Zur Erscheinung kommen: Bildlichkeit als theoretischer Prozess 9783787322558, 9783787322565

Wenn etwas zur Erscheinung kommt, aus dem Verborgenen oder aus latenter Anwesenheit ans Licht tritt und sich zeigt, dann

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Zur Erscheinung kommen: Bildlichkeit als theoretischer Prozess
 9783787322558, 9783787322565

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Zur Erscheinung kommen Bildlichkeit als theoretischer Prozess

Sonderheft 14 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Herausgegeben von

anne eusterschulte und Wiebke-Marie Stock

FELIX M EIN ER V ER LAG H A M BU RG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abruf bar.

Sonderheft 14 · ISSN 1439-5886 · ISBN 978-3-7873-2255-8 Felix Meiner Verlag, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza. Werk­d ruck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©

IN H A LT

Anne Eusterschulte, Wiebke-Marie Stock Einleitung .................................................................................................... 5 Thomas Leinkauf Überlegungen zum Status des Bildes und der Kunst bei Plotin .................... 23 Peter Schäfer Das Angesicht Gottes schauen in der frühen jüdischen Mystik ..................... 37 Wiebke-Marie Stock Erscheinung. Zu Plotins Theorie des Seelenabstiegs ..................................... 51 Saverio Campanini Die Diatriba de Anagrammatismo des Erycius Puteanus. Schöpfung und Erschöpfung einer barocken Leidenschaft ............................ 65 Wilhelm Schmidt-Biggemann Wie sich zeigt. Einige phänomenologische Beobachtungen ......................... 81 Georg W. Bertram Spuren von Spuren im Bild. Über die Lebendigkeit von Bildern (mit Jacques Derrida) ............................ 97 Olaf Breidbach Was sich in der Natur zeigt. Romantische Naturphilosophie ....................... 111 Catherine Newmark Was sich am Körper zeigt. Über den Ausdruck der Emotionen .................... 133 Verena Olejniczak Lobsien Panik und Pastorale. Jenseitsästhetische Überlegungen zum Erscheinen des Endes ....................... 149 Arno Schubbach Das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen. Cassirers und Warburgs kulturphilosophische Anthropologie ...................... 169 Ludger Schwarte Zum Vorschein Kommen. Zur Ikonik der Wahrheit .................................... 193

4 Inhalt

Mirjam Schaub Der Denker und seine Erscheinung. Das ›Auto-Icon‹ als Theorievehikel, oder: Jeremy Bentham als ›endurance artist‹ ................................................. 207 Anne Eusterschulte Apparition: Epiphanie und Menetekel der Kunst. Aspekte einer Ästhetik des Zur-Erscheinung-Kommens bei Theodor W. Adorno .................................................................................... 223

Einleitung

 B

ereits in der sprachlichen Figur, in der Rede von einem ›Zur-ErscheinungKommen‹, verdichten sich eine Reihe von phänomenologisch beschreibbaren Momenten, die auf die ästhetische Frage nach der Weise eines bildlichen Erscheinens hinführen. Wenn etwas zur Erscheinung kommt, aus dem Verborgenen oder einem Modus latenter Anwesenheit ans Licht tritt und sich zeigt, gleich einem hervorbrechenden Licht, einem aufstrahlenden Glanz, der Brechung von Farben oder als Emergenz einer Gestaltwerdung, dann ist damit keineswegs ausschließlich der Übertritt in die Visualität adressiert, sondern in einem umfassenderen Verständnis ein phänomenales Sinnfälligwerden und sinnliches Erfahrbarwerden. Zugleich weist das ›Zur-Erscheinung-Kommen‹ auf eine prozessuale Bewegung des Hervortretens oder, vor theologischem Hintergrund eines revelativen Aufscheinens, auf das Eintreten eines Ereignisses oder ein Offenbarwerden. Wenn sich etwas prozessual als Erscheinendes bzw. in seinem Erscheinen zeigt, wenn etwas zur Erscheinung kommt, dann eröffnet sich über dieses ›Sinnlich-Werden‹, in dem sich Modi von Sukzessivität und Instantaneität verschränken, gleichsam ein ›Erscheinungs-Raum‹. Die extensionale Bewegung geht mit einem zeitlichen Prozedieren einher, der Zeitlichkeit eines Kommenden bzw. Hervorkommens oder auch des Einbrechens in die Zeit im Sinne des Plötzlichen, Augenblicklichen oder Momenthaften. Die Weisen eines Gegenwärtigwerdens und der Möglichkeit einer Vergegenwärtigung konstituieren sich gewissermaßen komplementär, fundieren ein Verständnis von Erfahrbarkeit, die es erst möglich macht, etwas in seinem Hier und Jetzt zu vergegenwärtigen bzw. eines Erscheinenden gewahr zu werden. Eine solche Präsenzerfahrung umschließt sinnlich-perzeptive, imaginative und mentale Aspekte. Doch der als ›Erscheinen‹ bestimmten Präsenzerfahrung, in der Modi der Gegenwärtigkeit und Vergegenwärtigung ineinander greifen, haftet stets auch die Konnotation eines Schein-Charakters an. Das vielfach mit Licht- bzw. Sicht­ metaphern konnotierte Erscheinen sowie hiermit korrelierte Wahrnehmungsformen wie beispielsweise einer plötzlichen Evidenz, Einsicht, augenblicklich intui­ tiven Gewissheit oder intensiven Klarheit, um nur einige Aspekte anzudeuten, alludieren an Flüchtiges, kaum Greif bares oder Entschwindendes, gleich Traumgespinsten oder halluzinierten Erscheinungen, sowie an eine rätselhafte Gleichzeitigkeit von Ent- und Verborgenheit in der Präsenz. Es handelt sich um Phänomene, die in ihrer Augenscheinlichkeit oder instantanen Offensichtlichkeit eine Dimension des Entzogenen oder Transgressiven zu bergen scheinen, eine Ambivalenz von (Auf- oder Er-)Scheinen und Schein bzw. sinnlichem Scheinen, das auf ein Anderes jenseits des Scheins verweist. Die ontologische wie erkenntnistheoretische Ambiguität oder Zwitterstellung, die das Erscheinende in seinem Erscheinen kennzeichnet, verbindet sich vielfach mit der Zuschreibung illusionärer, mithin trügerischer Aspekte sinnlichen Scheinens: etwa einem spezifischen Als-ob-Charakter, einem

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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Oszillieren zwischen Material-Konkretem und Geistigem, faktisch Gegebenem und mental Initiiertem, Projiziertem bzw. Fingiertem, oder gar mit Hybridisierungen des Wahrnehmbaren und des Imaginierten. Dies führt uns nicht nur auf eine spezifische Ambivalenz, sondern vor allem auf die Frage nach der Rolle der Imagination als einer Schwelleninstanz zwischen mentalen und sinnlich-perzep­ tiven Vollzügen einerseits, nach ihrem Status in Hinsicht auf die Weise der Situierung des Erscheinenden in der Erfahrungswelt und die Modi der Wahrnehmung anderseits. Inwiefern greifen also Vorstellungs- oder Einbildungskraft im Prozess eines ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ und inwiefern eröffnen sich über das Erscheinen als Präsenzwahrnehmung Spielräume einer imaginativen Vergegenwärtigung? Man könnte vorläufig metaphorisch sagen, als eine Weise, etwas in einem anderen Licht zu sehen. Ohnehin indiziert die Rede von einem ›Zur-Erscheinung-Kommen‹ vielfach eine eigentümliche Erfahrungssituation wechselseitig einander bedingender Bewegungen, sofern sich nicht klar zu erkennen gibt, wer oder was etwas zur Erscheinung ›bringt‹ und damit als Bestimmungsgrund oder Auslöser eines Phänomens zu fassen wäre. Vielmehr ist mit dem Kommen eine Gegenläufigkeit angedeutet, die gerade nicht eindeutig ausweist, von wo und wie der Prozess des Erscheinens oder das Moment des Zur-Erscheinung-Kommens seinen Ausgang nimmt. So lässt sich die Formulierung sowohl so lesen, als ginge in dem Moment des Erscheinens (im Sinne des lateinischen momentum, das sowohl den Augenblick oder instantanen Wendepunkt als auch die in Bewegung versetzende Kraft bzw. die Bewegung selbst bezeichnet) die emersive Aktivität von einer prozessierenden Instanz aus, die nicht in unserem Verfügen liegt, sondern gleichsam etwas erscheinend auf uns zukommen lässt. Gleichzeitig lässt die Formulierung aber auch eine gegenläufige Lesart zu, wenn wir es so verstehen wollen, dass damit die Weise bestimmt ist, wie uns etwas gegenwärtig wird, sich uns in seinem Gegebensein zeigt bzw. aufgefasst wird und insofern zur Erscheinung kommt. »Was gar nicht am Objecte an sich selbst, jederzeit aber im Verhältnisse desselben zum Subjecte anzutreffen und von der Vorstellung des letzteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung«1, so Kant, und doch ist damit vielleicht gerade in Bezug auf das ästhetische Erscheinen als Vollzugsform und Bewegung eine spezifische Ambiguität unterstrichen. Halten wir die Frage vorübergehend offen, wie und inwiefern das Zusammenspielen von objektiven und subjektiven Momenten als charakteristisch, ja vielleicht konstitutiver Aspekt des ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ zu verstehen ist. Welcher ontologische bzw. erkenntnistheoretische und vor allem ästhetische Status wird also in Anschlag gebracht, wenn ›etwas‹ zur Erscheinung kommt, wie ließe sich dieses ›etwas‹ systematisch verorten und inwiefern wird damit das Phänomen des Erscheinens als Prozess selbst in spezifischer Weise thematisch bzw. 1 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Elementarlehre I, Transzendentale Ästhetik, B 70, Anm., in: ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Kritik der reinen Ver­ nunft, Frankfurt a. M. 1977.

Einleitung7

problematisch? Und welche Rolle spielen hierbei Weisen der Verkörperung, Materialisierung und medialen Ausgestaltung? Erinnern wir uns an eine Überlegung Jean-Luc Nancys in Hinsicht auf die »Wahrheit des Erscheinens« im Prozess einer zeichnerischen Gestaltwerdung: »[D] ieses Erscheinen kann nicht einfach auf die Erscheinung reduziert werden, noch auf das auftretende Sein, insofern dieses – Auftretende – nicht eigentlich erscheint, sondern nur gegeben und als Objekt gesetzt ist. Das Erscheinen oder das Erscheinende hingegen gibt sich, es ›ist‹ nur als Gabe. […] Die Zeichnung will nicht die Wahrheit des Erschienenen oder der Erscheinung zeigen, sondern die des Erscheinens, das unter diesen liegt und ›selbst‹ nicht aufscheint, sich nicht zeigt. Es geht also darum zu zeigen, was sich nicht zeigt. […] Es geht darum, die Unendlichkeit des Scheinens zu zeigen: die Bewegung, die die Erscheinung ermöglicht, die ihrerseits notwendiger Weise endlich ist – eine abgeschlossene Form, ein geschlossener Umriss vor einem Hintergrund –, diese Bewegung kann ihrerseits nicht endlich sein.« 2 Welche Befunde ergeben sich, wenn wir diese dezidiert tentativ formulierten Annäherungen an Implikationen eines ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ auf Phänomene der Bildlichkeit, gar das künstlerische Bild, anlegen? Was heißt es also, das etwas zur Erscheinung kommt? Und inwiefern lässt sich Bildlichkeit als ein ›theoretischer Prozess‹ bestimmen, wobei hier ›theoretisch‹ (im Unterschied zum praktischen Handeln und dem Bedeutungsfeld des griechischen Terminus θεωρία gemäß) Prozesse der Anschauung, der Betrachtung, Einsicht und des Sich-Ansichtigwerdens bzw. einer kontemplativen Vergegenwärtigung in einem weit gefassten Sinne einbegreift. Nach Bildlichkeit ist somit auch in Hinsicht auf Dimensionen eines geistigen Anschaulichwerdens bzw. Modellen einer Verhältnisbestimmung von extraund innermentalem Ansichtigwerden gefragt. Nehmen wir eine Reflexion Plotins als Anstoß, um die Bedeutungsweite dessen, was ›theoretisch‹ in Hinsicht auf den Prozess des Erscheinens heißen kann, in einem weiteren Horizont zu betrachten. Nicht nur hat nach Plotin alles ein Verlangen nach Betrachtung, dieses Streben indiziert zugleich eine poietische Kraft (δύναμις ποιοῦσα)3: Jean-Luc Nancy: Die Lust an der Zeichnung, Aus dem Französischen von Paul Maercker, hg. von Peter Engelmann, Wien 22013, 123; siehe Jean-Luc Nancy: Le Plaisir au dessin, Accompagné des dessins de Valerio Adami, Pierre Alechinsky, Jan Le Gac, Ernest Pignon-Ernest, François Rouan, Gérard Titus-Carmel, Vladimir Velicˇ kovic´, Paris 2009, 113 f.: »Car ce paraître est strictement irréductible à l’apparence, ou à l’être apparu qui en tant que tel – apparu – ne paraît plus proprement mais est seulement donné et posé comme objet. Le paraître, au contraire, ou le paraissant, se donne, il n’ ›est‹ qu’en tant que don. [...] Le dessin veut montrer la vérité non de l’apparu ni de l’apparence, mais de l’apparaître qui les sous-tend et qui ›lui-même‹ n’apparaît pas, ne se montre pas. [...] Il s’agit de montrer l’infinité du paraître: le mouvement par quoi l’apparence est possible, elle qui est nécessairement finie – forme accomplie, contour achevé détaché sur un fond – , ce mouvement ne peut lui-même être fini.« 3 Plotin, Enn. III 8 [30] 3, 15, in: Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder, Neubear2

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»Wenn wir nur spielend für erste, ehe wir uns an den Ernst machen, behaupteten: nach der Betrachtung verlangen alle Dinge (πάντα θεωρίας ἐφίεσθαι), auf dies Ziel richten sie sich, nicht nur die vernünftigen, auch die vernunftlosen Geschöpfe und die Naturkraft, die in den Pflanzen ist, und die Erde, die die Pflanzen hervorbringt, und all Dinge erlangen die Betrachtung in dem Grade, in dem es ihnen in ihrem naturgemäßen Zustand möglich ist, nur daß jede Art in verschiedener Weise die Betrachtung ausübt und erlangt, die einen üben sie wirklich aus, die andern erfassen nur eine Nachahmung, ein Abbild ( μίμησιν καὶ εἰκονα) davon – ertrüge man wohl das Unerwartete unseres Vorgehens?«4

Für Plotin hat alles an der Betrachtung teil bzw. trägt ein Verlangen nach Betrachtung in sich, d. h. jegliches Handeln und Tun, jede Hervorbringung und selbst die Natur strebt, in je ihrer Weise, mehr oder minder abgeschwächt, nach theôria, Betrachtung und entfaltet, so Plotin, ihr poietisches Potential um der Betrachtung willen. Die Frage nach Verständnisweisen und Transpositionen einer hervorbringenden Dynamis und ihrem ›theoretischen‹ Status und damit nach Spielarten, Bildlichkeit als Prozess eines zur ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ zu interpretieren, bestimmt die Untersuchungsperspektiven des hier vorgelegten Bandes. Die darin zusammengeführten Beiträge nehmen zum Thema des Erscheinens historisch wie systematisch Stellung, entfalten Modelle eines ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ in Rekurs auf exemplarische Untersuchungsgegenstände, greifen disziplinär wie methodisch auf Felder aus, die das Terrain der Debatten um Bildlichkeit kontextuell auszuweiten suchen, indem sie in problemorientierten Analysen das Phänomen eines ›Zur-­ Erscheinung-Kommens‹ nicht zuletzt vor dem Hintergrund philosophischer, meta­ physisch-spekulativer, kunstwissenschaftlicher, kulturgeschichtlicher wie wissenschaftshistorischer Voraussetzungen ausschreiten. An den vorgestellten Fallstudien mag sich, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit, gerade das Ineinander-Spielen synchroner wie diachroner Linienführungen eines systematischen Problems zu einer theoretischen, materialbasierten Skizzierung fügen, die Aufschluss darüber erlaubt, was es heißen kann, zur Erscheinung zu kommen. Beginnen wir mit einer kurzen Hinführung auf Debatten um den Bildbegriff, um diese im Folgenden mit theologisch-metaphysischen wie wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Perspektivierungen zu konfrontieren. Die Frage nach der Bildlichkeit oder prinzipieller danach, was ein Bild ist, bestimmt die geisteswissenschaftliche Forschung und Diskussion der zurückliegenden Jahrzehnte in maßgeblicher Weise. Seit der Ausrufung eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels, der als pictorial turn (W. J. T. Mitchell) beziehungsweise iconic turn oder ikonische Wende (G. Boehm) das ›Bild‹ in den Fokus der geisteswissenschaft­ beitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen fortgeführt von Rudolf Beutler und Willy Theiler, Bd. III a, Hamburg 1964. 4 Ebd. 1, 1-10.

Einleitung9

lichen Debatten gerückt hat, reißt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bilderfragen nicht ab. Die Bestimmung dessen, was überhaupt als ein ›Bild‹ bezeichnet werden kann, was das ›Bildsein‹ und ›Bildersehen‹ charakterisiert, ist im Zuge dieser Wende zum Bild selbst zutiefst problematisch und Gegenstand intensiver theoretischer Auseinandersetzungen geworden. Die Reflexion auf den Bildbegriff bzw. auf bild- wie wahrnehmungsästhetische Fragen findet ihren Niederschlag aber nicht allein in den Bildwissenschaften, sondern prägt ebenso die Diskussion in geistes- und kulturwissenschaftlichen wie wissenschaftsgeschichtlichen Disziplinen. Um der Fülle der mittlerweile formulierten und kontrovers diskutierten Bildtheorien überhaupt gerecht werden zu können und eine zumindest vorläufige strukturierende Gliederung von systematisch differierenden Begründungs- und Explikationsansätzen zugrunde legen zu können, sind in der jüngeren Vergangenheit Versuche unternommen worden, »Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes« 5 freizulegen. Folgen wir einem Systematisierungsvorschlag von Lambert Wiesing, dann lässt sich zwischen drei Richtungen unterscheiden, d. h. zwischen semiotisch-zeichentheoretischen, anthropologisch fundierten und phänomenologisch-wahrnehmungstheoretisch orientierten Ansätzen. Die semiotisch-zeichentheoretischen Modelle verstehen das Bild vornehmlich als besonderen Typus eines Zeichens (Ikon) von etwas, ohne dass Ähnlichkeit hierfür ein notwendiges Kriterium sein müsste (so etwa bei Nelson Goodman)6. Das bildliche Zeichen wird im Kontext einer umfassenden Symboltheorie verstanden, als Repräsentation; unterschieden werden das Darstellende (also etwa der Bildträger), das Dargestellte und das sei es reale oder fiktive Referenzobjekt der Darstellung. Im Unterschied hierzu legen anthropologisch fundierte Ansätze, wonach Bilder als Artefakte zu fassen sind, den Akzent auf die menschliche Bildproduktion und -wahrnehmung als ein primäres Vermögen, das zugleich anthropologischer Ausdruck eines sich im Bild manifestierenden Selbstverhältnisses qua Distanznahme von der Wirklichkeit ist (z. B. bei Hans Jonas, Vilém Flusser oder Hans Belting)7. Das Hervorbringen von Bildern zeugt danach von der Verfasstheit und Fähigkeit des genuin menschlichen Bewusstseins, insbesondere kraft der Vorstellungstätigkeit, sich vermittels einer distanznehmenden Selbst- und Weltwahrnehmung in ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen und sich die Weise des eigenen In-der-WeltSeins ›bildlich‹ zu vergegenwärtigen. Die Bilderzeugungen der Einbildungskraft 5 So in der Studie von Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005, 17-36, auf dessen Überblicksdarstellung wir uns hier beziehen. 6 Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianopolis 11968, Indianapolis and Cambridge 21967; dt. Ausgabe Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, übers. von Jürgen Schlaeger, Frankfurt/M. 1973. Vgl. hierzu auch die semiotischen Ansätze bei Roland Barthes oder aktuell in Studien von Oliver Scholz. 7 Hans Jonas: Die Freiheit des Bildens. Homo pictor und die differentia des Menschen, in: ders.: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1987, 26-75, Hans Belting: Bild-Anthropologie, München 2001.

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werden gewissermaßen in äußere Bilder ›übersetzt‹. Im Blick auf diese anthropologische Bestimmung stellt Hans Jonas die Frage: »Welchen Schritt tut nun das Bildvermögen im Menschen, wenn er es unternimmt, einen visuellen Aspekt in eine stoffliche Ähnlichkeit zu übersetzen?« 8 Welchen Status und welche Funktion hat also das Hervorbringen von Bildwerken bzw. die bildliche Darstellung – verstehen wir darunter je auch literarische wie performative Medien eines material ausgeformten Zeigens – und was kommt darin zum Erscheinen? Für Jonas zeigt sich hier die exponierte, den Menschen geradezu freisetzende Rolle der Vorstellungstätigkeit, Abstand von der Wirklichkeit und damit Spielräume der Imagination zu gewinnen: »Das Bild wird losgelöst vom Gegenstand, d. h. die Anwesenheit des Eidos wird unabhängig gemacht von der des Dinges. Das Sehen bereits enthielt ein Zurücktreten von der Andringlichkeit des Umwelt und verschaffte die Freiheit distanzierten Überblickes. Ein Zurücktreten zweiter Ordnung liegt vor, wenn Erscheinung als Erscheinung ergriffen, von der Wirklichkeit unterschieden und, mit freier Verfügung über ihre Anwesenheit, interpoliert wird zwischen das Selbst und das Wirkliche, dessen Anwesenheit nicht frei verfügbar ist. Diese freie Verfügung ist zuerst erreicht in der inneren Ausübung der Einbildungskraft, der Imagination« 9 und sie wird in der Weise, wie sie bildlich zur Erscheinung kommt, also in materialen Gestaltwerdungen reflektierbar. Die Distanznahme von der Wirklichkeit lässt sich so als zweistufiger Prozess bestimmen: zunächst das distanzerfordende Sehen, mittels dessen sich der Mensch gegenüber den vereinnahmenden, unmittelbar taktil angehenden bzw. berührenden Bedrängnissen der Wirklichkeit auf Abstand zu bringen vermag, und dann die Fortführung dieser Distanzwahrnehmung auf der Stufe einer bewussten Reflexion auf den Erscheinungscharakter der Gegenstände, die für das Bewusstsein unabhängig von ihrer empirischen Anwesenheit vorstellbar werden können. Diese Distanznahme führt auf die Rolle der Vorstellungstätigkeit bzw. die Fähigkeit eines freien, wirklichkeitsunabhängigen Verfügens über mentale Vorstellungsgehalte: gleichsam ein Potential ungezwungener Disponibilität und Variierbarkeit, das wiederum im Medium bildlicher Darstellungen die Blickweise auf die Wirklichkeit verändert. ›Bildliche‹ (in einem weiten Sinn gefasst) Symbolisierungsleistungen werden so eingerückt in einen kulturanthropologischen Horizont. Hans Blumenberg, der seinerseits auf Jonas rekurriert, bestimmt diese genuin menschliche Weise, sich in ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen in seinen phänomenologischen Untersuchungen anthropologischer Strukturmerkmale als actio ad distans.10 Gehen wir diesem Ansatz zunächst weiter nach, um sodann auf die Imagination zurückzukommen. Wenn die Sichtbarkeit, d. h. die distanznehmende Inblicknahme der Wirklichkeit so etwas wie ein Substitut des direkten Fühlung  8 Ebd.,

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  9 Ebd. 10 Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2007, 11; vgl. ders.: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß hg. von Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2014, 566.

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Aufnehmens ist, dann ließe sich in der Tat konstatieren, die Begriffsbildung bzw. das rationale Denken sei als eine Art Absorption und Kompensation der sensorischen Nähe und ihrer Bedrängnisse zu verstehen. Ein Modus also, Abstand zu gewinnen gegenüber den Vereinnahmungs- und Bedrohungsanmutungen der Wirklichkeit qua Distanznahme. »Die Sichtbarkeit ist der Mangel der Fühlbarkeit wegen der Distanz zum Gegenstand. Stellt man sich vor, die Distanz würde weiter vergrößert – räumlich oder zeitlich –, so bleibt nur noch der Begriff, der seinerseits die ganze Skala der sinnlichen Erreichbarkeit vertritt.«11 Und so könnte man annehmen, die Entwicklung einer begrifflich-abstrakt manövrierbaren Welt sei nun der End- und Zielpunkt anthropologischer Maßnahmen, in Absicht, die beunruhigenden Zumutungen der Wirklichkeit in eine Vernunftordnung zu transferieren. Doch, folgen wir Blumenberg, dann ist die begrifflich in eine theoretische Handhabbarkeit überführte Welt, die Systematisierung in Begriffswelten, keineswegs deckungsgleich mit den Vernunftintentionen und mitnichten der resultative Inbegriff anthropologischer Distanznahmepraktiken, sondern allenfalls eine Art ›Passage‹, die zu durchlaufen auf eine erweiterte Leistungsfähigkeit der Vernunft hinausläuft und eine Überwindung des Begrifflich-Fassbaren geradezu nach sich zieht. »Der Begriff vermag nicht alles, was die Vernunft verlangt. Es ist nicht nur ein Hiatus zwischen der höchsten Ausbildungsstufe der Begriffe und den Ansprüchen der Vernunft, sondern es bedarf der Erwägung, ob die Vollendung des Begriffs nicht die Erfüllung der Ansprüche der Vernunft behindert oder gar inhibiert.«12 Wenn also der Begriff gar nicht die Erfüllung der Ansprüche der Vernunft ist, diese enttäuscht oder ihr in gewisser Weise sogar den Weg verstellt, worauf deutet das hin? Blumenbergs phänomenologische Betrachtung anthropologischer Modellierungen des In-der Welt-Seins sei hier vor allem deshalb aufgerufen, weil sie mit der Betonung der »eigentümlichen Vorgriffe unserer Imagination auf noch nicht Verstandenes«13 die anthropologische Bestimmung zeitlicher Erwartungshaltungen14, die sich in Verzögerungstaktiken, im Zeitgewinn, in präventiver Imagi­ nation des nicht Vorwegnehmbaren artikulieren, philosophisch expliziert. Das menschliche Distanznahme- und Aufschubverhalten, das sich zunächst in einer begrifflichen Wirklichkeitsbewältigung manifestiert, findet hierin kein Genügen, sondern schlägt geradezu um in ein ästhetisch formiertes Weltverhältnis: eben darin aber weist sich für Blumenberg ein luxurierender, kulturkonstitutiver Gestus der menschlichen Einrichtung von Wirklichkeiten aus. Und so ist die begriffliche Einhegung der Wirklichkeit eben nicht das letzte Wort des Vernunftwesens, vielmehr schafft sie in ihrer Entlastungsfunktion erst die Bedingungen für eine gestei11

Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit [Anm. 10], 9. 11. 13 Ebd., 107. 14 Vgl. hierzu Rebekka A. Klein: ›Auf Distanz zur Natur‹. Eine Beschreibung des Menschen, in: Auf Distanz zur Natur. Philosophische und theologische Implikationen in Hans Blumenbergs Anthropologie, hg. v. Rebekka A. Klein, Würzburg 2009, 9 f. 12 Ebd.,

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gerte Wahrnehmungsfähigkeit im Medium des Ästhetischen. »Meine These: die Abkehr von der Anschauung steht ganz im Dienst der Rückkehr zur Anschauung«15 und das ist der Eintritt in eine ästhetische Sphäre des ›Mehr-wahrnehmen-Könnens‹ bzw. einer Freisetzung des Möglichen. Die herausragende Rolle der Imagination, die im Kontext anthropologischer Modelle innere Vorstellungs-›Bilder‹ und äußere, materiale Bildformen in ein enges Bezugsverhältnis setzt, führt auf eine dritte Richtung bildphilosophischer Ansätze: auf phänomenologische, wahrnehmungstheoretisch orientierte Modelle im Ausgang von Edmund Husserl (so z. B. bei Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Bernhard Waldenfels u. a.), womit in der philosophischen Auseinandersetzung die Frage nach dem phänomenologischen Gegebensein des ›Bildes‹ für den jeweils Betrachtenden in den Fokus rückt und damit die konstitutive Rolle des Bild­bewusstseins. Wir fokussieren die Auseinandersetzung nun vorübergehend wieder auf Bildwerke im engeren Verstande. Folgen wir Husserls Differenzierung von ›Bildträger‹ (also etwa einer materialen Leinwand), ›Bildsujet‹ (dem abgebildeten Gegenstand einer malerischen Darstellung) und ›Bildobjekt‹ (dasjenige, was sich dem Betrachtenden als intentionales Objekt seiner Wahrnehmung zeigt),16 dann weist dieser letzte Aspekt auf das Bild als Phänomen einer subjektiven Wahrnehmungsleistung. Entscheidend wird hier nicht die Frage einer repräsentierenden Referenz auf einen Bezugsgegenstand oder eine Symbolisierungsfunktion, auch wenn Husserl diese nicht ausschließt, sondern die Weise, wie ein ›Bild‹ (das ›Bildobjekt‹) als Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungsphänomen für den Betrachtenden gegeben ist. Anders formuliert geht es um eine Erscheinungsweise, eine spezifische Weise der Präsenzerfahrung von und in Bildern bzw. dessen, was als Bild gefasst werden kann. Wiesing entwickelt im Ausgang von der Husserl’schen Unterscheidung des ›Bildobjektes‹ vom physischen Bildträger einerseits und vom ›Bildsujet‹ andererseits die Beschreibungskategorie einer »artifiziellen Präsenz«17, um dieses phänomenale Gegebensein bildlicher Darstellung zu fassen. Bilder zeigen nicht nur sichtbare Gegenstände, bilden nicht lediglich ab oder repräsentieren, sondern sie verleihen Bildobjekten (z. B. einem konkreten Wahrnehmungsgegenstand) einen spezifischen Präsenzmodus. In und kraft ihrer je spezifischen Materialität bringen Bilder etwas zur Erscheinung, das in paradoxer Weise über diese erst in Erscheinung tritt und zugleich über 15 Blumenberg:

Theorie der Unbegrifflichkeit [Anm. 10], 27. »Drei Objekte haben wir: 1) Das physische Bild, das Ding aus Leinwand, aus Marmor usw. 2) Das repräsentierende oder abbildende Objekt, und 3) das repräsentierte oder abgebildete Objekt. Für das letzte wollen wir am liebsten einfach Bildsujet sagen«. Edmund Husserl: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, in: ders.: Husserliana. Edmund Husserl, Gesammelte Werke, Dordrecht 1952 ff., Bd. 23, 23. 17 Wiesing: Artifizielle Präsenz [Anm. 5], 31. »Deshalb ist für Husserl eine bildliche Darstellung nicht eine Form von symbolisiertem Sinn, sondern eine Form der artifiziellen Präsenz. Die Idee der durch Bilder erzeugten artifiziellen Präsenz zieht sich wie ein roter Faden durch die phänomenologische Bildwissenschaft und kann als ihr Hauptgedanke angesehen werden.« Vgl. auch ebd., 35 u. 50. 16

Einleitung13

den material figurierten, medial je spezifisch vermittelten Erscheinungscharakter hinausweist – sei es in Bildwerken, Artefakten, literarischen, tonalen oder performativen Modi einer Darstellung oder eines Sich-Zeigens, um nur einige Modi anzudeuten. Was vor diesem Hintergrund als ›Bild‹ bestimmt ist, erschöpft sich nicht in der medialen Gegebenheit materialen Präsentwerdens. Es birgt eine transgressive Dimension von Präsenz bzw. evoziert eine Intensität des Erfahrbarwerdens, die sich nicht auf ein schlichtes Repräsentationsverhältnis, gleichsam die ›bildhafte‹ Wiedergabe eines Referenzgegenstandes reduzieren lässt und sich einer diskursiven Definierbarkeit oder identifikatorischen Fixierung verweigert. Das weist bereits auf eine dynamische Beziehung bzw. eine Potentialität, die im ›Bild‹ zur Erscheinung kommt: eine Art Emergenzphänomen, bei dem sich etwas zur Darstellung bringt bzw. ereignishaft auf- oder durchscheint, um so als ein Präsenzphänomen erst ästhetisch erfahrbar zu werden und sich zugleich als ein Erscheinendes zu manifestieren, das sich nur in seinen materiellen Gestaltwerdungen zeigt bzw. in diesen zu erkennenen gibt. Was aber heißt es, ein solches Moment der Latenz zu apostrophieren, das gleichsam ›jenseits‹ aber nicht ›außerhalb‹ der Materialität liegt, diese in gewisser Weise transzendiert oder überschreitet, d. h. sich nicht in der Gegenständlichkeit eines Gegebenen einfassen geschweige denn interpretativ einholen lässt und doch nicht unabhängig von der Erfahrung einer spezifischen materialen oder medialen Präsenz, gleichsam in einer anderen ontologischen Sphäre, verfügbar ist?18 Diese Frage stellt sich insbesondere in Bezug auf die bildliche Präsenz immaterieller, eidetischer oder geistiger Gegenstände, die im Bild zur Anschauung gebracht werden können, sich als Bild bzw. durch das materiale Bildmedium erst zeigen. Der Versuch, das Spezifische des ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ im Bild im Sinne eines ›Zeigens‹, einer ›Darstellung‹ oder ›Darbietung‹ zu thematisieren, der Erscheinungsweise von Bildern gerecht zu werden beziehungsweise qualitative Differenzmomente in Hinsicht auf die Medialität und Materialität von Bildlichkeit zu beschreiben, zu analysieren und begrifflich zu systematisieren, ist Gegenstand zahlreicher bildwissenschaftlicher und bildphilosophischer Studien. Gerade dieser Untersuchungshorizont aber macht die Auseinandersetzung mit theologisch-metaphysischen Voraussetzungen und Problematisierungen von Bildlichkeit besonders fruchtbar. Denn der Begriff des Bildes wie die Auseinandersetzung mit Modi eines Erscheinens sind in philosophischen wie theologischen Traditionen von zentraler Bedeutung. Auseinandersetzungen mit der inhärenten Potentialität von Bildern beziehungsweise mit den Qualitäten von Bildlichkeit, Visualität oder sinnlicher Vergegenwärtigung spielen in der abendländischen Geistes18 Zur

Debatte um den Präsenzbegriff bzw. die äußerst kontrovers diskutierte Rolle der Hermeneutik bzw. eines ›verstehenden‹ oder interpretativen Zugriffs auf Gegenstandsbereiche ästhetischer Erfahrung siehe exemplarisch die Studien von Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, hg. und mit einem Nachwort von Jürgen Klein, Frankfurt a. M. 2012; Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, Texte zur Ästhetik, Frankfurt a. M. 2007; ders.: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a. M. 2003.

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geschichte eine immense Rolle. Bildlichkeit oder das Bildwerden (ausgehend vom Begriff der imago) lassen sich verstehen als die Weise, wie sich ein überbegriffliches metaphysisches Prinzip (z. B. intelligible Ideen oder Gott) zur Erscheinung bringt und überhaupt erst in einem Modus von ›Abbildlichkeit‹ und ›Ähnlichkeit‹ in Erscheinung tritt und damit erfahrbar wird. Ein Modell für diese Art der Bildlichkeit ist die schöpfungstheologische Formel »faciamus hominem ad imaginem et simi­litudinem nostram; Gen. 1 26), der zufolge der Mensch »nach dem Bilde und der Ähnlichkeit« Gottes geschaffen wurde.19 Grundlegender vielleicht noch und hiermit verbunden sind Modellierungen einer christologisch fundierten, gleichsam inkarnatorischen Präsenz des göttlichen Logos als Verkörperungen eines übersinnlichen Offenbarungsgeschehens in materialen Gestaltwerdung bzw. medialen Darbietungs- und Vollzugsformen, sei es in Textcorpora, Bildwerken, Artefakten oder auch Naturphänomenen, die aus dem theologischen Deutungsrahmen, aus dem Bereich des Sakralen oder liturgischer Handlungsvollzüge, auf Auffassungsweisen künstlerischer Figurationen des Übersinnlichen im Sinnlichen gleichsam ›ausstrahlen‹ und auf lange Sicht eine Verselbständigung der theologisch imprägnierten Dig­n ität des Bildlichen bzw. der ästhetischen Erfahrung anstoßen.20 So wird beispielsweise in schöpfungstheologischen Interpretationen platonistischer Philosopheme das Modell einer göttlichen Selbstoffenbarung in der krea­ türlichen Welt zum Ausgangspunkt, um die sichtbare Welt in ihrer erscheinenden Schönheit, Wohlproportioniertheit und Herrlichkeit theologisch-ästhetisch zu nobilitieren. Dabei greifen vielfach logostheologische Konzeptionen, wonach der göttliche Geist gleichsam primordiale, unausgesprochene Logoi als ein sich gestalthaft explizierendes Potential in sich birgt. Diese Gedanken Gottes vor der Schöpfung können aber nicht nur im Sinne eines anfänglich ungeschiedenen, sich artikulatorisch scheidenden, kreatürlichen Wortes gefasst werden, das die Erscheinungswelt als göttliches Gedicht oder musikalische Komposition erfahrbar werden lässt (so etwa bei Augustinus), sondern in theologischen Adaptionen (neu)platonischer Philosopheme wird ebenso die Vorstellung von Verkörperungen in Bildern oder einer bildhaften Offenbarung in Gestaltwerdungen von Schönheit, Glanz und

19 Vgl.

hierzu exemplarisch die für die Vormoderne einschlägigen Studien von Charles E. Trinkaus: In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italien Humanist Thought, 2 Vol., University of Notre Dame Press 1995 und für die theologische Auseinandersetzung Stephan Otto: Die Funktion des Bildbegriffs in der Theologie des 12. Jahrhunderts, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 40.1, Münster 1963. 20 Für die spätantike und mittelalterliche Tradition sei hier, wiederum exemplarisch, auf Studien von Carolyn Walker Bynam: Christian Materiality. An Essay on Religion in the Late Medieval Europe, New York 2011; dies.: Wonderful Blood, Philadelphia 2007; dies.: Fragmentierung und Erlösung, Frankfurt a. M. 1996; auf Untersuchungen von Mary Carruthers: The Experience of Beauty in the Middle Ages, Oxford University Press 2013; dies.: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric and the Making of Images, Cambridge University Press 1998 sowie auf den einschlägigen Aufsatz von Erich Auerbach: Figura, in: Archivum Romanicum Jg. 22 (1938), 436-489 hingewiesen.

