von Licht und Begriff geliefert worden. Die im Folgenden zu entwickelnden Positionen des Idealismus und des Realismus werden das bestätigen und den Irrtum berichtigen. Dadurch wird auch klar werden, worin genau die Disjunktionsfundamente bestehen. 212 GA II/8, S. 146. 213 „0“ ist gerade nicht das „O“ der Objektivität, die ein formales, ‚totes‘ Sein bezeichnet. 214 GA II/8, S. 160. 215 Fichte spricht zwar von „zwei Bemerkungen, gehörig zur philosophischen Kunst und Methode“ (GA II/8, S. 146); aus dem Folgenden wird aber völlig klar, dass sich beide nicht auf derselben Ebene befinden, da die zweite Bemerkung keine bloße Zwischenbemerkung, sondern mit der Aufstellung der fünften Grundbestimmung des Wissens von systematisch zentraler Bedeutung ist. 216 GA II/8, S. 146.

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Über diese erste Ebene des „Faktischen“ hinaus deutet Fichte aber noch auf eine zweite. Wenn man sich, wie im nächsten Schritt geschehen wird, auf die höhere Ebene versetzt, in der die Bestimmtheit der Disjunktions- und Einheitsglieder aufgehoben wird, wo es also nicht mehr darauf ankommt, was konkret die Einheits- und Disjunktionsglieder sind, dann ist man immer noch im Faktischen gefangen, das durch das reguliert wird, was Fichte die „Regel der Begebenheit“ nennt. Hier besteht das „Faktische“ in zweierlei: einerseits in der nicht minder „mechanisch-wirkenden“ „Regel der Begebenheit“; 217 und andererseits darin, dass weiter eine Disjunktion vorliegt (und jede Disjunktion verlangt nach genetischer Einheit, ist also irreduzibel faktisch), nämlich die von Vernichtung und Setzung: „weder in p noch in q…“ ist dabei die Vernichtung; „…sondern in r“ ist die Setzung. Das Absolute erweist sich dabei als gesondert in „formales Sein“ und „Wesen“. Auf ersteres ist die Vernichtung zurückzuführen, auf letzteres die Setzung: Durch das formale Sein des Absoluten hebt sich jede Disjunktion (jede vereinzelnde Loslösung von ihm) auf; durch das Wesen des Absoluten wird die Einheit von Einheit und Disjunktion realisiert. Es gibt aber noch eine dritte Ebene des Faktischen – die zwischen „Innen“ und „Außen“, zwischen innerer und äußerer Weise, das Licht zu sein, zwischen „immanenter und emanenter Existentialform“. 218 Was demnach an bisheriger Faktizität aufgehoben wurde, bricht hier wiederum als (neuartiges) Faktisches auf. Da damit „L“ und „B“ qua „Urlicht“ und „Urbegriff“ gemeint sind, ist völlig klar, dass sie immer noch etwas Faktisches an sich haben. Worin besteht also die fünfte Grundbestimmung des Wissens? Es stellt sich auf dem Wege der Genetisierung von „L“ und „B“ heraus, dass die Spaltung in Disjunktionsfundamente doch nicht das Gesamtschema betrifft, also nicht (ganz allgemein ausgedrückt) so aufgefasst werden darf: Einheit von Einheit und Disjunktion

Disjunktionsfundament 1

Disjunktionsfundament 2

Fig. A

217 218

GA II/8, S. 146. GA II/8, S. 148.

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sondern, dass die Disjunktion einer absoluten Einheit gegenübersteht (wodurch die Disjunktion sich als „niedere Erscheinung“ erweist): L=0

B (= „höherer Begriff“) = Einheit von Einheit und Disjunktion

Disjunktionsfundament (S) = Licht an sich (= Urlicht) (das sich in S und B spaltet)

Disjunktionsfundament (B) = Stellvertreter des Lichts (= Urbegriff) (die Disjunktionsglieder sind unbestimmt)

Fig. B

Damit haben wir eine neue Disjunktion – die von „0“ und dem „höheren Begriff“ – aber das wird erst die Erscheinungslehre betreffen. Es muss jetzt festgehalten werden, dass 1.) dem Urbegriff und dem Urlicht jeweils eine Disjunktion zugehört: dem Urbegriff eine unbestimmte (in zwei unbestimmte Glieder), dem Urlicht eine bestimmte (in S und B); 2.) in letzterer (der bestimmten Disjunktion im Urlicht) „B“ Prinzip der Disjunktion überhaupt, „S“ Prinzip der Einheit überhaupt ist; 3.) wenn B und L so scharf durchdrungen werden sollen, dass sie jeweils genetisches Prinzip des anderen sind (B von L und L von B), sich dann offenbar das in Fig. B abgebildete Schema ergibt, das „0“ und den „höheren Begriff“ darstellt. Wie steht es aber genau um das gegenseitige scharfe Durchdringen von „L“ und „B“? So wie die Sachen hier stehen, lässt sich „B“ gar nicht aus „L“ deduzieren! Das liegt daran, dass L sich (für den Begriff) als „0“ erwiesen hat. Es ist ganz wesentlich zu sehen, dass der erste Teil dieser Fassung der Wissenschaftslehre in Bezug auf die „Hauptaufgabe“ (= das Genetisieren der gegenseitigen Durchdringung von „L“ und „B“) den einen Teil gar nicht zu leisten vermag! Das ist der wesentliche Grund dafür, dass auf die Wahrheitslehre später eine Erscheinungslehre folgen muss. Soviel also zur einen Aufgabe im X. Vortrag, die sich hier nicht lösen lässt. Wie steht es um die andere Aufgabe, L = 0 aus dem höheren Begriff abzuleiten? Die in dieser Ableitung zu beantwortende Frage lautet: Wie soll es mit dem Durch zum Leben kommen? Die Ableitung wird durch ein „Soll“ (bzw. eine erste Formulierung desselben) geliefert. Dieses „Soll“ macht die fünfte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens aus. 219 Was zu deduzieren ist, spricht sich nämlich in der Tat folgendermaßen aus: „Soll es zu einer Äußerung – äußeren Existenz – des immanenten Lebens als solchen kommen, so ist dies nur an einem absolut existenten Durch möglich. Es muss aber zu einer solchen Äußerung kommen,

219 Das „Soll“ hat hier zunächst eine rein wissenslegitimierende und somit „gnoseologische“ Bedeutung. Seine ontologischen Implikationen werden erst in der Erscheinungslehre offenbar.

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denn das absolute Durch, d. h. der ursprüngliche Begriff, oder die Vernunft, existiert absolut […].“220 Der Syllogismus lautet also: Wenn ein Durch absolut existiert, dann kommt es zur äußeren Existenz des immanenten Lebens. Das Durch existiert absolut. Also kommt es zur äußeren Existenz des immanenten Lebens. Sind damit die Genetisierungen der ersten Genetisierungsstufe abgeschlossen? Das ist in der Tat so. Zugleich wird aber schon der weitere Weg vorgezeichnet. Für die Gültigkeit des Syllogismus müssen nämlich zwei Dinge erwiesen werden: Es muss erstens begründet werden, inwiefern die Existenz des Durch die Äußerung des immanenten Lebens impliziert (= erste Prämisse); es muss zweitens bewiesen (und nicht bloß behauptet) werden, dass das Durch absolut existiert (= zweite Prämisse). Kurz, es müssen die beiden Prämissen dieses Syllogismus begründet und gerechtfertigt werden. 221 Kann man sagen, dass das bereits geschehen ist? Für die zweite Prämisse ist das der Fall (darin bestand ja die Deduktion des Urbegriffs). Die erste Prämisse dagegen wurde noch nicht begründet. Dies ist der Grund dafür, dass auf diese erste Genetisierungsebene eine zweite Genetisierungsebene folgt. Die letzten zwei Seiten dieses X. Vortrags fassen zunächst den gesamten Inhalt (zumindest des ersten Teils) der Wissenschaftslehre von 1804/II vorausblickend zusammen. Dabei präzisiert Fichte insbesondere, welche Spaltungen – in der Phänomenologie – von L = 0 und dem „höheren Begriff“ = „lebendigem Durch“ zu erwarten sind. Darauf trifft aber ebenfalls zu, was bereits am Ende des IX. Vortrags zu Fichtes Schwanken in Bezug auf den Gegenstand der Erscheinungslehre gesagt wurde. Fichte beginnt mit dem höheren Begriff qua lebendigem Durch. Dieses spaltet sich auf zwei Weisen. Die erste Spaltung ist die (bereits ausführlich behandelte) in Bild und Abgebildetes; die zweite (wodurch das lebendige Durch objektiviert und abgeleitet wird) die in Denken und Sein. Bezüglich der zweiten Spaltung legt Fichte einerseits fest: Durch = Denken; Urquelle des Lebens des Durch = Sein. Andererseits behauptet er die gegenseitige Verschränkung und Vermitteltheit beider Spaltungen. Diese Erläuterung des „Begriffs“ wird – wie vorher bereits angekündigt – vervollständigt. Bezüglich des „Lichts“ wurde bereits gesagt, dass es „Realität“ und GA II/8, S. 154. Im letzten Absatz dieses X. Vortrags sagt Fichte, dass die Prämissen schon gegeben sind (womit freilich das Ganze der zu leistenden Deduktionen gemeint ist) und es nun gilt, das Gegebene zu analysieren und dadurch zu verdeutlichen. 220 221

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„Gehalt“ des Wissens ausmacht. Der „Begriff“ dagegen ist unser eigenes, inneres Wesen. Er ist Ich, Selbstbewusstsein, Vernunft, Wir. 222 Das bedeutet, was natürlich schon klar geworden sein dürfte, dass das „Licht“ letztlich dem „Sein“ und der „Begriff“ dem „Denken“ entspricht. Was das L = 0 anbelangt, wiederholt Fichte einmal mehr, dass es nicht nur Leben, sondern auch Realität ist. Da das Leben im Durch lebt, gilt somit selbiges auch von der Realität. In das Durch Treten heißt dabei: Realität auffassen und mittels des Begriffs ergreifen. Dadurch „zersplittert“ sich die Realität gleichsam in das, was dieses begriffliche Auffassen ermöglicht und auch daraus folgt, nämlich in Ursache (Antezedens) und Wirkung (Konsequens). Das Eintreten der Realität in das Durch bedeutet also, dass ein Antezedens entsteht, durch das die so gefasste Realität sein soll, sowie ein Konsequens, das durch dieselbe sein soll. Auch hier scheint somit ein Wechselverhältnis auf. So entstehe – bei unendlicher Iteration dieser Zersplitterung – die „Quantitabilität“ 223 als „unabtrennbare Form der Erscheinung der Realität“. 224 ELFTER VORTRAG Mit dem X. Vortrag kam die erste Genetisierungsstufe zu ihrem Abschluss. Zugleich wurde aber auch bereits angekündigt, worin die Verbindung zur zweiten Genetisierungsstufe bestehen wird. Denn die äußere Existenz des immanenten Lebens muss ja noch erwiesen werden, was laut der Copia die „schwierigste Stelle“ 225 innerhalb des ersten Teils dieser Fassung der Wissenschaftslehre ausmacht. Das wird dadurch bewerkstelligt, dass ganz allgemein die idealistische und die realistische Weise, zu argumentieren bzw. das idealistische und realistische „Räsonnement“ dargestellt werden. Es wird sich dabei zeigen, dass dem Idealismus und dem Realismus verschiedene Spielarten zukommen. 226 In diesen unterschiedlichen Spielarten werden die Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens auf dieser zweiten Genetisierungsstufe bestehen. Die Weise, wie diese zusammenhängen, wird in den folgenden beiden Vorträgen dargelegt, in denen jeweils zwei neue Grundbestimmungen des Wissens genetisiert werden. Daran 222 Das hier angezeigte „Ich“ entspricht dem „endlichen Ich“ der Grundlage. Fichte sagt zu diesem am Anfang des XI. Vortrags (wenn er vom „Durch“ spricht), dass es „in sich selber nur den Tod“ habe (GA II/8, S. 160). 223 Zu diesem Begriff, siehe die Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02. 224 GA II/8, S. 156. 225 GA II/8, S. 161. 226 Das gilt auch zumindest für die Genetisierungsstufen selbst. Die Reihenfolge in Bezug auf die Grundbestimmungen alterniert dabei: erste, dritte und fünfte Genetisierungsstufe: niederer Idealismus, niederer Realismus, höherer Realismus, höherer Idealismus, Einheitspunkt; zweite und vierte Genetisierungsstufe: niederer Realismus, niederer Idealismus, höherer Idealismus, höherer Realismus, Einheitspunkt.

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anschließend werden dann die „niederen“ und „höheren“ Idealismen und Realismen in der zehnten Grundbestimmung des Wissens (die zugleich die letzte dieser Genetisierungsstufe ist) synthetisiert. Es geht im folgenden Genetisierungskomplex allgemein um die Frage, wie dem Ich oder der Erscheinung (= Durch) ein lebendiges Sein zugrunde gelegt werden kann (bzw. muss). Oder es geht, anders gesagt, um die „Ontogenese“ des Phänomens. 227 Ausgangspunkt der Deduktion von „L“ aus „B“ ist das existierende Durch, d. h. das existierende Bewusstsein, sofern es ein ursprüngliches, in sich selbst begründetes Leben voraussetzen soll. Jenes existierende Durch wird nun (zusammen mit dieser Voraussetzung) eingesehen. Das bedeutet, dass es davon nur ein Bild oder einen Begriff gibt. Da Bild = Begriff = Durch ist, ist das, was erklärt werden soll, nämlich dass das Durch vermittels eines Lebens begründet wird, seinerseits nur durch ein Durch zugänglich. Genau das ist gemeint, wenn Fichte schreibt: „Die Erklärung des Durch ist selber ein Durch.“228 Wir haben es also mit zwei „Durch“ zu tun. Das erste ist das existierende Durch, das zum Leben kommen soll; das zweite ist die Einsicht von alledem, was insbesondere die Einsicht des Lebens impliziert. Mit dem ersten Durch sind das Durch selbst und das es ermöglichende Leben „in einem Schlage“ gesetzt – Fichte veranschaulicht das durch den Begriff einer „horizontalen Reihe“. So wird nur das wiederholt, was bezüglich des „Urbegriffs“ (der sich ja als dieses – erste – Durch erwiesen hatte) bereits aufgestellt wurde. Wird jedoch das Durch mit Hilfe des es ermöglichenden Lebens erklärt, dann haben wir gleichsam eine „perpendikuläre Reihe“ von existierendem Durch (dem Bedingten – Konsequens) und dem Leben (dem Bedingenden – Antezedens). Wie stellt sich nun dieses Bedingungsverhältnis genauer dar? „L“ soll aus „B“ genetisch abgeleitet werden, heißt: Es soll erwiesen werden, dass, wenn „B“ gesetzt ist, „L“ als seine Bedingung angenommen werden muss. 229 Oder in Fichtes eigener Formulierung: „[S]oll dieses [scil. das nun als „lebendig“ bezeichnete Durch] sein, so folgt daraus die Existenz des Lebens.“230 Anders ausgedrückt (und genau darin besteht die Ableitung von „L“ aus „B“): Soll das Durch sein, so muss das Leben gesetzt werden. Der Ausdruck „folgt daraus“ darf hier nicht missverstanden werden: Das Leben folgt aus dem Durch weder ontologisch noch gnoseologisch, sondern transzendental. Das bedeutet: Wenn das Durch gesetzt ist, dann folgt daraus, dass das Leben als seine Bedingung angenommen werden muss (in

Dem wird dann die Erscheinungslehre die Phänomenalisierung des Seins entgegensetzen. GA II/8, S. 160. 229 Wir stehen hier vor jener – transzendentalen – Argumentationsweise, die im III. Vortrag mit dem Verweis auf das „rein Wandelbare“ bereits angeklungen ist. 230 GA II/8, S. 162. 227 228

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diesem – anderen – Sinne folgt dann also das Durch als Bedingtes dem Leben als dem Bedingenden). Nota bene: Es scheint zunächst so, als sei das im vorigen Vortrag genetisierte und hier nun weiter ausgestaltete „Soll“ (qua fünfte Grundbestimmung des Wissens), das, wie gesagt, erweist, inwiefern in der Ableitung von „L“ aus „B“ „L“ als transzendentale Bedingung für „B“ angenommen werden muss, nicht jenes, welches in der Erscheinungslehre in Anspruch genommen wird (es bringt dort nämlich die Setzung und die Vernichtung des Begriffs als Voraussetzung für die Äußerung des Prinzips [= Licht] zum Ausdruck). In Wirklichkeit geht es aber um viel mehr – das wurde bereits angedeutet und stellt den grundlegenden Bezug zwischen dieser Fassung der Wissenschaftslehre und der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 her: Die Soll-Formulierung im ersten Teil – „Soll es wirklich zu einem Durch kommen, so wird ein inneres, vom Durch unabhängiges, auf sich selbst beruhendes Leben, als Bedingung der Möglichkeit vorausgesetzt“ – entspricht nämlich dem theoretischen Teil der Grundlage (mit der Setzung des Ich durch das Nicht-Ich), während die Soll-Formulierung im zweiten Teil – „Soll es zur absoluten Einsicht der Konstruktion des Seins kommen, so muss eine ideale Sichkonstruktion faktisch gesetzt werden“ – die Aufgabe des praktischen Teils der Grundlage (mit der Setzung des Nicht-Ich durch das Ich) übernimmt. Dass „L“ „B“ bedingen soll, stellt zunächst ein nicht unerhebliches Problem dar. „L“ hatte sich ja als „0“ erwiesen – wie soll von hier aus „B“ durch „L = 0“ bedingt sein können? Fichte geht zur Aufklärung dieses Bedingungsverhältnisses scheinbar zwei Umwege. Der erste geht über den Erweis, dass unerwarteter Weise die Existenz des Durch sich als Antezedens ergeben wird; der zweite über die Herausstellung der entscheidenden Rolle der „Energie“. In Wirklichkeit sind das aber nur scheinbare Umwege, wie sich in der Folge zeigen wird. Im Ausdruck „Soll das lebendige Durch sein, so folgt daraus die bedingende Existenz des Lebens“, ist das „Soll“ offenbar nur „problematisch“, das heißt, es wird anscheinend nichts über die tatsächliche Existenz des Durch ausgesagt. Das hieße aber, das Wesen des Soll zu verkennen! Gerade weil das Soll qua problematisches nur im Begriff ist und „hinfällt, wenn der Begriff hinfällt“, ist es auch im Hinblick auf das begrifflich Gefasste „Schöpfer und Erhalter aus sich, von sich, durch sich“. 231 Das Soll ist selbstständig: Das von ihm Erfasste ist nicht bloß gedacht, es ist auch in seinem Gedachtsein. Daraus folgt, dass die Formel „Soll das lebendige

231

Ebd.

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Durch sein…“ die Existenz des Durch tatsächlich „ankündigt“. 232 Fichte schließt daraus: Er daher, der Begriff, ist hier das Antezedens, und absolute Prius zu dem problematischen Gesetztsein der Existenz des Durch: Und die letztere ist nur sein, des Begriffes, Ausdruck, das, was durch ihn ist, und wodurch er, als Begriff, sich als absolutes, inneres Durch bewährt. 233

Wenn sich dadurch nun das („innere“) Durch als Prius und Antezedens erweist, inwiefern kann dann „B“ als bedingtes aufgewiesen werden – was doch die hier zu lösende Aufgabe war? Damit kommen wir zu dem zweiten angekündigten (scheinbaren) Umweg. Wenn nämlich der Begriff dank des Soll auf die angegebene Weise selbstständig ist, kann er als sich selbst machende Einsicht aufgefasst werden – „Einsicht [bzw. „Intuition“] eines notwendig vorauszusetzenden Lebens an sich“. Dieses als „inwendig“ charakterisierte Leben wird von Fichte als „Energie“ 234 bezeichnet. Das Durch energisch denken, heißt: es „vernünftig“ denken, „vernünftig sein“. Daraus ergibt sich dann – aufgrund des Sich-selbst-Machens des Begriffs MITTELS DER ENERGIE – ein neues Bedingungsverhältnis: Das innere Leben, das Leben der Vernunft, die Energie, ist Prinzip des problematischen Soll und des Begriffs sowie der Intuition. Damit ist die idealistische Argumentationsweise (also die sechste Grundbestimmung des Wissens) erfasst – und zwar, wie gezeigt, durch die Herausstellung der Energie qua Prinzip des Begriffs – und die genetische Ableitung von „L“ aus „B“ (d. h. die Herausstellung, dass „L“ die transzendentale Bedingung von „B“ ist) zu Ende geführt. Der nächste Schritt besteht in der Hervorkehrung der realistischen Argumentationsweise (= siebente Grundbestimmung des Wissens). Dafür muss zunächst das Prinzip des soeben aufgestellten idealistischen Räsonnements in seiner „Wurzel“235 bestimmt werden. Prinzip des Idealismus ist – ganz wie das des Realismus – eine bestimmte Maxime. Der Idealismus setzt ein problematisches Sein voraus. Dieses – als durch ein Soll eingeführtes – ist durch dieses Soll in sich selbst begründet. Entscheidend für den Idealismus ist, dass dieses vorausgesetzte, in sich selbst begründete Sein in der „emanenten Existentialform“ gefasst wird – worin eben gerade jene Maxime des Idealismus besteht. Dies macht auch die Genesis der „absoluten Vernunft“ aus – ein anderer Begriff für jene emanente Existentialform. Ist damit die 232 GA II/8, S. 162. Was sich hier insbesondere ankündigt, ist die eigentliche und wesentliche Funktion des „Soll“ qua Rehabilitierung des „ontologischen Arguments“, die in der Erscheinungslehre zum Tragen kommen wird. 233 GA II/8, S. 162. 234 Ebd. 235 GA II/8, S. 164.

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Genesis aber auch vollendet? Nein, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil das Sein hier noch vorausgesetzt wird; zum anderen, weil die Vernunft im Idealismus als absolute Vernunft – also im Bild – ist und lebt und nicht selbst absolut ist. Sie ist also noch durch ein Durch vermittelt, das ihr Antezedens ist, und verlangt somit nach einer weiteren Genetisierung. Worin besteht das Prinzip des realistischen Räsonnements? Es besteht in der „Anerkennung“ bzw. dem „Denken des absolut(en) immanenten Lebens“, 236 durch das die Intuition als ungültig ausgegeben wird. Während im Idealismus das innere Leben als solches intuiert wird (und durch diese Intuition – der idealistischen Sichtweise gemäß – die Genesis vollzogen wird), fasst es der Realismus als in sich geschlossenes auf. Die Intuition wird im Realismus nicht abgestritten, sondern als „leerer Schein“ (und somit als bloß faktisch bestehende) zugestanden. Das Denken des absoluten inneren Lebens, das als absoluter Vollzug aufgefasst werden muss, ist seinerseits ein „energisches“; es vernichtet dadurch das Bewusstsein – das „Ich“ und das „Wir“ – in seiner Wurzel. Für dieses absolut immanente Leben steht die bereits eingeführte „0“ qua „Urabsolutes“. Was ist nun die Maxime des Realismus? Sie besteht in der immanenten Existentialform des Denkens, d. h. in dem inneren Gehalt desselben. Die äußere Existentialform wird dabei radikal zurückgewiesen. Damit wären also Idealismus und Realismus auf ihr eigenes Wesen und ihre jeweilige Maxime hin bestimmt. Fichte schließt daraus Folgendes: Hier stehen nun die beiden höchsten Disjunktionsglieder, inneres und äußeres Leben des Lebens, auch immanente und emanente Existentialform, einander gegenüber, getrennt durch eine unausfüllbare Kluft, und durch den wirklich eingesehenen Widerspruch. Will man sie vereinigt denken, so sind sie eben durch diese Kluft und durch diesen Widerspruch selbst vereinigt. 237

Fichte führt auf eine originelle Art den Begriff der Wahrheit ein, um den Idealismus und den Realismus sowohl voneinander zu unterscheiden als auch miteinander zu vereinigen. 238 Für den Idealismus besteht die Wahrheit – klassischer Weise – im Bezug von Denken und Sein. Dieser wird im äußeren Verhältnis von Bild und Abgebildetem thematisch. Laut Fichte bringt der Realismus einen anderen Wahrheitsbegriff ins Spiel – den einer „inneren absoluten Wahrheit“, 239 die auch als „sich offenbarende“ 240 Wahrheit bezeichnet wird. Diese Unterscheidung erinnert an jene zwischen aristotelisch-thomistischer Korrespondenz-Wahrheit GA II/8, S. 167 und S. 168. GA II/8, S. 168. 238 Das ist auch der Grund dafür, dass der erste Teil dieser Fassung der Wissenschaftslehre eine „Wahrheitslehre“ ist. 239 GA II/8, S. 170. 240 Ebd. 236 237

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und dem Heidegger’schen Wahrheitsbegriff qua „Unverborgenheit“. 241 Und zur Unterscheidung beider Ansichten halten diese zwei Wahrheitsbegriffe auch gut her. Es erweist sich jedoch, dass dieses Unterscheidungsmerkmal gerade auch das ist, was den Idealismus und den Realismus miteinander vereinigt. Und das erhellt aus einer vertieften Analyse der Wahrheit überhaupt sowie ihrer genuinen Erscheinungsart: Wahrheit erscheint nämlich ganz allgemein „als ein lebendiges, durchaus bestimmtes, unveränderliches Bild, das sich selber in dieser Unveränderlichkeit hält und trägt“. 242 Der Wahrheit wird dadurch sowohl ein idealistisches Moment (Selbsthalten und -tragen) als auch ein realistisches Moment (Lebendigkeit, Unveränderlichkeit) zugesprochen. Damit wird aber auch gesagt, dass in der Wahrheit das absolute Leben in ein Bild eintritt. 243 Fichte merkt an: „Nun ist merkwürdig, dass nur in der Wahrheit als Wahrheit sein sollte B – das sich selber trägt und hält: – wo ja das Erste [d. h. das Bild des Lebens] wieder dem Denken, und das Zweite [d. h. das Leben an sich] dem Sein, dem inneren Charakter nach, vollkommen gleich erscheint […].“244 „B“ steht hierbei ausnahmsweise für das Bild (und nicht für den Begriff). Fichte meint demnach: Das Bild ist nur in der Wahrheit als Wahrheit, und darin ist das Bild des Lebens dem Denken gleich und das Leben selbst (also das Abgebildete) dem Sein. Wenn das aber für den Realismus charakteristisch sein soll, dann ist augenscheinlich, dass Realismus und Idealismus zusammenfallen, denn in beiden kommen exakt die gleichen Verhältnisse zum Ausdruck. Dieser Punkt wird in den folgenden Vorträgen wiederaufgenommen und vertieft. Zunächst hält Fichte lediglich fest, dass der Idealismus und der Realismus darin übereinstimmen, dass beide auf eine spezifische Maxime gründen und sie sich darin jeweils als auf einer faktischen Voraussetzung beruhend erweisen. Diese Faktizität erweist sich in beiden Fällen jedoch als unterschiedlich. Der Idealismus stellt die Faktizität im Ich und im Bewusstsein – also durch das Bild – hin; der Realismus leugnet zwar Ich und Bewusstsein – und dadurch das Bild –, aber, wie dank der Auseinanderlegung der „inneren, sich offenbarenden Wahrheit“ deutlich wurde, spielt in ihm das Bild (gleichfalls) wesenhaft hinein: Er leugnet somit, „was er im Grunde selber ist“. 245 Dadurch ist dem Realismus seine fundamentale Nähe zum Idealismus nicht bewusst. Der Realismus – und das sieht er selbst auch genau so – ist dadurch vom Idealismus unterschieden, dass er den Begriff überhaupt und das Vermögen abzuleiten leugnet; der Idealismus wiederum sieht sich dadurch vom Realismus unterschieden, dass er das vom Realismus stark gemachte An-sich-Sein zurückweist. Sofern es sich um einen „Widerstreit der 241 242 243

dert.

244 245

M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA Band 2, Frankfurt am Main, V. Klostermann, 1977, S. 290f. GA II/8, S. 170. Hierdurch kommt unzweideutig zum Ausdruck, dass die Wahrheitslehre eine Bildlehre erforGA II/8, S. 170. GA II/8, S. 172.

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Maximen“ 246 handelt, muss, um diesen Konflikt zu überwinden, ein Gesetz der Maximen aufgestellt werden. Das wird die Aufgabe der folgenden Vorträge sein. Wie schon mehrfach zuvor geschehen, gibt Fichte auch an dieser Stelle einen antizipierenden Ausblick. Systematisch hat der Realismus gegenüber dem Idealismus den Vorteil, 247 dass er, obwohl er seinen Gegensatz, das Denken, als unbegreiflich ansieht, dieses, wie bereits erwähnt, dennoch unangefochten lässt, während der Idealismus seinen Gegensatz, das Sein, als unmöglich zu erweisen sucht. Der zu beschreitende Weg ist folgender: Die Tatsache, dass der Realismus eine entäußernde Intuition des absoluten Lebens radikal ablehnt, ist inakzeptabel. Wohl gibt es eine solche Intuition – allerdings ist sie nicht auf sich selbst gegründet. Die Aufgabe besteht also darin, die Bedingungen einer Intuition ausfindig zu machen, die nicht auf sich selbst gegründet ist, aber dennoch gleichsam eine Zwischenstellung zwischen absolutem Leben und auf sich selbst gegründeter Anschauung einnimmt – nämlich die des „Ich“, „Wir“ bzw. „Bewusstseins“ – „erste Erscheinung und Grund aller übrigen Erscheinungen“. 248 So wäre die genuine Position der Wissenschaftslehre erreicht; der Idealismus und der Realismus träfen sich in ihrem gemeinsamen Vereinigungspunkt. Der erste Teil dieser Fassung der Wissenschaftslehre ist, wie gesagt, eine „Wahrheitslehre“. Dadurch ist sie zugleich eine Lehre für die Feststellung (und Abweisung) des Irrtums. In Fichtes Augen lässt sich die Wahrheitslehre von der Irrtumslehre nicht ablösen. Sie stellt dabei folgende Regel auf: „Sage mir nur genau, was Du alles nicht weißt und nicht begreifst, und ich will dir a priori aufs Genaueste alle die Irrtümer und Hirngespinste angeben, an die du glaubst, und es soll gewiss zutreffen.“ 249

Ebd. Die Bemerkung „[a]lle bisherigen Äußerungen der Wissenschaftslehre zeigen eine Vorliebe für die realistische Ansicht“ (GA II/8, S. 172) ist gewiss etwas befremdlich, weil einerseits kontraintuitiv und andererseits auch nicht dem ständigen Insistieren Fichtes entsprechend, wonach der fundamentale Standpunkt der Wissenschaftslehre der des Begriffs (GA II/8, S. 188, Z. 24–27), des Ich bzw. des Selbstbewusstseins sei. Wenn man sich aber vor Augen hält, dass die absolute Grunddisjunktion die in „0“ und „B“ ist und der Ausgang von „0“ die Genetisierung unmöglich macht, zugleich aber auch für die Aufweisung der Nicht-Leerheit und Realität der Wissenschaftslehre entscheidend ist, dann wird klar, dass der realistische Standpunkt die Herausforderung für die Wissenschaftslehre überhaupt ausmacht. Diese Entdeckung ist neu und hatte vor 1801 keine Entsprechung in den „bisherigen Äußerungen der Wissenschaftslehre“. Deswegen ist jene Bemerkung zur „Vorliebe für die realistische Ansicht“ weniger ein Merkmal der früheren Fassungen der Wissenschaftslehre als vielmehr die Betonung eines Aspekts, der für Fichte gerade nach 1800 besonders bedeutsam geworden ist. 248 GA II/8, S. 172. 249 GA II/8, S. 174. 246 247

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ZWÖLFTER VORTRAG Die ersten beiden Grundbestimmungen des Wissens auf einer ersten konstitutiven Ebene innerhalb der Fünffachheit der Standpunkte (auf der zweiten Genetisierungsstufe) sind genetisiert. Im XII. Vortrag wird Gleiches für die nächsten beiden Grundbestimmungen auf einer zweiten konstitutiven Ebene geschehen. Fichte fasst, bevor er die Spielarten des höheren Realismus bzw. Idealismus ins Auge fasst, die Hauptgedanken zunächst noch einmal prägnant zusammen. Die Grundeinsicht des ersten Teils dieser Fassung der Wissenschaftslehre lautet: „Soll es wirklich zu einem Durch kommen, so wird ein inneres, vom Durch unabhängiges, auf sich selbst beruhendes Leben, als Bedingung der Möglichkeit dieses Durch vorausgesetzt.“250 Die Reflexion auf diese Einsicht bringt zwei weitere Einsichten zutage, die jeweils der (niederen) idealistischen und der realistischen Ansicht entsprechen. Die idealistische Ansicht lautet: Das innere Leben des Durch (qua wirklichem Begriff) wird erklärt durch die Energie der Reflexion, d. h. durch die ein für sich Bestehendes projizierende Form der Intuition (die der äußeren Existentialform entspricht). Die realistische Ansicht behauptet dagegen das absolute An-sich-Sein des vorausgesetzten Lebens und negiert jene äußere Existentialform. Es handelt sich dabei um zwei Ansichten des natürlichen Wissens, welche die Wissenschaftslehre aus ihren Prinzipien einsieht. Darüber hinaus wurde auch das Wesen dieser beiden Ansichten bestimmt. Dies ergab einerseits den dem Idealismus zu Grunde liegenden Standpunkt (sowie sein relatives „Prinzip“) und andererseits jenen, der dem Realismus zu Grunde liegt (mit seinem eigenen „relativen“ Prinzip). Es galt dabei hervorzukehren, dass und inwiefern der jeweilige Standpunkt nicht nur die jeweilige Ansicht fundiert, sondern auch aus ihr folgt. Dieses wechselseitige Verfahren charakterisiert ganz allgemein die Genesis der Faktizität. Der Grundstandpunkt des Idealismus ist die Reflexion, aus der alle Bestimmungen folgen, die sich aber nicht selbst rechtfertigt. Der Grundstandpunkt des Realismus ist der Inhalt des Denkens, dessen Selbstrechtfertigung auch nicht geliefert werden kann. Beide Standpunkte verharren somit in der Faktizität. Wir finden den Gegensatz wieder, der auch schon vor der Grunddisjunktion in „0“ und „B“ aufgestellt wurde, 251 nämlich den „Widerstreit der beiden absolut zu vereinigenden Glieder: S 252 und B oder der Form und des Inhaltes, oder der äußeren und inneren Existentialform, oder in dem vorigen 253 Vortrage, des Wesens und des GA II/8, S. 176. Siehe den achten und das Ende des IX. Vortrags. 252 „0“ in der Copia kann nicht zutreffend sein, weil wir hier ja nicht auf der gesamten Ebene der Grunddisjunktion von „0“ und „B“ sind (sondern – vgl. Fig. B – allein auf der Seite des „höheren Begriffs“ „B“) und somit an dieser Stelle gerade nicht von der Disjunktion von „0“ und „B“ die Rede sein kann. 253 In der Wissenschaftslehre von 1804/I. 250 251

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Zwölfter Vortrag

Daseins“. 254 Fichte spricht hier von „absoluter Disjunktion“. 255 Dieser Ausdruck würde aber für die Disjunktion von „0“ und „B“ besser passen, da diese ja der Zweiteilung dieser Fassung der Wissenschaftslehre entspricht. Wie dem auch sei, es geht nun um die Vereinigung von Idealismus und Realismus, was den Kernpunkt der zweiten Genetisierungsstufe ausmacht. Der XII. Vortrag soll hierzu noch weitere „vorläufige Betrachtungen“ anstellen. Der Idealismus sieht den Realismus als radikal unmöglich an, da dieser sich nicht auf den Standpunkt der Reflexion zu erheben vermag. Es gibt somit, vom Standpunkt des Idealismus aus, keine Brücke zum Realismus. Dieser weist seinerseits den Idealismus zurück, bleibt aber, sofern er ihn verneint, dennoch (zumindest negativ) an ihn gebunden. Daraus folgert Fichte zum einen, dass vom Realismus auszugehen sei, da zu erwarten ist, dass von ihm aus die Vereinigung angemessener zu bewerkstelligen ist als vom Idealismus aus; zum anderen skizziert er die nun anstehende Vorgehensweise so, dass der Realismus in Widerspruch zu sich selbst zu setzen ist, um so – weil dadurch eine Disjunktion entsteht – sein faktisches Prinzip genetisch machen zu können. Auf diese Weise sei ein „höherer Idealismus und Realismus“ 256 zu erwarten. So geht es jetzt also darum, den Realismus „in seiner Kraft“ 257 zu fassen und dabei das Ansich energisch zu denken. Um zu verstehen, wie mit der Genesis des Realismus die Bedeutung des Verhältnisses von niederem Realismus zu niederem Idealismus erläutert werden kann, muss zunächst auf den soeben angesprochenen allgemeinen Bezug auf diesen niederen Idealismus verwiesen werden. Der niedere Idealismus wurde bisher als die absolute Intuition des Lebens gefasst (d. h. als eine Projektion, die der emanenten Existentialform des Denkens entspricht). Der niedere Realismus dagegen bestand in der Anerkennung des absoluten An-sich-Seins dieses Lebens. Wenn nun der Realismus – zwecks seiner Genetisierung – in seiner Kraft als das das Denken des Ansich Vernichtende aufgefasst wird, dann wird er nicht nur faktisch in uns vollzogen, sondern genetisch begriffen: und zwar so, dass das Wir (bzw. das Bewusstsein) und das Ansich darin zusammenfallen. Wie wird von hier aus der niedere Idealismus durch den niederen Realismus widerlegt? Wenn das Ansichsein scharf und energisch gedacht wird, wird deutlich, dass es zugleich die Negation aller Konstruktion ist. Das Ansich klärt darüber auf, dass jede Position eine Negation ist, dass alles außer dem Ansich nichtig ist. Wenn nun aber die Einsicht der Vernichtung des Denkens am Ansich das positive Denken voraussetzt, dieses aber negierend und letztlich sogar nichtig ist, dann ist es so, dass sich

254 255 256 257

GA II/8, S. 180. Ebd. GA II/8, S. 182. Ebd.

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im Denken das Denken am Ansich vernichtet, dass der Idealismus darin am Realismus zu Grunde geht. Vier bemerkenswerte Aspekte müssen hervorgehoben werden – und das führt dann zum „höheren Realismus“ (und schließlich auch zum „höheren Idealismus“). Das Verhältnis von Realismus und Idealismus verweist zunächst auf die ‚Grundoperation der Genesis‘ aus dem IV. Vortrag. Dort wurde vorgreifend angezeigt, dass die Äußerung des Prinzips einer Setzung und einer Vernichtung des Begriffs bedarf. Hier wird am Ansich das strukturell gleiche Verhältnis von vorausgesetztem „positiven Denken“ und Vernichtung des Denkens deutlich. In diesem Verhältnis, und das ist der zweite Aspekt, stellt sich insbesondere der Bezug von Intuition und Begriff auf eine neue Weise dar. Die Vernichtung wird intuiert, das Ansich gedacht. Begriff und Anschauung wirken in der ‚Grundoperation der Genesis‘ auf eine Weise aufeinander ein, die im IV. Vortrag noch nicht sichtbar werden konnte. In der ‚Grundoperation‘ handelt es sich demnach nicht nur um den Bezug zwischen Denken, Sein und Licht, sondern auch zwischen Begriff und Anschauung. Dabei ist der Anschauungsbegriff komplex: Die Vernichtung des Begriffs und die (Ab)setzung des Seins, die beide grundlegend die Anschauung betreffen (das [ab]gesetzte Sein ist Anschauung und die Vernichtung wird, wie sich nun zeigt, angeschaut), vollziehen sich „in einem Schlage“, gehören also wesenhaft zusammen. Der dritte Aspekt weist auf den entscheidenden Punkt hin, dass dieses Verhältnis von Anschauung und Begriff in Bezug auf das Ansich kein durch Ich oder Bewusstsein konstruiertes ist, sondern dass das Ansich sich dabei selbst konstruiert. Und daraus folgt der vierte Aspekt, dass diese Selbstkonstruktion des Ansich einerseits und Licht und Einsicht andererseits zusammenfallen.258 „Also die absolute Sichkonstruktion des Absoluten, und das ursprüngliche Licht, sind ganz und gar das Eine, Unzertrennliche, und das Licht geht selber aus dieser Sichkonstruktion, so wie diese wieder aus dem absoluten Lichte hervor.“ 259 Diese beiden letzten Aspekte charakterisieren den „höheren Realismus“ (= achte Grundbestimmung des Wissens). Ihm steht der „höhere Idealismus“ (= neunte Grundbestimmung des Wissens) gegenüber, der für diese Selbstkonstruktion wiederum ein energisches Denken in Anspruch nimmt, das allein die Selbstkonstruktion zu einer lebendigen Selbstkonstruktion machen kann. Der höhere Idealismus bleibt nicht auf der Stufe der Zurückweisung des Ansich stehen, sondern er nimmt die Selbstkonstruktion des Ansich gleichsam reflektierend in sich auf. Dies ist die Stelle, wo das „absolute Ich“ ins Spiel kommt. Seine Berechtigung – und damit die des „höheren Idealismus“ überhaupt – wird im XIII. Vortrag dargelegt, dann aber auch hinterfragt und zurückgewiesen.

258 259

Zur Rolle der „Urphantasie“ dabei, siehe den XIV. Vortrag. GA II/8, S. 186.

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Zwölfter Vortrag

Diese Fragestellung wird am Ende des XII. Vortrags mit zwei Argumenten gegen die „idealistische Einwendung“ 260 gegen den „höheren Realismus“ vorbereitet. Das erste Argument weist darauf hin, dass das mit dem Begriff der „Energie“ notwendigerweise veranschlagte Bewusstsein das Licht voraussetzt, dieses aber nicht vom Absoluten losgelöst werden kann, ohne in einen offenen Widerspruch zu geraten – denn es hätte dann seine Quelle im Ansich, was der Idealismus gerade bestreitet. Es scheint, dass der höhere Idealismus der Einheit von Selbstkonstruktion und Licht keinen überzeugenden Standpunkt entgegenzusetzen hat. Das zweite Argument (das im Grunde auf dasselbe hinausläuft) zielt darauf ab, der Energie einen anderen Status zuzuweisen, als der Idealismus das tut. Die Energie kommt bei dem, was eigens konstruiert wird, nicht ins Spiel, sondern sie betrifft – lediglich beobachtend und begleitend – die Aufmerksamkeit auf das Verfahren, das sich in der Selbstkonstruktion vollzieht. Der Realismus bestreitet eine konstitutive Funktion der Energie und spricht ihr allenfalls, phänomenologisch ausgedrückt, die Rolle eines „uninteressierten Zuschauers“ zu. Im letzten Absatz dieses Vortrags macht Fichte aber einen Einwurf, der dem Idealismus gleichwohl eine entscheidende Rolle in der Wissenschaftslehre zuspricht (und in Widerspruch zu dem eben Gesagten steht). Die Wissenschaftslehre hat kein „verblasstes Ansich“, das dem kantischen „Ist“ entspricht, sondern ein lebendiges Ansich, das niemals wie ersteres in der Intuition, sondern allein im begrifflichen Denken statthaben kann. Darin – also in der Vormachtstellung des Begriffs gegenüber der Anschauung in Bezug auf das Erfassen des Ansich – sieht Fichte den grundlegenden Unterschied zwischen der Wissenschaftslehre und allen anderen philosophischen Standpunkten. Was ihn starkmacht, wird im folgenden Vortrag entwickelt. Fassen wir abschließend noch einmal die Quintessenz der bisher herausgestellten Spielarten des Realismus und des Idealismus in Form einer Tafel zusammen, indem wir ihr jeweiliges Prinzip darstellen. Realismus

Idealismus

niederer

immanente Existentialform (Ansich)

emanente Existentialform (Energie)

höherer

absolute Sichkonstruktion in Einheit mit dem Licht

Reflexion des unbedingten Ansich

260

GA II/8, S. 188.

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Dreizehnter Vortrag

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DREIZEHNTER VORTRAG Die folgenden beiden Vorträge schließen die zweite Genetisierungsstufe mit der Synthese der verschiedenen Spielarten des Idealismus sowie des Realismus ab, welche die zehnte Grundbestimmung des Wissens (qua lebendigem in sich geschlossenem Sein) ausmacht. Die Argumentation des XIII. Vortrags ist nicht geradlinig, sondern verfolgt eine Zickzackbewegung zwischen positiver Bestimmung des höheren Idealismus und dessen zurückweisender Kritik. Dabei kristallisiert sich über den „höheren“ Idealismus auch noch der „höchste“ Idealismus heraus, dessen Widerlegung ebenfalls – zumindest in ihrem Prinzip – umrissen wird. Um den gesamten Gedankengang verständlich zu machen, soll diese hin- und herspringende Erklärung des höheren sowie des höchsten Idealismus nun getreu nachgezeichnet werden. Fichte schickt diesem Vortrag einige Bemerkungen zur Methode voran. Der erste Teil der gegenseitigen Genetisierung von „L“ und „B“ betrifft die Frage nach dem Verhältnis von „Leben“ und „Durch“. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Fichte sich an dieser Stelle ungenau – wenn nicht schlicht fehlerhaft – ausdrückt. Es geht im ersten Teil um das „Durch“, was daraufhin befragt werden soll, wie es zum Leben kommen kann. Hier wird aber gesagt, es gehe um „das Leben an sich, dessen es zur Belebung eines Durch bedürfe“. Das ist ganz offenbar falsch, denn einerseits ist dieser Gang von „0“ aus, wie im XI. Vortrag gezeigt, gar nicht möglich und andererseits wird diese – umgekehrte – Frage auch erst in der Erscheinungslehre behandelt. Wie dem auch sei, die Klärung von Idealismus und Realismus ist genau der Aufgabe gewidmet, die im ersten Teil gelöst werden soll. Fichte betont zudem, dass die hier entwickelten Ansichten als Leiter dienen, derer man sich im Einheitspunkt (der im XV. Vortrag erreicht wird) entledigen kann. 261 Obwohl bzw. gerade weil die selbstkonstruierende Vernunft einen „mechanisch fortfließenden“ 262 Charakter hat, muss jedes einzeln aufgestellte Glied klar gesondert und bestimmt werden, weil sonst die eigentliche Genesis verwischt wird und nicht verständlich gemacht werden kann. Fichte stellt zunächst noch einmal den Grundgegensatz von dem bisher aufgestellten höheren Realismus und dem höheren Idealismus auf. Der höhere Realismus besteht in der Selbstkonstruktion des Ansich, die Leben und Licht in einer unmittelbaren Synthesis vereinigt. Der höhere Idealismus dagegen vollzieht eine bewusste absolute Reflexion, die für ihn die letzte Bedingung der Selbstkonstruktion des unbedingten Ansich sowie des Lichts darstellt. In ihm wird das Bewusstsein vorausgesetzt. Dieser höhere Idealismus muss jedoch insofern zurückgewiesen werden, als im Hinzukommen der Intuition des Prinzips – des energischen Denkens des Ansich – zum Denken, sofern dieses das Ansich erzeugt, keinesfalls klar 261 262

Vor Wittgenstein findet man dieses Bild also bereits bei Fichte. GA II/8, S. 190.

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wird, ob das Denken aus der Intuition oder die Intuition aus dem Denken entspringt. Das „genetische Glied“ 263 zwischen beiden (also zwischen Intuition bzw. Bewusstsein 264 und Denken) fehlt, der höhere Idealismus gelangt aus der Faktizität nicht heraus. Diese Faktizität ist die des unmittelbaren Bewusstseins bzw. der Bewusstheit. Dadurch wird zwar die systematisch wichtige Rolle des Bewusstseins im höheren Idealismus, auf die im weiteren Verlauf dieses Vortrags zurückzukommen sein wird, nicht gänzlich verabschiedet. Dieses erweist aber den höheren Idealismus als widersprüchlich. Zum einen wird, wie gesagt, das Bewusstsein vorausgesetzt; zum anderen wird die Intuition der Reflexion als das Absolute gesetzt, wodurch das Bewusstsein, sofern es das Licht voraussetzt, zwar in seiner genetischen Quelle eingesehen wird (und zwar als nicht absolutes), sich dadurch aber gerade als abgeleitet erweist. Dadurch ergibt sich die besagte Unhaltbarkeit des höheren Idealismus, denn Licht und Bewusstsein setzen sich gegenseitig voraus, was eine nicht genetisierte Disjunktion darstellt. – Bevor Fichte die Schlüsse daraus zieht, macht er eine methodologische Nebenbemerkung, die zugleich die Gelegenheit zu einer Kritik an Reinhold bietet. Er unterstreicht den Unterschied zwischen „faktischer Ansicht“ und „genetischer Einsicht“. 265 Erstere betrifft das Denken des Ansich, letztere die Selbstkonstruktion des Ansich. Das Denken (des Ansich) kann nicht – gleichsam als objektiviertes – betrachtet werden, sein Gesehen-Werden und Sein-Sollen fallen zusammen. Die Selbstkonstruktion kann dagegen sehr wohl als seiend (ein)gesehen werden – und umgekehrt das Sein (des Ansich) als sich selbst konstruierend. Der mit Reinhold angestellte Vergleich verweist u. a. auf Fichtes berühmtes „Antwortschreiben“ von 1801 an Reinholds „Sendschreiben“, 266 das im gleichen Jahr verfasst wurde. Fichte geht dort zwar ironisch, aber durchaus anerkennend, auf Reinholds „Denken als Denken“ 267 qua Prinzip des Seins ein. Der Grund für die Ironie wird deutlich. Reinhold lehnt nämlich sowohl die Berufung auf das Bewusstsein als auch ganz generell den Idealismus ab. Der im Gegensatz dazu von Reinhold entwickelte ‚rationale Realismus‘, der auf das laut Reinholds Bekunden von ihm GA II/8, S. 194. Für Fichte teilt das Bewusstsein mit der Intuition die Unmittelbarkeit und unterscheidet sich dadurch vom mittelbaren Denken und Begreifen. 265 GA II/8, S. 196. 266 C. L. Reinhold, „Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte über die zweyte Recension von Bardilis Grundriss usw. in der Erlang. Litt. Zeitung Nr. 214 und 215“, in „Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts. Herausgegeben von C. L. Reinhold, Prof. in Kiel“, Erstes Heft, Hamburg, Friedrich Perthes, 1801, S. 113ff. 267 J. G. Fichte, „Antwortschreiben an Herrn Professor Reinhold“ (Tübingen, J. G. Cottaische Buchhandlung, 1801), GA I/7, S. 294f. Siehe darüber hinaus auch seine Rezension vom Grundriß der ersten Logik, gereiniget von den Irrthümern bisheriger Logiken überhaupt, der Kantischen insbesondre; keine Kritik, sondern eine Medicina mentis, brauchbar hauptsächlich für Teutschlands kritische Philosophie, von C. G. Bardili (Stuttgart, F. Chr. Löflund, 1800), GA I/6, S. 433-450, wo Fichte an mehreren Stellen auf das Verhältnis von Bardili und Reinhold eingeht. 263 264

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selbst bei Bardili gefundene „Denken als Denken“ gebaut werden soll, kann aber laut Fichte aufgrund dieser zweifachen Ablehnung nur in der Luft hängen. Darüber hinaus – und das wird durch die soeben gelieferte methodologische Bemerkung begründet – lässt sich das Denken prinzipiell nicht einsehen. Wenn Reinhold aber nicht den dogmatischen Gang Spinozas beschreiten, sondern durchaus – im kantischen Geiste – deduzieren will, „so entsteht dadurch eine absolute Dunkelheit und Finsternis in seinem System, sodass kein Mensch begreift, was er eigentlich will“. 268 Die durchgeführte Kritik am höheren Idealismus hat den dankbaren Nebeneffekt, eine Alternative zum Reinhold’schen Ansatz vorzuschlagen und diese plausibel zu machen. 269 – Der höhere Idealismus wurde also ebenfalls zurückgewiesen. Hierzu werden bedeutsame weiterführende Anmerkungen gemacht. Die erste betrifft noch einmal sein Prinzip (bzw. sein Absolutes). Es hatte sich erwiesen, dass der höhere Idealismus die ‚Intuition der Reflexion‘ zu seinem Absoluten hatte. Laut Fichte erweist sich das darin ausgedrückte Bewusstsein als „Selbstbewusstsein“ bzw. als „absolutes Ich“. 270 Wie ist diese Genesis des Selbstbewusstseins zu deuten? Das Prinzip des niederen Idealismus ist das Denken qua emanente Existentialform. Jenes des höheren Idealismus die Intuition der Reflexion. Wenn darin nun die Untrennbarkeit von Denken und Bewusstsein aufscheint, gelangt man zu dem, was Fichte „absolutes Bewusstsein“, „absolutes Ich“ oder „Selbstbewusstsein“ nennt. Damit wird die Bewusstheit als letzter Wahrheits- und Gewissheitsgrund aufgestellt. In ihr sind Begriff und Anschauung nicht mehr getrennt, sondern fallen zusammen. Das Selbstbewusstsein liegt, so die Aussage des damit erreichten „höchsten“ 271 Idealismus, der Selbstkonstruktion des Ansich des höheren Realismus zu Grunde bzw. entsteht aus ihr. Worin dagegen der „höchste Realismus“ 272 besteht, wird erst im XIV. Vortrag deutlich. Die unterschiedlichen Realismen und Idealismen lassen sich bis zu diesem Punkt auf folgender Tafel darstellen:

GA II/8, S. 198f. Vgl. hierzu F. Ferraguto, „Rhythmus and Setzen. Fichte’s Answer to Rational Realism”, in Reinhold and Fichte in Confrontation. A Tale of Mutual Appreciation and Criticism, M. Bondeli & S. Imhof (Hsg.), Berlin/Boston, W. de Gruyter, 2020, S. 215-232. Ferraguto versucht hier zu zeigen, dass Fichte in 1804 durchaus Elemente aus dem rationalen Realismus aufnimmt bzw. auf dessen Problemstellung reagiert (ich danke Gesa Wellmann für diesen Hinweis). 270 GA II/8, S. 200. Im folgenden Vortrag wird deutlich werden, dass das Selbstbewusstsein in Wirklichkeit Prinzip des ‚höchsten Idealismus‘ ist. Dafür muss aber auch erst einmal der ‚höchste Realismus‘ aufgestellt werden. 271 GA II/8, S. 220. 272 Ebd. 268 269

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Dreizehnter Vortrag

Realismus

Idealismus

niederer

immanente Existentialform (Ansich)

emanente Existentialform (Energie)

höherer

Sichkonstruktion in Einheit mit dem Licht

Reflexion des unbedingten Ansich

höchster

? 273

Selbstbewusstsein = absolutes Ich

Die Erklärung der Art, wie das ‚absolute Ich‘ zum Absoluten qua Absolutem steht, wird nun auch diesen höchsten Idealismus widerlegen. Das ‚absolute Ich‘ als Prinzip des höchsten Idealismus ist „Urgrund aller Erscheinung“. 274 Dieser ist faktisch. Die Wissenschaftslehre zielt aber auf absolute Genesis ab, also muss sie sich über das absolute Ich zum Absoluten selbst erheben. Faktizität bedeutet: Tatsächlichkeit. Wenn das absolute Ich als faktisch veranschlagt wird – sei es auch als höchstes Faktum –, dann bedeutet das, dass auch das absolute Ich eine Art Tatsächlichkeit aufweist, eine Art „Tatsache“ ist. Den Tatsachen setzt die Wissenschaftslehre seit ihren Jenaer Ausarbeitungen die „Tathandlung“ entgegen (und dementsprechend stellt sich die Wissenschaftslehre – entgegen der landläufigen Meinung – gegen jede Form des Idealismus, auch gegen den höheren und insbesondere gegen den höchsten). Fichte stellt fest, dass „Tathandlung“ und „Genesis“ synonym sind. 275 So betont die Wissenschaftslehre von 1804/II die genetische Dimension des Absoluten gegen die faktische Dimension des absoluten Ich – womit, wie gesagt, der höchste Idealismus widerlegt wird. Das sei im Übrigen aber auch schon in den früheren Fassungen der Wissenschaftslehre der Fall gewesen, was sich am Status des Ich selbst ablesen lasse. Man müsse dabei zwischen „gefundenem“ und „erzeugtem“ Ich unterscheiden. 276 Das gefundene Ich sei das konkreteinzelne, empirisch-persönliche Ich. Das erzeugte Ich sei das reine Ich. Aber die Sphäre des Erzeugten (des erzeugten Ich) ist nicht die der Erzeugung selbst! Erzeugung  erzeugtes Ich  gefundenes Ich Genau so muss auch die Wissenschaftslehre selbst, als „Wissenschaft“, von ihren vollzogenen „Deduktionen“ unterschieden werden. Das absolute, reine Ich steht an der Spitze dieser Deduktionen, aber nicht an der Spitze der Wissenschaftslehre selbst – an der das Absolute qua Absolutes zu verorten ist. Verbliebe man auf der 273 274 275 276

Siehe den XIV. Vortrag. GA II/8, S. 202. Ebd. GA II/8, S. 204.

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Stufe des absoluten Ich, könnte das Disjunktionsprinzip von einem Ansich und einem reinen Ich nur „faktisch erschlichen“ 277 werden. Aufgabe des weiteren Verlaufs der Ableitungen ist die Erzeugung „des Ich, und mit ihm des ganzen Bewusstseins“, 278 um eine solche faktische Erschleichung zu unterlaufen. Der „Äther“ der Wissenschaftslehre – ihre „Aussage“, ihr Grundstandpunkt – ist die Vernunft bzw. das Intelligieren. Das bedeutet nicht, dass das Intelligieren keine eigene Bewusstheitsdimension impliziert. Aber, so Fichte, der Grund der Wahrheit als Wahrheit liegt doch wohl nicht in dem Bewusstsein, sondern durchaus in der Wahrheit selber; von der Wahrheit musst du also immer das Bewusstsein abziehen, als derselben durchaus nichts verschlagend. Es bleibt dieses nur die äußere Erscheinung der Wahrheit, aus der du nicht herauskommen kannst, und worüber dir auch der Grund angegeben werden soll. Wenn du aber glaubtest, in diesem Bewusstsein liege der Grund, dass Wahrheit Wahrheit ist, so verfielest du in den Schein; und allenthalben wo dir Etwas darum wahr sein soll, weil du dir dessen bewusst bist, bist du in der Wurzel eitel Schein und Irrtum. 279

Daraus folgen zwei wesentliche Punkte. 1.) Die Wissenschaftslehre hat zwei Teile. Die Wahrheits- und Vernunftlehre stellt die Wahrheit auf, von der das Urfaktum des Bewusstseins – die „Quelle alles Faktischen“ 280 – zu abstrahieren ist. Die aus der Wahrheitslehre folgende Erscheinungslehre oder Phänomenologie deduziert dann dieses existierende „Urfaktum“ oder „Grundphänomen“ 281 (zur Deduktion der aus ihm abgeleiteten Phänomene kommt es aber nicht mehr). 2.) Die Wissenschaftslehre kann – wie das bereits seit 1794 immer wieder betont wurde – nur „von innen“ aufgestellt, abgehandelt und beurteilt werden. Man muss sich dabei auf die Stufe des „unmittelbaren“ d. h. „absoluten“ „Intelligierens“ stellen bzw. davon ausgehen. Sofern das Bewusstsein als Schein und Faktum abgewehrt wird, ist auch die Berufung auf jede Art von Bewusstsein – sei dies auch „absolut“ – ungültig. Damit gehört zur Wissenschaftslehre ein viel radikalerer Skeptizismus als jeder, der allein ein solches Bewusstsein gelten lässt. VIERZEHNTER VORTRAG Nachdem im XIII. Vortrag der höchste Idealismus widerlegt wurde, wird das nun auch für den höchsten Realismus geschehen. Dabei wird noch einmal auf den höchsten Idealismus Bezug genommen, der dadurch seine entscheidende 277 278 279 280 281

GA II/8, S. 200. GA II/8, S. 204. GA II/8, S. 204f. GA II/8, S. 206. Ebd.

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Intention offenbart. Dieser XIV. Vortrag ist systematisch insofern von besonderer Bedeutung, als in ihm nicht nur das lebendige, in sich geschlossene Sein als zehnte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens aufgewiesen, sondern auch die Rolle der „proiectio per hiatum irrationalem“ für den transzendentalen Idealismus ganz allgemein sowie die der „Urphantasie“ – gleichsam nachträglich – für den (höheren) Realismus herausgestellt wird. Der höchste Idealismus machte das absolute Bewusstsein (= absolutes Ich) zu seinem Prinzip – gemeint war damit das Selbstbewusstsein – und wurde mit diesem auch widerlegt. Fichte fügt hinzu, dass diese Widerlegung das wirkliche Selbstbewusstsein betrifft, dass die Wissenschaftslehre aber auch das mögliche Selbstbewusstsein in Betracht zieht und dabei, wie sich ergeben wird, auch der höchste Realismus zu Grunde gehen und damit die zehnte Grundbestimmung des Wissens durchscheinen wird. Bevor er aber diese Argumentation ausführlich darlegt, geht er zunächst auf Schelling ein und verdeutlicht, inwiefern seine eigene Position von jener des Verfassers der Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 abweicht. Einigkeit herrscht zwischen beiden über den Status der Realität; gegen Schellings Identitätssystem formuliert Fichte aber vier Einwände. Was ist Realität? Für Fichte (wie für Schelling) ist Realität kein Relationsbegriff – im genauen Gegensatz zur Objektivität. Das hängt mit der Ohnmacht des Begriffs zusammen, Gehalt und Materialität des Wissens zu fassen, von dem bzw. der im X. Vortrag die Rede war. An der Realität gehen Subjektivismus und Objektivismus (und dementsprechend auch Idealismus und Realismus) zu Grunde, während Objektivität und Subjektivität notwendig gegenseitig aufeinander verweisen. Daran schließen sich vier kritische Einwände von Fichte gegen Schelling an. Erster Einwand: Um der Realität angesichts dieses Befundes angemessen Rechnung tragen zu können, muss die absolute Vernichtung von Subjekt und Objekt eingesehen werden, was die Wissenschaftslehre gerade tut. Schelling dagegen verfahre mittels einer Synthesis post factum, von der die Wissenschaftslehre aufzeigt, dass sie unzureichend ist und dass ihr ein genetisches Verfahren entgegengesetzt werden muss. Zweiter Einwand: Dennoch sieht Schelling in seinem Verfahren eine Überlegenheit gegenüber der Wissenschaftslehre, da er aufzeige und „sage“, was die Wissenschaftslehre lediglich „tue“. Darauf antwortet Fichte, dass Schelling einerseits das synthetisierende Verfahren der Wissenschaftslehre einfach übernimmt und andererseits das Tun höher steht als das Sagen, weil das Sagen schlicht objektiviert (und somit „tötet“), während das Tun zwischen Subjekt und Objekt im Mittelpunkt des lebendigen Seins steht. Dritter Einwand: Fichte stellt zudem eine architektonische Inkohärenz in Schellings Darstellung im Verhältnis zur Wissenschaftslehre heraus. Zwar solle laut Schelling der erste Grundsatz der Grundlage den Satz A = A als jenen des Seins der Identität beweisen; das ändere aber nichts daran, dass in Schellings Augen die Wissenschaftslehre, die diesen Satz beweist, dem Identitätssystem nachgeordnet

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sei. Das ist natürlich widersprüchlich, da das eigentliche Verfahren der Wissenschaftslehre eine solche Nachgeordnetheit in keiner Weise rechtfertigt. Vierter Einwand: Fichte hat eine andere Auffassung als Schelling in Bezug auf den Status der Vernunft. Auch hier äußert Fichte zwei Kritikpunkte. Zum einen ist Vernunft nicht, wie Schelling behauptet, die absolute Indifferenz von Subjekt und Objekt, sondern absoluter Indifferenzpunkt und zugleich absoluter Differenzpunkt (welche zweifache Relativität verhindert, dass die Vernunft „absolut“ wäre). Zum anderen objektiviert Schelling die Vernunft (indem er sagt: „die Vernunft ist“), was Fichte in folgenden Worten zurückweist: „Diese Objektivierung der Vernunft ist […] nicht der rechte Weg. Nicht um die Vernunft von außen herumreden, sondern das Vernünftigsein wirklich und allen Ernstes treiben, ist die Sache der Philosophie.“282 Mit anderen Worten, die Sache der Philosophie ist in der Tat gerade das Tun und nicht das Sagen. Worin besteht nun also der „höchste Realismus“? Seine Maxime unterscheidet sich von der des höheren Realismus dadurch, dass die Wahrheit nicht mehr als eine absolute Wahrheit gelten gelassen wird (was sich im Zusammenfallen von Selbstkonstruktion und Licht äußerte), sondern eine bedingte ist. Diese Maxime lautet: Wenn die Wahrheit gelten soll, so muss von allem „Effekt des Bewusstseins“ abstrahiert werden. Dieser „Effekt“, der ja den höchsten Idealismus ausmacht, weshalb dessen Widerlegung nun noch auf eine andere Weise zu beleuchten ist, besteht in der faktischen proiectio per hiatum irrationalem. Was ist mit dieser „Projektion“ gemeint? Projiziert wird im höchsten Idealismus die emanente, „äußere Existentialform“, die „Urerscheinung“, 283 das „Ich“ – und vor allen Dingen nicht weniger als das „Ist“. Dieser Bezug auf das „Ist“, auf das Sein, wird von Fichte zwar lediglich „en passant“ angemerkt, ist aber systematisch von grundlegender Bedeutung für den transzendentalen Idealismus überhaupt. Dieser „projizierende“ Charakter betrifft den Bezug des Bewusstseins zum Sein. Aber warum vollzieht sich die Projektion „durch einen irrationalen Hiat“? 284 Weil uns das projizierende Bewusstsein in seiner Wurzel absolut verborgen bleibt. Hier geht Fichte noch einen Schritt weiter als zuvor. Im XIII. Vortrag wurde die Widerlegung des höheren Idealismus durch den Aufweis vollzogen, dass es kein „genetisches Glied“ zwischen Bewusstsein (bzw. Intuition) und Denken gebe. 285 Bei der Widerlegung des höchsten Idealismus gilt dasselbe für Bewusstsein und Sein. Daher die Forderung des höchsten Realismus, von dieser proiectio zu abstrahieren. Worum es grundlegend geht – nämlich um die nicht bedeutsam genug einzuschätzende Frage nach dem Bezug von Bewusstsein und Sein, um die idealistische Auffassung davon 282 283 284 285

GA II/8, S. 210. GA II/8, S. 220. GA II/8, S. 224. GA II/8, S. 194.

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und um das, was daraus für den Idealismus schließlich folgt –, hat Wolfgang Janke sehr eindrucksvoll dargelegt: Die Aufgabe des höchsten Realismus liegt, wie gesagt, darin, von allem Effekte des Bewusstseins zu abstrahieren. Nur durch die Anstrengung solcher Abstraktion könnten die Wahrheit und das Absolute rein zu Tage treten. Was aber ist eigentlich abzuziehen, damit die verstellte Wahrheit unverstellt vor Augen kommt? […] Abzuziehen ist […] der im unmittelbaren Bewusstsein lagernde Zusammenhang von Sein (Realität) und Bewussthaben; denn das Bewusstsein stellt Sein nur durch eine Kluft an Unbegreiflichkeit hindurch vor, durch den Hiat zwischen wirklichem Denken und Bewusstsein. […] Woher nimmt denn die Behauptung 286 ihr Recht, dass das Bewusstsein des Denkens das Wirklichsein eines wahrhaft und realiter vorhandenen Denkens erwirkt? Sie gibt über ihren Fund keine Rechenschaft. […] Lässt der Idealismus aber das Grundverhältnis zwischen Sein und Bewussthaben offen, wie steht es dann mit dem Selbstbewusstsein als fundamentum inconcussum für die Vergewisserung von Sein? Der Bescheid lautet: Das Bewusstsein projiziert das Sein per hiatum irrationalem. Es projiziert Sein, heißt, es hält sich das Sein vor und entgegen, indem es das Sein aus sich herauswirft und gleichsam zu Boden niederlegt. […] Aber der Vorgang des Aus-sich-heraus-und-Niederlegens geschieht durch eine Kluft hindurch (per hiatum). Diese Kluft ist für das Wissen ein Abgrund (hiatus irrationalis); denn die Bewusstheit kann über ihr Projizieren und Sein-Setzen keine Rechenschaft geben und von ihnen keine Entstehungsgründe beibringen. 287

Der wahre Grund für die Zurückweisung des höchsten Idealismus durch den höchsten Realismus besteht folglich im Unvermögen des Idealismus (durch das „Abbrechen des Intelligierens“), über das Seins-Setzen Rechenschaft abzulegen und den Bezug zum Sein anders als eine irrationale Kluft – als einen „Abgrund“ – aufzufassen. Soll damit gesagt werden, der Realismus in seiner höchsten Form offenbare dagegen eine „proiectio per hiatum rationalem“ (dieser Ausdruck ist nicht von Fichte selbst)? Dem ist nicht so, da die eigentliche Seinssetzung erst in der Erscheinungslehre (an den verschiedenen Stellen nämlich, wo von der ‚kategorischen Hypothetizität‘ die Rede sein wird) legitimiert und genetisiert wird (was zu den bedeutendsten systematischen Beiträgen des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 gehört). 288

Diese Behauptung kennzeichnet die Position des höchsten Idealismus. W. Janke, Fichte. Sein und Reflexion, op. cit., S. 381f. (hervorgehoben v. Vf.). 288 Die Stärke von Husserls Intentionalitäts-Begriff – im Rahmen seines eigenen transzendentalen Idealismus – liegt darin, einen Bezug von Bewusstsein und seinem bewussten Korrelat herauszuarbeiten, der – im Gegensatz zu dem von Fichte herausgearbeiteten „noch höheren Idealismus“ – nicht einer „projectio per hiatum irrationalem“ gleichkommt. (Das vom Vf. in Seinsschwingungen [Tübingen, Mohr Siebeck, 2020] verfolgte Projekt geht noch einen Schritt weiter: Es geht darin nicht nur darum zu zeigen, dass der phänomenologische transzendentale Idealismus gerade nicht notwendigerweise in eine solche „projectio per hiatum irrationalem“ mündet, sondern auch, dass die „generative Phänomenologie“ die Mittel bereithält, gerade von jenem Bezug von Bewusstsein und Sein Rechenschaft zu geben.) 286 287

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Dieser höchste Realismus muss seinerseits einer Prüfung unterzogen werden. Das geschieht in zwei Schritten – in einer „formalen Beschreibung“ und einer darauffolgenden eigentlichen „Lösung“. Es muss dafür noch einmal das Ansich qua Selbstkonstruktion einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden. Vorher wurde die „versinnlichte“ Bedeutung des Ansich geliefert; nun soll es um dessen „intelligierte“ Bedeutung gehen. Im XII. Vortrag wurde, bei der Auseinanderlegung des „höheren Realismus“, das Ansich vorausgesetzt und in seiner Lebendigkeit aufgewiesen. Dabei wurde, so fügt Fichte hinzu, Urphantasie „hinzugetan“, in der wir selbst „aufgingen“. 289 Dieser Begriff der „Urphantasie“290 ist eine Wiederaufnahme der transzendentalen Einbildungskraft aus der Grundlage. Fichte bringt damit zum Ausdruck, dass auch der höhere Realismus nicht ohne diese auskam, da nur vermittels ihrer (und dank des Aufgehens des Bewusstseins darin) die Bedeutung des Ansich verständlich gemacht werden kann – auch wenn das erst jetzt explizit von ihm betont wird: In der Tat konnte das Zusammenfallen von Selbstkonstruktion und Licht 291 nur unter dieser Voraussetzung statthaben. Auch hier sei noch einmal Janke zitiert, der die Funktion der „Urphantasie“ exemplarisch auf den Punkt bringt: Die Wurzel unseres menschlich-endlichen Bewusstseinslebens ist Urphantasie. 292 Der Titel nennt die Weise, wie das absolute Sein seine Bedeutung erzeugt, und nennt zugleich, indem unser Bewusstsein darin aufgeht, den Urzustand unseres Bewusstseins. Urphantasie ist der Urakt der produktiven Einbildungskraft (phantasia), nämlich das Schweben zwischen der Ansicht des Ansich und der Negation aller Konstruktion. So hält die Urphantasie Anwesendes (das Ansich als reines Sein) mit Abwesendem (dem negierten Füruns) zusammen. Was dadurch gleichsam im Überschlag mitpräsent gehalten wird, ist die im Für-uns lagernde Gesamtheit aller Bewusstseinsbezüge. Der originäre Zusammenhalt von Seinseinheit und Bewusstseinsmannigfaltigkeit kann nur im Bilde angeschaut werden; denn das Begreifen des Begriffs ist ja abgesetzt. So war in einem ersten Zugang zum Sinn von Sein die Bedeutung des Ansich versinnlicht, und es war gezeigt worden, wie aus dem vorausgesetzten Ansich der Quell unseres spezifisch menschlichen Bewusstseins, die produktive Einbildungskraft, entspringt. 293

GA II/8, S. 222. Ebd. 291 Siehe hierzu den XII. Vortrag, GA II/8, S. 186, Z. 11–18. 292 Vgl. (in einem völlig anderen Kontext, aber in derselben Stoßrichtung) Arnold Gehlens Charakterisierung des Menschen als „Phantasiewesen“, A. Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940, 19504), Frankfurt am Main, V. Klostermann, 2016, S. 374; zur hervorgehobenen Rolle der „Phantasie“ bei Husserl und dann bei Richir selbst, die dem hier Auseinandergelegten überaus nahekommt, ohne dass freilich der Bezug zur Wissenschaftslehre von 1804/II explizit herausgestellt würde, siehe M. Richir, Phénoménologie en esquisses. Nouvelles fondations, Grenoble, J. Millon, 2000; siehe auch v. Vf. „Der Mensch“ in Wirklichkeitsbilder, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015, insbesondere S. 186ff. 293 W. Janke, Fichte, op. cit., S. 386f. 289 290

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Welche ‚intelligierte‘ Bedeutung des Ansich als Einheit dieser Konstruktion ist dem entgegenzusetzen? Diejenige, die auch das „wahre Wesen der Vernunft“ 294 offenbart: Das vorausgesetzte Ansich muss in diesem Vorausgesetzt-Sein bestehen bleiben und die Gültigkeit der Urphantasie negiert und zurückgewiesen werden. In der weiteren Auseinanderlegung des Status des Ansich wird dann auch die angestrebte „Lösung“ bestehen, die in Wirklichkeit im wörtlichen Sinne eine „Auflösung“ ist. Das Ansich kann, wie es im Prinzip ja auch von Anfang an bereits angekündigt wurde, schlechtweg nicht anders denn als „Negation eines ihm Entgegengesetzten“295 aufgefasst werden. Anders als die Realität ist das Ansich qua „Nicht-nicht Ansich“ 296 ein Relationsbegriff. Es ist kein Absolutes, sondern Einheit einer Zweiheit und Zweiheit einer Einheit. Um zum Absoluten zu gelangen, muss über das Ansich hinausgegangen werden. Sowohl die Einheit als auch die Zweiheit werden projiziert, allerdings ohne dass hier abermals davon Rechenschaft gegeben werden könnte. Und das bedeutet, dass auch hier eine „projectio per hiatum irrationalem“ vorliegt! Der höchste Realismus kann sich nur auf ein unmittelbares Bewusstsein (das sich als mögliches und den ganzen Beweisgang durchziehendes erweist) 297 stützen, wodurch er sich aber als ein Idealismus bekundet und mit diesem zusammenfällt. Diese negative, „aufgelöste“ Position macht die zehnte Grundbestimmung des Wissens aus. Damit kann nun auch die endgültige Tafel aller Realismen und Idealismen aufgestellt werden. Genetisch angemessener ist es, die beiden Spalten gegenüber den vorigen tabellarischen Darstellungen umzukehren, da die Wahrheits- und Vernunftlehre direkt aus dem „höchsten Realismus“ folgt: Idealismus

Realismus

niederer

emanente Existentialform (Energie)

immanente Existentialform (Ansich)

höherer

Reflexion des unbedingten Ansich

absolute Sichkonstruktion in Einheit mit dem Licht

höchster

Selbstbewusstsein = absolutes Ich

Wesen des Seins = intelligiertes An-sich

294 GA II/8, S. 222. Auf dieses „wahre Wesen der Vernunft“ kommt Fichte am Ende der Erscheinungslehre zurück. 295 Ebd. 296 GA II/8, S. 223. 297 Für den Realismus gilt also das berühmte Diktum Kants aus dem § 16 der Kritik der reinen Vernunft, dass er überall vom unmittelbaren Bewusstsein begleitet werden können muss.

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Alle drei Arten des Realismus und des Idealismus sind durchlaufen. Ist dabei aber auch der ‚höchste Realismus‘ widerlegt worden? Das ist in der Tat so, denn er impliziert, wie schon gesagt, das Fallenlassen des Ansich selbst und mit ihm jeglicher Relation. Damit erweist sich der ganze, bisher vollzogene Gang der Genetisierungen als ein solcher, der ganz in der Einheit aufgeht und die Disjunktion fallen lässt.298 Diese Einheit ist nun aber auch – positiv gewendet – die des bestehenden und in sich beruhenden Seins. Damit bekundet sich die Wahrheits- und Vernunftlehre jedenfalls als eine Seinslehre. 299 Von der Seinslehre, in die der erste Teil mündet, kann – die Terminologie des ersten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 wiederaufnehmend – auch als von einer ‚Wesenslehre‘ gesprochen werden, da dort das „Wesen“ das bezeichnete, was hier „Sein“ genannt wird. (Das „Sein“ war im ersten Zyklus der emanenten Existentialform vorbehalten worden.) Jenes Fallenlassen des Ansich wird eingesehen und dadurch habe ich „am Wesen teil“ 300 – auf eine Art, die erst noch erläutert werden muss, denn im Grunde setzt das die emanente Existentialform bereits voraus, die hier jedoch ausdrücklich fallengelassen wird. Die Konstruktion des Wesens des Seins (die sich als Selbstkonstruktion des Seins erweisen wird) hat eine sehr eigentümliche, zweifache Mittelstellung. Zum einen fällt sie aus dem angegebenen Grund mit der Konstruktion des „noch höheren Idealismus“ zusammen, ist aber auch mit jener der Wahrheits- und Vernunftlehre identisch 301 – wobei die Vernichtung entscheidend ist, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass der hier vollzogenen Genetisierung nicht beigewohnt werden kann. Man ist in der Wissenschaftslehre nämlich dem endgültig zu Genetisierenden gegenüber immer schon voraus bzw. man kommt dafür zu spät. Dieser ‚dislozierende, abgründige Umschlagspunkt‘ (der sich als jener zwischen kategorisch und problematisch selbstkonstruiertem Sein erweisen wird) wird am Ende der Phänomenologie noch einmal auftreten und dort sogar eine eigene Grundbestimmung des Wissens ausmachen. Zum anderen ist sie gewissermaßen ein Scharnier, das die Seins- und die Erscheinungslehre miteinander artikuliert. Dies erklärt bzw. lässt sich dadurch erklären, dass und wie die negative Seite der Seinslehre den Abschluss des ersten Teils und ihre positive Seite den Auftakt des zweiten Teils ausmachen kann. Die genauen Gründe dafür werden im XVI. Vortrag dargelegt.

298 Da aber in der Wissenschaftslehre doch ein Einheits- und Disjunktionspunkt aufgewiesen werden soll, muss notwendigerweise auf diese Lehre der Wahrheit und des Seins eine Erscheinungslehre oder Phänomenologie folgen. 299 Der Begriff der ‚Seinslehre‘ kommt zwar 1804 nicht explizit vor (wohl aber zum Beispiel in der Anweisung zum seligen Leben), aus systematischen Gründen muss aber der erste Teil – gerade aufgrund des Kontrasts zur ‚Erscheinungslehre‘ im zweiten Teil – als eine solche verstanden werden. 300 GA II/8, S. 226. 301 Das kennzeichnet, wie gesagt, die zehnte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens.

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Wirklich kommt es zum wahrhaften und endgültigen Durchdringen des absoluten ‚Seins‘ oder ‚Wesens‘ nur, wenn es als genetisch für seine eigene Erscheinung eingesehen wird. Dies darzulegen, wird die Hauptaufgabe der Phänomenologie sein. Bevor diese beginnt, wird aber der „Grundsatz“ der Wahrheits- und Vernunftlehre noch ausdrücklicher dargestellt und entwickelt. Dies ist Gegenstand des XV. Vortrags. FÜNFZEHNTER VORTRAG Die Wahrheits- und Vernunftlehre besteht in einer einzigen Einsicht, welche die zehnte und letzte Grundbestimmung des Wissens auf der zweiten Genetisierungsstufe ausmacht: Ihr Prinzip muss ‚mit einem Schlage‘ begriffen werden. Ihr Inhalt und ihre Form sind dabei in kohärenter und uneingeschränkter Entsprechung zueinander. Ihr „Prinzip“ (oder „Grundsatz“) lautet gemäß einer Formulierung, die erst am Anfang des folgenden Vortrags nachgeliefert wird: Das Sein ist ein in sich geschlossenes Singulum des Lebens und Seins. 302

Sein Diese Einsicht muss in einem Schlage begriffen werden. Jede Art der Äußerung oder Objektivierung – wie sie etwa in der Sprache vorliegt bzw. geschieht – ist inadäquat und wird zurückgewiesen. Allein die „Klarheit und Schnelligkeit des Geistes“ 303 ist gefordert und angebracht. Die Substantivierung ist auf Seiten der Sprache, die Verbalisierung auf Seiten des Geistes. Jenes Sein hat vier essenzielle, untereinander zusammenhängende Grundcharakteristiken: 1.) War das Ansich vorher immer nur negativ – zuletzt als nicht-nicht Ansich – bestimmt worden, kommt dem Sein nun die positive determinatio „von sich, in sich, durch sich“ zu. Im VII. Vortrag eröffnete das ‚Durch‘ die idealistische Ansicht, der XVIII. Vortrag wird das ‚Von‘ realistisch auslegen. Im ‚Von-sich‘ sowie dem ‚Durch-sich‘ werden diese beiden Ansichten im Sein aufgehoben. 2.) Das ‚In-sich‘ weist auf das zweite Grundcharakteristikum – die ‚reine Innerlichkeit‘ – des Seins hin. Es kann nie aus sich heraus. Anleihen an die parmenideische Seinsauffassung sind hier ganz offensichtlich. 3.) Aus der Integration der idealistischen und der realistischen Ansicht in das Sein und dessen innerer uneingeschränkter In-sich-Geschlossenheit folgt, dass das Sein in reiner Aktivität ist. Es ist also „esse in mero actu“. 304 Dabei geht die 302 303 304

GA II/8, S. 242. GA II/8, S. 228. Ebd.

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Fünfzehnter Vortrag

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Subjekt-Objekt-Relation zu Grunde, um das lebendige Sein rein vorscheinen zu lassen. Diese Aktivität zeichnet das Leben aus oder, anders gesagt, Sein und Leben durchdringen sich gegenseitig und gehen ineinander auf. 4.) Nun wurde im ersten Vortrag betont, dass mit der kantischen Transzendentalphilosophie die traditionelle Auffassung von Philosophie, diese bestünde in der Zurückführung des Mannigfaltigen auf Einheit, durch die Aufweisung einer sie vermittelnden Zweiheit (nämlich der von Denken und Sein) modifiziert wurde und dass die Philosophie von nun an in der Suche nach dem Einheits- und Disjunktionspunkt beider bestünde. Wie steht es um diese Bestimmung der Philosophie in der Wissenschaftslehre, wenn sich offenbar das Sein als Einheitsprinzip derselben herausgestellt hat? Dafür gibt die folgende Bestimmung des Sichdurchdringens von Sein und Leben den maßgeblichen, ohne weitere Begründung gelieferten Hinweis: Wir leben aber unmittelbar im Lebensakte selber; wir sind daher das Eine ungeteilte Sein selber, in sich, von sich, durch sich, das schlechthin nicht herausgehen kann zur Zweiheit. 305

Das bedeutet nicht, dass durch diese zusätzliche Bestimmung des Seins dieses nun doch aus sich – zur Zweiheit – herauskönnte, sondern dass das Prinzip selbst in der Zweiheit in Eins von Wir und Sein besteht. Das lebendige Sein ist und bleibt in sich geschlossen. Wie ist dieses „Wir“ darin genauer zu verstehen? Das erklärt Fichte in sehr deutlichen Worten: Ist das Sein im eigenen absoluten Leben befasst, und kann es nimmer daraus heraus, so ist es eben ein in sich geschlossenes Ich, und kann durchaus nichts Anderes sein, als dies, und wiederum ein in sich geschlossenes Ich ist das Sein; und wo das Sein ist, ist Ich, und das Ich ist Sein; welches Ich wir nun auch, in der Aussicht auf eine Teilung in ihm Wir nennen können. Wir stützen uns daher hier […] auf die genetische Einsicht des Lebens und Ich, aus der Konstruktion des Einen Seins, und umgekehrt. 306

Damit erweist sich das „Singulum“ des Lebens und Seins im Prinzip zugleich als Geteiltheit des Seins in Sein und Ich (bzw. Wir). Dabei besteht dieses Wir in nicht mehr als in der am Anfang des XIV. Vortrags angekündigten Möglichkeit eines objektivierenden Bewusstseins, es ist also weder faktisch noch wirklich. Der weitere Weg der Wissenschaftslehre (in der ‚Phänomenologie‘) wird dann darin bestehen, diesen Bezug von Einheit und Zweiheit genetisch aufzuklären. Fichte weist darauf hin, dass mit dieser Bestimmung ‚zur Sache‘ nichts Wesentliches beigetragen werde, sondern dass sie für die ‚Ableitung der Phänomene‘ nötig sei. Das betrifft insbesondere eine bereits angekündigte Wiederholung und 305 306

GA II/8, S. 230. GA II/8, S. 230f.

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Fünfzehnter Vortrag

Verdoppelung des Ich, die an dieser Stelle noch nicht verständlich gemacht werden kann. Man kann sich fragen, wie das Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre zum ersten Grundsatz der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 steht. Zwei Interpretationshypothesen sind denkbar und in der Forschung auch vertreten worden – sozusagen eine „Einheits“- und eine „Differenz“-These. Erstere 307 behauptet, wie der Name schon sagt, dass das hier aufgestellte Prinzip mit dem Grundsatz des sich selbst setzenden absoluten Ich zusammenfällt; nach letzterer 308 besteht ein Bruch zwischen dem Grundsatz von 1794 und dem Prinzip von 1804. Die Einheitsthese ist von der breiter angelegten Sichtweise bestimmt, dass es eine absolute Kontinuität in Fichtes Denkentwicklung gebe. Die Differenzthese geht von der Voraussetzung aus, die Auseinandersetzung mit Jacobi und Schelling habe zu einem Bruch innerhalb der Grundposition von Fichtes Wissenschaftslehre geführt. Liefert die Antwort auf jene Frage eine Lösung für dieses Problem? Die hier vertretene These lautet, dass sich der erste Grundsatz der Grundlage gar nicht einseitig auf das Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre projizieren lässt, sondern dass, wenn überhaupt nach dem Status jenes Grundsatzes in der Wissenschaftslehre von 1804/II gefragt wird, dies die Berücksichtigung sowohl dieses Prinzips als auch jenes der Erscheinungslehre im XXVIII. Vortrag erfordert. Es wird daher auf diese Frage im letzten Vortrag ausführlicher zurückzukommen sein. * Die im zweiten Teil dieses Vortrags gelieferte Zusammenfassung der Vorträge VII bis XIV stellt die wesentlichen Schritte der dort vollzogenen Deduktionen (hinsichtlich des Verhältnisses von Durch und Leben, der Leitgedanken der Idealismen und Realismen und des Wesens des Ansich und seiner Zurückweisung) vor und gibt einen wertvollen Anhalt zur Prüfung des Verständnisses derselben. Neu bzw. prägnanter dargestellt werden zwei Aspekte, die den Status des Idealismus in der Wissenschaftslehre sowie des absoluten Ich betreffen. Der Kommentar kann sich auf diese zwei Punkte beschränken, da die übrige Zusammenfassung lediglich das widerspiegelt, was im Vorigen bereits herausgestellt wurde. Fichte betont, dass die größere Klarheit dieser Fassung der Wissenschaftslehre gegenüber allen vorherigen darin besteht, in sich den Status des Bewusstseins deutlicher dargestellt zu haben als je zuvor. 309 Dadurch wird auch verständlich, 307 Siehe exemplarisch: J. Stolzenberg, „Fichtes Deduktionen des Ich 1804 und 1794“, in Fichtes Spätwerk im Vergleich, Fichte-Studien, G. Zöller & H. G. von Manz (Hsg.), Band 30, Amsterdam/New York, Rodopi, 2006, S. 1–13. 308 Sie wird – ebenfalls exemplarisch – von W. Janke vertreten, Sein und Reflexion, op. cit. 309 Fichte sagt, dass ihm die dargelegte Position bereits seit der „Recension des Aenesidemus“ klargewesen sei. Folgende Stelle dieser Besprechung mag das belegen (der Begriff der „Tathandlung“

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inwiefern sich die Wissenschaftslehre von all den idealistischen Positionen unterscheidet. Grundprinzip und Grundvoraussetzung jeder aufgestellten Behauptung, die Anspruch auf Wahrheit hat, ist – so lautet die mehrfach betonte methodologische Grundeinsicht der Wissenschaftslehre – die Notwendigkeit einer genetischen Einsicht. Mit anderen Worten, jede Form von Faktizität muss überwunden sein. Und das gilt in erster Linie auch für das Bewusstsein. Gerade weil das Bewusstsein erstes Prinzip der Faktizität überhaupt ist, muss seine Gültigkeit abgewiesen werden – ganz wie die daraus hervorgehende „proiectio per hiatum irrationalem“. Diese Nicht-Gültigkeit des Bewusstseins – bzw. die „Grabstätte des Begriffs“ – ist der Kern der Wahrheitslehre von 1804. Mit ihr ist die Gleichsetzung von ‚Wissenschaftslehre‘ und ‚Idealismus‘ ein für alle Mal ausgeschlossen. Von hier aus lässt sich das Verfahren der Wissenschaftslehre nicht nur nach außen, sondern auch nach innen unzweideutig bestimmen: Hat man sich aber nicht ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass diese intelligierend abzuhaltende [sich in einer „proiectio per hiatum“ äußernde] Nichtgenesis auf jenem Wege des eben in allen unsern Forschungen, und so in der Wissenschaftslehre selber, unvermeidlichen Bewusstseins faktisch immer bliebe; so ermüdet und quält man sich, diesen Schein wegzubringen, als ob er wegzubringen wäre; und der einzig übrig bleibende Weg, um dennoch zur Wahrheit durchzudringen, ist der, dass man den Schein teile, und an jedem Teile ihn im Intelligieren einzeln vernichte, während man in diesem Geschäfte ihn faktisch absetzt auf den anderen Teil, den die Vernichtung später treffen wird, wo sodann der erste Teil wieder den Träger des Scheins abgeben wird. Dies war der bisherige Weg der Wissenschaftslehre – und es ist klar, dass auch er, wiewohl mit größerer Schwierigkeit zum Ziel führe. Weiß man aber gleich im Voraus, woher die Nichtgenesis komme, und dass sie überall Nichts gelte, ungeachtet sie unabweislich ist; so streitet man weiter gar nicht gegen sie, sondern man lässt sie ruhig sich einstellen: Man achtet bloß ihrer nicht, und zieht sie ab vom Resultat; und so allein ist es möglich, nicht bloß mittelbar, durch den Schluss vom Nichtsein beider Hälften, sondern unmittelbar zur Einheit Eingang zu erhalten […]. 310

stehe dort, wie etwa in GA II/8, S. 202 erwähnt, für den der „Genesis“): „Aber eben das deutet darauf hin, daß [der Satz des Bewusstseins] sich noch auf etwas anderes gründen müsse, als auf eine bloße Thatsache. Rec[ensent] [scil. Fichte] wenigstens glaubt sich überzeugt zu haben, daß er ein Lehrsatz sey, der auf einen andern Grundsatz sich gründet; aus diesem aber a priori, und unabhängig von aller Erfahrung, sich streng erweisen läßt. Die erste unrichtige Voraussetzung, welche seine Aufstellung zum Grundsatze aller Philosophie veranlaßte, war wohl die, daß man von einer Thatsache ausgehen müsse. Allerdings müssen wir einen realen, und nicht bloß formalen, Grundsatz haben; aber ein solcher muß nicht eben eine Thatsache, er kann auch eine Thathandlung ausdrücken […]“, J. G. Fichte, „Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmassungen der Vernunftkritik“ (1792), GA I/2, S. 46. 310 GA II/8, S. 238.

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Der XV. Vortrag schließt mit der im vierten Punkt betonten Gleichsetzung von reinem, absoluten Sein und „absolutem Ich“ 311 – womit die Verbindung zum ersten Teil dieses Vortrags noch einmal hergestellt wird. Damit wird betont, dass das „absolute Ich“ von der Bewusstseinsdimension, die ausdrücklich abgewiesen wird, radikal zu scheiden ist. Es ist bemerkenswert, dass – im Gegensatz zu häufig geäußerten Ansichten – die Ich-Terminologie in der Wissenschaftslehre von 1804 doch nicht gänzlich verworfen wird. Das Bewusstsein gehört dem „Lager des Todes“312 an, das absolute Ich (bzw. ‚Wir‘) ist in einer ungeteilten Einheit mit dem Leben und geht auf diese Weise in das lebendige Sein ein. So wird angezeigt, inwiefern der Weg mit dem Abschluss der Wahrheit- und Vernunftlehre noch keineswegs beendet ist: Es muss nun erwiesen werden, wie die Genetisierung des Einheits- und Disjunktionspunkts von Sein und Wir vollzogen werden kann. SECHZEHNTER VORTRAG Mit dem XVI. Vortrag beginnt der zweite Teil der Wissenschaftslehre von 1804/II – die ‚Erscheinungslehre‘ bzw. ‚Phänomenologie‘. Zugleich ist die dritte Genetisierungsstufe erreicht, die sich bis zum Ende des XXI. Vortrags erstreckt und in der auch eine neue Fünffachheit von Grundbestimmungen des Wissens entwickelt wird. Ganz entscheidend ist, dass Fichte herausstellt, dass das Sein des ersten Teils sich auf eine zweifache (durch einen ‚abgründigen Umschlagspunkt‘ getrennte) Weise selbst konstruiert: nämlich kategorisch und problematisch. Daraus ergeben sich zwei Sichtweisen auf das lebendige Sein, welche die Seins- und die Erscheinungslehre verbinden und miteinander artikulieren. Man muss sich grundsätzlich fragen: Was wurde mit dem ersten Teil dieser Fassung der Wissenschaftslehre von 1804 genau geleistet? Der die Grundlage von 1794/95 offensichtlich widerlegende Befund lautet: Die Wissenschaftslehre kann nicht mit dem transzendentalen Wissen, sondern sie muss beim Sein ansetzen. Dieses darf aber nicht dogmatisch aufgestellt oder behauptet werden. Auf diesen zweifachen Befund (der sowohl eine Berücksichtigung als auch – in Fichtes Augen – eine Korrektur des Schelling’schen Identitätssystems darstellt) antwortet die Wissenschaftslehre mit der hypothetischen Seinssetzung, die nach einer Genetisierung und das heißt: nach dem Aufweis einer dieser Hypothetizität innewohnenden Kategorizität verlangt. Das zeigt den Weg an, der in der Phänomenologie zu beschreiten ist. Und es erklärt, weshalb auf die kategorische eine

GA II/8, S. 240. GA II/8, S. 220. Damit ist aber nicht gesagt, dass sich die Bewusstseinsproblematik erledigt hätte. Eine der Grundaufgaben der Erscheinungslehre wird vielmehr darin bestehen, auch noch das Bewusstsein abzuleiten. 311 312

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problematische (bzw. hypothetische) Selbstkonstruktion folgt, die ihrerseits in ihrer Kategorizität dargelegt werden muss. Die Hauptaufgabe des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 wurde dort ausgesprochen, wo zum ersten Mal überhaupt erwähnt wurde, dass die „Prolegomena“ überwunden seien und der vollzogene Gedanke bereits die Wissenschaftslehre selbst sei – nämlich als Fichte herausgestellt hat, dass es darum gehe, Licht (L) und Begriff (B) dergestalt zu durchdringen, dass „jedes sich als das Prinzip des anderen zeigt“. 313 Die erste Aufgabe war demzufolge, ‚L‘ als Prinzip von ‚B‘ zu erweisen. Das ist im ersten Teil geschehen, mit der erworbenen Einsicht, dass die Herausstellung von ‚L‘ als Prinzip – man sollte vielmehr sagen von „0“ 314 –, die Vernichtung von ‚B‘ impliziert. Die anstehende Aufgabe des zweiten Teils wird es sein, ‚B‘ aus ‚0‘ (wieder) hervorgehen zu lassen. Dadurch wird klar, dass die Quintessenz des ersten Teils in der Ableitung von ‚L‘ aus ‚B‘ und die des zweiten Teils in jener von ‚B‘ aus ‚L‘ besteht.315 Der erste Teil ist somit nicht nur eine ‚Wahrheits‘- bzw. ‚Vernunftlehre‘, sondern auch eine ‚Lichtlehre‘ und der zweite Teil nicht nur eine ‚Erscheinungs‘-, sondern auch eine ‚Begriffslehre‘. Das Auffinden des Prinzips des ersten Teils, jenes der Wahrheits-, Vernunft- und Seinslehre – die Bestimmung des Lebens als reines, in sich geschlossenes Sein – wurde erfolgreich abgeschlossen. Jetzt gilt es, auch das Prinzip der Erscheinungslehre aufzustellen. 316 Bei all dem wird die Genese des ‚Wir‘ (und dann auch des Bewusstseins) eine wichtige Rolle spielen. Die an Fichte zu adressierende Grundfrage sei noch einmal wiederholt: Warum bleibt es nicht bei jenem absoluten inneren Sein? Warum wird über die innere Selbstkonstruktion dieses Seins hinaus noch eine zweite Konstruktion ins Spiel gebracht? Da Fichte sich die Antwort auf dieses zweifache ‚Warum‘

GA II/8, S. 132. Aus der Tatsache, dass Fichte im X. Vortrag die Errungenschaft von „0“ darin gesehen hatte, die Wissenschaftslehre „gegen den Vorwurf der Leerheit“ zu schützen, und dass darüber hinaus das lebendige, in sich geschlossene Sein gerade jene Einheit ist, die Fichtes System „dem Vorwurfe“ zu entgehen gestattet, „dass in seiner Wurzel noch Zweiheit sei“ (GA II/8, S. 144f.), ergibt sich evidenter Weise, dass das Sein des Grundsatzes der Vernunft- und Wahrheitslehre in der Tat jenes „0“ ist. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass die „0“ für die absolute Nichtigkeit von Materialität und Gehalt des Begreifens steht und das Begreifen – die erste und ursprüngliche Objektivierung – in jenem Grundsatz radikal verworfen wird. 315 So stellen die Dinge sich jedenfalls dar, wenn man die spezifische Terminologie des ersten Teils dieses Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 gebraucht. 316 Um es in den Worten Stefan Langs in einer sehr lesenswerten Studie zur Begründung dieser Erscheinungslehre zu sagen: Der Zweite Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 enthält „die konsequente kritische Diskussion der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis des Prinzips der Wissenschaftslehre“, „Fichtes Begründung der Erscheinungslehre im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804, in Systembegriffe um 1800-1809. Systeme in Bewegung, V. L. Waibel, C. Danz & J. Stolzenberg (Hsg.), Kant-Forschungen Band 24, Hamburg, Felix Meiner, 2018, S. 78. 313 314

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vorenthält, 317 kann der Kommentar lediglich versuchen nachzuzeichnen, wie die Wissenschaftslehre selbst verfährt. Fichte zählt fünf Punkte auf, welche die Glieder der später zu vollziehenden Verbindung zwischen denselben enthalten: 1.) Das Scharnier, das die beiden Teile dieser Fassung der Wissenschaftslehre verbindet und artikuliert, ist in der Tat das ‚Wir‘ (bzw. das ‚Ich‘). Am Ende des ersten Teils wird das lebendige Sein als Einheitspunkt von ‚Wir‘ und Leben herausgestellt. Am Anfang des zweiten Teils wird behauptet, dass die Selbstkonstruktion des Seins – inwiefern sie, wie Fichte hinzufügt, „sein soll“ – mit dem Vollzug der Konstruktion durch das ‚Wir‘ zusammenfällt. Das ‚Wir‘ liegt dem Befund, dass das Sein nicht bloß ist, sondern konstruiert werden soll, zu Grunde. Dabei ist das mit dem lebendigen Sein identische ‚Wir‘ nicht gleichzusetzen mit dem ‚Wir‘ der Konstruktion, das Fichte nun wiederum stark dem „Bewusstsein“ 318 annähert. Das ist der Grund dafür, dass er von einer zweifachen Selbstkonstruktion des Seins spricht: einer realen und einer idealen (Fichte schreibt: „idealischen“). Erstere entspricht der zehnten Grundbestimmung des Wissens; sie ist die kategorische (wie man nun hinzufügen könnte) des bereits erwähnten lebendigen Seins „von sich, aus sich, durch sich“ (vorher hieß es: „von sich, in sich, durch sich“, was hier aber keinen wesentlichen Unterschied ausmacht); letztere, welche die erste Grundbestimmung der dritten Genetisierungsstufe darstellt, ist eine lediglich problematische (d. h. hypothetische) Selbstkonstruktion, die dem Sein mittelbar durch einen Schluss zugesprochen wird. Die Aufgabe wird dann darin bestehen, das analytisch-synthetische Prinzip dieser beiden Arten der Selbstkonstruktion genetisch abzuleiten. Dieses wird das gesuchte zweite Prinzip sein – jenes das der Phänomenologie. 2.) In zwei der systematisch bedeutendsten Vorträgen des ersten Teils – dem vierten (bzw. fünften) und dem X. Vortrag – ist vom „Soll“ die Rede gewesen. Es wurde dort nur seine gnoseologische Seite betont. Seine genuin ontologische Bedeutung wird in diesem XVI. Vortrag dargelegt. Das ist das „Neue und Große“319 nicht nur an dieser Stelle, sondern der Wissenschaftslehre von 1804 überhaupt. Es wird zunächst dadurch zum Ausdruck gebracht, dass das problematisch eingeführte Ideale in der idealen Selbstkonstruktion von anderer Art ist als die bisher überall praktizierte bloße Problematizität oder Hypothetizität. Jede ideale Konstruktion war bisher dem Konstruierten äußerlich. Dem ist hier nicht (mehr) so:

317 Es sei aber noch einmal im Voraus betont, dass die erste Konstruktion die reale (= zehnte Grundbestimmung des Wissens) und die zweite Konstruktion die ideale Selbstkonstruktion des Seins (= elfte Grundbestimmung des Wissens) ausmacht. 318 GA II/8, S. 244, Z. 30. Gewiss hat der „Bewusstseins“-Begriff hier nicht die Bedeutung einer Subjekt-Objekt-Korrelation, weil es sich um die ‚Bewusstheit‘ bzw. ‚Lichthaftigkeit‘ des absolut einen, unspaltbaren lebendigen Seins handelt. 319 GA II/8, S. 246.