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übersinnlicher Grazie thematisch.21 Nicht nur wird das Sich-zur-ErscheinungBringen Gottes vor schöpfungstheologischem Hintergrund als ein Bildwerden, sei es in der kreatürlichen Welt, sei es in Einzelphänomenen in Applikation auf verschiedene Medien interpretierbar.22 Auch die Frage nach dem perzeptiven Vollzug dessen, was sich in Bildhaftem offenbart, zeigt sich vielfach von theologisch-metaphysischen Voraussetzungen imprägniert und grundiert damit Modellierungen einer ›ästhetischen‹ Erfahrung.23 Die Virulenz der Frage nach dem Modus eines Gegenwärtigwerdens intelligibler Prinzipien in sinnlichen Gestaltwerdungen bestimmt eine weit zurückreichende theologisch wie philosophisch fundierte Metaphysiktradition. So etwa Auffassungsweisen, dass sich in sinnlichen Mitteilungen etwas in bildlicher oder symbolischer Form als gegenwärtig zeigt und zugleich auf ein dem Begreifen entzogenes Prinzip verweist, das als solches überhaupt erst in der Verschränkung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zur Erscheinung kommt.24 Diese grundlegende Konzeption spielt in der platonisch-neuplatonischen Tradi­ tion und deren christlichen Transformationen ausgehend von den Kirchenvätern durch Mittelalter, Renaissance bis in die Neuzeit eine wichtige Rolle und evoziert philosophische Spekulationen über den Status von (Ab)Bildlichkeit und die Dignität des sinnlich Erscheinenden. Wenngleich dem sinnf älligen, veränderlichen (Ab)Bild des Intelligiblen vielfach ein defizienter ontologischer Status im Verhältnis zur Unveränderlichkeit, Ewigkeit und luziden Wahrheit eines metaphysisch Ersten beigemessen wird, so gilt das Sich-Zeigen des Unbedingten und Gestaltlosen in bildhafter Gestaltwerdung zugleich als die einzige Art und Weise, in der dieses als ›Urbild‹ (als das absolute Eine; das höchste Wahre, Gute und Schöne oder die unendliche göttliche Potentialität und Aktualität) zur Erscheinung kommen kann. Das Bild wird im Zuge dieser theologisch-metaphysischen Kontextualisierungen keineswegs als bloß ephemerer Schein eines Übersinnlichen gefasst. Vielmehr erweist es sich als Ermöglichungsgrund und -bedingung der Vergegenwärtigung eines Außerbildlichen. Vor diesem spekulativen Hintergrund weist die Rede von einem Erscheinen oder der Begriff der Erscheinung auf einen spezifischen Seins- bzw. Präsenzmodus des Intelligiblen, dessen Erscheinen z. B. Ausdruck eiVgl. hierzu Gratia. Mediale und diskursive Konzeptualisierungen in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Anne Eusterschulte und Ulrike Schneider, Schriftenreihe des SFB 980, Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte 14, 2016 (im Erscheinen). 22 Siehe hierzu die Studien von Christian Kiening, aktuell sei verwiesen auf Christian Kiening: Literarische Schöpfung im Mittelalter, Göttingen 2015. 23 Vgl. Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bde., Einsiedeln 196169 sowie zur philosophischen Reflexion auf Bildlichkeit und Visibilität Johann Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie. Augustinus, Eriugena, Eckhart, Tauler, Nikolaus von Kues, Paderborn 2000. 24 In Hinsicht auf das ›Spiel von Erscheinungen‹ als Miteinander phänomenal erfahrbarer Aspekte bzw. das Ineinanderspielen von ›Aufmerksamkeiten‹ siehe die Studien von Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens [Anm. 18], vgl. 82-85 und ders.: Die Macht des Erscheinens [Anm. 18], 11-26. 21

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nes Offenbarwerdens oder eines Wahrheitsgeschehens zu sein beansprucht. Dieser Geltungsanspruch provoziert geradezu die Aufgabe, diesen besonderen Erscheinungscharakter des Bildlichen von einem bloß trügerischem Vorschein, von sinnlich-suggestiven Täuschungsphänomenen oder halluzinatorischen Phantasmagorien der Einbildungskraft zu unterscheiden. Eben das führt geistesgeschichtlich zu produktiven Auseinandersetzungen um einen Bildbegriff, der über seine metaphysischen Aufladungen ästhetische Dignität gewinnt. Denn es geht um eine Weise der sinnlichen oder mentalen Präsenz, deren Erscheinungscharakter sich dadurch auszeichnet, dass sich das Erscheinen bzw. dessen Erfahrbarkeit nicht auf eine begriffliche Fassbarkeit reduzieren oder in Verstandeskategorien fixieren oder ausschöpfen lässt. Hier formiert sich die eminent ästhetische Dimension der spekulativen Metaphysik: Denn wenn von einem Zur-Erscheinung-Kommen des absoluten Einen in (neu)platonischer Tradition oder von dem Sich-Offenbaren Gottes in theologischer Hinsicht die Rede ist, dann geschieht dieses Sich-Zeigen eines selbst absolut unbegrifflichen Grundes in Erscheinungen, Apparitionen oder bildhaften Präsenzen, die etwa durch einen spezifischen sinnlichen Reichtum gekennzeichnet werden, durch eine überbegriffliche Sinnfülle oder eine blitzartige Abundanz, und entsprechend einen eigenen Anschauungsmodus evozieren, mittels dessen diese Erscheinungen gegenwärtig werden. Die Betonung visionärer Instantaneität, der augenblicklichen Präsenzerfahrung oder einer intuitiven Unmittelbarkeit oder gar Überwältigung weisen hier auf Erkenntnismodi, die weder mit den Kategorien des rationalen oder sinnlichen Erkennens hinreichend gefasst werden können. Modern ausgedrückt, artikulieren sich hier Konzepte eines ›ästhetischen Überschusses‹, der sich in Vorstellungen eines lichthaften Erscheinens, eines Überfließens und Überflusses als unermessliche Schönheit, Herrlichkeit oder die Fassbarkeit übersteigenden Reichtums manifestiert und damit an Konzepte einer Theophanie, eines Offenbarwerdens bzw. einer visionären Unmittelbarkeit alludiert. So transformiert etwa der christliche Neuplatoniker Ps.-Dionysius Areopagita neuplatonische Denkmodelle vom Erscheinen des Einen und denkt eine Theophanie des Göttlichen in der sinnlich wahrnehmbaren Welt und ihrer Schönheit; selbst in der Liturgie kommt das Göttliche zum Erscheinen.25 In der Fortführung dieses Gedankens einer Theophanie in der sinnlichen Welt über Johannes Scotus Eriugena bzw. mittelalterliche Adaptionen etwa bei Abt Suger von St. Denis stellt sich die Frage, inwiefern sogar der Kirchenraum eine solche Theophanie des Göttlichen visuell erfahrbar machen kann.26 Ausgehend von den Schriften Ps.-Dionysius Areopagitas, dessen theologiWiebke-Marie Stock: Theurgisches Denken. Zur Kirchlichen Hierarchie des Dionysius Areo­ pagita, Berlin/New York 2008. 26 Vgl. zur kontroversen Diskussion um den Einfluss der Schriften des Ps.-Dionysius auf das Denken und Schreiben des Abt Suger die Studien von Hanns Peter Neuheuser: Die Kirchweih­ beschreibungen von Saint-Denis und ihre Aussagef ähigkeit für das Schönheitsempfinden des Abtes Suger, in: Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts, hg. von Andreas Speer und Günther Binding, Stuttgart/Bad Cannstatt ²1994, 116-183; Christoph Markschies: Gibt es eine »Theologie der gotischen Kathedrale«? Nochmals: Suger von Saint-Denis und Sankt 25

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sches Konzept der Theophanie über Kommentare und lateinische Übersetzungen in das lateinische Mittelalter eingeht sowie gestützt auf Eriugenas Interpretation eines Erscheinens Gottes in der kreatürlichen Schöpfung werden Spekula­tionen über eine theophane Präsenz auch zu einem Hintergrund, um das ›Zur-Erscheinung-Bringen‹ in Hinblick auf die bilderzeugende menschliche Geisttätigkeit zu konzeptualisieren, so etwa bei Nicolaus Cusanus oder Marsilio Ficino. Auch die bilderzeugende Produktivität des menschlichen Geistes bzw. dessen bildliche Hervorbringungen lassen sich so als Momente eines Theophaniegeschehens fassen. Neben solchen theologisch-metaphysischen, spekulativen Bildtheorien sind Modelle von Bildlichkeit, Veranschaulichung oder bildlicher Vergegenwärtigung in Erinnerung zu rufen, die sich als konstitutives Moment von Erkenntnisgewinn erweisen, beispielsweise als Verfahren, immaterielle, abwesende, abstrakte oder auch ideelle Gegenstände sinnlich zur Darstellung zu bringen oder gleichsam ›ins Bild zu setzen‹. Denken wir etwa an dianoetische Verfahren einer Veranschaulichung, d. h. beispielsweise eine zeichnerische Vergegenständlichung, um abstrakte Sachverhalte in visualisierender Darbietung vor Augen zu führen Die platonische, an geome­ trischen Darstellungsweisen explizierte Methode, einen mathematischen Problemzusammenhang durch die vorführende bzw. mit- und nachvollziehende Auszeichnung vor Augen zu stellen, ließe sich hier beispielsweise als ein Verfahren anführen, das Anschaulichkeit als Modus des Erkenntnisvollzugs bestimmbar macht. Doch ebenso ist an Formen der Demonstration (im rhetorischen Sinne eines sub oculos ponere), des Anschaulichwerdens in Gleichnissen, Metaphern, Rätseln, Vexierbildern oder Allegorien zu erinnern bis hin zur ekphrastischen Veranschaulichung über den Mitvollzug eines Bildgeschehens. Diese Generierungsweisen bildlicher Veranschaulichungen, sei es im Medium sprachlicher Vollzüge oder in visualisierenden Medialisierungen, führen auf unterschiedliche Modi eines Erkenntnisvollzugs oder eines Denkprozesses. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich im Zuge der Ausführung einer bildlichen Medialisierung erst entfalten.27 Wenngleich hiermit funktionale, didaktisch-anagogische Weisen des Aufzeigens oder einer veranschaulichenden Bildfunktion in Anschlag gebracht werden können, gilt auch für solche, hier nur angedeuteten Modifikationen eines Zur-Erscheinung-Kommens als Modus eines Bilddenkens, dass sie sich von einem strikt begrifflichen Erkennen in Hinsicht auf die Vollzugsformen, die ästhetischen Implikationen und nicht zuletzt den mentaDionys vom Areopag, Heidelberg 1995; Andreas Speer: Vom Verstehen mittelalterlicher Kunst, in: Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11.-13. Jahrhunderts, hg. von Andreas Speer und Günther Binding, Stuttgart 1993, 13-52; ders.: Abt Sugers Schriften zur fränkischen Königsabtei Saint-Denis, in: Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften. Ordinatio. De consecratione. De administratione, hg. von Andreas Speer und Günther Binding, Darmstadt, 13-66; Werner Beierwaltes: Negati Affirmatio: Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik, in: ders.: Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt a. M. 1976, 115-158. 27 Vgl. Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geistesgeschichte, hg. von Gyburg Radke-Uhlmann, Arbogast Schmitt, Colloquia Raurica 11, Berlin 2011.

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len Status des Bildwerdens grundlegend von rational-diskursiven oder begrifflichaufweisenden Modi eines Denkvollzugs unterscheiden lassen.28 Solche Modelle eines Bilddenkens und Denkens in und mit Bildern 29 werfen nicht zuletzt ein Licht auf eine weitere, systematisch zentrale Dimension von BildTheorien: Die Rolle des Imaginativen bzw. des inneren Vorstellungsbildes und deren Bestimmung im Verhältnis zur Ver- oder Entäußerung in extramentalen Formen von ›Bildlichkeit‹ ist keineswegs auf eine optische Visualität und damit auf Versichtbarung zu reduzieren. Vielmehr ist prinzipieller nach sinnfälligen, sinnlich affizierenden Wirkfunktionen ästhetischer Darstellung zu fragen, d. h. nach den medienspezifischen materialen Veranschaulichungsmodi wie den synästhetischen mentalen Vergengenwärtigungsweisen oder Vollzugsformen. In der Debatte um das jüdische bzw. christliche Bildverständnis und die Auslegung des Bilderverbots spielt die Frage des Zur-Erscheinung-Kommens fraglos eine zentrale Rolle. Erinnert sei etwa an die geistesgeschichtlich äußerst kontrovers geführten Debatten zwischen ›Ikonophilen‹ und ›Ikonoklasten‹ in Hinblick auf die Problematik, inwiefern das Heilige in Kultbildern bzw. integriert in Rituale, etwa in liturgisch-zeremoniellen Kontexten, einen Präsenzmodus beanspruchen kann und in welcher Weise es mittels des Bildes eine Verehrung erfahren kann. In einem solchen Kontext erhält das Bild eine besondere, kultisch legitimierte Dignität. Gleichzeitig wird aber stets die Gefahr bewusst gemacht, über das sinnlichgegenwärtige Bildnis den übersinnlichen Grund geradezu zu verkennen und statt dessen zu Idolatrie und Bildkulten verführt zu werden.30 Zieht die behauptete sakramentale Bildpräsenz oder Monstranz des Heiligen in langer Sicht eine Verselbständigung ästhetischer Eigendynamiken und damit eine transformierte Nobilitierung der ästhetischen Erfahrung von Bildwerken nach sich? In welchem Maße sind es revelative Allusionen, gleichsam Adressierungen eines theologischen Offenbarungsgeschehens oder die Zelebrierung einer Gottesanwesenheit, aus der das Zur-Erscheinung-Kommen in künstlerisch-ästhetischen Kontexten, in Rekurs auf theologische Konzeptualisierungen im wahrsten Sinne des Wortes ›Kredit ziehen‹ kann? Inwiefern lässt sich dem Bildlichen über die mediale Weise des Gegebenseins und die materiale Gestalt eine gleichsam transfigurative Dynamik zuzuweisen, gleichsam eine ›Brotverwandlung des Geistes‹ ( Jean Paul)? 28 Aktuelle

Diskussionen zur Funktion des Bildbegriffs, zur Rolle figuraler Denkbilder, Schemata oder Veranschaulichungen auf bildlicher Ebene im Sinne von Denkformen führen derlei Debatten fort. Vgl. Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, hg. von Eva Cancik-Kirschbaum, Sybille Krämer und Rainer Totzke, Berlin 2012; Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002 sowie ders.: Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, München 2003. 29 Vgl. Denken mit dem Bild, hg. von Johannes Grave und Arno Schubbach, München 2010. 30 Hans Georg Thümmel: Bilderlehre und Bilderstreit. Arbeiten zur Auseinandersetzung über die Ikone und ihre Begründung vornehmlich im 8. und 9. Jahrhundert, Würzburg 1991; ders.: Die Frühgeschichte der ostkirchlichen Bilderlehre. Texte und Untersuchungen zur Zeit vor dem Bilderstreit, Berlin 1992; ders.: Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert. Das 7. ökumenische Konzil in Nikaia 787, Paderborn [u. a.] 2005.

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Führen wir diese Überlegungen zur Bildlichkeit vor dem Hintergrund der skizzierten philosophisch-theologischen Tradition, zum Bild als metaphysischer Kate­ gorie und zum Kultbild zusammen, dann lässt sich die Frage aufwerfen: Ist das ›Zur-Erscheinung-Kommen‹ ein Defizienzmodus, d. h. ein Verlust an Intensität und Reinheit in absteigender Materialisierung, wie es nicht wenige Lesarten neuplatonischer Philosopheme nahelegen könnten? Oder etabliert sich hier vielmehr eine Nobilitierung des Material- und Medialwerdens als Bedingung der Möglichkeit eines Erscheinens des Nichterscheinenden, d. h. eine Transposition der theophanen Wirkkraft in Modellen ästhetischer Sinnlichkeit? Verbinden wir dies mit theologisch imprägnierten Auseinandersetzungen um Bildlichkeits-Phänomene, dann sind hier Probleme und Potentiale des ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ geradezu präfiguriert in der Spannung zwischen materialer, sichtbarer Bildlichkeit und der Präsenz eines Offenbarwerdens, das in der äußeren Gestalt zum Ausdruck kommt, ohne sich darin zu erschöpfen.31 Festhalten lässt sich an dieser Stelle, dass die Debatten um das Bild bzw. die Modi von Bildlichkeit (imago, pictura, figura, similitudo, icon, idolum, effigies etc.) und die Reflexionen auf Bildästhetiken, die in der Geschichte der Philosophie und Theologie eine systematisch zentrale Bedeutung einnehmen, für aktuellen Debatten keineswegs an Relevanz verloren haben. Es stellt sich daher die Aufgabe – und das macht der vorliegende Band zu seinem Anliegen –, Bildbegriffe und -verständnisse aus dem Kontext theologisch-philosophischer Traditionen stärker in gegenwärtige Bild-Debatten einzubeziehen und die Diskussion an historisch-systematische Voraus­setzungen rückzubinden, um so das Potential der theologisch-philosophischen Spekulationen und metaphysischer Grundlegungen in seiner systematischen Relevanz weiter aufzuschließen. Die Spannung zwischen den Konzeptualisierungen des Bildbegriffs in bildwissenschaftlichen beziehungsweise bildtheoretischen Untersuchungsperspektiven, in der theologisch-philosophischen Ideen- und Pro­ blemgeschichte sowie in kulturwissenschaftlichen und wissenschaftsgeschicht­l ichen Kontextualisierungen verspricht eine Erweiterung von Forschungsperspektiven. Der vorliegende Band sucht über die Konfrontation dieser Forschungsperspektiven einem bereits begonnenen wissenschaftlichen Dialog weitere Anstöße zu geben und bis dato oftmals parallel geführte Debatten noch stärker aufeinander zu verweisen. Artikel, die Bildlichkeit aus der Perspektive einer metaphysischen Philosophietradition betrachten, werden mit modernen und zeitgenössischen Themen sowie mit literatur-, kulturwissenschaftlichen Theorien in Bezug gesetzt. In direktem Rekurs auf bildwissenschaftliche Forschungsperspektiven, Befunde und Methoden ist es das Ziel, den Debatten um den Bildbegriff durch eine Fokussierung auf philosophisch-theologische Voraussetzungen eine geistesgeschichtlich breitere Basis zu geben und dadurch veränderte Reflexionsperspektiven zu öffnen, sowohl für die bildwissenschaftlichen als auch für die geisteswissenschaftlichen ForschunGeorge-Didi Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999. 31 Vgl.

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gen. Mit der Fokussierung auf Modi eines ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ wird der Akzent vor allem auf das Prozessuale des Bild-Werdens wie der Bild-Erfahrung gelegt. Insofern ist die Formulierung ›Bildlichkeit als theoretischer Prozess‹ in einem doppelsinnigen, komplementären Verständnis zu nehmen. Was also heißt unter diesen Voraussetzungen ›Zur-Erscheinung-Kommen‹ im Sinne eines Sichtbarwerdens wie als Gegebenheitsweise einer bildlichen Präsenz und inwiefern ist damit zugleich ein ästhetischer Erfahrungsmodus bestimmt? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes widmen sich der Frage des ›Zur-Erscheinung-Kommens‹ aus unterschiedlichen Perspektivierungen im Ausgang von konkreten, exemplarischen Feldern einer gegenstandsbezogenen Auseinandersetzung. Sie eröffnen damit eine Diskussion, die den Problematisierungszusammenhang syn- wie diachron prismatisch auf bricht. Denn gerade die Konfrontation von disziplinär miteinander verschränkten Ansätzen aus den Bereichen literarischer und literaturtheoretischer, ästhetischer wie kunsthistorischer, philosophischer, wissenschafts- und kulturgeschichtlicher und nicht zuletzt theologischer Interpretamente verspricht, spezifische Denkweisen und ästhetische Konzeptionen einer Philosophie des Erscheinens klarer zu konturieren. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben, herzlichst für die kollegiale Zusammenarbeit. Dank gesagt sei auch den beiden Herausgebern der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Maria Moog-Grünewald und Josef Früchtl, für die Aufnahme dieser Publikation als Sonderband der ZÄK. Herzlichst gedankt sei weiterhin dem Felix Meiner Verlag, insbesondere Marcel Simon-Gadhof (Lektorat) und Jens-Sören Mann (Herstellung), für die engagierte Unterstützung bis zur Drucklegung. Schließlich danken wir Sara Ehrentraut und Konstantin Bethscheider für die sorgfältige Durchsicht und Einrichtung der Beiträge. Anne Eusterschulte und Wiebke-Marie Stock

A BH A N DLUNGEN

Überlegungen zum Status des Bildes und der Kunst bei Plotin Thomas Leinkauf »Der Seele selbst bliebe unbewußt, was sie in sich trägt, wenn es nicht in Erscheinung träte (οὐκ ἐφανέντα), nicht aus ihr hervorginge (οὐ δὲ πρόοδον λάβοντα).«1

I. Die folgenden Überlegungen sind allgemeiner Art, sie nehmen das neuplatonische Denken nur als Ausgangspunkt, allerdings nicht als einen beliebigen, sondern als einen, der dokumentieren kann, wie fruchtbar und intensiv hier, vor allem im Denken des Plotin, Überlegungen zum Problem von Bild, Erscheinen und Denken für die theoretische Auseinandersetzung mit einem anderen Problem, nämlich demjenigen der Vermittlung verschiedener ontologischer Bereiche, gewesen sind. Was jedoch zum Zusammenhang von Erscheinung, Bild, Denken gesagt wird, soll nicht nur als eine hermeneutische Operation in Bezug auf neuplatonische Texte aufgefasst werden, sondern als Beitrag zur anhaltenden Diskussion um die Implikationen, die mit den genannten Begriffen verbunden sind.2 II.

Plotins System stellt ein komplexes, dynamisches Gefüge einer abgestuften, durch verschiedene Hypostasen (d. h. durch selbständige Einheiten) vermittelten Selbstmitteilung dar, die als Hervorgang (πρόοδος) eines als absolutes Eines gedachten Seinsgrundes in die Wirklichkeit und der ebenso in sich gestuften, durch verschiedene Intensitätsgrade gekennzeichneten Rückbewegung (ἐπιστροφή ) des so Hervorgegangenen in seinen Grund oder in den Anfang zu denken ist.3 In diesem 1 Plotin: Enn. IV 8, 5, 33-34. Zitate des griech. Textes sowie dt. Übersetzungen beziehen sich auf die Ausgabe Plotins Schriften, hg. von Richard Harder, Hamburg 1956-7 und werden nach der Enneadenordnung zitiert (im Folgenden Plotin: Enn.). 2 Zum Problem habe ich mich mehrfach geäußert, vgl. bes. Thomas Leinkauf: Der BildBegriff bei Cusanus, in: Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel, hg. von Johannes Grave, Arno Schubbach, München 2010, 99-129; ders.: Die epistemische Funktion der ›imaginatio‹ bei Giordano Bruno. Überlegungen zu De imaginum compositione, hg. von Horst Bredekamp, Christiane Kruse, Pablo Schneider, in: Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit, München 2010, 15-33. 3 Zum System Plotins vgl. Beierwaltes in: Plotin. Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III, 7), hg. von Werner Beierwaltes, Frankfurt/M. 1995, 19; Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus,

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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Gefüge ist unter ›Sein‹ grundsätzlich das zu verstehen, was durch das Hervorgehen oder im Hervorgehen gesetzt wird. ›Denken‹ ist hingegen als intensivste Form der Rückkehr, der Rückbeugung (reflexio) aus diesem Sein in das Wesen (die Sub­stanz, die Natur, die Wahrheit) des Seins und in das Seinsprinzip zu verstehen. Auch wenn in dem ersten Hervorgegangenen, dem Geist, Hervorgang und Rückgang in einer vollkommenen, zeitfreien, absolut vermittelten Einheit zu denken sind – der Geist realisiert für Plotin die durch Parmenides behauptete Einheit von Denken und Sein –, so ist doch Sein, weil es genuiner Gegenstand, Inhalt und Horizont des Denkens ist, grundsätzlich strukturell und sachlich ›früher‹ als das Denken (Denken ist Denken des Seins; auch wenn es, wie im Geist, in absoluter Vollkommenheit sich selbst denkt, denkt es in diesem Akt sein spezifisches noetisches Sein). So wie alles, was nicht das Eine als reine absolute Einheit selbst ist, ›nach‹ dem Einen und durch es prinzipiiert ›ist‹, so ist auch das Denken ›nach‹ dem Sein (das Sein allerdings ist auch erst durch das Denken bei sich selbst, nämlich in seiner Wahrheit). Plotin fasst diese grundsätzliche Struktur der Nachträglichkeit, der ontologischen wie auch epistemischen Nachträglichkeit oder Abkünftigkeit allen Seins gegenüber seinem Ursprung für den Standpunkt unseres Erkennens so zusammen, dass er davon spricht, dass wir »hier« (ἐνταῦθα … καὶ ἐν ψυχῆ ) grundsätzlich das Ursprüngliche, das Prinzip, den Anfang, das Eine selbst und das aus diesem unmittelbar Entstandene (den Geist) nur wie ein zur Erscheinung kommendes »Bild« (eikôn) erfassen können.4 Damit sind zunächst zwei Dinge gesagt: 1. Alles, was ist, ist ein Bild von etwas anderem, das als solches nicht dasselbe Sein besitzt wie dieses Bild, und das heißt wiederum: das Sein des Bildes ist ein nachträgliches, abkünftiges uneigentliches Sein und das eigentliche Sein ist nur im Ursprung. Von diesem Ursprung – ob Eines, Geist, Seele – gilt: »es erschien in dem Äußeren (oder: in das Äußere)« (ἐξεφάνη εἰς τὸ ἔξο, V 8, 12, 9). Dies folgt im Wesentlichen dem neuplatonischen Grundsatz, den Proklos dann in seiner Elementatio theologica so festgehalten hat: »Jede hervorbringende Ursache ist (ontologisch) stärker [id est: von höherem Status und Wert] als das Hervorgebrachte« 5 und München 2004. Zum Verhältnis der Hypostasen vgl. VI 9, 1-3 und V 1 passim, vor allem die Rückbindung an Platon, Ep. II, 312 E in V 1, 8, 1-5. 4 Plotin: Enn. V 3, 6, 17 f.: ἐπεὶ δὲ ἔνταῦθα γεγενήμεθα πάλιν αὗ καὶ ἐν ψυχῃ (…) οἷον ἐν εἰκόνι τὸ ἀρχέτυπον θεωρεῖν ἐθέλοντες. Gleich im Anschluss an diese Stelle spricht Plotin auch von den »Spuren« des Einen und des Nus im vernünftigen Teil der Seele – Beierwaltes verdeutlicht richtig: »Spuren [der Herkunft]«, Werner Beierwaltes: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3, Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen, Frankfurt/M. 1991, 31 – und von dem notwendigen Akt der »Übertragung« oder Rückübertragung ( μετατίθημι) des Bildes in oder auf das Wahre selbst, V 3, 6, 25-35, 27: ἴχνεσιν; 28: μεταθέτω. V 8, 13, 11-24; VI 9, 1, 1-2: »alles Seiende ist durch das Eine ein Seiendes, sowohl das erstrangige Sein als auch das, von dem in irgendeinem Sinne ausgesagt wird, daß es im Sein sei« – πάντα τὰ ὄντα τῳ ἑνί ἐστιν ὄντα, ὅσα τε πρώτως ἐστὶν ὄντα καὶ ὅσα ὁπωσοῦν λέγεται ἐν τοῖς οὖσιν εἶναι . 5 Proklos: Elementatio theologica, prop. 7; 8. Dodds; vgl. auch prop. 12; 14 Dodds. Die Angaben folgen hier der Ausgabe: Proklu Diadochu stoicheiôsis theologikê, (= The Elements of Theology), a revised text with transl., introd. and comm. by Eric Robertson Dodds, 21964. Patrizi etwa über-



Überlegungen zum Status des Bildes und der Kunst bei Plotin 25

2. heißt dies aber auch, dass die Bedeutung des zweitinstanzlichen Seins, sofern es nicht selbst wiederum Prinzipfunktion (als Hypostase) gegenüber einem ihm nachgeordneten Sein besitzt, im Wesentlichen darin aufgeht, ein Zeichen, eine Spur, ein Verweis auf dies primäre Sein zu sein. So gilt, dass die Eigentlichkeit des uneigentlichen Seins, seine Wahrheit, exakt darin besteht, das eigentliche Sein in größtmöglicher Intensität zur Erscheinung zu bringen.6 Erst wenn es dies in seinem eigenen spezifischen Sein tut, ist dieses sozusagen ›bei sich selbst‹. Wir, um beim Seelischen oder Menschlichen zu bleiben, sind bei uns selbst genau dann, wenn wir in größtmöglicher Intensität das in uns zur Erscheinung bringen, was in uns als die spezifische Möglichkeit des Erscheinens des Einen oder des Prinzips ontologisch angelegt ist, das ist, da die Hypostasis des Geistes (nus) unser unmittelbares Prinzip ist, unsere Vernunft, und das ist, weil die Hypostasis des Einen das absolute, wenn auch mittelbare Prinzip des Seelischen ist, das Eine in uns als das durch Selbstreflexion und Selbsterfahrung konstituierte Ich-Selbst (man kann sagen: als vor-subjektives, vor-transzendentales Ich).7 Wenn wir einmal y als ein Erscheinendes bezeichnen wollten, so folgt aus der Bedeutung von »Erscheinen« (im Kontext mit Aufscheinen, Vorscheinen) konsequent, dass es ein anderes, ein x, geben muss und dass es dies x ist, was in y oder als y erscheint. Die Art und Weise allerdings, in der dies Erscheinen-von-x in oder als y sich vollzieht, ist nicht einförmig, sondern vielfältig. Man kann daher verschiedene Modi des Erscheinens unterscheiden, etwa Spiegeln, Leben, Vorstellen, Denken, die allesamt eine Weise des Ausdrückens oder der Expression des x sind, das da erscheint. Dieses Ausdrücken kann einerseits wiederum das aktive Sich-Ausdrücken von x in y sein, andererseits das passive Ausgedrücktwerden von x durch y. Im ersten Fall haben wir eine ontologische Grundstruktur, im zweiten eine epistemische, wobei – rigore metaphysico dictum (wie Leibniz sagen würde) – die epistemische setzt die prop. 7 in seiner lateinischen Version des proklischen Hauptwerkes mit: »Omne productivum alterius, praestantius est natura producti«, fol. 2r. Siehe: Procli Lycii Diadochi Platonici Philosophi Eminentissmi Elementa Theologica et physica. Opus omni admiratione prosequendum quae Franciscus Patricius des Graecis fecit Latina, Ferrara 1583. 6 Plotin: Enn. V 8, 6, 23 f.: Der Kosmos ist »Anzeige« (δείξις , Harder übersetzt mit »Offenbarung«) des geistigen, vollendeten Guten im Sinnlichen und dadurch als schön zu bezeichnen; vgl. weiter V 8, 7, 12-16; 12, 1-20; III 8, 11, 29 f.: Der sinnliche Kosmos ist »Abschattung und Bild« (σκιὰ καὶ εἰκών) des geistigen Kosmos und seiner Schönheit; II 9, 4, 25 f., 8, 13-20; VI 7, 12, 1 ff. Allgemein zur grundständigen Bedeutung von Bild für Plotins Ontologie vgl. V 1, 7, 1 ff. und unten Anm. 10. 7 Plotin: Enn. V 3, 6, 1-5: Sich-selbst-Denken (τὸ αὐτὸ ἑαυτὸ νοεῖν) ist auf »eigentlichere Weise« (κυρίως) im Geist und auf bildhafte Weise in der Seele: Die Seele denkt sich nur selbst, insofern sie »einem Anderen zugehört« (ὅτι ἄλλου; Übersetzung Beierwaltes, Selbsterkenntnis [Anm. 3], 29). V 8, 13, 17-22: Wir sind dann »schön«, in dem metaphysisch-rationalen Sinne von Schönheit, den Plotin vertritt (das Schöne wird etwa I 6, 5, 18-20 mit Platons Ausdruck τὰ ὄντως ὄντα als wahrhaft Seiendes bezeichnet), wenn wir uns selbst gehören, häßlich, wenn wir uns in ein fremdes Sein begeben: »und wenn wir uns selbst erkennen, sind wir schön (γινώσκοντες μὲν ἑαυτοῦς καλοῖ ), wenn wir uns selbst verkennen, häßlich« (Übersetzung Harder).

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Expression die ontologische voraussetzt: Nur wenn y, als durch x ausgedrückt oder gesetzt oder hervorgebracht, schon ein spezifisches eigenes Sein besitzt, kann es, dies freilich in verschiedenster Weise, dieses Verhältnis thematisieren und damit auch seinen eigenen Status als Erscheinendes oder Ausgedrücktes zum Ausdruck bringen. Ein Spiegel kann nur etwas spiegeln, wenn er selbst ein Sein besitzt, ein Zeichen nur etwas bezeichnen, wenn es ein Sein besitzt etc. Wie gesagt: Das reine Sein von y ist schon als ein Erscheinen von x deutbar, aber nur dann, wenn y einen bestimmten Status besitzt, der es ihm ermöglicht, dieses Verhältnis als ein solches noch einmal in sich und durch sich zum Erscheinen oder Ausdruck zu bringen. Dieser Status ist notwendigerweise einer des Erkennens und Wissens, er ist epistemisch. Durch ihn alleine wird der Sachverhalt, dass y ein Erscheinen von x ist, überhaupt erst in Bezug auf viele Instanzen von y behauptbar und damit zu einem eigenen Gegenstand innerhalb des Horizontes von erscheinendem Sein. So ist das Faktum, dass etwa das Leben ein Erscheinen eines Lebensprinzips oder Lebensgrundes sei, diesem Leben selbst als solchem, als einem vor-reflexiven biologischen Selbstvollzug, nicht bewusst, für es sozusagen nicht vorhanden und/oder zugänglich (ähnlich wie ja auch für keinen Spiegel seine spezifische Leistung des Spiegelns irgendwie vorhanden und zugänglich ist, keinem Spiegelneuron, soweit wir wissen, seine Funktion reflex wird etc.), sondern erst Gegenstand einer potentiellen mentalen Reflexion einer anderen Instanz (eines Dritten), die dieses Verhältnis in den Blick bringt und dann konzeptualisiert (in der Analogie: das Sein des Spiegels, als ein Stück bearbeiteter Materie, von der Funktion des Spiegels, als einem den Refraktionsgesetzen folgenden Zurückwerfen einer bestimmt konfigurierten Menge von Lichtstrahlen, zu unterscheiden).8 Kurz: Nur für intelligente Wesen, die komplexe Sachverhalte im Denken erfassen, begrifflich differenzieren und kommunizieren können, ist überhaupt die The­ menstellung dieses Bandes, »Zur-Erscheinung-Kommen«, als eine Grundproblemstellung unseres Wirklichkeitsverständnisses, zugänglich. Nur für eine komplexe theoretische Einstellung, für die Wissen darin besteht, die Ursache oder den Ursprung für ein Seiendes y angeben zu können, kann es überhaupt Tatsache werden, dass y nicht ein suisuffizientes, fürsichseiendes Sein ist, sondern eine als »Erscheinung« zu qualifizierende Instantiierung eines anderen Seins x, die gegen das SichAufdrängen der phänomenalen Eigenständigkeit als dessen eigentliches Sein zu behaupten sei. Dass etwa ›hinter‹ den wechselnden Gesten und dem affekt-­ bestimmten Agieren eines Individuums ein bestimmter Charakter oder eine Persönlichkeit liegt, die in diesen Gesten und Affekten zur Erscheinung kommt, kann nur demjenigen zugänglich werden, der nicht an der Sequenz der Oberflächenphänomene gleichsam fixiert hängen bleibt, sondern diese als differenzierten Code der Äußerung eines Innern verstehen kann, das selbst nicht unmittelbar erscheint. Alle Beschreibungs-, Mess- oder Analyseverfahren der Psychologie und Soziologie nützen nichts, wenn sie nicht diese Differenz in Anschlag bringen. Die Rekonstruktion 8 Hierzu

Leinkauf: Der Bild-Begriff bei Cusanus [Anm. 2], 101-104.



Überlegungen zum Status des Bildes und der Kunst bei Plotin 27

einer individuellen Psyche allein durch die Addition und Deutung von y-Instanzen führt nur dazu, dass ein Pseudo-x extrinsisch konstruiert und appliziert wird. Andererseits ist auch klar, dass, um im Bereich des Seelischen zu bleiben, ein substantiell in Anschlag gebrachtes x – als innere Einheit, als Ich, als Person – sich jedem einlinigen Zugriff schlechterdings entzieht. Dass der Körper, die Gestik, die Chemie sozusagen der affektiv-emotionalen Expressivität als »Bild« der individuellen Seele gedeutet werden kann, wie etwa auch eine über einen bestimmten Zeitraum gewachsene Einrichtung einer Wohnung oder eines Hauses ein komplexes »Bild« des/der Bewohner darstellt, verweist zurück auf die Grunddifferenz, die in der Expressions-Relation oder dem Zum-Erscheinen-Kommen besteht. Plotin hat nun, wie eingangs schon gesagt, diese Relation als eine Relation von Urbild und Bild bezeichnet und er hat die »Realisierung des Bildes« (Beierwaltes), sofern sie das seelische Sein des individuellen Menschen bezeichnet, als einen im Kern theoretischen Akt oder besser Prozess herausgestellt, in dem das Bild (y) in sich das Urbild (x) durch nachhaltige Reflexion zum Ausdruck bringt.9 Dieser Prozess des durch seelische Selbstaktivität (Spontaneität) hervorgebrachten Erscheinens des Einen oder des Geistes im Horizont des Seelischen, d. h. im Bereich zeit-räumlicher Wirklichkeit, ist aus der Sicht Plotins wesentlich durch Sprache (Wissenschaft) bestimmt – sofern der Logos der Sprache ebenfalls direktes Bild des diskursiven Wesens der Seele ist –, äußert sich aber zudem auch als Produktion von Kunst (Technik und Kunst im modernen Sinne). Als Stimulus oder als Movens der Realisierung des Bildes, sofern dies eben zugleich eine Selbst-Realisierung des Potentiales der vernünftigen Einzelseelen ist, wirkt die Welt (der κόσμος im griechischen Verständnis), sofern diese ein einfaches, vorreflexives, natürliches, aber durch die noetische Struktur des Ursprungs bestimmtes Hervorgehen des Einen, vermittelt durch Geist und Welt-Seele in die Dimensionalität des ZeitRäumlichen ist.10 Plotin denkt die Welt, im Anschluss an Platon (insbesondere ist hier zu denken an Timaios 29 B 2 f., 37 C 6 f., 92 C 7), als in sich absolut vermittelten, durchgängig organisch verfassten Zusammenhang des Vielheitlichen, der dem Menschen, sofern dieser sich in seinem wesentlichen Sein realisiert, also theoretisch-reflektierend tätig ist, als Erscheinung des Ursprungs vorliegt. Es gilt, sozusagen als anthropologische Grundkonstante für Plotin, dass der seelische In  9 Vgl. Werner Beierwaltes: Realisierung des Bildes, in: Archivio di filosofia 51 (1983), 63-70; ders.: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frank­ furt/M. 1985, 73-113. 10 Plotin: Enn. V 8, 12, 1 ff. Plotin macht, immer noch in der Nachfolge Platons und obwohl bei ihm dem Akt der Mimesis eine deutlich positive Konnotation zukommt, folgende grundsätzliche Unterscheidung: (i) Der Kosmos oder die Welt (oder die Natur) ist »als Abbild nicht künstlich hervorgebracht« (οὐ τέχνη γενομένης τῆς εἰκόνος), sondern von Natur aus erzeugt (φύσει), und es ist (ii) nur dann existent/seiend, wenn auch der Ursprung oder das Ur-Bild da ist. Wie beim Spiegel gilt daher für den Kosmos: »jegliches von Natur erzeugte Abbild aber ist so lange da, als das Urbild dableibt« (Übersetzung Harder; 12, 19-20: πᾶσα δὲ φύσει εἰκών ἐστι, ὅσον ἃν τὸ ἀρχέτυπον μένῃ ).

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tellekt in der erscheinenden Schönheit der Welt das Hervorbringende (also das in der Erscheinung Erscheinende) »bewundert« und eben dadurch, durch diesen Stimulus rationaler Ordnung, lebendiger Vielfalt und Schönheit, als »Bild« und d. h. als rationale Entfaltung des Geistes ( λόγος νοῦ) selbst aktiv wird.11 Diese Welt als Bild des Gottes, als »sinnlichen Gott«, zu erkennen, setzt voraus, dass das Denken (i) die Faktoren der Weltstruktur – nämlich Harmonie als absolute Vermittlung von Einheit und Vielheit, Zeit als in Bewegung befindliches Bild der Ewigkeit, Rationalität als zahlhaft-proportionale Grundform aller Prozesse  – erfasst und unterscheidet (also: die Welt als nicht suisuffizientes, rein aus sich seiendes und auch verstehbares Sein erfährt, sondern als ein y, das x zum Ausdruck/Erscheinen bringt); (ii) den Differenzeintrag dieses Bildes des Einen zum Einen selbst als Anteil des Außereinander, der Differenzen, der Andersheiten und der Unschärfen (alles bestimmt durch διάστασις) begreift und (iii) zugleich, weil dieses Bild, sofern Schönheit als Erscheinen des Einen gedacht wird, in sich schön ist, eben jenes als Anlass zur Übersteigung des Welt-Bildes in sein Ur-Bild hinein erfährt. Die Welt jedoch bleibt für Plotin in diesem Zusammenhang als schöne und als rational strukturierte anerkannt – nicht verworfen und negativiert wie bei den Gnostikern. Der Rückgang ins Ur-Bild und die Selbstrealisierung des Bildes (Seele) vollzieht sich ja in dieser Welt und durch sie und ist an die zeit-räumliche Dimensionalität gebunden, etwa an die unausweichliche phonetische Präsenz des Sprachlichen, an die räumlich-kinetische Präsenz des Körpers bei Handlungen. So kann Plotin – und in seinem Anschluss später dann eine ganze Tradition von Augustinus über Marsilio Ficino bis hin zum Deutschen Idealismus  – Kunst, technische Kunst, bildende Kunst, sprachliche Kunst (Poetik), als genuinen Horizont einer durch »Bilder« zu leistenden Anagogik oder conversio verstehen.12 Die »Nachahmung« 11 Plotin:

Enn. V 1, 3, 6-10: Die Seele ist »Logos des Geistes«, so wie der (phonetisch) ausgesprochene Gedanke Logos/Bild des Logos in der Seele ist. II 9, 17, 34-38: Nicht nur im jenseitigen, intelligibel-noetischen Bereich (ἐκεῖθεν), sondern gerade auch ›hier‹, »in den sinnlichen Dingen und in den Einzeldingen« (καὶ ἐν αἰσθητοῖς καὶ τοῖς ἐν μέρει) gibt es »so herrrliche Schönheit, daß man den bewundern muß, der sie hervorgebracht hat« (Übersetzung Harder). V 8, 12, 12-20: Der schöne Kosmos ist Abbild des Schönen selbst (12, 13: καλὸν ὡς εἰκόνα καλοῦ), er ist sein »Nachbild« (so Harder für 12, 16: μίμημα). Ebenso VI 4, 2, 1-3: τὸ μὲν ἀληθινὸν πᾶν [sc. der Nus], τὸ δὲ τοῦ παντὸς μίμημα ἡ τοῦδε τοῦ ὁρατοῦ φύσις [sc. der Kosmos]. Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang folgender Grundsatz von zentraler Bedeutung, V 8, 8, 11-12: »Für jede Sache [y], die jemand bewundert und die nach einem Anderen [x] gestaltet/hervorgebracht ist, gilt, daß sich das Bewundern auf dasjenige richtet, wonach/gemäß dessen diese Sache gestaltet/ hervorgebracht ist« – Πᾶν γὰρ τὸ κατὰ ἄλλο ποιηθὲν ὅταν τις θαυμάσῃ, ἐπ’ἐκεῖνο ἔχει τὸ θαῦμα, καθ’ὅ ἐστι πεποιημένον. In einem Bild wird also vor allem der Ursprung oder das Prinzip, aus dem dieses Bild entstanden ist, bewundert, weil es, so wohl die Vorstellung Plotins, eben dieses übergeordnete Prinzip ist, das als Form-, Einheits- und Schönheitsgrund dem Bild seine Attraktivität verleiht. Zum Gedanken des selbst aktiven Bildes vgl. Leinkauf, Der Bild-Begriff bei Cusanus [Anm. 2]. 12 Frederic M. Schroeder: The Platonic Parmenides and imitation in Plotinus, in: Dionysius 2 (1978), 51-73; ders.: Representation and Reflection in Plotinus, in: Dionysius 4 (1980), 37-59; Beierwaltes: Denken des Einen [Anm. 9], 91 f.



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(μίμησις, imitatio) der Natur durch die Kunst ist hier genuines Bild dadurch, dass sie nicht einfach trivial abbildet, sondern die inneren, für das »Bild« Welt (Natur) selbst konstitutiven Prinzipien ( λόγοι) dieser Welt (Natur) darstellt oder zumindest auf diese verweist (etwa indem die Plastik in ihren Portraitbüsten versucht, auf die Innerlichkeit, das Seelische und Kontemplative des Menschen zu verweisen).13 Wenn also die Natur y, wie wir eingangs schon gesagt hatten, für Plotin ein Bild des Bereiches der (intelligiblen) Prinzipien (Eines, Nus, Weltseele) x ist, so ist das Kunst-Bild, nennen wir es y’ (in dem angezeigten weiten Verständnis von Kunst), zwar, als Darstellung im Bereich natürlicher Gegenständlichkeit, ein Bild dieses Bildes y (oder aus dem Bereich des Kosmos und der Physis), aber es ist zugleich ein gebrochenes, reflektiertes, sachaufschließendes und deutendes Bild. Und dies ist nur möglich, weil die Instanz, die Kunst hervorbringt, eben gerade nicht selbst Natur oder Welt ist, sondern das »Bild« des Geistes in der Welt: die Geistseele des Menschen (x’). Das heißt: Das Kunst-Bild y’ ist ein durch x’ vermitteltes Bild von y und verweist dadurch auf x als das Prinzip allen Seins. Dadurch artikuliert Kunst in einem anderen Sinne als die instinktiv oder naturaliter produzierende Physis die allgemeinen Prinzipien und Kategorien alles Seienden, die für Plotin im Wesentlichen die aus Platons Grundtexten, der Politeia, dem Sophistes, dem Philebos gezogenen Bestimmungen Einheit-Vielheit, Identität-Differenz, Selbigkeit-Andersheit, Ruhe-Bewegung, Ähnlichkeit-Unähnlichkeit sind (Sophistes 254 D, vgl. V 1, 4, 32-36). Andererseits ist aber daher Kunst auch nicht ein Letztes, in dem sich sozusagen eine durch das Ingenium des Künstlers vermittelte Weltsicht oder eine malerische, skulpturale oder architektonische Grundleistung ästhetisch unübertrefflich zum Ausdruck bringt und als dieses singuläre Faktum Normativität gewinnt; sondern Kunst ist vielmehr, wie der Kosmos, ein Verweis (siehe oben δείξις) auf etwas Höheres, das sie selbst nicht angemessen realisieren kann, sodass auch für die ›schönen‹ Werke der Kunst, etwa für Kunst-Bilder, gilt, wie es in der Rede der Diotima von allen Instantiierungen des Schönen jenseits des absolut Schönen und Guten heißt, dass man sie »übersteigen« und verlassen muss.14

13 Hierzu

gibt es, was die zeitgenössische Kunst Plotins angeht, Forschungen, vgl. Hans Peter L’Orange: Studien zur Geschichte des spätantiken Portraits, Oslo 1933; ders.: The portrait of Plotinus, in: Cahiers archéologiques I (1946) 15-34, vgl. mit weiterer Literatur: Beierwaltes, Denken des Einen [Anm. 9], 92 f. der ebenso auf die Implikation einer Kunst jenseits einfachen Abbildens verweist, auf den von Plotin für jede epistemische Leistung herausgestellten Anspruch eines »Rückgangs auf die ›logoi‹«, auf die σοφία φυσική (Plotin: Enn. V 8, 5, 4 f.). 14 Platon: Symposion 210 A ff, 211 C 2 f.: ἐπανιέναι . In Platons Text wird sofort der transindividuelle und nicht-singuläre, also schlechthin allgemeine Charakter des Schönen herausgehoben: Man müsse schon bei den schönen Körpern (1. Stufe) nicht auf die Schönheit des Einzelnen sehen, sondern »die Schönheit in allen Leibern für eine und dieselbe (…) halten« – ἕν τε καὶ ταὐτὸν ἡγεῖσθαι τὸ ἐπὶ πᾶσι τοῖς σώμασι κάλλος (210 B 2-3). Plotin I 6, 1, 4-5: προιοῦσι πρὸς τὸ ἄνω zu Symposion 210-211; V 9, 2, 5-10: ἀναφυγών, ἐπαναβαίνειν ebenfalls Kontext Symposion 210-211.

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III.

Da für Plotin – entgegen einem neuzeitlichen Verständnis von Kunst – grundsätzlich gilt, dass das Abbild (als Nachahmung, Mimesis, imitatio) nur ist, wenn auch das Urbild ist (wenn y, dann notwendig auch x, wenn non x, dann notwendig auch non y), als Beispiel gilt ihm der Spiegel im Unterschied zum (spiegelnden) Abbild eines Porträts in Malerei oder Skulptur,15 kann er entweder die Selbständigkeit von Kunst nicht so verstehen, wie sie spätestens seit der Renaissance (in bestimmter Hinsicht aber auch schon in der Antike) verstanden worden ist, oder er kann der Kunst nicht den Status eines echten, wahrhaften Abbildes zusprechen. Obgleich also Plotin dem Bild und damit auch dem Abbild oder Nachbild, dem μίμημα sowie dem Akt der μίμησις, eine zentrale Funktion in seinem Denkansatz einräumt und in diesem Zusammenhang, bedingt durch die die Struktur der Welt aufschließenden Kraft der Kunst, eine durchaus positive Einschätzung dieser Funktion vorträgt, bleibt sie doch, wie der abträgliche Vergleich mit dem Spiegel zeigt, ontologisch von geringerem Status: Das Bild (Abbild) des Künstlers (ζωγράφος), das Plotin manchmal auch »Schattenbild« (so Harder für εἴδωλον) nennt, ist »keine eigentliche Hervorbringung« (οὐ κυρίως ποίησις), dagegen hat das »Nachbild« (Harder) des Spiegels sein Sein durch die Gegenwart des Urbilds.16 Plotin kann daher eigentlich nur die direkt in der Seele bzw. in der Vernunftseele sich vollziehende ›Kunst‹, das Erschauen der schönen Form, das Erfassen der harmonischen rationalen Verhältnisse, die Betrachtung der Idee etc. durch das Denken, als angemessen verstehen. Das externalisierte, sozusagen losgelassene Produkt, das Gemälde, die Skulptur, die Architektur, das Gedicht oder Tragödie sowie Komödie als Sprachkunstwerke, sind an sich nur sekundäre, mittelbare Bilder. Indiz ist Plotin, wie schon am Spiegelbeispiel gezeigt, die Tatsache, dass sie existieren können, auch wenn ihre Ursache und ihr Ursprung, der Künstler, nicht da ist oder selbst nicht mehr existiert. Man könnte diese strikte Forderung nach dem Da-Sein des Prinzips (sprachlich durch μένειν, παρεῖναι ausgedrückt) als Kopräsenzforderung bezeichnen und in diesem Sinne die Präsenz des Einen im Geist, des Geistes in der Seele, der Weltseele in der Physis und schließlich der Physis in der Materie als eine solche Sein-stiftende, konstitutive Kopräsenz verstehen.17 Was die Kunst betrifft, so wäre gerade dieses 15 Plotin:

Enn. VI 4, 10, 1-16; III 6, 13 passim, 13, 35-45 zum Spiegel, vor allem aber V 8, 12, 17-26 zur grundständigen Differenz eines »natürlichen« Bildes und eines »künstlich« hervorgebrachten: »Es besitzt, als Bild, auch sein [sc. des Geistes] ewiges Sein (…), denn es ist als Bild nicht künstlich entstanden; jedes natürliche Bild nämlich existiert, solange sein Urbild (gegenwärtig) bleibt« – ἐχει δὲ καὶ τὸ ἀεὶ αὐτοῦ, ὡς εἰκών (…) οὐ τέχνῃ γενομένης τῆς εἰκόνος· πᾶσα δὲ φύσει εἰκών ἐστιν, ὅσον ἂν τὸ ἀρχέτυπον μένῃ. 16 Plotin: Enn. VI 4, 10, 11-15; V 8, 12, 19-20 (siehe das Zitat Anm. 13), 23-24. Zu »Schattenbild« vgl. etwa III 9, n. 3, 8-17, bes. 11 f.: Wenn die Individualseele sich auf das zubewegt, was »nach ihr« ( μετ’αὐτήν) ist, bringt sie »Schattenbilder ihrer selbst« hervor (εἴδωλα αὐτῆς). 17 Plotin versteht die Präsenz des Einen in allem aus ihm kommenden und nach ihm seienden Sein als eine Präsenz, die letztlich die Fassungskraft des Denkens übersteigt, vgl. VI 9, 4, 1-5: Die Seele »erleidet« gerade in der für sich höchsten Form der Reflexion über den Grund und



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Prinzip der konstitutiven Kopräsenz aus der Sicht Plotins in dem Moment außer Kraft gesetzt, in dem das Werk sozusagen aus der inneren Idee in das äußere Ideat gesetzt wird. Diese – aus unserer Sicht harte – Konsequenz ist allerdings nur logische Folge des theoretischen Grundansatzes Plotins und auch des ganzen späteren, auf ihn zurückgehenden Neuplatonismus. Sie lässt sich am besten zeigen, wenn man das kopräsentische Verhältnis der Weltseele zur Physis betrachtet: Für Plotin, wie auch dann für Porphyrios und andere, ist die Welt, als geordnete Natur, erscheinender Kosmos und als phänomenale Wirklichkeit ontologisch und dem substantiellen wesentlichen Sein nach gesehen in der Seele – nicht etwa die Seele oder das Seelische in der Welt (das an sich Ortlose kann keinen physikalischen ›Ort‹ besitzen, es folgt, wenn überhaupt, einer ganz anderen Topologie18). Diese kontraintuitive Klarstellung der Philosophie dreht sozusagen die ganze Syntax vor-philosophischer Welterfahrung im Kern um: Das Äußere ist an sich kein schlechthin Anderes, sondern durch theoretische Einstellung zu rekonstruierendes Produkt des Inneren, des Noetisch-Seelischen, fundamental bestimmt durch die absolute Verknüpfung aller Kategorien und die dadurch strukturierte Sequenz der Entfaltungen der Formgründe in die einzelnen Erscheinungen. Folge dieser Umkehrung ist aber auch: Die Welt, der Kosmos, die Natur ist kein einem Werk oder Kunstwerk vergleichbares, schlechthin entäußertes Produkt, sondern eine permanent dem Ursprung (der Physis oder Weltseele) verbundene, durch das Prinzip der Kopräsenz bestimmte Entfaltung  – und daher eben Erscheinung und tatsächliches Bild, dynamischer Selbstausdruck des Urbildes.19 Genau dies lässt sich eben von der Kunst nicht oder zumindest nicht in gleicher Weise sagen. Sie bleibt, trotz aller Aufwertung der Bedeutung des Mimetischen und des Bewusstseins von der Kraft der gestalterischen Entfaltung des Menschen in der Welt, ein, neben den erstrangigen, eigentlichen Bildern, zweitrangiges Moment im Gefüge der ontischen Grundstrukturen.20 Hier bleibt ein Rest der von Platon vorgenommenen Depotenzierung der Kunst als BildUrsprung einen »Abfall« (ἀπόστασις) vom Einen, dessen Gegenwart »ist stärker/von höherer Art als das Wissen« ( μηδὲ κατ’ἐπιστήμην ἡ σύνεσις ἐκείνου (…) ἀλλὰ κατὰ παρουσίαν ἐπιστήμης κρείττονα). Dies gilt für jede Präsenz des Einen in der Wirklichkeit und für jede Präsenz des jeweils höheren Prinzips im niederen, durch es bestimmten Sein, also des Geistes in der Seele, der Seele in der Natur, der Individualseele in den Kunstwerken: Immer ist dabei, trotz der hypostatischen Differenz, das Eine selbst mit-gegenwärtig. III 8, 9, 23-26: zum »überall Gegenwärtigen« Einen, τὸ γὰρ πανταχοῦ παρόν. V 8, 12, 19 f.: Das Bild »ist« (existiert, hat Dasein) nur solange das Urbild »da-bleibt«. 18 Plotin: Enn. VI 4, 3; VI 9, 11, 36-43. Porphyrios: Aphormai (= Sententiae ad intelligibilia ducentes), hg. von E . Lamberz, Leipzig 1975, n. 1, S. 1; n. 3, S. 2: »Das an sich Unkörperliche, das den Körpern nicht in orthafter Weise gegenwärtig ist (…), ist ihnen dagegen auf Weise der Gestalt/Form gegenwärtig«  – τὰ καθ’αὑτὰ ἀσώματα, οὐ τοπικῶς παρόντα τοῖς σώμασι (…) τῃ σχέσει πάρεστιν αὐτοῖς. 19 Plotin: Enn. V 8, 9, 24-26: τὸ δέ ἐστι (τὸ πᾶν) δύναμις πᾶσα, εἰς ἄπειρον μὲν ἰοῦσα, εἰς ἄπειρον δὲ δυναμένη. Zur Implikation unendlicher Kraft oder Mächtigkeit vgl. Beierwaltes, Denken des Einen [Anm. 9], 46 mit Stellen. 20 Man kann hierin ein Restmoment von Platons Einordnung der Kunst in die ontologische Wertskala sehen, die in der Politeia X gegeben wird. Allerdings ist dies ja auch bei Platon alles

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oder Abbildkunst (Politeia 596 A ff., 597 E) zunächst deutlich spürbar zurück. Auch wenn eine Bewertung der Kunst nur aus diesen wenigen Stellen – Plotin hat ja keine eigentliche Theorie der Kunst, sondern vor allem eine Theorie des Schönen vorgelegt – vielleicht nicht in jeder Hinsicht angemessen ist, lassen sich doch weder diese Stellen selbst mit ihren deutlichen Auskünften noch die Gesamtstruktur des Denkansatzes wegdrücken. Es bleibt eine eigentümliche Spannung zwischen der hohen Bedeutung der Kunst-Schönheit, die aus dem Form-setzenden Akt des Künstlers unter Blicknahme auf die Form- und Sachgründe resultiert,21 und der ontologischen Schwäche des Werkes selbst. IV.

Ontologisch ›retten‹ lässt sich Kunst gegenüber dem »natürlicherweise« (φύσει) Entstandenen und als solchem, wie wir gesehen haben, ebenfalls Schönen im Sinne Plotins jedoch dadurch, dass man sie, als genuines Produkt der Individualseele und der Kraft zur Formmitteilung, in den Horizont des Seelischen und der Präsenz des Seelischen in die von ihm gestaltete Wirklichkeit (etwa auch der sozialen oder politischen Wirklichkeit) stellt und von der Funktion des Sich-selbst-Ausdrückens und Zur-Erscheinung-Bringens des Inneren her begreift. Eben dies deutet Plotin an einigen Stellen selbst an, etwa wenn er davon spricht, dass gerade die abbildenden Künste, die Sinnliches zum Vorbild haben und dessen Formen nachahmen, nur durch den Begriff des Menschen (τῳ ἀνθρώποῦ λόγου) mit dem geistigen, intelligiblen Sein vermittelt sind.22 Hier könnte man von einer ontisch abgeschwächten Kopräsenz sprechen. Dies hätte folgende Konsequenzen, die sich zumindest in der Kunsttheorie und Ästhetik späterer Zeit finden lassen: Kunst ist, als Bild der Individual-Seele (in einer sachlichen Analogie zur Natur als Bild der Weltseele), Anzeige und Spur von deren spezifischem Sein und ontologischen Status. Diesen Status hat Plotin verschieden beschrieben, einmal als »doppellebig« (ἀμφίβιος), an anderer Stelle als »auf der Grenzscheide« (ἐν μεθoρίῳ, in horizonte, wie es Ficino später übersetzen wird) von Intelligiblem und Sinnlichem stehend, an wieder anderer Stelle als »Mitte« (Zentrum) des Seins.23 Kunst könnte so als zweiseitig, amandere als das letzte Wort über die Bedeutung der Kunst, die sie ja auch ohne eine bestimmte ontische Position haben kann. 21 Plotin: Enn. V 8, 2, 14-16: Die Form, als Grund der Schönheit, kommt vom Hervorbringenden (Schöpfer) in das Entstandene (Geschöpf ) – ἧκον δὲ ἐπὶ τὸ γενόμενον ἐκ τοῦ ποιήσαντος –, und zwar so, wie sie aus den Künsten in die Kunstwerke (das durch Kunst Hergestellte) kommt – ὥσπερ ἐν ταῖς τέχναις ἐλέγετο ἐπὶ τὰ τεχνητὰ ἰέναι παρὰ τῶν τεχνῶν. 22 Plotin: Enn. V 9, 11, 1-6, ebenso 11, 16: »es wäre als Ganzes nicht dort (sc. im Geistigen), wenn nicht durch den Menschen« – οὐκ ἂν εἶεν ἐκεῖ, ἢ ἐν τῳ ἀνθρώπῳ. Dies und zuvor V 9, 3, 11-20 sind zentrale Stellen für den Unterschied von Künstlichem (τεχνητά) und Natürlichem (τὰ φύσει συνεστῶτα). 23 Plotin: Enn. IV 2, 1, 45: μέσον ; 62 f.: Die Seele ist einendes Zentrum des Kosmos; V 3, 3, 35 f.: μεσότης , ἀμφίβιος , μεθόριον; IV 8, 4, 32: οἷον ἀμφίβιοι ; IV 8, 7, 6: μέση τάξις; II 2, 2, 7-17:



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big, ja prekär in dem Sinne bezeichnet werden, dass in ihr und durch sie einerseits die gegenstrebigen Grundperspektiven des Seelischen (des Menschen) auf die Welt zu komprimiertem Ausdruck kommen: nämlich auf der einen Seite die Wendung »nach außen«, hin zum Vielen, zum Materiellen, zur reinen Differenz und Andersheit, und auf der anderen Seite die Wendung »nach innen«, hin zum Einen, zum Nicht-Sinnlichen, zur Identität und Selbigkeit. Andererseits aber eben auch, sofern die Kunst selbst als Gegenstand oder als Kunstwerk je ein Einzelding und Seiendes in der Physis ist, die allgemeine Grundstruktur allen Seins als einer komplexen Synthesis aus »Hervorgang« (πρόοδος) und »Rückgang/Rückwendung« (ἐπιστροφή ). So wird Kunst von Plotin als Hervorgehen eines Formprinzips (der Seele) in die Form (das Kunstwerk) verstanden, als Mitteilung von Seiten dieses Prinzips und als Teilhabe an der Form von Seiten des Artefakts.24 Als Werk jedoch und als Ding ist sie eben zugleich auch Ausdruck der Struktur allen natürlichen Seins. Was auch immer in dieser Zweiseitigkeit, die eine Synthese aus intelligiblem, einheitlichem Formprinzip und dem vielheitlichen materiellen Substrat ist, aus der Wendung von der Einheit zur Vielheit (διάστασις) und aus Rückwendung aus der Vielheit in die Einheit,25 durch die Intention des Künstlers thematisch wird: es ist doch grundsätzlich, als Geformtes, Bild von dessen Intentionalität; es ist, wie Plotin in der Abhandlung Über die geistige Schönheit sagt, wie alles Entstehende, »sei es Kunst, sei es Naturgebilde«, Produkt einer »Weisheit« (σοφία)26. Positiv gesehen kann die Kunst sowohl hinsichtlich der Form als auch hinsichtlich der Materie deren jeweilige Bindung an das einheitliche Prinzip thematisieren, Plotin würde sagen: »eine Sichtbarwerdung des Unteilbaren in der Vielheit« bewirken (I 6, 3, 8-10; Übersetzung Harders für: ἀμερὲς ὂν ἐν πολλοῖς φανταζόμενον), eine »von außen« durch die Seele als Form, Gestalt, Struktur an das materielle Substrat herangetragene Schönheit (V 9, 2, 13-20: ἐπακτόν). Sofern die Kunst also nicht direkt auf etwa das Gute und die Tugend in ihren Darstellungen abzielt, sondern etwa das vielheitliche, bunte μ έσον; II 9, 2, 4-6: Die Seele entfaltet sich in drei Richtungen: 1. zum Nus, 2. zur Physis, 3. zu sich selbst als Mitte. 24 Plotin: Enn. I 6, 2, 13-15: μετοχῃ εἴδους ; 19: προσιὸν … τὸ εἶδος ; 3, 34-35: εἴδωλα und σκιαί begründen das Sinnliche im Allgemeinen, die Schönheit des Kunstwerks im Besonderen; V 8, 2, 14-16 (siehe letzte Anm.). 25 Plotin: Enn. V 8, 1. 26-30 zur Ausdehnung und Diastase als Abnahme von Kraft, Bedeutung und Schönheit. Die Sache ist natürlich in sich viel komplizierter: Denn es gibt auch etwa eine Wendung vom Einen zum Einen (vom weniger intensiven, seelischen Einen zum intensiveren des Nus), vom Vielen zum Vielen (vom höher geeinten Vielen, etwa den Empfindungen, die durch die Seele synthetisiert werden, zu den einzelnen Dingen, die sie auslösen), vom Seelischen zum Seelischen (innerhalb der Einheit der Seele) etc. Eigentlich ist hier überall immer schon etwas, das irgendwie ein Eines ist (weil es eine bestimmte Form besitzt, ein bestimmtes Sein hat) mit einem ebensolchen Einen befasst. Für Plotin ist einzig entscheidend, dass der Stimulus, der von Kunst ausgeht (ihre Attraktivität), die Seele vom rein Vielheitlichen, rein Materiellen, oder von den Kräften, die auf dieses Vielheitliche rein um dessen willen ausgerichtet sind, weglenkt, geradezu umbiegt in Richtung auf das geistige Sein. 26 Plotin: Enn. V 8, 5, 1-3: πάντα δὴ τὰ γινόμενα, εἴτε τεχνητὰ εἴτε φυσικὰ εἴη, σοφία τις ποιεῖ, καὶ ἡγεῖται τῆς ποιήσεως πανταχοῦ σοφία .

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einzeldingliche Sein thematisiert – etwa indem sie als Baukunst ein Haus errichtet oder als Malkunst ein Haus malt, so ist sie doch als Kunst (τέχνη ) Darstellung einer »inneren Idee«, d. h. der Form des Hauses, in dem »äußeren Haus« (τὸ ἔξω οἶκος).27 Immer geht in Kunst, sonst verdiente sie diesen Namen nicht, eine Synthesisleistung des Seelischen ein, die auf genuinen Potenzen des Seelischen basiert, nämlich einerseits seiner diskursiven Rationalität, die sich in Urteilsakten äußert, und andererseits in der Fähigkeit zur »Schau« des Intelligiblen und Einen. Dem Kunstprodukt wird somit eine aus dem Urteilsprozess entstandene Form, eine Gestalt, ja ein rationaler Kanon (etwa proportionale Verhältnisse in der Musik, der Sprachform, der Gestalt) mitgeteilt, die alle Indizes des eigentlichen Bildes der Seele und ihres Logos sind. Diese Indizes des Seelischen (als einer bestimmten Form von Einheit) machen das Kunstwerk (Bild) als Sinnliches »durchsichtig« hin auf das Intelligible.28 Plotin bezeichnet die Gesamtheit der in die Kunstwerke eingehenden Formen und Ideen auch als »die Kunst selbst« (ἡ τέχνη αὐτή ), im Gegensatz zur erscheinenden Kunst (analog wie es die Wissenschaft selbst und dann auch noch deren einzelne disziplinenspezifische Realisierungen gibt).29 Die Schönheit, die sich in der Kunst mitteilt, ist, wie auch die Naturschönheit, nichts anderes als Ausdruck der Begegnung des Seelischen mit sich selbst durch bildhafte Brechung in verschiedenen materiellen Substraten. Wie Plotin gegen das dualistische Theoriemodell der Gnostik den Kosmos nicht zu einer negativen Größe werden lässt, sondern ihn als lebendiges Bild des Einen und als durchgehend gegenwärtigen Anlass für die Umkehr und Rückbewegung der Seele in ihren geistig-intelligiblen Ursprung systematisch legitimiert, so gilt dies eben auch für das durch die Kunst vermittelte Schöne: »Die Schönheit der inneren (d. h. geistigen) Dinge bewundert ein jeder wegen der Schönheit (Buntheit, Mannigfaltigkeit) der 27 Plotin:

Enn. I 6, 3, 6-10. Begriff der »Durchsichtigkeit« thematisiert Jens Halfwassen, Schönheit und Bild bei Plotin, in: Das Bild als Denkfigur. Funktionen des Bildbegriffs in der Geschichte der Philosophie, hg. von Simone Neuber, Roman Veressow, München 2010, 67-78, bes. 76-78 mit Rückgriff auf Plotin: Enn. V 8, 2, 1-6 (allerdings ist hier nun gerade von den τὰ φύσει κάλλη γιγνόμεναι καὶ die Rede, nicht von der Kunst) in seiner Reflexion auf den Zusammenhang von Schönheit und Bild bei Plotin. Dennoch scheint mir der Begriff der Durchsichtigkeit, den Plotin insbesondere für den Bereich des Nus oder des Noetischen verwendet (vgl. V 8, 4, 4: διαφανῆ γὰρ πάντα), in seiner Anwendung auf die Kunst sinnvoll: Er markiert, dass das Erscheinen des Prinziphaften in dem Prinzipiierten, letztlich des Einen in jeglichem ein Eines seienden Vielen, als ein solches ›Erscheinen‹ eines Anderen in einem Anderen nur durch die und in der intellektuelle(n) epistemische(n)-produktive(n) Einstellung des Künstlers und des Betrachters wirklich werden kann. In ihr wird der in das Produkt eingegangene Kanon an Kategorien und Logoi erfasst und als Ausdruck des Intelligiblen erfasst, somit die ›Verschattung‹, die mit dem Eingehen in den steretischen materiellen Kontext unausweichlich verbunden ist, gleichsam zurückgenommen in ein Durchsichtigwerden auf die Formgründe und Einheitsstrukturen hin. 29 Plotin: Enn. V 9, 5, 40-42: »Die Kunst selbst, die außerhalb der Materie in der Selbigkeit verbleibt und die die wahrhafte Statue und die wahrhafte Liege in sich trägt« – τῆς δὲ τέχνης αὐτῆς ἔξω ὕλης ἐν ταυτότητι μενούσης καὶ τὸν ἀληθῆ ἀνδριάντα καὶ κλίνην ἐχούσης. Der Bezug auf Platon, Politeia ist evident. 28 Den



Überlegungen zum Status des Bildes und der Kunst bei Plotin 35

Außenwelt«, heißt es unmissverständlich in der Schrift über den Abstieg der Seele in die Leibeswelt.30 Plotin bezeichnet dasjenige, was diese Selbstbegegnung und damit das Initial zum sich in den Ursprung zurückwenden Aufstieg ermöglicht, als das »Verwandte«, τὸ συγγενές, oder das »Ähnliche«, τὸ ὅμοιον, der Seele.31 Systematisch gesehen ist das der Seele Verwandte, sofern die Seele als Logos ( λόγος τοῦ νοῦ) bezeichnet werden muss und die Struktur des Logos die diskursive Struktur durchgehender Vermittlung von Einheit und Vielheit ist, selbst etwas Logisches, Rationales, Ein-Vielheitliches. Einen ersten einflussreichen Grundriss des allgemeinen Potentiales einer solchen rationalen Kanonik, die auch mit zu den Gründungstexten der späteren Artes-liberales-Tradition gehörte, hatte schon Platon mit seinen Ausführungen zur communis mathematica scientia in der Politeia, Buch VII, vorgelegt. Die im Wesentlichen in der Mathematik konvergierenden Disziplinen Geometrie, Arithmetik, Musik, Astronomie stellen den formalen Horizont, nicht den Inhalt, der gerade auch für die Künste verbindlichen, durch Rationalität bestimmten Darstellung vor. So versteht sich auch der zentrale Grundsatz in Plotins Kunsttheorie, dass die Künste »nicht einfach nur das Gesehene (die sichtbare Natur) nachahmen, sondern zu den rationalen Formgründen hinauflaufen, aus denen die Natur ihr Sein hat« 32 . Wenn ich dies richtig verstehe, geht es Plotin hier darum, dass der einzelne Künstler, d. h. dessen Seele (später wird man sagen: sein ingenium) in der Konzeptionalisierung und Erfindung seines Werkes so vorgeht wie analog die Natur bei Hervorbringung ihrer Produkte – als Naturdinge, natürliche Prozesse, Gesetzmäßigkeiten etc. – nämlich als übergeordnete, transzendente Instanz, die sich eines Reichtums an Formen, Prinzipien, Verhältnissen bedient (die Kanones). Diesen Reichtum bezeichnet Plotin, wir haben dies vorhin schon erwähnt, als Weisheit. Mittels dieser gestaltet der Künstler nicht nur abbildend, sondern auch autonom schaffend im materiellen, jeweils unterschiedlichen Substrat ein Werk. In diesem Werk als Kunstwerk begegnen sich, wie in der Instanz der Seele selbst – man denke an die Doppelstruktur, das ›Auf lösen des Einen ins Viele‹ (dies ist die Umsetzung der Formvielheit der Weisheit in ein äußeres Werk), d. h. in eine schöne Form, und 30

Plotin: Enn. IV 8, 5, 36-37: νῦν μὲν γὰρ θαῦμα ἔχει τῶν ἔνδον ἕκαστος διὰ τῆς ποικιλίας τῶν ἔξω οἷόν ἐστιν ἐκ τοῦ τὰ γλαφυρὰ ταῦτα δρᾶσαι . 31 Plotin: Enn. I 6, 2, 6 ff.; V 1, 1, 34. 32 Plotin: Enn. V 8, 1, 34-37: ἔπειτα δεῖ εἰδέναι, ὡς οὐχ ἁπλῶς τὸ ὁρώμενον μιμοῦνται, ἀλλ’ ἀνατρέχουσιν ἐπὶ τοῦς λόγους, ἐξ ὥν ἠ φύσις. Plotin ist hier jedoch nicht eindeutig, an anderen Stellen, so etwa V 9, 11, 2, werden alle bildenden Künste und Teile der Musik als »nachahmende Künste« (τέχναι μιμητικαί ) bezeichnet. Zum Quadrivium in der von Platon ausgehenden Antike vgl. Philipp Merlan: From Platonism to Neoplatonism, The Hague 21960, 88-95 (zu Iamblichs Theologumena arithmeticae; Nikomachos von Gerasa, Arithmetica). Nachahmung oder Nachbilder (so Harder zu μίμημα) ist nicht negativ besetzt, sondern als notwendig derivativ oder mangelhaft, als unausweichlicher Modus menschlicher Episteme. So nennt Plotin etwa die sprachlichen Formulierungen, die in starken metaphorischen Wendungen die Henosis mit dem Einen oder Schau des Einen auszudrücken versuchen, ebenfalls μιμήματα , sofern sie »nur verborgene Hindeutungen der Weisen unter den Mysteriendeutern (sind) wie der wahre, obere Gott zu erblicken ist«, vgl. VI 9, 11, 28-30.