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[D]as Ideale ist in dieser absoluten Einsicht organisch, und absolut gesetzt in das wesentliche Sein selber, schlechthin ohne allen realen Hiatus im Wesen, daher ohne alle Disjunktion im Wesen; auch ist diese Einsicht genetisch, und setzend eine absolute Genesis: als schlechthin notwendig, unter der Bedingung, dass sie [scil. jene absolute Genesis] der Grund sei und angenommen werde. 320

Das Ideale – die Hypothetizität – ist hier also in das Sein gesetzt. Dabei gibt es in diesem Sein keinen realen Hiat mehr! – aber gleichwohl eine „Bedingung“. Wie das zu verstehen ist und was daraus folgt, wird im weiteren Verlauf dieses sowie des nächsten Vortrags deutlich werden. Fichte wird zwei Richtungen beschreiten. In diesem Vortrag geht es primär um die Genetisierung des lebendigen Seins. Im nächsten Vortrag wird die Betonung dagegen auf die In-sich-selbst-Begründetheit der Konstruktion gelegt. Der XVI. und der XVII. Vortrag gehören somit gewissermaßen zusammen; beide sind für die Bestimmung des „Soll“ (= zwölfte Grundbestimmung des Wissens) bzw. des „Soll als Soll“ (= dreizehnte Grundbestimmung des Wissens) komplementär. Es geht zunächst darum, dieses neu bestimmte Sein, das Fichte „wesentliches Sein“ oder einfach nur „Wesen“ 321 nennt, zu genetisieren. Dafür führt Fichte die Unterscheidung zwischen dem Befund ein, dass es dieses Wesen gibt, und der Frage, wie sich die ideale Konstruktion desselben vollzieht. Das ‚Dass‘ liegt offen zutage, das ‚Wie‘ gilt es erst noch herbeizuführen. Fichtes Argumentation wird nur dann völlig verständlich, wenn man sich nicht auf die Copia, sondern auf den Text der Sohnes-Ausgabe stützt. Die an dieser Stelle einschlägige Passage muss nämlich – leicht modifiziert und angepasst – so gelesen werden: Zu einer solchen absoluten Einsicht und Konstruktion [welche die „Wie“-Frage beantwortete] müsste es ja doch kommen, und es ist klar, dass es nur an dieser Stelle bei der aus dem Wesen selber unmittelbar hervorgehenden Einsicht und Konstruktion dazu kommen kann. Der Hiatus, welcher – zufolge der absoluten Einsicht – im Wesen durchaus nicht ist, ist nur in Rücksicht des Wie, und falls etwa hierin, (nicht mehr der absoluten und reinen Genesis, sondern der Genesis der Genesis, wie es hier erscheint,) das Wesen des eigentlich so genannten Bewusstseins bestehen sollte, wäre er im Bewusstsein, in welchem er, falls nur erst dieses Wie oder diese Nachgenesis der absoluten Genesis abgeleitet wäre, auch sehr wohl bleiben könnte. 322

Das Bewusstsein wurde im vorigen Vortrag aus dem lebendigen Sein ausgeschlossen. Die Genesis des Bewusstseins steht noch aus. Die Beantwortung der Ebd. (hervorgehoben v. Vf.). Ebd. 322 GA II/8, S. 246f. Dass in der Copia nicht vom „Wie“ sondern vom „Wir“ die Rede ist, lässt sich aber ebenfalls rechtfertigen, da die Problematik des „Bewusstseins“ und des „Wir“, die am Ende der Wahrheitslehre noch getrennt wurden, am Anfang der Erscheinungslehre offenkundig wieder in Verbindung gebracht werden. 320 321

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‚Wie‘-Frage besteht in nichts anderem als in der Erklärung der Genesis des Bewusstseins (zumindest, wie gesagt, in diesem ersten Schritt). Die Unterscheidung zwischen „absoluter und reiner Genesis“ (über deren ‚Dass‘ nicht hinausgegangen werden kann) und „Genesis der Genesis“ bzw. „Nachgenesis der absoluten Genesis“ (die gerade die ‚Wie‘-Frage beantwortet) entspricht dabei jener zwischen realer und idealer Selbstkonstruktion. Fichte bindet – und das ist der systematisch entscheidende Punkt – das Problem der Genesis der Selbstkonstruktion an jenes der Genesis des Bewusstseins. Wichtig ist, dabei zu unterstreichen, dass die Beantwortung der ‚Wie‘-Frage zwar nicht im Wesen selbst geleistet werden kann, daraus jedoch hervorgeht – mit der auf diese Weise herausgestellten ‚Bedingung‘ wird demnach der genetische Zusammenhang zwischen absoluter Genesis und Nachgenesis deutlich gemacht. Und dies kommt ferner der Herausstellung gleich, dass der Hiat, der nicht das ‚Wesen‘ selbst tangiert, im Bewusstsein ist und dieses genuin kennzeichnet. Die Aufgabe besteht in der geforderten Ableitung der absoluten Genesis, auf der Grundlage welcher jene Nachgenesis allererst vollzogen werden kann. 3.) Die im Vorigen erlangte Einsicht besagt, dass die Idealität in das selbstkonstruierende Sein gesetzt ist. Diese Einsicht wird in einem nächsten Schritt ihrerseits genetisiert, das heißt, es wird nach der Bedingung derselben gefragt. Diese Bedingung ist die problematische Voraussetzung der idealen Sichkonstruktion des Seins. Dabei ist aber diese Problematizität, wie erwähnt wurde – und darin besteht gerade das ‚Neue‘ –, keine bloße rein hypothetische Problematizität. Sie ist vielmehr eine solche, in der das Bedingte in gewisser Weise eine konstitutive Funktion in Bezug auf das Bedingende hat (dies hatte sich ja im XI. Vortrag bereits angekündigt). Dies äußert sich auf die folgende Art und Weise: Die Voraussetzung der idealen Sichkonstruktion bedeutet zunächst, dass sie – das heißt das Sein selbst – per hiatum irrationalem ohne Grund projiziert wird. Aber, wie gesagt, es bleibt nicht dabei, sonst würde es sich um eine bloße Hypothetizität handeln. Die Projektion ohne Grund enthält die Notwendigkeit der Voraussetzung, dass diese selbst projiziert wird. Mit anderen Worten: Das Sich-als-sich-selbst-konstruierend-Projizieren des Seins impliziert die (faktische) Voraussetzung dieses Projizierens. Das bedeutet, dass darin das Prinzip gilt, demzufolge die Erklärung durch die faktische Voraussetzung des zu Erklärenden bedingt ist. Wiederum anders ausgedrückt: Die faktische Voraussetzung des Bedingten bedingt das Bedingende. Auf den konkreten Fall angewendet: „Soll es zu der absoluten Einsicht kommen, dass die ideale Sichkonstruktion im absoluten Wesen selbst begründet ist, so muss eine solche ideale Sichkonstruktion absolut faktisch gesetzt werden.“ 323 Das ist ein überraschender Zug, der zu der merkwürdigen Situation zu führen scheint, das Konstitutive (bzw. Bedingende) werde durch das Konstituierte (Bedingte)

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konstituiert (bedingt). Wie entgeht Fichte dieser Paradoxie – wenn es denn überhaupt eine solche ist? 4.) Zunächst zählt Fichte all das auf, was hierzu erforderlich ist. Der Wissenschaft muss durch ein Prinzip ihr Boden bereitet werden. Dieses Prinzip muss problematisch eingeführt werden, um eine dogmatische Position zu vermeiden. Es darf aber auch nicht bloß problematisch – rein hypothetisch – sein, denn sonst ließe sich ein Boden der Wissenschaft nicht finden, sondern man verbliebe in purer Hypothetizität. Hieraus folgt, dass Problematizität (Hypothetizität) und Kategorizität ein bestimmtes Verhältnis eingehen müssen, damit die Gründung der Wissenschaft möglich wird. Den Weg dazu bereitet die Figur des „Soll, so muss…“, für die es nun gilt, das „Soll“ eindeutig zu bestimmen. In ihm ist alles „zusammengedrängt“, erklärt Fichte, „um dessen Ableitung uns es hier zu tun [ist]: die ideale Konstruktion des Seins, als Sichkonstruktion sowohl, als die proiectio per hiatum“. 324 5.) Worin besteht das Wesen dieses „Soll“? In seiner Argumentation verfährt Fichte nicht mehr so, dass die Beantwortung dieser Frage durch eine – zunächst problematische – Projektion geliefert würde, die dann ihrerseits in einem nächsten Schritt zu begründen und legitimieren wäre, sondern er vollzieht gleichsam eine phänomenologische Analyse des „Soll“ – und dadurch entgeht er der oben angesprochenen Paradoxie, denn wir haben es gleichsam mit einer Rehabilitierung des „ontologischen Arguments“ zu tun.325 Das Wesen des „Soll“ wird nicht konstruiert, sondern es wird ihm selbst abgeschaut. Der XVII. Vortrag findet hierfür die klarsten Worte: Sagen Sie energisch und wohl überlegt: soll das und das sein, so ist klar, dass dadurch eine innerliche Annahme ausgesagt wird, ohne allen Grund, schlechthin von sich und aus sich, also innere reine Schöpfung, und zwar unmittelbar als solche, völlig rein dastehend, denn eben die völlige äußere Grundlosigkeit, und lediglich innere durch sich Begründetheit, und nichts Anderes, drückt ja das Soll aus, wenn es nur rein problematisch genommen wird […]. 326

Wenn wir sagen, ‚soll das und das sein…‘, dann hat das nicht nur grammatisch, sondern auch semantisch eine andere Bedeutung als der Ausdruck ‚wenn das und das sein soll, dann…‘. Dieser besteht in einem Konditionalsatz, der nichts über das tatsächliche Sein des Gesollten aussagt. In der „Soll“-Formulierung spricht sich dagegen bereits eine Durch-sich-Begründetheit aus, die über die rein hypothetische Konditionalität hinausgeht. Deshalb hält Fichte folgende zwei Grundbestimmungen des „Soll“ – qua „innere Selbstkonstruktion“ – fest: Zum einen ist

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GA II/8, S. 252. Siehe hierzu den XXVII. Vortrag, in dem das dargelegt wird. GA II/8, S. 266.

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es inneres, absolutes „Sich-selber-Machen“, „Schöpfung aus nichts“ 327 – die „causa sui“ Spinozas, aber transzendental gewendet (daher spricht Fichte auch von einem „rein qualitativen“ Sich-selber-Machen); zum anderen ist es Auf-sichselber-Ruhen – die „creatio continua“ Descartes’ ebenfalls transzendental gewendet. Das Soll ist somit „Selbstschöpfer seines Seins, und Selbstträger seiner Dauer“. 328 Dadurch fließt die Kategorizität gleichsam aus der Problematizität (bzw. Hypothetizität): Wenn die Problematizität (Hypothetizität) mit aller Energie gefasst wird, wird in ihr Kategorizität ent-deckt bzw. jene schlägt in diese um. Fichte schließt den XVI. Vortrag mit zwei wichtigen Bemerkungen bezüglich des „Soll“ ab. Nota bene 1: Das Soll war schon vor dem zweiten Teil aufgetreten. Es gab sich zunächst immer nur faktisch und wurde dem entsprechend objektiviert. Zu seiner inneren Einsicht kam es am Ende des XIV. Vortrags, als die Genesis in dem Zusammenfallen von Realismus und Idealismus mündete und wir „faktisch in ihm [scil. dem Soll] verloren gewesen und aufgegangen“ 329 sind. Nun wird das Soll reflektiert. Und dabei erweist sich durch diese Reflexion, dass es mit der am Anfang dieses Vortrags beschriebenen „idealen Selbstkonstruktion des Seins“ zusammenfällt. So wird in der Konstruktion die Sache selbst gegeben! Das Soll bzw. die ideale Selbstkonstruktion des Seins erweist sich daher als ein Prinzip, das nicht nur ideal, sondern „in sich selber Konstruktion und Sache, Ideal und Real ist, und Eins nicht sein kann ohne das Andere […]“. 330 Damit wird deutlich, dass nach der „Vorliebe [des] ersten Teils für den Realismus“331 der zweite Teil ganz unter dem Zeichen des Idealismus stehen wird. Nota bene 2: Das „Soll“ hatte, wie gesagt, bereits den ersten Teil dieses Zyklus durchzogen. Und für es gilt das Gleiche wie für das Sein in diesem ersten Teil: So wie für das erste Prinzip (dem Prinzip der Seinslehre) nach dem Fallenlassen jeder Form von Äußerung und Objektivierung allein das lebendige Sein übrigblieb, so für das zweite Prinzip (dem Prinzip des „Soll“), das allerdings noch nicht das höchste, allererst aufzustellende Prinzip der Phänomenologie selbst ist (welches in der Vereinigung 332 beider besteht): „Kein Wunder daher, dass nach dem Fallenlassen alles Übrigen allein uns das noch übrig bleibt [nämlich das „Soll“], was in allen diesen Fällen das wahrhaft Erste war.“ 333

327 328 329 330 331 332 333

GA II/8, S. 252. Ebd. GA II/8, S. 254. Ebd. GA II/8, S. 264. GA II/8, S. 256, Z. 23. GA II/8, S. 254.

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SIEBZEHNTER VORTRAG Nachdem der XVI. Vortrag den Schwerpunkt auf die Genetisierung des Bewusstseins gelegt hatte, nimmt sich Fichte nun der Charakterisierung des „Soll“ in einem zweiten Schritt an, aus dem eine neue Grundbestimmung des Wissens hervorgehen wird. Es wird sich nämlich erweisen, dass die ideale Selbstkonstruktion (mit der das „Soll“ identisch ist) nicht bloß projiziert wird, sondern auch wirklich ist. Diese Aufgabe wurde im vorigen Vortrag sorgsam vorbereitet. In einer sehr lehrreichen und vervollständigenden Wiederholung der Genesis wird dieser gesamte Gedankengang vertieft. Dabei kommt die Charakterisierung der ‚kategorischen Hypothetizität‘ zum Abschluss; darüber hinaus wird eine transzendentale „Verdoppelung“ herausgestellt und schließlich ergibt sich daraus das Wirklichwerden der idealen Selbstkonstruktion des Seins. Diesem zweiten Schritt stellt Fichte eine Bemerkung zu einem wichtigen Unterscheidungsmerkmal der Wissenschaftslehre voran, das diese von den „anderen Systemen“ abzuheben gestattet. Mit diesen sind in erster Linie der Spinozismus sowie alle aus ihm folgenden Systeme gemeint (und hierunter fällt ganz offenbar auch dasjenige Schellings). Es geht in der Wissenschaftslehre – und zwar in ihrem zweiten Teil – darum, „das Phänomen abzuleiten“. 334 Andere Systeme – wie eben etwa das von Spinoza oder Schelling – sind in der substanziellen Gegebenheit des Absoluten verankert und fassen dann dessen „Erscheinung“ als kontingent und akzidentell auf. Die Wissenschaftslehre unterscheidet sich hiervon dadurch, dass sie die Notwendigkeit (Kategorizität) der Erscheinung darlegt. Sie ist sich der Schwierigkeit – und gewissermaßen der Paradoxie – dieses Gestus bewusst: Denn da der Dimension der Erscheinung außerhalb des Absoluten in der Regel die Freiheit zugesprochen wird (oder zumindest ihr Schein), impliziert das, dass die Freiheit an dieser Stelle vernichtet wird. Das ist der Preis, den man zu zahlen bereit sein muss, wenn man die Ableitung der Erscheinung in einem feststehenden Prinzip verankern will. Es entspricht aber auch der Einsicht in das Wesen der Vernunft. Dass sich Fichtes Position dadurch der Spinozas (und Leibniz’) wiederum annähern würde, kann nicht behauptet werden, da die Freiheit an mehreren Stellen wiederauftauchen wird (siehe das Ende der vierten sowie den Anfang der fünften Genetisierungsstufe). Der besagte zweite Schritt unterteilt sich in drei Unterschritte: 1.) Zunächst gilt es ganz allgemein aufzuweisen, dass die ideale Selbstkonstruktion im lebendigen Sein (bzw. „Wesen“) gründet. Die Legitimierung dieses Aufweises wird mithilfe eines „Verfahrens“ geleistet, „das durch seine bloße Möglichkeit seine Rechtmäßigkeit […] beweist“. 335 Das „Soll“ enthält somit folgendes Gesetz: 334 335

GA II/8, S. 260. GA II/8, S. 262.

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Setze […] es solle zu der von uns erzeugten Einsicht kommen, so wirst du einsehen, dass die vorher nur mögliche Projektion des faktischen Seins der Konstruktion unter dieser Bedingung notwendig werde. 336

Wie lässt sich dieses Gesetz beweisen? Im ersten Teil war die Projektion überall eine ‚proiectio per hiatum irrationalem‘. Mit dem den zweiten Teil beginnenden Soll wird durch diese aufscheinende Notwendigkeit die Kluft zwischen Sein und Bewusstsein von einer unbegreiflichen zu einer begreiflichen. Der ‚hiatus irrationalis‘ wird zu einem ‚hiatus rationalis‘: Die vermeintliche Unerklärbarkeit der Realität und Materialität des Wissens wird durch die „Rationalisierung des Soll“ 337 überwunden. Und das geschieht so, dass, wie gesagt, über den Erweis der Notwendigkeit im Soll hinaus auch gleichsam jener der Wirklichkeit dieses Soll zu liefern wäre – was dessen ‚Kategorizität‘ belegte. Die Aufgabe ist also, „im Soll selber etwas Kategorisches aufzufinden“. 338 2.) Das wurde mit dem Erweis der Selbstschöpfung und der Durch-sich-Begründetheit des Soll einerseits sowie dessen Sich-selbst-Tragens und -haltens andererseits erfüllt. Dabei muss aber noch eine zusätzliche Bestimmung hervorgehoben werden, die den Kern der dreizehnten Grundbestimmung des Wissens ausmacht. Das Soll erweist sich nämlich durch die hier vollführte „innerliche“ 339 Erklärung „als ein, unter Bedingung, dass es sei, sich selbst schlechthin tragendes und haltendes Absolutes aus sich, von sich, durch sich, absolut als solches“. 340 Das innere lebendige Sein wurde als ein Absolutes aus sich, von sich, durch sich gekennzeichnet; dem Soll wird nun noch die Bestimmung „als solches“ hinzugefügt, das der im Zitat angesprochenen „Bedingung“ zugrunde liegt. Was ist die Bedeutung dieses erstmals eingeführten „Als“? Mit der Bezeichnung des „aus sich, von sich, durch sich als solchem“341 liefert Fichte die wichtigste Bestimmung des ‚Transzendentalen‘ überhaupt. Das Bedingen der Bedingung der Möglichkeit von etwas impliziert, dass es sich als Bedingendes transparent wird. Und dafür muss es sich selbst bedingen, sich in seinem Bedingungscharakter „verdoppeln“. Das liegt Kants Bestimmung der transzendentalen Erkenntnis zugrunde. Fichte macht es aber explizit: [Das] Soll […] steht als ein fester selbstständiger Mittelpunkt und Träger des absolut Sichschaffens und Tragens da; und das letztere wird gar nicht unmittelbar, wie früher am Sein, sondern nur mittelbar, durch Voraussetzung und Setzung eines Soll – kurz, unter der Ebd. (hervorgehoben v. Vf.). Dieser Ausdruck, der im genetivus subiectivus und im genetivus obiectivus verstanden werden muss, stammt nicht von Fichte, sondern ist von Marco Ivaldo in einem privaten Gespräch eingebracht worden. 338 GA II/8, S. 266. 339 GA II/8, S. 264. 340 GA II/8, S. 266. 341 Vgl. auch GA II/8, S. 273. 336 337

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Siebzehnter Vortrag

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Voraussetzung, dass selber wieder sein solle ein Soll, also durch seine eigene Verdoppelung eingesehen. 342

Der Gedanke ist folgender: Das Soll ist Prinzip einer notwendigen Ableitung der Konstruktion des Seins, die sich zunächst als „proiectio per hiatum irrationalem“ dargestellt hatte, durch diese Ableitung jedoch zu einer „proiectio per hiatum rationalem“ geworden ist. Dieses Soll muss dabei aber durch eine weitere proiectio – nämlich des Solls als Soll – eingesehen werden. Diese weitere proiectio war bereits in den Vorträgen III und XI angeklungen, wo ebenfalls jeweils die Annahme einer bedingenden Bedingung eingeführt wurde (zuerst als das „rein Wandelbare“, dann als das bedingende „L“ für „B“). 343 Hier wird jene Annahme in die „Voraussetzung und Setzung eines Soll“ verlegt. Das Soll qua verdoppeltes, qua „Soll, als Soll“, 344 ist das Rechtfertigungsprinzip für jede transzendentale Argumentationsweise dieser Art und macht, wie gesagt, die dreizehnte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens aus. Durch die Herausstellung dieses Prinzips ist der zweite Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 als absolut fundamentaler und wesentlicher Beitrag zur Geschichte der Transzendentalphilosophie seit Kant zu betrachten. 3.) In dieser Bestimmung des „Als“ klingt aber auch noch ein anderer wesentlicher Aspekt dieses Vortragszyklus an, der bereits in Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 herausgearbeitet wurde. Im praktischen Teil der Grundlage erwies sich das „Als“ als die – bereits im § 1 im ersten Grundsatz durchscheinende 345 – Bedingung der Möglichkeit einer Öffnung des Ich für das Nicht-Ich, ohne dass die absolute Selbstsetzung des Ich beschnitten oder eingeschränkt worden wäre. Diese Öffnung ist eine Voraussetzung für das Wirklichsein des durch das Ich Gesetzten. Die wissenslegitimierende Funktion des „Als“ in der Wissenschaftslehre von 1804/II verbindet sich demzufolge mit der wirklichkeitsstiftenden Dimension in der Grundlage, was das Wirklich- bzw. Kategorisch-Werden der idealen Selbstkonstruktion einsichtig werden lässt. Die Ableitung der Erscheinung beruht – so lautet die Quintessenz des soeben Auseinandergelegten – auf einem Kategorisch-Werden und dadurch Begreiflichbzw. Einsichtig-Werden der idealen Dimension der Selbstkonstruktion. Was aus diesem Ein-Sehen folgt und was das überhaupt bedeutet und impliziert, wird der nächste Vortrag zeigen. GA II/8, S. 268. Fichte präzisiert in genau diesem Sinne: „Es ist hier gar nicht, wie oben, eine unmittelbare Vernunfteinsicht, sondern nur mittelbare, wiederum bedingt durch eine höhere Projektion per hiatum eben des Soll, wie wir denn auch in der Tat verfahren sind“, GA II/8, S. 268. 344 GA II/8, S. 252. 345 Siehe hierzu v. Vf. „Die Funktion der ‚kategorischen Hypothetizität‘ im ersten Grundsatz der Grundlage zur gesamten Wissenschaftslehre“, in Fichte im Streit. Festschrift für Wolfgang Janke, H. Traub, A. Schnell, C. Asmuth (Hsg.), Würzburg, Königshausen & Neumann, 2018. 342 343

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Achtzehnter Vortrag

ACHTZEHNTER VORTRAG Das ‚Als‘ (= dreizehnte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens) qua „neuer Mittelpunkt und Träger des sich selbst schaffenden und tragenden Soll“ 346 wurde herausgestellt und festgesetzt. Sein Hauptcharakteristikum ist sein kategorischer sowie sein ‚wirklich-werdender‘ Aspekt, den man auch als ontologisierende Dimension bezeichnen kann. In der vorigen Wissensbestimmung spielte sich die Genesis dieser Selbstkonstruktion rein auf der begrifflichen Ebene ab. Nun wird auch die anschauliche, einsichtige Ansichtsweise hinzukommen, wodurch nicht nur im Denken und sondern auch im Sehen der Inhalt des „Soll“ (nämlich die ideale Selbstkonstruktion des Seins) in der Tat ist. Deswegen muss die Genesis der idealen Selbstkonstruktion „auf eine weitere Art“, nämlich „qualitativ, als Sehen, weiter bestimmt werden“.347 Damit soll eine „neue innere Genesis des Sehens“ 348 vollzogen und die Idealismus/Realismus-Bestimmung noch weiter vertieft werden. Worin besteht diese neue Genesis? Sie besteht in einem neuen, höheren Idealismus, in dem der Inhalt des Sehens mit seiner Bedingung und seinem Bedingten in Zusammenhang gebracht wird. Dieser neue Idealismus wird nur faktisch aufgestellt, seine Genesis steht noch aus. Was setzt ihm daher ein neuer höherer Realismus entgegen? 349 Der (zumindest bisher) höchste Realismus war im XIV. Vortrag aufgestellt worden. Er fußte auf dem als Relation aufgefassten Ansich, welches als solches in ihm negiert wurde. Dadurch, dass dieses Ansich Relation war, bestand dessen Einheit lediglich in einer Verstandeseinheit (denn Relationalität charakterisiert den Begriff, also den Verstand). Die aus jener Negation resultierende Einheit wurde im XIV. Vortrag noch nicht näher betrachtet. Das geschieht nun. Aus jener Negation resultierte (bisher lediglich) das absolute Sein. In der hier vollzogenen Genesis, die auch die Dimension des Sehens miteinbezieht, erweist sich jenes Sein als ein gesehenes Sein und somit als ein Wissen, dem Fichte eine Vernunfteinheit zuspricht. Jenes Sein wird demnach mit dem reinen Licht bzw. mit der reinen Vernunft gleichgesetzt. Absolutes Sein und absolutes Wissen fallen zusammen. In dem so sich ausdrückenden noch höheren Realismus greift demgemäß das Wir –

GA II/8, S. 272. GA II/8, S. 274. 348 Ebd. 349 Es muss betont werden, dass sich Idealismus und Realismus nicht – wie im ersten Teil – einfach gegenüberstehen, sondern – wie es sich seit der zehnten Grundbestimmung des Wissens erwiesen hatte – eine Einheit ausmachen. Dieser Bezug von noch höherem Idealismus und Realismus (der vierten Bestimmung dieser Positionen in der seit dem XI. Vortrag begonnenen Aufzählung) macht keine eigene Grundbestimmung des Wissens aus, sondern zeichnet die Genetisierung des „Von“ aus (gegenüber der Zweiheit von „Sein“ und „Selbstkonstruktion“ innerhalb dieser vierzehnten Grundbestimmung des Wissens). 346 347

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Achtzehnter Vortrag

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im Gegensatz zu den vorigen Varianten – nicht mehr ein. Diese (Vernunft)einheit, dieses Sein, ist schlechthin von sich – oder schlicht – ein Von: reines Wissen = reine Vernunft = reines Licht = reines Sein = Von 350 Damit wird gesagt, dass die Zweiheit in dieser vierzehnten Grundbestimmung des Wissens – nämlich die von Sein und Selbstkonstruktion, die im „Von“ vereinigt werden – nicht (wie vorher) intelligibel, sondern schöpferisch eins ist. Während vorher jene Einheit eine mittelbare war, vermittelt durch eine transzendentale Voraussetzung bzw. Bedingung, ist sie nun eine unmittelbare. Der in diesem Vortrag dargelegte „noch höhere“ Idealismus der Phänomenologie sowie der korrelative „noch höhere“ Realismus lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

noch höherer

Idealismus

Realismus

formale Genesis des Sehens

Von

Wie steht es um diese – ultimative – Einheit des Von – und um ihre erforderliche Genetisierung? Bevor das im folgenden Vortrag näher in Augenschein genommen wird, macht Fichte drei erläuternde bzw. vorbereitende Anmerkungen. Erstens kündigt er an, dass dieser Unterschied von mittelbarer und unmittelbarer Selbstkonstruktion des Seins sich in der Genetisierung des Unterschieds vom Standpunkt der Wissenschaftslehre und jenem des gewöhnlichen Wissens, also jenes von der philosophischen und der gemeinen Erkenntnis, auflösen wird. Zweitens präzisiert er, dass der Unterschied von idealer und realer Sichkonstruktion des Seins den höchsten Idealismus kennzeichnet, während im höchsten Realismus dieser Unterschied gänzlich aufgehoben ist. Und drittens macht er darauf aufmerksam, dass in der Vernunfteinheit doch eine Zweiheit liegt! Diese Einheit ist freilich keine solche, die erst aus den Teilen entstünde, sondern sie verdankt sich einer absoluten Selbstsetzung. Das weise auf ein absolutes Soll und dementsprechend auf eine Nachkonstruktion hin, die zwar in ihrer An-sich-Gültigkeit abgestritten werde, aber für die Lösung der anstehenden Aufgabe unabdingbar sei. Schließlich vergleicht Fichte seinen Ansatz mit dem Denken Jacobis. Mögliche Texte, die im Hintergrund stehen könnten, sind die „Spinoza-Briefe“ 351 (1789) und natürlich der „Sendbrief“ 352 Jacobis an Fichte (1799), auf den er explizit 350 In der Wahrheits- und Vernunftlehre wurde das absolute Sein u. a. als „von sich“ bezeichnet. In der Erscheinungslehre wird deutlich, dass auch das Sehen des Seins ein „Von“ ist. 351 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau, Löwe, 1785, 17892, 18193. 352 F. H. Jacobi, Jacobi an Fichte, Hamburg, Perthes, 1799.

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Neunzehnter Vortrag

Bezug nimmt. Jacobis Grundgedanke, der sich zuerst in einer Kritik an Spinoza, dann in einer Kritik an Fichte geäußert hat, besteht im Geltend-Machen einer transzendenten „Wahrheit“ (eines absoluten „Seins“) gegen den logisch-deduktiven Ansatz Spinozas und gegen den logisch-spekulativen Ansatz Fichtes, die beide in einer Form von radikalem „Immanentismus“ – der in Fichtes Subjektivismus der „Tat-Tat“ sogar (laut Jacobi) in einen „Nihilismus“ münde – gefangen blieben. Das Starkmachen des „Seins“ ist in Jacobis Augen die einzige Möglichkeit, einer „Wissenschaft des Wissens“ gerecht zu werden. Fichtes eigene Stellungnahme zu Jacobi stellt sich, wie das in einer privaten Antwort unmittelbar nach der Herausgabe des Sendbriefs 353 zum Ausdruck kommt, auffallend wohlwollend dar. Fichte widerlegt nicht Jacobis Standpunkt, sondern er stellt seine eigene Position als eine konsequente(re) Ausformulierung desselben dar. Besser gesagt, er versucht aufzuzeigen, dass Jacobi nicht genau das tut, was er sagt. Bezüglich des Verhältnisses von Urkonstruktion (des Seins) und Nachkonstruktion (dieses Seins durch den Wissenden) bzw. von Sein und Ich (oder Wir), zeichnet Fichte zunächst die drei folgenden, in seinen Augen zutreffenden Sätze Jacobis nach: Das ursprüngliche Sein kann nie eigens konstruiert, sondern lediglich durch das Ich nachkonstruiert werden. Die genuine Aufgabe der Philosophie besteht aber in der Entdeckung und Offenbarung des Seins. Also kann die Philosophie keine Philosophie des Ich und aus dem Ich sein. Aber, so fragt Fichte, wie kann man von dem, was über die Konstruktion hinaus ist, sprechen, wenn man nicht bereits darüber hinaus ist? Wie kann man sagen, dass man bloß nachkonstruieren könne, ohne auf einem Standpunkt über das Konstruieren hinaus zu sein? Fichte stützt sich auf das Argument gegen jede Form des Relativismus. Entscheidend für ihn ist, dass das Sagen immer schon davon zeugt, über ein bloßes Tun hinaus zu sein. Tun ist ein Aufgehen im Handeln, Sagen ist eine Art der Objektivierung, die in der Tat das Hinaus-Sein über das Tun voraussetzt. Für Fichte ist die Wissenschaftslehre deswegen radikaler als Jacobis Ansatz, weil sie es vermag, das Ursprüngliche zu fassen und das Nachkonstruieren desselben abzuleiten. Das ist zwar bisher noch nicht abschließend geschehen, aber zumindest die Aufgabe ist klar umrissen und liefert den Leitfaden für das Folgende. NEUNZEHNTER VORTRAG Die Quintessenz des XVIII. Vortrags, sofern er in der Phänomenologie einen höheren Idealismus sowie einen höheren Realismus aufstellte, bestand in der Herausstellung des „Von“ als „Wesen des Soll“ (= vierzehnte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens). Dieser wesentliche Gedanke – mit dem, wie schon betont, ausgesagt wird, dass nicht nur das Absolute, das Ansich, sondern 353

GA III/3, S. 234ff. (Brief Fichtes an Jacobi vom 22. April 1799).

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auch das Sehen der Nachkonstruktion ein „Von“ ist – wird im XIX. Vortrag noch einmal wiederholt. Das „Von“ ist das Prinzip des Realismus, sofern dieser das Sehen in sich aufgenommen hat. Seine Genese, von der ersten Bestimmung des „Soll“ ausgehend und zu seiner präzisen Bestimmung hinführend, fördert einen mehrfachen Widerspruch zu Tage, den Fichte ausführlich zu fassen sucht und den es dann zu überwinden gilt. Daraus werden sich sowohl ein neuer Begriff des „Von“ als auch ein neuer Begriff des Lichts ergeben. Diese bedeutsame Einsicht wird in den folgenden beiden Vorträgen vertieft, sodass in ihnen die Genetisierung der fünfzehnten Grundbestimmung des Wissens vollzogen und schließlich auch vollendet werden kann. Zunächst werden die beiden Teile des XVIII. Vortrags wiederholt. Das geschieht so, dass Fichte aufzeigt, welche Widersprüche sich dort jeweils zwischen „Sagen“ und „Tun“, das heißt zwischen dem „Idealen“ und dem „Realen“, 354 ergaben. Damit wird noch einmal die Verbindung zu Jacobi hergestellt. Zu behaupten, nicht nur bei Jacobi, sondern auch im bisherigen Verlauf des phänomenologischen Teils des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 liege ein solcher Widerspruch vor, bezeugt einmal mehr die von Fichte unterstrichene Nähe zum selbsternannten „privilegierten Ketzer“ Jacobi. Der absolute Widerspruch zwischen Tun und Sagen kennzeichnet die Phänomenologie allgemein. Daher gilt dies auch für ihren idealistischen sowie für ihren realistischen Standpunkt. In Bezug auf den ersten ist Fichtes Nähe zu Jacobi ganz und gar offensichtlich – auch und gerade, weil dieser mit seinem praktischen Realismus dem Idealismus gegenüber sowieso äußerst kritisch auftritt. Jacobi sagt, dass man nicht nachkonstruieren könne, tut dies aber gerade dadurch; der Idealismus der Phänomenologie sagt, dass die Einsicht der Selbstkonstruktion des Seins nicht wirklich (sondern lediglich möglich) sei, tut aber das Gegenteil, weil er sie (als wirklich) voraussetzt. Der Widerspruch ist also gleicher Natur. Wie kommt die Wissenschaftslehre aus ihm heraus? Die Lösung liegt in der Genetisierung des Verhältnisses von Urkonstruktion und Nachkonstruktion, wodurch das obige Verhältnis von „Soll“ und „Soll als Soll“ wiederaufgenommen und das transzendentale Bedingungsverhältnis auf eine andere Weise, nämlich im Hinblick auf die formale Genesis des Sehens, beleuchtet wird – nicht ohne dass dabei aber zunächst ein weiterer Widerspruch zwischen Tun und Sagen zum Vorschein kommt, nämlich der zwischen Notwendigkeit und Grundlosigkeit der Nachkonstruktion. Notwendigkeit: denn nur so kann die Genetisierung geleistet werden; Grundlosigkeit: denn die Nachkonstruktion bringt zum eigentlichen Inhalt der Selbstkonstruktion nichts hinzu und scheint entbehrlich zu sein. Was ist dem realistischen Standpunkt zu entnehmen und wie führt er aus diesem zweiten Widerspruch heraus? Wie bereits im XVIII. Vortrag gezeigt, muss 354

GA II/8, S. 296, Z. 16–17.

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Neunzehnter Vortrag

das Ansich des realistischen Standpunkts radikal und energisch gedacht werden. Hieraus ergibt sich ein „Von“, das sich selbst konstruiert, das heißt, das durch das Durcheinander von Selbstsetzung (Sein) und Selbstkonstruktion charakterisiert ist. Das Bestimmen dieses „Von“ sei laut Fichte „das Schwerste und Bedeutendste“ 355 des ganzen bisherigen Gedankengangs. Denn auch im „Von“ liegt ein Widerspruch zwischen Sagen und Tun vor. Sobald überhaupt vom „Von“ die Rede ist, wird durch das Sagen eine Relation hergestellt, die dem radikalen Ansich widerspricht. So weicht dieser Widerspruch zwar von jenem des Idealismus der Phänomenologie ab (da die fixierende Funktion des Sagens im Vordergrund steht), dennoch handelt es sich insofern um denselben Widerspruch, als Fichte auch bei der konkreten Ausbuchstabierung des Beweises den Gegensatz von Nachkonstruktion und Urkonstruktion (bzw. absoluter Gültigkeit des Prinzips) der Selbstkonstruktion unterstreicht. Wie aber lässt sich dann doch der Gebrauch des „Von“ sachangemessen rechtfertigen? Bisher wurde es jedenfalls immer nur faktisch aufgestellt. Fichte schreitet nun in zwei Hauptschritten (wobei der zweite seinerseits in drei Unterschritte unterteilt ist) zur Genetisierung fort: Erster Schritt: Das „Von“ ist Licht. Energisch gefasst, ist dieses Licht reale Kreation und das heißt: Licht und Sein fallen zusammen – darin besteht die „Realität“ dieser realen Kreation. Und zwar so, dass sich Licht und Sein durchdringen. Das bedeutet, dass das „Von“ nicht nur Licht, sondern Licht als „Von“ und als Durchdringung von Licht und Sein ist. Oder, anders ausgedrückt, das „Von“ ist Licht als „Von“ und „Durch“. „Das absolute Licht ist selber ein absolutes Von,“356 heißt somit, wie der Kommentar schon mehrfach betont hatte: Nicht nur das Absolute selbst ist ein „Von“, sondern auch das Sehen des Absoluten. Zweiter Schritt: Das „Von“ ist auch ‚kategorische Hypothetizität‘: Das in seiner bloßen Möglichkeit Aufgewiesene enthält seine Wahrheit und Richtigkeit. Erster Unterschritt: Das Zusammenfallen von Licht und Sein (siehe den ersten Schritt) impliziert die Aufhebung des Widerspruchs von Tun und Sagen, von Realem und Idealem. Das ‚Wir‘ erweist sich als reine Vernunft. Zweiter Unterschritt: Damit wird herausgestellt, dass das Licht auf diese Art den ursprünglichen Begriff seines Wesens (der immer ein faktischer ist) bewährt: Es ist unmittelbar sichtbares Vollziehen seiner selbst – was auch das ‚Wir‘ herbeiführen wird (darin besteht das Faktische), aber dazu später mehr. Dritter Unterschritt: Dieser dritte Unterschritt hat zwei Teile, die den Bezug von Licht und „Von“ noch klarer machen sollen. Das wird dadurch bewerkstelligt, dass – mit anderen Worten – das Verhältnis von Licht und Genesis geklärt wird (wodurch also die Identität von „Von“ und Genesis noch einmal betont wird). Das bringt zwei Bestimmungen der Einheit des Lichts ins Spiel. 355 356

GA II/8, S. 292. GA II/8, S. 295.

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Neunzehnter Vortrag

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Erste Bestimmung der Einheit des Lichts: das Licht qua qualitative Einheit. Das bedeutet: Es besteht eine gegenseitige Durchdringung von der Zweiheit im „Von“ von Selbstsetzung und Selbstkonstruktion bzw. von „Von“ und „Durch“, was dem gegenseitigen Durchdringen von Licht und Genesis, das heißt von Licht und „Von“, entspricht: Licht  Von (Genesis) Zweite Bestimmung der Einheit des Lichts: das Licht qua unerforschliche Einheit. Das besagt: Das Verhältnis von Licht und „Von“ hat seinen Grund in einer ursprünglicheren Einheitsbestimmung des Lichtes (= 0). Damit kommt hier sowohl ein neuer Begriff des Lichts als auch ein neuer Begriff des „Von“ ins Spiel: unerforschliches Licht 0  (neues) Von qua Effekt des 0  {qualitatives Licht  (altes) Von} (= neues Licht) (= altes Licht) Der wichtige letzte Absatz des XIX. Vortrags muss detailliert kommentiert werden. Er setzt an mit: „Alles Von, als Genesis, setzt Licht; – so wie vorher Licht Genesis setzte […].“ 357 „Setzen“ bedeutet hier nicht „bedingen“ oder „verursachen“, sondern umgekehrt eine „transzendentale Bedingung hervorscheinen lassen“. „Das Von setzt Licht“ heißt, dass sich hier das (neue) Licht (= 0) als Prinzip, Ursprung und transzendentale Bedingung des (neuen) „Von“ darstellt. Die beiden angesprochenen Setzungsverhältnisse stehen aber nicht in einer einseitigen Asymmetrie zueinander. Während das Verhältnis von „0“ zum neuen „Von“ einseitig ist (0  neues Von), durchdringen sich, wie gerade gezeigt wurde, Genesis und Licht (im alten Von) gegenseitig. Die Setzung der Genesis durch das Licht (im alten „Von“) meint demnach ein wechselseitiges Durchdringen, das in Fichtes Redeweise, die lediglich eine Umkehr des Setzungsverhältnisses zum Ausdruck zu bringen scheint, keinesfalls eindeutig zur Sprache kommt. 358 Was ist das neue, ursprüngliche „Von“? Es ermöglicht – qua Sehen, was es ja auch ist, da es „sich als solches [scil. als absolutes unmittelbares], weiterhin in sich klares, in einem Sehen erscheinen muss“ 359 – die Sichtbarkeit des unerforschlichen Lichtes. Dadurch hat es etwas Faktisches, „Objektives“. Dies wird nun von Fichte mit dem Wir gleichgesetzt – ohne dass diese Gleichsetzung schon begründet oder abgeleitet würde. Das neue „Von“ ist das ‚Wir‘, „Urerscheinung“ bzw. „Urfaktisches“. Programmatisch kündigt Fichte für diese fünfzehnte GA II/8, S. 298. Es wird im XXII. Vortrag deutlich werden, dass die beiden Setzungsverhältnisse den beiden Disjunktionsfundamenten entsprechen, die seit dem Ende des II. Vortrags gesucht werden. 359 GA II/8, S. 298. 357 358

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Zwanzigster Vortrag

Grundbestimmung des Wissens schon einmal an: „Und so ist denn das Urfaktische, die absolute Objektivierung der Vernunft, als seiend, genetisch, aus dem Urgesetze des Lichtes selber erklärt; und unsere Aufgabe in ihrem höchsten Prinzip gelöst.“360 Man sollte eher sagen: Die Aufgabe ist gestellt; die „Lösung“ wird erst erreicht sein, wenn die dazugehörigen Ableitungen realisiert werden. ZWANZIGSTER VORTRAG Der XIX. Vortrag hat mit dem alten und dem neuen Von sowie dem alten und dem neuen Licht ganz wesentliche Erkenntnisse für den gesamten Gedankengang der Wissenschaftslehre von 1804/II zutage gefördert. Diese Erkenntnisse betreffen die drei Stufen, die sich ergeben haben: 1.) neues Licht, 2.) neues Von und 3.) wechselseitiges Durchdringen von altem Von und altem Licht. Diese drei Stufen entsprechen dem Licht, der Erscheinung des Lichts und dem Mannigfaltigen. Bereits der erste Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 hatte dargelegt, dass die Aufgabe der Wissenschaftslehre in der Genetisierung von Einheit und Mannigfaltigem besteht und dass dafür ebenfalls drei Termini maßgeblich sind: die Einheit, das Prinzip der Mannigfaltigkeit und die Mannigfaltigkeit selbst. 361 In diesem Punkt entspricht die Phänomenologie in 1804/II der gestellten Aufgabe am Anfang von 1804/I. Es wäre nach dem ersten Teil des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 sowie der programmatischen Ankündigung im II. Vortrag, nach der drei Termini – ‚x‘, ‚y‘ und ‚z‘ – in ihrem Gehalt zu bestimmen seien, zu erwarten, dass die im XIX. Vortrag aufgewiesenen Stufen jeweils dem „Sein“, dem „Licht“ und dem „Begriff“ entsprechen. Wir werden sehen, wie es sich damit verhält. Jedenfalls entwickelt der XX. Vortrag keine neuen genetischen Konstruktionen, sondern wiederholt nur die beiden wesentlichen Einsichten vom Ende des XIX. Vortrags bezüglich des „alten“ und „neuen“ Von und des „alten“ und „neuen“ Lichts. Gleichwohl setzt Fichte am Anfang des XX. Vortrags neu an. Der Gehalt des Gedankens ist derselbe wie zuvor, aber die synthetische Darstellungsart weicht von der analytischen Vorgehensweise, wie sie zuvor vollzogen wurde, ab. Da Fichte zu einer deutlich größeren Klarheit als im vorigen Paragraphen gelangt ist, muss sein Gedankengang sorgfältig nachgezeichnet werden. Es hatte sich erwiesen, dass das Absolute – absolutes Sein, absolutes Licht, Vernunft – sich als Von-sich-Sein dargestellt hatte. Dazu gesellte sich das Postulat oder die Voraussetzung, dass es sich als solches selbst konstruieren, „reale Konstruktion“ sein müsse. „Von“ und „Selbstkonstruktion“ (bzw. „reale Konstruktion“) wurden zunächst in gewisser Weise bloß faktisch aufgestellt. Sie mussten genetisiert werden. 360 361

Ebd. GA II/7, S. 69.