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Thomas Leinkauf

das durch diese Darstellung, Manifestation stimulierte ›Hinauflaufen der Seele in die Formgründe‹ – die Wendung nach innen und ins Intelligible.33 Dabei ist zu unterscheiden zwischen (i) nicht-abbildender Produktivität der Seele, etwa wenn sie durch Kunst Dinge hervorbringt, die nicht durch die Natur selbst hervorgebracht werden können, wie die Architektur, oder sich auf genuin trans-physisches Sein bezieht, wie die Musik mit ihren rationalen Zahlverhältnissen – hier wird, nach Plotin, nichts abgebildet, sondern entsprechend dem rationalen Kanon gebildet, in mehr oder weniger intensiver Vermischung mit dem Sinnlichen –, und (ii) abbildender Produktivität der Seele, die in der Kunst Naturdinge nachahmt. In beiden Fällen jedoch und in allen Mischformen, sofern sie als Kunst zu bezeichnen sind, ist es der Logos des Menschen, der die Kunst dem Horizont des Geistigen und Noetischen vermittelt.34 In diesem Sinne ist Kunst das Zur-Erscheinung-Kommen des menschlichen Logos oder Wesens, und sofern der Mensch Bild des Geistes, genauer: Bild des geistigen Menschen, also des idealen Inbegriffs des Menschseins, ist, insofern ist die Kunst Bild dieses Bild-Seins. Wenn diese Analyse zutrifft, dann wäre, sofern 1) das Selbstsein des Menschen darin besteht, »alles mit Anschauung und Theorie zu erfüllen«,35 und sofern 2) dies nur möglich ist, sofern die Seele des Menschen ›bei sich selbst‹ ist, indem sie »durch sich selbst«, d. h. durch ihre noetisch-psychischen Potentiale (Denken, Urteilen, Imaginieren, Vorstellen) ist (παρ’αὑτῆς),36 das Kunstprodukt Ausdruck dieses Bei-sich-Seins, Selbständig-Seins und Theoretisch-Seins des Seelischen.37

33 Plotin:

Enn. V 8, 1, 32-40; 5, 1-8. oben Anm. 20. 35 Plotin: Enn. III 8, 7, 21-22: Hervorbringen (ποιεῖν) heißt, etwas ins Sein setzen, ein Bestimmtes, eine Form, und das heißt: alles mit »Anschauung zu erfüllen« (θεωρίας πληρῶσαι) eben durch das Präsentmachen – in der Kunst – der geschauten/erkannten/eingesehenen Formen. 36 Für Plotin ist das hypostatische Sein – des Einen, des Geistes, der Seele – dadurch gekennzeichnet, dass es aus sich sein kann, vgl. IV 7, 9, 1-2. 15-16; V 1, 1, 5-6: dies Beisich- und Durchsichsein ist jedoch gerade nicht das auf sich bezogene Sein im Sinne eines Egoismus, Ichseins, reinen Fürsichseins, sondern es ist nur möglich, in dem es sich auf das richtet, woher es kommt. Selbstsein ist nur möglich durch primäres Loslassen vom Ich-haften, selbstischen Sein, Freiheit oder Selbstmächtigkeit (αὐτεξουσία) nur durch das Sein beim Prinzip. 37 Hierzu vgl. auch meine Überlegungen in: Thomas Leinkauf: Bild-Symbol, Geometrie und Methode. Philosophische Implikationen der frühneuzeitlichen Textillustration, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 11 (2006), 73-101; und ders.: Ut philosophia pictura – Beobachtungen zum Verhältnis von Denken und Fiktion, in: Kann das Denken malen? Philosophie und Malerei in der Renaissance, hg. von Inigo Bocken, Tilmann Borsche, München 2010, 45-69. 34 Siehe

Das A ngesicht Gottes schauen in der frühen jüdischen Mystik Peter Schäfer Das Angesicht Gottes zu schauen, ist ein uralter Menschheitstraum, jedenfalls für alle Religionen, die einen persönlichen Gott kennen und sich diesen anthropomorph, d. h. in menschlicher Gestalt, vorstellen. Dies gilt natürlich in ganz besonderer Weise für die Hebräische Bibel, das sog. Alte Testament des Judentums. »Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott«, sagt der Psalmist, »wann werde ich kommen und erscheinen vor Gottes Angesicht«1 – wohlgemerkt, »wann werde ich kommen und erscheinen vor Gottes Angesicht«, we-era’eh pnei elohim, wörtlich »werde gesehen vor dem Angesicht Gottes«, und nicht »werde ich das Angesicht Gottes sehen« (we-er’eh peni elohim). Gott sieht den Menschen, vermutlich im Tempel, aber der Mensch sieht nicht etwa Gott, obgleich dieser Effekt durch eine geringfügige Veränderung in der Vokalisierung erreicht werden könnte (er’eh statt era’eh). Natürlich können wir nicht wissen, was die ursprüngliche Vokalisierung war – oder ob es überhaupt jemals eine ursprüngliche Vokalisierung gegeben hat; vielleicht ist ja die Spannung zwischen »gesehen werden« und »sehen« beabsichtigt, und der Psalmist spielt mit der Möglichkeit, dass der Mensch seinen Gott im Tempel auch sehen kann bzw. genauer: gerne sehen möchte, obwohl er es eigentlich nicht kann.2 Der Präzedenzfall in der Hebräischen Bibel für diesen Wunsch, Gott sehen zu wollen – und ihn am Ende doch nicht sehen zu können –, ist kein geringerer als Mose. Der Höhepunkt dieses Versuchs, nach mehreren Anläufen, wird in Exodus 33 geschildert. Der Ort ist das »Offenbarungs-« beziehungsweise »Begegnungszelt« (ohel mo’ed) in der Wüste. Wann immer Mose es aufsucht, senkt sich eine Wolkensäule herab, um den Eingang zu bewachen, während drinnen Gott mit ihm spricht.3 Zwar pflegte Gott mit Mose »von Angesicht zu Angesicht (panim el panim)« zu reden, »wie ein Mensch (ish) mit einem anderen redet« (V. 11), aber der Text lässt keinen Zweifel daran, dass Mose Gott nicht wirklich sieht; der Nachdruck liegt unmissverständlich auf reden, d. h. der auditorischen Verständigung, nicht auf einer Vision. Als Mose insistiert: »Lass mich doch deine Herrlichkeit (kevodekha) sehen« (V. 18), gibt Gott eine komplizierte Antwort, die schließlich eindeutig klarstellt, dass Mose ihn nicht schauen kann: Zunächst verspricht Gott, dass er seine »Schönheit« (tuv) vor Mose vorüberziehen lassen werde; mit anderen Worten, er selbst in all seiner Herrlichkeit und Schönheit 1 Ps.

42,3. dazu jetzt den schönen Aufsatz von Simeon Chavel: The Face of God and the Etiquette of Eye-Contact. Visitation, Pilgrimage, and Prophetic Vision in Ancient Israelite and Early Jewish Imagination, in: JSQ 19 (2012), 1-55. 3 Ex. 33,9. 2 Siehe

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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Peter Schäfer

wird wirklich an Mose vorbeigehen. Darauf folgt Gottes Zusicherung, dass er den Namen »Herr« vor Mose ausrufen wird (vermutlich um klarzustellen, dass die vorüberziehende Gestalt wirklich Gott ist), dazu die Verheißung der Gnade, die er ihm gewähren und des Erbarmens, das er ihm schenken wird. Bei dem Vorgang handelt es sich also um eine Gunstbezeugung. Gott fügt aber sofort hinzu, dass Mose das göttliche Auftreten nicht fälschlich für ein Schauen Gottes im eigentlichen Sinne halten solle: »Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch (adam) kann mich sehen und am Leben bleiben« (V. 20). Dann sagt Gott zu Mose, dass es in der Nähe einen Ort gebe (maqom itti), nämlich einen Felsen, an den dieser sich stellen solle. Wenn Gottes Herrlichkeit an ihm vorbeikomme, werde Gott Mose in einen Felsspalt stellen: »Ich halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück, und du wirst meinen Rücken (achori) sehen. Mein Angesicht (panai) aber kann niemand sehen!« (V. 22 f.). Näher kann Mose Gott nicht kommen. In einer Felsspalte verborgen und abgeschirmt, »sieht« er Gott vorbeigehen – aber in Wirklichkeit sieht er nicht viel; denn genau in dem Moment, da Gott vorüberzieht, hält dieser seine Hand über ihn (was hier nur bedeuten kann, dass er die Öffnung der Felsspalte mit seiner Hand verdeckt); erst nachdem er die Felsspalte passiert hat, erlaubt er Mose, den »Rücken« seiner Gestalt zu sehen. Daraus kann man schließen, dass Gott in der Tat von menschlicher Gestalt ist, denn er hat nicht nur ein »Gesicht« und »Hände«, sondern auch einen »Rücken« (eine unverhohlen anthropomorphe Aussage der Hebräischen Bibel, die später zahllosen Auslegern große Mühe bereiten sollte). Aber diese Schlussfolgerung wird im wahrsten Sinne des Wortes nur im Vorbeigehen mitgeteilt. Dass Gott von menschlicher Gestalt ist, kann man der Erzählung entnehmen, ist aber nicht ihre zentrale Botschaft. Vielmehr besagt sie eindeutig, dass Gott nicht gesehen werden kann und dass ein Mensch, der Gott sieht, sterben muss. Diese Grundwahrheit gilt auch für Mose, der Gott nicht sehen konnte – obwohl er es so gerne wollte. Der Prophet, dem die ausführlichste Gottesschau zugeschrieben wird, ist der Prophet Ezechiel – im berühmten ersten Kapitel des Ezechielbuches, das später die Grundlage für alle mystischen Spekulationen im Judentum werden sollte.4 Ezechiel sieht zwar die Gestalt Gottes in bisher ungekanntem Detail, doch obwohl sie »wie der Anblick eines Menschen«,5 also ausdrücklich anthropomorph ist, zeichnet sie sich vor allem durch alle Arten von feurigem Glanz aus, am ehesten dem Regenbogen vergleichbar; ansonsten bleiben die Konturen unbestimmt, und vom Gesicht ist überhaupt nicht mehr die Rede. Die nachbiblischen Apokalypsen, in denen ein irdischer Seher in den Himmel aufsteigt – anders als Ezechiel, der seine Offenbarung noch auf der Erde empfängt –, führen den von Ezechiel und auch Daniel vorgezeichneten Weg weiter (in Dan. 7 sitzt Gott, der »Alte an Tagen«, bekleidet mit einem schneeweißen Gewand und mit weißen Haaren, auf seinem dazu ausführlich Peter Schäfer: Die Ursprünge der jüdischen Mystik, Berlin 2011, 59 ff. 1,26.

4 Siehe 5 Ez.



Das Angesicht Gottes schauen in der frühen jüdischen Mystik 39

Thron im Himmel): In der ältesten Apokalypse, dem sog. Wächterbuch des Äthiopischen Henoch aus dem späten 3. Jh. v. Chr., ist Gottes in Feuer gehülltes Gewand das Ziel der Begierde des Sehers,6 und die neutestamentliche Johannesapokalypse vom Ende des 1. Jh. n. Chr., die zweifellos jüdische Vorlagen verarbeitet, beschreibt die auf dem Thron sitzende göttliche Gestalt im Bilde glänzender Juwelen ( Jaspis und Karneol).7 Nur der Autor des 2. Henochbuches (1. Jh. n. Chr.) wagt sich etwas weiter vor, indem er den Seher ausdrücklich auch das Angesicht Gottes sehen lässt: »Und im zehnten Himmel ’Aravot sah ich eine Erscheinung des Angesichts des Herrn – wie Eisen, das, glühend gemacht (und) aus dem Feuer genommen, Funken sprüht und brennt. So sah ich das Angesicht des Herrn. Und ich sah den Herrn (von Angesicht) zu Angesicht, und sein Angesicht ist mächtig und überaus herrlich, wunderbar und überaus furchtbar, schrecklich und schaudervoll«.8 Anders als Mose sieht Henoch hier also Gott »von Angesicht zu Angesicht«, aber das verwendete Bild – Gottes Angesicht glüht und sprüht wie ein Stück Eisen in der Schmiede – ist zwar kreativ, aber nicht besonders erhebend. Tatsache ist auch hier, dass es weniger um die Schau von Gottes Angesicht geht als um die anschließende Offenbarung, die dem Seher zuteilwird und die sich in der Regel um das zukünftige Schicksal des Volkes Israel dreht. Nicht die Schau Gottes und seines Angesichts steht im Mittelpunkt der Aufstiegsapokalypsen, sondern der desolate Zustand Israels (häufig mit dem Verweis auf die bevorstehende Zerstörung des Tempels) und seine zu erwartende bessere Zukunft. Eine völlig andere Welt betreten wir, wenn wir uns kurz den jüdischen Philosophen Philo von Alexandria anschauen (ca. 20 v. Chr.  –  ca. 50 n. Chr.). Indem er seine biblische Vorlage konsequent in das Gewand (mittel)platonischer Philosophie kleidet, differenziert Philo erstmals eindeutig zwischen Leib und Seele, eine Unterscheidung, die der Hebräischen Bibel und den Apokalypsen fremd ist. Zwar kann der Mensch einen Aufstieg zu Gott unternehmen, aber dieser Aufstieg ist kein Aufstieg von Körper und Seele, sondern nur noch der Seele – einer Seele zumal, die sich (endlich) aus dem Gefängnis des Körpers befreit hat.9 In der Regel geschieht dies nach dem Tode, aber besondere Menschen – Propheten und wahre Philosophen (Philo eingeschlossen) – können einen solchen Aufstieg auch schon zu Lebzeiten unternehmen (müssen anschließend aber wieder in ihre leibliche Existenz zurückkehren). Was geschieht nun genauer bei diesem Seelenaufstieg mit der Seele? Das Musterbeispiel eines gelungenen Aufstiegs ist, wie nicht anders zu erwarten, der Aufstieg des Mose nach seinem Tode:

6 Schäfer:

Ursprünge [Anm. 4], 93 ff. Ebd., 152 ff. 8 2 Hen. 22,1; Schäfer: Ursprünge [Anm. 4], 119 ff. 9 Schäfer: Ursprünge [Anm. 4], 217 ff. 7

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Peter Schäfer

»Einige Zeit später, als er [Mose] den Gang von hinnen in den Himmel antreten und nach dem Scheiden aus dem sterblichen Leben zur Unsterblichkeit gelangen sollte, berufen vom Vater, der ihn aus der Zweiheit (auton dyada onta) von Leib und Seele in ein Einheitswesen umschaffen (eis monados anestoicheiou) und ihn ganz und gar in einen Geist rein wie das Sonnenlicht (eis noun he¯ lioeidestaton) umgestalten wollte […].«10 Was hier beschrieben wird, ist genau das Stadium, in dem die Seele sich aus ihrem körperlichen Gefängnis befreit und zu ihrem idealen, seit jeher ersehnten Zustand zurückkehrt, der Augenblick also, in dem Mose die Grenze von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit überschreitet. Er lässt die Zweiheit von Leib und Seele hinter sich und wird in eine einzige Entität, ein Einheitswesen, verwandelt, das als reiner Geist (nous) charakterisiert wird. In den Quaestiones et solutiones in Exodum geht Philo noch einen Schritt weiter und lässt Mose die Verwandlung aus der Zweiheit in die Einheit – aus Leib und Seele zu reiner Seele – sogar zu dessen Lebzeiten erfahren. Leider sind die Quaestiones nur in Armenisch erhalten, so dass wir auf den genauen Wortlaut durch (notgedrungen unsichere) Rückübersetzungen in das Griechische angewiesen sind. Wenn es dort heißt, dass Mose in eine »Art verwandtschaftlicher Vertrautheit« mit Gott eintritt, indem er »in das Göttliche verwandelt« und »wahrhaft göttlich« wird,11 ist denkbar, das Philo hier in der Tat an eine »Vergöttlichung« des Mose im Sinne einer Vereinigung seiner Seele mit dem Göttlichen denkt – etwas, was dann später in der christlichen Mystik unio mystica genannt werden sollte. In De opificio mundi beschreibt Philo diese Verwandlung der menschlichen Seele (hier wieder als nous – »Geist« bezeichnet) genauer: »Und dann erhebt er [der Geist] sich im Fluge […] und dreht sich mit den Reigentänzen der Planeten und Fixsterne nach den Gesetzen der vollkommenen Musik; indem er der Liebe zur Weisheit als Führerin folgt, schreitet er über die ganze sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit (pasan te¯ n aisthe¯ te¯ n ousian) hinaus und strebt nach der rein geistigen (te¯ s noe¯ te¯ s); und wenn er hier die Urbilder und Ideen (ta paradeigmata kai tas ideas) der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die er dort gesehen, in ihrer außerordentlichen Schönheit betrachtet, ist er von einer nüchternen Trunkenheit eingenommen und gerät in Verzückung wie die korybantisch Begeisterten (hoi korybantio¯ ntes); und erfüllt von anderer Sehnsucht und besserem Verlangen, wird er durch dieses zum höchsten Gipfel des rein Geisvon Alexandria: De vita Mosis II, 288, in: ders.: Die Werke in deutscher Übersetzung, 7 Bde., hg. von Leopold Cohen, Isaak Heinemann, Maximilian Adler, Willy Theiler, Bd. 1-6, Berlin 1909-1938 [ND Berlin 1962], Bd. 7 Berlin 1964 (im Folgenden Philo: Werke), Bd. I; Philo: De Vita Mosis, in: Philonis Alexandrini Opera quae supersunt IV, hg. von Leopold Cohn und Paul Wendland, 7 Bde., Berlin 1962 (Nachdr. der Ausgabe von 1902), 119-268 (im Folgenden Philo: Opera). 11 Philo: Quaestiones et solutiones in Exodum II, 29, in: Les oeuvres des Philon d’Alexandrie, publ. par A. Terian, Paris 1992. 10 Philo



Das Angesicht Gottes schauen in der frühen jüdischen Mystik 41

tigen emporgetragen und glaubt, bis zum ›Großkönig‹ (ton megan basilea) selbst vorzudringen. Wenn er nun begierig ist, (ihn) [den Großkönig] zu schauen, ergießen sich über ihn stromweise reine und ungetrübte Strahlen vollen Lichtes, so dass durch ihren Glanz das geistige Auge geblendet wird.«12 Dies ist der Höhepunkt von Philos Beschreibung des Schicksals der Seele, welche die sinnlich wahrnehmbare Welt (kosmos aisthe¯ tos) hinter sich lässt und in der intelligiblen Welt (kosmos noe¯ tos) ankommt, der Welt der vom göttlichen Logos geschaffenen Ideen. Nachdem sie diese Stufe erreicht hat, wird sie erfüllt mit einer »nüchternen Trunkenheit« beziehungsweise ist sie im »Rausch« korybantischer Verzückung und göttlicher Besessenheit – und hier gibt sich Philo große Mühe klarzustellen, dass korybantische Verzückung nichts ist im Vergleich mit dem Geisteszustand und dem Sehnen, das den wahren Adepten ausmacht. Denn nun steht der Initiand vor einer anderen und viel unüberwindlicheren Grenze, nämlich der zwischen der intelligiblen Welt und dem verborgenen Gott, dem Philo hier bemerkenswerterweise nicht die philosophische Bezeichnung to on beilegt, sondern den biblischen Königstitel. Die Seele »glaubt, bis zum ›Großkönig‹ selbst vorzudringen«, sagt Philo, offensichtlich wohlüberlegt; denn nun hat sie den »höchsten Gipfel des rein Geistigen« erreicht, das heißt den äußersten Rand der intelligiblen Welt, die für den Geist wahrnehmbar ist, eine unüberschreitbare Grenze. Aber das Verlangen der Seele, endlich Gott zu schauen, wird nicht erfüllt: Die Lichtstrahlen, die von dem verborgenen Wesen Gottes her aufscheinen, blenden ihre Augen. Auf dem Höhepunkt seiner Beschreibung der Seelenreise greift Philo wieder auf die Lichtmetapher zurück: Die Seele ist von dem Strom des göttlichen Lichts überwältigt, das ihre »Augen« blendet, so dass sie letztlich – nichts sieht. Was mitgeteilt werden kann, ist nur, dass das Göttliche über die Seele hereinbricht, sie in etwas anderes verwandelt und blind und hilflos zurücklässt. Von einer Schau Gottes im traditionell biblischen und nachbiblischen Sinne kann keine Rede sein. Und noch ein letzter Aspekt, der ebenfalls für den Vergleich mit der Hebrä­ ischen Bibel, der Apokalyptik und der frühen jüdischen Mystik bedeutsam ist: Philos »Gottesschau« ist ausschließlich eine individuelle Erfahrung. Nur ein sehr besonderer Mensch kann dieses begehrte Ziel der Vereinigung seiner Seele mit dem Göttlichen zu Lebzeiten erreichen und so seine menschliche Existenz zur höchsten Vollkommenheit bringen. Zwar wird dies eigentlich von allen Menschen erwartet, aber leider gelangen nur sehr wenige Exemplare der menschlichen Gattung an dieses Ziel. Daher ist Philos Programm letztlich höchst elitär und nicht am Schicksal der Gemeinschaft interessiert. Gewiss, der Philosoph ist Teil seiner Gemeinde, und seine Aufgabe besteht darin, ihre Mitglieder zur Vollkommenheit zu führen, aber in Wirklichkeit sind nur sehr wenige auserwählte Mitglieder der Gemeinde fähig, dieses Ziel zu realisieren. Auch in dieser Hinsicht ist Philo von der traditionellen jüdischen Theologie meilenweit entfernt. 12 Philo:

De opificio mundi, in: Philo: Werke [Anm. 10], Bd. 1, 70 f.

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Peter Schäfer

Nach diesen Vorklärungen komme ich nun zu meinem eigentlichen Thema, der Schau Gottes in der frühen jüdischen Mystik. Zunächst einige Worte darüber, was wir unter früher jüdischer Mystik verstehen. Wir meinen damit die erste, in einem relativ klar definierten literarischen System greif bare ›mystische‹ Bewegung im Judentum, lange vor der Kabbalah, dem Inbegriff der jüdischen Mystik, die erst um 1200 n. Chr. in Südfrankreich ihren Anfang nahm. Diese erste, vorkabbalistische Phase dreht sich um den bei Ezechiel (Kap. 1 und 10) geschilderten Thronwagen, auf dem sitzend Gott sich dem auf der Erde stehenden Propheten (genauer: am Fluss Kebar nahe der Stadt Nippur im Zweistromland) offenbart. Dieser Thronwagen wird später13 mit dem hebräischen Begriff merkavah bezeichnet; daher nennt man diese Mystik auch ›Merkavah-Mystik‹. Das literarische Korpus, in dem sie uns überliefert ist, nennt man ›Hekhalot-Literatur‹, d. h. die Literatur, die von den hekhalot, den sieben himmlischen Hallen oder Palästen handelt, die der Mystiker durchschreitet, um zum göttlichen Thron zu gelangen.14 Nicht von ungefähr ist der Begriff hekhal von der Architektur des Tempels genommen, wo er konkret die Vorhalle vor dem Allerheiligsten bezeichnet. Damit wird sofort klar, dass der im Himmel thronende Gott als im himmlischen Heiligtum residierend vorgestellt wird, im Allerheiligsten des himmlischen Tempels. Wie in den Aufstiegsapokalypsen steigt in der Hekhalot-Literatur ein Mensch durch die sieben Himmel zum höchsten Himmel hinauf, um dort Gott auf seinem Thron sitzen zu sehen. Anders als in den Aufstiegsapokalypsen ist dieser aber nicht ein Held der biblischen Vergangenheit, sondern ein gewöhnlicher Mensch – allerdings so ganz gewöhnlich auch wieder nicht, sondern ein herausragender Vertreter des rabbinischen Judentums (vor allem R. Jischmael und R. Aqiva). Der Fachterminus für den die Himmelsreise unternehmenden Menschen ist jored merkavah, d. h. wörtlich »einer, der zur Merkavah hinabsteigt« (warum »hinabsteigt« und nicht »hinaufsteigt«, ist eines der ungelösten Rätsel dieser Literatur, das uns hier nicht beschäftigen muss).15 Dieser Aufstieg ist nicht ungefährlich, denn der Mensch muss die Wächterengel passieren, die an den Eingängen der sieben Hallen oder Himmel postiert sind und die nur ungern sterbliche Menschen in den himmlischen Hallen sehen. Das wichtigste Mittel, ungeschoren an den Engeln vorbeizukommen, sind magische Siegel mit den richtigen Gottes- und Engelnamen; die Magie spielt somit eine ganz zentrale Rolle in dieser Form der Himmelsreise. Natürlich möchten wir gerne wissen, wie und wann dieses Phänomen der Merkavah-Mystik zu datieren ist. Ihre Helden sind, wie gesagt, Rabbinen, d. h. sie gibt vor, zum klassischen rabbinischen Judentum der ersten nachchristlichen Jahrhunderte zu gehören. Die ältere Forschung (Gershom Scholem und seine Epigonen) hat dies für bare Münze genommen, doch ist die neuere Forschung hier sehr viel 13 1

Chr. 28,18; Sir. 49,8. dazu Peter Schäfer: Der verborgene und offenbare Gott. Hauptthemen der frühen jüdischen Mystik, Tübingen 1991; ders.: Ursprünge [Anm. 4], 336 ff. 15 Schäfer: Ursprünge [Anm. 4], 340 mit Anm. 23. 14 Ausführlich



Das Angesicht Gottes schauen in der frühen jüdischen Mystik 43

zurückhaltender: Ich denke, die nicht zuletzt in Berlin entwickelte Richtung hat sich mehr oder weniger durchgesetzt, wonach wir es mit einem spät-, wenn nicht sogar postrabbinischen Phänomen zu tun haben, das sich mit den wichtigsten Vertretern des klassischen rabbinischen Judentums zu schmücken und legitimieren sucht. Zeitlich kommen wir damit – ungeachtet früherer Wurzeln – in das 6./7. Jh. n. Chr. für die voll entwickelte Bewegung der Merkavah-Mystik und geographisch – wieder ungeachtet früherer Wurzeln in Palästina – in das babylonische Judentum als ihr Zentrum.16 Schauen wir uns nun genauer an, welche Rolle das Angesicht Gottes und die Schau des göttlichen Angesichtes in der Merkavah-Mystik spielt. Es ist lange beobachtet worden, dass die Aufstiegsberichte im engeren Sinne der Hekhalot-Lite­ ratur  – diese Literatur besteht aus zahlreichen und durchaus unterschiedlichen Schichten, die keineswegs so ohne Weiteres miteinander harmonisiert werden können und dürfen – wenig ergiebig sind, was das Ziel des Aufstiegs betrifft, die Schau Gottes auf seinem Thron. Der heutige Leser, der dem Aufstieg des Mystikers durch die sieben Himmel gewissermaßen mit hängender Zunge folgt – dank endloser und ermüdender Verzögerungstaktiken des Erzählers –, sieht sich am Ende enttäuscht: Ist er mit seinem Helden endlich am Ziel der gefahrvollen Reise angekommen, in der Thronhalle des siebten Himmels, folgt in der Regel keine Schilderung des auf seinem Thron sitzenden Gottes, sondern er erfährt, dass der Mystiker in den Lobpreis der himmlischen Liturgie (d. h. der Engel) einstimmt und wird mit endlosen und langweiligen Litaneien überschüttet, die Gott als himmlischen König preisen. Zweifellos eine Antiklimax nach der vom Autor bzw. den Autoren kunstvoll geschürten Erwartungshaltung.17 Wenn wir uns aber in der Hekhalot-Literatur etwas weiter und auch außerhalb der eigentlichen Aufstiegsberichte umsehen, stoßen wir auf einige faszinierende Texte, die ganz konkret von Gottes Angesicht und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, dieses zu betrachten, handeln. Sie finden sich in der wohl ältesten, Hekha­ lot Rabbati genannten Schrift in einem Komplex von Hymnen, die meist in der Qeduschah, dem »Heilig, heilig, heilig« von Jes. 6,3, kulminieren.18 Der erste dieser Texte kommt ganz überraschend und beginnt: »Liebliches Angesicht, geschmücktes Angesicht, Angesicht von Schönheit, Angesicht von Flammen ist das Angesicht des Herrn, des Gottes Israels, wenn er auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt. […] Die Schönheit (des Angesichts) ist lieblicher als die Schönheit der himmlischen Mächte. 16

Schäfer: Der verborgene und offenbare Gott [Anm. 14], 155 ff. Schäfer: Ursprünge [Anm. 4], 367 ff., 388 ff. 18 Ebd., 349 ff. 17

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Seine Zier ist erlesener als die Zier von Bräutigam und Braut im Hause ihrer Hochzeit.«19 Was wir hier erfahren, ist mehr oder weniger Routine: Gottes Angesicht ist feurig (das kennen wir von den Aufstiegsapokalypsen) und schöner als das der Engel und natürlich auch das der Menschen, sogar am Tage der Hochzeit von Braut und Bräutigam. Doch dann fährt der Text fort: »Wer ihn [Gott] ansieht, wird sogleich zerrissen. Wer seine Schönheit erblickt, wird sogleich ausgeschüttet wie ein Krug.« 20 Dies ist das alte Motiv: Man kann Gottes Angesicht nicht anblicken, ohne Schaden zu nehmen: Der Körper dessen, der es anblickt, wird in Stücke gerissen, sein Blut und seine Galle werden ausgeschüttet. Aber wer ist das arme Wesen, dessen Versuch, Gott anzusehen, so schrecklich endet? »Die ihm heute dienen, werden ihm morgen nicht mehr dienen, und die ihm morgen dienen, werden ihm (übermorgen) nicht mehr dienen; denn ihre Kraft schwindet, und ihre Gesichter verfinstern sich, ihr Herz geht in die Irre, und ihre Augen verdunkeln sich angesichts der Zier des Glanzes der Schönheit ihres Königs, wie es heißt: ›Heilig, heilig, heilig‹ ( Jes. 6,3).« 21 Dies kann sich nur auf die Engel beziehen, d. h. ausgerechnet die Engel – Gottes Diener, die ihn umgeben und seinen Thron tragen – sind unfähig, Gottes Angesicht zu sehen, bzw. wenn sie es sähen, gingen sie zugrunde. Diese Aussage ist natürlich paradox, und sie wird noch paradoxer, wenn wir uns vergegenwärtigen, was im Unterschied zu den Engeln über den Merkavah-Mystiker und die Gemeinde Israels auf Erden gesagt wird:

19

Peter Schäfer (in Zusammenarbeit mit Margarete Schlüter und Hans-Georg von Mutius): Synopse zur Hekhalot-Literatur, Tübingen 1981, § 159; deutsche Übersetzung Peter Schäfer (in Zusammenarbeit mit Hans-Jürgen Becker, Klaus Herrmann, Claudia Rohrbacher-Sticker und Stefan Siebers), Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II: §§ 81-334, Tübingen 1987, 90. 20 Ebd. 21 Ebd., 90 f.



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»Gesegnet dem Himmel und der Erde sind die, die zur Merkavah hinabsteigen, wenn ihr meinen Söhnen sagt und verkündet, was ich tue während des Morgengebetes, während des Nachmittags- und des Abendgebetes, an jedem Tag und zu jeder Stunde, da Israel vor mir ›Heilig‹ spricht. Lehrt sie und sagt ihnen: Erhebt eure Augen zum raqia‹ [Himmel] gegenüber eurem Bethaus in der Stunde, da ihr vor mir ›Heilig‹ sprecht. Denn ich habe kein Gefallen an meinem ganzen ewigen Haus, das ich schuf, außer in jener Stunde, da eure Augen zu meinen Augen erhoben und meine Augen zu euren Augen erhoben sind, (nämlich) in der Stunde, da ihr vor mir ›Heilig‹ sprecht.« 22 Die hier beschriebene Situation ist die des Merkavah-Mystikers im Himmel, der von Gott direkt angesprochen und darüber belehrt wird, welche Botschaft er der Gemeinde Israels nach seiner Rückkehr zur Erde überbringen soll. Gott will, dass der Mystiker der irdischen Gemeinde mitteilt, was er, Gott, während der täglichen Gebete Israels in ihren Synagogen tut und was der Mystiker offenbar mitansieht. D.h. es geht nicht darum, dass der Mystiker Gott sieht, sondern dass er sieht, wie Gott auf Israels Gottesdienst reagiert und dass er dies der irdischen Gemeinde (offenbar nach seiner Rückkehr auf die Erde) berichten soll: Sie sollen genau in dem Augenblick, da sie die Qeduschah (das »Heilig, heilig, heilig« von Jes. 6,3) sprechen, ihre Augen zu Gottes Wohnsitz im höchsten Himmel erheben, denn Gott ist der ganze irdische Gottesdienst relativ gleichgültig – mit Ausnahme eben jenes kostbaren Augenblickes, da Israel während der Qeduschah direkt in Gottes Augen schaut und Gott in Israels Augen. Es geht also nicht um die Gottesschau des Merkavah-Mystikers, sondern des Volkes Israel auf Erden. Israel blickt Gott beim Qeduschah-Gebet direkt in die Augen, aber natürlich nicht, um Gottes physisches Angesicht zu sehen, sondern um in der täglichen Liturgie aufs engste mit seinem Gott verbunden zu sein. Der Merkavah-Mystiker, der die gefährliche Himmelsreise unternommen hat, dient nur als Bote und Bestätigung dieser in der Liturgie vollzogenen engen Verbindung zwischen Gott und Israel. Wie eng diese Verbindung zwischen Gott und Israel ist, zeigt der folgende Abschnitt, der den Höhepunkt dessen beschreibt, was Gott während der Qeduschah Israels tut und was der Mystiker im Himmel beobachtet:

22 Schäfer:

Synopse zur Hekhalot-Literatur, § 163; Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II, 95 f. [beide Anm. 19].

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»Und bezeugt ihnen, welches Zeugnis ihr bei mir seht, was ich tue dem Antlitz Jakobs, eures Vaters, das (bei) mir eingraviert ist auf dem Thron meiner Herrlichkeit. Denn in der Stunde, da ihr vor mir ›Heilig‹ sprecht, beuge ich mich über es [das Antlitz], liebkose, küsse und umfange es, und meine Hände (liegen) auf seinen [ Jakobs] Armen, dreimal, wenn ihr vor mir ›Heilig‹ sprecht, so, wie es heißt: ›Heilig, heilig, heilig‹ ( Jes. 6,3).« 23 Dass Jakobs Bild oder genauer sein Angesicht/Antlitz auf Gottes Thron im Himmel eingraviert ist, ist eine bekannte, durch zahlreiche palästinische und auch babylonische Quellen bezeugte rabbinische Tradition, die von etlichen Forschern diskutiert wurde.24 Völlig neu und einzigartig ist hier aber, wie dramatisch Gott seine Liebe zu Jakob (dem Stammvater Israels) zum Ausdruck bringt. In einer Geste, die in ihrer erotischen Intimität kaum zu überschätzen ist, umfängt und küsst er das Bild von Jakobs Angesicht auf seinem Thron. Elliot Wolfson hat beobachtet, dass mehrere der Pronomina und Suffixe in diesem Text Feminina sind, im Gegensatz zu den maskulinen Formen, die man bei dem Subjekt qelaster panim (»Angesicht/ Antlitz«) erwarten würde.25 Dies lässt sich jedoch leicht erklären: Der himmlische Jakob, der auf Gottes Thron eingraviert ist, wird offenbar als der himmlische Repräsentant Israels auf Erden visualisiert, als die (weibliche) Gemeinde Israels, so dass man sich hier nicht auf das hart umkämpfte Gebiet von Gottes Geschlechtlichkeit und einer vermeintlichen heiligen Verbindung (männlich-weiblich oder männlichmännlich, also homoerotisch) vorwagen muss.26 Wenn Israel auf Erden die Qeduschah spricht, so lautet die Botschaft unseres Paragraphen, dann erweist Gott seine überwältigende Liebe dem Bild Jakobs, Israels Gegenstück im Himmel, das ihm physisch näher ist als alles andere. Vermutlich ist dieses Bild auf den Armlehnen von Gottes Thron eingraviert und kann daher leicht von ihm berührt werden, wenn er sich auf seinem Thron niederlässt. Und dies ist zweifellos die Botschaft, die der Merkavah-Mystiker seiner Gemeinde auf Erden überbringen soll: Gott ist oben im Himmel; ich habe ihn gesehen, und er liebt uns immer noch mehr als alles andere. Wenn wir in unseren Synagogen die Qeduschah beten, hört er uns nicht nur zu, sondern umfängt und küsst uns auch durch das Bild unseres Vaters Jakob/Israel, 23 Schäfer: Synopse zur Hekhalot-Literatur, § 164; Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II, 97 f. [beide Anm. 19]. 24 Zuletzt umfassend von Elliot R. Wolfson: The Image of Jacob Engraved upon the Throne. Further Reflection on the Esoteric Doctrine of the German Pietists, in: Along the Path. Studies in Kabbalistic Myth, Symbolism, and Hermeneutics, ed. by Elliot R. Wolfson, Albany 1995, 1-62; Elliot R. Wolfson: Through a Speculum That Shines. Vision and Imagination in Medieval Jewish Mysticism, Princeton 1994, 101 f. 25 Wolfson: Speculum [Anm. 24], 101, Anm. 125, 126, 128. 26 Wolfson: Image of Jacob [Anm. 24], 26 ff.; Speculum [Anm. 24], 102.



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das auf seinem Thron zum ewigen Andenken von Gottes unauf hörlicher Liebe zu uns eingraviert ist.27 Wie sehr Gott und Israel, das Angesicht Gottes und das Angesicht Jakobs, aufein­ ander bezogen sind, wird noch deutlicher, wenn wir uns ansehen, was die Texte über die Engel, Israels himmlische Konkurrenten, zu sagen haben. Wir erinnern uns, dass sie Gottes Angesicht nicht anschauen können, ohne zugrunde zu gehen. Aber auch sie, die ja Gott physisch viel näher stehen als die Menschen auf der Erde und sogar der Merkavah-Mystiker im Himmel, ersehnen nichts mehr, als eben dies: Gottes Angesicht sehen zu dürfen. Am nächsten stehen Gott in der himmlischen Choreographie zweifellos die heiligen Lebewesen von Ezechiel (Kap. 1), die seinen Thron tragen. Sie müssen sich wie alle anderen Engel, bevor sie ihren Dienst beginnen (zur Zeit des Morgengebetes), im Feuerfluss reinigen und Feuergewänder anlegen. Dann »bedecken sie ihr Angesicht mit Blitz« (d. h. die von ihnen ausgehenden Blitze verhüllen ihr Angesicht), »und der Heilige, er sei gepriesen, entblößt sein Angesicht«.28 Auch dies ist wieder paradox: Wenn die heiligen Lebewesen Gott am nächsten kommen, müssen sie ihr Angesicht verhüllen – worauf Gott sein Angesicht ungehindert entblößen kann, denn sie können ihn ja nicht sehen. Und genau das Umgekehrte tritt ein, wenn sie ihr Angesicht entblößen: »Tag für Tag, beim Herannahen des Nachmittagsgebetes, sitzt (der) geschmückte König und erhebt die (heiligen) Lebewesen (chayyot). Noch ehe die Rede aus seinem Munde vollendet ist, kommen die heiligen Lebewesen unter dem Thron der Herrlichkeit hervor, von ihrem Munde die Fülle des Jubels, mit ihren Flügeln die Fülle des Frohlockens; ihre Hände spielen (Instrumente), und ihre Füße tanzen, sie umschreiten und umgeben ihren König, eines von rechts und eines von links, eines von vorn und eines von hinten. Sie umarmen und küssen ihn und entblößen ihr Angesicht; sie entblößen, der König der Herrlichkeit aber bedeckt sein Angesicht. Und der höchste Himmel reißt auf wie ein Sieb wegen des Königs der Zier, wegen des Glanzes, der Schönheit, der Gestalt, 27 Rachel Neis hat den faszinierenden Versuch unternommen, diesen Abschnitt im kulturellen Kontext der vorikonoklastischen byzantinischen Epoche zu verorten; s. ihren Beitrag Embracing Icons. The Face of Jacob on the Throne of God, in: Images 1 (2007), 36-54. 28 Schäfer: Synopse zur Hekhalot-Literatur, § 184; Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II, 121 f. [beide Anm. 19].

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des Begehrens, des Ersehnens (und) des Verlangens (nach dem) Strahlen des Haarschmucks, in dem ihr Angesicht erscheint, so, wie es heißt: ›Heilig, heilig, heilig‹ ( Jes. 6,3).« 29 Während bei der Qeduschah des Morgengebetes die Engel und die heiligen Lebewesen ihr Angesicht bedecken und Gott seines enthüllt,30 erfahren wir nun, dass bei der Qeduschah des Nachmittagsgebetes genau das Gegenteil passiert: Die heiligen Lebewesen enthüllen ihr Angesicht, und Gott bedeckt das seine. Offensichtlich will er nicht, dass die Engel und selbst die heiligen Lebewesen, die er immer wieder in höchsten Tönen preist, sein Angesicht sehen. Abgesehen von dieser Botschaft erhält die in diesem Abschnitt beschriebene Szene eine beinahe beispiellose sexuelle Färbung: Die heiligen Lebewesen umwerben Gott wie ein Bräutigam seine Braut. Auf dem Höhepunkt ihres Liebeswerbens umarmen sie Gott, küssen ihn und enthüllen ihr Angesicht – eindeutig in der Erwartung, dass Gott in Reaktion darauf gleichfalls sein Angesicht entblößt, sie umarmt und küsst. Dies ist schon sexuell genug, und ich glaube, man muss nicht so weit gehen wie einige Kollegen mit ihren vagina- und phallomorphen Interpretationen.31 Aber Gott weist seine geliebten heiligen Lebewesen zurück, deren strahlende Gesichter und Verlangen so mächtig sind, dass sie den höchsten Himmel aufreißen; er stößt sie zurück und entzieht sich ihnen, indem er sein Gesicht verhüllt. Ihre überschäumende Sehnsucht und ihr unstillbares Begehren finden nicht die erhoffte Erwiderung. Es gibt nur einen Abschnitt in der gesamten Hekhalot-Literatur, der eine ähnliche Sprache und Symbolik verwendet, und das ist der oben besprochene Abschnitt,32 der beschreibt, was Gott mit dem auf seinem Thron eingravierten Angesicht Jakobs tut, während Israel auf Erden die Qeduschah spricht: Er »liebkost, küsst und umfängt es«. Während es aber dort Gott ist, der Jakob, Israels Gegenstück im Himmel, küsst und umfängt, sind es hier die vier heiligen Lebewesen, die Gott von allen vier Seiten umgeben, »ihn umarmen und küssen« und dabei voller Verlangen ihr Antlitz enthüllen. Wenn Gott sich daher durch das Verhüllen seines Angesichts weigert, auf ihre Annäherungsversuche einzugehen, weist er ihr Liebeswerben nicht nur zurück, weil sie sein Angesicht nicht sehen sollen, sondern weil er Israel den heiligen Lebewesen vorzieht. Dies ist meines Erachtens die eigentliche Botschaft unseres Paragraphen, nicht die sexuellen Implikationen (die natürlich zweifellos vorhanden 29 Schäfer: Synopse zur Hekhalot-Literatur, § 189; Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II, 128 f. [beide Anm. 19]. 30 Schäfer: Synopse zur Hekhalot-Literatur, §§ 183 f.; Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II, 120 ff. [beide Anm. 19]. 31 David Halperin: A Sexual Image in Hekhalot Rabbati and Its Implications, in: Early Jewish Mysticism. Proceedings of the First International Conference on the History of Jewish Mysticism, hg. von Joseph Dan, Jerusalem 1987, 117-132; Wolfson: Speculum [Anm. 24], 103-105. 32 Schäfer: Synopse zur Hekhalot-Literatur, § 164; Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. II, 97 f. [beide Anm. 19].



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sind, von manchen aber überbewertet werden) oder Gottes Versuch, Frieden im Himmel zu stiften, indem er den Neid der Engel auf ihre menschlichen Rivalen beschwichtigt, wie andere vorgeschlagen haben.33 Was letztere These angeht, trifft genau das Gegenteil zu: Gott beschwichtigt nicht den Neid der Engel, sondern er stellt in beinahe brutaler Art und Weise ihre unerwünschte Liebe bloß. Trotz seiner Zuneigung insbesondere zu den heiligen Lebewesen macht Gott, wenn es um Israel geht, wieder einmal unmissverständlich klar, dass seine wahre Liebe Israel, und nur Israel, gilt. Damit haben wir die wichtigsten und vermutlich ältesten Stellen in der Hekhalot-Literatur diskutiert, die von der Schau des göttlichen Angesichts handeln.34 Ich denke, man kann mit gutem Grund sagen, dass keine Bewegung im Judentum der Antike und Spätantike so weit geht wie die Merkavah-Mystik in ihrem Bestreben, Gott körperlich nahe zu kommen und der Schau seines Angesichts gewürdigt zu werden. Nirgendwo sonst finden wir so plastische Bilder der Körperlichkeit Gottes und seiner Liebe zu seinem Volk Israel. Nichts könnte daher ferner sein als die alte These vom »Basileomorphismus«, vom in einem byzantinischen Hofritual erstarrten Gott, der sich, für die Menschen unerreichbar, in die höchsten Himmel zurückgezogen hat – eine These, die von der Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts entworfen und von keinem geringeren als Gershom Scholem sanktioniert wurde.35 Der Gott der Merkavah-Mystik verbirgt sein Angesicht vor den Engeln, die ihm physisch am nächsten stehen – die ihm dienen und seinen Thron tragen –, und er enthüllt sein Angesicht vor seinem geliebten Volk Israel, wenn sie im Lobpreis der täglichen Qeduschah mit ihm verbunden sind. Aber die intimste Nähe des »von Angesicht zu Angesicht« ist der Liebesbezeugung vorbehalten, die er dem auf seinem Thron eingravierten Angesicht Jakobs, des Stammvaters Israels, gewährt. Und doch, so weit die Merkavah-Mystik im Zur-Schau-Kommen Gottes geht, so weit sie sich in ihren körperlichen Bildern und Gesten vorwagt – anders ausgedrückt, so nahe sie einer nicht nur geistigen, sondern auch körperlichen unio mystica kommt –, ihre Aussage bleibt am Ende ganz in den traditionellen Bahnen des biblischen und nachbiblischen Judentums. Denn, wie wir gesehen haben, das eigentliche Ziel der Himmelsreise des Merkavah-Mystikers ist eben nicht die ungehinderte Schau Gottes, das Sich-Versenken in die Gottesschau, sondern die Botschaft, die der Mystiker von seiner Himmelsreise mitbringt und der irdischen Gemeinde weitergibt: die Botschaft, dass Gott noch da ist – zwar nicht mehr im zerstörten irdischen Tempel, aber in seinem unzerstörbaren himmlischen Tempel –, dass er 33

Arnold Goldberg: Einige Bemerkungen zu den Quellen und den redaktionellen Einheiten der Großen Hekhalot, in: ders., Mystik und Theologie des rabbinischen Judentums. Gesammelte Studien, Bd. I, hg. von Margarete Schlüter und Peter Schäfer, Tübingen 1997, 49-77. 34 Zur Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Gott zu sehen, in der Makroform Hekhalot Zutarti (die sehr wahrscheinlich später ist als die hier besprochene Makroform Hekhalot Rabbati), s. Schäfer: Ursprünge [Anm. 4], 394 ff. 35 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M. und Berlin 1957 (Nachdruck Frankfurt/M. 2009), 59 f.

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sein Volk weiterhin liebt und dass er sich weiterhin um dessen Schicksal kümmert. Mit anderen Worten, die Gottesschau der Merkavah-Mystik offenbart den biblischen Gott der Geschichte, den Gott, der die Geschichte an ihr glückliches Ziel bringen und sein Volk Israel am Ende erlösen wird. Natürlich kann man sich fragen, ob für diese Botschaft der Begriff ›Mystik‹ überhaupt angebracht ist, aber dies ist wohl nur ein überflüssiger Streit um Worte.36 Sicher nicht im philonischen und christlichen Sinne des Wortes, also einer vollzogenen unio mystica des Individuums mit seinem Gott. Aber dies ist nicht wirklich entscheidend. Ich würde es anders und positiver formulieren: Das, was wir Merkavah-Mystik nennen, ist der Versuch des Judentums der Spätantike – nach der sich als immer endgültiger erweisenden Zerstörung des Tempels und nach der immer mächtiger werdenden Präsenz des Christentums im Heiligen Land –, seinem Gott so nahe wie möglich zu kommen. Es geht also um die Erfahrung des lebendigen Gottes (das heißt des Gottes, der in seinem himmlischen Heiligtum physisch anwesend ist und dem man sich nähern kann) und des liebenden Gottes (das heißt des Gottes, der sein Volk Israel auf Erden immer noch liebt, trotz der Katastrophe der Tempelzerstörung und der neu-alten Religion, die sich so aggressiv ausbreitet und den Anspruch erhebt, das wahre Israel zu sein). Ohne Zweifel stellt diese Form der Mystik auch den Torah-Rigorismus des klassischen rabbinischen Judentums in Frage, sie glaubt nicht mehr daran, dass allein die Erfüllung der Torah Erlösung bringt (obwohl sie diesen Aspekt eher verschleiert und so tut, als sei sie ganz im Einklang mit den Anforderungen des traditionellen rabbinischen Judentums). In gewisser Weise wird man sie daher auch als eine Antwort auf das sich formierende und politisch durchsetzende Christentum betrachten können.

36 Ausführlicher

dazu Schäfer: Ursprünge [Anm. 4], 478 ff.

Erscheinung Zu Plotins Theorie des Seelenabstiegs Wiebke-Marie Stock Das Verhältnis von Seele und Körper ist ein Grundproblem platonischen und neuplatonischen Denkens. Insbesondere im Phaidon, aber auch in anderen Dialogen stellt Platon den Körper als Grab und Fessel der Seele dar; die Loslösung und Reinigung der Seele vom Körper erscheint als höchstes Ziel; im Timaios deutet sich jedoch eine andere Vorstellung an, wo Platon den Kosmos, den Weltkörper als seligen Gott bezeichnet.1 Es scheint sich, was die Bewertung des Körperlichen anlangt, um einen Widerspruch im platonischen Denken zu handeln. In seiner Schrift Über den Abstieg der Seele in die Körper (IV 8 [6]) sucht Plotin für diese anscheinende Widersprüchlichkeit in der platonischen Lehre von Körper und Seele eine Lösung zu finden.2 Bei diesem plotinschen Versuch spielt der Begriff der Erscheinung bzw. des Zur-Erscheinung-Kommens eine zentrale Rolle. Verfehlung Zunächst soll Plotins Verständnis der platonischen These dargelegt werden, derzufolge die Seele wegen einer Verfehlung in den Körper hinabgestiegen sei und sie diesen als Gefängnis empfinde. Sofern die Seelen »in der geistigen Welt mit der Universalseele bleiben«, gleichen sie den Helfern eines Königs, die »mit ihm gemeinsam regieren, ohne von der Königsburg herabzusteigen«.3 Im Bild des herrschenden Königs und seiner Helfer spricht Plotin von der Weltseele, deren Aufgabe es ist, das All zu lenken.4 Der Weltseele kommt die höchste Form der Sorge zu, die königliche epimeleia; sie übt sie aus, ohne die Königsburg zu verlassen, ohne Vgl. Platon Gorgias (493a): Grab der Seele; Phaidon 67d: vom Körper gefesselte Seele; Timaios 34b: seliger Gott (Platon: Werke, in acht Bänden, griechisch und deutsch, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher u.a., Darmstadt 1990, Bd. II, III und VII). 2 Vgl. Plotin, Enn. IV 8 [6] 1, 29-50; 5,1-9 (Plotin: Plotini opera, ed. by P. Henry et H.-R. Schwyzer, 3 Bände, Leiden 1951-1973; Plotin: Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder, Hamburg 1956-1967; Plotin: Ausgewählte Schriften, hg., übersetzt und kommentiert von Christian Tornau, Stuttgart 2001; Plotin: Traités 1-6, présentés, traduits et annotés par Luc Brisson, Francesco Fronterotta, Jérôme Laurent, Laurent Lavaud, Alain Petit et Jean-François Pradeau. Sous la direction de Luc Brisson et Jean-François Pradeau, Paris 2002). Plotins Werke werden im Folgenden mit dem Kürzel »Enn.« zitiert sowie der Angabe des Übersetzers in Klammern. 3 Enn. IV 8 [6] 4,5-10 (Harder, leicht verändert). 4 Vgl. Laurent Lavaud, in: Plotin: Traités 1–6 [Anm. 2], 262, Anm. 57: »En tant qu’elle demeure ›dans l’intelligible‹ (en toi noêtôi), il s’agit bien de l’Âme totale (holê psychê), unité originelle de toutes les âmes, mais en tant qu’elle ›gouverne dans le ciel‹ on s’attendrait plutôt à voir 1

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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sich dem, was sie regiert und ordnet, zuzuwenden.5 Auch die Einzelseelen müssen nicht die niedere Form der epimeleia ausüben, die eine Rückwirkung des Körpers auf die Seele einschließt. Vielmehr sind auch sie zur höheren Form der epimeleia fähig, denn als Helfer des Königs können sie an der Ordnungstätigkeit der Weltseele teilhaben, ohne die Königsburg zu verlassen. Solange die Einzelseelen hier bleiben, können sie also ihre doppelte Wirksamkeit, sich dem Geist zuzuwenden und zugleich an der Ordnung des Alls mitzuwirken, ausüben. Obwohl sie an diesem Ort Leidensfreiheit genießen, bleiben die Seelen nicht dort: »Aber sie wenden sich ab von der Ganzheit, um ein Teil und nur sich selbst zugehörig zu sein, gleichsam müde, mit einem anderen zu sein, zieht sich jede in sich selbst zurück. Tut sie das nun fortgesetzt, flieht die Gesamtheit, f ällt ab in Geschiedenheit und richtet den Blick nicht mehr auf die geistige Welt, so wird sie zum Teil, vereinzelt sich und wird krank, sie gerät in Geschäftigkeit, blickt auf ein Teilwesen, und in der Absonderung von der Ganzheit läßt sie sich dann auf irgendein Einzelding nieder, flieht von allem anderen, kommt herab und neigt sich nieder in dies Einzelding, das dem Druck und Stoß aller anderen Dinge ausgesetzt ist; so läßt sie das Ganze und regiert in Drangsal das Einzelne, nun kommt sie in Berührung mit dem Äußeren und muß sich ihm widmen, ist bei dem Einzelnen und senkt sich tief in es hinab. Hier widerf ährt ihr dann, wovon gesagt ist: sie ›entfiedert sich‹ und gerät in die Bande des Leibes; denn verscherzt hat sie die Unverletzlichkeit, die sie bei der Allseele hatte, als sie das Höhere lenkte (damals erging es ihr durchaus besser, als sie nach oben eilte); so f ällt sie und ist gefangen und beschäftigt sich mit ihrer Fessel und lebt nur mit den Sinnen (denn mit dem Geist zu leben, hemmt sie zunächst der neue Aufenthalt); so ist sie, wie es heißt, ›im Grabe‹ und ›in der Höhle‹; …« 6

Die Einzelseelen wenden sich von der Gesamtheit, in der sie sind – als Helfer des Königs in der Herrschaft über das All – ab, um ein Teil (meros) zu sein und nur sich selbst zugehörig (heautôn), d. h. sie wollen eine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber der Gesamtheit (tou holou) erlangen. Sie wollen also gewissermaßen nicht mehr die Helfer des Königs, sondern ihr eigener Herr sein. Sie sind, wie Plotin schreibt, »gleichsam müde, mit einem anderen zu sein«, und ziehen sich in sich selbst zurück. Lavaud zufolge ist dieser Rückzug die eigentliche Entstehung der Einzelseele,7 aber es spricht vieles dafür, dass die Einzelseelen schon Einzelseelen sind, solange sie als Helfer den König unterstützen, ohne sich zurückzuziehen; mentionnée l’âme du tout (psychê tou holou). Or Plotin reprend les mêmes termes qui désignent l’âme totale (meta tês holês)«; vgl. ebd., 262, Anm. 58. 5 Vgl. Enn. IV 8 [6] 2,25-32. 6 Enn. IV 8 [6] 4,11-28 (Harder, leicht verändert): μεταβάλλουσαι δὲ ἐκ τοῦ ὅλου εἰς τὸ μέρος τε εἶναι καὶ ἑαυτῶν καὶ οἷον κάμνουσαι τῷ σὺν ἄλλῳ εἶναι ἀναχωροῦσιν εἰς τὸ αὑτῶν ἑκάστη. ὅταν δὴ τοῦτο διὰ χρόνων ποιῇ φεύγουσα τὸ πᾶν καὶ τῇ διακρίσει ἀποστᾶσα καὶ μὴ πρὸς τὸ νοητὸν βλέπῃ, μέρος γενομένη μονοῦταί τε καὶ ἀσθενεῖ καὶ πολυπραγμονεῖ καὶ πρὸς μέρος βλέπει …. τὸ λεγόμενον πτερορρυῆσαι καὶ ἐν δεσμοῖς τοῖς τοῦ σώματος γενέσθαι ἁμαρτούσῃ τοῦ ἀβλαβοῦς τοῦ ἐν τῇ διοικήσει του κρείττονος, … 7 Lavaud,

in: Plotin: Traités 1–6 [Anm. 2], 262, Anm. 60.

Erscheinung53

sonst wären sie eins mit dem König und nicht die Helfer. Selbst dass die Einzelseele sich in sich selbst zurückzieht, müde der Gemeinschaft, trennt sie noch nicht vom Ganzen. Gewisse Ermüdungserscheinungen bei den Seelen im geistigen Bereich, die dort mit der Weltseele gemeinsam regieren, scheinen nicht ungewöhnlich und auch nicht problematisch zu sein; eine Einzelseele kann sich offenbar absondern und in sich zurückziehen, sofern sie den Blick auf das Intelligible nicht vollständig verliert und sich bald wieder ganz ihm zuwendet. Ihr Fall gründet nicht in einem Anfall von Müdigkeit und dem kurzfristigen Rückzug, sondern erst in der fortwährenden Absonderung und Abwendung. Dann wird die Seele krank, sie gerät in Vielgeschäftigkeit (polypragmonei) und blickt statt auf das Intelligible auf das Einzelding, den Körper. Sie wendet sich dem Körper zu, verkörpert sich, taucht tief in ihn ein (dysa) und wird so in seine Unordnung verstrickt.8 Dies ist, in den Worten Platons, ihre Entfiederung, ihre Fessel, ihr Aufenthalt in Höhle oder Grab.9 Sie gebraucht ihre Sinne, und ihr Aufenthalt im Körper hindert sie zunächst daran, den Geist zu betätigen. Der Abstieg der Einzelseelen beruht diesen Überlegungen zufolge auf einer Mischung aus Schwäche und Eigenwillen.10 Die Einzelseelen werden müde, sie vermögen es nicht, länger zu diesem Ganzen zu gehören. Zugleich wollen sie nicht Teil des Ganzen sein, sie wollen für sich sein, eigenständig, selbstständig. Ein ähnliches Bild zeichnet Plotin zu Beginn der Schrift V 1 [10]: »Was ist es eigentlich, das die Seelen Gott, ihren Vater hat vergessen lassen, obwohl sie Teile von dorther sind und überhaupt zu ihm gehören, sich selbst und ihn nicht mehr kennen? Nun: Der Anfang ihres Übels ist der Übermut, das Werden und die erste Verschiedenheit und das Sich-selbst-gehören-Wollen. Sie hatten, als sie in Erscheinung traten/sich zeigten, Genuss durch die Selbstbestimmung, und darum haben sie ihre Fähigkeit zur Selbstbewegung reichlich eingesetzt und sind in die Gegenrichtung gelaufen und haben den größtmöglichen Abstand hergestellt; und so wussten sie schließlich nicht einmal mehr, dass sie von dorther sind, so wie Kinder, die sofort von ihren Eltern getrennt und lange Zeit fern von ihnen aufgezogen werden, weder sich selbst noch ihre Eltern kennen.«11   8 Vgl.

ebd., 262, Anm. 62. Platon: Werke [Anm. 1], Bde III, IV und V: Verlust der Flügel (Phdr. 246c), Fesseln des Körpers (Phd. 67d); Höhle (Rep. 514a), Grab (Crat. 400c). Vgl. Lavaud, in: Plotin: Traités 1–6 [Anm. 2], 262, Anm. 63 und 64. 10 Vgl. A. H. Armstrong, in: Plotinus: Enneads. With an english translation by A. H. Armstrong in seven volumes, Cambridge, MA 1966 ff., Bd. IV, 408 f., Anm. 1: »This is a particularly clear expression of Plotinus’s constant conviction that the sin of the soul is self-isolation, individualism, a turning away (never quite complete) from the free universality of its higher state to bind itself to the particular.« 11 Enn. V 1 [10] 1,1-11 (Tornau, leicht verändert): Τί ποτε ἄρα ἐστὶ τὸ πεποιηκὸς τὰς ψυχὰς πατρὸς   9 Vgl.

θεοῦ ἐπιλαθέσθαι, καὶ μοίρας ἐκεῖθεν οὔσας καὶ ὅλως ἐκείνου ἀγνοῆσαι καὶ ἑαυτὰς καὶ ἐκεῖνον; Ἀρχὴ μὲν οὖν αὐταῖς τοῦ κακοῦ ἡ τόλμα καὶ ἡ γένεσις καὶ ἡ πρώτη ἑτερότης καὶ τὸ βουληθῆναι δὲ ἑαυτῶν εἶναι. Τῷ δὴ αὐτεξουσίῳ ἐπειδήπερ ἐφάνησαν ἡσθεῖσαι, πολλῷ τῷ κινεῖσθαι παρ’ αὐτῶν κεχρημέναι, τὴν ἐναντίαν

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Plotin spricht von einem ›In-Erscheinung-Treten‹ (ephanêsan)12 , d. h. die Entfernung der Seele von ihrem Ursprung wird als ihr Erscheinen beschrieben. Ihr Abstieg erscheint als Verfehlung, als ein Vergessen des Ursprungs und als eine damit einhergehende Selbstvergessenheit. Übermut (tolma) erweist sich als Grund des Übels und ein Streben nach Selbstbestimmung; die Seele erfreut sich an ihrer Selbstständigkeit und Selbstbewegung, die sie von ihrem Ursprung wegführt. Während die gesamte Beschreibung den Abstieg als Verfehlung, die Seele gleichsam als Sünderin darstellt, suggeriert das abschließende Bild eine unschuldige Seele, die ohne ihr Wissen und Wollen von ihrem Ursprung getrennt wurde: Sie gleiche Kindern, die früh von ihren Eltern getrennt und fern von ihnen aufgezogen werden und die weder sich selbst noch ihre Eltern kennen. Was ist der Sinn dieses Bildes, das eine Ambivalenz in die Darstellung bringt? Will Plotin mit dem Bild nur hervorheben, dass Ursprungsvergessenheit und Selbstvergessen eins sind? Oder durchkreuzt er absichtlich seine Darstellung einer schuldigen Seele? Entfaltung und Offenbarung In einem Widerspruch zu der These von einer Verfehlung der Seele steht die Idee einer Notwendigkeit des Seelenabstiegs, die Vorstellung also, dass die Seele nicht aufgrund einer Verfehlung absteigt, sondern kosmischen Gesetzen folgend zur Vollendung des Alls. Diese Idee entwickelt Plotin aus der Idee vom All als seligem Gott, die Platon im Timaios darlegt. Die bloß geistige Existenz der Wesen wäre nicht genug; alles Geistige muss auch im Sinnlichen vorhanden sein.13 Warum aber ist dies so? Wenn all das, was aus dem Einen entsteht, notwendig unvollkommen ist, da es nicht das Eine selbst ist,14 bleibt die Begründung, weshalb überhaupt etwas δραμοῦσαι καὶ πλείστην ἀπόστασιν πεποιημέναι, ἠγνόησαν καὶ ἑαυτὰς ἐκεῖθεν εἶναι· ὥσπερ παῖδες εὐθὺς ἀποσπασθέντες ἀπὸ πατέρων καὶ πολὺν χρόνον πόρρω τραφέντες ἀγνοοῦσι καὶ ἑαυτοὺς καὶ πατέρας.

12 Die korrekte Übersetzung/Zuordnung von ephanêsan ist umstritten. Einige übersetzen es als »In-Erscheinung-Treten«: Harder (Plotin: Plotins Schriften [Anm. 2] Bd. I), Atkinson (Plotinus: Ennead V. 1. On the Three Principal Hypostases. A Commentary with translation by Michael Atkinson, Oxford 1983), O’Brien (Denis O’Brien: Plotinus on evil: a study of matter and the soul in Plotinus’ conception of human evil, in: Le Néoplatonisme. Actes du colloque international sur le néoplatonisme, Royaumont, hg. von Pierre Hadot / Pierre Maxime Schuhl, Paris 1971, 113-146, 134). Andere ziehen es zu hêstheisai: Fronterotta (Plotin: Traités 7-21, présentés, traduits et annotés par Luc Brisson, Jean-Michel Charrue, Richard Dufour, Jean-Marie Flamand, Francesco Fronterotta, Matthieu Guyot, Jérôme Laurent, Laurent Lavaud, Alain Petit et Jean-François Pradeau, sous la direction de Luc Brisson et Jean-François Pradeau, Paris 2003), Tornau (Plotin: Ausgewählte Schriften [Anm. 2]), Armstrong (Plotinus: Enneads [Anm. 10]). Bei Bréhier (Plotin: Ennéades, texte établi et traduit par Émile Bréhier, deuxième édition, VI Bände, Paris 1954, Bd. V) ist es gar nicht übersetzt. Vgl. hierzu Fronterotta, in: Plotin: Traités 7–21 [Anm. 12], 173, Anm. 5, und Atkinson, in: Plotinus: Ennead V. 1, 8. 13 Vgl. Plotin, Enn.  IV 8 [6] 1, 41-50.Vgl. Lavaud, in: Plotin: Traités 1–6 [Anm. 2], 254 f., Anm. 14 u. 15. 14 Vgl. O’Brien: Plotinus on evil [Anm. 12], 133.

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aus ihm heraus entsteht, prekär.15 Plotin begründet die Notwendigkeit des Hervorgangs aus der Idee einer überquellenden Güte, die nicht in sich stehenbleiben kann. »So wie nun Eines nicht allein existieren durfte – sonst bliebe ja alles verborgen, da es in dem Einen keine Gestalt hat, ja es würde überhaupt kein Ding existieren, wenn das Eine bei sich selbst stehen bliebe […].«16

Eines (hen) darf nicht allein (monon) sein; wäre es dies, so wäre alles in ihm verborgen, ohne Gestalt (morphê) zu haben. Eingefaltet, verborgen und formlos gäbe es dann zwar alles, aber dieser Zustand der Verborgenheit erscheint doch gewissermaßen als Mangel. Aus dem Einen entsteht der geistige Kosmos. Aber auch auf der Ebene des Geistes darf der Hervorgang nicht enden.17 Die Möglichkeit, dass sich die Reihe fortsetzt und auf einer geringeren Stufe etwas entsteht, das aus dem vor ihm folgt, bedingt die Notwendigkeit dieses Hervorgangs. Wenn dieses Frühere notwendig existiert, dann gibt es auch notwendig das, was aus ihm folgt, auch wenn dies einen geringeren Seinsstatus oder eine geringere Vollkommenheit hat.18 Der Hervorgang endet auch nicht bei den Seelen, die am untersten Ende der geistigen Welt stehen. »[…] ebenso durften auch nicht allein die Seelen existieren, ohne dass in Erscheinung tritt, was durch sie seine Existenz erhält; wenn noch jedem Wesen innewohnt, das, was nach ihm ist, hervorzubringen und sich zu entfalten wie aus einem Samen, von einem teillosen Ursprung aus fortzuschreiten zum Ziel des sinnlich Wahrnehmbaren, wobei jedoch die obere Stufe stets an dem ihr eigenen Ort verharrt und das Niedere nur gleichsam aus sich entstehen lässt/gebiert vor übergewaltiger Kraft, die sie in sich trägt und die sie nicht wie beschränkt durch Neid zurückhalten durfte, sondern sie musste immer weiter schreiten, bis zum Letzten, bis alles mögliche hervorgekommen ist aus dem Grund der unermesslichen Kraft, die von sich über alles schickt und nicht duldete, das etwas ihrer Kraft unteilhaftig ist.«19

15 Vgl.

Tornau: Einleitung, in: Plotin: Ausgewählte Schriften [Anm. 2], 32 f. Enn. IV 8 [6] 6,1-3 (Harder, leicht verändert): Εἴπερ οὖν δεῖ μὴ ἓν μόνον εἶναι—

16 Plotin,

ἐκέκρυπτο γὰρ ἂν πάντα μορφὴν ἐν ἐκείνῳ οὐκ ἔχοντα, οὐδ’ ἂν ὑπῆρχέ τι τῶν ὄντων στάντος ἐν αὐτῷ ἐκείνου. 17 Plotin, Enn. IV 8 [6] 3, 29-31 (Harder): »Auf der Stufe nämlich des Geistes durfte die Welt nicht stehen bleiben, wo die Möglichkeit gegeben war, dass die Reihe sich fortsetzte in einem weiteren Gliede, welches zwar geringer ist, dessen Existenz aber mit Notwendigkeit folgt aus der Existenz dessen, was vor und über ihm ist. 18 Vgl. Plotin, Enn. IV 8 [6] 3, 29-31. 19 Plotin, Enn. IV 8 [6] 6,6-16 (Harder, leicht verändert): τὸν αὐτὸν τρόπον οὐδὲ ψυχὰς ἔδει

μόνον εἶναι μὴ τῶν δι’ αὐτὰς γενομένων φανέντων, εἴπερ ἑκάστῃ φύσει τοῦτο ἔνεστι τὸ μετ’ αὐτὴν ποιεῖν καὶ ἐξελίττεσθαι οἷον σπέρματος ἔκ τινος ἀμεροῦς ἀρχῆς εἰς τέλος τὸ αἰσθητὸν ἰούσης, μένοντος μὲν ἀεὶ τοῦ προτέρου ἐν τῇ οἰκείᾳ ἕδρᾳ, τοῦ δὲ μετ’ αὐτὸ οἷον γεννωμένου ἐκ δυνάμεως ἀφάτου, ὅση ἐν ἐκείνοις, ἣν οὐκ ἔδει στῆσαι οἷον περιγράψαντα φθόνῳ, χωρεῖν δὲ ἀεί, ἕως εἰς ἔσχατον μέχρι τοῦ δυνατοῦ τὰ πάντα ἥκῃ αἰτίᾳ δυνάμεως ἀπλέτου ἐπὶ πάντα παρ’αὐτῆς πεμπούσης καὶ οὐδὲν περιιδεῖν ἄμοιρον αὐτῆς δυναμένης.

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Das Grundmotiv ist dasselbe wie beim Einen, das in sich verharrt und alles, was aus ihm folgt, aus sich entstehen lässt, aus einer Überfülle heraus, die nicht in sich stehenbleiben kann und die sich nicht verringert, wie viel auch aus ihr entsteht. Die Neidlosigkeit des Guten ist der Grund eines überfließenden Hervorgangs; so weit die Kraft des Guten reicht, so weit muss es seine Wirkung entfalten, allem Anteil geben am Guten. Hieran hat auch die Seele teil, die an der Grenze des geistigen Kosmos ihren Ort hat. Was aus ihr entsteht, ist das sinnlich Wahrnehmbare, das durch sie Existenz und Erscheinung erhält, es wird wahrnehmbar, sichtbar. Wie die Idee einer Erscheinung suggeriert auch die Metapher der Entfaltung »wie aus einem Samen«, dass etwas, das in verborgener, eingefalteter Form schon da war, ausgefaltet und sichtbar wird. Plotin spricht auch von einem Fortschreiten bis zum Letzten, jedoch nicht von einem Abstieg, d. h. er meidet in seiner Wortwahl negative Assoziationen. Wenn alles aus der Überfülle des Guten hervorgeht, wird es zu einer Erscheinung des Guten: »So ist das vollkommenste Schöne, das es im Bereich des sinnlich Wahrnehm­baren gibt, eine Offenbarung/ein Beweis des Besten im Geistigen, seiner Kraft und Güte, und verbunden ist auf ewig alles Seiende, das geistig Seiende und das sinnlich wahrnehmbar Seiende, das eine, das durch sich selbst ist, das andere, das durch Anteilnahme das ewige Sein gewonnen hat, indem es die geistige Natur nach Vermögen nachahmt.« 20

Die Schönheit im sinnlich Wahrnehmbaren ist eine deixis des Besten im Geistigen, d. h. eine Offenbarung, ein Beweis, ein Zeigen, ein Vorführen. In der sinnlichen Schönheit kommt das Gute zur Erscheinung, und in ihm kann die Seele, wie Plotin in der Schrift Über das Schöne (I 6 [1]) schreibt, Spuren des geistigen Schönen erkennen, Spuren, die die Seele verzücken und auf den Weg zur höheren, wahren Schönheit locken.21 Die sichtbare Welt, der schöne sinnliche Kosmos ist ein Zeichen, eine Offenbarung, eine Erscheinung des geistigen Schönen, des Guten, und diese Erscheinung führt den Betrachter zurück zum Ursprung des wahren Schönen, d. h. sie hat anagogische Qualität. Das Zur-Erscheinung-Kommen im sinnlichen Schönen erweist sich also nicht als Mangel, auch wenn das sinnliche Schöne nur Bild und Spur des wahren Schönen ist. Zwar ist es, wie Plotin schreibt, »besser für die Seele, im Geistigen zu sein«, aber es ist »notwendig, dass sie auch am sinnlich Wahrnehmbaren teilhat, da sie eine solche Natur hat«; wie ein »Nachbar« gibt sie »der sinnlich wahrnehmbaren Natur« etwas von sich.22 Die Seele ist, da sie geistig ist, der überlegene Nachbar, der dem 20 Plotin,

Enn. IV 8 [6] 6, 23-28 (Harder, leicht verändert): Δεῖξις οὖν τῶν ἀρίστων ἐν νοητοῖς τὸ ἐν αἰσθητῷ κάλλιστον, τῆς τε δυνάμεως τῆς τε ἀγαθότητος αὐτῶν, καὶ συνέχεται πάντα εἰσαεὶ τά τε νοητῶς τά τε αἰσθητῶς ὄντα, τὰ μὲν παρ’ αὐτῶν ὄντα, τὰ δὲ μετοχῇ τούτων τὸ εἶναι εἰσαεὶ λαβόντα, μιμούμενα τὴν νοητὴν καθόσον δύναται φύσιν. 21 Vgl.

Plotin, Enn. I 6 [1]. Enn. IV 8 [6] 7,1-12 (Stock).