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Zwanzigster Vortrag

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Im XIX. Vortrag hat Fichte, wie er selbst betont, den „Hauptnerv“ dieser Genetisierung getroffen. Dabei wurde wiederum eine Voraussetzung zutage gefördert, nämlich dass die Selbstkonstruktion durch das sie durchdringende Licht, das seinerseits von ihr durchdrungen wird, begleitet werde. Und aufgrund des dadurch vorausgesetzten Zusammenfallens von Selbstkonstruktion und Licht, erweist sich – ebenfalls nur in einer Voraussetzung – das Licht selbst als ein „Von“. Das Von wandert gleichsam vom Absoluten in dessen Erscheinung im Licht (die als „Urerscheinung“ bezeichnet wurde und die fünfzehnte und letzte Grundbestimmung des Wissens auf dieser dritten Genetisierungsstufe ausmacht). Demnach ist folgender Weg beschritten worden: (altes) Von  Selbstkonstruktion  Zusammenfallen von Selbstkonstruktion und Licht  Licht = (neues) Von Geht dieser Weg von Voraussetzung über Voraussetzung über Voraussetzung? Fichtes Antwort lautet dezidiert: Nein. Dabei wird ein Gedankenschritt vollzogen, der an drei wichtige Seiten im § 1 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 erinnert, nämlich an die Punkte 3.) bis 7.), die nahezu denselben Gedankenschritt detailliert auseinanderlegen. 362 So wie dort wird auch hier in Bezug auf das „Ich“ bzw. das „Wir“ aus dessen Möglichkeit seine Rechtmäßigkeit erwiesen. In der Grundlage betraf das den Übergang von A = A zu Ich = Ich; 363 nun betrifft es die Identifikation von „Von“, „Licht“ und „Wir“. Gesetzt wird jedes Mal zunächst eine „Möglichkeit“ – die des hypothetisch gesetzten „A“ in der Grundlage, die der Voraussetzung der Einheit von „Licht“ und „Von“ in 1804. Dann wird eine „Wirklichkeit“ bezeugt – die des „Ich bin“ in der Grundlage, die der Ansicht des Wissens bzw. des „Von“ in 1804. Und schließlich – das ist jeweils der entscheidende Schritt – wird von dieser Wirklichkeit auf jene des zunächst hypothetisch sich Darstellenden – und das heißt dann: auf dessen dadurch sich bezeugende Rechtmäßigkeit – zurückgeschlossen. Was legitimiert diesen Rückschluss? In der Grundlage lautet die Argumentation, verkürzt dargestellt, so: Fichte sucht den absolut ersten Grundsatz auf, der jedem beliebigen Satz zugrunde liegt. Ausgegangen wird von A = A. Wenn A (überhaupt gesetzt) ist, so ist A notwendig (gesetzt). Dieser Satz, den Fichte als „X“ bezeichnet, enthält ein notwendiges Urteil. Das Urteil setzt immer das Urteilende voraus. Und die Notwendigkeit hat eine transzendentale Bedingung. Beides – Urteilendes und transzendentale Quelle der Notwendigkeit – ist das Ich. Dies wird somit zunächst logisch eingeführt (wodurch weder seine Wirklichkeit behauptet wird noch seine Kategorizität erwiesen ist). GA I/2, S. 257–260. Siehe hierzu v. Vf. „Die Funktion der ‚kategorischen Hypothetizität‘ im ersten Grundsatz der Grundlage zur gesamten Wissenschaftslehre“, in Fichte im Streit, Art. cit., S. 23–37, hier insbesondere S. 27–29. 362 363

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Zwanzigster Vortrag

Das Setzen jener Notwendigkeit durch das Ich ist aber auch eine durch das empirische Bewusstsein beglaubigte Tatsache. Es kontaminiert sodann das A selbst: „Wenn A im Ich gesetzt ist, so ist es gesetzt; oder – so ist es.“ 364 Und das schlägt wiederum auf das zunächst nur logisch eingeführte Ich so zurück, dass dadurch auch das notwendige Sein des Ich erhellt: „[E]s wird gesetzt, dass im Ich, – es sei nun insbesondere setzend, oder urteilend, oder was es auch sei – etwas sei, das sich stets gleich, stets Ein und ebendasselbe sei; und das schlechthin gesetzte X lässt sich auch so ausdrücken: Ich = Ich; Ich bin Ich.“ 365 Das empirische Bewusstsein – das ist der alles entscheidende Gestus – hat somit für das transzendentale Bewusstsein eine konstitutive Funktion! Dem zunächst lediglich logisch eingeführten und damit hypothetisch gesetzten Ich wird über die Beglaubigung des empirischen Ich Kategorizität zugesprochen – und dadurch erweist es sich als zugrunde liegendes absolutes Ich. Dem XX. Vortrag des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 liegt an der hier einschlägigen Stelle 366 ein ganz ähnlicher Gedanke zugrunde – auch wenn er weitaus weniger ausführlich dargelegt wird. Die vorausgesetzte Identifikation von Licht und (neuem) „Von“, in der das innere Wesen des Wissens ja besteht, wurde als eine lediglich mögliche eingeführt. Aber sofern sie von „Uns“, dem „Wir“, vollzogen wurde, erweist sich, dass wir dieses Wissen selbst sind. 367 Das bezeugt sich nämlich „durch die Wirklichkeit dieser Ansicht“, die sich „an uns selber unmittelbar faktisch“ 368 beweisen lässt. Auch hier hat – ganz wie in 1794/95 – auf der Grundlage der zunächst aufgestellten Möglichkeit das Faktisch-Wirkliche eine konstitutive Funktion für das absolute Wissen: „Es ist ein unmittelbar durch das Faktum selber und seine Möglichkeit geführter Beweis über das Wesen des Wissens.“ 369 Die letzte Voraussetzung (innerhalb der Reihe der angegebenen Voraussetzungen) schlägt in eine Einsicht um, die deren Legitimation liefert. Sie erweist „durch ihre bloße Möglichkeit und Faktizität ihre Rechtmäßigkeit“. 370 Heißt das nun, dass die gesamte Genetisierung auf dem dadurch aufgewiesenen „Wir“ beruht? Der nächste Schritt weist auch diesen voreiligen Schluss zurück. So gelangen wir exakt zu demselben Punkt, der bereits im X. Vortrag angesprochen und anlässlich welchem auf die Erscheinungslehre verwiesen wurde. Was nämlich in der gesamten Reihe der Voraussetzungen sowie in der Aufweisung der Rechtmäßigkeit der letzten Voraussetzung geschehen ist, unterlag GA I/2, S. 257. Ebd. 366 GA II/8, S. 302. 367 Und das muss auch so sein, um der „wahrhaft närrische[n]“ Maxime ein für alle Mal den Garaus zu machen, „das Wissen außer dem Wissen zu suchen“, GA II/8, S. 312. 368 GA II/8, S. 302. 369 Ebd. 370 Ebd. 364 365

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nicht der freien Willkür des Denkenden, sondern es „machte sich selber schlechthin durch sich selbst“. 371 Damit wird das Wir und jede Form von Bewusstsein, von „sekundärem Wissen“ usw. vernichtet! Seine höchste Form ist das „Soll“, worin die „Prämisse“ – als „Prinzip der Erscheinung“ 372 – besteht. Dem steht nun eben das Absolute entgegen, auf das sich eine „höhere Ansicht des Wissens“ als das „sekundäre Wissen“ beziehen muss. Dieses – und damit schließt Fichte an den X. Vortrag an – geht auf das „rein in sich Geschlossene,“ 373 über das hinaus nichts gesagt werden kann und das – ganz wie das „0“ in besagtem X. Vortrag – hier fallengelassen werden muss. Die Betrachtung richtet sich daher nun auf den „Inhalt“ der Gleichsetzung von Licht und (neuem) „Von“. Dabei hat das, was bezüglich der Disjunktion innerhalb des Inhaltes des Satzes „das Licht ist ein Von“ aufgestellt wird, dieselbe Bedeutung wie das, was bezüglich der Einheit darin gesagt wird. Es geht in beiden Fällen um das gegenseitige Durchdringen von Licht und Genesis (bzw. „Von“). Am Ende des XIX. Vortrags wurden, wie gesagt, die drei wesentlichen Stufen der Wissenschaftslehre von 1804 herausgestellt. Über das unerforschliche Licht (= neues Licht) und das „Von“ als absolutes „Urfaktum“ (= neues „Von“) hinaus ist das von der Genesis (bzw. dem [alten] „Von“) durchdrungene (alte) Licht, das seinerseits die Genesis bzw. das (alte) „Von“ durchdringt, zutage getreten. Auch hier werden diese drei Stufen noch einmal bestimmt. Im Mittelpunkt der Phänomenologie steht das Licht. Dieses ist „qualitative Einheit,“374 und darin besteht ursprünglich jedes (qualitativ absolute) Wissen. Es kann nicht reflektiert oder begriffen, sondern nur je vollzogen werden. Soll es begriffen werden, kann das wiederum nur in einem Vollziehen geschehen – und so weiter ad infinitum. In diesem Vollziehen, das ein Beweisen einer Möglichkeit durch die Faktizität ist, wird die nun gemachte Voraussetzung der Identifikation von Licht und „Von“ gerechtfertigt und legitimiert. Genau darin besteht das auf das „neue Licht“ gegründete „neue Von“. Hierdurch wird letztlich auch das abzuleitende „sekundäre Wissen“, das in der Konsequenz von Licht und „Von“ besteht, fundiert. Das lässt sich auf folgende Art auf der Grundlage des mit dem „Von“ identifizierten Lichts (also dem neuen „Von“) darlegen. Trotz seiner qualitativen Einheit liegt nämlich ganz offensichtlich eine Disjunktion vor – eben die von Licht und „Von“. Diese Disjunktion ist „absolut aus und von dem Von,“ 375 d. h. ihr liegen die disjungierten Glieder nicht zugrunde, sondern umgekehrt gehen diese aus dem Von hervor. Das Licht durchdringt aber nicht nur das Von, sondern 371 372 373 374 375

Ebd. GA II/8, S. 304. Ebd. GA II/8, S. 306. GA II/8, S. 307.

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auch alle abgeleiteten „Von“. Genau hierin besteht die geforderte Ableitung und Darstellung des Mannigfaltigen bzw. des „Ist“ (oder auch des „sekundären Wissens“). Dem liegt das seinerseits auf das „neue Licht“ gegründete „neue Von“ zugrunde. Es ist „rein qualitative Einheit der Genesis“, 376 in ihm fallen „Genesis und Sehen […] durchaus und absolut zusammen“. 377 Die Erscheinungen von Licht und Genesis sind hier unzertrennlich und durchdringen sich. 378 Diese Verhältnisse fasst Fichte in folgenden Worten synthetisch zusammen: Jenes [neue] Von, in reiner absoluter, unmittelbarer Einheit, und ohne alle Disjunktion, als reines Sichsetzen des Urlichtes, ist die erste und absolute Erschaffung aus dem [neuen] Licht; der Grund und Urquell selber des ist, und alles dessen, was da ist im ist; und die Disjunktion dieses Von, in welcher das wahre Leben zu Grunde geht, und bloß abgesetzt ist in der Intuition eines toten Ist, ist die zweite Nacherschaffung eben in der Intuition, d. i. in dem schon gespaltenen Urlicht. Und so gibt sich die Wissenschaftslehre mit allem Recht für eine vollständige Lösung des Rätsels der Welt, und des Bewusstseins. 379

Im „neuen Von“ setzt sich das Urlicht selbst. Nicht das neue Licht, das ja absolut unerforschlich ist, ist das Urlicht, sondern das neue Von, das absolute Selbstgenesis ist (in jener Selbstsetzung drückt sich gerade diese Selbstgenesis aus). Dieses Urlicht wird dann in der Intuition des „toten Ist“ 380 gespalten. Dadurch wird dann auch, wie gesagt, das (gleichfalls gespaltene) Bewusstsein genetisiert. Nota bene: Wenn danach gefragt wird, wie die hier herausgestellten drei Stufen ganz allgemein mit x, y, z, also – wenn man die ‚Grundoperation der Genesis‘ in Erinnerung ruft – mit „Sein“, „Begriff“ und „Licht“ in Verbindung stehen, dann ergeben sich mindestens zwei Schwierigkeiten bzw. Ungereimtheiten. 1.) Das neue Licht ist offenbar das lebendige Sein und das neue „Von“ das (Ur)licht. Es ist allerdings etwas unglücklich, das vom neuen Licht abgeleitete Licht als „Urlicht“ zu bezeichnen bzw. man kann sich fragen, ob das neue Licht nicht „Sein“ genannt werden müsste. – In gewisser Weise wird dies im folgenden Vortrag geschehen (und auch am Anfang des XXII. Vortrags noch einmal bestätigt), was einmal mehr von der inneren Kohärenz der Wissenschaftslehre von 1804/II zeugt. Allerdings schlägt Fichte, wie wir sehen werden, dort einen etwas anderen Weg ein, weshalb es fraglich ist, ob es möglich und gerechtfertigt ist, diesen Bezug auf diese Weise herzustellen. – 2.) Wie dem auch sei, ist es darüber hinaus in diesem Zyklus der Wissenschaftslehre auch ungewöhnlich, die Seite des Begriffs mit dem GA II/8, S. 308. GA II/8, S. 310. Dabei wird die absolute Einheit des Lichtes nicht mehr vorausgesetzt, sondern – freilich nur als qualitative – schlechthin eingesehen. Diese „Grenzberichtigung“ wird im folgenden Vortrag hinzugefügt, siehe GA II/8, S. 318, Z. 1. 378 GA II/8, S. 310. 379 GA II/8, S. 309. 380 GA II/8, S. 308. 376 377

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abgesetzten Sein gleichzusetzen. Aber offenbar ist das Durcheinander von altem Licht und altem „Von“ hier gerade der Begriff, der zugleich dem ‚toten‘ Sein als Träger der Realität zu entsprechen scheint. Dann hätten wir hier: x = neues Licht = Sein; z = (altes Von  altes Licht) = Begriff; y = neues Von = Licht. EINUNDZWANZIGSTER VORTRAG Die beiden letzten Vorträge hatten den Inhalt des Satzes „das Licht ist absolutes Von“ zum Thema. Daran schließt der XXI. Vortrag nicht direkt an. Der genetisierende Aufstieg wird vielmehr insofern unterbrochen, als Fichte vor allen Dingen eine Betrachtung zum Verhältnis von Verstand und Vernunft einschiebt, die auch als eine erste Erörterung der Vernunftlehre innerhalb der Phänomenologie aufgefasst werden kann. Das schließt freilich nicht aus, dass sich darin für die Erscheinungslehre allgemein bedeutsame Einsichten ergeben. Diese betreffen insbesondere das Verhältnis von Sein und Genesis, das für die Charakterisierung der fünfzehnten Grundbestimmung des transzendentalen Wissens sehr dienlich ist. Der Genetisierungsverlauf wird dann im XXII. Vortrag mit der Eröffnung der vierten Genetisierungsstufe fortgesetzt. Der in der Phänomenologie bisher erreichte feste Standpunkt besagt: Licht, „Von“, Wissen, Wir fallen zusammen. Auch wenn dieses Wir nicht jenes Wir ist, das der Bewusstseinsspaltung zugrunde liegt, sondern vielmehr ein solches, das auf einer konstitutiv ursprünglicheren Ebene mit dem Licht, wie gesagt, identisch ist (was einen anderen Bewusstseinsbegriff impliziert, der seit dem Anfang der Erscheinungslehre gebraucht wird), liegt hier doch wiederum eine Voraussetzung vor, die gerechtfertigt werden muss. Diese Rechtfertigung wird aufs Neue eines mit der Genesis je zusammenfallenden „Soll“ bedürfen, das zur Genetisierung des Verhältnisses von „neuem“ und „altem“ „Von“ entscheidend beitragen wird. Es kündigt sich bereits in dieser eingeschobenen Betrachtung der Disjunktionsgrund zwischen dem faktischen und dem genetischen Wissen überhaupt an. Oder anders ausgedrückt: Es geht um die Frage nach dem genetischen Verhältnis von „Genesis“ überhaupt und „Sein“. 381 Dabei wird die Disjunktion von „idealer“ und „realer“ Genesis (bzw. von „Postulat“ und „Genesis des Seins“) ins Spiel gebracht, womit dem bereits gründlich ausgefochtenen Konflikt von „Idealismus“ und „Realismus“ ein weiteres Kapitel hinzugefügt wird. Nota bene: Zuvor muss aber auf die Bedeutung dieser erneuten Einführung des „Soll“ hingewiesen werden. In den vorigen Vorträgen wurde aufgezeigt, dass das „Von“ das Wesen des „Soll“ ist. Nun wird dagegen das „Von“ wiederum durch 381 Die Genesis der objektiven Genesis bedarf darüber hinaus eines Gesetzes, das auf der nächsten Genetisierungsstufe aufgestellt wird.

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ein „Soll“ genetisiert. Es handelt sich dabei aber nicht um einen Zirkel, sondern darum, dass in der Phänomenologie selbst – namentlich zwischen dem XVI. und dem XXI. Vortrag – ein (gleichsam „kleiner“ oder „lokaler“) Auf- und Abstieg vollzogen wird. Weshalb es vom „Soll“ (und dann dem „Soll als Soll“) ausgehend über das „Von“ (und dann über das „Von des Von“) wieder zu einem „Soll“ kommt, lässt sich auf zweierlei Art begründen. Zum einen wird mit der Aufstiegsund Abstiegsbewegung durch den Inhalt der Phänomenologie performativ bestätigt, was die Erscheinungslehre gegenüber der Wahrheits- und Seinslehre auch formal kennzeichnet. Zum anderen spricht sich in dem „Soll“ qua absolute Insich-Geschlossenheit der Genesis und qua Genesis der Selbsterzeugung all das aus, was dann auch das abgeleitete „Von“ kennzeichnet – dieses erweist sich als bloßes ‚Mittel‘ des genetisierenden ‚Heraufsteigens‘ und kann deshalb nun auch fallengelassen werden. Damit wird deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Genetisierungen der Phänomenologie zwar zur unabdingbaren Methode der Transzendentalphilosophie gehören, das Wesen derselben aber im Sachgehalt liegt, 382 welcher im bereits ab dem XVI. Vortrag entwickelten genetischen Verhältnis von absolutem Sein und „Soll“ besteht. Zu dem Verhältnis jener „Disjunktion“ und der „Genesis“ merkt Fichte nun an: Diese absolute in sich Geschlossenheit der Genesis in ihrem Grundpunkt, in dem es [scil. das Wissen] eine Genesis der Genesis selber sein soll, verhindert nicht, dass nicht fortdauernd zwei Genesen oder zwei Wissen erscheinen; das Eine, welches wir selber treiben, indem wir sagen: soll Wissen, oder Wir selbst – sein: und das Andere, das nun eben sein soll, falls sein Prinzip sich findet. 383

Das allgemeine Verhältnis von „Genesis“ und „Sein“ – das bestätigt sich hier erneut – ist das von „Soll“ und „Sein“. Ihnen entspricht jeweils eine eigene „Ansicht Eines und eben desselben“. 384 Damit wird bereits angezeigt, dass letztlich Genesis und Sein zusammenfallen werden. Wenn es also diese zwei möglichen Ansichten gibt, muss eine von beiden als Ausgangspunkt für den weiteren genetischen Verlauf gewählt werden. In Frage kommt nur jene „unseres Lebens und Treibens“, 385 nicht aber die Objektivierung davon. Genau darin besteht – im Gegensatz zu dem „toten Ist“, 386 das dieser Objektivierung entspricht und der realistischen Ansicht gleichkommt – die 382 Dies ist auch der Grund, weshalb Fichte im XXV. Vortrag sagen wird, dass der ‚wahre Wert‘ in der Wissenschaftslehre selbst liege und die ‚Wissenschaftslehre in specie‘ – als bloße „Leiter“ für den Aufstieg zu derselben – fallengelassen werden könne. 383 GA II/8, S. 320. 384 GA II/8, S. 322. Es handelt sich also nicht um eine eigene Genetisierung, da hier keine Disjunktion von verschiedenen zugrunde liegenden Gliedern vorliegt. 385 Ebd. 386 GA II/8, S. 308.

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Quintessenz der idealistischen Ansicht: in der Tatsache also, dass das Sehen und Licht im unmittelbaren Sehen, nicht im gesehenen Sehen besteht. Idealismus heißt demzufolge Aufgehen im sehenden Sehen, Licht und Leben; Realismus heißt Objektivation im gesehenen Sehen, Licht und Leben. 387 Fichte kündigt nun bereits an, wie es auch zu erwarten ist, dass beide Ansichten nicht absolut gelten, sondern ein höheres Prinzip (qua „höchstes Wissen“) aufgestellt werden wird, das beide vereinigt. Worin besteht dieses höhere Prinzip? Die beiden hier entwickelten Ansichten, Wissen oder Prinzipien sind: 1.) innere Sichgenesis als innere Einheit: d. h. zu vollziehendes Licht qua Sehen, aufgehend in dem Entspringen eines absoluten Von (et vice versa), Genesis des Sich oder Ich oder Wir (was bedeutet, dass auch dieses im Licht aufgeht et vice versa), also: Licht = Sehen = „Von“ = Wir; 2.) objektive Ansicht dieser Ansicht, dieses Prinzips oder dieses Wissens. Das höhere Prinzip bzw. das „höchste Wissen“ besteht dann in einem beide Ansichten, Prinzipien oder Wissen abermals vorauszusetzenden vereinigenden Wissen. Im XV. Vortrag war bereits an der Schwelle der Wahrheits- und Vernunftlehre von der In-Beziehung-Setzung von absoluter Genesis und Nichtgenesis die Rede. Auch wurde dort das Verhältnis von Vernunft und Verstand zum Thema gemacht. Wir sind nun hier an dem Punkt angelangt, wo dies erneut zu geschehen hat, allerdings nicht (mehr) faktisch, sondern genetisch. Wenn der absoluten Genesis ein Prinzip vorausgesetzt wird, kann dieses nur (und das bereits lediglich formal) eine Nichtgenesis sein. Wie ist das entsprechende (höchste) Wissen also aufzufassen? Es ist in keiner Weise Wissen von etwas. Als Nichtgenesis ist es erst einmal bloß nicht Genesis. Dadurch ist es aber nicht absolut nicht(s), sondern, wie Fichte unterstreicht, „positive Nichtsichgenesis“. 388 Damit ist gemeint, dass im Wissen ein absolutes Sein des Wissens gesetzt werde. Worin besteht dieses Sein des Wissens? Auf diese Frage kann wiederum nur so geantwortet werden, dass die beiden Ansichten, die realistische und die idealistische, die des „Seins“ und die des „Soll“, in Anspruch genommen werden. Das nun erlangte absolute Sein des Wissens ist Sichgenesis des Wissens, das heißt: Sichprojektion des Wissens aus dem Wissen selbst (realistische Ansicht). Diese Einsicht ist aber nur möglich von einem äußeren Standpunkt aus, also durch eine Nachkonstruktion (idealistische Ansicht). Wie kann es dazu aber überhaupt kommen (denn damit müssten wir ja aus dem Wissen herausgehen)? Wie ist das möglich, wenn wir ja dieses Wissen sind, d. h. wenn es sich bei diesem absoluten Sein des Wissens um ein absolut immanentes Wissen handelt?

387 Damit wird dann doch die Präferenz für die idealistische, nicht für die realistische Ansicht ausgedrückt. 388 GA II/8, S. 324.

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Gerade wurde gesagt, dass für die vorausgesetzte absolute Sichgenesis ein Prinzip gefunden werden muss, wodurch diese als Nichtgenesis eingesehen wird, was der Vernichtung der Sichgenesis gleichkommt. Und in der Tat ist es so, dass vom Standpunkt des absolut immanenten Wissens aus das Sein des Wissens qua absolute Sichgenesis mit einem solchen aufzufindenden Prinzip überhaupt nur als Vernichtung aller Genesis erscheinen kann. Dadurch wird natürlich die Kontinuität der Genesis unterbrochen. Eine solche Unterbrechung bezeichnet Fichte als „Hiatus“. Bereits im XVII. Vortrag hat Fichte einen ersten Ansatz unternommen, den „hiatus irrationalis“ durch einen „hiatus rationalis“ zu ersetzen. Hieran schließt die Genesis an dieser Stelle nun an. Der Standpunkt der die Realität der Erscheinung vernichtenden Vernunft wird damit endgültig erreicht. Um das zu verdeutlichen, muss, wie gesagt, auf die beiden angesprochenen Ansichten rekurriert werden. Dabei wird dann auch der Bezug zu „neuem Licht“ und „neuem Von“ wieder hergestellt. Was früher als „neues Licht“ bezeichnet wurde, erweist sich als das Wesen der Vernunft. Sie drückt die einseitige konstitutive Reihe von „Urprinzip“ (Sein, Urgenesis) und „Urprinzipiat“ 389 (Form des Seins, Genesis, Sichkonstruktion) aus. Bisher waren wir selbst nie diese reine Vernunft (dazu wird es gegebenenfalls erst später kommen), sondern wir waren die vorausgesetzte Sichkonstruktion. Fichte bezeichnet diese Selbstkonstruktion oder Sichgenesis nun als „Verstand“. Und das, was soeben von der Vernichtung gesagt wurde, betrifft auch das Verhältnis von Vernunft und Verstand. Dieses kommt am treffendsten in folgenden Worten zum Ausdruck: Es gibt keine Einsicht in das Wesen der Vernunft ohne Voraussetzung des Verstandes als absolut; und wiederum keine Einsicht in das Wesen des Verstandes, außer vermittelst seiner absoluten Vernichtung durch die Vernunft. Das Höchste aber, worin wir bleiben, ist die Einsicht in beide, und diese setzt notwendig beide, wiewohl das Eine, um es zu vernichten. Wir sind auf diesem Standpunkt der Verstand der Vernunft, und die Vernunft des Verstandes, also eigentlich beides in Einheit. 390

Anders ausgedrückt: Soll die Vernunft eingesehen werden können, muss der Verstand vernichtet werden; damit er aber vernichtet (und dadurch eingesehen) werden kann, muss er zunächst gesetzt werden. Dieses zweifache Setzungsverhältnis (was auch eine [aber nur eine] Vernichtung enthält) kündigt den Einheitsstandpunkt von Vernunft und Verstand an, den Fichte dann am Ende der Erscheinungslehre verdeutlichen wird.

389 390

GA II/8, S. 326. GA II/8, S. 326f.

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ZWEIUNDZWANZIGSTER VORTRAG Trotz aller bedeutsamen, bisher bereits erlangten Einsichten ist alles aber, so leitet Fichte eine neue – die vierte – Genetisierungsstufe ein, „nur die Vorbereitung zur wirklichen Aufgabe der Spekulation überhaupt“. 391 Wie ist diese „Vorbereitung“ zu verstehen? Was ist nun grundsätzlich Anderes zu erwarten, was das Vorherige offenbar zu einer bloßen Vorstufe der angestrebten „Lösung“ der gestellten Aufgabe macht? Ist nicht das angekündigte Auffinden des gesuchten Einheitspunktes von Vernunft und Verstand die logische Folge alles Vorausgehenden? Das ist zwar richtig, aber bisher wurde das genuin transzendentale Wissen noch nicht genetisiert. Genau das ist die zuvor zu lösende Aufgabe der folgenden fünf Grundbestimmungen. Bevor also die Vernunftlehre der Phänomenologie ausführlich behandelt werden kann, muss zuvörderst jene vierte Genetisierungsstufe durchschritten werden. Ehe diese Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens im Detail vorgestellt werden, mag es hilfreich sein, einen Ausblick auf die Gesamtheit der letzten beiden Genetisierungsstufen zu geben, da der Gedankengang bis zum Ende höchst komplex ist. Zwar lassen sich, wie gesagt, die vorletzte und die letzte Genetisierungsstufe dadurch unterscheiden, dass die vorletzte die Genetisierung des transzendentalen Wissens vollzieht, während die letzte sich der Genetisierung der Erscheinung annimmt, gleichwohl hängen beide Genetisierungen eng zusammen. Es findet dort nämlich eine Hin- und Herbewegung statt, mit der Bildlehre als Scharnier und Umschlagspunkt zwischen diesen beiden Genetisierungsstufen. Ziel des gesamten Gedankengangs ist der Aufweis des Zusammenfallens von Wissenschaftslehre und „Wir“. Dieses wird zunächst lediglich postuliert, und zwar als Voraussetzung der Gleichsetzung von Form und Inhalt des transzendentalen Wissens, wobei diese Gleichsetzung durch die Gewissheit genetisiert wird. Erst danach wird sich umgekehrt erweisen, dass das am Ende tatsächlich deduzierte Zusammenfallen von Wissenschaftslehre und „Wir“ seinerseits die Gewissheit genetisiert. Fichte setzt für die Genetisierung des transzendentalen Wissens ein weiteres Mal völlig neu an und stellt dabei zunächst den Bezug zum Ende des II. Vortrags her. Dort hatte er betont, dass die beiden – zunächst faktisch aufgestellten – Disjunktionsfundamente sich gegenseitig bedingen. Das wurde im X. Vortrag bestätigt, wo auf die gegenseitige Verschränkung von Denken und Sein einerseits und Bild und Abgebildetem andererseits hingewiesen wurde. Nun wird jener Gedanke eines gegenseitigen Bedingungsverhältnisses der Disjunktionsfundamente noch einmal wiederholt; und Fichte fügt hinzu, dass das dem in den vorigen Vorträgen entwickelten Tatbestand entspricht, dass darin kein einfaches „Von“ sich ausdrücke, „sondern Von im Von, und Von des Von“. Damit ist gemeint, dass das 391

GA II/8, S. 330.

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vertikale Bedingungsverhältnis (in dem sich das „neue Von“ geltend macht) und das horizontale Bedingungsverhältnis (von „altem Von“ und „altem Licht“) sich ihrerseits gegenseitig bedingen. Wir haben also nicht nur eine gegenseitige Verschränkung, in der die Bilddimension hineinspielt, sondern auch eine solche, in der ganz allgemein formuliert die idealistische und die realistische Ansicht mitberücksichtigt werden. Der angesprochene Neuansatz im XXII. Vortrag erfolgt so: Die absolute Sichgenesis ist seit dem Anfang des zweiten Teils dieser Fassung der Wissenschaftslehre gesetzt. Ihr Prinzip – im Wissen – wird gesucht. Dieses Prinzip ist also nicht jene Sichgenesis, sondern eben ihr Prinzip. Es ist daher Negation der Genesis. Aber, wie im XXI. Vortrag aufgezeigt werden sollte, nicht bloß „verbale“, blass gedachte, lediglich behauptete Negation, sondern absolute positive Negation der Genesis. Diese positive Negation der Genesis ist identisch mit dem „fertigen und bestehenden Sein des Wissens“. Die beiden Glieder sind also Sichgenesis (= Licht) und Sein. Sie müssen genetisch in Zusammenhang gebracht werden. Das wird durch das „Wir“ geleistet. Damit wird in der Tat eine neue Genetisierungsstufe erreicht, da vorher kein Sein im Wissen genetisiert worden ist. Nota bene: Bei der zu leistenden Bestimmung von x, y, z ergibt sich nun eine andere Reihenfolge als in allen Ansätzen zuvor. Das „Wir“ = Begriff vermittelt Sein und Licht. Das bedeutet: x = (bestehendes) Sein (des Wissens); z = Sichgenesis = Licht = Wissen; y = Wir = Begriff = Erscheinung. Das ist keine akzidentelle Änderung, sondern weist unmissverständlich darauf hin, dass in der Phänomenologie das Begriff-Licht-Sein-Schema des ersten Teils durch das Sein-ErscheinungWissen-Schema ersetzt wird. Zur Genesis des Seins ist hinzuzufügen, dass sie – wie Fichte es sich bereits am Anfang der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 vorgenommen hatte – dem Ungenügen aller anderen Systeme (insbesondere desjenigen Schellings) begegnet, das Sein lediglich dogmatisch aufzustellen bzw., wie Fichte sich ausdrückt, lediglich beim „toten Sein stehenzubleiben“. Fichte nimmt eine Deduktion des Seins vor, der drei Hauptcharakteristiken abgelesen werden können. 1.) Durch das „höhere Prinzip der absoluten Genesis“ wird die Ableitung des Seins insofern eingeleitet, als es, wie gesagt, als „positive Negation der Genesis“ ausgewiesen wird. 2.) Das Sein ist nicht Sein der Gegenstände, was einen „doppelten Tod“ ausmachte, sondern des Wissens und im Wissen. 3.) Schließlich wird insbesondere die „Einsicht des Zusammenhangs“ zwischen Sein und Sichgenesis, auf die der XXI. Vortrag vorausgewiesen hatte, geliefert. Die erwähnte Reflexionsstufe (von Verstand/Vernunft bzw. Sichgenesis des Wissens/Sein des Wissens) wird nun auf eine noch höhere Reflexionsstufe gehoben, was erneut auf den Übergang von der dritten zur vierten Genetisierungsstufe verweist. Fichte setzt dem gewöhnlichen Wissen, das dem abgeleiteten, weil sich als

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„mittelbar“ erweisenden Sein des Wissens entspricht, das auf der vierten Genetisierungsstufe zu genetisierende transzendentale Wissen (= ‚die Wissenschaftslehre‘) entgegen, das – eben durch die ‚Einsicht des Zusammenhangs‘ – die Genesis des Prinzips dieses Seins liefert, die dem Sein also noch vorausliegt (und natürlich nicht mit der aus ihm abgeleiteten Sichgenesis des Wissens verwechselt werden darf). Mit diesen beiden Wissensarten verfügen wir zugleich über die gesuchten Disjunktionsfundamente. Dass ‚Wir‘ im Licht aufgehen, ist nichts Neues; es ist schon seit dem XV. Vortrag bekannt. Allerdings war dieses Aufgehen bisher bloß ein faktisches. ‚Wir‘ waren nur die faktische Wurzel. Jetzt hingegen, so Fichte, fallen wir auch „objektiv und intelligibel“ mit dem Licht zusammen. Das Gesetz jenes faktischen Einsehens wird nämlich mit eingesehen. Genau deswegen ist Fichte autorisiert, hier vom „transzendentalen Wissen“ zu reden. „Intelligibel“ bezeichnet dabei die „Begreiflichkeit“ jenseits des Bewusstseins und Begreifens im engen Sinne; „objektiv“ die Seinsart der Genesis über alles objektiv-empirisch Einzelne hinaus. An dieser Stelle 392 liefert Fichte einen Hinweis auf die Gliederung der Phänomenologie. Diese zerfalle in drei Teile, die, allgemein formuliert, jeweils dem „Soll“, dem „Von“ und der genetischen Vereinigung von transzendentalem Wissen und wirklich seiendem Wissen entsprechen. Dabei werden drei grundlegende Synthesen erarbeitet, die gewissermaßen eine „Dialektik des Soll“ (im Hegel’schen Sinne) avant la lettre darstellen. Im ersten Teil (Vorträge XVI-XVII) werde unter der Ägide des Soll das vorausgesetzte (Fichte sagt: das „vorhanden sein müssende“) 393 Wissen mit einem durch das Soll hervorgebrachten Glied bzw. mit einer Bedingung vereinigt (in „Zusammenhang“ gebracht), die sowohl durch dieses Wissen bedingt wird, als auch dasselbe (auf eine andere Weise) bedingt. Es wird dabei die Tatsache betont, dass hier zwei Glieder synthetisch vereinigt werden (was ein Indiz dafür ist, dass hier die idealistische Ansicht vorherrscht). Das „Soll“ (bzw. „Als“) ist das Prinzip jener ersten Synthese. Der zweite Teil (Vorträge XVIII-XXI) verwerfe das zweite Glied bzw. die Verdoppelung des Wissens in ein dieses Bedingendes und durch es Bedingtes – und negiert damit das Soll. Er fokussiere sich ganz auf das Wesen (im Sinne des ersten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804) des Wissens sowie auf dessen absoluter Voraussetzung (realistische Ansicht). Dabei finde wiederum eine Synthesis statt, nämlich die von Licht, Genese, Von, Wir, die allesamt zusammenfallen. Die Synthese dieses Zusammenfallens unterscheidet sich von der Synthese des bloßen Zusammenhangs im ersten Teil. Der dritte Teil (der am Ende des XXI. Vortrags begonnen habe) bringe noch eine dritte Synthese-Art ins Spiel, die erneut auf ein „Soll“ rekurriert. Dieses „Soll“ ist aber nicht das gleiche „Soll“ wie im ersten Teil. Während das erste „Soll“ die „Prämisse“ stillschweigend voraussetzt, besteht das Wesen des 392 393

GA II/8, S. 334f. GA II/8, S. 334.

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zweiten „Soll“ darin, die „Prämisse“ selbst „genetisch“ zu „ergründen“. Und die „Prämisse“ besteht gerade in jener „Bedingung“, die zugleich eine bedingende und eine bedingte ist. Im dritten Teil stelle sich diese „Prämisse“ so dar, dass sie gewissermaßen Einheits- und Disjunktionsprinzip des gewöhnlichen (sein Prinzip im Sein des Wissens habenden) Wissens einerseits und des transzendentalen Wissens andererseits ist. Sie enthalte eine „Duplizität“, die sowohl den Zusammenhang als auch die Geschiedenheit dieser beiden Disjunktionsfundamente ermöglicht. Damit sei angezeigt, was für den Rest dieses Vortrags sowie für den weiteren Verlauf zu erwarten sei. Entspricht aber die tatsächlich ausgeführte Erscheinungslehre auch der hier skizzierten Gliederung? Inhaltlich entspricht diese Gliederung durchaus dem tatsächlich in der Erscheinungslehre Entwickelten. Allerdings lassen sich die „drei Teile“ angemessener zuordnen, wenn die von Fichte selbst im XXVIII. Vortrag angezeigte Struktur in fünf „Standpunkte“ 394 (bzw. „Genetisierungsstufen“) mit den darin enthaltenen 25 „Grundbestimmungen des Wissens“ 395 berücksichtigt wird. Dann wird deutlich, dass die von Fichte angekündigte Dreiteilung in Wirklichkeit nur die dritte Genetisierungsstufe ausmacht und dass der „dritte Teil“ viel differenzierter in den letzten beiden Genetisierungsstufen auseinandergelegt wird, als das vorausblickend angekündigt wird. Die Betonung auf dem „neuen ‚Soll‘“, in dem die sechzehnte 396 Grundbestimmung des Wissens besteht, stellt jedenfalls den Anfang des weiter zu Entwickelnden dar. Worin besteht also die Prämisse, die das neue „Soll“ ins Spiel bringt? Sie besteht in der genetischen Funktion des „Wir“. Fichte erläutert dessen Rolle in folgenden prägnanten Worten: Wir haben diese Einsicht erzeugen können, und haben sie wirklich erzeugt; wir sind das Wissen, wissen eben schlechtweg; also diese Einsicht ist im Wissen möglich, und in unserem dermaligen Wissen wirklich. 397

Was zunächst die „Einsicht“ angeht, so wird gesagt, dass die zunächst lediglich problematisch aufgestellten beiden Glieder – nämlich Sichgenesis des Wissens und Sein des Wissens – sich mittelbar aus der genetischen EINSICHT DER EINHEIT beider GA II/8, S. 418. Ebd. 396 Das bedeutet, dass das „Soll“ in drei (!) Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens eine tragende Rolle spielt – und somit ganz offensichtlich eine absolut fundamentale Bedeutung für die Wissenschaftslehre von 1804/II überhaupt hat. Im ersten Teil ist das „Soll“ der tragende Einheitspunkt der ersten Fünffachheit; am Anfang des zweiten Teils ist es die Grundbestimmung, die das Sein der Seinslehre genetisiert; und an dieser Stelle eröffnet es die Genetisierung des transzendentalen Wissens. 397 GA II/8, S. 339. Vgl. auch GA II/8, S. 344: „Es [scil. das Verfahren in der Erzeugung der Einsicht des Prinzips der absoluten Sichgenesis] ist im Wissen möglich, und wirklich, denn es ist in uns möglich, und wirklich, da wir das Wissen sind.“ 394 395

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ableiten lassen. Dabei steht wieder der Begriff der ‚kategorischen Hypothetizität‘ im Vordergrund: Es kommt nämlich „darauf an, diese innere Problematizität [des „Soll“ als Quelle des ‚sich selber Erschaffens, Haltens und Tragens‘] zu vernichten, dadurch, dass in ihr selber Kategorizität aufgezeigt werde, und dadurch unsere Einsicht ihrer Wahrheit, Notwendigkeit und absoluten Priorität nach zu rechtfertigen“. 398 Und, das wurde bereits im XX. Vortrag ausdrücklich betont, die ausgezeichnete Instanz jenes Umschlagens von Problematizität bzw. Hypothetizität in Kategorizität ist gerade das ‚Wir‘. Das wird noch einmal untermauert: Das selbst(er)schaffende Soll mit all seinen im XVI. Vortrag aufgewiesenen Bestimmungen ist „identisch mit dem freien Wir“. 399 Und dieses Wir verbindet das Können (Möglichkeit) mit dem Wirklich-Sein (Wirklichkeit). Nota bene: Sehr wichtig sind bei alledem die methodologischen Anmerkungen, die Fichte in diesem Zusammenhang macht. Im II. Vortrag wurde bereits angekündigt, dass die Genetisierung von „A“ durch das „Weder-Noch“ von bloßem Sein und bloßem Denken geleistet wird: Man kann nicht vom bloßen Sein ausgehen, aber auch nicht vom bloßen Denken. Genau das trifft nun auch auf die Genetisierung von Sein des Wissens und Sichgenesis des Wissens zu – nur dass jetzt die Bedeutung des genetischen Verfahrens völlig transparent offengelegt wird. Das Sein besteht in der positiven Negation! Durch die jeweilige Vernichtung und die genetische Vereinigung im Wir werden beide dann nur mittelbar miterfasst. Somit erweist es sich, dass hier – im genetischen Vereinigen (das die Glieder also nur mittelbar vorkommen lässt) – das genuin Schöpferische der Methode liegt. Das transzendentale Wissen ist durch eine Einsicht gekennzeichnet, die eine Form und einen Inhalt hat. Die Form ist die Genesis absoluter Sichgenesis, der Inhalt ist die Gewissheit. Die erstere ist Gegenstand des XXII., der letzte des XXIII. Vortrags. Bezüglich der Form sind insbesondere vier Punkte festzuhalten. Erstens steht hier das neue Soll qua sechzehnte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens im Vordergrund. Zweitens erweist sich darin die Einheit von „Wir“ und „Sein des Wissens“: „Wir wissen oder sind das Wissen.“ 400 Die dabei von uns vollzogene Genesis ist in sich geschlossen, nur „uns“ als Konstruierenden leuchtet sie ein, und zwar unter „absolute Anwendung der Maxime der Sichgenesis“ 401 (was eine idealistische Verfahrensweise kennzeichnet). Drittens fallen auch Faktizität und Genesis ineinander. „Die unmittelbare Faktizität des Wissens ist absolute Genesis.“402 Und viertens zeigt sich der Unterschied dieser Sichgenesis zu 398 399 400 401 402

GA II/8, S. 338. GA II/8, S. 336f. GA II/8, S. 340. GA II/8, S. 342. GA II/8, S. 338.

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Dreiundzwanzigster Vortrag

der des „Von“ (von der im XX. Vortrag die Rede war): Letztere wurde lediglich gesetzt, ihr Prinzip galt es noch zu suchen. Dieses Prinzip wurde nun hier – zumindest erst einmal hinsichtlich der Form – geliefert: Es besteht in der „Genesis des absoluten Wissens in seiner Grundkonstruktion“, in der „Genesis seiner absoluten Sichgenesis“. 403 Den Inhalt dieses Prinzips gilt es, wie gesagt, nun ebenfalls noch abzuleiten. Damit wendet sich Fichte nach einem „idealistischen“ Standpunkt wiederum gleichsam einem „realistischen“ Standpunkt zu. DREIUNDZWANZIGSTER VORTRAG So wie im XXII. Vortrag Sein und Sichgenesis (Licht) der Form nach mittels des „Soll“ abgeleitet wurden, so geschieht das in dem wichtigen XXIII. Vortrag auch dem Inhalt nach. Im ersten Fall ist das vermittelnde Moment das „Wir“, in dem zweiten, nun zu behandelnden, ist es die „Gewissheit“. Hierbei wird das zunächst faktisch aufgestellte „Wir“ durch eben diese, die siebzehnte Grundbestimmung des Wissens ausmachende „Gewissheit“ genetisiert 404 (zugleich wird sich aber auch erweisen, dass die „Gewissheit“ vom „Wir“ bestimmt wird). Zunächst stellt sich die Frage, was die „Gewissheit“ genau bezeichnet und wie es zu ihr kommt.405 Seit dem XXII. Vortrag hat sich Fichte auf den Standpunkt des „transzendentalen Wissens“ erhoben. Dies ist der Standpunkt der Wissenschaftslehre selbst, über ihn wird nicht weiter hinausgegangen (alles Folgende betrifft nur noch dessen Genetisierung). Es ist somit an der Zeit, die genuine Wissensart dieses transzendentalen Wissens anzugeben. Genau darin besteht die „Gewissheit“. Sie ergibt sich daraus, dass von der im Vorigen herausgestellten höchsten – „objektiven“ – Einsicht die Nebenglieder (also Sein und Sichgenesis), als problematisch vorausgesetzt, fallengelassen werden und allein der Gewissheitscharakter jener Einsicht übrigbleibt. (Das erinnert an Kants Analyse des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wo dargelegt wird, dass, wenn man bei der Bestimmung des Willens von sämtlichen Neigungen abstrahiert, allein die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrigbleibt [Fichte gebraucht exakt das gleiche Verb wie Kant]. Die Gewissheit entspricht auf der theoretischen Ebene gleichsam jener apodiktischen Form aller Gesetzlichkeit auf der praktischen Ebene.) Nun gilt es also, den Gehalt der „Gewissheit“ – qua „innerer Gewissheit rein und an sich“ – auseinanderzulegen. Fichte unterzieht dieser eine quasi GA II/8, S. 340. Diese Genetisierung des „Wir“ macht in Wirklichkeit aber nur einen ersten Schritt aus; sie wird im XXVI. Vortrag mittels der zweiundzwanzigsten Grundbestimmung des Wissens abgeschlossen. 405 Am Anfang des III. Vortrags hatte Fichte angegeben, dass die „Gewissheit“ „Wissen“ im Sinne einer „rein für sich bestehende Substanz“ sei (GA II/8, S. 36). 403 404

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phänomenologische Analyse (im Husserl’schen Sinne), deren faktische Voraussetzung im XXIV. Vortrag legitimiert wird. Der Gedankengang ist – trotz der Tatsache, dass die Interpreten häufig die Dunkelheit dieses Vortrags beklagen – klar strukturiert. Fichte geht in vier Schritten vor, wobei der vierte Schritt lediglich in einer erklärenden Wiederholung des dritten Schrittes besteht. Nach der allgemeinen Bestimmung der Gewissheit (dem ‚Was‘), 406 wird die Legitimation dieser Bestimmung (das ‚Wie‘) geliefert; abgeschlossen wird die Analyse der Gewissheit mit einer Aufzählung ihrer spezifischen „Modifikationen“. Erster Schritt. In der Analyse der Gewissheit ist bemerkenswert, dass Fichte einerseits erklärt, was Gewissheit als Gewissheit überhaupt ausmacht, und andererseits darin Bestandstücke der vorigen Analysen, sofern sie die Genetisierung des substanziellen Seins betrafen, zusammenführt. Genauer gesagt, enthält der erste Schritt der Gewissheitsanalyse – das heißt: die Konstruktion der Gewissheit – vier Momente, deren ersten beiden schon im XVI. Vortrag bei der Analyse des „Soll“ und die letzten beiden im III. Vortrag bei der Analyse des „rein Wandelbaren“ aufgetreten waren. 1.) Gewissheit ist Auf-sich-selber-Beruhen. Gewissheit kann nur gedacht werden als „Von sich“ und „Durch sich“ selbst (vgl. oben den Bezug des „Soll“ zur spinozistischen ‚causa sui‘). Wenn etwas gewiss ist, kann es nicht durch etwas dem Gewissen gegenüber Äußeren hervorgerufen werden. Die Gewissheit ruht voll und ganz im Gewissen, im Gewiss-Seienden. 2.) Des Weiteren ist das Gewisse aber auch „unerschütterliches Verbleiben und Beruhen in demselben unwandelbaren Eins“ (was wiederum auf die cartesianische ‚creatio continua‘ verweist) bzw. „reine Unveränderlichkeit“. 407 Wenn das Gewisse seine Gewissheit verlöre, ginge die Gewissheit unmittelbar zugrunde. 3.) Ferner – und damit wird die Brücke zum III. Vortrag geschlagen – ist für die bloße Gewissheit unerheblich, was das Gewisse ist: Sie ist durch „absolute Indifferenz“ 408 gekennzeichnet (genauso wie das für das unwandelbare substanzielle Wissen gegenüber dem einzelnen Gewussten der Fall war). Mit diesen drei Bestimmungen erweist sich, dass die Gewissheit „absolute Qualität“ oder „Was“ (bzw. „reine Form des Was, oder der Qualität überhaupt“) 409 ist, die dadurch ihrer „faktischen Genesis“ zugeführt wurden. 4.) Schließlich kommt der Gewissheit das gleiche gegenseitige Bedingungsverhältnis zu wie „reinem Wandelbaren“ und „Wandelbarem“. 410

406 „Was“ wird hier in seiner allgemeinen Bedeutung gebraucht, auf die Fichte im gesamten Zyklus immer wieder Bezug nimmt. Es darf nicht mit dem spezifischen „Was“ qua „Qualität“ zusammengeworfen werden, auf das der erste Schritt freilich auch abzielt. 407 GA II/8, S. 346. 408 Ebd. 409 GA II/8, S. 348. 410 Das gilt aber auch für das gegenseitige Vermittlungsverhältnis von (altem) Licht und (altem) „Von“ im XIX. Vortrag.