22 Plotin,

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sinnlich Wahrnehmbaren etwas von sich gibt, der es ordnet und regiert. Wenn die Seele hierbei ihre eigene Sicherheit bewahrt, wenn sie also die höhere Form der Fürsorge ausübt, geschieht ihr nichts. Wenn sie jedoch nicht vorsichtig genug ist, erhält sie etwas von ihrem unterlegenen Nachbarn zurück, sie erleidet etwas und übt die niedere Form der epimeleia aus; sie nähert sich, bildlich gesprochen, ihrem Nachbarn an, wirkt nicht nur auf ihn ein, sondern lässt eine Einwirkung von ihm auf sich selbst zu, die sie von sich selbst ablenkt und dem sinnlich Wahrnehmbaren zuwendet.23 Plotin gibt zwar zu, dass es für die Seele besser ist, im Geistigen zu weilen; aber es entspricht nicht ihrer Natur, nur dort zu sein. Ihre Natur ist amphibisch, das heißt, sie muss in beiden Bereichen wirken.24 Der Aufenthalt im Bereich des Sinnlichen erscheint damit nicht mehr nur als negativ, als Fessel oder Grab, die die Seele so schnell als nur möglich verlassen muss. Vielmehr erweist sich dieser Ort als ein ihr natürlicher, wie auch die Amphibien natürlicherweise im Wasser und am Land leben und gar nicht leben könnten, wenn sie nicht an beiden Orten lebten. Die Seele hat ein doppeltes ergon, zu denken und zu ordnen.25 Der Abstieg der Seele ist notwendig, aber diese Notwendigkeit darf nicht als Zwang missverstanden werden. »So also kommt die Seele, obgleich sie etwas Göttliches ist und von den oberen Orten stammt, in den Leib, und sie, die ein zweiter Gott ist, geht hierher mit freigewollter Neigung und aus dem Grund ihrer Kraft und zur Ordnung dessen, was nach ihr liegt.« 26

Die Seele erscheint hier nicht als eine Sünderin, die sich aus einem Eigenwillen heraus vom Intellekt abwendet; sie gehorcht aber auch keinem Zwang. Wenn sie mit ihrem Abstieg kosmischen Gesetzen und kosmischer Notwendigkeit entspricht, wie Plotin dies zuvor angedeutet hatte, so wählt sie doch nicht weniger freiwillig den Abstieg. Die Freiwilligkeit, von der hier die Rede ist, ist nicht gleichbedeutend mit einer Wahl; die Seele gibt nur gewissermaßen ihr Einverständnis zum Abstieg, ohne die Möglichkeit zu haben, sich ihm zu entziehen.27 Dem Gesetz der

23 Zu

den beiden Formen der Fürsorge vgl. Enn. IV 8 [6] 2,25-32. Plotin, Enn. IV 8 [6] 4, 29-35. Das Bild der Amphibien scheint auf ihn zurückzugehen. Vgl. hierzu auch Alexandrine Schniewind: Les âmes amphibies et les causes de leurs différences. À propos de Plotin, Enn. IV 8 [6], 4.31-5, in: Studi sull’anima in Plotino, hg. von Riccardo Chiaradonna, [Napoli] 2005, 179-200. 25 Vgl. Plotin, Enn. IV 8 [6] 3,22-30. Zur zweifachen Aktivität, vgl. auch Tornau, Einleitung, in: Plotin: Ausgewählte Schriften [Anm. 2], 24, 33 f. 26 Plotin, Enn. IV 8 [6] 5,25-28 (Harder, verändert): Οὕτω τοι καίπερ οὖσα θεῖον καὶ ἐκ τῶν τόπων 24 Vgl.

τῶν ἄνω ἐντὸς γίνεται τοῦ σώματος καὶ θεὸς οὖσα ὁ ὕστερος ῥοπῇ αὐτεξουσίῳ καὶ αἰτίᾳ δυνάμεως καὶ τοῦ μετ’ αὐτὴν κοσμήσει ὡδὶ ἔρχεται .

27 Vgl. Lavaud, in: Plotin: Traités 1–6 [Anm. 2], 263, Anm. 72; Denis O’Brien: Le volontaire et la nécessité: réflexions sur la descente de l’âme dans la philosophie de Plotin, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 167 (1977), 401-422; Denis O’Brien: Théodicée plotinienne, théodicée gnostique, Leiden/New York/Köln 1993, 45 f.

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Natur bzw. dem Befehl des Gottes28 zufolge, muss sie absteigen, um so den Kosmos zu vollenden, und ihr Abstieg gereicht dem Körper zum Guten. Daher kann die Seele ihre Zustimmung zu diesem Abstieg geben; sie wird nicht in die Materie geworfen, herabgezwungen oder bestraft.29 Verwirklichung Die im zweiten Teil vorstellten Passagen zum Abstieg der Seele erwecken den Eindruck, als geschehe der Abstieg der Seele zum Vorteil dessen, was nach ihr kommt, zum Vorteil des sinnlichen Kosmos und des Körpers, der durch sie Leben und Ordnung erhält. Hieraus entwickelt sich eine weitere Idee. Es wird nämlich deutlich, dass ihr Abstieg der Seele selbst zum Vorteil gereichen kann. »Entflieht sie rasch, so bleibt sie unversehrt, hat obendrein noch Erkenntnis des Schlechten gewonnen, die Natur des Übels erkannt, sie hat ihre eigenen Kräfte ans Licht gebracht und ihr Wirken und Schaffen offenbart; das, wenn es im Bereich des Körperlosen ruhte/verödete, unnütz wäre, da es ewig nicht zur Verwirklichung käme, und der Seele selbst bliebe verborgen, was sie in sich trägt, wenn es nicht in Erscheinung träte, nicht hervorginge. Denn überall bringt erst die Verwirklichung das Vermögen zum Vorschein, welches sonst durchaus/überall/vollkommen verborgen bliebe und gleichsam ausgelöscht wäre und nicht seiend, da es niemals zu realem Sein käme.« 30

Dieser bemerkenswerten Textpassage zufolge ist der Abstieg der Seele nicht nur notwendig für das All oder den Körper, sondern zugleich für ihre eigene Vollendung. Sofern die Seele sich nicht im Körperlichen verliert und sich rechtzeitig von ihm gelöst hat, bringt ihr Abstieg einen doppelten Vorteil. Zum einen gewinnt sie »Erkenntnis des Schlechten«, zum anderen verwirklicht sie ihre eigenen Kräfte und gewinnt Einsicht in ihr eigenes Vermögen. Während ihrer Verbindung mit dem Körper erlangt sie, wie Plotin, schreibt, »Erkenntnis des Schlechten (gnôsin kakou)«, sie erkennt die »Natur des Schlechten (physin kakias)«. Die Idee einer Erkenntnis des Schlechten, ja sogar seiner Natur, seiner physis, ist ungewöhnlich, schließlich geht es hier um den Bereich des Werdens, der Sinneswahrnehmung. Eine solche Erkenntnis des Schlechten ist nun nicht

28 Vgl.

Plotin, Enn. IV 8 [6] 5, 10-14. Lavaud, in: Plotin: Traités 1–6 [Anm. 2], 235 f., 263, Anm. 75. 29 Vgl. ebd., 263, Anm. 74. 30 Plotin, Enn. IV 8 [6] 5,28-36 (Harder, verändert): κἂν μὲν θᾶττον φύγῃ, οὐδὲν βέβλαπται

γνῶσιν κακοῦ προσλαβοῦσα καὶ φύσιν κακίας γνοῦσα τάς τε δυνάμεις ἄγουσα αὐτῆς εἰς τὸ φανερὸν καὶ δείξασα ἔργα τε καὶ ποιήσεις, ἃ ἐν τῷ ἀσωμάτῳ ἠρεμοῦντα μάτην τε ἂν ἦν εἰς τὸ ἐνεργεῖν ἀεὶ οὐκ ἰόντα, τήν τε ψυχὴν αὐτὴν ἔλαθεν ἂν ἃ εἶχεν οὐκ ἐκφανέντα οὐδὲ πρόοδον λαβόντα· εἴπερ πανταχοῦ ἡ ἐνέργεια τὴν δύναμιν ἔδειξε κρυφθεῖσαν ἂν ἁπάντη καὶ οἷον ἀφανισθεῖσαν καὶ οὐκ οὖσαν μηδέποτε ὄντως οὖσαν.

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nur keine Bedrohung für die Seele, vielmehr hat sie für die Seele positiven Wert, sie ist ein Gewinn.31 An späterer Stelle schreibt Plotin zu diesem Thema: »Sie kann anderseits auch wieder emportauchen, und sie hat dann hinzugewonnen die Kenntnis von dem, was sie hier sah und erfuhr, und sie hat gelernt, was es eben ist, hier zu sein, und durch das Nebeneinanderstellen der Zustände, die gleichsam Gegenteile sind, hat sie gleichsam klarer das Höhere erkannt. Eine klarere Erkenntnis des Guten ist die Erfahrung des Übels für die, deren Fähigkeit/Kraft zu schwach ist, um das Übel durch Wissen vor der Erfahrung zu erkennen.« 32

Die Seele hat Kenntnis (historia) vom Hiesigen gewonnen, und, durch Vergleich, Kenntnis des Höheren. Daher erweist sich die Erfahrung (peira) des Schlechteren als eine Erkenntnis des Guten.33 Dies gilt sowohl für die schwächeren Seelen, die einer höheren Erkenntnisweise nicht fähig sind, als auch für die anderen, fähigeren Seelen: »Both a soul that is sinful and a soul that is sinless may aquire knowledge of evil, and they may both benefit from doing so.« 34 Die fähigeren Seelen mögen in der Lage sein, »vor der Erfahrung« das Übel zu erkennen, die schwächeren benötigen hierzu die Erfahrung. Aber auch die höhere Seele, die erfahrungsfreie Kenntnis des Übels besitzt, gewinnt an Kenntnis, wenn sie absteigt, nämlich die historia des Hiesigen, und diese Kenntnis umfasst mehr als die bloße Erfahrung des Übels, denn der sinnliche Kosmos ist als Bild des geistigen Kosmos schön, und seine Kenntnis führt die Seele wieder empor zum Geistigen. Durch ihren Abstieg gewinnen die Seelen aber nicht nur Einsicht in die Natur des Übels, vielmehr gelangen sie auch zu Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Dieser zweite Vorteil, den der Abstieg der Seele bringt, ist daher grundsätzlicher. Die Seele wäre, könnte man sagen, unvollständig, bliebe sie nur im Intelligiblen. Ihre Kräfte wären unnütz, wenn sie nicht in Erscheinung träten; ja ihr selbst fehlte sogar das Wissen um sich selbst, da sie nur dann diese Kräfte erfassen kann, wenn sie verwirklicht werden und nicht im Körperlosen verbleiben. Sofern diese Kräfte verborgen sind, im Körperlosen, nicht verwirklicht, bleiben sie bloße dynamis, und das heißt auch, dass sie nicht wirklich seiend sind; erst ihr In-ErscheinungTreten, ihr Hervorgang ist energeia. Bemerkenswerterweise ist die geistige Form der Kräfte in der Seele dynamis, während ihre sinnliche, körperliche Verwirklichung 31 Vgl.

Lavaud, in: Plotin: Traités 1–6 [Anm. 2], 264, Anm. 82: »mais au contraire cette connaissance a une valeur positive, au même titre que l’exercice de la puissance productrice de l’âme à laquelle elle est ici associé.« Anders John M. Rist: Plotinus: The Road to Reality, Cambridge 1967, 126, der diese Passage für merkwürdig hält. 32 Plotin, Enn. IV 8 [6] 7,12-17 (Stock): ἄλλως τε καὶ δυνατὸν αὐτῇ πάλιν ἐξαναδῦναι, ἱστορίαν ὧν

ἐνταῦθα εἶδέ τε καὶ ἔπαθε προσλαβούσῃ καὶ μαθούσῃ, οἷον ἄρα ἐστὶν ἐκεῖ εἶναι, καὶ τῇ παραθέσει τῶν οἷον ἐναντίων οἷον σαφέστερον τὰ ἀμείνω μαθούσῃ. Γνῶσις γὰρ ἐναργεστέρα τἀγαθοῦ ἡ τοῦ κακοῦ πεῖρα οἷς ἡ δύναμις ἀσθενεστέρα, ἢ ὥστε ἐπιστήμῃ τὸ κακὸν πρὸ πείρας γνῶναι.

33 Vgl. Plotin: Traités 1-6 [Anm. 2], 267, Anm. 100: »Ici apparaît l’idée audacieuse que l’épreuve du mal peut être une sorte d’expérience négative du bien. Le sensible révélerait donc en creux, par contrast, ce qu’est l’intelligible.« 34 O’Brien: Plotinus on evil [Anm. 12], 131.

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energeia ist. Erst in dieser Verwirklichung gelangt die Seele an ihr wahres Sein, d. h. sie findet ihr wahres Sein im Hervorgang, in der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Der rein geistige Zustand der Seele wäre unvollständig und unvollkommen, während gerade in ihrer Wendung zum Körperlichen ihre Vollendung, ihr wahres Sein zum Vorschein tritt und verwirklicht wird. Nicht im körperlosen Bereich findet sich das wahrhaft Seiende, sondern im Zur-Erscheinung-Kommen der seelischen Kräfte im Sinnlichen. Das ist ein ungewöhnlicher Gedanke für einen Platoniker. Wie kommt Plotin zu dieser Idee? Mit den Begriffen von dynamis und energeia greift er aristotelische Terminologie auf, jedoch ist eine deutliche Verschiebung sowohl zu Aristoteles als auch zu Platon zu erkennen. Die aristotelischen Beispiele für dynamis – Herme im Holz, ein Wissenschaftler, der seine Wissenschaft nicht praktiziert – charakterisieren den Zustand der dynamis als einen im Verhältnis zur energeia defizitären.35 Dynamis ist hier – anders als in Platons Politeia 36  – »Vermögen« und nicht »Kraft«. Aristoteles beschreibt die erste Wesenheit, den unbewegten Beweger als ein Wesen, »dessen Wesen Wirklichkeit ist (hês hê ousia energeia)« 37, das heißt der höchste Ursprung allen Seins, das »Denken des Denkens (noêseôs noêsis)« 38 ist reinste energeia. In seiner Schrift II 5 [25] schließt sich Plotin im Großen und Ganzen dieser Vorstellung an; er überlegt dort, ob man sagen könne, dass die Seele »potentiell (dynamei) Lebewesen« oder »potentiell musisch« sei, ob es also das Potentielle im Geistigen geben könne. Seine Antwort ist, dass die Seele die dynamis dieser Kräfte sei und nicht potentiell (dynamei); im Geistigen gebe es nichts, was potentiell (dynamei) ist, in der obersten Wesenheit selbst sei alles energeia.39 An anderer Stelle bezeichnet Plotin das Eine aber auch als dynamis tôn pantôn.40 Hierzu schreibt Werner Beierwaltes: »So kann δύναμις πάντων verstanden werden als Möglichkeit zu Allem – Möglichkeit jedoch weder im Sinne einer im Ursprung noch nicht, sondern erst im Produkt wirklichen Existenzweise, die sich durch Ver-wirklichung außerhalb des Ursprungs intensivieren würde, noch als die reine Offenheit oder Beliebigkeit. δύναμις πάντων steht außerhalb des Bezugs von dynamis und energeia und meint vielmehr, sowohl von Platon als auch von Aristoteles her in bestimmten Sinne unterstützbar: Kraft, aktives Vermögen oder Mächtigkeit zu Allem, die Fähigkeit der implikativen Einheit zu ihrer eigenen Explikation.«41

35 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 6, 1048b, 25-35 (Aristotle’s metaphysics, 2 vols., ed. by W. D. Ross, Oxford 1924 (repr. 1970 [of 1953 corr. edn.]). 36 Vgl. Platon, Politeia 509b (Platon: Werke [Anm. 1], Bd. 4). 37 Aristoteles, Metaphysik XII 6, 1071b20 (Aristotle’s metaphysics [Anm. 35]) (Stock). 38 Ebd., XII 9, 1074b34 f. 39 Plotin, Enn. II 5 [25] 3,19-40. 40 Plotin, Enn. III 8 [30] 10,1. 41 Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt/M. 1985, 49.

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Hier handelt es sich zweifelsohne nicht um den aristotelischen dynamis­-Begriff, sondern um einen Ausdruck, der die Überfülle, Kraft und Neidlosigkeit des ersten Prinzips charakterisiert; eine energeia, eine Verwirklichung dieser dynamis im aristotelischen Sinn kann es nicht geben. Dennoch spricht Plotin aber auch von einer Verwirklichung auf der zweiten Stufe, einer Verwirklichung der im ersten Ursprung ungeschieden enthaltenen Dinge, die erst auf dieser zweiten Stufe getrennt werden, während das Erste dynamis pantôn ist.42 Hier geht es nicht um die Verwirklichung des Ersten,43 sondern um Verwirklichung von Dingen, die in ihm sind, aber nicht als einzelne und die erst auf der Stufe des Geistes als einzelne Dinge in Erscheinung treten. Auch wenn sich das Eine nicht verwirklicht, so lässt sich hieraus doch folgern, dass die in ihm ungeschieden enthaltenen Dinge verwirklicht werden könnten, d. h. sie müssten – in aristotelischer Terminologie – in ihm dynamei sein. Dann aber gäbe es im Einen etwas, das dynamei ist, was Plotin in der Schrift II 5 [25] explizit ausschließt und was auch der aristotelischen Idee einer ersten Wesenheit, die reine energeia ist, zuwiderläuft. Plotin spricht diesen Gedanken nicht aus, aber in seinen Überlegungen zum Intellekt taucht er wieder auf.44 Ferner führt Plotin ihn in der oben zitierten Stelle aus, in der es um die Erscheinung und Verwirklichung der Kräfte der Seele geht. Dort heißt es: »[…] sie hat ihre eigenen Kräfte ans Licht gebracht und ihr Wirken und Schaffen offenbart; das, wenn es im Bereich des Körperlosen ruhte/verödete, unnütz wäre, da es ewig nicht zur Verwirklichung käme, und der Seele selbst bliebe verborgen, was sie in sich trägt, wenn es nicht in Erscheinung träte, nicht hervorginge. Denn überall bringt erst die Verwirklichung das Vermögen zum Vorschein, welches sonst durchaus/überall/vollkommen verborgen bliebe und gleichsam ausgelöscht wäre und nicht seiend, da es niemals zu realem Sein käme.«45

Dass das, was nur potentiell (dynamei) ist, gewissermaßen nicht wirklich seiend ist, entspricht aristotelischer Theorie. Das Holz, das dynamei eine Statue ist, ist zwar wirklich Holz, aber nicht wirklich eine Statue. Gleichermaßen sind die Kräfte, so sie in der Seele bleiben, gewissermaßen nicht wirklich; erst ihr Hervortreten ins Sinnliche gibt ihnen wirkliches Sein, erst hier liegt die energeia, die die dynamis enthüllt und zu der ihr bestimmten Wirksamkeit führt. Die gleiche Grundidee steht hinter der folgenden, oben schon einmal zitierten Passage:

42 Vgl.

Plotin, Enn. V 3 [49] 15, 31-33. Recht weist Rist dies zurück (vgl. Rist: Plotinus: The Road to Reality [Anm. 31], 74-76). Vgl. auch A. H. Armstrong: The Architecture of the Intelligible Universe in the Philosophy of Plotinus, Cambridge 1940, 61-63. 44 Vgl. Plotin, Enn. IV 8 [6] 3,14-16. 45 Plotin, Enn. IV 8 [6] 5,30-36 (Harder, verändert): τάς τε δυνάμεις ἄγουσα αὐτῆς εἰς τὸ φανερὸν 43 Zu

καὶ δείξασα ἔργα τε καὶ ποιήσεις, ἃ ἐν τῷ ἀσωμάτῳ ἠρεμοῦντα μάτην τε ἂν ἦν εἰς τὸ ἐνεργεῖν ἀεὶ οὐκ ἰόντα, τήν τε ψυχὴν αὐτὴν ἔλαθεν ἂν ἃ εἶχεν οὐκ ἐκφανέντα οὐδὲ πρόοδον λαβόντα· εἴπερ πανταχοῦ ἡ ἐνέργεια τὴν δύναμιν ἔδειξε κρυφθεῖσαν ἂν ἁπάντη καὶ οἷον ἀφανισθεῖσαν καὶ οὐκ οὖσαν μηδέποτε ὄντως οὖσαν.

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Wiebke-Marie Stock

»[…] ebenso durften auch nicht allein die Seelen existieren, ohne dass in Erscheinung tritt, was durch sie seine Existenz erhält; wenn noch jedem Wesen innewohnt, das, was nach ihm ist, hervorzubringen und sich zu entfalten wie aus einem Samen, von einem teillosen Ursprung aus fortzuschreiten zum Ziel des sinnlich Wahrnehmbaren […]«46

Das Bild des Samens, das Plotin verwendet, entstammt der aristotelischen Diskussion von dynamis und energeia.47 Evident ist in diesem Bild, dass die energeia ein ›Zur-Erscheinung-Kommen‹ ist, denn das, was aus dem Samen entsteht, wird erst sichtbar, wenn er sich entfaltet. Zugleich ist die Kraft, die diese Entwicklung auslöst, dem Samen selbst immanent, anders als im Beispiel der Statue im Holz, die der externen Kraft eines Bildhauers bedarf. Dieses Sichtbarwerden, dieses ZurErscheinung-Kommen überträgt Plotin auf die Entfaltung der Seelenkräfte; erst im sinnlich Wahrnehmbaren kommt zur Erscheinung und wird verwirklicht, was bloß potentiell bliebe, verweilte die Seele im Geistigen. Bei diesem Prozess der Verwirklichung aber handelt es sich um eine Verwirklichung, deren Antriebskraft die Seele selbst ist. Wenn von einer dynamis die Rede ist, so darf dies Wort also sowohl als ein zu verwirklichendes Vermögen als auch als die die Verwirklichung hervorbringende Kraft gedeutet werden; Plotin kombiniert aristotelische und platonische Begrifflichkeit und entwickelt so eine Theorie, in der im Geistigen dynamis, in der sinnlich wahrnehmbaren Welt aber energeia ist, was in dieser Form wohl weder Platon noch Aristoteles hätten annehmen können.48 Schluss Nach der Präsentation der verschiedenen Vorstellungen vom Abstieg oder Hervorgang der Seele soll nun das Augenmerk kurz der Verbindung dieser Ideen gelten, d. h. der Frage: »how should we reconcile, if we need to, the descent of the soul as a potential evil, and yet as required for the unfolding of its own powers and for the service of the sensible world?«49

46 Plotin, Enn. IV 8 [6] 6,6-10 (Harder, leicht verändert): τὸν αὐτὸν τρόπον οὐδὲ ψυχὰς ἔδει μόνον εἶναι μὴ τῶν δι’ αὐτὰς γενομένων φανέντων, εἴπερ ἑκάστῃ φύσει τοῦτο ἔνεστι τὸ μετ’ αὐτὴν ποιεῖν καὶ ἐξελίττεσθαι οἷον σπέρματος ἔκ τινος ἀμεροῦς ἀρχῆς εἰς τέλος τὸ αἰσθητὸν ἰούσης,.

Aristoteles, Metaphysik IX 8, 1049b19-23 (Aristotle’s metaphysics [Anm. 35]). Armstrong verweist auf einen möglichen stoischen Hintergrund der Rede vom Samen (Armstrong: The Architecture [Anm. 43], 62). 48 Armstrong hält sie daher auch für eine Abweichung von Plotins eigentlicher Lehre, eine Annäherung an stoische materialistische Emanationstheorien, vgl. Armstrong: The Architecture [Anm. 43], 61-63, 84. Vgl. auch Jean Trouillard: La procession plotinienne, Paris 1955, 3. 49 O’Brien: Plotinus on evil [Anm. 12], 116. 47 Vgl.

Erscheinung63

Es stellt sich die Frage, wie Plotin die Verfehlung, die Notwendigkeit und die Selbstverwirklichung der Seele verbindet. Während er sich in der Darlegung der ersten, pessimistischen These an Platons Vorgaben hält, entwickelt er in der Reflexion der zweiten, optimistischen These Platons Grundidee weiter. Der Abstieg ist zum einen notwendig, weil er der Vollendung des Kosmos dient; zum anderen bringt er aber auch der Seele selbst Vorteil, da sie erst in ihm zur Selbsterkenntnis und zur Selbstverwirklichung gelangt: Erst wenn die Seele zur Erscheinung kommt, wird sie eigentlich sie selbst und erkennt sie sich selbst. Dieser Gedanke, der eine Weiterentwicklung der Idee des notwendigen Hervorgangs darstellt, erweitert die ursprüngliche Widersprüchlichkeit der platonischen Theorie (Verfehlung vs. Notwendigkeit/zur Vollendung des Alls50); nun geht es um die Vereinbarkeit von Verfehlung auf der einen Seite und der Idee, dass die Seele zum Vorteil des Alls und zu ihrem eigenen Vorteil absteigt, auf der anderen Seite. Manche Autoren zweifeln, ob die Lösung Plotins überzeugend ist.51 Begreift man die Rede von Müdigkeit, Für-sich-selbst-sein-Wollen oder von Übermut als Ursprungsmythos eines ersten Abfalls, gewissermaßen eines Sündenfalls, so bleibt sie zum einen in ihrer inneren Logik problematisch, denn es lässt sich nicht erklären, warum Seelen, denen es im Geistigen besser geht, dies je verlassen, um für sich selbst zu sein, und woher ihr Trieb, für sich selbst sein zu wollen, stammt.52 Zum anderen steht eine solche Rede im Widerspruch oder zumindest in einer Spannung zur Rede von der Notwendigkeit des Abstiegs. Es handelt sich, meint Bréhier,53 möglicherweise um zwei Perspektiven, deren Verbindung jedoch prekär bleibt. Die Rede von zwei Perspektiven – »the ›world-accepting‹ and the ›world-rejecting‹ temper« 54 – kann erklären, weshalb der Körper als das Grab der Seele und der sinnliche Kosmos als gut und schön bezeichnet werden können, denn je nach Blickwinkel, d. h. vom Blickwinkel des Hervorgangs oder der Rückkehr Vgl. Lavaud, Notice, in: Plotin: Traités 1-6, 233; Henry J. Blumenthal: Plotinus’ Psychology. His Doctrines of the Embodied Soul, The Hague 1971, 5; Jean-Michel Charrue: Plotin, lecteur de Platon, Paris 1978, 169 f. 51 Vgl. z. B. Blumenthal: Plotinus’ Psychology [Anm. 50], 5; vgl. Pierre Maxime Schuhl: Descente métaphysique et ascension de l’âme dans la philosophie de Plotin, in: Studi internazionali di filosofia editi da Augusto Guzzo e Giorgio Tonelli V (1973), 71-84, 81: »Plotin hésite en réalité entre deux conception: un dualisme dramatique qui implique une chute, et un monisme où la manière est le dernier terme de l’évolution rationnelle.« Auch Rist vermutet, die beiden Positionen könnten »incompatible« sein, jedoch meint er, es gebe eine »greater consistency«, als meist zugegeben werde (Rist: Plotinus: The Road to Reality [Anm. 31], 112). 52 Dies ist das Problem in der Erklärung Armstrongs, die Seelen stiegen einem kosmischen Gesetz gemäß ab, da sie eine gewisse Schwäche in sich trügen, die dazu führt, dass sie absteigen wollen; vgl. A. H. Armstrong: Plotinus, in: The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy, hg. von A. H. Armstrong, Cambridge 1967, 193-268, 255. 53 Vgl. Bréhier, Notice, in: Plotin: Ennéades [Anm. 12], Bd. IV, 214: »à faire rentrer la chute des âmes et la perte des ailes dans l’organisation générale de l’univers. […] ce qui, par un côté, est péché de l’âme, est, par un autre, participation du sensible à l’intelligible dans toute la mesure du possible«. 54 Armstrong: The Architecture [Anm. 43], 83. 50 Vgl.

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erscheint die sinnliche Welt als Bild der geistigen Welt gut oder als Ausgangspunkt einer Rückkehr zum Ursprung schlecht; problematisch in dieser Erklärung bleibt aber die Rede von einer Verfehlung und von einem Fall der Seele. Begreift man jedoch die Rede von einer Notwendigkeit des Hervorgangs und einer Selbstverwirklichung der Seele im Abstieg als die eigentliche Lehre Plotins,55 so lassen sich die Textpassagen, wo von Verfehlung die Rede ist, nicht als Geschichte eines ursprünglichen Sündenfalls, sondern als Mahnung und Warnung für die einzelne Seele deuten; sie solle sich ihrem eigenen Körper gegenüber verhalten wie die Weltseele; sie solle nicht tief in ihn eintauchen und sich in der niederen Form der epimeleia um ihn sorgen; sie dürfe sich nicht von der Allseele und vom Geist abwenden. Durch ihren obersten Seelenteil, der nicht absteigt,56 verliert sie nie die Verbindung zum Geistigen, und sie kann dort weilen, während sie in Verbindung mit dem Körper steht. Wenn die Seele zu tief in den Körper eintaucht, sich ihm mit der niederen Art der Fürsorge zuwendet, sich von ihm affizieren lässt, so ist ihr Aufenthalt im Körper für sie ein Übel. Regiert sie aber den Körper wie die Weltseele, nicht von ihm berührt und affiziert, ohne Lust oder Schmerz und nur mit einem leisen Wink, ohne handwerkliche Mühe, so ist die Verbindung mit dem Körper kein Übel.57 Sie ist vielmehr nicht nur kein Übel, sondern sogar etwas Gutes, für den Körper und das All auf der einen und für die Seele selbst auf der anderen Seite. Die Idee, dass die Seele, obwohl es für sie besser ist, im Geistigen zu sein, doch einen Vorteil aus ihrem Hervorgang zieht, ja dass sie gewissermaßen erst dann sie selbst wird, wenn sie in Erscheinung tritt, ist bemerkenswert für einen Denker, der in platonischer Tradition steht. Als amphibisches Wesen, dessen ergon das Denken und die Ordnung des Nachgeordneten ist, verwirklicht sie sich selbst in dieser Aufgabe. Erst in ihrem Zur-Erscheinung-Kommen wird die Seele wahrhaft sie selbst.

55 Vgl.

ebd., 87. insbesondere Plotin, Enn. IV 8 [6] 8,1-6. 57 Vgl. Armstrong: The Architecture [Anm. 43], 89 f. Einen anderen Akzent setzt die Deutung von Rist: Plotinus: The Road to Reality [Anm. 31], 124: »The creative activities of the individual soul therefore are fraught with sin.« Aber auch Rist verweist auf die Wichtigkeit der »attitude of the individual soul« (127). 56 Vgl.

Die D i at r i b a

de

A n ag r a m m at is mo des Erycius Puteanus

Schöpfung und Erschöpfung einer barocken Leidenschaft Saverio Campanini

Qu’y a-t-il derrière l’apparence? Une force immense? Ou le vide menteur d’une arrière-scène? Un secret ­bénéfique? Ou au contraire une mystification? Jean Starobinski

Im De harmonia mundi des Francesco Zorzi, das im Jahre 1525 in Venedig erschien, wird Jesus mit einem Setzer in einer Druckerei verglichen: »Neque tantummodo verificavit legem complens omnia, quae in ipsa continentur, sicut ipsemet testatus est dicens: Non veni solvere legem, sed etiam perfecit, et deduxit ad meliorem gradum per Evangelium, quod bonum nuntium significat, veluti si quis acciperet characteres plumbeos impressorum compositos in tabella ad exprimenda aliqua dura, et eosdem rursum coaptaret ad exprimenda verba dulciora, et sublimiora, eadem tamen manente figura characterum.«1 »Er [ Jesus] erfüllte das Gesetz nicht nur, indem er alles tat, was in ihm vorgeschrieben ist. Sondern er vervollständigte es und führte es durch das Evangelium, das Gute Nachricht bedeutet, zu einem höheren Verwirklichungsgrad, wie er selbst bezeugte: Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen.2 Es ist, als ob er die schon im Setzschiff zu einer harten Botschaft zusammengesetzten Bleilettern neu komponieren würde, um mildere und höhere Worte auszudrücken, ohne die Lettern zu verändern.« 3

Selbstverständlich liegt die theologische Pointe in der Idee, dass Jesus das Gesetz nicht aufgehoben habe, aber für unseren Zusammenhang sind zwei andere Aspekte interessanter: Zorzi verdeutlicht ewige Wahrheiten, indem er einen Verweis auf die relativ junge Drucktechnik wählt. Außerdem verdienen die letzten Worte, die den Vergleich schließen, eine nähere Betrachtung und diese ist das Thema meiner Ausführungen. Eadem tamen manente figura characterum ist eine mögliche Definition für das Anagramm: Kombiniert man die Basiselemente der alphabetischen Schrift

1 Francesco Zorzi: L’armonia del mondo, a cura di Saverio Campanini, Milano 2010, 1404 (2,4,5). Die Stelle erregte die Aufmerksamkeit von Christian Thomasius; vgl. Christian Thoma­ sius: Observationum selectarum ad rem literariam spectantium Tomus I, Halae 1700, 377. 2 Matt 5,17. 3 Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von Saverio Campanini.

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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Saverio Campanini

geschickt neu, kann man die Botschaft verändern. Idem et non idem ist für Francesco Zorzi ein regelrechtes Leitmotiv, das für seine musikalische Theorie ebenso gilt wie für seine Vorstellung der Welt (mundus totus) als miteinander verflochtene harmonische Verhältnisse, die er aus der Kabbala als quasi-mathematischer Umdeutung der Offenbarung und zugleich der Schöpfung belegt. Ich möchte also vereinfacht die Frage stellen, wie es zu dieser Verwechselung der Kabbala mit der Anagrammatik kam und wann diese ihren Anfang nahm. Dazu kann man zunächst nach der hebräischen Entsprechung für Anagramm fragen.4 Im Neuhebräischen verwendet man die Form ‫אנגרמה‬, das heißt man hat ein Lehnwort aus dem Griechischen übernommen, wie es häufig geschieht, wenn es in der literarischen Tradition kein spezifisches Wort gibt. In der spätantiken rabbinischen Literatur findet man für die Buchstabenmanipulation die Bezeichnung ‫( היפוך אותיות‬hippuk otiot) oder auch ‫( סירוסי מקרא‬seruse miqra). Wie wir sehen werden, ist die vermeintliche Bezeichnung des Anagramms in der kabbalistischen Literatur als ‫( תמורה‬Temura), die man immer wieder findet,5 alles andere als unproblematisch. Nun kann der Begriff Temura unter anderem mit ›Permutation‹ übersetzt werden, aber die vorhandene theoretische Literatur und vor allem die Texte der christlichen Kabbalisten der Renaissance ergeben ein uneinheitliches Bild. Nach Meinung Johannes Reuchlins 6 ist das Anagramm eher ein Teil der Gematria, und zwar ein besonders leichter und günstiger Fall, während man in der Barockzeit tatsächlich immer häufiger Stellen findet, nach denen das Anagramm eher der TemuraPermutation zuzuschreiben wäre. In diesem Beitrag möchte ich zwei Hauptfragen nachgehen. Die eine ist historischer Natur: Wie kam es zur Reduktion der Kabbala auf eine ›harmlose‹ Wort- und Buchstabendreherei? Die zweite mutet eher metaphysisch an: Welche Erkenntnisse können aus der radikalen Manipulierbarkeit der Buchstaben als Bausteine der Offenbarung zur Erscheinung kommen? Aus historischer Sicht wurde die Manipulation der offenbarten Materialien, das heißt der Sprachelemente, im XVII. Jahrhundert zunehmend so sehr mit der Kabbala identifiziert, dass der Gelehrte Erycius Puteanus,7 ein Schüler des Justus Lipsius und des Federigo Borromeo,8 in seinem späten Werkchen Diatriba de anagrammaist interessant, dass es in der Jewish Encyclopaedia (1901) ein Lemma ›Anagramm‹ gibt, während das Thema in der ersten (1970) und zweiten (2006) Ausgabe der Encyclopaedia Judaica nicht mehr spezifisch behandelt wird. 5 Vgl. z. B. Isaac Broydé: Art. Anagramm, in: Jewish Encyclopaedia, Bd. I, New York 1901, 551. 6 Reuchlin unterteilt die Kabbala in Anlehnung an Joseph Gikatillas Ginnat Egoz bekannterweise als ars, d. h. als Technik, in drei Zweige: Gematria, Notarikon und Temura. Vgl. Johannes Reuchlin: L’arte cabalistica (De arte cabalistica), a cura di Giulio Busi e Saverio Campanini, (= Opus Libri), Firenze 1995. 7 Hendrik van den Putten oder auch Henry du Puis; 1574-1646. 8 Vgl. Roberta Ferro: Federico Borromeo ed Ericio Puteano. Cultura e letteratura a Milano agli inizi del Seicento, Accademia di S. Carlo. Fonti e Studi n. 6, Bulzoni, Roma 2007; Saverio Campanini: Federico Borromeo e la qabbalah, in: Studia Borromaica 16 (2002), 101-118. 4 Es

Die Diatriba de Anagrammatismo des Erycius Puteanus

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tismo 9 dieses Procedere als einen Bestandteil der Kabbala versteht (quae cabalae pars est).10 Als Zeichen dafür, dass der Status und die Natur der Kabbala vor allem, aber nicht nur unter den Christen nicht gesichert waren, hängte er dem kurzen Essay über Anagramme eine sehr kurze Einführung in die Kabbala (Cabale totius brevissi­ mum specimen) des Zisterzensiers Juan Caramuel y Lobkowitz (1606-1682) an, der sich damals in Leuwen auf hielt, bevor er nach Prag – in das Land seiner Vorfahren – und später nach Italien ging, wo er als Bischof von Vigevano starb. Diesen beiden gelehrten Übungen gelten im Folgenden unsere Überlegungen. Der Sohn des Erycius Puteanus, Justus Caecilius, berichtet in der Widmung (an Francois Jean de Robles, Graf D’Annappes), dass in jüngster Zeit häufig gegen das Briefgeheimnis verstoßen werde und Briefe beschlagnahmt, aufgemacht und durch Unberechtigte gelesen würden. Man müsse also entweder gar nicht schreiben (aut non scribere) oder »notis litterisque occultare«. Er präzisiert, es handele sich hier nicht um »de litteris commutandis«, das wäre eine »synthematica ratio«, sondern es gehe um die Verschlüsselung der Botschaften durch »transpositio«, die er dem Anagramm gleichsetzt. Die Unterscheidung stammt aus der Diatriba selbst, in der Erycius erwähnt, dass er der Commutatio (die er der Cryptographia zurechnet) bereits ein opusculum11 gewidmet habe und diesmal den »Anagrammatismum«, das heißt die Transpositio, behandeln wolle. Im zweiten Kapitel der Diatriba evoziert Puteanus’ Vater zahlreiche klassische Autoritäten wie Varro, Cicero und Quintilian, um die geeignetste Bezeichnung für die Anagramme zu erkunden. Er zählt folgende Synonyme auf: »Metagrammatismus, sive Anagrammatismus: latine: Traiecto, Transpositio litterarum vel, ut insolentiori utar voce, Tractatio«12 . Um dieses Wort in der Tradition zu verankern, verweist Puteanus auf Varros De lingua Latina mit seiner bekannten Einteilung der Mechanismen der Wortschöpfung, die auf die Poetik des Aristoteles und auf Platos Kratylos zurückgeführt werden kann: »litterarum Eryci Puteani De Anagrammatismo, quae cabalae pars est, Diatriba, Amoenitatis caussa scripta, utilitatis edita. Accedit Io. Caramuelis Lobkowitzi Brevissimum totius Cabalae Specimen. Cura ac Studio Iusti Caecili Puteani E[ryci] F[ilii] Patris permissu, Bruxellae 1643. 10 Fernand Hallyn: Puteanus sur l’anagramme, in: Humanistica Lovaniensia. Journal of NeoLatin Studies 49 (2000), 255-266. Hallyn bemerkt, man solle Puteanus nicht für einen Anhänger der Kabbala halten, weil er gleich auf der Titelseite »Amoenitatis caussa scripta« drucken ließ. Wenn man genau hinschaut, verbindet sich »amoenitas« hier aber mit »utilitas«. Bei der Verschlüsselung von Botschaften erweisen sich Anagramme als nützlich. Dennoch bleibt die Frage, warum Puteanus auf die Kabbala verweist. Vgl. vor allem Carlo Ossola: Les devins de la lettre et les masques du double. La diffusion de l’anagrammatisme à la Renaissance, in: Devins et charlatans au temps de la Renaissance, publ. par Marie Thérèse Jones-Davies, Paris 1979, 127-157; 140-143. 11 Es handelt sich um die Cryptographia Tassiana, Louvain 1627. Vgl. Théophile Simar: Étude sur Erycius Puteanus (1574–1646), Louvain/Paris/Brussels 1909. Vgl. auch Julianna Katona: Puteanus’ Crypto­g raphia Tassiana, in: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin Studies 49 (2000), 293-300. Die Rede ist von einem der vielen Vorträge, die in Leuwen-Antwerp, 7.-9. November 1996 gehalten wurden: Acta Puteanea. Proceedings of the International Colloquium. Erycius Puteanus (1574–1646). 12 Das heißt ›Manipulation‹: »Esse autem tractationem, cum tanquam manu litterae tenentur, et hic aut illuc transponuntur ac trajiciuntur«.  9

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Saverio Campanini

enim fit demptione aut additione, et propter earum tractationem [traiectionem13] aut commutationem.«14 Hier folgt unmittelbar ein Satz, der die Aufmerksamkeit einiger Forscher 15 auf sich gezogen hat und auch die unsere verdient. Der syntaktische Auf bau ist mehr als fragwürdig, aber die Intention des Autors erhellt sich mit den darauffolgenden Betrachtungen: »Praeterea, Barbaries, e Tractatione nasci hic fortasse solita, pro cultu sit, peregrinitas pro elegantia, significatio ipsa, quia nulla, pro energia.« »Außerdem sei der aus der Buchstabenvertauschung nicht selten entstehende Solecismus ein Ersatz für Raffinesse, die Seltenheit für die Eleganz und die Bedeutung, da sie nichtig ist, für die Lebendigkeit (oder Energie).«

Puteanus scheint drei in der Rhetorik ›negative‹ Qualitäten, die das Anagramm erzeugen kann, mit drei positiven zu vergleichen: Barbaries – cultus peregrinitas – elegantia nulla significatio – energia Der Sinn des Satzes ist aber, dass Anagramme zwar barbarisch, exotisch und bedeutungsfrei scheinen, aber gerade diese Eigenschaften in das Gegenteil umschlagen: Die Barbaries ist die eigentliche »cultus«, die »peregrinitas« ist die eigentliche Eleganz, und die Bedeutung, die den Nullpunkt erreicht, entfesselt die Energie des Wortes. Dies beweist der unmittelbar folgende Verweis auf Giovanni Pico della Mirandola: »Huc traho, quod Ingeniosus ille Picus Mirandula Disputationibus suis Magicis asserit, Thesi XXI: Nomina Barbara, et nihil significantia, plus habere efficacitatis.« »In diesem Sinne interpretiere ich die Behauptung des geistvollen Pico della Mirandola, der in seinen magischen Disputationen, Satz 21, schreibt: barbarische und bedeutungslose Namen sind umso effektiver.«

Eigentlich klingt die Conclusio 21 der Conclusiones magicae im Wortlaut anders: »Non significativae voces plus possunt in magia, quam significativae, et racionem conclusionis intelligere potest, qui est profundus ex precedenti conclusione.«16 Die 13 Puteanus liest »tractationem«, aber die Handschriftentradition hat auch die Variante »arctationem«. Er registriert auch die Konjektur »attractionem«, aber lehnt sie als sinnlos ab. Zu diesem Aspekt kann man auf Roland Grubb Kent: On the Text of Varro, De Lingua Latina, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 67 (1936), 64-82; 67 verweisen. 14 Vgl. auch Pieter A. M. Seuren: Western Linguistic. An Historical Introduction, Oxford 1998, 11 f. 15 Vgl. Giovanni Pozzi: La parola dipinta, Milano 1981, 90. Stefania Sini: Figure vichiane. Retorica e topica della Scienza nuova, Milano 2005, 310. 16 Hier folgt der Wortlaut der Conclusio XX : »Quaelibet vox virtutes habet in magia, in quan­t um Dei voce formatur.«

Die Diatriba de Anagrammatismo des Erycius Puteanus

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Quelle muss also indirekt sein: Schon Martín Antonio Delrío zitiert die These in seinen Disquisitiones magicae 17 in dieser Form und später auch Hugo Hermann in seinem De prima scribendi origine.18 Da aber keiner der beiden Autoren so genau auf die conclusio 21 verweist, muss der Ursprung dieser Reformulierung der These noch älter sein. Wie dem auch sei: Wir erhalten aus dieser Stelle den Verweis auf die Magie der Anagramme und die Idee, dass der Verzicht auf Sinn durchaus energetisch wirken kann.19 Obwohl bereits im Titel der Diatriba betont wurde, dass Anagramme als Teil der Kabbala zu verstehen seien, bleibt der Beitrag des Puteanus zu diesem Thema ziemlich dürftig: Neben dem Verweis auf Pico findet man nur das bekannte und sicherlich nicht kabbalistische Beispiel des Wortes Sheshak 20 als Babel, wie bereits Hieronymus erklärt hatte. Gerade das ist aber ein perfektes Beispiel einer »commutatio« und nicht einer »transpositio«. Puteanus scheint sich darüber im Klaren zu sein, wenn er bemerkt: »nisi potius Metathesis sit«.21 Beispiele aus dem biblischen Text würden sich durchaus anbieten, man denke nur an das berühmte Anagramm Noach/Chen 22 (‫חן‬/‫)נח‬, aber Puteanus scheint eher daran interessiert zu sein, den klassischen Ursprung der Anagramme zu belegen, und verweist auf den hellenistischen Dichter Lykophron. Auch für die Isopsephie (Manipulation oder Gleichsetzung von zwei Worten aufgrund des gleichen Zahlenwertes) zitiert er Beispiele aus der klassischen Antike (Artemidorus). Mit Verweis auf Eustathius zeigt er dann, dass selbst Homer Anagramme kannte und darauf hindeutete, wie das bekannte Beispiel Thea leukolenos Hera aus dem ersten Buch der Ilias zeigt. Eustathius kommentierte Hera o aer, was Autoren wie Cicero oder Makrobius weiter tradierten. Eine Zusammenfassung der Paradoxien des Anagramms und der Nützlichkeit dieser literarischen Form für die »anständige Dissimulation« verdient es, vollständig zitiert zu werden: »Qui peregrinari solent, aliam saepe sumunt faciem, ut ignoti sint, aliam vestem, ut viles sint, aliam fortunam, ut tuti sint. Nomen mutare, et non mentiri, securitatis tessera est. An mutare? Tuum est, quod non tuum, in proprio peregrinum, in peregrino proprium: eisdem litteris, alia structura, iisdem membris, alio corpore: quod si inspicias, et ad examen syllabarum voces, te tibi, et quasi per ludum, repraesentabit.« 23 17 Martin Antonius Delrío: Disquisitionum magicarum libri sex, J. Pillehotte, Leuwen 1604, lib. I, cap. IV, Quaest. III, 43. 18 Hugo Herman SJ: De prima scribendi origine et universa rei litterariae antiquitate, Antwerpen 1617, 177. 19 Energia könnte hier das Ergebnis einer Verwechslung mit ›enargia‹ sein. Weil dies möglich, aber nicht bereichernd ist, könnte man nicht ganz ernst vermuten, dass die zwei Begriffe ›energia‹ und ›enargia‹ von Anfang an nur zum Zweck der Verwechslung eingeführt wurden. 20 Jer. 25. 21 Puteanus: Diatriba [Anm. 5], 13. 22 Das heißt ›Gnade‹. 23 Puteanus: Diatriba [Anm. 5], 23.

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»Diejenigen, die oft verreisen, verändern häufig ihr Gesicht, um nicht erkannt zu werden, ziehen andere Kleider an, um nicht aufzufallen, verraten ihren Stand nicht, um sicher zu sein. Aus Rücksicht auf Sicherheit kann man seinen Namen ändern, ohne dabei zu lügen. Aber ist das wirklich eine Änderung? Die uneigentliche Form gehört doch Dir, fremd im Eigenen, eigen im Fremden. Mit den gleichen Buchstaben, anders aufgebaut, ein anderer Körper mit denselben Gliedern. Wenn Du genau hinschaust und die Silben überprüfst, zeigt dich dieser Name Dir selbst, fast spielerisch.«

Darauf folgt eine als »Album« bezeichnete Liste von Namen in Form von Anagrammen. Es handelt sich dabei um die Namen von literarischen Freunden des Puteanus, die aus Sicherheitsgründen natürlich nicht entschlüsselt werden. Auch hier vermischen sich ernsthafte Überlegungen zum Briefgeheimnis mit einem Gesellschaftsspiel. Eine übersichtliche Auflistung der Fakultäten der Zahlen von eins bis zwölf und der Fakultät der Zahl 24, die der Anzahl der Buchstaben entspricht und als Vollendung verstanden wird, stellt die Zahl der möglichen Permutationen technisch dar. Da nicht nur Buchstaben, sondern auch Silben permutiert werden können, verweist Puteanus auf die Methode, die er bereits auf den Vers Tot tibi sunt dotes, Virgo, quot sidera caelo, des Jesuiten B. Bauhuis angewendet hatte. Auf diesen Vers werden wir zurückkommen müssen. Mit einer Peroratio, die noch einmal die Doppelbödigkeit des Anagramms verteidigt, endet die Diatriba gnomisch:24 »usus et lusus, amoenus et serius«. Als ob der Herausgeber Puteanus jr. das Bedürfnis nach einer tiefer eingehender Bearbeitung der Kabbala verspürte, überließ er diesen Teil, wie erwähnt, dem Juan Caramuel y Lobkowitz 25 und seinem Specimen totius cabalae, mit dem das Buch schließt. Das Werkchen beginnt mit einem auf den 26. Juni 1642 datierten Brief Caramuels an Erycius Puteanus, der die u.a. der Astronomie gewidmeten Werke des Puteanus mit den Sternen vergleicht. Ihnen fehle nur die Bewegung (motus), die sich aber aus der Cryptographia Tassiana und der Diatriba ergebe, in denen er die Gesetze des Anagramms ergründet habe. Mit der für ihn gewöhnlichen, ja typischen Paradoxie schreibt Caramuel, dass das Anagramm »patuit et latuit«. Es war also verbreitet, doch hatte noch niemand seine tiefen Gesetze ergründet. Puteanus verdiene die Bezeichnung »Romanus Cabalista«, weil »quicquid Hebraice olim Mecubalimi,26 jam Latine tradis«.27 Puteanus sei sogar den Kabbalisten überlegen, 24 Ebd.,

53. Caramuel und der Anagrammatik siehe auch Stefano Bartezzaghi: Combinazioni segrete e figure di parole. La Metametrica di Caramuel e l’impossibile storia dell’enigmistica, in: Engramma 54 (2007), http://www.engramma.it/engramma_revolution/55/055_saggi_bartezzaghi.html. 26 Sic für »mecubbalim«, Transkription des Hebräischen ‫מקובלים‬, Bezeichnung für die Anhänger der Kabbala. 27 Puteanus: Diatriba [Anm. 5], 65. 25 Zu

Die Diatriba de Anagrammatismo des Erycius Puteanus

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weil er obskure Zusammenhänge erkläre, während es ihnen nur gelungen sei, eindeutige Sachverhalte zu verdunkeln. So entzieht sich Caramuel der schwierigen Frage nach der Ähnlichkeit zwischen dem, was die Juden seit eh und je taten, und dem, was Puteanus jetzt systematisiert. Die sehr kurze Einführung zerf ällt in sieben Kapitel. Im ersten Kapitel behauptet Caramuel, dass die Juden sich nach der traditionellen Einteilung in Nominalisten und Realisten dem Nominalismus verschrieben hätten.28 Die cabala koinzidiert für Caramuel mit der »Theologia Hebraea« und wird auf die Wurzel QABAL zurückgeführt, das heißt »accipere, auscultare«. Interessanterweise vergleicht Caramauel die mündlich tradierte Kabbala mit der Physik des Aristoteles (De physico auditu) und der Regel des hl. Benedikt (Ausculta fili praecepta magistri) und steht damit in Einklang mit der Definition der Kabbalah als »scientia de divino auditu«, die Guy Le Fèvre de La Boderie vorgeschlagen hatte.29 Die »Theologia Hebraeorum« zerf ällt, laut Caramuel, in sechs Facultates, die erstaunliche Namen tragen: Transmaterializatio, Transformatio, Transfiguratio, Transpositio, Transpunctio, Transnumeratio. Die Erklärung der Facultates beginnt im zweiten Kapitel. Die Transmaterializatio (auf Hebräisch ‫ )קריאת ראשי תבות‬sieht er in Anlehnung an Reuchlin als Teil des Notarikon. Hinter der pompösen oder geheimnisvollen Terminologie verberge sich die einfache und verbreitete Technik der Verschlüsselung durch Abkürzung, wie das lateinische Beispiel DOM für »Deo Optimo Maximo« verdeutlicht, das Caramuel als Beweis dafür anführt, dass die Römer die Juden nachahmten. Das dritte Kapitel behandelt die »Theologia transformativa«, hebräisch ‫תאר‬ (Thoar). Sie ist für Caramuel die Aufteilung eines Wortes in Silben, aus denen man neue, kürzere Worte gewinnt. Caramuel verweist für dieses Modell der Kabbala auf ein »Apparatus revelationum Iesu Christi«, der kurz zuvor erschienen sei 30 und die besten Erklärungen und Beispiele für diese Technik enthalte. Er meint den 1607 in Amsterdam erschienenen Apparatus in Revelationem Iesu Christi von William Alabaster, in dem die Cabala als bloße31 Buchstabenmanipulation präsentiert wird. 28 »Soli

examini litterarum insudant, in quibus arcana curiosissima inveniunt«; Puteanus: Diatriba [Anm. 5], 67. 29 Caramuel verweist auf Dictionarium Syro-Chaldaicum, Plantin, Antwerpen 1573,

2: ‫ אבנא‬ab ‫אבן‬... Caeterum apud peritos scientiae de divino auditu quos ‫ מקובלים‬vocant, ‫אבן‬ significat ‫ אב‬Patrem, et ‫ בן‬Filium uno complexu, ad ostendendum Patris et Filij unitatem in essentia. Tres autem literae, tres hypostases in una οὐσία demonstrant. Die Definition liest man auch in dem Dictionarium Syro-Chaldaicum, cit., S. 167: » ‫[ קבל‬...] Secundo Accepit, recepit, suscepit. Iud. 5 et 13. Inde ‫ קבלה‬et ‫ קבול‬Scientia de divino audito, quam vulgo Cabalam vocant. et ‫ קבלן‬Peritus eius scientiae, idem ‫מקובל‬, et in plurali ‫מקובלים‬, Mecuba ­laei, Cabalistae, in Tishbi.«

Auch in der Galliade, ou la révolution des arts et des sciences, Paris 1578, 3v (am Rande), liest man: »‫ קבלה‬Cabalah signifie Tradition et Reception: c’est la Science Acroamatique ou de l’ouye«. 30 »A paucis annis publicatus.« 31 Alabaster schreibt: »Hanc ocultam fuisse disciplinam scribunt Mosi a Deo inspiratam, per quam interni scripturarum sensus aperiantur, sed totam pene illius scientiam amiserunt, et breves tantum lacinias hodie ostendunt«; vgl. Apparatus in Revelationem Jesu Christi, Antverpiae 1607, 6.

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Caramuels Abhängigkeit von dieser Quelle geht so weit, dass er nicht nur deren Theorie, sondern auch deren Beispiele wörtlich zitiert.32 Die im vierten Kapitel behandelte »Theologia transfigurativa« entspreche der ‫( תמורה‬Temura) (allerdings transkribiert Caramuel Thamira, was belegt, dass sein Hebräisch an diesem frühen Zeitpunkt seiner Karriere als Hebraist unsicher war). Die bereits von Puteanus angegebene Stelle aus Jer 25,26 wird als Beispiel dafür interpretiert. Johannes Trithemius, den Caramuel gegen den Vorwurf der schwarzen Magie verteidigen konnte,33 sei ein Nachahmer dieser Technik. Auf ihrer Grundlage basiere jegliche Kryptographie. Als Herausgeber der Steganographia des Trithemius wusste Caramuel sehr gut, dass die besten Kryptogramme diejenigen sind, die der unbefugte Leser gar nicht als solche erkennen kann und daher nicht zu entschlüsseln versucht. Erst im fünften Kapitel »Theologia transpositiva«, auf Hebräisch ‫( תשומת‬Thescumeth) werden die herkömmlichen Anagramme behandelt. Nach der Meinung der Hebräer hätten alle Wörter, die aus denselben Buchstaben bestehen, eine sinnverwandte Bedeutung.34 In Caramuels Augen ist das ein Beweis dafür, dass die hebräische Sprache anders als die lateinische oder griechische, bei Anagrammen immer ein Analogieprinzip behalte. Dies mache ihre überlegene Schönheit aus.35 Schließlich verkündet er, er wolle ein »Lexikon rationale« der hebräischen Sprache schreiben, das die Einzelbuchstaben mit ihrem semantischen Wert auflistet und so zeigt, dass die Buchstaben bei einem Anagramm zwar verändert (alterari), aber nicht tiefgreifend verwandelt (mutari) oder gar aufgehoben (tolli) würden. Das vierte Kapitel behandelt die »Theologia transpunctiva« (‫)מסרת‬, die Masoreth. Caramuels Quelle ist im Wesentlichen Elia Levita. Es geht um eine intrinsische Eigenschaft des Hebräischen:36 Da die Vokale gewöhnlich nicht geschrieben werden, erlaubt eine Konsonantenstruktur mehrere Vokalisierungen und daher auch mitunter entscheidende Bedeutungsveränderungen. An den drei Buchstaben der Wurzel ‫ דבר‬zeigt Caramuel, welch unterschiedlichen Bedeutungen man durch Vokalkombinationen bzw. Permutationen erreichen kann. Seine Abhängigkeit von Levita wird auch daran deutlich, dass er die Vokalzeichen als »inventa iuniorum« bezeichnet. Das siebte und letzte Kapitel behandelt die »Theologia transnumeratoria« oder ‫ גמטאריא‬Gimatria. Auch hier bezieht sich Caramuel auf Elia Levita, indirekt ge32 Zum

Beispiel Adam als Abkürzung von Anatole, Dusis, Arctos, Mesembria. Jahre 1635 in seiner kommentierten Ausgabe der Steganographia. 34 »Omnia sancti idiomatis verba, quae eisdem constantur litteris, habent analogam significationem.« Als Beispiel hierfür bietet Caramuel die Wurzel ‫( שער‬mensurare vel re cogitatione) und analysiert kurz die sich aus der Permutation ergebenden Formen: ‫רשע‬, ‫רעש‬, ‫ערש‬, ‫עשר‬, ‫שרע‬. Der Ursprung könnte im Pardes Rimmonim (23,20; Ausg. Lemberg 1862, 155v) des Moses Cordovero liegen, obwohl gerade dieses Anagramm sehr verbreitet ist. 35 »Pulchrior omnino est vocum Hebraicarum syntaxis: utpote analogia perenni praedita«; vgl. Puteanus: Diatriba [Anm. 5], 78. 36 Allerdings auch vieler anderer Sprachen, vor allem der sogenannten semitischen Sprachgruppe. 33 Im

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kannt aus dem Dictionarium Syro-Chaldaicum von Guy Le Fèvre de la Boderie, das im Apparatus des Polyglotta von Ch. Plantin veröffentlicht wurde. Aus dieser Quelle stammt die Aussage, das Wort gimatria komme aus dem Griechischen und bedeute supputatio oder numerus.37 Als Beispiel 38 nennt Caramuel den Namen des Engels Metatron, der mit dem göttlichen Namen Shadday gleichgesetzt werde, weil beide Namen den Zahlenwert 314 haben. Am Ende dieses Beitrages werden wir auf den Namen Metatron und seine exegetische Äquivalenz mit einem Namen Gottes zurückkommen müssen. Das Werk endet mit einem Verweis auf Offenbarung 13, wo die Zahl der Bestie (666) genannt wird. Caramuel suggeriert, dass Johannes diese Technik benutzte, um diesen Namen zu verschleiern und trotzdem zu vermitteln. Nach diesem ersten Beitrag, der dürftige Hebräischkenntnisse offenbart und dessen kabbalistische Informationen fast ausschließlich aus der Sekundärliteratur stammen, wird sich Caramuel mit einem interessanten Urteil (Iudicium) über die hebräische Übersetzung weiterer Teile der Summa contra gentiles des Thomas von Aquin durch Joseph Ciantes (die ihrerseits den tadellosen, aber komisch anmutenden hebräischen Titel trägt: ‫קיצור נגד הגויים‬, Kitzur neged ha-goyim), die im Jahre 1657 in Rom erschien,39 als ein Kenner des Gebietes ausweisen. Dieser Text erschien auch separat in Buchform und vor einigen Jahren sogar auf Hebräisch.40 Ciantes war auch der Autor von zwei apologetischen Traktaten, die die Wahrheit des Christentums, insbesondere der Trinitäts- 41 und Inkarnationslehre,42 aus kabbalistischen Materialien zu beweisen suchten oder – nach den neuesten Meinungen in der Fachliteratur – die traditionellen christlichen Lehren gegen die Kabbala verteidigten.43 In seinem Iudicium setzt Caramuel mehr als vierzig Jahre vor Johannes Wachters Der Spinozismus im Judenthumb die Kabbala unvermittelt mit dem Atheismus 37 Dictionarium

Syro-Chaldaicum (Anm.28), cit., 35. via Guy Le Fèvre de La Boderie (Dictionarium Syro-Chaldaicum, cit., 115) aus dem Tishby von Elia Levita. 39 Yosef Schwartz: »On Rabbinic Atheism«. Caramuel’s Critique of Cabala, in: Juan Caramuel Lobkowitz. The Last Scholastic Polymath, ed. by Peter Dvorˇ ák, Jacob Schmutz, Prague 2008, 129145. 40 Juan Caramuel Lobkowitz: ‘Al ha-atheism shel ha-rabbanim. On Rabbinic Atheism, translated from the Latin with Introductions by Marcel-Jacques Dubois, Avital Wohlman, Yosef Schwartz, Jerusalem 2005. Zur Frage des Atheismus siehe auch Yosef Schwarz: Kabbala als Atheismus. Die Kabbala Denudata und die religiösen Krise [sic] des 17. Jahrhunderts, in: Morgen Glantz 15 (2006), 259-284. 41 Joseph Ciantes: De sanctissima Trinitate, ex antiquorum Hebraeorum testimonijs evidenter comprobata, Discursus, Romae 1667. 42 Joseph Ciantes: De sanctissima Incarnatione, clarissimis Hebraeorum Doctrinis ab eorundem argumentorum oppositionibus evidenter defensa, Discursus, Romae 1668. 43 Vgl. Laszlo Toth: Joseph Ciantes kabbaliste chrétien tardif ? La doctrine oubliée des »trois lumières primordiales« et celle des sephirot, »préfiguration des plus grand mystères chrétiens«, in: Documents oubliés sur l’alchimie, la kabbale et Guillaume Postel offerts à François Secret à l’occasion de son 90e anniversaire, publ. par Sylvain Matton, Genève 2001, 278-351. 38 Übernommen

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gleich. Dieser Text, den Yosef Schwarz ausführlich analysiert hat, zeigt, dass seine Kabbala-Lektüren sich in der Zwischenzeit sehr erweitert hatten. Er kennt unter anderem den Zohar-Kommentar Imre Binah des Issachar Bär ben Mosheh Petachia, der im Jahre 1611 in Prag erschien. Ich werde mich auf einen anderen Text konzentrieren, den die gelehrte Literatur meines Wissens bisher nicht beachtet hat. Caramuel legte auch in der Mathesis biceps erneut eine kurze Darstellung der Kabbala vor (inertia ab Hispanis Rabbinis inventa), äußerte aber bei dem Nachdruck des Brevissimum Specimen im Calamus primus44 eine besonders interessante Theorie über die Kabbala, die uns vielleicht gestattet, die Evolution der Kabbala von scientia über ars bis zu inertia/metametrica zu rekonstruieren. Nur dort spricht Caramuel von den drei Sorten der Kabbala. Dabei bedient er sich eines alten Kunstgriffs der Apologetik, der Homonymie. Zwei dieser drei Arten seien schlecht und müssten verdammt werden (damnandae), und nur eine sei gut: »… tres esse apud Hebraeos Cabalas: Liberalem, Coelestem, Thaumaturgicam, omnes vocari theologicas: primam laudari ab universis, secundam, tertiamque condemnari«. Einzig die »Metametrica«, eine fromme exegetische Technik, die aus der Orthographie des biblischen Textes erbauliche Interpretationen ableite und in Einklang mit dem Stil der Propheten stehe,45 verdiene Lob. Die Cabala caelestis handle von den Sefirot und sei rein spekulativer Natur,46 während die Thaumaturgica verspreche, durch kunstgriffartige Transformation der biblischen »voces«47 magische und prophetische Wirkungen zu erzielen. Dieser Teil des Calamus, der die apologetischen Ausführungen des Pico della Mirandola erweitert, schließt mit dem Nachdruck unseres Specimens und einer noch kürzeren allgemeinen Einführung in die Kabbala. Da dieser Beitrag seinem Ende näherkommt, möchte ich in Anlehnung an den Titel den Aspekt der Erschöpfung kurz streifen. Wie bereits erwähnt, hatte Ery44 Dazu

kann man auch auf Arturo Martone: Juan Caramuel o dell’ingegno metametrico, in: Studi filosofici 24 (2001), 107-144 verweisen. 45 Dieses und die nächsten beiden Zitate stammen aus: Juan Caramuel: Primus Calamus ob oculos ponens Metametricam, quae variis currentium, recurrentium, adscendentium, descendentium, nec-non circumvolantium versuum ductibus, aut aeri incisos, aut buxo inscultos, aut plumbo infusos, multiformes labyrinthos exornat, Roma 1663; 10-11: »Prima est quaedam Metametrica Hebraea: intra Sacrae Scripturae terminos ingeniose discurrens: quae Orthographica literas Sacri Codicis perpendet et numerat, finales distinguit a caeteris, inversas notat, et inde mysteria sobrie et religiose deducit. Qua Steganographica [...] Arithmetica [...] (a Rabbinica nominatur Geometrica) [...] Grammatica [...] Rythmica [...] Metrica [...] Metametrica [...] Haec etiam agit de Anagrammatibus, in quibus recondita eruditio invenitur, et pulchrae interdum transfigurationes resultant. Qua Logica argumentandi modos, quibus Prophetae usi sunt, imitatur; et qua Philosophica de rerum essentiis et passionibus disserit, argumento ab Etymologia et nominum natura desumpto.« 46 »Secunda tota est in ‫ ספירות‬Saphiris noscendis, nominandis, exponendis, et dilucidandis; agit de ‫ אין סוף‬infinito Numine, et est pure speculativa, nec pertinet ad operationem. Coelestis dicitur, quod Rabbinorum opinione Saphirae hae Peripateticis Intelligentiis Caelorum Motricibus respondere videantur.« 47 »Tertia prodigia patrat, putatque voces Biblicas habere vim, non solum praeservandi homines, aut etiam liberandi a morbis, sed etiam excitandi a mortuis. Iubet haec Umbris, ut oculta revelent, et praedicant futura.«

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cius Puteanus noch vor der Diatriba in seinen Thaumata48 über den Proteus-Vers 49 »Tot tibi sunt dotes, Virgo, quot sidera coelo des Jesuiten Bernhard Bauhuysen« 50 (Bauhausius)51 eine Probe von den Höhen gegeben, die die barocke Leidenschaft für Anagramme erreichen konnte. Puteanus variierte diesen Vers über die Gaben der Jungfrau, die (mindestens) so zahlreich wie die Sterne in den Himmeln seien, entsprechend der Zahl der Sterne im Almagest 1022 mal, ohne gegen die Metrik oder die Syntax zu verstoßen. Sieht man einen Augenblick von der Erbaulichkeit oder gar der Pietät ab, bleibt dieses kombinatorische Problem für die Mathematik so lange interessant, bis man zeigen kann, dass alle Möglichkeiten der Permutation erschöpft sind. Die Zahl der Permutationen ist nämlich eine bestimmte (oder bestimmbare), in jedem Fall aber endliche Zahl. Bereits Puteanus hatte das begriffen und deshalb wies er gewisse Kombinationen nach dem Muster »Sidera tot caelo, Virgo, quot sunt tibi dotes« zurück, um die Gaben der Jungfrau nicht nach oben einzuschränken.52 Tatsächlich interessierten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts viele Mathematiker für das sogenannte »Tot-tibi«-Problem. Ich kann hier nur kurz und in Anlehnung an das (für mich erhellende) Werk des Donald Ervin Knuth 53 die Hauptetappen dieser Geschichte erwähnen: Im Jahre 1666 zitierte der damals 19jährige Leibniz in seiner Dissertatio de arte combinatoria den Proteus-Vers und warf die Frage auf, wie man die Zahl der sinnvollen Möglichkeiten bestimmen könne. Jean Prestet schlug in seinen Éléments des Mathématiques54 vor, man könne aus diesen Elementen maximal 2196 Hexameter erzeugen. Später bemerkte er, dass er sich verzählt hatte, und 55 korrigierte die Zahl in den Nouveaux éléments des Mathématiques auf 3276. In der Zwischenzeit hatte John Wallis in seinem Discurse of Combinations,56 Nachtrag zu seinem Treatise of Algebra, erklärt, warum die richtige Zahl der möglichen Kombinationen 3096 sei. In einer wahrscheinlich der Feder des Leibniz entstammenden anonymen Rezension in den Acta eruditorum57 gab der Rezensent seinerseits ohne Begründung an, die richtige Zahl der mögliche Verse belaufe sich auf 2580. Erst Jakob Bernoulli erklärte in seiner Antrittsvorlesung als Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Basel die Beschaffenheit des Problems und den 48 Eryci

Puteani Pietatis Thaumata in Bernardi Bauhusi e Societate Iesu Proteum Parthenium, unius Libri Versum, unius Versi librum, Stellarum numero, sive formis MXXII variatum, Antverpiae 1617. 49 Für die Definition vgl. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri VII , Lyon 1561, lib. 2, kap. 30. 50 Vgl. auch James J. Mertz, John. P. Murphy, Jozef Ijsewijn: Jesuit Latin Poets of the 17th and 18th Centuries. An Anthology of Neo-Latin Poetry, Mundelein (Ill.) 1989, 61-67. 51 Siehe auch Mario Praz: Studies in Seventeenth Century Imagery, Second Edition Considerably Increased, Roma 1964, 20; Giovanni Pozzi: La parola dipinta, Milano 1981, 267-268. 52 Puteanus: Thaumata [Anm. 47], cit., 103. 53 Donald E. Knuth: The Art of Computer Programming, Vol. 4: Generating all trees. History of Combinatorial Generation, fasc. 4, Upper Saddle River (New Jersey) 2006, 62-65. 54 Jean Prestet: Éléments des Mathématiques, Paris 1675, 342-438. 55 Jean Prestet: Nouveaux éléments des Mathématiques, Paris 1689, 127-133. 56 John Wallis: Discurse of Combinations, London 1685, 118-119. 57 Acta eruditorum 5, Leipzig 1686, 289.

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richtigen Lösungsansatz. Er bestimmte die Zahl der möglichen Kombinationen mit 3312.58 Für Nicht-Mathematiker ist es besonders interessant, dass gleich zwei Autoren auf unterschiedliche Weise versucht haben, diese wirre Geschichte zu klären: W. A. Whitworth und W. E. Hartley in The Mathematical Gazette 59 kamen mit voneinander unabhängigen Ansätzen zu dem Schluss, dass alle bisherigen Kalkulationen falsch seien und es 2880 sinnvolle Lösungen gebe. Knuth zeigt allerdings, dass sich beide täuschten und nur die Lösung Bernoullis richtig ist. So viel zu diesem kuriosen Aspekt und zur Erschöpfung. Als dubiosen Trost kann man vielleicht hinzufügen, dass Robert Burton in seinem großen Werk über die Melancholie, dessen letzte korrigierte Ausgabe posthum 1651 erschien, ausgerechnet die Beschäftigung mit unserem Thema als einen möglichen Heilungsweg für Melancholiker erwähnt. Wie immer bei Burton stellt sich aber die Frage, ob diese Medizin dem Patienten nicht eher den Rest zu geben droht: »Or let him that is melancholy calculate spherical triangles, square a circle, cast a nativity [...] or let him make an ephemerides, read [...] Scaliger de emendatione temporum, and Petavius his adversary, till he understands them, peruse subtile Scotus and Suarez metaphysicks, or school divinity, Occam, Thomas [...] If those other do not affect him, and his means be great, to imploy his purse and fill his head, he may go find the philosophers stone; he may apply his mind, I say, to heraldry, antiquity, invent impresses, emblems, make epithalamiums, epitaphs, elegies, epigrams, palindroma epigrammata, anagrams, chronograms, acrosticks upon his friends names, or write a comment [...] upon Aelia Laelia Crispis, as many idle fellowes have assayed, and rather than do nothing, vary a verse a thousand waies with Putean, so torturing his wits.« 60

Um nur ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert anzuführen: Trotz der Studien Jean Starobinskis61 ist man bis heute nicht sicher, ob Ferdinand de Saussure, der in seinen letzten Jahren Tausende von Seiten mit Anagrammen füllte, seinen Geisteszerfall damit verlangsamte oder beschleunigte. Ein anderer Aspekt der »Erschöpfung« des Modells einer auf Anagramme reduzierten Kabbala wurde bereits in den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts ausgetragen, wie ich andernorts zeigen konnte.62 Die Debatte zwischen dem Mathematiker 58 Die Beweisführung erschien erst posthum in der Erstausgabe der Ars Conjectandi, Impensis Thurnisiorum fratrum, Basel 1713, 79-81. Sie war allerdings nicht für die Publikation bestimmt und wurde in den späteren Ausgaben der Werke des Bernoulli gestrichen. Vgl. Die Werke von Jakob Bernoulli, Bd. III, Basel 1975, 78, 96-106, 154-155. 59 In: The Mathematical Gazette 2 (1902), 227-228. 60 Robert Burton: Anatomy of Melancholy, London 1836, 358 (ed. 1651, 185). 61 Jean Starobinski: Les mot sous les mots. Les anagrammes de Ferdinand de Saussure. Essai, Paris 1971. 62 Saverio Campanini: Eine späte Apologie der Kabbala: Die Abdita divinae Cabalae myste-

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und Philosophen Georgius Raguseus, die einerseits von Marin Mersenne als AntiKabbalisten und andererseits von Jacques Gaffarel63 und Robert Fludd 64 als ProKabbalisten unterstützt und postum verteidigt wurden, kreist im Wesentlichen um die Beliebigkeit oder Willkür der Anagramme. Der Haupteinwand der Gegner lässt sich nach der klassischen philosophischen Terminologie, die sich an die von Cusanus ins Positive gewendete Kritik des Aristoteles an Anaxagoras anlehnt, auf die Formel »quodlibet in quolibet« bringen, die wir in unserem Zusammenhang als »Alles erscheint überall« übersetzen können. Um die kabbalistische Tüftelei vernichtend darzustellen, hatte Raguseus geschrieben: »Porro, ut de literarum transpositione dicamus, attende quaeso, quam absurda Deo adscriberemus, si eius nominum literas transponere nobis liceret. Namque ‫ אל‬Deum significat ‫ לא‬non Deum, ‫ שדי‬omnipotentem ‫ ידש‬impotentem, ‫ ברא‬creatorem ‫ארב‬ insidiatorem, ‫ מלך‬regem, ‫ כלם‬vituperatorem.« 65

Gaffarel verteidigt die Kabbala und das »quodlibet-in-quolibet«-Prinzip mit dem Entwurf einer entsprechenden Hermeneutik: Die Beispiele von Raguseus seien so schlecht gewählt, dass man gerade anhand ihrer zeigen könne, dass Anagramme keine Widersprüche erzeugen könnten, weil die Bedeutung nicht von den Wörtern, sondern von den Buchstaben getragen würde. Gaffarel widmet seine Apologie dem Kardinal Richelieu und spielt im Widmungstext auf den Vornamen des Kardinals (Armand) und seine hebräische Entsprechung Armon, (‫ )ארמון‬das heißt Palast, an. Aus demselben Kreis stammt der Konvertit Philippe d’Aquin, der in der Widmung seines Dictionarium absolutissimum (162966) ein komplexes Anagramm nach demselben Muster als Lob Richelieus veröffentlicht und das Wort »Anagramma« erneut mit Temura (‫ )תמורה‬übersetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Kabbala wird schon am Anfang des 16. Jahrhunderts auf eine Technik reduziert. Während Pico della Mirandola noch von einer »scientia« und damit in seiner Begrifflichkeit von einem Teil der Offenbarung sprach, konnte und wollte der selbst in einen Prozess verwickelte Reuchlin nichts riskieren und wich auf »ars« aus. Das Äußerste, was man aus der faszinieria des Jacques Gaffarel, in: Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, hg. von Thomas Frank, Ursula Kocher, Ulrike U. Tarnow, Göttingen 2007, 325-351. 63 Jacques Gaffarel: Abdita divinae Cabalae mysteria, Paris 1625. 64 Robert Fludd: Summum Bonum quod est verum Magiae, Cabalae, Alchymiae verae, Fratrum Raseae Crucis verorum Subjectum, in dictarum scientiarum laudem, et insignis calumniatoris Fratris Marini Mersenni dedecus publicatum, Frankfurt 1629. 65 Giorgio Raguseo: Epistolarum mathematicarum seu de divinatione, Paris 1622, 362 f. 66 Philippe D’Aquin: Dictionarium absolutissimum complectens alphabetico ordine, et facili methodo omnes voces Hebraeas, Chaldaeas, Talmudico-Rabinicas, quae in reliquis, quae uspiam sunt, Dictionariis extant, innumerasque alias quae a nullo lexicographo sive Christiano, sive Iudaeo hactenus observatae sunt, variarum praeterea legis caeremoniarum, sententiarum ac locorum difficiliorum in Rabinorum et Cabalistarum libris passim occurentium explicationem, necnon compendia scribendi, se abbreviaturas omnes Hebraeorum, Paris 1629.