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Durch sie wird das Verhältnis von „Qualität“ und „Quantitabilität“ auf eine völlig neue Art gefasst: Die Qualität ist absolute Negation der Wandelbarkeit und Vermannigfaltigung, rein als solche: d. h. dadurch ist der Begriff, ohne alle Möglichkeit eines weiteren Zusatzes, geschlossen. Klar ist, und es wird hier nur als Zusatz bemerkt, dass durch diese Negation zugleich das Negierte, die Wandelbarkeit, und zwar gleichfalls, rein, und als solche, ohne weitere Bestimmung gesetzt wird: Quantitabilität; durch Qualität, und umgekehrt. 411

Warum „auf eine völlig neue Art“? Weil Fichte unter „Qualität“ das Prinzip der Erscheinung und unter „Quantitabilität“ – was durch die Betonung der Wandelbarkeit als „reiner“ deutlich wird – die seit den ersten Stunden gesuchte ‚Erscheinung der Erscheinung‘ versteht – womit offenbar nicht das konkrete Mannigfaltige, sondern die Genetisierung der Erscheinung gemeint ist. 412 Das bedeutet, dass die Gewissheit als genuine Wissensart der Wissenschaftslehre durch das gegenseitige Bedingungsverhältnis von Prinzip der Erscheinung und ‚Erscheinung der Erscheinung‘ gekennzeichnet ist. Ist die Gewissheit, wenn man die ‚Grundoperation der Genesis‘ qua ‚BegriffLicht-Sein-Operation‘ vor Augen hat, nun eher dem „Sein“ oder dem „Licht“ zuzuordnen? Die vier angegebenen Momente lassen offenbar Rückschlüsse auf beide Glieder der Alternative zu. Aufschluss gibt darüber eine wichtige Bemerkung zum Verhältnis von Gewissheit und kantischem Seinsbegriff. Kants Seinsbegriff besagt, laut Fichte, dass das Sein kein von diesem oder jenem Seienden abstrahierter Begriff ist, sondern zum einen „in sich durchaus [d. h. uneingeschränkt] geschlossen“ und zum anderen „erst die Bedingung und der Träger alles Was“. 413 Für die Gewissheit hält Fichte fest, dass sie diesem Seinsbegriff sehr nahekommt: 414 Sie liegt nicht im Was begründet, sondern begründet selbst das Was. Der erste Punkt (die absolute In-sich-Geschlossenheit des Seins) wurde in der Wahrheits- und Seinslehre bereits aufgestellt. Bezüglich des zweiten Punktes

GA II/8, S. 348. Siehe hierzu die fünfte Genetisierungsstufe. Zwei Lesarten sind hier möglich: Entweder Fichte schließt noch an das Schema (des Abstiegs) aus dem VI. Vortrag an (womit er auch in einer Kontinuität zur Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 stünde) – dann wäre mit „Quantitabilität“ doch das konkrete Mannigfaltige gemeint; oder er wird sich spätestens jetzt der Tatsache bewusst, dass, bevor der Abstieg überhaupt begonnen werden kann, die Genetisierung der Erscheinung qua ‚Erscheinung der Erscheinung‘ geleistet werden muss – dann stünde die „Quantitabilität“ für jene ‚Erscheinung der Erscheinung‘ als Gipfelpunkt der Phänomenologie vor dem Abstieg zum konkreten Mannigfaltigen. Die Kohärenz des gesamten Gedankengangs drängt dazu, der zweiten Lesart den Vorzug zu geben, selbst wenn das einen äußerst ungewöhnlichen Gebrauch des Begriffs der „Quantitabilität“ impliziert. 413 GA II/8, S. 346. 414 Damit bestätigt sich ein weiteres Mal, dass die Gewissheit einem realistischen Standpunkt entspricht. 411 412

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ist Fichte dabei, der empirisch-faktischen 415 Behauptung Kants ihre Genesis zu Teil werden zu lassen: „[…] die Aufgabe, die Erscheinung abzuleiten, wie wir bisher die unseres zweiten Teils genannt haben, oder die Washeit, Qualität abzuleiten, oder den aufgestellten Satz vom ‚Esse‘ vollständig in seinen beiderlei Bestimmungen zu beweisen, ist ganz dasselbe.“ 416 Daraus ergeben sich zwei Hauptthesen: 1.) Die Aufstellung der Gewissheit entspricht der des Prinzips der Erscheinung, womit der Inhalt des transzendentalen Wissens (nämlich die Gewissheit qua Was) geliefert wird: Inhalt des transzendentalen Wissens = Gewissheit = Was = Prinzip der Erscheinung Und damit wird 2.) deutlich, dass die Gewissheit dem (neuen) „Von“ – also der „Urerscheinung“ – zugrunde liegt, mit anderen Worten: Die Gewissheit genetisiert das „neue Licht“ (somit wird verständlich, warum im dritten Schritt von den „Hauptmodifikationen des „Urlichtes“ die Rede sein wird – auch wenn Fichte zuvor den Begriff des „Urlichtes“ nicht für das „neue Licht“ gebraucht hatte). Um also auf die Frage zu antworten, ob die Gewissheit Licht oder Sein ist: Sie ist das ursprüngliche Licht, das mit dem lebendigen Sein zusammenfällt. Damit ist das gesuchte Prinzip der Ableitung der Erscheinung gefunden. Zweiter Schritt. Der zweite Schritt besteht (durch „Achthaben auf die Verfahrungsweise“) in der Genetisierung und Legitimation der im ersten Schritt vollzogenen Konstruktion der Gewissheit. Diese Legitimation besteht in der Aufweisung des Zusammenfallens von Form und Inhalt des transzendentalen Wissens, also von „Wir“ und „Gewissheit“: Die Konstruktion des Was ist durchaus unveränderlich, und bei allen ihren unendlichen Wiederholungen nur auf die Eine beschriebene Weise durch absolute Negation der Wandelbarkeit möglich: wir erblicken uns daher selber so, wie wir die Gewissheit beschrieben haben, als unveränderlich verharrend in demselben Einen Was der Konstruktion; wir sind, was wir sagen, und sagen, was wir sind. 417

Damit wird an einen früheren Gedanken angeschlossen, wonach die Identitätssetzung nicht ohne das „Ich“ bzw. „Wir“ möglich ist. Dieser Gedanke ist schon im ersten Teil zur Sprache gekommen (zwischen dem X. und XII. Vortrag), vor allem seit dem XV. Vortrag aber ist er allgegenwärtig. Das performative Aufgehen von Sagen in Tun und Tun in Sagen war zudem im XIX. Vortrag ein entscheidender Schritt hin zur Erkenntnis, dass das Wir die reine Vernunft ist. Es ist 415 Fichte spielt darauf an, dass dem Realen der Empfindung bei Kant das ‚Sein‘ zugrunde liegt bzw. zugrunde liegen muss. 416 GA II/8, S. 347. 417 GA II/8, S. 348 (hervorgehoben von A.S.).

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also festzuhalten, dass, „[d]ie Gewissheit ist in sich selbst begründet, zugleich heißt: sie ist absolut, immanent, in sich selbst geschlossen, und kann nie aus sich herausgehen: sie ist in sich selber Ich; gerade also, wie oben [im XV. bzw. XVI. Vortrag] derselbe Beweis an der Form des Seins geführt wurde“. 418 Dritter und vierter Schritt. Im dritten sowie in dem ihn wiederholenden vierten Schritt werden nun die drei Grundbestimmungen (= „Modifikationen“) der Gewissheit bzw. des ursprünglichen Lichts („Urlicht“) – qua ‚Ich‘ oder ‚Wir‘ – als in sich geschlossener Einheit und lebendigem Prinzip, das nicht beschrieben, sondern nur vollzogen werden kann, aufgezählt. 419 Dabei sind die drei Grundbestimmungen nicht gleichgestellt. Es kommt auf die erste und die dritte an (sie entsprechen den beiden abzuleitenden Seitengliedern der Sichgenesis und des Seins), während die zweite lediglich unmittelbar aus der ersten folgt: 1.) Gewissheit ist je Gewissheit von etwas. Dieser entäußernde Bezug ist aber von anderer Art als der gewöhnliche intentionale (gleichfalls entäußernde) Bewusstseinsbezug (wenn Husserl etwa sagt, Bewusstsein sei immer „Bewusstsein von etwas“). Denn im Bezug der Gewissheit wird nicht auf ein Objekt Bezug genommen, sondern auf die Gewissheit selbst. Die die Gewissheit kennzeichnende „Äußerung“ ist eine „immanente“, „unmittelbare“ – und dadurch ist sie Anschauung, die im „Wir“ selbst statthat. Fichte bezeichnet sie als projizierende Anschauung oder als intuierendes Projizieren. Aber, wie soeben betont wurde, dieses Projizieren geht nicht auf ein „Objekt“, sondern auf die Gewissheit selbst – dadurch ist es ein „Prinzipiieren“. Dieses ist „ursprünglich“, „immanent“ und „real“ und somit ein Faktum. 2.) Gewissheit ist ferner, wie das aus der vorigen Bestimmung bereits hervorgeht, ein Sichprojizieren – nicht als objektives Ich, sondern innerlich als Leben. Dadurch ist sie absolut immanentes Selbstprinzipiieren, weiterhin als Anschauung und in der Anschauung. 3.) Gewissheit ist schließlich Sichprojizieren des Sichprojizierens, wodurch sie zur objektiven Gewissheit wird. Anders ausgedrückt, sie ist Anschauung der Anschauung, d. h. – einer Auffassung zufolge, die Fichte einmal mehr bereits in der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 in Bezug auf das Wesen des Seins vertreten hatte – Sein. 420 Hierfür kommen noch einmal der hiatus irrationalis und der hiatus rationalis ins Spiel. Der letzte – für den Fichte eher den Begriff der „Transsubstantiation“ als den des „hiatus“ als angemessen ansieht – kennzeichnet das „Projizieren überhaupt“ (also die erste Hauptbestimmung), das die Intuition zu einer Intuition macht; der erste charakterisiert die Anschauung der Anschauung (d. h. die dritte GA II/8, S. 350. GA II/8, S. 350ff. 420 Diese drei „Modifikationen“ erinnern an die drei ‚Bilder‘ oder ‚Schemata‘ in Fichtes später Bildlehre (siehe auch den XXV. Vortrag). 418 419

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Hauptbestimmung) als „stehende Intuition“ (= Grund von Sein und Objektivität). Halten wir also fest: Die drei Hauptmodifikationen der Gewissheit sind 1.) Projizieren als Anschauung (= erstes Glied), 2.) SICHprojizieren als Anschauung und 3.) Anschauung der Anschauung = Sein des Wissens (zweites Glied). 421 „Und so haben wir denn,“ beschließt Fichte diesen bedeutsamen Vortrag, „die beiden Seitenglieder, die nur problematisch dastanden, aus der tieferen Einsicht in das Wesen ihres Zusammenhangs, der Gewissheit abgeleitet.“ 422 Die Sichgenesis leitet sich aus dem Projizieren und das Sein aus der Anschauung der Anschauung ab. Die Frage ist, wie es – schon im ersten Glied – zum „realen Projizieren“ oder „Prinzipiieren“ kommt. Das herauszustellen ist die Aufgabe des folgenden Vortrags. VIERUNDZWANZIGSTER VORTRAG Im XXIII. Vortrag wurde die Gewissheit qua Wissensart oder Wissensform des transzendentalen Wissens entwickelt – allerdings zunächst bloß in Form einer „Voraussetzung“, nämlich dass sie grundsätzlich „Projizieren“ und dann „Prinzipiieren“ sei, auf Grundlage welcher Voraussetzung dann die drei (bzw. zwei) Modifikationen (bzw. Hauptbestimmungen) der Gewissheit hingestellt und abgeleitet wurden. Der XXIV. Vortrag macht es sich zur zweifachen Aufgabe, 1.) diese Voraussetzung ihrerseits zu rechtfertigen – mit anderen Worten, es geht darum aufzuzeigen, dass jenes Projizieren und Prinzipiieren keiner Willkür unterliegt, sondern Notwendigkeit in sich trägt – und 2.) den genetischen Zusammenhang zwischen den beiden Hauptbestimmungen darzulegen. Dieser genetische Zusammenhang wird durch das Gesetz (= achtzehnte Grundbestimmung des Wissens) – und dann, in einer weiteren Genetisierung, durch das „Gesetz des Gesetzes“ überhaupt (= neunzehnte Grundbestimmung des Wissens) – hergestellt. Fichte erläutert nämlich, dass jene Notwendigkeit „faktisch“ sein müsse, was dann auch nach der dazu gehörigen Genesis verlangt. In diesem Vortrag werden demnach zwei neue Grundbestimmungen des Wissens geliefert. Diese faktische Notwendigkeit hatte sich in den ersten beiden Hauptbestimmungen des Urlichtes bereits gezeigt: Man kann vom Licht nur etwas projizieren bzw. es kann sich selbst nur projizieren (Fichte spricht – eine „Erläuterung aus der Logik“423 beisteuernd – von einer „Selbstprädikation“), wenn eine ursprüngliche 421 Es scheint fraglich, dass diese drei Hauptmodifikationen als „Projizieren“, „Intuieren“ und „Intelligieren“ aufgefasst werden können, wie das jüngst behauptet wurde (siehe hierzu die sonst vortreffliche Abhandlung von S. Schüz, Transzendentale Argumente bei Hegel und Fichte. Das Problem objektiver Geltung und seine Auflösung im nachkantischen Idealismus, op. cit., S. 398). 422 GA II/8, S. 356. 423 GA II/8, S. 360.

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reale Projektion vollzogen wird, die überhaupt erst Anschauung oder Intuieren möglich macht. Anders ausgedrückt: „Soll das Wissen Etwas von sich prädizieren, so muss es sich überhaupt schlechthin projizieren.“ 424 Dieses Selbstprojizieren wurde bereits mit einer „Transsubstantiation“ 425 bzw. dem „hiatus realis“ erklärt. Diese Einsicht erweist sich jetzt aber als eine bloß bedingte, was – gegenüber dem Ansatz des XXIII. Vortrags – das Neue des vollzogenen Schrittes ausmacht. Genauer gesagt: das Faktische wird durch ein Genetisches bedingt, mit dem es in einem (vorher bereits angetroffenen) konstitutiven Wechselverhältnis steht. Dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis bedarf wiederum eines „Soll“. Dabei kommt ein vermittelndes Glied ins Spiel, ein „medius terminus“, 426 den es aufzusuchen gilt, um jedem philosophischen System – und dabei natürlich insbesondere der Wissenschaftslehre – jene Kategorizität zu liefern, die notwendig ist, damit es nicht in einen „bodenlosen Skeptizismus versink[t]“. 427 Es geht dabei offenkundig um die bereits angesprochene ‚kategorische Hypothetizität‘, deren kategorische Seite hier zur Aufklärung gebracht werden soll. Fichte betont, dass das in Anspruch genommene „Soll“ wiederum ein anderes „Soll“ als alle vorigen ist. Zuletzt war – in der im XXII. Vortrag aufgewiesenen sechzehnten Grundbestimmung – das „Soll“ Prinzip einer „Sichkonstruktion“, welche die genetische Einsicht der Einheit von Sichgenesis des Wissens und Sein des Wissens liefern sollte. Im XXIII. Vortrag wurde das Sein des Wissens auf die „stehende Intuition“ (= dritte Grundbestimmung des Urlichtes) zurückgeführt. Ihr Zusammenhang mit dem ebenfalls im XXIII. Vortrag aufgestellten „inneren und realen Sichprojizieren“ (= erste Hauptbestimmung des Urlichtes) muss allerdings noch hergestellt werden. Und genau das ist die Funktion dieses neuen „Soll“. Worin besteht jenes „Mittelglied“, das reales Sichprojizieren und stehende Intuition miteinander vermittelt und dadurch die „faktische Notwendigkeit“ genetisiert? Zunächst weist Fichte darauf hin, dass die Lösung (= die Herstellung des Zusammenhangs) in der Aufgabenstellung gewissermaßen bereits angelegt und so auch unmittelbar einsichtig zu machen ist. Die Aufgabenstellung betrifft die Frage, wie der Zusammenhang zwischen realem Sichprojizieren und stehender Intuition hergestellt werden kann. Nun ist die Selbstprädikation Selbstprojizieren durch die stehende Intuition (= dritte Hauptbestimmung), die ihrerseits das Sichprojizieren überhaupt (= erste Hauptbestimmung) zur Voraussetzung hat. Das Bedingte, zu Erweisende, die Möglichkeit der stehenden Intuition, ist also seinerseits (bzw. ihrerseits) Bedingung für das Bedingende, nämlich das, was die faktische Notwendigkeit des Sichprojizierens in der Selbstprädikation begründet. Diese Einsicht ist 424 425 426 427

GA II/8, S. 370. GA II/8, S. 354. GA II/8, S. 366. GA II/8, S. 360.

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gegeben. Von hier aus ist es nun möglich, den gesuchten „medius terminus“ zu bestimmen. Das transzendentale Wissen wurde bisher auf seine Form (Wir) und seinen Inhalt (Gewissheit) untersucht. Bezüglich des Inhaltes wurde festgestellt, dass er – also die Gewissheit – in der genuinen Wissensart oder Wissensform des transzendentalen Wissens besteht. Diese hat nun auch ihre ihr eigene Gesetzmäßigkeit. Sie offenbart sich als achtzehnte Grundbestimmung des Wissens, wenn auf die gerade dargestellte Einsicht reflektiert wird. Der Zusammenhang von realem Sichprojizieren und stehender Intuition lässt sich in der Tat einsichtig machen – dabei ist ein Glied dessen, was in den Zusammenhang gebracht werden soll, nämlich die stehende Intuition, die Bedingung des sie selbst bedingenden Zusammenhangs (darin besteht das gerade aufgewiesene wechselseitige Bedingungsverhältnis). Diese Einsicht impliziert eine vom Ich (= dem Wissenschaftslehrer) projizierte Einheit, die durch sich selbst bestimmt ist und mit dem sie konstruierenden Ich zusammenfällt. Ihr Inhalt besteht in dem inneren Zusammenhang von Faktizität und Notwendigkeit, der im § 1 der Grundlage als „X“ bezeichnet wurde und wovon im XX. Vortrag bereits ausführlicher die Rede war (und zwar in einem ganz ähnlichen, ebenfalls das „Ich“ ins Spiel bringenden Kontext). Entscheidend ist in diesem XXIV. Vortrag, dass Faktizität und Notwendigkeit sich gegenseitig bedingen und in einem wechselseitigen Prinzip-Prinzipiats-Verhältnis zueinander stehen – und zwar „im selben Schlage“. Fichte bezeichnet hier das Prinzipiat als „Faktum“ und das Prinzip als „Gesetz“. 428 Das Ich projiziert aber nicht nur jene Einheit, wodurch sich „das Wissen schlechthin und unveränderlich ohne alle Ausnahme“429 konstituiert, es ist auch dieses Wissen selbst. Das Ich, qua Wissenschaftslehrer, und das Wissen durchdringen sich und sind eins. Für dieses, auf diese Art aufzufassende Wissen (das sich als unveränderlich eines erweist, wie das auch vorher schon aufgezeigt wurde) gilt, dass sowohl eine faktische Projektion seinem Gesetz folgt, als auch dass dieses Gesetz selbst nach dem Gesetz projiziert wird. Zu diesem Gesetz bemerkt Fichte an: Aber wir kennen auf der Höhe unserer Spekulation durchaus kein anderes Gesetz, als das Gesetz der Gesetzmäßigkeit selber, dass es projiziert werde nach dem Gesetz; und so gerade hat es sich uns auch oben faktisch ausgedrückt; wir haben daher auch über diesen materialen Punkt hier nichts weiter getan, als hinzugesetzt, dass dieses Projizieren nach dem absoluten Gesetz geschähe. Wir haben daher die oben faktisch erzeugte Einsicht […] durch Anwendung ihrer eigenen materialen Aussage auf ihre Form, selber wiederum genetisch abgeleitet […]. 430 428 429 430

GA II/8, S. 362. Ebd. GA II/8, S. 362f. (hervorgehoben vom Verf.).

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Die ‚oben faktisch erzeugte Einsicht‘ betrifft die Einsicht der faktischen Notwendigkeit. Sie enthält qua Notwendigkeit ein Gesetz, das sich als das „Gesetz der Gesetzmäßigkeit“ selbst erweist, das die neunzehnte Grundbestimmung des Wissens ausmacht. Die „eigene materiale Aussage“ 431 ist die der (faktischen) Notwendigkeit, und diese wird auf ihre Form, nach einem Gesetz zu verfahren, angewendet. Und daraus ergibt sich jenes Gesetz der Gesetzmäßigkeit oder schlicht: das „Gesetz des Gesetzes“.432 Der „medius terminus“ zwischen Faktum (faktischer Notwendigkeit) und (genetischer) Notwendigkeit ist gefunden. Damit ist aber keinesfalls gesagt, dass es sich schlicht um die Anwendung einer formalen Gesetzlichkeit oder Gesetzmäßigkeit handeln würde. Denn dieses Gesetz geht nicht nur vom Faktum aus, das es, wie gesagt, zu genetisieren gilt, sondern es besteht ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, wodurch die „Wahrheit in sich zurückläuft“, 433 was einzig und allein gewährleisten kann, dass das philosophische System ein Ende hat (es wird an die obige Bemerkung zur ‚Kategorizität‘ angeschlossen und die Frage, wie der „bodenlose Skeptizismus“ vermieden werden kann, weiter erläutert). Seit dem IV. Vortrag wurde in Bezug auf die Methode immer schon zwischen zwei Arten des Verfahrens unterschieden. Diese Unterscheidung konnte Form und Inhalt betreffen oder auch „Prinzip“ bzw. „Träger“ einerseits und „Stellvertreter“ oder „Abbild“ davon andererseits einander entgegensetzen. Mit der Erläuterung verschiedener Formen von „Idealismus“ und „Realismus“ kam noch eine andere Unterscheidung auf: die von äußerer Entgegensetzung und innerer Entgegensetzung von jeweils einer ‚subjektiven‘ und einer ‚objektiven‘ Seite, die Fichte auch an die Auffassung eines ‚getöteten‘ und eines ‚lebendigen‘ SubjektObjekt-Bezugs 434 anlehnt. Äußerlichkeit, Entäußerung ist Tod, Leben ist nur die Innerlichkeit. Im letzten Schritt des XXIV. Vortrags deuten diese verschiedenen Verfahrensweisen auf eine gemeinsame Einheit, die aber – aus Gründen, die gleich offengelegt werden – an dieser Stelle noch nicht gezeigt werden kann. Fichtes Argumentation verläuft dabei wie folgt: Das Wesen des Wissens wird nach dem absoluten Gesetz projiziert. Dabei haben wir einen Akt des Projizierens. Fichte unterscheidet zwischen „äußerer Form“ und „innerer Materie“435 jenes Wesens des Wissens (qua Licht). Die äußere Form (des Lichtes) ist objektivierend und in der Projektion (bzw. in gewisser Weise die Projektion selbst); die GA II/8, S. 364. Ebd. Fichte fügt an gleicher Stelle hinzu: „Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass dieses [scil. das Gesetz des Gesetzes oder der Gesetzmäßigkeit] das absolute Gesetz sein werde, wie denn auch der Akt, den wir nach ihm vollzogen, der höchste unmittelbar gesetzmäßige der Wissenschaftslehre ist.“ Zur Bedeutung dieses Satzes, siehe unten. 433 Ebd. 434 Wobei sich auf der Seite des lebendigen Subjekt-Objekt-Bezugs „zwei Formen des Lebens“ ausmachen lassen (GA II/8, S. 368). 435 GA II/8, S. 364. 431 432

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innere Materie (des Lichtes) ist durch die Durchdringung von Akt und Gesetz ausgezeichnet und ohne Projektion. Und beide bedingen sich ‚in einem Schlage‘ gegenseitig. Der grundlegende Unterschied zwischen äußerer Form und innerer Materie des Lichtes, zwischen Wissen in der Projektion und Wissen ohne Projektion besteht darin, dass die Projektion ein lebendiges Projizieren ist, das sich als absolutes Beschreiben darstellt, welches je neu ansetzt, während der durch das absolute Gesetz bestimmte Inhalt immer derselbe bleibt. Dabei ist das Beschreiben Nachkonstruktion gegenüber einer Vorkonstruktion des durch das Gesetz bestimmten Inhalts – oder anders gesagt: Es ist Bild eines dem Gehalte nach identischen Inhalts. Diese Identität ‚dem Gehalte nach‘ bedeutet, dass das Bild die „Wahrheit“,436 also den Inhalt selbst, zwar in keiner Weise tangiert und nicht einmal von einer Beziehung darauf gesprochen werden kann. Wohl aber spaltet sich das Wissen selbst, wie soeben dargelegt wurde, in „ursprüngliches“ Urbild (= Wahrheit) und „nachkonstruiertes“ Nachbild bei Identität des Inhaltes und unterschiedlicher Form beider. In jener Identität des Inhaltes besteht die „qualitative Einheit“ 437 von Urbild und Nachbild. Offenbar wurde das alles aber nur beschrieben, d. h. seinerseits von uns konstruiert. Das bedeutet, dass der gesamte Hauptgedanke dieses Vortrags auf einem Faktum gründete – ohne Gesetz, weshalb dieses Faktum gar nicht gerechtfertigt werden könnte. Das Ganze wäre nur von uns ausgesagt, ausgesprochen, ohne dass dabei Gesetz und Sein zusammenfielen. Die Urkonstruktion wäre selbst bloß Nachkonstruktion. Es muss daher ein scheinbar noch höherer Standpunkt gesucht werden, um die disjungierten Glieder – Inhalt und Bild – zu vereinigen. 438 FÜNFUNDZWANZIGSTER VORTRAG Der XXV. Vortrag gehört ebenfalls zu den systematisch bedeutendsten dieses zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804. Er ist einer der wenigen, der zwei Grundbestimmungen des Wissens enthält und dabei der einzige, in dem die erste Grundbestimmung des Wissens einer Genetisierungsstufe auf die letzte der vorangehenden Genetisierungsstufe folgt. Zum einen wird darin Fichtes Bildlehre

GA II/8, S. 366. Ebd. 438 Es muss dabei gezeigt werden, dass es sich nicht um „die äußere Disjunktion zwischen einem Subjekte und Objekte“ handelt, „welche durch völlige Aufhebung der stehenden Form der Projektion und Objektivität wegfiel, wohl aber [um den] innere[n] lebendige[n] Unterschied zwischen beiden; zwei Formen des Lebens“ (GA II/8, S. 369). Wie oben angedeutet, werden wir auf eine ‚innere‘ Entgegensetzung von einer subjektiven und einer objektiven Seite stoßen. Bei dieser wird sich das Gesetz als mit dem Sein bzw. dem Wir zusammenfallend erweisen, was in der letzten Grundbestimmung des Wissens eben nicht zutraf. 436 437

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entworfen; zum anderen kommt in ihm auch schon das „gesamte Resultat“ 439 der Fichte’schen Erscheinungslehre zum Ausdruck. In der Bildlehre wird deutlich, worin das „absolute Wissen“ ursprünglich besteht, und es wird gezeigt, wie es mit dem „Wir“ zusammenfällt. Jenes „gesamte Resultat“ besteht in der Ausformulierung des höchsten Prinzips der Phänomenologie. Im XXV. Vortrag wird demnach der Artikulationspunkt der höchsten Genesis des Prinzips der Seinslehre im absoluten Wissen einerseits und des Prinzips der Erscheinungslehre andererseits anvisiert. Zugleich wird deutlich, welcher Abgrund die Wissenschaftslehre qua Wissenschaftslehre, die das transzendentale Wissen zum Thema hat, von der ‚Wissenschaftslehre in specie‘, die den Übergang zur konkreten Mannigfaltigkeit sicherstellt, trennt. Der ganz am Ende des vorigen Vortrags angedeutete Schein ist tatsächlich nur ein Schein. Der Anschein einer neuerlich von uns vollzogenen Nachkonstruktion, die ein neues Faktum voraussetzte, wird dadurch aufgelöst, dass gezeigt wird, wie ein (freilich nur allererster) Ansatz einer Bildlehre am Werk ist, die den höchsten Standpunkt des Wissens kennzeichnet. Und dies ist auch notwendiger Weise so, da damit das „absolute Wissen“ seinem Inhalt nach endgültig feststeht. Was ist die Quintessenz der Bildlehre in der Wissenschaftslehre von 1804/II? Auch in ihr ist noch einmal sowohl ein realistischer als auch ein idealistischer Standpunkt enthalten; wie das dann insbesondere auf der fünften und letzten Genetisierungsstufe der Erscheinungslehre offenbar wird, verschränken sich Realismus und Idealismus darin und gehen in einer höheren Einheit auf. Ausgangspunkt war zunächst das ursprüngliche Projizieren. Dies führte auf ein notwendiges Gesetz. Dieses Gesetz wird idealiter konstruiert und realiter vorausgesetzt und sodann in seiner spezifischen Gesetzmäßigkeit aufgewiesen. Sofern es sich dabei um ein Projizieren, eine Projektion, handelt, sind hier ipso facto Nachkonstruktion und Bildcharakter im Spiel. Aber von Bild kann nur die Rede sein, wenn es ein Abgebildetes gibt, die Nachkonstruktion verweist notwendig auf eine Vorkonstruktion (es gibt kein ‚Nach‘, wenn ihm kein ‚Vor‘ vorausgeht). Fichte wird später sagen: Damit die Vorkonstruktion, das Urbild, überhaupt aufscheinen kann, muss die Nachkonstruktion, das (Nach)bild, vernichtet werden. Und was ist das Abgebildete bzw. das Vorkonstruierte? Es ist gerade das zur Sprache kommende Gesetz. Dass hier das Bild im Spiel ist, heißt aber nicht, dass wir diesen ganzen Prozess von außen betrachteten, sondern dass das im vorhergehenden Vortrag aufgewiesene Mich-Ergriffen-Haben des Gesetzes440 nur in dem Bild und als Bild stattfinden kann. Wir stehen somit im Bild als Bild. Und das kontaminiert auch die Selbstsetzung des Gesetzes in seiner Gesetzmäßigkeit: „Das Gesetz selber setzt sich in uns

439 440

GA II/8, S. 378. GA II/8, S. 362, Z. 26f.

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selbst.“ 441 Und das bedeutet, dieser Punkt ist entscheidend, dass dadurch die reale Voraussetzung des Gesetzes deduziert wird. Das Selbstbilden des Bildes und das Setzen des Gesetzes gehören intrinsisch zusammen und verweisen je aufeinander. An dieser, für die Wissenschaftslehre von 1804/II entscheidenden Stelle gehen der idealistische und der realistische Standpunkt in einer ursprünglichen Einheit auf. Der eigentliche Standpunkt des Wissens ist also in der Tat nicht die ursprüngliche Vorkonstruktion und auch nicht die Nachkonstruktion, sondern das „Bild als Bild“. 442 Darin entsteht dem Wissen „durch ein inneres Gesetz das Setzen eines Gesetzes“. 443 Damit werden schließlich x, y, z sowie A, S und D noch auf eine weitere Weise bestimmt: x = stehendes objektives Bild; z = stehendes objektives Gesetz; y = Wesen des Bildes (Licht) qua absolute Einheit, sowie: S = immanentes, in sich geschlossenes Bild; D = emanentes Bilden; A = Licht qua lebendiges Bilden bzw. qua Projizieren des Gesetzes. Das Verhältnis von Vor- und Nachkonstruktion ist demnach ein deutlich anderes als im XXIV. Vortrag. Während dort Vor- und Nachkonstruktion eine qualitative Einheit bildeten, gehen sie nun eine wesentliche, innere Einheit ein, in der Bild und Gesetz eines Bildes (bzw. Bild und GesetzSetzen) sich wechselseitig bestimmen. 444 Damit ist aber auch der Übergang zur Qualität – und letztlich auch zur als konkrete Realität verstandenen Quantitabilität – gar nicht mehr möglich. Wir werden auf die Konsequenzen, die daraus folgen, gleich zurückkommen. Fichte kann nun den Grundgehalt der Bildlehre – in der wie auch in den späten Wissenschaftslehren drei Arten von ‚Bildern‘ (bzw. ‚Schemata‘) zum Tragen kommen – im Herzen der Erscheinungslehre zusammenfassen: Das mit dem Wir zusammenfallende absolute Wissen ist erstens „im Bilde“, 445 zweitens setzt es sich als Bild (was auch die Vernichtung der ersten Bildsetzung [des Setzens im Bilde] impliziert) und drittens lässt es zur Entdeckung des Bildes überhaupt ein Gesetz des Bildes (= zwanzigste Grundbestimmung des transzendentalen Wissens) zum Vorschein kommen. 446 Damit sind die drei Grundmomente der Bildlehre herausgestellt, die auch für die späteren Ausarbeitungen der Bildlehre maßgeblich bleiben werden. *

GA II/8, S. 372. Ebd. 443 GA II/8, S. 373. 444 Diese beiden Einheiten verweisen auf jene, die im III. Vortrag als „rein Unwandelbares“ und „rein Wandelbares“ zum ersten Mal aufgetreten waren. Die Herausstellung der Einheit und Disjunktion dieser beiden Arten der Einheit von Vor- und Nachkonstruktion stellt eine wesentliche Aufgabe dar, die auf der fünften Genetisierungsstufe gelöst werden muss. 445 GA II/8, S. 374. 446 Ebd. 441 442

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Mit dem auf diese Art aufgestellten absoluten Wissen, das die mit dem ‚Wir‘ zusammenfallende Einheit von Bild und Gesetzmäßigkeit ableitet, 447 ist, wie gesagt, der Weg zur Mannigfaltigkeit des konkreten Lebens abgeschnitten. Zu einem solchen Abbruch kam es bereits im X. und auch im XX. Vortrag (in Bezug auf ‚0‘). Hier wirkt er sich am radikalsten aus, da er die Schnittstelle zwischen der Wissenschaftslehre als absolutem Wissen und der Wissenschaftslehre als besonderem Wissen markiert. Wenn jener Weg abgeschnitten ist, stellt sich die Frage, wie der besagte Übergang doch möglich sein kann. Mit anderen Worten, es geht um die Frage, wie es trotz jenes nicht weiter zu beschreitenden Weges doch zum besonderen Wissen kommen kann. Es lässt sich eine sehr bedeutsame – und bisher offenbar noch nie bemerkte – Parallele zwischen dem ersten und dem zweiten Teil dieser Fassung der Wissenschaftslehre aufzeigen. Die beiden ersten Genetisierungsstufen stellten die fundamentale Fünffachheit lediglich faktisch auf und die verschiedenen Spielarten des Realismus und Idealismus vor, um dann gewisser Weise ‚in einem Schlag‘ den Grundsatz der Seinslehre aufzustellen. Genau dasselbe Verfahren kennzeichnet auch die Erscheinungslehre! Wie Fichte ausdrücklich anmerkt, sind die genetischen Konstruktionen zwischen dem XVI. und diesem XXV. Vortrag ihrerseits „faktisch und artifiziell“. 448 Erst jetzt kann das Werden hin zum absoluten Wissen in seiner Genesis – und zwar wiederum ‚in einem Schlage‘ – eingesehen werden. Die Erscheinungslehre hat also an ihrem höchsten Punkt eine spezifische „Einsicht“, 449 welche die Bedingung der Möglichkeit des besonderen Wissens ausmacht und von dort erst letztlich die ‚Wissenschaftslehre in specie‘ beginnen lassen kann. Worin besteht diese Einsicht? Die gesuchte Einsicht, die zugleich auch die fünfte und letzte Genetisierungsstufe eröffnet, ist die Einsicht der Genesis des wirklichen Daseins und Erscheinens des absoluten Wissens in uns. Wie ist diese Genesis zu erlangen? Fichte macht einmal mehr auf ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis aufmerksam. Die beiden Glieder dieser Reziprozität sind: das Zur-Wissenschaftslehre-Kommen-Sollen oder das Zum-absoluten-Wissen-Kommen-Sollen einerseits (= ‚absolutes Wissen‘); das faktische Bestehen im Leben, also die Erscheinung oder das Dasein des absoluten Wissens (= ‚besonderes Wissen‘) andererseits.

447 Die Disjunktion von Gesetz und Bild wird aus der Einheit des absoluten Wissens erklärt (und umgekehrt). 448 GA II/8, S. 376. 449 Daraus wird deutlich, dass auch die Phänomenologie ein eigenes ‚A‘ und entsprechende Disjunktionsfundamente aufweist.

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Wenn man das zur Begriff-Licht-Sein-Operation in Beziehung setzt, Licht (Ab)setzung

Setzung

Sein

Vernichtung Begriff

wird offenbar, dass, während in der Seinslehre das Sein gänzlich isoliert wird (siehe den XV. Vortrag), Sein hier in der Erscheinungslehre 450 allein der gegenseitige Bezug von absolutem Wissen und Erscheinung festgehalten wird (in dem dann auch ein neuer Seinsbegriff – nämlich in seiner Identität mit dem Bild – hervortreten wird): absolutes Wissen Setzung

Vernichtung Erscheinung

In der einen Richtung des Bedingungsverhältnisses heißt es dann: Dass das absolute Wissen sein soll, ist der Grund für das Dasein des absoluten Wissens. In radikalster Verdichtung: ‚Das Dasein ist durch das Soll des Seins.‘ 451 In der anderen Richtung wird deutlich, dass die genetische Erzeugung des absoluten Wissens „nur unter Bedingung [der] Bestimmungen des Wissens […] im Leben“ 452 vollzogen werden kann, dass also das Dasein des absoluten Wissens seinerseits das absolute Wissen bedingt. Diese gegenseitig bedingte Zweiheit von absolutem Wissen und Dasein des absoluten Wissens – deren Ausgestaltung Gegenstand der Genetisierung der 450 Obwohl Fichte das nirgends ausdrücklich bemerkt, wird deutlich, dass insgesamt zwei Begriffe der ‚Erscheinungslehre‘ auszumachen sind. Die ‚Erscheinungslehre‘ im ‚engen‘ Sinne betrifft ausschließlich das gegenseitige Vermittlungsverhältnis von ‚absolutem Wissen‘ und ‚Erscheinung‘; die ‚Erscheinungslehre‘ im ‚weiten‘ Sinne, mit der die Wissenschaftslehre (jedenfalls im zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804) zusammenfällt, umfasst die ‚Erscheinungslehre im engen Sinne‘ und die ‚Seinslehre‘. 451 Wenn dagegen mit dem „Sein“ des absoluten Wissens nicht seine Existenz, sondern ausdrücklich sein Wesen gemeint sein sollte, würde der Satz zu: Das Dasein ist durch das Soll des Wesens. 452 GA II/8, S. 378.

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Erscheinung ist – hat wiederum einen Einheitspunkt. Dieser Einheitspunkt (der in Wirklichkeit ein Einheits- und Disjunktionspunkt und die erste Grundbestimmung der fünften Genetisierungsstufe ist) lautet: absolute POSITION der Genesis des DASEINS des ABSOLUTEN WISSENS. Diese „Position“ ist das „A“ der ‚Wissenschaftslehre in specie‘; das absolute Wissen und das Dasein des absoluten Wissens sind seine beiden Disjunktionsfundamente. Dadurch stellt sich heraus, dass der höchste Punkt – und zugleich der Einheits- und Disjunktionspunkt von ‚absolutem Wissem‘ und ‚besonderem Wissen‘ – die ‚Wissenschaftslehre in specie‘ ist. In ihr und mit ihr wird die ‚Erscheinung‘ qua ‚Erscheinung der Erscheinung‘ abgeleitet. So hoch die Bedeutung der Phänomenologie bzw. der ‚Wissenschaftslehre in specie‘ für den Übergang zur Mannigfaltigkeit des konkreten Lebens auch sein mag – wahren „Wert“ hat laut Fichte jedoch nur das absolute Wissen der Wissenschaftslehre selbst.453 „Weg“ (‚Wissenschaftslehre in specie‘) und „Wert“ (Wissenschaftslehre qua Wissenschaftslehre) fallen nicht zusammen, sondern bleiben strikt getrennt. 454 Und daran ändern auch gegenteilige Ansichten des Zeitalters nichts. Auf letztere geht Fichte am Ende des Vortrags kurz ein. Er macht darauf aufmerksam, dass sie nicht nur seiner eigenen Wissenschaftslehre, sondern auch der Grundlehre des Christentums, die in seiner „Quelle“ und „Urkunde“455 – nämlich dem hier nicht ausdrücklich erwähnten Johannes-Evangelium im Neuen Testament 456 – mit der Wissenschaftslehre übereinstimme, radikal entgegenstehen. Ein Vergleich zwischen Wissenschaftslehre und christlicher Lehre vermag auf Fichtes Grundposition ein zusätzliches Licht zu werfen. In der ersten Vorlesung der Anweisung zum seligen Leben wird Fichte darauf hinweisen, dass das, was das Christentum „Glaube“ nennt, dem entspricht, was er als „Denken“ oder „Gedanken“ 457 bezeichnet, und wodurch der Bezug zum göttlichen Einen gesichert wird. Mit anderen Worten, und das wird bereits hier geltend gemacht, der „Glaube“ allein ermöglicht die Erkenntnis des Übersinnlichen. Diese Erkenntnis ist in dieser Fassung der Wissenschaftslehre die des Urgesetzes und des ewigen Bildes (deren Verschränkung den Gipfelpunkt des absoluten bzw. transzendentalen Wissens und damit den Endpunkt der vierten Genetisierungsstufe ausmacht). Absolutes Wissen und ewiges, seliges Leben sind in Fichtes Augen eins. In den letzten Zeilen des XXV. Vortrags geht Fichte vorausgreifend auf die vier „Standpunkte“ oder „Vernunft-Effekte“ ein, die im XXVIII. Vortrag auf der Siehe hierzu bereits den XXI. Vortrag. GA II/8, S. 378. 455 GA II/8, S. 380. 456 Vgl. Die Anweisung zum seligen Leben (1806), GA I/9, S. 115-128. 457 GA I/9, S. 63. Bei Fichte steht – im Gegensatz zu Kant – das Denken dem Erkennen nicht entgegen. 453 454

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absteigenden Ebene näher betrachtet werden – nämlich auf den der Sinnlichkeit, den der Legalität, den der Moralität und den der Religion. Weder der rein auf sinnliche Befriedigung ausgerichtete Eigennutz (Standpunkt der Sinnlichkeit) noch das rein formale Befolgen des kategorischen Imperativs (Standpunkt der Legalität) ermöglichen Seligkeit und ewiges Leben. Diese setzen vielmehr das Zusammenwirken von moralischem Handeln (Standpunkt der Moralität) und einsichtiger Erkenntnis im Glauben (Standpunkt der Religion) voraus. Es ist offenkundig, dass jene Bemerkungen zum ‚Wert an sich‘ des absoluten Wissens und zur ‚Wertlosigkeit‘ der ‚Wissenschaftslehre in specie‘ in deutlichem Widerspruch zum systematischen Gehalt dieser ‚Wissenschaftslehre in specie‘ selbst steht, die, wie gesagt, der Höhe- und Endpunkt der Wissenschaftslehre von 1804/II ist. Das kann nur so verstanden werden, dass letztlich für Fichte allein der eigentliche Gehalt, nicht aber der Weg seiner Darstellung zählt. Das muss im Zusammenhang mit dem betrachtet werden, was einleitend zu ‚Leben‘ und Kritik an der ‚Verschriftlichung‘ des denkerischen Selbstvollzugs gesagt wurde. Zudem hat das sicherlich auch mit Fichtes Abneigung gegen die bedingende Funktion des Bedingten zu tun, die er gleichwohl – wie das offenbar aus seiner Auseinandersetzung mit Schelling hervorgeht – nicht vernachlässigen kann. Für jenen Weg selbst, den es nun noch zu Ende beschreiten gilt, muss dagegen doch folgende Bemerkung festgehalten werden, die noch einmal ganz ausdrücklich auf das besagte gegenseitige Vermittlungsverhältnis insistiert: Dass das Wissen an sich schlechthin Eins, ohne alle materiale Qualität und Quantität ist, haben wir eingesehen. Wie kommt denn nun dieses Wissen in sich herunter zu qualitativer Mannigfaltigkeit und Differenz, und zu der ganzen Unendlichkeit in der Quantität und ihren Formen, Zeit, Raum u. s. f., in welchen wir es antreffen? Wir haben zu erweisen: lediglich dadurch, dass das Sein des absoluten Wissens nur genetisch erzeugbar ist, und dass es dieses ist NUR UNTER BEDINGUNG GERADE SOLCHER BESTIMMUNGEN DES WISSENS, WIE WIR SIE URSPRÜNGLICH IM LEBEN 458 VORFINDEN […]. 459

SECHSUNDZWANZIGSTER VORTRAG Der Inhalt des transzendentalen oder absoluten Wissens ist mit der Bildlehre nun erfasst. Mit der Darlegung sowie der daran angeschlossenen Genetisierung dieses Inhalts ist aber der Weg der Wissenschaftslehre noch nicht beendet. Die letzten drei Vorträge haben daher ein gemeinsames dreifaches Ziel: Die Erscheinung (bzw. die ‚Erscheinung der Erscheinung‘) muss noch abgeleitet werden. Es muss die Frage beantwortet werden, wie transzendentales Wissen und ‚Wir‘ identisch sein können. Und es muss schließlich gezeigt werden, wie es zum ‚gewöhnlichen‘ 458 459

Und gerade in diesem Aufweis besteht die ‚Wissenschaftslehre in specie‘. GA II/8, S. 276f. (hervorgehoben v. Vf.).

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Wissen kommen kann. Zu diesem Zweck muss darauf hingewiesen werden (und im Blick behalten bleiben), dass die Beantwortung der zweiten Frage jene der dritten Frage zur Bedingung hat: Die Identität von absolutem Wissen und ‚Wir‘ setzt voraus, dass das transzendentale Wissen in eine Wechselbeziehung mit dem gewöhnlichen Wissen eintritt. Die Bedingung dafür wird in diesem XXVI. Vortrag geliefert, der eine neue Grundbestimmung des Wissens hervorbringt (nämlich eben das Zusammenfallen von absolutem Wissen und ‚Wir‘). 460 Das Auffüllen der Lücken zwischen dieser Bedingung und den beiden Grundarten des Wissens wird Gegenstand des vorletzten Vortrags sein – dabei werden die dreiundzwanzigste und die vierundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens genetisiert. Der letzte Vortrag bringt die Genetisierung der Erscheinung zum Abschluss. Zunächst aber soll es darum gehen, zu verdeutlichen, wie es zur Identität von transzendentalem Wissen und ‚Wir‘ kommt. Fichte legt zunächst den vollzogenen transzendentalen Gang noch einmal so dar, dass die Bedingung für die Beantwortung dieser Frage (nämlich das sich selbst vernichtende Sehen) direkt angegeben wird. Und damit transzendentales Wissen und ‚Wir‘ unmittelbar zusammenfallen können, ist es notwendig (was einer Einsicht des XXIII. Vortrags entspricht), dass wir des transzendentalen Wissens gewiss sind bzw. dass es überhaupt Gewissheit gibt und wir sie vollziehen. Aus der Genetisierung des transzendentalen Wissens ging bereits hervor, dass Gewissheit wesentlich In-sich-Geschlossenheit ist. Diese kann, wenn sie erklärt werden soll, nur beschrieben bzw. projiziert werden, und die hieraus sich ergebende Beschreibung oder Projektion muss dann auf das ihr zugrunde liegende Gesetz zurückgeführt werden. So lässt sich der Gang in zwei möglichen Richtungen fortsetzen (die jeweils im XXV. und XXVI. Vortrag beschritten werden): inhaltlich mit der vertieften Kennzeichnung der Bildlehre oder formal mit dem Verweis auf das die Bildlehre voraussetzende Sehen; anders ausgedrückt: mit der inhaltlichen Kennzeichnung des absoluten Wissens oder mit der Aufweisung der Art, wie dieses zum ‚Wir‘ wird. Ein neuer erster Schritt dieses XXVI. Vortrags 460 Damit kommt das ‚Wir‘ in drei Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens vor. Zunächst fiel es schon mit dem lebendigen Sein der ‚Seinslehre‘ zusammen. Die sechzehnte Grundbestimmung, in der das ‚Wir‘ lediglich faktisch aufgestellt wurde, betraf dann die Einheit von „Soll“ und ‚Wir‘ (d. h. die Form der Einheit von Sein und Sichgenesis). Hier geht es um die Einheit von „Gewissheit“ (= Inhalt der Einheit von Sein und Sichgenesis) und ‚Wir‘, die eines der Grundmomente der Genetisierung der ‚Erscheinung der Erscheinung‘ ist. Darin, dass in den 25 Grundbestimmungen des transzendentalen Wissens das ‚Wir‘ dreimal vorkommt, scheint dessen grundlegende Bedeutung für die Wissenschaftslehre von 1804/II durch. Das gleiche gilt, wie bereits betont wurde, für das „Soll“, das (seinerseits auf eine jeweils unterschiedliche Art) ebenfalls drei Grundbestimmungen kennzeichnet. Im Kontrast zu den in der Einleitung vorgestellten ‚Grundschemata‘ und ‚Grundoperationen‘, in denen ‚thematische Begriffe‘ wie „Sein“, „Denken“, „Licht“, „Begriff“ usw. zur Sprache kommen und dann alle Genetisierungsstufen durchziehen, können ‚Wir‘ und „Soll“ – neben der ‚kategorischen Hypothetizität‘ – als die grundlegenden ‚operativen Begriffe‘ des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 angesehen werden.

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über die Charakterisierung der im vorangegangenen Vortrag dargelegten Bildlehre hinaus wird darin bestehen, die in ihr bereits angelegte, im Sehen aber explizit sich bekundende Vernichtung hervorzukehren. Ein neuer zweiter Schritt – der ebenfalls hier bereits zum Tragen kommt, in seinem eigentlichen Sinn aber erst im XXVII. Vortrag erfasst wird – betrifft das Setzen des Seins. 461 1.) In der Beschreibung der Bildlehre wird das Beschriebene (scil. das zu genetisierende Wissen) nicht per hiatum (also ‚objektiv‘), sondern immanent projiziert. Das heißt, dass das Beschreiben oder Projizieren sich seines beschreibenden (‚äußerlichen‘) Charakters bewusst ist und diese Äußerlichkeit und folglich sich selbst vernichten muss, um das Beschriebene oder Projizierte setzen zu können. Dieses Projizieren, das also zugleich ein Vernichten ist bzw. dieses Vernichten, das vom Projizieren unabtrennbar ist, bezeichnet Fichte als „ideales Sehen, oder Anschauen“, 462 das durch ein Durchdringen (eben einerseits von Projizieren [oder Setzen] und andererseits von Vernichten, das nicht nur Vernichten der Projektion, sondern auch des Sehens bzw. der Anschauung selbst ist) charakterisiert ist. 2.) So wurde zwar das Wesen des reinen Sehens aufgewiesen; aber das, was darin projiziert wird, ist zudem, sofern das Sehen in der Vernichtung und als Vernichtung doch immer auch ist, Sein. Auf der Grundlage des angesprochenen immanenten Charakters ist dieses ein „innerlich sich äußerndes“463 Sein. Was ist darunter zu verstehen? Dieses Sein ist das Sein des Sehens selbst! Es handelt sich nicht um das ‚tote Sein‘ qua ‚Träger der Realität‘. – Wir haben demzufolge zwei Begriffe des Seins – dazu gleich mehr. Und wir haben auch zwei Begriffe des Sehens – dazu ebenfalls gleich mehr: nämlich Sehen (qua Intuition), was faktisch nicht vernichtbar ist, und Licht. – Dieses Sein – das Sein des Sehens – ist sowohl innere Geschlossenheit als auch, qua projizierend-projiziertes, Herausgehen aus sich selbst, wodurch wieder ein Setzungs- und ein Vernichtungscharakter (und zwar durch das gegenseitige Verhältnis von Geschlossenheit und Herausgehen) zum Ausdruck kommt. Das, was das Sein, sofern es geschlossen ist, aus sich herausgehen lassen muss, wird von Fichte mit einem Begriff bezeichnet, der bereits aus der Grundlage von 1794/95 bekannt ist – nämlich dem des „Triebs“. 464 Daraus 461 So wiederholt sich noch einmal die genetisierende Bewegung der vierten Genetisierungsstufe. Diese Wiederholung – bzw. diese auf das „Als“ verweisende ‚Verdoppelung‘ – zeigt an, dass die Genetisierung des transzendentalen Wissens in der in der Genetisierung der Erscheinung sich vollziehenden Reflexion ihre transzendentale Legitimation erhält. 462 GA II/8, S. 384. 463 GA II/8, S. 386. 464 In der Grundlage ist der „Trieb“ das durch das Wissen fixierte oder festgesetzte „Streben“ (qua willensmäßige – dadurch das theoretische Wissen auf einer praktischen Ebene vervollständigende – Kraft, die auf eine Handlung ausgeht, welche sie allerdings nicht vollziehen kann). R. Lauths Bemerkung, der „‚Trieb‘ Fichtes Ausdruck für Wille“ (Zur Idee der Transzendentalphilosophie, op. cit., S. 79), ist somit etwas unscharf. Im § 7 und vor allem im § 10 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 wird übrigens deutlich, dass zwischen der Wissenschaftslehre von 1804/II und dem praktischen Teil der Grundlage folgende Parallele besteht: Was in der Begriff-Licht-Sein-

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ergibt sich die zweiundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens, denn durch das Setzen und Vernichten bzw. durch die Geschlossenheit und das Herausgehen wird das „Wir“ selbst (qua „Wir“ der Wissenschaftslehre). Die Realisierung des „innersten Wesens des reinen Sehens als solchen“465 in eins mit der Gewissheit als absoluter Geschlossenheit (welche Geschlossenheit die Hauptbestimmung des Seins in der „Wahrheits- und Seinslehre“ des XV. Vortrags darstellte) erweist sich als das Prinzip des Zum-Wir-Werdens des absoluten Wissens – was am Anfang dieses Vortrags angekündigt wurde und was es allgemein in der Phänomenologie zu erklären galt. Hierzu lassen sich zwei wichtige Anmerkungen hinzufügen, wovon die erste das Verhältnis von Seins- und Erscheinungslehre betrifft und die zweite noch einmal auf die ‚Fünffachheit‘ zurückkommt: Nota bene 1: Es wurde bereits betont, dass das Prinzip der Erscheinungslehre sich sehr kurz und prägnant formulieren lässt und erst im XXV. Vortrag eigens aufgestellt werden konnte. Diese Kürze und Prägnanz wirkt sich auch auf die Einsicht des Seins qua „absolut in sich geschlossenes, lebendiges und kräftiges esse“466 aus (siehe ebenfalls den XV. Vortrag). Diese Einsicht wurde dort nur faktisch vollzogen; nun ist auch ihre Genesis bündig nachgeliefert – nämlich mittels der Vernichtung des von der Bildlehre vorausgesetzten Sehens, welche Bildlehre ja inhaltlichen Mittelpunkt und Herz des absoluten Wissens ausmacht. Nota bene 2: Diese Genetisierung des Inhalts des transzendentalen Wissens im Sehen lässt eine Fünffachheit aufscheinen, die nicht nur den Gedankengang dieses Vortrags weiter verdeutlicht, sondern auch den Bezug zu vorher bereits Entwickeltem herzustellen gestattet. Es wurde bereits erwähnt, dass sich in diesem Gedankengang zwei Begriffe des Seins sowie zwei Begriffe des Sehens bekunden. Zum einen stehen sich äußerliche Intuition (die sowohl äußerlich und sich vernichtend ist) und in sich geschlossenes, ‚totes Sein‘, d. h. In-sich-Verschließen, gegenüber. Das macht das erste Sehen und das erste Sein aus. Zum anderen besteht das innere Wesen des Sehens im absoluten Äußern (das ein Sichvernichten [und dennoch faktisch bleibendes] und Projizieren ist) und ist dem Leben des Seins (qua Geschlossenheit und Äußerung) entgegengesetzt. Das sind die anderen beiden Begriffe von Sehen und Sein. Das fünfte Glied betrifft das „Entstehen“ und die „Fortdauer“ – das verweist jeweils auf die ‚causa sui‘ und auf die ‚creatio continua‘, die beide das Soll kennzeichnen (vgl. den XVI. Vortrag). Es beruht zweifach auf Freiheit: einerseits, indem der zweite Sehensbegriff – und dadurch dann auch

Operation das „Licht“ ist, heißt in jenem praktischen Teil „Streben“, das „Gefühl“ steht in einem Analogieverhältnis zum „Sein“ und der „Trieb“ entspricht dem „Begriff“. Vgl. auch GA II/7, S. 352. 465 GA II/8, S. 384. 466 GA II/8, S. 386.

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der zweite Seinsbegriff, der aus ihm „abgeleitet“ 467 wird – mit Freiheit erzeugt wird; und andererseits, sofern auch die Fortdauer aller vier Begriffe von der Freiheit abhängt, da es um eine vertiefte Betrachtung der Gewissheitsableitung – als Ableitung der Form des transzendentalen Wissens – geht, die aus eben diesem Grunde auf Freiheit beruht. Fichte beschließt den XXVI. Vortrag mit dem vorgreifenden Hinweis auf „neue Synthesen“, 468 die den Abschluss der Genetisierung der Erscheinung vorbereiten. Diese betreffen einerseits die „Vereinigung“ von „Wahrheit an sich“ und „Erscheinung“ und andererseits ein „besonderes entäußerndes Prinzip“ zwischen Wissen und Erscheinung des Wissens. 1.) Das Sein als „lebendiges Sich-in-sich-Schließen“ setzt und vernichtet den Trieb bzw. einen Effekt desselben, aus sich herauszugehen. Dieses Setzen und Vernichten rührt daher, dass das Sein Resultat des an sich ungültigen, aber faktisch bestehenden Sehens ist. Der Satz „Das Erste kann daher immer sein und bleiben in der faktischen Erscheinung, nachdem das Zweite durchaus nicht Statt findet, in der Wahrheit“469 lässt im Unklaren, worauf sich „das Erste“ und „das Zweite“ jeweils bezieht. Offenbar muss er auf die folgende Weise aufgefasst werden: Da das Sein Resultat des Sehens ist, ist letzteres augenscheinlich das „Erste“. Das Projizieren des Sehens besteht in der faktischen Erscheinung (wenngleich es nicht an sich gültig ist), während das daraus resultierende „Zweite“, das durch das Sein gesetzte Herausgehen des Triebes, in Wahrheit vernichtet wird. Wenn beides auf der genetischen Ebene vereinigt wird, entsteht Qualität – was der Ableitung der Qualität im XXIII. Vortrag entspricht, wo diese ebenfalls als das Resultat einer Negation dargestellt wurde – allerdings bloß „faktisch“, wovon nun die Genesis skizziert wird. Auf der Ebene der Erscheinung entsteht sodann Quantität durch Vernichtung des Triebs (qua „Erscheinung der Freiheit und der Genesis selbst“). 470 Und durch die Vereinigung der Qualität mit dem Prinzip der Quantität entstehen schließlich die „Urformen der Phänomene des gewöhnlichen Wissens“. 471 2.) Die zweite abschließende Bemerkung fasst noch einmal die gesamte Genetisierungsreihe vom Sein des „Grundsatzes“ der Wahrheits- und Seinslehre bis zum substanziellen Wissen zusammen. Das Sein wird durch das Sehen genetisiert. Sehen fällt mit der Grundbestimmung des „Wir“ zusammen – darin besteht die Gewissheit. Gewissheit ist innere Geschlossenheit und Herausgehen. Die Urbeschreibung (nicht Nachbeschreibung!) davon ist „authentisches Vollziehen der 467 468 469 470 471

GA II/8, S. 388, Z. 35f. GA II/8, S. 390ff. GA II/8, S. 390. GA II/8, S. 392. Ebd. Vgl. das Ende des VI. Vortrags sowie den angesprochenen XXIII. Vortrag.

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einen Gewissheit“ 472 bzw. des Wissens selbst. Darin trägt das Wissen sich selbst (bzw. daraus kommt es nicht heraus) – das schließt an die von Anfang an gesuchte und abzuleitende Substanzialität des Wissens an. Jenes Wissen ist also vollständig geschlossen, zugleich ist es aus Freiheit erzeugt bzw. vom „Wir“ objektiviert, woraus sich die gänzliche Einheit von „Objektivität und Genesis“ 473 ergibt. Da Genesis Entäußerung ist, muss zwischen Wissen und seiner Erscheinung schließlich noch ein „besonderes entäußerndes Prinzip“ 474 aufgewiesen werden, das – sofern es ganz wie im III. Vortrag das „rein Wandelbare“ eine eigene Einheit ausmacht – zu dieser gesamten Reihe in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis steht. SIEBENUNDZWANZIGSTER VORTRAG Es sei noch einmal an das gemeinsame Ziel der letzten drei Vorträge erinnert: Es geht – nach der zuvor bereits geleisteten Aufstellung des Inhalts des absoluten Wissens – um die Genetisierung der Erscheinung, darüber hinaus um die Beantwortung der Frage, wie absolutes Wissen und „Wir“ zusammenfallen, sowie um die Aufweisung der Art, wie es zum gewöhnlichen Wissen kommen kann. Die Beantwortung der zweiten Frage wurde im vorigen Vortrag mit der Genetisierung der zweiundzwanzigsten Grundbestimmung des Wissens geliefert. Der dritte Punkt impliziert die Notwendigkeit, die „absolute Erscheinung“ oder „Genesis“ 475 sowie das sie ableitende Gesetz aufzustellen. Das verweist auf die fünfundzwanzigste und letzte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens, die im XXVIII. Vortrag genetisiert wird. Aber bereits in diesem Vortrag wird sich zeigen, dass (wie vorher schon angekündigt wurde) das gewöhnliche Wissen die Voraussetzung für das transzendentale Wissen ist. Der „Mittelpunkt“ für das Erreichen jener Ziele ist die Gewissheit qua Geschlossenheit in sich selbst. Zwischen ihr und diesen beiden Extremen (und damit ist zugleich das ‚Zwischen‘ der beiden Extreme des transzendentalen und des gewöhnlichen Wissens gemeint) sind, wie gesagt, noch „Lücken“ aufzufüllen. Dies betrifft nun in erster Linie nicht unmittelbar sie selbst, sondern ihre eigene Bedingung, die, wie es der XXVI. Vortrag gezeigt hatte, im Sehen besteht. Dessen Wesen soll jetzt noch eingehender durchdrungen werden. Dadurch wird eine Einsicht offenbar, die zwar in jenem XXVI. Vortrag bereits kurz berührt wurde, deren systematische Bedeutung insgesamt aber noch stärker hervorgehoben werden muss.

472 473 474 475

GA II/8, S. 392. Ebd. GA II/8, S. 394. GA II/8, S. 406.

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Was besagt energisch gefasstes Sehen? Fichte fasst dieses zunächst in dem kurzen Satz: „Sehen sieht notwendig.“ 476 Die Tragweite ist allerdings enorm, denn es geht einerseits um nichts Geringeres als um die Beantwortung der Frage, wie Genetisierung wirklich effektiv sein kann (und sich also nicht in einem flatus vocis verflüchtigt), und andererseits um die – bereits im XVI. Vortrag angeklungene – Rolle des ‚ontologischen Arguments‘ in der Wissenschaftslehre. Das Sehen nimmt gleichsam die Stelle von ‚Gott‘ im ontologischen Argument ein. In der klassischen Auffassung dieses Arguments stehen wir lediglich auf der Ebene des Begreifens, bei Fichte – und darin besteht der revolutionäre Charakter der ‚Rehabilitierung‘ des ontologischen Arguments – wird darin die Rolle des Sehens und Anschauens offengelegt. Das Sehen als Sehen hat drei fundamentale Bestimmungen. Es muss gedacht werden (und zwar sowohl logischer als auch transzendentaler Gesetze gemäß). Es muss lebendig vollzogen („in seinem inneren Wesen gebildet und konstruiert“) 477 werden. Und es muss sich vernichten. Was aus diesem „Notwendig-Sehen“ folgt, ist die Setzung des DASEINS des Sehens (= dreiundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens). Hiermit wird allererst – laut Fichtes eigenem Bekunden – der „scholastische [ontologische] Beweis“ 478 wahrhaft und eigens geliefert. Dieser hat – jedenfalls in der Perspektive der Wissenschaftslehre – rein gar nichts mit einer Art ‚Herausklauben‘ von Sein aus dem Denken zu tun. Er betrifft vielmehr die genetische, genetisierende Seinsart des Sehens als Akt, der nur im Vollzug und als Vollzug ist (wofür der Begriff der ‚kategorischen Hypothetizität‘ eingeführt wurde). Damit ist der Standpunkt der „absoluten Vernunft“ 479 selbst erreicht – worin die genuine Reflexionsstufe des XXVII. Vortrags besteht. Warum Vernunft? Fichte berichtigt Kant. Für den Verfasser der Kritik der reinen Vernunft hat Vernunft keine konstitutive Erkenntnisfunktion, da dem durch Vernunft Gedachten keine Anschauung – kein ‚wirklicher Gegenstand‘ – entspricht. Das Gedachte ist aber in der Wissenschaftslehre von 1804/II notwendig. Und diese Notwendigkeit entspringt der Sichvernichtung des verstandesmäßigen Denkens. Fichte setzt demnach Verstand und Vernunft in ein – gegenüber der Architektonik der ersten Vernunftkritik – neues Verhältnis zueinander, denn höchste Erkenntnis und höchstes Wissen erweisen sich als Vernunfterkenntnis und -wissen. Die in der vervollständigenden Bestimmung des Sehens erlangte „Vernunfteinsicht“480 besteht in der geforderten Vereinigung von absolutem Wissen und „Wir“: „Diese von uns soeben vollzogene Einsicht ist nun die absolute 476 477 478 479 480

GA II/8, S. 396. Ebd. GA II/8, S. 396. Ebd. GA II/8, S. 398.

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Vernunfteinsicht = absolute Vernunft selber; wir sind in dieser Einsicht die absolute Vernunft unmittelbar geworden, und in ihr aufgegangen.“ 481 Sie erweist sich zunächst als „faktisch“ und sodann als „genetisch“. Damit wird in zusammengedrängter Form die Vernunftlehre des ersten Teils und deren Genetisierung im zweiten Teil synthetisch dargestellt. Faktische Vernunfteinsicht. Eine Reflexion auf diese Einsicht ergibt, dass die Vernunft durch all die wesentlichen Charakteristiken ausgezeichnet ist, die in den vorangegangen Deduktionen hervorschienen: Sie ist sich selbst setzendes absolutes Ich, Licht, seiendes Sehen ihrer selbst, kurz: Sie ist das von Anfang an gesuchte substanzielle Wissen qua unmittelbares Durchdringen ihrer selbst, welches das absolute Dasein des Sehens mit sich führt. Dadurch, in diesem sich selber Durchdringen und von sich Durchdrungensein, zeigt sich nun in uns die Vernunft, als Vernunft der Vernunft, also als absolute Vernunft. – Vernunftlehre, durch sich, von sich, in sich, wie Sie diese Duplizität ausdrücken können. Vernunftlehre, als der erste und höchste Teil der Wissenschaftslehre, die da nicht wird, sondern schlechthin ihr selber ist, und das ist, was sie ist. 482

Genetische Vernunfteinsicht. Laut der genetischen Vernunfteinsicht ist das Setzen des absoluten Daseins des Sehens im Sich-Durchdringen der Vernunft – im Gegensatz zur faktischen Vernunfteinsicht – ein als setzendes Setzen (also ein Setzen als Setzen), wodurch sich die Vernunft offenbar als in sich selbst genetisch erwiese. Und das hieße: Die Vernunft wäre Grund ihres eigenen lebendigen und tätigen Daseins. Sie setzte ihr Leben und Dasein selbst. Mit der Aufweisung dieser Grundcharakteristik der Vernunftlehre in der Phänomenologie ist die Genesis der Vernunft aber noch nicht zum endgültigen Abschluss gekommen. Es gibt nicht weniger als fünf Gründe, weshalb wir es hier doch noch nicht mit dem „ursprünglichen und absoluten Dasein“ 483 der Vernunft zu tun haben. Wenn nämlich erstens gesagt wird, dass es kein anderes Leben und Dasein geben könne als eben jenes der Vernunft und daraus in keiner Weise herauszukommen sei, so widerspricht dieses Sagen dem Inhalt des Gesagten und wir sind über diesen Standpunkt schon hinausgegangen. Zweitens ist das Vollziehen der Einsicht, in der wir selbst diese vollzogene Einsicht sind, ein mit Freiheit vollzogenes. Wir sind demnach freier Grund dieser Einsicht und das heißt: nur Möglichkeitsgrund, kein absoluter Wirklichkeitsgrund. Und das wiederum bedeutet, dass wir in dieser bloß mittelbar faktischen Erscheinung in der Tat doch nicht die absolute Vernunft sind. Drittens, und das ist nur eine andere Ausdrucksweise desselben Gedankens, wird in alledem die ursprüngliche Vernunftkonstruktion lediglich nachkonstruiert und objektiviert. Daraus ergibt sich viertens, 481 482 483

Ebd. GA II/8, S. 400. Ebd.

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dass hier ein Zirkel eines gegenseitigen Bedingungsverhältnisses vorliegt: So wie die absolute Vernunfteinsicht das Sehen qua Äußern bedingt, so bedingt dieses qua „genetische Potenz“484 jener auch die Vernunfteinsicht selbst. Das Aufweisen der absoluten Bedingung steht demnach noch aus. Hierin drückt sich eine weiterhin bestehende Problematizität aus, die sich sprachlich darin widerspiegelt, dass wir wiederum auf das erste Problem stoßen und auch das zweite und dritte Problem wiederantreffen: „das sagen doch auch wieder nur Wir, d. h. die Willkür und Freiheit. Die Vernunft redet freilich in dem Zusammenhange, aber die Sprache überhaupt haben wir ihr doch erst geliehen, und uns ist nicht zu glauben. Die Vernunft selbst unmittelbar müsste die Rede anheben.“ 485 Aus alledem ergibt sich, dass der Satz „die Vernunft ist absoluter Grund ihres eigenen Daseins“ 486 doch noch ein reines absolutes Faktum ist, in dem sich für das darin bekundende Dasein aufgrund des aufgewiesenen unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Vernunft und Dasein keine genetische Prämisse mehr angeben lässt. Kann dieses Faktum aber dennoch selbst genetisiert werden – wie es von Fichte angekündigt wurde? In der Tat. Und seine Genetisierung wird mit der dabei herausgestellten vierundzwanzigsten Grundbestimmung des Wissens den Abschluss der Vernunftlehre in der Phänomenologie bilden. Die Analyse dieses Faktums – und dabei insbesondere das es kennzeichnende Objektivieren – weist von selbst den weiter zu beschreitenden Weg, der zur absoluten Erscheinung und dem Gesetz, das aus ihr abgleitet wird und sie ihrerseits abzuleiten gestattet, führt (die Ableitung selbst wird dann, wie gesagt, im letzten Vortrag vollzogen). Fichte reflektiert in dieser Analyse des Faktums noch einmal (wie etwa bereits im IV. und im V. Vortrag) auf die Verfahrensweise der Wissenschaftslehre überhaupt. Diese Reflexion vollzieht sich in zwei Schritten. 1.) Die Vernunft wurde von uns „immerfort“, so gibt Fichte an, durch das Setzen ihres Daseins in der äußeren Existentialform objektiviert. 487 Nun sind wir aber die Vernunft, d. h. die Tatsache, dass die Vernunft absoluter Grund ihres Daseins ist, ist in uns – sie als Faktum ist daher in uns. Absolutes Wissen und „Wir“ fallen nicht bloß zusammen, worin das zweite zu erfüllende Erfordernis der letzten beiden Vorträge bestand, sondern alles spielt sich im „Wir“ ab. Was „sind wir“ aber? Faktum und Genesis! Wir sind nämlich nicht bloß das „Faktum, sondern wir sind zugleich die Einsicht, dass dieses Faktum die reine ursprüngliche Äußerung und das Leben der Vernunft sei, und dass das Faktum Genesis und die Genesis Faktum sei“. 488 Damit wird auch dem dritten Erfordernis dieser beiden letzten Vorträge entsprochen. Denn diese Synthesis von Faktum und Genesis 484 485 486 487 488

GA II/8, S. 402. Ebd. Ebd. GA II/8, S. 404. Ebd.

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macht das transzendentale Wissen der Wissenschaftslehre aus, während das gewöhnliche Wissen im bloßen Faktum als Faktum besteht – wodurch es auch, wie eben gefordert, (beinahe unbemerkt) abgeleitet wurde. 2.) Die Objektivierung der Vernunft betrifft sowohl die erlangte genetische Vernunfteinsicht als auch die Tatsache, dass sie selbst wiederum „durch die Vernunft“ 489 geschieht. Und das bedeutet, dass jene Einheit von Genesis und Faktum sich in ein „doppeltes Erscheinen“ 490 spaltet. Was ergibt sich daraus für die höchste Einsicht – die genetische Vernunfteinsicht, die sich qua reines absolutes Faktum dann als Einheit von Faktum und Genesis erwiesen hatte? Was folgt, ist, dass eine Verfahrensweise offenkundig wird, die bereits in der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 (und zwar im § 14) 491 zur Anwendung kam (und uns zudem auch schon aus dem XIV. Vortrag bekannt ist) und hier als „das Bedeutendste“ 492 bezeichnet wird: Das höchste Faktum erweist sich nämlich als ein solches, dem keine genetische Prämisse mehr zugeführt wird, die wiederum einer solchen Prämisse bedürfte und so weiter ad infinitum, sondern so, dass sich das zu Genetisierende – nach dem Durchgang durch einen nicht einsehbaren ‚Umschlagspunkt‘ (der oben als ‚dislozierend‘ bzw. ‚abgründig‘ bezeichnet wurde) und der gerade jener der Einheit von Genesis und Faktum ist – als bereits genetisiert erweist und sich erst in einer tiefer liegenden (d. h. nachkonstruierten) Einsicht finden lässt (die wiederum auf noch andere, noch tiefer liegende Einsichten verweist usw.). Das heißt, die Genesis besteht hier sozusagen in einem Spannungsverhältnis, innerhalb welchem der eigentliche ‚Umschlagspunkt‘ der ‚Lösung‘ noch nicht bzw. bereits durchschritten wurde – wobei dieser Punkt selbst sich immer schon entzieht, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass der Genesis selbst nicht beigewohnt werden kann. (Die durch die Genesis gelieferte ‚Lösung‘ wird also zunächst antizipiert, während sich nach dem Durchgang durch einen ‚Umschlagspunkt‘ erweist, dass sie bereits verwirklicht worden ist.) 493 Dieses Verhältnis bringt GA II/8, S. 404. Ebd. 491 Dieses Verfahren besteht in einem Zweischritt durch einen ‚Umschlagspunkt‘ hindurch, der selbst nicht fassbar oder greifbar ist: In einem ersten Schritt wird gesagt, dass das Wissen nur im Ausgang und in der Verschmelzung von Freiheit und Sein bestehen kann, welche Verschmelzung dann im und durch das Wissen aufgezeigt wird. Nach dem Durchgang durch jenen ‚Umschlagspunkt‘ erweist sich, dass das Wissen selbst in den vereinigten Qualitäten des Absoluten – Freiheit und Sein – besteht. 492 GA II/8, S. 404. 493 Man kann auch sagen, dass Fichte Kants Einsicht, dass das die Erfahrung Ermöglichende auch das durch die Erfahrung Begrenzte sei, wiederaufnimmt und genetisiert. Das äußert sich dadurch, dass die Zweiheit Einheit voraussetzt, die Einheit aber immer auch Einheit einer Zweiheit sein muss; oder auch dadurch, dass – in den Begriffen der Darstellung von 1801/02 – Sein Freiheit zugrunde liegt, umgekehrt aber auch Freiheit auf Sein gegründet ist, sowie dadurch, dass – in der Ausdrucksweise der Wissenschaftslehre von 1804/II – Vernunft und Dasein der Vernunft sich gegenseitig bedingen (worin also die gesuchte „absolute Bedingung“ besteht). 489 490

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wiederum die ‚kategorische Hypothetizität‘ ins Spiel: Das, was zuerst hypothetisch aufgestellt wird (das Leben der Vernunft), erweist sich dann – in und durch einen, freilich ‚rationalen‘, Hiat – als kategorisch (nämlich das Erscheinen der Vernunft, qua absolutes Faktum, in der Spaltung dieses Erscheinens). Das entspricht exakt dem von Fichte an dieser Stelle hergestellten Bezug, wenn er auf die „im Anfange der heutigen Vorlesung vollzogene Einsicht“ 494 verweist, die in dem wahrhaftigen Leisten des „scholastischen“ ontologischen Beweises bestand. Von hier aus lassen sich absolute Erscheinung (bzw. Genesis) und Gesetz der Ableitung endgültig aufstellen. Die Aufstellung der absoluten Erscheinung besagt: Die Vernunft ist der Grund ihres Daseins als Vernunft. Das Gesetz der Ableitung lautet: Die darin sich vollziehende Äußerung ist nur möglich durch Freiheit. Genesis und Gesetz, Erscheinung und Freiheit, hängen dabei gegenseitig voneinander ab. Es gilt, alles dies „in seinem Zusammenhang zu sehen, und in diesem Zusammenhang es auszusprechen. Es ist wahr, dass Erscheinung ist, wie sie gedacht wird, als absolutes Erscheinen und sich Äußern der absoluten Vernunft, und ohne diesen letztern Zusatz ist es nicht wahr. Es ist wahr, dass die Vernunft erscheint, so und so, z. B. als innerlich frei, nur inwiefern sie auch erscheint, als innerlich notwendig, und als wirklich daseiend, und ohne diese Zusätze ist es nicht wahr usw.“ 495 Die Wissenschaftslehre ist, so lautet die Schlussfolgerung, unmittelbare Äußerung und Leben der Vernunft – ein „unmittelbares Objektivieren“,496 worin ihr wahrer Mittelpunkt besteht. Die Art, wie dabei jene Zweiheit von sich äußernder und durch Freiheit projizierter Vernunft überwunden wird, muss aber noch genauer dargelegt werden. Das sowie der Abschluss der Genetisierung der Erscheinung ist Gegenstand des letzten Vortrags. ACHTUNDZWANZIGSTER VORTRAG Der letzte Vortrag stellt in gewisser Weise eine eigene Kurzabhandlung dar, schließt zugleich aber eng an den XXVII. Vortrag an. Er hat unterschiedliche Anliegen. Die Genetisierungen der vierundzwanzigsten Grundbestimmung des transzendentalen Wissens sowie der ‚Erscheinung der Erscheinung‘ im Sinne der ‚Erscheinung als Erscheinung‘ 497 (= fünfundzwanzigste Grundbestimmung) werden vollendet. Zudem stellt Fichte die Verbindung zur ersten genetischen Konstruktion – der des Bewusstseinsprinzips qua ‚absolut Wandelbarem‘ – her. Schließlich werden mit der Aufstellung der „Grundbestimmungen des Wissens“ GA II/8, S. 404. GA II/8, S. 406. 496 GA II/8, S. 404. 497 Wie Fichte es am Anfang des XX. Vortrags unzweideutig vorausgreifend festlegt: „es ist die Aufgabe, die Erscheinung überhaupt, und als solche darzustellen“, GA II/8, S. 300 (hervorgehoben v. Vf.). 494 495

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in ihrem Zusammenhang mit der Ableitung der Erscheinung entscheidende methodologische Aspekte geliefert (die bereits in der Einleitung dargelegt wurden). Mit dem Grundsatz „die Vernunft ist für sich selbst absoluter Grund ihres eigenen Daseins (worin ihr ursprüngliches Leben besteht)“498 schließt Fichte an die Selbstsetzung des absoluten Ich in der Grundlage an. Es ist bemerkenswert, dass das für den Grundsatz der Erscheinungslehre, nicht aber für jenen der Seinslehre gilt. Damit wird einmal mehr zum Ausdruck gebracht, dass die Seinslehre zwar den bedeutenden – hypothetischen! – Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre ausmacht, diese selbst aber in der Erscheinungslehre besteht. Während darüber hinaus in der Grundlage die Grundsätze des Entgegensetzens und des Teilens an den Anfang der Wissenschaftslehre gesetzt wurden, ist der Bezug zur Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt erst Thema des allerletzten Vortrags. Es war bereits am Ende des XXVII. Vortrags klar, dass der Grundsatz der Phänomenologie mit „Erscheinung“ und „Gesetz“ (Freiheit) eine Zweiheit aufweist, die auf ihre Einheitsbedingung befragt werden muss. Das äußert sich am Anfang des XXVIII. Vortrags durch die Frage, ob die Vernunft im Endeffekt selbstprojizierend (und das „Wir“ Resultat dieses Projizierens) ist oder ob das „Wir“ die Grundlage für das Selbstprojizieren der Vernunft bildet. Es geht darum zu klären, was die absolute Einheit jener Zweiheit oder Duplizität ausmacht bzw. wie jene Duplizität „weggebracht“ 499 werden kann. Die Antwort fällt eindeutig aus: Einheitsgrund der Duplizität ist das „notwendige Sich-intuierend-Machen“ der Vernunft als Grund des Daseins überhaupt. Bei diesem „notwendigen Intuierend-Machen“ liegt die Betonung einerseits auf der Tätigkeit – es wird dabei nicht von einem Sein ausgegangen, sondern Sein geht aus dem Setzen der Vernunft (qua Licht) hervor – und andererseits auf der Notwendigkeit. Das Dasein der Vernunft ist in diesem notwendigen Tun (der Vernunft als Licht) fundiert. Die in dieser Fassung der Wissenschaftslehre allseits gültige Unterscheidung von „Urkonstruktion“ und „Nachkonstruktion“ gründet darin, dass sich das notwendige Sich-Machen der Vernunft in Urmachen (Urtätigkeit) und Nachmachen dieser Urtätigkeit spaltet, womit die (idealistische) Einseitigkeit des Intuierens deutlich wird und zurückgewiesen werden muss. Dadurch erweist sich, dass der „Mittelpunkt“ 500 zwischen beiden in dem absoluten, inneren, effektiven (das Intuieren abweisenden, aber im Bild aufgehenden) SICHMACHEN 501 besteht (= vierundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens).

GA II/8, S. 410. Ebd. 500 GA II/8, S. 412. 501 Ebd. Dieses im Bild aufgehende ‚Sichmachen‘, das auch ein „Selbstintelligieren“ (GA II/8, S. 414) ist, steht in der Wissenschaftslehre von 1804/II für die ‚intellektuelle Anschauung‘ (auch wenn Fichte selbst diesen Bezug nicht explizit herstellt). 498 499

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Dabei offenbaren sich zwei Hinsichten. ‚Es gilt aufzusuchen‘, heißt: Wir müssen eine Objektivierung vollziehen. Das gegenseitige Verhältnis von innerem Sichmachen einerseits sowie Urmachen und Nachmachen andererseits sind der Quellpunkt der Erscheinung sowie der aus ihr abgeleiteten Grundansichten. Dieses Sichmachen setzt nämlich – als unmittelbares s i c h M a c h e n – (zunächst) zweierlei ab: das stehende seiende Objekt und das stehende sich machende Subjekt. Beides geht nicht aus- und durcheinander hervor (es gibt hier kein Durch!), sondern allein aus dem besagten Mittelpunkt. Nun hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft aufgewiesen, dass die Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori (deren Aufweisung bekanntermaßen die Hauptaufgabe der gesamten ersten Vernunftkritik ausmacht) darauf beruht, dass die „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt“ zugleich „Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ 502 sind. Denselben Parallelismus gibt es auch hier: Aus dem Sichmachen der Vernunft resultiert, dass sowohl für das Subjekt als auch für das Objekt ein Parallelismus zwischen Machen des Subjekts und des Objekts (bzw. des Machens und des Seins) einerseits und (stehendem) Sein des Subjekts und des Objekts vorliegt. Dementsprechend geht aus dem besagten Mittelpunkt über stehendes Subjekt und stehendes Objekt hinaus auch Machen des Subjekts (Bilden) und Machen des Objekts (Urkonstruktion) hervor, eine Disjunktion, die Fichte als „absolut ursprüngliche“ 503 bezeichnet (und dem stehenden Subjekt sowie dem stehenden Objekt zugrunde liegt). Und damit haben wir insgesamt vier Glieder qua Effekte des unmittelbaren inneren Sich-Machens – stehendes Subjekt und stehendes Objekt, Machen des Subjekts und Machen des Objekts (oder prägnanter: Subjekt und Objekt, Bilden und Urkonstruktion). Die Aufweisung dieser vier Glieder erfolgte, wie betont wurde, mittels einer von uns vollzogenen Objektivierung. Von einer solchen Objektivierung kann aber auch abstrahiert werden bzw. es muss sogar von ihr abstrahiert, d. h. sie muss vernichtet werden, wenn die eine absolute Vernunft wirklich eingesehen werden soll (auch wenn faktisch gar nicht davon zu abstrahieren ist). Das weist dann auf eine zweite Hinsicht. Wenn eine solche Abstraktion tatsächlich statthat, dann haben Urmachen und Nachmachen keinen gehaltvollen Unterschied mehr und dann geht das ursprüngliche Machen im nachmachenden Bild auf – so erst gelangt das Genetisieren des Sich-in-den-Mittelpunkt-des-absoluten-Sichmachens-Stellens zu seinem Abschluss. Hier fallen Ich und Wissenschaftslehre zusammen. Es ergibt sich nun aber eine neuerliche Spaltung – je nachdem, ob man die auf diese Weise genetisierte absolute Vernunft wiederum objektiviert oder nicht. Dabei kristallisiert sich schließlich die letzte Grundbestimmung des Wissens (= die ‚genetische Erscheinung‘ bzw. ‚Erscheinung der Erscheinung‘) wie auch die Erscheinung der Realität (also das, was im VI. Vortrag als „Erscheinung der 502 503

KrV, A 158/B 197. GA II/8, S. 412.

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Erscheinung von der Erscheinung“ bezeichnet wurde) heraus. Das erfordert aber gerade die Formulierung des „ersten Grundgesetzes“. Wie stellen sich diese Zusammenhänge genau dar? Wird die absolute Vernunft nicht objektiviert, verläuft man sich in einer absoluten In-sich-Geschlossenheit der Vernunft. Wird sie dagegen objektiviert, steht man vor einem Faktum, vor der reinen prinzipienlosen Erscheinung der Vernunft. Diese Objektivierung kann nur vom Ich vollzogen werden. Dabei erscheint die absolute Vernunft eben als objektiver Zustand (als Faktum), dessen Urgrund und Urbedingung gerade jenes Ich – „Bewusstsein und Selbstbewusstsein“ 504 – ist. Dem Faktum, jener prinzipienlosen Erscheinung der Vernunft liegt das Ich (qua Selbstbewusstsein) zugrunde und ist daraus abgeleitet. Nun ist das Ich selbst Resultat des Sich-Machens der Vernunft. Also muss auch die ihm zugrunde liegende Erscheinung auf das Sich-Machen der Vernunft zurückgeführt werden (selbst wenn das für das Ich selbst, wie das u. a. bereits der erste Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 erwiesen hatte, 505 unzugänglich ist). Die Erscheinung ist demnach „ursprünglicher Vernunfteffekt“. 506 Durch die Abstraktion von der Objektivierung, welche die vier Glieder ergeben hatte, entsteht die „eine absolute Vernunft“ – und erscheint dabei, das ergibt sich fernerhin aus dem soeben Dargelegten, als entstehend 507 – und zwar dank des ‚urbedingenden‘ Ich. 508 Diese „genetische Erscheinung“, diese ‚Erscheinung der Erscheinung‘ 509 macht die GA II/8, S. 414. Siehe etwa GA II/7, S. 76. 506 GA II/8, S. 414. 507 Im Ausdruck ‚Erscheinung der entstehenden Vernunft als entstehender‘ ist jedes einzelne Wort bedeutsam: die ‚Erscheinung‘, das ‚Entstehen‘ (= genetisches [Selbst]erzeugen) sowie das ‚Als‘, das der ‚Erscheinung der Erscheinung‘ ihren legitimierenden Charakter verleiht. 508 GA II/8, S. 414. 509 Nun aber nicht mehr – wie am Ende des XIX. Vortrags – im Sinne der „bloßen Erscheinung der Erscheinung“ (GA II/8, S. 298), sondern, wie es am Anfang des XX. Vortrags steht, im Sinne der „Erscheinung überhaupt […] als solche[r]“ (GA II/8, S. 300, hervorgehoben v. Vf.). Fichte gebraucht im XXVIII. Vortrag den Ausdruck ‚Erscheinung der Erscheinung‘ zwar nicht explizit, aus der gesamten Ableitung geht jedoch völlig klar hervor, dass das der Gipfel- und Endpunkt der Erscheinungslehre ist. Er schließt damit an die Stelle im fünften Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804/I an, an der genau dieser Gedanke explizit zum Ausdruck kommt – expliziter als an irgendeiner Stelle des zweiten Vortragszyklus: „[…] die Erscheinung erscheint absolut; das absolute Erscheinen eben drückt sich selber aus, und stellt sich dar, als seiend. – Nicht sein, ohne zu erscheinen, nicht erscheinen, ohne eben zu sein“, GA II/7, S. 92. (Mit dem Wechselverhältnis von ‚Erscheinen‘ und ‚Sein‘, das an jenes von ‚Setzen‘ und ‚Sein‘ im § 1 der Grundlage erinnert, wird deutlich, dass ein gewisser systematischer Zusammenhang zwischen dem ersten Grundsatz der Grundlage und dem Grundsatz der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre von 1804/II besteht. Zum genauen – differenzierteren – Verhältnis beider, durch das offenbar wird, dass nur mittels einer verschränkten Betrachtung vom Grundsatz der Erscheinungslehre und dem Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre in der Wissenschaftslehre von 1804/II von einer Gleichsetzung mit dem ersten Grundsatz der Grundlage sinnvoll die Rede sein kann, siehe weiter unten.) 504 505

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fünfundzwanzigste und letzte Grundbestimmung des transzendentalen Wissens aus. Auch hier steht ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis (von sichmachender Vernunft und Ich [= „Bewusstsein und Selbstbewusstsein“]) in einem ‚abgründigen Umschlagspunkt‘, da es weder anschaulich noch begrifflich einholbar ist. Die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ bezeichnet nicht eine abgeleitete Erscheinung einer ersten Erscheinung, sondern die Tatsache, dass die Erscheinung – sowie das Verhältnis von transzendentalem Wissen und Sein – erst in einem verdoppelnden und dadurch ihr inneres Wesen offenbarenden Erscheinen ihre transzendentale Rechtfertigung und Legitimation erhalten. Dabei ist gerade der Bezug zur faktischen Erscheinung absolut wesentlich, was sich ebenfalls in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis – nämlich dem von Erscheinung qua ‚Erscheinung der Erscheinung‘ und faktischer Erscheinung – äußert. Der von hier aus zu formulierende „Grundsatz“ muss das Prinzip der Ableitung der Erscheinung enthalten. Es wurde gerade gesagt: Das Entstehen der einen absoluten Vernunft erscheint als entstehend. Dieses Erscheinen des Entstehens bringt aber notwendig – so lautet Fichtes dialektische Aussage, die an das Verhältnis von erstem und zweitem Prinzip in der Grundlage erinnert und für die Grundlegung der ‚Wissenschaftslehre in specie‘ ganz wesentlich ist – seinen Gegensatz ins Spiel: „alles Entstehen erscheint als solches nur an seinem Gegenteil.“ 510 Das Gegenteil von Einheit ist Mannigfaltigkeit. Fichte bringt das mit der anfänglichen Konstruktion von Unwandelbarkeit und Wandelbarkeit aus dem III. Vortrag in Zusammenhang (was auch den ‚eigenen Status‘ der ersten, dort gelieferten genetischen Konstruktion des Wissens erklärt, denn diese fällt, wie deutlich wird, mit der vollzogenen letzten Konstruktion des erscheinenden Bewusstseins zusammen). Das „erste Grundgesetz“ (d. h. das seit dem XVI. Vortrag gesuchte ‚analytisch-synthetische Prinzip‘, das der höchste Grundsatz der Wissenschaftslehre von 1804/II ist) lautet dann: Soll die absolute Einheit der Vernunft genetisch erscheinen, so muss in der Erscheinung das Bewusstsein, von welchem abstrahierend ausgegangen 511 wird, erscheinen als ein absolut Wandelbares. 512

Der Grundsatz der Erscheinungslehre besagt somit: Soll es zur genetischen Erscheinung der Vernunft kommen, so muss vom freilich zuerst erscheinen müssenden Bewusstsein (und zwar qua absolut Wandelbarem) abstrahiert werden. Oder: Soll 510 GA II/8, S. 416. Wie Ottilie aus Goethes Wahlverwandschaften in ihrem Tagebuch in einem ähnlichen Sinne vermerkt: „Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn“ (Hamburger Ausgabe, Band 6, S. 384). 511 Der „abstrahierende“ Ausgang vom Bewusstsein ist ein anderes Wort für die Bewusstseinsvernichtung bzw. für die Vernichtung des Begreifens, von der seit der ersten Formulierung der ‚Grundoperation der Genesis‘ schon die Rede war. 512 GA II/8, S. 416.

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die Vernunft genetisch erscheinen, so muss es zur Bewusstseinsvernichtung kommen. Der Bezug zur ‚Sein-Licht-Begriff-Operation‘ ist hier absolut evident. Wie schon im IV. Vortrag anklang, fallen erste und letzte Grundbestimmung des Wissens zusammen. Mit der Schließung des Kreises kommt der Wissenschaftslehre von 1804/II also Systemcharakter zu. Mit der Erwähnung des „absolut Wandelbaren“ wird schließlich auch der Bezug zur Grundbestimmung der ‚Prolegomena‘ hergestellt. Daraus folgt die „erste Anwendung [des] Grundsatzes“: Soll es zur Wissenschaftslehre kommen, das heißt: soll die Wissenschaftslehre ein Sichmachen (Genesis) sein, so muss das Bewusstsein gesetzt werden. 513

Bemerkenswert ist, dass der Satz, der die drei Begriffe Vernunft, Erscheinung und Bewusstsein enthält, als „erstes Grundgesetz“ bezeichnet wird, während der Satz, der die Bedingung der Wissenschaftslehre selbst enthält und ebenfalls drei Begriffe ins Spiel bringt (nämlich Wissenschaftslehre, Genesis und Bewusstsein), lediglich eine „Anwendung“ des Grundsatzes sein soll. Wie ist es zu verstehen, dass diese „Anwendung“ die Wissenschaftslehre überhaupt betrifft? Die in beiden Sätzen enthaltenen Dreiheiten entsprechen sich ganz offensichtlich. Wie wäre es, wenn die „Anwendung“ nicht so verstanden werden darf, dass sie aus dem ersten Grundsatz abgeleitet würde, sondern im starken Sinne des Vollzugs aufgefasst werden muss? Dieser Vollzug betrifft die Wissenschaftslehre selbst. Wenn aber die Begriffe und ihre entsprechenden Verhältnisse jeweils exakt übereinstimmen (wobei zuerst auf die Vernichtung, dann auf die Setzung des Bewusstseins insistiert wird), dann folgt daraus offenbar, dass das Prinzip der Wissenschaftslehre qua Erscheinungslehre und jenes der die Wissenschaftslehre zu ihrem eigenen Selbstverständnis bringenden ‚Wissenschaftslehre in specie‘ zusammenfallen. Und daraus folgt das letzte Wort bezüglich des Verhältnisses von Absolutem und Erscheinung: Sein eigentlicher Sinn offenbart sich in der Wissenschaftslehre qua Phänomenologie. Wie steht es dabei um die oben bereits gestellt Frage, ob und ggf. wie sich der erste Grundsatz der Grundlage in der Wissenschaftslehre von 1804/II wiederfinden lässt? Während in der Grundlage das Ich das ausdrücklich hervorgehobene Zentrum der Setzungen bildet, ist es in der Wissenschaftslehre vom 1804/II das Medium, welches das Scharnier der Artikulierung von Seins- und Erscheinungslehre ausmacht. Zentrale Problematik in 1804 ist die Erscheinung, d. h.: die Erscheinung (Grundsatz der Phänomenologie) des absoluten Seins (Prinzip der Seinslehre). Da die Dimension der Phänomenalisierung oder des Zum-Erscheinen-Kommens des Prinzips eine völlig neue Perspektive innerhalb der Wissenschaftslehre eröffnet und das Ich insofern kontaminiert, als es qua besagtem Medium diese 513

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Phänomenalisierung auf sich nimmt und trägt, ist es nicht sinnvoll, danach zu fragen, ob in dem Prinzip besser: in den jeweiligen Grundsätzen der Wissenschaftslehre von 1804/II der erste Grundsatz der Grundlage unmodifiziert fortlebt. Das ‚Ich‘ oder ‚Wir‘ spielt weiterhin eine tragende Rolle. Aber aufgrund des fundamentalen Perspektivwechsels verändert sich der Status der Grundsätze. Man könnte daher – unter der Berücksichtigung der ‚Einheits‘- und der ‚Differenzthese‘, die im XV. Vortrag eingeführt wurden – die Sachlage auf folgende Art und Weise umformulieren: 514 Die ‚Einheits‘- und die ‚Differenzthese‘ sind beide vertretbar, allerdings jeweils nur partiell. Die ‚Einheitsthese‘ ist insofern richtig, als das Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre sowie der Grundsatz der Erscheinungslehre in der Wissenschaftslehre von 1804/II zusammen betrachtet dem ersten Grundsatz der Grundlage entsprechen. Prägnant formuliert: Der erste Grundsatz der Grundlage fächert sich auf in ‚Setzung durch das Ich‘ und ‚Setzung des Seins des Ich‘ und lautet: ‚Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.‘ So kann die Setzung des Ich als Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre und die Seins-Setzung als Grundsatz der Erscheinungslehre, aber auch umgekehrt erstere als Grundsatz der Erscheinungslehre und letztere als Prinzip der Wahrheits- und Vernunftlehre aufgefasst werden. Im ersten Fall wird das Ich als absolutes Sein und das Sein als dessen Dasein verstanden; im zweiten Fall ist das Ich Prinzip der Erscheinung, welches das Sein insofern setzt, als das Ich sich dadurch als genetisierende transzendentale Bedingung des Seins erweist. Die Tatsache, dass eine solche alternative Lesart möglich ist, kennzeichnet den Status der ‚Erscheinung‘ in der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die ‚Differenzthese‘ wiederum ist richtig, weil das, was in der Grundlage in einem Grundsatz gesagt wird, in der Wissenschaftslehre von 1804/II aufgrund der Einsicht in den Zusammenhang von Sein und Erscheinung in zwei 515 Grundsätzen gesagt werden muss, bzw. der erste Grundsatz von 1794/95 ist bereits Sein und Erscheinung in eins, kann sich aber noch nicht auf diese Weise darstellen; zudem wird 1804 offenkundig, dass in der Grundlage der Übergang vom ersten Grundsatz zu allem Folgenden (nämlich zum zweiten und dritten Grundsatz sowie zu den §§ 4-11) erst möglich wird, wenn der erste Grundsatz adäquat entwickelt wird, was aber 1794/95 noch gar nicht geleistet werden konnte, da sich Fichte der grundlegenden Rolle der ‚Erscheinung‘ noch nicht bewusst geworden war. Allgemein ausgedrückt (und die Frage, wieviel Bewusstseinstheorie in der Grundlage noch wirksam ist, einmal ausblendend): Die ‚Einheits‘- und die ‚Differenzthese‘ sind beide partiell richtig (und in demselben Maße zugleich auch nicht völlig richtig), weil der erste Grundsatz der Grundlage in sich mehrdeutig und heterogen ist. 514 Ich danke sehr herzlich Leonard Ip für den schriftlichen Austausch sowie die wertvollen Gespräche, die diese Klarstellung ermöglicht haben. 515 Das ändert aber nichts daran, dass der höchste Grundsatz des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 der Grundsatz der Erscheinungslehre ist.

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Seine eigentliche Bedeutung wird erst dann verständlich, wenn man – wie das in der Wissenschaftslehre von 1804/II der Fall ist – seiner ganzen Komplexität gerecht wird. Erst danach erfolgt die Bestimmung des realen Gehalts der Erscheinung (was den §§ 2-11 der Grundlage entspricht). Diese Herausstellung des Prinzips der Erscheinungslehre ist in der Tat noch nicht das letzte Wort in Bezug auf die „Realität“ und ihre möglichen Ansichten. Was damit gemeint ist, lässt sich nur schwer den äußerst dichtgedrängten Bemerkungen in den letzten drei Seiten 516 dieses XXVIII. Vortrags entnehmen (Anleihen aus der zwei Jahre später ausgearbeiteten Anweisung zum seligen Leben mögen hilfreich sein). Zunächst legt Fichte dar, dass das Ich oder Bewusstsein in der Erscheinung, wie es im „ersten Grundsatz“ zum Ausdruck kommt, der „Materie“ und der „Form“ nach betrachtet werden kann. Der „Materie“ nach ist es Realität in der Erscheinung. Als solche (in der das Bewusstsein sich als „unbegreifliches“ offenbart) ist es absolut wandelbar und zersplittert sich in unendliche Mannigfaltigkeit. In der vierten und fünften Anweisung zum seligen Leben heißt es dazu: Das Objekt (= die Welt) spaltet sich durch die Reflexion in unendliche Mannigfaltigkeit (d. h. die freie Reflexion ist die Erzeugerin der Mannigfaltigkeit in der Welt). Der „Form“ nach dagegen spaltet es sich in vier (bzw. fünf) „Standpunkte“. In der Anweisung heißt es am angegebenen Ort: Die Reflexion auf das Objekt selbst spaltet sich abermals durch die Reflexion in fünf (reflexive) Ansichten auf die Welt. Diese Ansichten stellen „gesonderte Prinzipe“517 dar, die jeweils einseitige „Standpunkte“ über die Realität darstellen. Diese „Standpunkte“ oder „Grundprinzipien“ wurden bereits in diesem XXVIII. Vortrag abgeleitet und betrafen zunächst „(stehendes) Subjekt“, „(stehendes) Objekt“, „Bilden“ und „Urkonstruktion“. Sie bilden eine aufsteigende Reihe. 1.) Dem „stehenden Objekt“ entspricht der Standpunkt der Sinnlichkeit (Glaube an die Natur; Materialismus). 2.) Das „stehende Subjekt“ steht für den Standpunkt der Legalität (Glaube an die Persönlichkeit; Stoizismus). 3.) Das Bilden des Subjekts ergibt den Standpunkt der Moralität (das Handeln ist dabei das des Ich = Glaube an das freie Ich; Kants praktische Philosophie). 518 4.) Das Leben des Objekts (qua Urkonstruktion) macht den Standpunkt der Religion aus (das Handeln ist dabei jenes von Gott = Glaube an Gott; Christentum). Diese Standpunkte schließen sich gegenseitig nicht aus, aber in jedem ist das entsprechende Grundprinzip vorherrschend. Zu diesen vier Standpunkten oder Grundprinzipien kommt 5.) noch das „vereinigende Prinzip“ hinzu, das den Standpunkt der Wissenschaftslehre ergibt. GA II/8, S. 416, Z. 10 – S. 420, Z. 27. GA II/8, S. 416. 518 In der Anweisung zum seligen Leben wird Fichte Kants praktische Philosophie dagegen dem Standpunkt der Legalität (bzw. der „Gesetzmäßigkeit“) zuordnen und Platon und Jacobi für exemplarische Vertreter des Standpunkts der Moralität ansehen. 516 517

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Diese fünf Standpunkte sind – in völliger Entsprechung zum aufgewiesenen Zusammenfallen von Prinzip der Erscheinungslehre und der ‚Wissenschaftslehre in specie‘ – laut Fichtes eigenem Bekunden 519 die fünf Grundmomente des transzendentalen Wissens. Und wenn man berücksichtigt, dass jeder dieser fünf Standpunkte fünf Grundmomente hat (die den Grundprinzipien innerhalb des jeweiligen Standpunktes entsprechen), ergeben sich insgesamt 25 Grund- oder Hauptmomente. Fichte bezeichnet sie als „ursprüngliche Grundbestimmungen des Wissens“. 520 Die Frage nach der Zuordnung dieser Grundbestimmungen des Wissens zu den genetischen Konstruktionen dieses Zyklus der Wissenschaftslehre wurde bereits geklärt. Somit kann ein tabellarisches Schema der Grundbestimmungen des Wissens (der von Fichte so bezeichnete „Schematismus“) 521 erstellt werden, das diese veranschaulichen sollen. Zuvor wird dieser Vortrag mit zwei Bemerkungen abgeschlossen. Nota bene 1: Die Zerspaltung in die 25 Grundbestimmungen des Wissens einerseits sowie in die aus der Reflexion auf Einheit stammende Fünffachheit des Realen (aus der dann die Zersplitterung in die unendliche Mannigfaltigkeit erfolgt) andererseits sind die beiden Disjunktionsfundamente, die den Abschluss dieser Fassung der Wissenschaftslehre bilden. Da von Anfang an gesagt wurde, dass sie sich grundsätzlich gegenseitig bedingen, ist klar, dass dies auch für diese beiden Disjunktionsfundamente gelten muss. Es geht aber – wie Fichte hervorhebt – vor allem auch daraus hervor, dass das Prinzip beider jeweils die Fünffachheit ist. Nota bene 2: Das Bewusstsein und seine Gesetze wurden in der zweiten oben angezeigten Richtung lediglich faktisch bestimmt. Nun wurde das auch durch die Realisierung der Genesis der Wissenschaftslehre selbst erwiesen, was, wie bereits gezeigt wurde, die Reflexion auf die Abstraktion von der Vernunfteinsicht zur Voraussetzung hatte. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass diese Fassung der Wissenschaftslehre in die Aufweisung der Einheit von Wissenschaftslehre und Phänomenologie mündet. Festzuhalten ist, dass die Erscheinungslehre oder Phänomenologie darin mündet, dass sie einerseits die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ als vermittelndes Glied von ‚lebendigem Sein‘ und ‚transzendentalem Wissen‘ genetisiert und andererseits das wechselseitige Bedingungsverhältnis von ‚absoluter Vernunft‘ und ‚erscheinendem Bewusstsein‘ darlegt. Unter ‚Erscheinung der Erscheinung‘ ist dementsprechend sowohl der Genetisierungscharakter des absoluten Wissens als auch die konkrete und notwendige Erscheinungshaftigkeit desselben zu verstehen. Beides wird

519 520 521

GA II/8, S. 420. GA II/8, S. 418. GA II/8, S. 420, Z. 17.

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Achtundzwanzigster Vortrag

durch das „Soll“ vermittelt, in dem sich die ‚hypothetische Kategorizität‘ als modallogische Grundfigur der Wissenschaftslehre herauskristallisiert.

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DIE 25 GRUNDBESTIMMUNGEN DES WISSENS IN DER

Wissenschaftslehre von 1804/II

Vortrag

Grundbestimmung

Disjunktionsglieder

Einheitsprinzip

III

Grundbestimmung der ‚Prolegomena‘

Unwandelbares, Wandelbares

rein Wandelbares

IV

1. Grundbestimmung

Sein, Begriff

Licht

V–VI

2. Grundbestimmung

Urkonstruktion, Nachkonstruktion

Einsicht der Einsicht vom Licht

VII

3. Grundbestimmung

Abgebildetes, Bild

Urbegriff (B)

VIII

4. Grundbestimmung

Immanenz, Emanenz

Urlicht (L)

X

5. Grundbestimmung

Leben (0), höherer Begriff (Durch)

Soll

XI

6. Grundbestimmung

Leben, Durch

niederer Idealismus (Energie = Intuition des Lebens)

XI

7. Grundbestimmung

Leben, Durch

niederer Realismus („0“ = geschlossenes, inneres Leben)

XII

8. Grundbestimmung

Anschauung, Begriff

höherer Realismus (Selbstkonstruktion)

XII

9. Grundbestimmung

Anschauung, Begriff

XIII– XV

10. Grundbestimmung

Anschauung, Begriff

höherer Idealismus (Intuition der Reflexion) Lebendiges, kategorisch selbstkonstruiertes (mit dem Wir zusammenfallendes) Sein

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Die 25 Grundbestimmungen des Wissens in der Wissenschaftslehre 1804/II

Vortrag

Grundbestimmung

Disjunktionsglieder

Einheitsprinzip

XV

11. Grundbestimmung

Leben, Wir

Lebendiges, problematisch selbstkonstruiertes (und in einer faktischen Einsicht eingesehenes) Sein

XVI

12. Grundbestimmung

Wesen, Bewusstsein

Soll

XVII

13. Grundbestimmung

Selbstkonstruktion, Soll

Als (= Soll als Soll)

XVIII

14. Grundbestimmung

Sein, Selbstkonstruktion

Von

XIX– XX

15. Grundbestimmung

XXII

16. Grundbestimmung

neues Licht, VermittVon des Von lung von altem Licht (neues Von) und altem Von (= Urerscheinung) transzendentales Soll Wissen, gewöhnli- = Genesis der Sichgenesis ches Wissen = Wir

XXIII

17. Grundbestimmung

Sein, Sichgenesis

Gewissheit

XXIV

18. Grundbestimmung

Intuition, Sichprojizieren

Gesetz

XXIV

19. Grundbestimmung

Gesetz, Faktum

Gesetz des Gesetzes

XXV

20. Grundbestimmung

absolutes Wissen, Bild des absoluten Wissens

Gesetz des Bildes

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Die 25 Grundbestimmungen des Wissens in der Wissenschaftslehre 1804/II

193

Vortrag

Grundbestimmung

Disjunktionsglieder

Einheitsprinzip

XXV

21. Grundbestimmung

absolutes Wissen, Dasein des absoluten Wissens

Position der Genesis des Daseins des absoluten Wissens

XXVI

22. Grundbestimmung

Gewissheit, Sehen

Zusammenfallen von absolutem Wissen und Wir

XXVII

23. Grundbestimmung

Sichvernichten und Sichbeziehen des Sehens

Setzung des Daseins des Sehens

XXVII– XXVIII

24. Grundbestimmung

Vernunft, Dasein der Vernunft

Sich-Machen der Vernunft (qua ‚intellektuelle Anschauung‘)

XXVIII

25. Grundbestimmung

Vernunft, Bewusstsein

Erscheinung der entstehenden Vernunft als entstehender = genetische Erscheinung = ‚Erscheinung der Erscheinung‘

XXVIII

Grundbestimmung der ‚Prolegomena‘ sowie der Ableitung der Erscheinung

Wandelbares, Unwandelbares

erscheinendes Bewusstsein

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SCHLUSS In diesem Schlussteil sollen noch einmal Methode und Gehalt des zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 synthetisch zusammengefasst werden – und dies mit dem Zweck, sich einerseits einen Überblick über die Gesamtkonstruktion der Wissenschaftslehre von 1804/II zu verschaffen und sich darüber hinaus die Mittel an die Hand zu geben, Fichtes Position im Hinblick auf die ‚Transzendentalphilosophie‘ und auf die ‚Ontologie‘ (bzw. auf die Philosophie des ‚Absoluten‘) abschließend zu kennzeichnen. * Zur Methode der Wissenschaftslehre von 1804/II. Es wurde anfangs darauf hingewiesen, dass diese Fassung der Wissenschaftslehre in einer Auseinandersetzung mit der kantischen kritischen Philosophie besteht und zum vorrangigen Ziel hat, den Begriff der ‚Transzendentalphilosophie‘ zu klären. Es geht um die grundsätzliche Frage, wie eine Erkenntnislegitimation überhaupt möglich ist und tatsächlich geleistet werden kann. Nichts anderes hat Fichte im Sinn, wenn er von der ‚Ableitung‘ oder der ‚Genetisierung‘ des Wissens spricht. Die Frage, die man sich dabei zu Recht stellen kann und auch muss, ist, ob er diesem hohen Anspruch – dem vielleicht höchsten der Erkenntnislehre überhaupt – gerecht wird. Um das bewerten zu können, soll noch einmal Fichtes methodologischer Grundgedanke der ‚Genetisierung‘ in seinen wesentlichen Facetten dargestellt werden. Die Genetisierung setzt fünf grundlegende Aspekte bzw. Begriffe miteinander in Verbindung: die formallogischen Gesetze, das Projekt einer transzendentalen Logik, die lebendige Vollzugshaftigkeit, die Selbstvernichtung und den sich entziehenden Umschlag. Ausgangspunkt ist, wie das bereits in der Grundlage sowie der Begriffsschrift deutlich wurde, die Gültigkeit der formallogischen Gesetze. Auch wenn die Genetisierung die formallogische Gesetzlichkeit an ihre äußersten Grenzen führt, ist die logische Kohärenz und Konsistenz die Voraussetzung für jeden ihrer Schritte. Die Genetisierung stellt die Rationalität nicht nur nicht in Frage, sondern sie gestaltet sie auf eine Weise aus, die ihre spekulativen Grundlagen offenlegt. Dabei wird insbesondere klar, dass die logischen Gesetze transzendentale Bedingungen haben, die von der formalen Logik selbst nicht einzuholen sind. Bereits in der Grundlage wurden, was das Verhältnis zur Idee einer transzendentalen Logik betrifft, die logischen Grundsätze – insbesondere das principium identitatis, der Satz des auszuschließenden Widerspruchs und der Satz des zureichenden Grundes – auf den Satz der Selbstsetzung, des Entgegensetzens und des Teilens zurückgeführt (wozu der Bezug auf Kants Kategorien der Qualität [Realität, Negation und Limitation] ebenfalls mit zu berücksichtigen ist). Diese Problematik kommt in der Wissenschaftslehre von 1804/II auf eine andere Weise

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Schluss

wieder ins Spiel. Für die Genetisierung ist dabei zunächst wichtig, dass die formallogischen Gesetze in zweierlei Hinsicht ihre reine Formalität einbüßen. Zum einen wird dem genuin ‚Logischen‘ das Vermögen des Bedingens zugesprochen: Es liefert die verstandesmäßigen ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ der Erkenntnis. Zum anderen ist es nicht mehr inhalts- und gegenstandslos, sondern durch fundamentale Bezughaftigkeit ausgezeichnet. Wenn Kant, wie Fichte im ersten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804/II sagen konnte, zum Entdecker der Transzendentalphilosophie wurde, dann genau deshalb, weil er die irreduzible gegenseitige Korrelation von Denkendem und Gedachtem hervorgehoben hatte. Soweit die ersten beiden Aspekte, die noch voll und ganz in Einklang mit Kant stehen. Fichte geht nun insofern über Kant hinaus, als die Genetisierung die transzendental eingebetteten Denkgesetze nicht als bloß ‚logische‘ (im Sinne von lediglich zu denkende, von der Philosophin heranzubringende) Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis ansieht, sondern diese auch lebendig vollzieht. Das findet in einer ‚Einsicht‘ oder, cartesianisch-husserlianisch ausgedrückt, in einer ‚Evidenz‘ statt, die nicht auf eine lediglich psychologische Begleiterscheinung eines allein maßgeblichen Inhalts zurückgeführt werden darf. Der lebendige Vollzug macht die erste Grundbestimmung der Fichte’schen Genetisierung aus. Die zweite Grundbestimmung liefert die Selbstvernichtung. Ihre Bedeutung kann folgendermaßen bestimmt werden. Fichte verfährt grundsätzlich immer so, dass zunächst faktisch aufgestellt wird, was dann in einem zweiten Schritt genetisch eingeholt werden soll. Der Grund dieses Verfahrens ist so zu fassen: Jedes Mal, wenn Fichte sich an die Genetisierung des Wissens macht und ein Prinzip aufstellt, geschieht das in der Absicht, das Wissen eigens zu greifen und in engster Entsprechung zu seinem inneren Wesen darzustellen. Aber gerade durch das Aussprechen oder gar begriffliche Fassen dieses Wesens des Wissens wird dieses unweigerlich fixiert und damit seiner genuinen Bestimmtheit – als dynamischem, schwebendem, beweglichem, kurz: eben als genetischem – beraubt. Das ist allerdings auch gar nicht anders möglich. Diese Charakteristik muss als Wesensbestimmung des Wissens verstanden werden.522 Genauso bedeutsam ist aber auch das, was daraus folgt: nämlich, dass diese begriffliche Darstellung – oder das ‚Bild‘ – des eigens zu fassenden Wissens sich selbst vernichten muss. Diese Vernichtung impliziert ein Setzen: Das Schwierigste und Höchste, was Fichte seiner Leserin (eher: seiner Hörerin) abverlangt, und was die formallogischen Gesetze auf ihre härteste Probe 522 Fichte hat fast zweihundert Jahre vor Derrida eine wesentliche Bestimmung von dessen ‚Dekonstruktion‘ erkannt. Das zu Wissende kann immer nur nachträglich, in Fichtes Worten: in einer Nachkonstruktion, erfasst werden. In gewisser Weise geht er aber auch schon über Derrida hinaus. Denn während dieser die Dekonstruktion selbst als letzten möglichen Weg der Wissens(de)legitimation betrachtet, lässt sich nach Fichtes Dafürhalten das ‚Begreifliche des Unbegreiflichen‘ doch darlegen – nämlich in dem Vollzug (im ‚Urwissen‘) der Selbstvernichtung (sowie in dem einem ‚Umschlagspunkt‘ statthabenden Sich-Machen der Vernunft), was zugleich (doch) auch eine (sowohl negative als auch positive) Setzung des Nachzukonstruierenden möglich macht.

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Schluss

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stellt, besteht darin, die Einsicht zu erlangen, dass die Selbstvernichtung und das Setzen der transzendentalen Bezughaftigkeit durch den Begriff Hand in Hand gehen – und das kommt in dem an mehreren Stellen geäußerten, gleichsam umgekehrten Gedanken (mit dem das vorige Setzen-und-Vernichten bzw. Vernichten-und-Setzen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis steht) zum Ausdruck, das Zum-Leben-Kommen des Begriffs habe ein ‚lebendiges Sein‘ (Licht, ‚Von‘ usw.) zur Voraussetzung. Das ist jedenfalls ein ganz wesentlicher Gedanke in Bezug auf die Genetisierung – Fichtes vielleicht bedeutendster Beitrag zur Transzendentalphilosophie überhaupt. Damit ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen. Jenem ‚Hand-in-HandGehen‘ selbst kann nämlich nicht beigewohnt werden. Es vollzieht sich in einem ‚Umschlagspunkt‘, der sich entzieht und demgegenüber der Wissenschaftslehrer immer entweder ‚zu früh‘ oder ‚zu spät‘ kommt. Somit kontaminiert das Sichvernichten die Einsicht der Genesis und des Genetisierens selbst. Das hat entscheidende Konsequenzen für die Art, wie der Begriff der ‚Einheit‘ – wenn Philosophieren im Zurückführen auf Einheit bestehen soll – im Lichte der Fichte’schen Transzendentalphilosophie letztlich zu fassen ist. Diese Einheit kann keine festgesetzte und stabile mehr sein, sondern sie muss als eine ‚flimmernde‘, ‚schwingende‘, ‚schwebende‘ Einheit aufgefasst werden, welche die unaufhebbare Spannung von transzendentalem Gründen und Unbegreiflichkeit in sich trägt und zum Ausdruck bringt. Damit mündet die Wissenschaftslehre aber nicht in einer Wissensdämmerung, sondern der ‚Grabstätte des Begriffs‘ tut sich ein Ausgang auf, dank dessen der Vollzug des ‚Begreifens des Unbegreiflichen‘ für sie eine offene Möglichkeit bleibt. * Zum wesentlichen Gehalt der Wissenschaftslehre von 1804/II. Die in den ersten beiden Vorträgen gestellte Ausgangsfrage lautet: Was ist überhaupt Wissenschaftslehre? 523 Die Wissenschaftslehre entspricht zwar ganz offenkundig dem in Fichtes Augen recht verstandenen Begriff der von Kant begründeten Transzendentalphilosophie, d. h. jener Philosophie, die das transzendentale Wissen – das spezifisch philosophische Wissen, das jedes Wissen überhaupt zu einem Wissen ‚macht‘ – begründet und rechtfertigt. Aber wenn bereits der junge Schelling in einem berühmten Brief an Hegel vom 6. Januar 1795 darauf hingewiesen hatte, Kant habe „die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen?“, 524 so spiegelt das auch Fichtes Meinung wider, denn Kant hatte in seinen Augen weder die höchste Erkenntnisform Vgl. auch den Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre von 1804/III, GA II/7, S. 302. F. W. J. Schelling, Briefe und Dokumente, Band II, H. Fuhrmans (Hsg.), Bonn, Bouvier, 1962– 1975, S. 57. 523 524

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Schluss

adäquat erfasst, noch den Begriff des Seins (bzw. der Realität) treffend gekennzeichnet. Die zu suchenden Prämissen sollen daher in der Wissenschaftslehre entfaltet werden, die ihrerseits sachangemessen – und das bedeutet: dem gehörigen und füglichen Gehalt des Begriffs des Transzendentalen gemäß – dargelegt werden muss. Der am Anfang des III. Vortrags gelieferte erste Bestandteil einer Antwort auf jene Ausgangsfrage unterstreicht, dass die Wissenschaftslehre keine inhaltlichen (‚toten‘) Bestimmungen aufzählen kann, sondern in einem (‚lebendigen‘) Vollziehen bestehen muss. Dieses Vollziehen ist das in einem Selbstdenken (in einem eigenen Denkvollzug) geleistete Realisieren des Wissens qua ‚rein für sich bestehender Substanz‘. Und diese Substanzialisierung des Wissens bedeutet, dass Fichtes Grundgestus der Wissenschaftslehre sowohl einer Radikalisierung der kantischen Kopernikanischen Revolution als auch einer Spinozisierung der Transzendentalphilosophie gleichkommt. Das im Hinblick auf das Erfassen des Wissens als Wissen geleistete ‚Realisieren der Substanz‘ ist ein anderer Ausdruck für ein Denken des Seins, sofern dieses Denken seinerseits durch das Sein selbst bestimmt wird. Mit der ‚Substanzialität‘ und dem ‚Realisieren‘ (bzw. dem ‚Vollziehen‘) sind die beiden Grundaspekte, anhand derer die Realisierung der Wissenschaftslehre selbst geleistet wird, von vornherein benannt. Sie entsprechen den in der Einleitung und im Kommentar des III. Vortrags herausgearbeiteten zwei ‚Einheiten‘ des Wissens selbst, die es zu vermitteln gilt: nämlich der ‚qualitativen‘ Einheit jedes Wissens, sofern es eben ein Wissen ist; und der im lebendigen Bewusstseinsakt vollzogenen Einheit, die sich aus der Apprehension je konkret durchlaufener Wissensbestände ergibt. Es geht dabei, vereinfacht ausgedrückt, darum, dass im Wissen sowohl ‚noematisch‘ das Wissen als Wissen, als auch ‚noetisch‘ der im Selbstdenken erfolgende Wissensvollzug gleichberechtigt Berücksichtigung finden müssen. Die erste Einheit ist in sich geschlossen (sie ist ‚immanent‘) und muss, wenn sie denn die Einheit eines substanziellen Wissens sein soll, eine Sichkonstruktion qua Urkonstruktion enthalten; die zweite Einheit geht gleichsam aus sich heraus (sie ist ‚emanent‘) und kann – und muss – nur nachkonstruiert werden. Diese Zweiheit von Urkonstruktion und Nachkonstruktion, von „Machen des Seins“ und „Machen des Machens“, 525 nennt Fichte die „absolut ursprüngliche Disjunktion“, 526 deren Mittelpunkt „in der Wissenschaftslehre“ und durch eben jene Realisierung ihrer selbst aufgewiesen werden soll 527 – was somit also doch auf eine (freilich zu bestimmende) ‚höchste Einheit‘ verweist. Die Wissenschaftslehre ist dabei nichts anderes als das genetische Werden dieses Mittelpunkts, den Fichte auch als ‚Einheits- und Disjunktionspunkt‘ – und zwar von 525 526 527

GA II/8, S. 412. Ebd. GA II/8, S. 412f.

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Schluss

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der aufzuweisenden höchsten Einheit qua Prinzip sowie zweier sogenannter ‚Divisionsfundamente‘, deren inhaltliche Bestimmungen in diesem zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 herausgestellt werden – bezeichnet. Damit ist die faktische Ausgangslage gekennzeichnet. Diese Tatsache des Wissens muss in einer ‚Tathandlung‘ ausgewiesen, d. h. genetisiert werden. Das geschieht – in einem langwierigen Prozess – auf fünf Genetisierungsstufen (oder Genetisierungsebenen) mittels der Aufweisung von jeweils fünf Grundbestimmungen des Wissens (woraus insgesamt also 25 solcher Grundbestimmungen resultieren). Die ersten beiden Genetisierungsstufen machen die ‚Wahrheits- und Vernunftlehre‘, die letzten drei die „Erscheinungslehre“ aus. Diese beiden ‚Lehren‘ münden jeweils in einem ‚Grundsatz‘ – dem Grundsatz der Seinslehre und dem Grundsatz der Erscheinungslehre. Der letztere fällt mit dem Grundgesetz der ‚Wissenschaftslehre in specie‘ zusammen. Nach der Aufstellung des Faktums des Wissens im III. Vortrag mit der Gegenüberstellung der beiden erwähnten, das transzendentale Wissen kennzeichnenden Einheiten des Wissens – zwei ‚Glieder‘, deren genetische Grundlage es also zu deduzieren gilt –, stellt sich die Aufgabe, diese Zweiheit auf den besagten Einheits- und Disjunktionspunkt zurückzuführen. Das weist den Weg des in dieser Fassung der Wissenschaftslehre verfolgten Gedankengangs. Auf der ersten Genetisierungsstufe (Vorträge IV-X) wird jene Aufgabe durch das ‚Licht‘ als erste Grundbestimmung des Wissens erfüllt. Das ‚Licht‘ ist deswegen ein angemessener Terminus, weil es eine Art des erfassenden Einleuchtens benennt, das die Zweiheit einer einseitig begrifflichen und einer einseitig anschaulichen Seite zu überwinden vermag. Es thront dabei über dem zweifachen Prozess der Setzung und Vernichtung des Begriffs einerseits, der das bloße verstandesmäßige Erfassen bzw. das Bewusstsein selbst kennzeichnet, und der Absetzung eines unbegreiflichen Seins als ‚Träger der Realität‘ andererseits. Mit dieser ‚Grundoperation‘ ist die „Wahrheit selber“ 528 bereits beim Namen genannt. Die ‚Wahrheit selbst‘, weil sie der erste Schritt ist, auf den alle weiteren folgen; aber auch weil damit bereits das Ziel – nämlich das Prinzip der ‚Erscheinungslehre‘ bzw. ‚Phänomenologie‘ – dieser Fassung der Wissenschaftslehre zum Ausdruck kommt. Die solcherart ‚erblickte‘ Wahrheit erweist sich nämlich sogleich – durch ihr gedankliches oder sprachliches Erfassen – lediglich als ein Bild des gesuchten Prinzips des Wissens. In einer Reflexion auf diesen Tatbestand ergibt sich eine neue Zweiheit – die von ‚Bild‘ und ‚Abgebildetem‘ bzw., wie schon angemerkt wurde, von ‚Nachkonstruktion‘ und ‚Urkonstruktion‘.529 Diese wird nicht GA II/8, S. 110, Z. 18. Damit hat sich der Gegenstand der Wissenschaftslehre differenziert: Über die Aufweisung der ‚Wahrheit‘ hinaus geht es auch um das Wissen darum (welches das Wissen der Wissenschaftslehre selbst bzw. das Wissen qua Wissenschaftslehre ist) – hierfür steht, wie gesagt, das ‚Bild‘, die ‚Erscheinung‘ oder auch die ‚Nachkonstruktion‘ in ihrem jeweiligen Verhältnis zu ‚Abgebildetem‘, ‚Sein‘ oder 528 529

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Schluss

unmittelbar im Licht (wie das in der ersten Grundbestimmung des Wissens der Fall war) und auch nicht in der ‚Einsicht des Lichts‘ (die gleichsam bloß der idealistische Widerpart desselben wäre), sondern in der „Einsicht der Einsicht vom Licht“ (= zweite Grundbestimmung des Wissens) synthetisiert. Die ersten beiden Grundbestimmungen des Wissens der ersten Genetisierungsstufe (die, wie dadurch deutlich wird, den beiden in der Einleitung eingeführten ‚Grundoperationen‘ entsprechen) werden auf einer höheren Reflexionsebene innerhalb derselben Genetisierungsstufe 530 vereinigt. Diese Vereinigung wird durch die drei letzten Grundbestimmungen des Wissens auf dieser ersten Genetisierungsstufe geleistet – durch den „Urbegriff“ und das „Urlicht“, mit denen die inhaltliche Quintessenz des Gegensatzes von Nachkonstruktion und Urkonstruktion noch auf eine neue Ebene erhoben wird, sowie durch das beide vereinigende „Soll“. „Urbegriff“ und „Urlicht“ machen jeweils das Wesen des Begriffs (= Durch) sowie der Anschauung (= Licht bzw. Leben) aus. Dabei wird deutlich gemacht, dass das Bedingungsverhältnis von Begriff und Licht, wie es in der ersten Grundbestimmung des Wissens zum Ausdruck kam, nicht nur einseitig die Setzung (und Vernichtung) des Begriffs als Bedingung des Sich-Äußerns des Lichts, sondern umgekehrt auch die Voraussetzung des Lichts als Bedingung für das Zum-Leben-Kommen des Begriffs zutage fördert. Das „Soll“, dessen Bedeutung erst in der Erscheinungslehre voll und ganz offengelegt wird, ist schließlich der Mittel- und Schwebepunkt von Sein, (formalem) Begriff, Leben (bzw. Licht) und Urbegriff und vollendet damit eine die erste Genetisierungsstufe kennzeichnende und erschöpfende Fünffachheit. Die zweite Genetisierungsstufe (Vorträge XI-XIV) schließt (noch) nicht an das „Soll“ an – das wird tatsächlich erst auf der dritten Genetisierungsstufe nach der Aufstellung des Grundsatzes der Seinslehre geschehen –, sondern sie verbleibt auf der Ebene der Entgegensetzung von Anschauung und Begriff, von „Leben“ und „Durch“, und dekliniert die verschiedenen Spielarten des „Idealismus“ und des „Realismus“ durch. Derer gibt es zunächst jeweils zwei (was insgesamt vier Grundbestimmungen des Wissens ausmacht): Prinzip des „niederen Idealismus“ ist das energische Denken bzw. die Intuition des Lebens, das des „niederen Realismus“ das geschlossene, innere Leben (= „0“). – Fichte entwickelt eine originelle Wahrheitskonzeption, deren eigentlicher Gehalt dann in der ‚Urkonstruktion‘. Und diese Zweiheit ist nichts anderes als die ursprünglich angesprochene Zweiheit von Sein und Denken bzw. den beiden aufgewiesenen Einheiten des Wissens. 530 Man muss, auch wenn Fichte das so nicht kennzeichnet, zwischen den fünf ‚Genetisierungsstufen‘ und verschiedenen, darin enthaltenen ‚Reflexionsebenen‘ unterscheiden, die durch die in ihnen vollzogenen genetischen Konstruktionen nachvollziehbar werden. Diese genetischen Konstruktionen entsprechen den konkret vollzogenen Deduktionsschritten, aus denen sich auf jeder Genetisierungsstufe – der ‚Reflexion auf Einheit‘ (und zwar auf die Einheit des transzendentalen Grundgedankens der Korrelativität von Sein und Denken) gemäß – jeweils fünf ‚Grundbestimmungen des Wissens‘ herauskristallisieren.

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Schluss

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Erscheinungslehre entfaltet wird. – Der „höhere Realismus“ beruht auf der Selbstkonstruktion, der „höhere Idealismus“ dagegen auf der Intuition der Reflexion. Die fünfte Grundbestimmung des Wissens besteht auf dieser zweiten Genetisierungsstufe schließlich im Zusammenfallen von einem „noch höheren Idealismus“ und einem „noch höheren Realismus“ und das heißt: von Selbstbewusstsein und intelligiertem Ansich. Diese fünf Grundbestimmungen des Wissens legen die Fünffachheit aller denkbaren realistischen und idealistischen Standpunkte sowie ihre Aufhebung dar. Der positiven Kennzeichnung der zehnten und letzten Grundbestimmung des Wissens auf dieser zweiten Genetisierungsstufe wird dann die Formulierung des Prinzips der Seinslehre entsprechen, in welchem Prinzip die erste Grundbestimmung des Wissens auf der folgenden dritten Genetisierungsstufe bestehen wird. Das Prinzip der Seinslehre und der „noch höhere“ – und das heißt in Wirklichkeit: der (zumindest bis hierher) höchste – Realismus fallen zusammen. Dessen Formulierung – mit der wir dann in der Tat bereits auf der dritten Genetisierungsstufe (Vorträge XV-XXI) angekommen sind – ist äußerst kurz. Dieses Prinzip besteht in einer einzigen Einsicht, wonach das Sein „ein in sich geschlossenes Singulum des Lebens und Seins“ ist. Dieses lebendige Sein wird in dieser Seinslehre lediglich faktisch eingesehen. Grundlegend ist es aber um die Genesis dieses Faktums zu tun – und das ist Gegenstand der Erscheinungslehre. Die Aufgabe der Seinslehre bestand darin, das Licht als Prinzip des Begriffs zu erweisen – was die Vernichtung dieses Begriffs mit sich brachte. Die Aufgabe der Erscheinungslehre dagegen ist es, den Begriff (wieder) aus dem Licht hervorgehen zu lassen. Der erste Teil ist demnach nicht nur eine ‚Wahrheits‘-, ‚Vernunft‘- oder ‚Seinslehre‘, sondern auch eine ‚Lichtlehre‘ und der zweite Teil nicht nur eine ‚Erscheinungs‘-, sondern auch eine ‚Begriffslehre‘. 531 Die Verfahrensweise unterscheidet sich dementsprechend grundsätzlich. Während im ersten Teil stets von Zweiheiten ausgegangen wird, um diese im und durch das Licht zu synthetisieren, steht im zweiten Teil je das vermittelnde Einheitsglied im Vordergrund, das als Prinzip von Begriff und Erscheinung fungiert. Genau derselbe Umschlag auf der methodologischen Ebene ist im § 16 der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 angelegt. Auf den drei Genetisierungsstufen der den zweiten Teil der Wissenschaftslehre von 1804/II ausmachenden Erscheinungslehre wird jeweils eine spezifische Genetisierung vollzogen – die des Seins (dritte Genetisierungsstufe), des transzendentalen Wissens (vierte Genetisierungsstufe) und der Erscheinung (fünfte 531 Es soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass das Sehen zugunsten des Begreifens zurückgestellt würde – was mit einer „Phänomenologie“ unvereinbar wäre –, sondern dass die Vermittlung von Sehen und Begreifen den entscheidenden methodologischen Aspekt der Erscheinungslehre ausmacht. Anders ausgedrückt: Das Licht erweist sich nicht bloß – wie im ersten Teil – als lebendiges Sein, sondern als vermittelte Identität von Sein und Sehen.

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Genetisierungsstufe). Auf der ersten Genetisierungsstufe der Phänomenologie wird eine an die zwei Fünffachheiten des ersten Teils anschließende neue Fünffachheit entwickelt – nämlich die von zwei Arten des Seins, von zwei Arten des Denkens und von der ersten Benennung der vermittelnden Erscheinung, d. h. genau gesagt: lebendiges Sein (= niederes Sein), Soll (= niederes Denken), Als (= höheres Denken), Von (= höheres Sein) und Urerscheinung (= Von des Von). Ausgangspunkt der dritten Genetisierungsstufe ist, was auf eine folgerichtige Weise an den Endpunkt des ersten Teils anschließt, das lebendige Sein (= elfte Grundbestimmung des Wissens). Dieses, wie gesagt, zunächst bloß faktisch eingesehene Sein ist aber keine reine Einheit, sondern durch die Zweiheit von „Leben“ und „Wir“ gekennzeichnet, die es zu synthetisieren gilt. Es muss somit die Einheit von Selbstkonstruktion des Seins und von Vollzug der Konstruktion mittels des „Wir“ genetisiert werden. Das ist eine der Hauptaufgaben der Phänomenologie. Diese Genetisierung beginnt mit der zwölften Grundbestimmung des Wissens. Mit ihr wird die auf der zweiten Genetisierungsstufe unterbrochene Bezugnahme zum „Soll“ wieder aufgenommen. Das „Soll“ besteht auf dieser Ebene der Genetisierung nicht mehr – wie das lebendige Sein – in einer realen (kategorischen) sondern in einer idealen (problematischen) Selbstkonstruktion, worin sowohl ein „Sich-selber-Machen“ (die transzendental gewendete ‚causa sui‘ Spinozas) als auch ein „Sich-selbst-Tragen“ (die ebenfalls transzendental gewendete ‚creatio continua‘ Descartes’) zum Ausdruck kommen. Entscheidend ist dabei einerseits die darin sich entfaltende ‚kategorische Hypothetizität‘, d. h. eine Durchsich-Begründetheit, die auch den ‚ontologischen Beweis‘ wieder ins Spiel bringt (dazu in der dreiundzwanzigsten Grundbestimmung mehr), und andererseits die Tatsache, dass in und mit dieser idealen Selbstkonstruktion das Bewusstsein genetisiert wird. Die ideale Sichkonstruktion konstituiert aber nicht nur das Bewusstsein, sondern sie ist auch wirklich. Das wird dadurch erwiesen, dass das „Soll“ ein „Soll als Soll“ bzw. „Als“ (= dreizehnte Grundbestimmung des Wissens) ist – eine Verdoppelung, die einerseits eine wissenslegitimierende Funktion hat, andererseits aber – in Einklang mit der Funktion des „Als“ in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 532 – eben auch das Wirklich- bzw. Kategorisch-Werden der idealen Selbstkonstruktion des Seins einsichtig werden lässt. Diese Einsicht kann nicht nur einseitig erfolgen, sondern sie muss sich auch auf das Einzusehende selbst stützen. Anders ausgedrückt: Das Bedingte muss das Bedingende seinerseits bedingen. Damit nimmt Fichte den Begriff der ‚Wechselbestimmung‘, der ebenfalls in der Grundlage entwickelt wurde, wieder auf, wobei dieser allerdings zudem ‚ontologisch bereichert‘ wird (was auf ein Grundmotiv des Schelling’schen Systems des transzendentalen Idealismus verweist und hier in die 532

Siehe hierzu W. Janke, Fichte. Sein und Reflexion, op. cit., S. 193ff.

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Wissenschaftslehre eingeht). Das wird in der vierzehnten Grundbestimmung des Wissens geleistet, die das „Als“ seinerseits genetisiert. Das „Als“ – qua „Genesis“ – wird dabei insofern in einer neuen Genesis abgeleitet, als eben Bedingtes und Bedingendes dieser Genesis zusammengeführt werden. Dieses genetische gegenseitige Bedingungsverhältnis fällt mit der Einheit („in sich“, „von sich“) zusammen (worin sich eine vierte Auffassung von Idealismus und Realismus herauskristallisiert), die nicht mehr die Verstandeseinheit des lebendigen Seins des Grundsatzes der Seinslehre ist, sondern die Vernunfteinheit von Sein, Wissen, Licht und Vernunft – und die Fichte schlicht als „Von“ bezeichnet. Das selbstschöpferische „Von“ ist das Wesen und die Wahrheit des „Soll“ bzw. des „Soll als Soll“. In ihm werden Sein und Selbstkonstruktion endgültig vereinigt. Damit ist der Genetisierungsprozess innerhalb der dritten Genetisierungsstufe aber noch nicht abgeschlossen. Denn das „Von“ muss seinerseits noch genetisiert werden. Das geschieht in mehreren Schritten, die unterschiedliche Aspekte der daraus hervorgehenden neuen Grundbestimmung des Wissens hervortreten lassen. Der erste Aspekt schließt die dritte Genetisierungsstufe ab, die letzten beiden weisen auf die noch folgenden Genetisierungsstufen voraus. Erster Aspekt: Das „Von“ ist sowohl Einheit von Sein und Licht, die sich gegenseitig durchdringen, als auch ‚kategorische Hypothetizität‘. Wenn dessen Erscheinung genetisiert wird, ergibt sich ein „neues Von“, das als „Von des Von“ bzw. als „Urerscheinung“ (= „Urfaktisches“) bezeichnet wird. Das „Von des Von“ (= fünfzehnte Grundbestimmung des Wissens) ist demnach Erscheinung des Lichts qua „Urerscheinung“. Der Gehalt dieser „Urerscheinung“ wird dann im weiteren Verlauf der phänomenologischen Genetisierungen entwickelt. Zweiter Aspekt: Im „neuen Von“ fallen Genesis und Sein zusammen. Dritter Aspekt: Das „neue Von“ liegt der Vermittlung von Vernunft und Verstand zugrunde. Die Genetisierung des zweiten und die des dritten Aspekts werden jeweils auf den letzten beiden Genetisierungsstufen erfolgen. Die vierte Genetisierungsstufe (Vorträge XXII-XXV) legt, wie hervorgehoben wurde, die Genetisierung des transzendentalen Wissens dar. Das geschieht durch jene der Einheit von (Selbst-) bzw. (Sich)genesis und Sein, woraus sich dann die Bildhaftigkeit des Seins ergeben wird. Ausgangspunkt ist also nach der Genetisierung des Seins auf der dritten Genetisierungsstufe die Genetisierung der Einheit von Sein und Genesis. Diese Genetisierung muss durch das zu Anfang der Erscheinungslehre bereits hervorgekehrte ‚Wir‘ geleistet werden. Dieses ist identisch mit dem „Soll“, das gewöhnliches und transzendentales Wissen miteinander vereinigt. Diese Vereinigung von ‚Wir‘ und „Soll“ geht von der Charakterisierung des transzendentalen Wissens hinsichtlich seiner Form und seines Inhalts aus und zieht die genetischen Konsequenzen aus der mit der fünfzehnten Grundbestimmung des Wissens deduzierten „Urerscheinung“. Die Form des transzendentalen Wissens ist die sowohl mit dem „Wir“ als auch mit diesem „Soll“ zusammenfallende „Genesis absoluter Sichgenesis“ (= sechzehnte

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Grundbestimmung des Wissens). Die das ‚Wir‘ genetisierende Gewissheit (= siebzehnte Grundbestimmung des Wissens) ist sein Inhalt. Diese bezeichnet die genuine Wissensart des transzendentalen Wissens. Sie ist das Prinzip der Erscheinung, in dem sich Licht und Sein als identisch erweisen, und liegt dem „Von des Von“ zugrunde. Zugleich gehört aber zur in sich selbst begründeten Gewissheit, dass sie, wie das auf der Grundlage des zuvor Angekündigten auch folgerichtig ist, mit dem „Wir“ zusammenfällt. In ihr werden somit Form und Inhalt des transzendentalen Wissens letztlich vereinigt. Dass die Gewissheit als Inhalt des transzendentalen Wissens mit Form und Inhalt desselben transzendentalen Wissens identisch ist, bedeutet, dass sie – als Erkenntnisart der transzendentalen Philosophie – zum wesentlichen Gehalt hat, dass der Inhalt des Gewussten das Wissen allgemein bestimmt. Sie ist damit das gnoseologische Prinzip der ‚kategorischen Hypothetizität‘. Die Gewissheit hat ihrerseits drei „Hauptmodifikationen“: das Projizieren, das SICHprojizieren (jeweils als Anschauung) und die Anschauung der Anschauung (= Sein des Wissens). Und das muss auch so sein, wenn sie denn die Einheit von Sichgenesis und Sein deduzieren soll. Wie kommt es aber überhaupt zum „Projizieren“ und wie lassen sich „Projizieren“ (bzw. „Sichprojizieren) und „Sein“ endgültig miteinander vereinigen? Diese Vereinigung besteht in der Aufweisung des Gesetzes, dem die Gewissheit unterliegt. Dieses Gesetz (= achtzehnte Grundbestimmung des Wissens) ist das Gesetz des gegenseitigen Bedingens von Projizieren und Anschauung der Anschauung bzw. Sein. Es kann seine eigene Gesetzeshaftigkeit bzw. „Gesetzmäßigkeit“ nur begründen (d. h. es kann als zunächst faktisch aufgestelltes nur dann genetisiert werden), wenn es selbst nach dem Gesetz projiziert wird und sich dadurch als „Gesetz der Gesetzmäßigkeit“ erweist. 533 In diesem „Gesetz des Gesetzes“ – das die Grundcharakteristik des Transzendentalen, wonach jedes Ermöglichen von etwas sich in einem Selbst-Ermöglichen verdoppelt, zum Ausdruck bringt – besteht die neunzehnte Grundbestimmung des Wissens. Entscheidend ist, dass Gesetz und Gesetz des Gesetzes die Gewissheit nicht gleichsam von außen bestimmen, sondern dass das Setzen des Gesetzes und das Selbstbilden eines Bildes innig zusammengehören und aufeinander verweisen (das schließt zugleich an die Wahrheitskonzeption der zweiten Genetisierungsstufe an). Die darin sich herauskristallisierende Bildlehre hat drei Grundmomente: 1.) Bild, 2.) Setzen als Bild und, damit zusammenhängend, Vernichtung der Bildsetzung, 3.) Gesetz des Bildes. Dieses „Gesetz des Bildes“, dem die gesamte Bildlehre unterliegt, macht die letzte Grundbestimmung innerhalb der vierten 533 Das bedeutet, dass die in den spätesten Fassungen der Wissenschaftslehre erfolgende Gleichsetzung von (lebendigem) ‚Sein‘ einerseits und ‚Bild des Bildes‘ bzw. ‚Reflexion der Reflexion‘ andererseits darin angelegt ist, dass die Einheit von (Sich)projizieren und Sein auf das „Gesetz des Gesetzes“ zurückzuführen ist.

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Genetisierungsstufe aus. Es verdeutlicht, dass das Sein der Ershceinungslehre kein ‚totes‘, auch nicht ein bloß in sich geschlossenes lebendiges Sein ist (wie in der Wahrheits- und Vernunftlehre), sondern in seiner Bildhaftigkeit besteht. Die wesentlichen Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, werden auf der letzten Genetisierungsstufe (Vorträge XXV-XXVIII) gezogen, welche die Genetisierung der Erscheinung – als ‚Erscheinung der Erscheinung‘ – zum Gegenstand hat. So wie am Anfang der dritten Genetisierungsstufe die Seinslehre in einem einzigen Schritt dargelegt wurde, so beginnt auch die fünfte und letzte Genetisierungsstufe im zweiten Teil des XXV. Vortrags – im unmittelbaren Anschluss an die Genetisierung des transzendentalen Wissens – mit einer ebenso kurzen Aufstellung der Erscheinungslehre. Diese besteht in der Einsicht der Genesis des wirklichen Erscheinens des absoluten Wissens im Wir. Das Zum-absoluten-Wissen-KommenSollen und die Erscheinung des absoluten Wissens stehen dabei in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Darin „ist“ einerseits das Dasein – in Entsprechung zum Resultat der Bildlehre – durch das Soll des Seins; andererseits wird das absolute Wissen durch dessen eigenes Dasein bedingt. Einheitspunkt beider ist die absolute Position der Genesis des Daseins des absoluten Wissens (= einundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens). Die Parallele geht aber noch weiter: So wie der Grundsatz der Seinslehre, der sich aus dem „noch höheren Realismus“ ergeben hatte, in der unmittelbar daran anschließenden Deduktion durch das „Soll“ genetisiert wurde, so wird nun auch die Bildlehre, die jener „Position“ zugrunde liegt, genetisiert – und zwar wiederum durch die Gewissheit, die dann über den „Trieb“ qua Geschlossenheit und Aus-sich-Herausgehen zur angestrebten Gleichsetzung von „Wir“ (= zweiundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens) und transzendentalem Wissen führt. 534 Dadurch erweist sich der seit dem Anfang der vierten Genetisierungsstufe beschrittene Weg weniger als ein Auf- und Abstieg als vielmehr ein Weg des „Hin-und-zurück“ – über Wir und Gewissheit und dann zurück in die Gegenrichtung, wobei „Gesetz“ und „Trieb“, die sich in ihrer Zweifachbestimmung einander entsprechen, jeweils noch dazwischen stehen. Umschlagspunkt dieser entgegengesetzten Bewegung ist die Bildlehre. Dieser ganze Weg (der im Grunde eher einer Kreisbewegung entspricht) kann auch so gefasst werden, dass man den „Mittelpunkt“ dieser Bewegung – die Gewissheit – auf ihre Bedingung – nämlich das Sehen – befragt und dabei hervorkehrt, dass, sofern dieses Sehen in einem Sichvernichten und Beziehen besteht (und genau dafür steht der „Trieb“), auch das Dasein des Sehens gesetzt wird (= dreiundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens), was einer Rehabilitierung des ‚ontologischen Beweises‘ gleichkommt und den bereits mehrfach angetroffenen Begriff der ‚kategorischen

534 Die in der vorangegangenen Genetisierungsstufe begonnene Genetisierung des ‚Wir‘ wird damit zum Abschluss gebracht.

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Hypothetizität‘ endgültig legitimiert. 535 Diese andere Sichtweise hat freilich genau das gleiche Ziel wie die Genetisierung der Bildlehre: nämlich zu erweisen, dass die erreichte Gleichsetzung von transzendentalem Wissen (bzw. der Wissenschaftslehre selbst) und „Wir“ den Standpunkt der Vernunft ausmacht. So gesteht Fichte (wie später Hegel und im Gegensatz zu Kant) der Vernunft eine – nämlich die höchste – wissenskonstitutive Funktion zu, die sich von der Verstandeseinsicht deutlich unterscheidet. Und damit wird der Kreis gleichsam geschlossen, denn dass transzendentales Wissen und „Wir“ zusammenfallen, war bereits der Ausgangspunkt der Erscheinungslehre. Diese Vernunfteinsicht, mit der deutlich wird, dass die wahre Vernunftlehre diejenige ist, die am Ende der Phänomenologie geliefert wird, und im Setzen als Setzen des absoluten Daseins des Sehens besteht, wird im vorletzten Vortrag ihrerseits noch genetisiert, wodurch ein wesentlicher methodologischer Aspekt zum Tragen kommt. Dadurch wird nämlich ein Verfahren aufgedeckt, das verdeutlicht, dass die höchste Genesis im Durchlaufen eines ‚Umschlagspunkts‘ (Fichte nennt ihn einen „hiatus“) besteht, in welchem der Genesis selbst nicht beigewohnt werden kann, sondern der Wissenschaftslehrer dabei immer ‚zu früh‘ oder ‚zu spät‘ kommt (dieses Verfahren kam schon am Übergang von der Wahrheits- und Vernunftlehre zur Erscheinungslehre zum Tragen). Der Wissenschaftslehrer kann je nur antizipieren (‚vorkonstruieren‘) oder die bereits verwirklichte Genesis konstatieren und darum bloß ‚nachkonstruierend‘ verfahren. Auf diese Weise stehen letztlich Genesis und Gesetz, Erscheinung und Freiheit, in Bezug zueinander. Der Wissenschaftslehre bleibt nur, sich im eigenen denkerischen Selbstvollzug als „unmittelbare Äußerung und Leben der Vernunft“ aufzufassen, sofern diese selbst Grund ihres Daseins als Vernunft ist. Aber sobald dieses Leben über ein sich vollziehendes unmittelbares Objektivieren hinausgeht und das Eingesehene wirklich objektiviert, steht es in dem ‚Bild‘ oder der ‚Nachkonstruktion‘ (= Verstandeseinsicht), die zwar für das Erfassen der Genesis unabdingbar ist, aber als ‚wahrhaft gültige‘ fallengelassen werden muss. Diese Einsicht entspricht der ganz zu Anfang gemachten Ankündigung, dass die Wissenschaftslehre nur in einem ‚lebendigen Vollziehen‘ bestehen kann. Der letzte Vortrag vollendet die Genetisierung der letzten beiden Grundbestimmungen des Wissens und klärt den Status der Vernunfteinsicht hinsichtlich der Frage nach Einheit und Zweiheit, d. h. nach der Weise, wie jener Gegensatz von Urkonstruktion und Nachkonstruktion auf der Ebene der Vernunft abschließend – und das heißt unter Berücksichtigung des zuvor aufgewiesenen Umschlagspunkts – aufzufassen und zu beurteilen ist. 535 Durch diese Wiederholung (bzw. ‚Verdoppelung‘) der Genetisierungsbewegung der vorherigen Genetisierungsstufe wird zum Ausdruck gebracht, dass die Genetisierung der Erscheinung (bzw. der ‚Erscheinung der Erscheinung‘) die transzendentale Legitimation für die Genetisierung des transzendentalen Wissens liefert.

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Die transzendentale Erkenntnisart der Wissenschaftslehre wurde schon im XXVII. Vortrag als ‚Sichdurchdringen des Sehens‘ bezeichnet. Es wird nun als im Bild aufgehendes ‚Sichmachen der Vernunft‘ qua ‚Grund des Daseins überhaupt‘ gefasst – und stellt die höchste Form der transzendentalen Erkenntnisart (und durchaus eine Wiederaufnahme und Neubestimmung der ‚intellektuellen Anschauung‘) dar. Die vierundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens besteht demzufolge in dem im Umschlagspunkt sich vollziehenden Sich-Machen der Vernunft qua ‚intellektueller Anschauung‘. Der „erste Grundsatz“ sowohl der Erscheinungslehre als auch der ‚Wissenschaftslehre in specie‘ lautet dann: „Soll die absolute Einheit der Vernunft genetisch erscheinen, so muss in der Erscheinung das Bewusstsein, von welchem abstrahierend ausgegangen wird, erscheinen als ein absolut Wandelbares.“ Die ‚genetische Erscheinung‘ bzw. die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ (= fünfundzwanzigste Grundbestimmung des Wissens) stellt dabei die letzte Grundbestimmung des Wissens dar (so schließt sich der Kreis, denn hiermit wird an die erste Grundbestimmung des Wissens bzw. an die ‚Grundoperation‘ von Begriffssetzung und -vernichtung angeschlossen). Auch hier steht ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von sichmachender Vernunft und Ich (= „Bewusstsein und Selbstbewusstsein“) in einem ‚abgründigen Umschlagspunkt‘. Mit der ‚Erscheinung der Erscheinung‘ erhalten die Erscheinung – sowie das Verhältnis von transzendentalem Wissen und Sein – ihre transzendentale Rechtfertigung und Legitimation (wobei die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ und die faktische Erscheinung ihrerseits in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen). Zudem genetisiert die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ Vernunft und Bewusstsein bzw. Wissenschaftslehre und ‚Wir‘. Mit ihr zeigt Fichte an, dass in der ‚Phänomenologie‘ die Vermittlung der anfänglichen Zweiheit von Sein und Denken bzw., wie auf den drei letzten Genetisierungsstufen deutlich wurde, von Sein und Wissen, geleistet wird. Damit wird die Ausgangsfrage der Wissenschaftslehre von 1804/II beantwortet: Wissenschaftslehre ist Erscheinungslehre – was der Lösung der in der Wissenschaftslehre von 1804/III angegebenen Aufgabe entspricht, nämlich: „durch die Möglichkeit der Philosophie die Erscheinung zu bestimmen, in ihren Grundgesetzen“. 536 Es kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass Fichte der erste Phänomenologe ist. Ganz am Ende geht Fichte schließlich kurz auf das Prinzip der Ableitung der ‚Erscheinung der Erscheinung von der Erscheinung‘, also auf das konkrete Wandelbare ein, indem sich erweist, dass die ursprüngliche Konstruktion von Wandelbarkeit und Unwandelbarkeit mit der allerletzten Wissenskonstruktion zusammenfällt. Darüber hinaus legt er dar, dass sich aus dem Sichmachen der Vernunft vier ‚Standpunkte‘ über die Realität ableiten lassen, die allesamt dem Standpunkt der Wissenschaftslehre unterstehen, die das angegebene, sie vereinigende Prinzip beisteuert. 536

GA II/7, S. 332.

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Worin besteht, noch einmal prägnant zusammengefasst, die Phänomenologie in der Wissenschaftslehre von 1804/II, welche die ideale bzw. problematische Selbstkonstruktion des Seins genetisiert? Drei Schritte bestimmen ihren Gang. Im ersten Schritt wird die Fünffachheit der Erscheinungslehre entwickelt. Die ‚Urerscheinung‘ hält dabei zwei Seinsbegriffe – das lebendige Sein des ersten Teils und das ‚Von‘ – sowie zwei Begriffe des Denkens – ‚Soll‘ und ‚Als‘ – zusammen. Im zweiten Schritt wird das transzendentale Wissen zunächst inhaltlich und formal bestimmt und vermittelt. ‚Bloße Genesis‘ (IV. Vortrag) und ‚rein für sich bestehende Substanz‘ (III. Vortrag) werden in dieser Bestimmung vereinigt. Sodann wird das transzendentale Wissen in einer dreifachen Hinsicht charakterisiert, die verdeutlichen soll, was Wissen spezifisch zu einem Wissen macht: zuerst wird die Gewissheit als gnoseologisches Prinzip der ‚kategorischen Hypothetizität‘ erwiesen; dann wird die Verdoppelung der Gesetzhaftigkeit – qua ‚Gesetz des Gesetzes‘ – betont, die den letzten Rechtfertigungsgrund der transzendentalen Legitimation des Wissens liefert; und schließlich wird der Kern der Bildlehre dargestellt, welche die Bildhaftigkeit des Seins herausstellt. Transzendentales Wissen wird durch Gewissheit, verdoppelte Gesetzhaftigkeit und Bildlichkeit bestimmt. Der dritte Schritt wird mit der Angabe des Grundrahmens der Erscheinungslehre eröffnet, für den das gegenseitige Vermittlungsverhältnis von absolutem Wissen und Erscheinung kennzeichnend ist (das Sein des ersten Teils entfällt hier völlig). Darauf folgt die Darlegung der Grundbestimmungen der Erscheinungslehre im engeren Sinne, in der die Genese des Wir vollzogen wird: Diese bestehen in der Setzung des Daseins des Sehens (als ontologischer Aspekt der ‚kategorischen Hypothetizität‘), in der höchsten Erkenntnisart des sich im „Umschlagspunkt‘ vollziehenden ‚Sich-Machens‘ der Vernunft (= Wiederaufnahme der ‚intellektuellen Anschauung‘) und in der ‚Erscheinung der Erscheinung‘. Abschließend lässt sich der systematische Beitrag der Wissenschaftslehre von 1804/II zur Transzendentalphilosophie im Allgemeinen und zur Denkentwicklung Fichtes im Besonderen noch mittels fünf Hauptthesen auf den Punkt bringen: Erkenntnistheoretische These: Die höchste – transzendentalphilosophische – Erkenntnis ist in eins Selbstvernichtung des Begriffs und im ‚Umschlagspunkt‘ sich vollziehendes Sich-Machen der Vernunft (diese These gründet auf dem wechselseitigen Bedingen von der die Begriffsvernichtung voraussetzenden Setzung des Begriffs und der das Zum-Leben-Kommen-Sollen des Begriffs voraussetzenden Anschauung [bzw. Licht]).

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Ontologische These: Sein ist Bildlichkeit. 537 These hinsichtlich einer Theorie des Selbstbewusstseins und der Intersubjektivität: Die vollzogene Realisierung der Wissenschaftslehre ist zugleich Genesis des ‚Wir‘. Architektonische These: Wissenschaftslehre ist Erscheinungslehre. In ihr fallen die erste und die letzte Grundbestimmung des Wissens zusammen. Methodologische These: Die Erscheinungslehre stellt sich in einer Fünffachheit dar, welche die Verschränkung der gnoseologischen und der ontologischen Perspektive in der Wissenschaftslehre von 1804/II veranschaulicht: 1.) Bewusstseinssetzung und -vernichtung; 2.) ‚totes‘ Sein; 3.) ‚lebendiges‘ Sein qua bildliches Sein; 4.) im ‚Umschlagspunkt‘ sich vollziehendes Sich-Machen der Vernunft; 5.) ‚Erscheinung der Erscheinung‘ (kein Sicherscheinen!) 538 als Einheits- und Disjunktionspunkt dieser niederen und höheren Modi des ‚Seins‘ und ‚Denkens‘. Die Genetisierung des Seins ergibt: Sein = (Ur)erscheinung; die Genetisierung des transzendentalen Wissens stellt heraus: Wissenslehre = Bildlehre; und aus der Genetisierung der Erscheinung folgt: Erscheinung = ‚Erscheinung der Erscheinung‘. Das bedeutet: Wenn die Sein-Erscheinung-Korrelation an die Stelle von der Subjekt-Objekt-Korrelation gesetzt wird, dann insofern, als deutlich gemacht werden soll, dass diese Korrelation von Sein und Erscheinung die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ 539 voraussetzt. Und die Genetisierung der Erscheinung liefert mit der an das ‚Als‘ angelegten ‚Verdoppelung‘ der entscheidenden Schritte der Genetisierung des transzendentalen Wissens die transzendentale Legitimation der letzteren.

537 Wie diese These mit der Grundposition in der Wissenschaftslehre 1805 und noch deutlicher mit der in der Wissenschaftslehre 1812 vereinbar ist („aller Irrthum besteht darin, daß man blosses Bild für die Sache hält: den wahren Umfang dieses GrundIrrthums zeigt die Wissenschaftslehre, indem sie das ganze Wissen ohne Ausnahme in Bild auflöst, und das Seyn allein in Gott setzt“, GA II/13, S. 94 [hervorgehoben v. Vf.]), lässt sich nur so verstehen, dass hier, wie schon gesagt, mehrere Seinsbegriffe nebeneinander bestehen: In der Tat muss der Begriff des Seins, wie er in der Erscheinungslehre im zweiten Zyklus der Wissenschaftslehre von 1804 entwickelt wird, vom ‚esse in mero actu‘ der Wahrheits- und Vernunftlehre und insbesondere auch vom ‚Sein in Gott‘ in der Wissenschaftslehre 1812 unterschieden werden. 538 Dieser Gedanke wird erst (spätestens) in der Wissenschaftslehre 1812 entwickelt. 539 Um es noch einmal zu betonen: Im Ausdruck ‚Erscheinung der Erscheinung‘ haben beide Begriffe der ‚Erscheinung‘ nicht exakt dieselbe Bedeutung. Die zweite ‚Erscheinung‘ vermittelt ‚Sein‘ und ‚Denken‘; die erste ‚Erscheinung‘ liefert für diese Vermittlung die transzendentale Legitimation, die ihrerseits ein ‚Erscheinen‘ impliziert. Die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ stellt nicht (wie das bei Platon für die darstellende Kunst gegenüber den Sinnendingen der Fall ist) eine Abwertung gegenüber der Erscheinung dar, sondern sie kehrt allererst die wesentliche genetisierende Rolle der Erscheinung hervor.

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Die drei genetisierten Begriffe auf den drei Genetisierungsstufen 540 der Phänomenologie – Sein, Wissen und Erscheinung – stehen für ‚x‘, ‚z‘ und ‚y‘ und sind mit der Zweiheit von Denken und Sein wechselseitig vermittelt. Mittelpunkt ist die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ qua ‚rein Wandelbares‘ bzw. ‚Urerscheinung‘. * Wie lässt sich die Wissenschaftslehre von 1804/II zwischen ‚Transzendentalphilosophie‘ und ‚Ontologie‘ verorten und abschließend einschätzen? Ist der zuweilen noch geläufigen Auffassung zuzustimmen, der Berliner Fichte habe die (zudem häufig noch als auf das ‚Ich‘ zentriert aufgefasste) Jenaer ‚Transzendentalphilosophie‘ zugunsten einer ‚Philosophie des Absoluten‘ bzw. des ‚absoluten Seins‘ aufgegeben? Mit der versuchten Herausstellung des Gesamtbilds der ‚Phänomenologie‘ in der hier behandelten Fassung der Wissenschaftslehre zeichnet sich ein anderes Bild. Von einer Preisgabe der transzendentalphilosophischen Position kann keinesfalls die Rede sein. Auch ist die Ansicht völlig unzutreffend, in der Berliner Wissenschaftslehre finde eine Rückkehr zu dogmatisch anmutenden Ansätzen einer Philosophie des absoluten oder an sich seienden Seins statt. Gerade gegen einen solchen Dogmatismus (Fichte hatte hier insbesondere Schelling als seinen Gegner ausgemacht) richten sich seine Bemühungen. Gleichwohl wird – und das ist seit der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 klar – dem Sein qua lebendigem, selbstkonstruierendem Sein mehr Bedeutung zugesprochen, als das in den Jenaer Ansätzen der Wissenschaftslehre der Fall gewesen ist. Die Wissenschaftslehre von 1804/II stellt in dieser Hinsicht einen Durchbruch dar (der 1805 wieder etwas verdeckt und erst nach der Rückkehr nach Berlin grundlegend reflektiert wurde) – nämlich den Durchbruch zur Bildlehre und Phänomenologie bzw. Erscheinungslehre, welche die Begriffe des ‚Wissens‘ und des ‚Seins‘ an die frühen Einsichten zu ‚transzendentaler Einbildungskraft‘ und ‚Phantasie‘ zurückbindet, diesbezüglich aber auch durchaus neue Einsichten bereithält. Diese neuen – höchsten – Einsichten betreffen die Verbindung von Selbstvernichtung des Bewusstseins und im ‚Umschlagspunkt‘ sich vollziehendes Sich-Machen der Vernunft, die Herausstellung der Bildhaftigkeit des Seins und die Aufweisung der ‚Erscheinung der Erscheinung‘ als höchstem Glied der Vermittlung von Denken bzw. Wissen und Sein. ‚Intellektuelle Anschauung‘ und ‚Sein qua Bild‘ gehen in der von nun an als Phänomenologie verstandenen Wissenschaftslehre – eben 540 Es ist übrigens kennzeichnend, dass alle drei Genetisierungsstufen der Phänomenologie eine den Transzendentalismus charakterisierende ‚Verdoppelung‘ zu Tage fördern – das ‚Von des Von‘ in der Genetisierung des Seins, das ‚Gesetz des Gesetzes‘ in der Genetisierung des transzendentalen Wissens und die ‚Erscheinung der Erscheinung‘ in der Genetisierung der Erscheinung. Die legitimierende Funktion dieser ‚Verdoppelung‘ findet ihre höchste Anzeige in der wiederholt betonten ‚Verdoppelung‘ und ‚Wiederholung‘ der Genetisierungen der vierten in jenen der fünften Genetisierungsstufe.

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dank der ‚Erscheinung der Erscheinung‘ – eine genetische Verbindung ein. Damit ist nicht nur der Weg für die späten Wissenschaftslehren geebnet, sondern auch die Möglichkeit angezeigt, Fichtes transzendentalphilosophisches – und es muss jetzt hinzugefügt werden: phänomenologisches – Denken in seiner Kohärenz und Konsistenz zu begreifen. So erweist sich ein letztes Mal die Treue und Verbundenheit Fichtes zu Kant: denn auch die Kritik der reinen Vernunft hatte bereits auf die notwendige Verbundenheit von Transzendentalität und Phänomenalität hingewiesen. Fichte blieb es vorbehalten, die ‚Prämissen‘ für jene ‚Resultate‘ mitzuliefern.

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SIGLEN Johann Gottlieb Fichtes Werke werden zitiert nach der Gesamtausgabe (GA) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hsg. von Erich Fuchs, Hans Gliwitzky, Reinhard Lauth und Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 1962–2012. GA I/2, S. 41–67: Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmassungen der Vernunftkritik (1792) GA I/2, S. 109–172: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft (1794) GA I/2, S. 251–451: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794/95) GA I/3, S. 143–208: Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen (1795) GA I/7, S. 185–265: Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie (1801) GA I/9, S. 47–212: Die Anweisung zu seeligen Leben, oder auch die Religionslehre (1806) GA II/6: S. 129–324: Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 GA II/6: S. 329–373: Privatissimum G. D. Aprill 1803 GA II/7, S. 66–235: Wissenschaftslehre von 1804/I GA II/7, S. 301–368: Wissenschaftslehre von 1804/III GA II/8: Wissenschaftslehre von 1804/II GA II/9, S. 35–56: Propädeutik Erlangen (1805) GA II/9, S. 179–311: Wissenschaftslehre Erlangen (1805) GA II/10, S. 111–202: Wissenschaftslehre Königsberg (1807)

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Siglen

GA II/13, S. 43–179: Wissenschaftslehre 1812 GA II/15, S. 35–128: Tatsachen des Bewusstseins (1813) GA III/2, S. 39–41: Brief Fichtes an Franz Volkmar Reinhard (15. Januar 1794) GA III/2, S. 70–73: Brief Fichtes an Karl August Böttiger (1. März 1794) GA III/3, S. 224–281: Jacobis Sendschreiben an Fichte nebst drei Beilagen und einem Anhang (3.-21. März 1799) GA III/5, S. 8–10: Brief Fichtes an Friedrich Johannsen (31. Januar 1801) GA III/5, S. 43–53: Brief Fichtes an Schelling (31. Mai 1801) KrV: I. Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 1781/B 1787)

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PERSONENREGISTER Asmuth, Christoph 9, 24, 25, 31, 41, 135 Bardili, Christoph Gottfried 112, 113 Barth, Roderich 24, 31 Beeler-Port, Josef 24, 25, 26, 27, 38 Bondeli, Martin 113 Brüggen, Michael 24, 27 Böttiger, Karl August 49, 214 Danz, Christian 127 Derrida, Jacques 196 Descartes, René 15, 22, 54, 132, 202 Ferrugato, Federico 113 Fink, Eugen 35 Fuchs, Erich 213 Gehlen, Arnold 119 Gliwitzky, Hans 213 Goddard, Jean-Christophe 24 Goethe, Johann Wolfgang von 185 Gueroult, Martial 9, 21, 24, 25, 26, 27, 30, 31, 33, 38, 41 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22, 24, 25, 29, 41, 49, 50, 79, 89, 95, 153, 161, 197, 206 Heidegger, Martin 23, 46, 105 Husserl, Edmund 35, 66, 83, 118, 119, 157, 160, 196 Imhof, Silvan 113 Ip, Leonard 25, 42, 187 Ivaldo, Marco 5, 9, 24, 25, 30, 32, 134 Jacobi, Friedrich Heinrich 16, 23, 44, 124, 137, 138, 139, 188, 214 Jaenecke, Niklas 42, 72 Janke, Wolfgang 9, 24, 25, 27, 29, 30, 32, 33, 42, 118, 119, 124, 135, 202 Johannsen, Friedrich, 43, 214

Joung, Seongkyeong 42 Kant, Immanuel 10, 11, 18, 20, 21, 24, 32, 35, 41, 43, 46, 50, 51, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 63, 64, 69, 72, 73, 82, 89, 94, 110, 112, 113, 120, 123, 127, 134, 135, 156, 158, 159, 161, 170, 177, 180, 183, 188, 195, 196, 197, 198, 206, 211, 214 Lang, Stefan 127 Lauth, Reinhard 21, 43, 173, 213 Leibniz, Gottfried 133 Locke, John 10, 54 Meckenstock, Günter 9, 24, 25, 30, 31, 32 Müller, Hans-Jürgen 24 Parmenides 32, 48, 62 Platon 22, 188, 209 Reinhard, Franz Volkmar 28, 214 Reinhold, Carl Leonard 14, 112, 113, 125, 213 Richir, Marc 119 Riedel, Christoph 24 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 9, 14, 15, 22, 25, 44, 50, 51, 79, 116, 117, 126, 133, 152, 171, 197, 202, 210, 214 Schlösser, Ulrich 24, 31 Schmid, Carl Christian Erhard 49 Schmidt, Andreas 24, 31 Schneider, Peter K. 213 Schnell, Alexander (= d. Verf.) 24, 25, 75, 118, 119, 135, 143 Schüßler, Ingeborg 24 Schüz, Simon 24, 31, 41, 161 Spinoza, Baruch 10, 15, 53, 88, 113, 132, 133, 137, 138 Stolzenberg, Jürgen 124, 127

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Personenregister

Traub, Hartmut 135 Von Manz, Hans Georg 124

Widmann, Joachim 9, 22, 25, 27, 28, 31, 38 Wittgenstein, Ludwig 111

Waibel, Violetta 127 Wellmann, Gesa 42, 113

Zhou, Chibo 42 Zöller, Günter 124

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SACHREGISTER A priori 10, 11, 53, 56, 61, 63, 106, 125, 183 Abbild, abbilden 12, 13, 31, 73–75, 82, 83f, 86, 94, 164 Absetzung 11, 35, 70f, 84, 199 Absolute, das 50, 53, 55, 62f, 71, 75, 97, 112, 114, 118, 138, 140, 142, 145 Abstieg, absteigen, absteigend 9, 13, 39, 40, 85, 148, 158, 205 Akt 82, 87, 164f Anschauen 18, 46, 88, 177 Anschauung 17, 27, 53, 94f, 109f, 113, 160–162, 173, 177, 191f, 200, 204 – innere 31 – intellektuelle 33, 52, 182, 193, 207, 210 Ansich 14, 32, 42, 108, 109–112, 114f, 119–122, 124, 136, 140 – Nicht-nicht 120, 122 An und für sich 10, 51–53, 63, 67 Atheismus 88 Aufgehen 17, 39, 66, 79, 88, 119, 138, 149, 153, 159 Aufstieg, aufsteigen, aufsteigend 13, 27, 39, 40, 85, 147, 148 Äußerung 19, 32, 35f, 63, 69, 71, 79, 88, 91, 98, 102, 106, 122, 132, 160, 174, 179, 181, 206 Bedingung, Bedingungsverhältnis 10f, 13, 18, 19, 46, 61, 86, 101, 103, 139, 151, 158, 162, 168, 176, 185, 189, 197, 205, 207 Begreifen 35, 46, 48, 66–68, 90, 94, 96, 119, 153, 177 – absolutes 55 – des Unbegreiflichen 11, 24, 31, 66f Begriff-Licht-Sein-Operation 9, 12f, 71–73, 88, 158, 169, 173 Begriff-Licht-Sein-Schema 16, 152

Begriffsvernichtung 68, 70, 84, 89, 91, 208 Beschreiben, beschreibend, Beschreibung 69, 119, 165, 172f, 175 Beweis 16, 140, 144, 160 – ontologischer 177, 181, 202, 205 Bewusstsein 11, 15, 19, 26, 29, 32, 35, 37, 50, 59, 66, 71, 76, 87f, 104f, 109–113, 117–120, 125f, 130, 134, 144, 160, 185f, 188, 207 – absolutes 113, 116 – empirisches 144 Bewusstseinsvernichtung 37, 185f Bild 19, 36, 51, 78, 81, 85, 101. 105. 165–169, 182, 192, 199, 204, 207, 209 – als Bild 17, 166f – und Abgebildetes 13, 86, 91f, 99, 104, 151 Bildlichkeit 208f Bilden 19, 167, 183, 188 causa sui 15, 132, 157, 174, 202 Christentum 170, 188 Christlich 18, 68, 170 Dasein 72, 88, 108, 178f, 187, 193, 205–208 – des Wissens 17f, 63, 168–170 – des Sehens 18, 177f – der Vernunft 18, 19, 181f Deduktion 14, 16, 17, 21, 28, 33, 37, 99, 101, 114f, 124, 152, 178, 205 Denken und Sein 9, 10, 32f, 38, 43, 45f, 50f, 53, 55, 65, 73f, 99, 104, 123, 151, 210 Denkvollzug 23, 47, 198 Dialektik, dialektisch 29, 76, 153, 185 Differenz, Differenzpunkt 62. 117, 124, 171 Differenzthese 124, 187 Ding 50, 52–54

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Sachregister

Disjunktionsfundament 11, 65, 82, 96–98, 141, 151, 153f, 168, 170, 189 Disjunktionsprinzip 82, 115 Divisionsfundamente 9, 34, 65, 67, 82f, 92, 199 Dogmatismus, dogmatisch 38, 44, 55, 89, 113, 126, 131, 152, 210 Dreiheit 32, 76, 91, 186 Dualität 60f, 79f Duplizität 154, 178, 182 Durch 13, 15f, 33, 87, 94f, 99–104, 107, 111, 122, 124, 140, 141, 183, 200 Einbildungskraft 119, 210 Einheit, absolute 10, 12, 38, 49f, 52, 61, 67f, 82, 86, 146, 167, 182, 185, 207 Einheit und Disjunktion 10, 67, 79, 97f, 167 Einheitsprinzip 32, 49f, 60, 123, 191 Einheits- und Disjunktionsprinzip 34, 81f, 92, 94, 154 Einheits- und Disjunktionspunkt 12, 13, 33, 61, 65, 68. 73, 80, 81, 96, 121, 123, 126, 170, 198f, 209 Einheitsthese 124, 187 Einleuchten 12, 24, 70f, 80, 83f, 199 Einsehen 39, 60, 67, 83, 88, 90, 94, 134, 153 Ein-Sehen 52, 135 Emanenz 12f, 75, 79f, 88f, 92, 191 Empirismus 54, 88 Energie 14, 45, 103, 107, 110, 132, 191 Entäußerung, entäußernd 18, 74, 106, 160, 164, 175f Erscheinung 11, 19, 53, 62, 87, 159, 168, 171, 181, 183–186, 205, 207 Erscheinung der Erscheinung 18f, 37, 41, 64, 84f, 93, 158, 170f, 181, 183–185, 189, 205, 207–211

Erscheinungslehre 13, 15, 18f, 31, 37, 39–42, 64, 67, 80, 93, 98, 101, 121, 126, 144, 147f, 168, 189, 209 Erscheinungswelt 182 esse in mero actu 15, 122, 209 Evangelium 170 Evidenz 28, 60, 63f, 69, 71, 74f, 78, 84, 90, 196 Existenz 79, 88f, 98–103, 169 Existentialform 97, 103f, 107f, 110, 113f, 117, 120f, 179 Faktizität, höchste 11, 63, 180 Faktizität und Genesis 12, 65, 155 Faktum, absolutes 179f, 181 Faktum und Genesis 179f Freiheit 19, 54, 133, 174–176, 178f, 180–182, 206, Fünffachheit 9, 18, 24, 26, 28–30, 32, 34, 38, 41, 74–76, 80, 86f, 90, 107, 126, 168, 174, 189, 200–202, 208f Geisterwelt 91 Genesis, absolute 30, 114, 129, 155 Genetisierungsstufen 9, 12f, 16, 18, 38–41, 65, 100, 151, 154, 168, 199, 201, 203, 207, 210 Geometrisch 26, Gesetz des Gesetzes 17, 161, 164, 204, 208, 210 Glaube 170f, 188 Glaubenslehre 68 Gott, Gottesbegriff 72, 88, 177, 188, 209 Gottesbeweis 54 Grabstätte des Begriffs 89, 125, 197 Grundgegensatz 14, 111 Grundgesetz 12, 19, 64, 73f, 184–186, 199, 207 Grundoperationen 9, 32, 35, 37f, 172, 200 Grundphänomen 14, 115 Grundprinzip 19, 28, 33, 44, 64, 78, 91, 125, 188f

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Sachregister

Grundsatz – der Grundlage 15, 19, 116, 124, 135, 143, 184, 186f – der Erscheinungslehre 182, 184f, 187, 199 – der Wahrheitslehre 40, 41 – der Wissenschaftslehre 37, 40, 185 Grundschema 9, 32, 33–35, 38, 64, 76, 172 Herausgehen 123, 149, 160, 173–175, 205 Hiatus, Hiatum 116–118, 120, 125, 129–131, 134f, 150, 160, 162, 206 Historisch 10, 21, 33, 43, 48–50, 64 Hypothetisch 80, 126–128, 130f, 143f, 181f, 190 Hypothetizität 15–17, 54f, 118, 126, 128–133, 135, 140, 143, 155, 162, 172, 177, 181, 202–204, 206, 208 Ich 13, 19, 23, 50, 54, 74f, 77–79, 88, 100, 102, 105f, 109, 114f, 123f, 126, 135, 138, 143f, 149, 163, 182– 188, 207 – absolutes 15, 113–116, 120, 124, 126, 144, 178, 182 – empirisches 144 – endliches 100 – in sich geschlossenes 123 Idealismus 10, 13–15, 32, 41, 43, 50, 60, 66, 68, 71, 94, 96, 100, 103– 118, 120f, 124f, 132, 136–140, 147, 149, 161, 164, 166, 168, 191f, 200– 203 – transzendentaler 43, 71, 116–118, 202 Idealistisch 17, 26, 36, 60, 68, 100, 103–105, 107, 110, 117, 122, 125, 139, 149, 152f, 155f, 166f, 182, 200f Identitätssystem 44, 116, 126 Immanenz, immanent 12f, 32, 75, 79f, 88f, 92, 97–100, 104, 110, 114,

219

120, 138, 149f, 160, 167, 173, 191, 198 Indifferenz 17, 117, 157 In-sich-geschlossen 49, 64, 69, 87, 90, 92f, 95, 104, 111, 116, 122f, 127, 145, 148, 155, 158, 160, 167, 172– 176, 184, 198, 201, 205 Intelligibel 16, 93, 137, 153 Intelligieren 11, 34f, 67, 69, 71, 76, 87f, 91, 94, 115, 118, 125, 161, 182 Intersubjektivität 28, 209 Intuition 12, 14, 17, 19, 71, 94, 103f, 106–113, 117, 146, 160–163, 173f, 191f, 200f Kategorie 57, 195 Kategorizität 54f, 126f, 131–134, 143f, 155, 162, 164, 190 Konkreszieren 68, 82–84 Kritik der praktischen Vernunft 10, 54 Kritik der reinen Vernunft 10, 53f, 120, 177, 183, 211, 214 Leben 9, 13f, 19, 21, 41, 43–46, 50, 62, 72, 79, 84, 86, 88–90, 93–95, 98, 100–107, 111, 123, 126, 128, 146, 164, 170, 174, 178f, 181f, 188, 191, 200, 206 Lebendigkeit 84, 88f, 94, 105, 119 Legitimation 17, 144, 157, 159, 173, 185, 195f, 206–209 Licht 12f, 16f, 35f, 57, 71–75, 78–81, 83–98, 109–112, 114, 117, 120, 127, 136f, 140–147, 149, 152f, 157, 159, 161, 167, 169f, 191f, 200f, 203f Liebe 49, 72, 77 Logik 20, 60, 77, 161, 195 Logisch 138, 143f, 151, 177, 195 Machen 15, 18f, 25, 77, 90, 94, 103, 132, 138, 182–186, 193, 196, 198, 202, 207–210

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Sachregister

Mannigfaltig, Mannigfaltigkeit 10, 38, 49, 119, 123, 142, 146, 158, 166, 168, 170f, 182, 185, 188f Materialismus 188 Mathematik, mathematisch 28, 64 Methode 14, 17, 20, 27, 29f, 35, 38, 96, 111, 148, 155, 164, 195 Mittelpunkt 75, 78f, 86, 116, 134, 136, 145, 174, 176, 181–183, 198, 205, 210 Modifikation 17, 53, 76, 82, 87, 92f, 157, 159–161, 204 Moralität / Moral / moralisch 10, 33, 55, 171, 188 Nachkonstruktion 11, 56, 65–70, 73– 76, 79, 80, 85, 88f, 137–140, 149, 165–167, 191, 196, 198–200, 206 Natur 33, 188 Negation 57, 70, 95, 108, 119f, 136, 152, 155, 158f, 175, 195 Nichtgenesis 125, 149f Nichtsichgenesis 16, 149 Nihilismus 138 – vorwurf 23 Notwendigkeit 9f, 12, 15, 60, 70, 125, 130, 133f, 139, 143f, 155, 161–164, 176f, 182 Null (= 0) 13f, 96, 98–100, 102, 104, 106–108, 111, 127, 141, 145, 191 Objekt 32, 46, 50, 58f, 79, 116, 160, 183, 188 Objektivieren 81, 123, 164, 179, 181, 206 Objektiviert 75, 95, 99, 112, 116f, 132, 176, 178f, 183f, 206 Objektivität 11, 58f, 96, 116, 161, 165, 176 Phänomen 14, 88, 101, 115, 123, 133, 175 Phänomenalisierung 101, 186f

Phänomenologie 9, 16f, 19f, 25, 29f, 37f, 40, 42, 58, 70f, 83, 85, 87, 93, 99, 115, 118, 121–123, 126, 128, 132, 137–140, 142, 145, 147f, 151– 153, 158, 166, 168, 170, 174, 178f, 182, 186, 189, 199, 201f, 206–208, 210 Phänomenologisch 15, 75, 110, 118, 131, 139, 157, 203, 211 Phantasia 119 Phantasie 119, 210 Philosophie 9–11, 21–25, 27f, 30–32, 35, 38, 42–45, 48–54, 62–64, 68, 76f, 79, 88, 94, 112, 116f, 123, 125, 135, 138, 148, 173, 188, 195–198, 204, 207f, 210 Prämisse 116, 120f, 123, 136, 140 Prinzip 9, 12f, 15, 17f, 29–33, 35f, 39f, 46, 49f, 55, 60f, 64, 67, 71f, 76, 79, 81–83, 85f, 88, 92–95, 98, 103f, 108, 110–116, 120, 122–125, 127f, 130–133, 135, 139, 142, 145, 148– 150, 152–154, 156, 158f, 162f, 174f, 184–189, 191, 196, 199–201, 204, 207f Prinzipiat 32, 49, 150, 163 Prinzipiieren 160f Problematisch 15, 26f, 102f, 121, 126–128, 130f, 154, 156, 161, 192, 202, 208 Problematizität 80, 128, 130–132, 155, 179 Projektion 108, 117, 125, 130f, 134f, 149, 162–166, 172f Prolegomena 9–13, 39, 41–43, 47f, 56–58, 61–64, 76f, 81, 85, 91, 127, 186, 191, 193 Qualität 57, 157–159, 167, 171, 175, 195 Quantitabilität 17, 100, 158, 167 Quantität 171, 175 Räsonnement 100, 103f

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Sachregister

Real, Reales 53f, 58, 90, 95, 139f, 159, 189 Realisation 35f, 66, 71 Realismus 10, 13–16, 24, 32, 41, 43, 51, 60, 65, 68, 94, 96, 100, 103– 121, 132, 136–139, 147, 149, 164, 166, 168, 191, 200f, 203, 205 Realität 11–13, 19, 35, 53f, 57, 69, 71f, 79, 89f, 92–95, 99f, 106, 116, 118, 120, 134, 140, 147, 150, 167, 173, 183, 188, 195, 198f, 207 Reflexion 9, 14, 29, 33, 38, 74, 95, 107f, 110, 112, 114, 120, 173, 178f, 188f, 199f, 204 Relation 116, 120f, 123, 136, 140 Religion 33, 171, 188 Reproduktion 10, 72 Reproduzieren 28, 51f Schein 115, 125, 166 Schlag, Ein 35, 56, 92, 101, 109, 122, 165, 168 Schöpferisch 17, 137, 155 Schöpfung 131f, 134 Schweben 33, 58, 75f, 79f, 119, 196f Schwebepunkt 33, 200 Sehen 15, 18, 52, 136f, 139–141, 146, 149, 173–178, 192 Sein 9f, 33, 36f, 44–46, 50, 52, 69, 71, 80, 84, 88, 94, 104, 106, 112, 117f, 122f, 126f, 128–132, 143, 144, 150, 152, 154f, 158, 161f, 169, 171, 173, 175, 187, 198, 201, 205, 208 – absolutes 61, 88, 92, 119 126, 136f, 142, 148f, 186f, 210 – Begriff des 54, 198, 209 – formales 90, 93, 97 – inneres 127 – lebendiges 13, 64, 69, 71, 84, 88f, 90, 94, 101, 116, 123, 126, 128f, 132, 134, 146, 197, 201f, 203, 205, 208 – reines 29, 119, 126, 137 – totes 11, 69, 152, 173f

221

– unbegreifliches 72f, 91, 199 Seinslehre 14f, 27, 37, 40f, 121, 127, 132, 148, 154, 158, 166, 168f, 172, 174f, 182, 186, 199, 200f, 203, 205 Selbstbewusstsein 14, 19, 26, 29, 33, 100, 113f, 106, 116, 118, 120, 184f, 201, 207, 209 Selbstbilden des Bildes 17, 167, 204 Selbsterzeugung 9, 12, 23, 62, 69, 74, 78f, 148 Selbstgenesis 16, 146 Selbstkonstruktion – des Seins 15, 27, 121, 128, 132f, 136f, 139, 202, 208 – des Wissens 11, 29, 63 Selbstsetzung 23, 135, 137, 140f, 146, 166, 182, 195 Selbstvernichtung 11, 20, 26, 66, 80, 82, 86, 195–197 – des Begreifens 67 – des Begriffs 66, 89, 208 – des Bewusstseins 210 Selbstvollzug 9, 22–25, 38, 45, 171, 206 Setzen und Vernichten, Setzung und Vernichtung 11, 52, 68, 78, 174f, 199 Sichgenesis 16f, 149f, 152–154, 155f, 160–162, 172, 192, 203f Sichkonstruktion 14, 102, 109f, 114, 120, 130f, 137, 150, 162, 198, 202 Sichmachen 19, 182f, 185f, 207 Sichprojizieren 17, 160–163, 192, 204 Sichvernichten, Sichvernichtung 18, 174, 177, 193, 197, 205 Singulum 122f, 201 Sinnlich 10, 53–55, 63, 171, Sinnlichkeit 188 Skepticismus, Skeptizismus 115, 125, 162, 164, 213 Solipsismusvorwurf 23 Soll 12f, 15–18, 33, 41, 46f, 71, 74, 79, 81, 98, 102f, 128f, 131–139, 145,

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Sachregister

147–149, 153–157, 162, 169, 172, 174, 190–192, 200, 202f, 205, 208 – als Soll 15, 129, 135, 139, 148, 192, 202f – des Seins 18, 169, 205 Sollen 80 Sonderung 67f, 75, 78, 80, 83, 86 Spaltung 10f, 35, 46, 50f, 55, 60, 67f, 89, 96f, 99, 147, 181, 183, 189 Spekulation, spekulativ 138, 151, 163, 195 Sprache 47f, 75, 93, 122, 141, 159, 166, 172, 187 Sprung 87 Standpunkt – idealistischer/des Idealismus 17, 26, 107f, 156 – realistischer/des Realismus 17, 106f, 139f, 156, 158 – der Wissenschaftslehre 16, 31, 55, 106, 137, 156, 188, 207 – des Wissens 17, 166f – der Vernunft 16, 18, 33, 177, 206 Stellvertreter 85f, 90, 98 Subjekt 19, 32, 45f, 59, 74, 79, 116f, 123, 128, 164f, 183, 188, 209 Subjekt-Objekt-Spaltung 35, 50f, 60, 67f, 80 Subjektivität 116 Subjektivismus 116, 138 Substanz 53f, 57f, 79, 88, 156, 198, 208 Substanzialität 11f, 57, 70f, 79, 176, 198 Synthesis 11, 63, 69, 75f, 85, 92, 111, 116, 153, 179 System 24, 27f, 113, 127, 162, 164 Tathandlung 14, 114, 124, 199 Tatsache 114 – des Bewusstseins 29, 37 – des Wissens 199 Tod 89, 93, 95, 100, 126, 152, 164

Träger 11, 35, 69, 72, 74, 79, 125, 132, 134, 136, 147, 158, 164, 173, 199 Transsubstantiation 160, 162 Transzendentalismus 9f, 32f, 38, 45, 55–57, 63, 73, 82, 210 Transzendentalphilosophie 9, 30, 32, 35, 38, 44f, 51–54, 68, 135, 196f Treiben 117, 148 Trieb 18, 173–175, 205 Tun 16, 79f, 83, 116f, 138–140, 159, 182 Übersinnlich 10, 55, 63, 170 Umschlag, Umschlagen 20, 155, 195, 201 Umschlagspunkt 14, 18f, 30, 41, 121, 126, 151, 180, 185, 197, 205–210 Unbegreiflich, Unbegreiflichkeit 11f, 24, 31, 36, 55, 66–73, 78, 84, 88f, 91, 118, 134, 188, 196–197 Unendlich, Unendlichkeit 74, 100, 159, 171, 188f Unerforschlich 55, 61, 141, 145f Unveränderlich, Unveränderlichkeit 11, 17, 57f, 105, 157, 159, 163 Unverborgenheit 105 Unwandelbar, Unwandelbares, Unwandelbarkeit 10–12, 36f, 49, 58– 65, 65, 68–70, 157, 167, 185, 192f, 207 Unzugänglich 9, 184 Urabsolutes 104 Urakt 83, 119 Urbegriff 13, 41, 69, 75, 80, 85–87, 90–92, 94–99, 101, 191, 200 Urbild 12, 73, 75, 165f Urerscheinung 16, 64, 84, 117, 141, 143, 159, 192, 202f, 210 Urfaktum 14, 115, 145 Urgesetz 142, 170 Urkonstruktion 19, 66, 68, 75, 138– 140, 165, 182f, 188, 191, 198–200, 206

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Sachregister

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Urlicht 13, 16, 90–92, 94–98, 146, 159–162, 191, 200 Urphantasie 14, 109, 116, 119f Urprinzip 150 Urprinzipiat 150 Urtätigkeit 182 Urwissen 63f, 69f, 79, 196

Von 15f, 33, 122, 136–153, 156f, 159, 192, 197, 202f, 208 – des Von 148, 151, 202–204, 210 Von sich 15, 122, 157 Vorkonstruktion 165–167 Vorlesung 21–24, 65f, 76, 170, 181, 213

Verdoppelung 15, 18, 124, 133, 153, 173, 206, 208–210 Verfahren 29f, 32–34, 38f, 41, 60, 64, 67, 75–78, 85, 107, 110, 116f, 125, 133, 135, 154f, 164, 168, 179f, 196, 201, 206 Vermittlung, Vermittlungsverhältnis 10, 60, 62, 66, 95, 157, 169, 171, 203, 208–210 Vernichtung 11, 12, 36, 41, 66, 69f, 78, 80, 84, 86, 88, 108f, 116, 121, 125, 127, 150, 155, 167, 173–175, 185, 201 Vernunft 10, 12, 15f, 18f, 24, 33, 37, 53–55, 74f, 99f, 103f, 111, 115, 117, 120, 133, 140, 142, 147, 149– 152, 170, 177–186, 189, 193, 196, 203, 206–209, 211, 214 – absolute 104, 183f – reine 137, 140, 150, 159 Vernunfteinheit 16, 136f, 203 Vernunfteinsicht 18, 135, 178–180, 189, 206 Vernunftgesetz 39, 96 Vernunftkritik 35, 53, 63, 125, 177 Vernunftlehre 15f, 39f, 42, 115, 121f, 124, 126f, 137, 147, 149, 151, 178, 184, 187, 199, 205f, 209 Verstand 16, 37, 136, 147, 149–152, 177, 203 Verstandeseinheit 136, 203 Verstandseinsicht 206 Vollzug 11, 23f, 32, 61, 65, 69, 77, 81, 86, 88, 104, 128, 171, 177, 186, 196f, 202 Vollzugshaftigkeit 195

Wahrheit 9f, 14, 18, 24, 27, 41, 43–45, 48, 51f, 62, 64, 73f, 77, 88f, 104f, 113, 115, 117f, 125, 138, 140, 155, 164f, 175, 199f, 203f Wahrheitslehre 14f, 30, 40–42, 98, 104–106, 115, 120–122. 124–127, 129, 137, 148f, 158, 174f, 184, 187, 199, 201, 205, 209 Wandelbar, Wandelbares 11, 36f, 52, 59f, 62, 68f, 101, 176 Wechselbeziehung 172 Wechselseitig 10, 13, 19, 55, 61f, 107, 141f, 162f, 167f, 176, 185, 189, 197, 207f, 210 Wechselwirkung 72 Welt 10, 46, 47, 49, 55, 83, 85, 88, 91, 119, 146, 188 Weltlich 46, 47 Wesen 13, 15, 17f, 27, 31, 42f, 48f, 57, 61/63, 67, 70, 74, 83f, 88, 92f, 95– 97, 100, 102, 104, 107, 120f, 129– 131, 133, 138, 144, 147f, 150, 153, 160, 164, 167, 169, 173f, 176f, 185, 192, 196, 200, 203 Wesenslehre 14, 121 Widerspruch 50, 74, 76, 84, 104, 110, 139f, 171, 195 – zwischen Sagen und Tun 140 – zwischen Tun und Sagen 139f Wiederholung 16, 85, 123, 133, 157, 159, 173, 206, 210 Wir 75, 104, 106, 109, 124, 130, 137, 144, 145, 152, 153, 157, 160, 175, 176, 177, 178, 180, 183, 203, 205, 207

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Sachregister

Wirklichkeit 25f, 32f, 39, 65, 72, 75, 88, 91, 102. 113, 119f, 134f, 143f, 154–156, 170, 178 Wissen – absolutes 18, 29f, 136, 144f, 166, 168–170, 172, 176f, 179, 192f, 205, 208 – gewöhnliches 16, 137, 152,154, 172, 175f – transzendentales 9 16f, 19, 22, 24, 26, 28–30, 35f, 38, 40f, 44–48, 65, 67f, 72, 77, 87, 94, 98, 100, 116, 121, 126, 135f, 138, 147, 151, 153f, 155f, 159, 161, 163, 166f, 171–176, 180f, 185, 189, 197, 199, 203–206, 208–210 Wissenschaft 23, 49, 77, 82, 114, 131, 138, 213 Wissenschaftslehre – 1794/95 16, 21f, 24, 26, 102, 124, 126, 135, 143f, 173, 187, 202 – 1801/02 22, 24, 29, 39f, 44, 100, 152, 158, 160, 180, 201, 210

– 1804/I 13f, 22f, 32, 47, 93f, 107, 142, 184 – 1804/III 22, 197, 207 – 1805 9, 22, 39f, 47, 209 – 1812 22, 40, 209, 214 – in specie 17, 19, 37, 148, 166, 168, 170f, 185f, 189, 199, 207 Wissensvollzug 36, 59f, 198 Zeit 171 Zirkel 23, 148, 179 Zurückführung 10, 49, 123 Zusammenfallen 10, 14–17, 19, 37, 58, 62, 94, 105, 108, 117, 119, 140, 143, 147f, 151, 153, 159, 165, 172, 176, 186, 189, 193, 201, 203, 206 Zweiheit 11, 13, 16, 26, 29, 32, 37, 55, 60f, 63f, 72, 75, 85, 120, 123, 127, 136f, 141, 169, 180–182, 198–202, 206f, 210

https://doi.org/10.5771/9783465146315 .