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renden, aber auch gefährlichen Kabbala retten konnte, war eine hermeneutische Technik. Als Preis musste man immer größere und bedeutendere Teile fallenlassen. Zuerst die schwarze, d. h. falsche oder dämonische Kabbala, dann aber auch, wie bei Caramuel, die scientia sephirot. Nichtsdestotrotz birgt sogar die Reduktion der Kabbala auf vermeintlich harmlose Wortspielereien immer noch eine große Gefahr, die der späte Caramuel genau erkannte, nämlich die Gefahr des Atheismus. Für die Kodierung ist es von Vorteil, dass die Buchstaben bei ihrer Entzifferung auch einen nicht intendierten Sinn erzeugen können; für jede normative Aus­ legung der Intentionalität der verschriftlichen Offenbarung stellt das eine radikale Gefahr dar. Außerdem setzt gerade die Vernichtung der Bedeutung eine schöpferische Energie (significatio quia nulla pro energia) frei. Dies mag erklären, warum viele barocke Autoren diese Art der sprachlichen Dynamisierung als anregend bejahten. Andererseits führt die Anagrammatik in mathematischer Gestalt zur Erschöpfung der Varianten oder gar zur Erschöpfung der Debatte, wie zwischen Raguseus und Gaffarel oder zwischen Mersenne und Fludd, weil die gemeinsame Basis für eine fruchtbare Diskussion völlig verlorengegangen ist. Man kann aber die Paradoxie der Anagramme noch um eine Stufe weiterspinnen, wenn man fragt, ob das Anagramm ein Teil der Gematria (d. h. ein Sonderfall der Isopsephie) oder eher ein Sonderfall der Temura (Permutation) ist: Gibt es eine Möglichkeit, dass Transformatio und Transpositio koinzidieren? Wenn man sich strikt an die Vorschriften des Sefer Jezira hält, nach denen jeder Buchstabe durch alle anderen, aber nicht durch sich selbst ersetzt werden darf, sollte diese Möglichkeit ausgeschlossen sein. (Andererseits lässt sich nach Reuchlin jeder Buchstabe in der kompletten Temura mit 22 und nicht, wie zu erwarten, mit 21 Alphabeten ersetzen). Dies führt zu dem furchterregenden Ergebnis eines Anagramms, das mit dem Ausgangsvers koinzidiert, da das alphabetische Rad einen vollendeten Kreis beschrieben hat. So wäre das ultimative Anagramm die allereinfachste Wiederholung des Themas, aber die bloße Tatsache, dass sie jetzt das Ergebnis einer radikalen Temura ist, ändert unsere Wahrnehmung des Themas und das heißt unsere Wahrnehmung des biblischen Textes, der »litera« der Offenbarung, auf unsagbare Weise. Die paulinische Behauptung, nach der der Buchstabe tötet (littera occidit), erhält einen unheimlichen Beigeschmack: Wen genau tötet er? Einer der letzten Autoren, die noch mit dem vermeintlich reduzierten oder mini­ malen Begriff der Kabbala hantiert haben, der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, hat in seiner unvergesslichen Erzählung Pierre Menard autor del Quijote 67 gezeigt, was am Ende einer solchen kopfverdrehenden Temura herauskommen könnte. Nach einer lebenslangen Anstrengung ist das Ergebnis der Arbeit des Übersetzers Pierre Menard eine Eins-zu-eins-Reproduktion des Quijote, aber die Reichweite des neuen Buches ist, wie Borges merkt, unvergleichbar tiefer.

Erzählung erschien zuerst in der Zeitschrift Sur (1939) und dann in dem Erzählungband El jardín de senderos que se bifurcan (1941), später noch integriert in dem Band Ficciones (1944). 67 Die

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Was bleibt von der Energie, die nach Puteanus durch den Bruch der Buchstabenverbindungen entfesselt worden sein sollte? Anders gefragt: Was kommt in diesem Fall zur Erscheinung, wo gerade alles, was Anagramme in Erscheinung bringen können, wieder verschwunden ist? Bekannterweise hat einmal der große (und vorsichtige) Kabbalist Moshe ben Nachman gesagt, dass die ganze Tora aus Gottesnamen bestehe.68 Anders gesagt ist in dieser Sichtweise die Tora das ultimative Anagramm: idem et non idem. Bei aller Virtuosität bleibt die »atheistische Gefahr«, die Caramuel witterte, auch so bestehen hinter der Beliebigkeit der Anagramme, gerade wo Götter (wie Hera ηρα) in dünne Luft (aer αηρ) zu verpuffen drohen. Vielleicht ist das der Grund, warum der Talmud an einer berühmten Stelle in Anlehnung an Ex 23,21, wo ein Anagramm zwischen dem Namen Gottes und dem Namen seines Engels von höchster Stelle gerechtfertigt ist, vor falschen Anagrammen warnt: »Ein Häretiker sprach einst zu Rav Idith: Es heißt: Und zu Moses sprach er: Steige zum Herrn hinauf, es sollte ja heissen: zu mir!? Dieser erwiderte: Dies [sagte] Meta­ tron, dessen Namen dem seines Herrn gleicht, wie es heisst: Denn mein Name ist in ihm. Demnach sollte man ihn anbeten!? Es heisst: Sei nicht widerspenstig gegen ihn (al tamer bo), verwechsele mich nicht mit ihm (al tamireni bo).« 69

Die Wurzel der unerlaubten Verwechslung (tamireni) ist auch die Wurzel der Buchstabenpermutation, als ob die talmudische Vorschrift umgedeutet werden könnte als: »Mach aus meinem Namen bloß keine Anagramme.«

68 Im

Vorwort zu seinem Pentateuchkommentar. 38b (Übersetzung Lazarus Goldschmidt).

69 TbSanhedrin

Wie sich zeigt Einige phänomenologische Beobachtungen Wilhelm Schmidt-Biggemann 1. Das ›Da!‹ des Ereignisses Im Ereignis erweist sich der Absolutismus der Realität.1 Es zeigt sich unwiderstehlich, ist da, hinterlässt seine Spur und verschwindet hinter ihr. Der Absolutismus der Realität besteht darin, dass das Reale prinzipiell mehr ist, als man erwartet hat. Erwarten kann man nur das Vorstellbare, das logisch Mögliche, das als Erwartetes kontingent ist. Das Erwartete kann eintreten oder auch nicht. Das Wirkliche, Eingetretene, übertrifft das Mögliche unendlich dadurch, dass es wirklich ist. Das absolute Wirkliche des Ereignisses ist einmalig, aber es kann in seiner Individualität nicht festgehalten werden, denn die Einmaligkeit des Ereignisses vergeht in dem Moment, wo sie sich zeigt. Festhalten kann man das Einmalige nur dadurch, dass man es in allgemeine Formen fasst. So zeigt sich Geschichte. Die Einmaligkeit muss vergehen und zum Allgemeinen werden, damit sie fassbar wird, sei es mimetisch, sei es sprachlich. Dann wird sie beherrschbar und verfügbar – und das Ereignis verliert so den Charakter des Absoluten. Das Absolute ist nur im Moment seiner Ankunft, im Da!2 als absolut erfahrbar. Dann ist es evident. Worin besteht diese Evidenz?3 Evidenz ereignet sich im Moment der Erfahrung. Erfahrung erzeugt ein empfangendes Subjekt und sein Gegenüber, das zunächst als Objekt zwar existiert, aber noch nicht identifizierbar ist. In dem Moment, wo das ›Da!‹ auf das Ereignis verweist, ist die Erfahrung bereits passiert. ›Passiert‹ meint, dass sich der Prozess der Erfahrung als anfängliche Bewegung zwischen wirkendem Ereignis und empfangendem Subjekt bereits ereignet hat, dass das ›Subjekt‹ der Erfahrung ›beeindruckt‹ Zum Begriff Ereignis: Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt/M. 1989. Der Terminus Absolutismus der Realität lehnt sich an Blumenberg an, der vom »Absolutismus der Wirklichkeit« spricht. Der Terminus ›Realität‹ ist hier in modalem Sinn dem Begriff von Möglichkeit konfrontiert. Zum geschichtsphilosophischen Konzept, das dem vorliegenden Text zugrunde liegt, vgl. Verf.: Geschichte Wissen. Eine Philosophie der Kontingenz im Anschluss an Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014. 2 Wolfgang Hogrebe nennt dieses Momentum »pronominale Tiefenabsenz« in: Wolfgang Hogrebe: Metaphysik und Mantik, Frankfurt/M. 1992, 39. 3 Vgl. Fernando Gil: Traité de l’évidence, Grenoble 1993; Gottfried Boehm: Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, hg. von Gottfried Boehm, Birgit Mersmann, Christian Spies, München 2008, 15-41. Boehm entfaltet in dem vorliegenden Aufsatz eine Theorie des produktiven Sehens – das ist im vorliegenden Text nicht intendiert, es geht hier zunächst nur um die Tatsache der Evidenz, nicht um ihre eidetische Struktur. 1

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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ist und diese ›Beeindruckung‹ im ›Da!‹ signalisiert. Wenn klar ist, dass sich etwas zeigt und auf das ›Dass‹ des Ereignisses mit dem ›Da!‹ verwiesen wird, dann ist der Moment der Erfahrung ›passiert‹, also vorbei. Das Ereignis hinterlässt seine Spur, und allein diese Spur macht das Ereignis identifizierbar. Die Entscheidung zwischen absoluter und verwalteter Realität ist gefallen, wenn das erfahrende Subjekt den Augenblick des Ereignisses, den es im ›Da‹ adressiert, überlebt. In diesem Moment des ›Da!‹ war der Absolutismus der Wirklichkeit spürbar; hier erwies sich Erfahrung als im genauen Sinne anfänglicher Prozess. Das ›Da!‹ ist nicht die Realität des Ereignisses selbst, es ist ja schon die Reaktion dessen, der das Ereignis als Absolutismus der Realität erlebt hat. In diesem Moment noch unbestimmter Einheit konstituierten sich Subjekt und Objekt der Erfahrung; unmittelbar vor dem ›Da‹!, mit dem das Subjekt auf die Ankunft des Ereignisses reagierte, geschah das ›Dass‹ der Erfahrung; und mit dem ›Da!‹ wurde dann der Moment der ursprünglich erfahrenen Realität, der Einheit von Ereignis und Erfahrung, prädiziert und damit zugleich verborgen. Erst wenn dieser Ursprungsmoment des ›Da!‹ vorbei ist, wird das Ereignis verfügbar; sei es als Objekt, sei es als Zeichen. Es konstituiert seinen Ort selbst, dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass ›es‹ dort erschienen ist. Seine Stelle ist der Erscheinungsort dessen, was sich an diesem Ort zeigte. In diesem Sinn ›ortet‹ sich das Ereignis. Der Ort ist dauerhaft qualifiziert als Ort des Ereignisses, auch wenn das Ereignis lange vorbei ist. Er wird zum Symbol des Ereignisses. Das ›Da!‹, das ursprünglich die Wirklichkeit als Ursprung von Raum, Zeit und Erfahrung signalisierte, wird entzeitlicht, es ist nur noch das räumlich distanzierte ›Dort‹, das das Eintreten des Ereignisses nun auch als vergangen repräsentiert. Das ›Dort‹ macht die Differenz im Ort sichtbar, man kann sagen, ›wo‹ etwas eintrat,4 fassbar. Das ›Wo‹ ist schon ein Moment der Verfügbarkeit. Aber was wo geschah, wird durch das ›Wo‹ nicht erklärt. Das ›Was‹ zeigt sich im Bild. Das Bild stellt das Ereignis als Räumliches auf Dauer, es ›hält das Ereignis fest‹, obwohl es vorbei ist. Dass es die Zeit stillstellt, dass es das Ereignis als sein ›Was‹ festhält, macht das Bild zu etwas, das der Prädikation verwandt ist. Als Bild ist das Ereignis räumlich auf Dauer gestellt, es ist unsprachlich und doch verfügbar. In diesem Sinn ist das Bild ein unsprachlicher Begriff, denn es bannt das ›Was‹ des Ereignisses. Das Bild ist deshalb das ›Was‹ des Mimetischen. Im Bild wird das Ereignis, das sich zeigte, als Räumliches perpetuiert, auf Dauer gestellt, dieser Prozess heißt Nachahmung. Das Bild ist nicht das Ereignis selbst, es ist nicht die Absolutheit der 4

In gewisser Weise ist dies Bestimmung des Ortes als Differenz eine elementare Variante der »ikonischen Differenz«, die Gottfried Boehm in vielen Aufsätzen je neu vorgestellt hat. Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, passim. Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, hg. von Gottfried Boehm, Sebastian Egenhofer, Christian Spieß, München 2010. Allerdings scheint es, als ob der Terminus »ikonische Differenz«, von Heideggers »ontologischer Differenz« abkömmlich, so allgemein ist, dass er als Passepartout der Bildtheorie verwendet werden kann und dann seine Präzision einbüßt.



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Realität, sondern die entzeitlichte, zum Raum entrealisierte Verfügbarmachung des Absolutismus der Realität. Aber auch als aktual entzeitlichtes ›Was‹ verweist es auf die Dynamik des Zeitlichen, denn es bannt, zähmt und identifiziert, was zeitlich geschieht. Diese Entrealisierung des Absolutismus geschieht in dem Moment, wo etwas als etwas, ein ›Dass‹ als ein ›Was‹ erkennbar wird, wo es als sein eigenes bildliches ›Was‹ über das ›Dass‹ hinaus in die Erscheinung tritt und in ihr verbleibt. Im Bild vergeht das Ereignis zwar in seiner Zeitlichkeit, aber es verweist auf die Realität, und in diesem Verweisungscharakter stellt es sich als räumliches Zeichen auf Dauer. Das Bild bleibt als das räumliche ›Was‹ des Ereignisses bestehen; es hebt sich aus der Zeitlichkeit, auf die es verweist. Das ist der Prozess, in dem etwas ›sich‹ zeigt. Das ›Sich‹ ist das ›Was‹ der Erscheinung, durch das die Erscheinung qualitativ, das heißt als etwas, fassbar wird. Dieser Prozess des ›sich Zeigens‹ geschieht anf änglich im Bild. Ein Anfang ist immer eine Verdoppelung.5 Er ist nur durch das sichtbar, was aus dem Anfang geworden ist, d. h. durch seine Folge, sonst wäre er als Anfang nicht erkennbar. Diese Folge, dieses Gewordene ist ein Etwas, das aus dem Anfang zur Erscheinung kommt. So wird in diesem Prozess das Anfängliche zum Bild, das sich zeigt. Das Bild erweist sich in seiner Beständigkeit, denn der Anfang vergeht, sobald er sich zu etwas gebildet hat und also Bild geworden ist. Als sich anfänglich bildende und ihre Bildung stillstellende Gebilde stehen Bilder zur Verfügung. Als stillgestellte Gebilde verlieren sie ihre Einmaligkeit und können verdoppelt werden – das ist das Definiens ihrer Verfügbarkeit. Erst wenn sich dieser Prozess ereignet hat, kann phänomenologisch vom ›Bildobjekt‹ (Husserl) oder vom ›Sichtbarkeitsgebilde‹ (Fiedler) geredet werden.6 Verfügbarkeit ist nicht allein Beherrschungsanspruch. Verfügbarkeit kann auch der Verweis darauf sein, dass es sich hier nur um Spuren des Unverfügbaren handelt,7 die kontempliert werden können. Die Spuren sind verfügbar, das, worauf sie verweisen, entzieht sich. Freilich setzt solche Kontemplation von Spuren Distanz voraus, eine Gelassenheit, manchmal Resignation angesichts der uneinholbaren Realität des absoluten Ereignisses, auf das Bilder verweisen, vielleicht gepaart mit einer Befriedigung und Behaglichkeit darüber, das Ereignis bannend zu bändigen. Pure Betroffenheit ist sprachlos – und die bildliche Inszenierung von Betrof5 Philipp Stoellger: Das Bild als unbewegter Beweger, in: Movens Bild [Anm. 3], 183-221; 212: »In der Deixis des Bildes liegt eine Differenz, nicht von was und worin (wie Waldenfels meint), sondern eine Differenz des Bildes als Selbstverhältnis.« Vgl. auch Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, 365 f.: »Es gibt sich preis, bevor ihm ein Sinn zugesprochen werden kann«. 6 Vgl. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005, 30 f. 7 Vgl. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999.

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Abb. 1 und 2: Gian Lorenzo Bernini: Die Verzückung der Heiligen Theresa (1645-1652), Frontalskulptur aus Carraramarmor, 350 cm, Santa Maria della Vittoria (Rom), Cornaro-Kapelle, Photos: Michael Meier-Brügger

fenheit setzt selbst Kontemplation voraus. Gerade dadurch bekommt der Verweis auf die Einmaligkeit des Originals, das den Ursprung sichtbar macht und zugleich verdeckt, seinen Sinn. Diese Spannung zwischen Ereignis und Kontemplation kann Bilder in ihrer Intensität bestimmen: Sie mögen, wie barocke Kunstwerke, den Augenblick des Ereignisses festhalten.8 Berninis lebensgroße Skulpturengruppe, die die Gotteserfahrung der Teresa von Avila darstellt, bannt eben diesen Moment der überwältigenden Offenbarung. Was sich hier ›zeigt‹, indem Bernini diesen Moment ins Bild setzt, ist das Licht als Offenbarung des Absoluten, das die Heilige überwältigt, der Moment, der die Zeit festhält und zugleich das Vorher und Nachher dieser Erfahrung bestimmt. Das Ereignis wird im Bild zwar stillgestellt, aber dieser Stillstand birst geradezu vor Dynamik. Bernini inszeniert in seiner Marmorskulptur hochreflektiert – und damit kontemplativ – den Moment, in dem der Engel Gottes den Pfeil göttlicher Liebe auf Theresa richtet, die in Verzückung außerstande scheint, diese Offenbarung zu ertragen. Diese Engelsvision ist das ikonische Narrativ des Ereignisses, das Theresa in ihrer Autobiographie erzählt: Ein Seraph habe einen langen goldenen Feuerpfeil in ihr Herz gestoßen, das dadurch mit unfassbarer schmerzlich-schöner göttlicher 8

Die lebensgroße Skulpturengruppe aus Carrara-Marmor, entstanden 1645-1652, findet sich in Santa Maria della Vittoria in Rom.



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Abb. 3: Kasimir Malewitsch, ›Das Schwarze Quadrat‹ (1915), Öl auf Leinwand, 80 x 80 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau9

Liebe erfüllt worden sei.10 Diese Erzählung des inneren Ereignisses wird durch die Lichtführung als Erleuchtung von oben im Wortsinne illustriert. So werden inneres Visionsbild und Lichtüberwältigung ineinander geschoben. Das Außersich-Sein der Ekstase und die entzückte Innerlichkeit dieses Ereignisses werden gemeinsam festgestellt, sichtbar gemacht, und in ihrer Überfülle bildlich gebannt. Das Gegenteil einer solchen Inszenierung ist gleichermaßen möglich, denn die Inszenierung des Ereignisses kann verweigert werden – und noch die Verweigerung macht das so verdrängte Ereignis geheimnisvoll präsent. Das radikalste Beispiel hierfür ist die Monochromie. Das sogenannte ›schwarze Quadrat‹ von Kasimir Malewitschs entpuppte sich erst im Verlauf seiner Inszenierungs- und Rezeptionsgeschichte als Ikone der mimetischen Verweigerung. Es handelt sich bei diesem, im Jahre 1915 erstmals als Einzelbild ausgestellten, suprematistischen Gemälde (79 x 79cm) um ein schwarzes, in Öl auf Leinwand gemaltes Quadrat. Es ist von einem weißen, rahmenden Bildraum umgeben. Malewitsch konzipierte diese Arbeit zunächst im Kontext der Uraufführung der Oper »Sieg   9 Vgl. Schwarzes Quadrat von Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, unter https://commons. wikimedia.org/wiki/File:SchwarzesQuadrat.jpeg (letzter Zugriff 5. Oktober 2015) 10 Vgl. Teresa de Jesús: Libro de su vida, Leipzig 1921, cap. XXIX , Nr. 15.

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über die Sonne« im Luna-Park von Sankt Petersburg im Jahr 1913.11 Malewitsch, der Bühnenbild und Kostüme entwarf, malte ein schwarzes Quadrat auf den Bühnenvorhang. Als Gemälde wurde das Schwarze Quadrat dann erstmals im Dezember 1915 im Kontext der futuristischen Ausstellung 0.10 in der Galerie Dobytcˇina in Petrograd (Sankt Petersburg) gezeigt. Hier handelte es sich allerdings um eine Präsentation im Rahmen einer Ausstellungssituation, die in einem räumlichen Gesamtarrangement ein Ensemble von Bildern Malewitschs zeigte. Das schwarze Quadrat wurde in einer Ecke dieses Raumkonzeptes, an der höchsten Stelle und mit leicht geneigter Hängung des Gemäldes gezeigt, so dass es gleichsam oben herab auf die Raumsituation blickt. Mit dieser Positionierung nimmt das schwarze Quadrat in Malewitschs Rauminstallation einen Ort ein, der traditionell in russischen Häusern einer Ikone vorbehalten ist, es situiert sich also ausdrücklich an Stelle eines religiösen Bildwerkes.12 In dieser Inszenierung wird das Ereignis der Erleuchtung und Begnadung zugleich adressiert und negiert. Das schwarze Quadrat, das jede figürliche Symbolik und jede Illumination verweigert, ist der Versuch, dem Ereignis, dessen Pointe der Einbruch des Absoluten ins Leben ist, zu entkommen. Es ist die Ikone der Ereignisverweigerung. Aber gerade dadurch sind das Ereignis und seine Verbildlichung in der Verdrängung präsent. 2. Kontemplation Wie zeigt sich etwas als etwas? Wenn man erst soweit ist, dass man sich dem Ereignis entzogen hat, dass das Ereignis Objekt wird und man als Subjekt Herr der Erfahrung des Geschehenen ist, dann ist das so Subjekt gewordene Ich in der Situation der Kontemplation.13 Es kann kontemplieren, was sich denn zeigte. Das, was sich zeigte, war individuell, weil es real war. Aber die Individualität verschwand, indem sie verfügbar gemacht wurde. Sie wurde verfügbar, wenn sie in einem kontinuierlichen Zusammenhang, als vergangene Realität vor das ›innere Auge‹ zurückgeführt wurde. Das, was sich zeigte, wurde im Gedächtnis und in der Phantasie zurückgeholt, es wurde als Bild verallgemeinert, schematisiert, und es wurde als Geschichte sprachlich verfügbar 14. In einem solchen Zusammenhang – und nur in einem solchen – ist ein Etwas als etwas identifizierbar. In der erkennenden Rekonstruktion geschieht die Identifikation von etwas als etwas intentional. Intentionalität

11 Uraufführung

der Oper »Sieg über die Sonne« im Lunapark-Theater St. Petersburg am 3. Dezember 1913. Malewitsch entwarf Bühnenbild und Kostüme. 12 Vgl. Hubertus Gaßner: Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Ostfildern 2007. 13 Vgl. Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 1: Schau der Gestalt, Einsiedeln 1961. 14 Dazu: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte Wissen [Anm. 1], Kap. 4: Wie etwas zur Sprache kommt, 45-53.



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meint, dass sich die Aufmerksamkeit auf ein Etwas wendet, und in diesem Prozess des Aufmerkens wird das Etwas überhaupt erst Gegenstand des Bewusstseins.15 Die Einzelheit, um die es ging, muss aus der Kontinuität von Bildschematik und Geschichte herausisoliert werden; erst, wenn man vorher schematisch weiß, worauf man aus ist, kann man das, worauf es ankommt, als Einzelnes isolieren und es in seiner Besonderheit erkennen. Dieser Prozess ist ein hermeneutischer Zirkel. Er vollzieht sich als Kontem­ plation. Man muss ein Ganzes vor Augen haben, eben einen zeitlich und örtlich abgegrenzten Bezirk, ein templum, und in diesem Bezirk kann man seine Aufmerksamkeit auf das richten, was im Erfahrungsprozess wichtig wurde. Es ist keineswegs sicher, dass man schon unmittelbar nach der Erfahrung weiß, was denn wirklich wichtig war; um das zu begreifen, braucht man eine Erzählung, die dem Erfahrungszusammenhang Sinn gibt. Die Erzählung mag bildlich oder sprachlich sein; sie erzeugt allemal ein prozessuales Ganzes. In diesem Sinnzusammenhang hat auch das Bild als Schema, als unsprachlicher Begriff, seine Stelle; und an dieser Stelle, die es sozusagen eidetisch prädiziert, bekommt es seinen Sinn. Der liegt darin, dass es als Einzelnes im Ganzen steht und doch als Einzelnes nur deshalb kommunizierbar ist, weil es schematisch zum Allgemeinen wird, indem es als etwas identifiziert werden kann. Das geschieht mimetisch im Kult oder im Theater oder in der musealen Schaustellung. Wenn dieser prozessual erfassbare Bildzusammenhang als Erzählung versprachlicht wird, kommt das Bild in seiner Semantik voll zur Erscheinung. An Berninis Teresa ist dieses Moment der Verbildlichung erkennbar: Der Moment, in dem die Erfahrung der göttlichen Überwältigung geschah, ist narrativ in der Autobiographie entfaltet: Der Engel mit dem topischen Liebespfeil durchdringt das Herz der Heiligen und entflammt es in göttlicher Liebe. Zugleich wird dieses Narrativ durch die Inszenierung des Lichtes von oben als Erleuchtung inszeniert: Genau dieser Prozess setzt eine Distanzierung voraus, die das Ereignis erträglich, verfügbar macht; jetzt ist es als Kunst erbaulich, ein ständiges Abbild himmlisch schönen, instantanen Schreckens. Was an seinem Ort ist, fällt in seiner Bildlichkeit zunächst nicht eigens auf. Es ist beruhigt. Der Bilddruck der Ereignisse ist zurückgenommen; der Raum der Kontemplation ist entspannt. Die Bilder im Kontemplationsraum sind entlastet, sie haben ihren Ursprungsschrecken verloren, sie sind beruhigt und verwaltet. Entspannte Kontemplationsräume haben einen gewissermaßen heimatlichen Charakter, man weiß, wo etwas hingehört. An ›seinem‹ Ort ist das Gefährliche domestiziert. Das ist die Heimat, die ›Lebenswelt‹, in der alles beruhigt ist und kein Bild sich aufdrängt, in der seinesgleichen geschieht. Oder vielleicht doch nicht?

U. Claesgens: Intentionalität [Artikel], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel u.a. 1976, Sp. 475. 15 Vgl.

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In einem solchen, scheinbar beruhigten, zeitlos ereignisarmen Zusammenhang kommen Bilder anders zur Erscheinung: als Kunst. Auch in entlasteten Situationen gibt es Bilder; die Bilder, die von den Ereignissen entlasteten, werden nun selbst zum Ereignis, freilich nur zum Ereignis sekundärer Potenz; sei es in Form von ›Kunstereignissen‹, ästhetischen Bildern als Statthaltern und Zeugen eines Ereignisses, sei es in Gestalt von regelrechten Kulturevents, einem populärkulturellen Eventgeschehen. Auch in Kunstereignissen wirkt die seelische Entlastung, die die den Schrecken domestizierenden Bild-Werke gewähren. Ihre Bildlichkeit ist nicht nur seelisch, sondern auch räumlich domestiziert. Diese Kunstbilder finden sich, wo man Bilder erwartet: in Museen, Galerien, Sammlungen, Theatern, Opern, Kirchen. Hier ist der Schrecken der Bilder entzeitlicht und verwaltet, so sehr die Bilder den Schrecken auch zu inszenieren versuchen. Die domestizierte Inszenierung zeigt eben gerade, dass der Schrecken vorbei ist, dass die Bildlichkeit sich nun domestiziert ereignet. Im Kontemplationsraum wird die Bildlichkeit zur Theorie entlastet. Die Theorie ist ein eigener, anthropologisch entspannter intentionaler Akt. Weil es sich um Theorie handelt, muss die Aufmerksamkeit in einem eigenen, eben theoretisch-interesselosen Kontemplationsakt auf Bilder in Kontemplationsräumen gerichtet werden. Bilder in Kontemplationsräumen werden um ihrer selbst willen angesehen. Sie haben – das ist der Sinn der Autonomie – den Charakter von Kunst und spielen immer mit der Perfektion, dass es nicht besser sein könnte. Und mit dem Autonomie- und Perfektionsanspruch, der die Bilder zur Kunst macht, tritt die Doppeldeutigkeit auf, dass noch der größte Kunst-Schrecken den Charakter der Erbaulichkeit hat. Die Anschauung des Perfekten ist theologisch besetzt: Theorie hat immer den Vorschein der ewigen Seligkeit. Deshalb ist die theoretische Anschauung der Bilder in Kontemplationsräumen ängstigend, entlastend und beglückend zugleich. 3. Ortungen a) Einbildungskraft Die Einbildungskraft ist eine geheimnisvolle, merkwürdige Instanz. Sie ist in sich selbst paradox. Sie ist selbst nicht ausgedehnt, aber sie ist die Bedingung dafür, Ausdehnung zu begreifen. Die Einbildungskraft ist die Instanz, die den Raum in seiner Ordnung konstituiert und zur Erscheinung bringt. Zur Erscheinung kommen bedeutet, dass sich Raum und Stelle eröffnen. Diese Eröffnung ist ein Fortgang; ohne eine solche Prozessualität, die von einer Stelle ausgeht und den Raum als Abstraktum erst sichtbar macht, lässt sich Raum nicht denken – das heißt ›vorstellen‹. Raum ist in diesem Sinn Entfaltung, Explikation des Anfänglichen,16 er zeigt sich mit der Bilderfahrung als deren Denk-Bedingung. Die Denk-Leistung Nikolaus von Kues: De coniecturis, I, 10 , in: ders.: Philosophisch-Theologische Schriften, hg. von Leo Gabriel und Wilhlem Dupré, Bd. 2, Wien 1966: »Et ut harum unitatum conceptum 16



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der Einbildungskraft erweist sich darin, dass sie die Ordnung des Raumes konstituiert. Das geschieht sozusagen euklidisch. Die anf ängliche Differenz, durch die sich Stelle und Raum zeigen, ist der Punkt.17 Der Punkt bringt die Einheit und damit die Differenz der Stelle zur Erscheinung, macht dadurch den Raum allererst sichtbar. Indem sich etwas – und das kleinste Etwas ist der Punkt – an seiner Stelle zeigt, zeigt sich Differenz; durch die Differenz wird Ordnung fassbar. Ordnung ist die Einheit des Differenten; und sie normiert zugleich. Ohne eine innere Normierung ist der Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung nicht fassbar. Ordnung definiert zugleich den begrifflich unentbehrlichen Unterschied zwischen Raum und Stelle, den Aristoteles in den Kategorien und vor allem in der Physik (Buch IV, Kap. 1-5) beschrieben hat. Raum ist das In-dem; ›Stelle‹ ist die konkrete Gegend, wo das, was dasteht, den ihm gemäßen Ort, seine Ortung und dadurch Ordnung hat. Der Punkt zeigt die Stelle an; er bildet die formale Voraussetzung dafür, dass etwas als Räumliches denkbar wird.18 Auch wenn er nach Euklids Definition das ›ist, was keine Teile hat‹, so ist er doch die Bedingung des ›Zum-Vorschein-Kommens‹ und damit der Erscheinung und des Scheins. Der Punkt ist der Beginn des Raumes, er beendet die Indifferenz, er macht das Indifferente zum räumlich Differenten. Indem er das Indifferente zum Verschwinden bringt, macht er es zugleich als Negation fassbar. Räumlich ›vor‹ und prozessual ›nach‹ dem Indifferenten wird das Differente scheinbar. Der Punkt ist der Anfang der Ordnung, die den Raum konstituiert. Die Dialektik des Anfangs ist Entzweiung. Ent-zweiung bewirkt zeitlich: vorher und nachher, sowie räumlich: hier und da. Entzweiung ist der Ursprung aller Entfaltung und jedes Kontinuums: Die Prozessualität ist nur denkbar, wenn sie an jeder Stelle anfänglich und ent-scheidend, an jeder Stelle kontinuierlich und als Prozess homogen, also identisch ist. Die Verdoppelung des Punktes macht die kontinuierliche Räumlichkeit vorstellbar und damit logisch denkbar, denn der zweite Punkt definiert den ersten und umgekehrt. Der Punkt, der den Raum als Ort und Stelle bestimmt und zur Erscheinung bringt, entfaltet im Prozess des Zum-Erscheinen-Kommens Dimensionen. Der Punkt ist die Implikation aller Dimension; wenn seine Impliziertheit aufplatzt und sich entfaltet, dann wird aus dem, was keine Teile hat, das Kontinuum der drei subintres, eas concipe differentes. Prima sit unitas simplissimi puncti, secunda simplicis lineae, tertia simplicis superficiei, quarta simplicis corporis.« 17 Diese wäre eine weitere Variante der ikonischen Differenz, die G. Boehm konzipiert hat. »Jedes ikonische Artefakt organisiert sich in der Form einer visuellen, intelligenten sowie deiktischen, und das heisst nicht-sprachlichen Differenz«. Gottfried Boehm: Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik (2011), 170-176, hier 171. Eine solche Differenz setzt auch schon der geometrische Punkt. Zur Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten der Ikonischen Differenz siehe Wiebke-Marie Stock: Ikonische Differenzen. Motive bildlichen Zeigens, in: Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, hg. von Robert Schmidt, Wiebke-Marie Stock und Jörg Volbers, Weilerswist 2011, 105-128 (siehe auch Anm. 4). 18 Nikolaus von Kues: De coniecturis, I, XIII [Anm. 32]: »Identitas igitur inexplicabilis varie dif­ ferenter in alteritate explicatur, atque ipsa varietas concordanter in unitate identitatis complicatur.«

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Raum-Dimensionen. Der Punkt atmet trimensional. Diese Tri-Mensionen Länge, Breite, Höhe sind das, was sich am Werden von etwas zeigt. Das, was sich zeigt, ist die Bestimmung, d. h. die Differenz im Raum. Die Differenz impliziert Maß; und der Raum ist selbst dann, wenn er unendlich ist, nicht unermesslich, sofern Ermesslichkeit die Möglichkeit ist, gemessen zu werden und sich so als ordentlich zu erweisen. In diesem Sinn muss sich Raum immer auf einen Punkt beziehen, damit er zur Erscheinung kommt; und dieser Bezug ist der Anfang aller Messbarkeit. Jede Messung, soweit sie auch geht, muss sich immer auch auf ihren Anfang beziehen. Dieses Messen, ›mension‹, ist Ausdehnen des Anfangs und das Zurückbeziehen auf den Anfang. Es ist das Atmen des Punktes, das Stelle, Ort und Raum zugleich bestimmt und damit Ordnung setzt. In diesem Prozess werden die Raumverhältnisse sichtbar, die zugleich sprachlich benennbar sind: die Propositionen. Dynamisch genommen, stehen sie im Deutschen mit dem Akkusativ; sie konstituieren den Raum; wenn der Raum feststeht, wenn er erst in Ordnung ist, sind auch die Präpositionen Feststellungen: Sie stehen mit dem Dativ: An, auf, neben, in, über, unter, vor und zwischen sind die Raumordnungen, die die Ausdehnungsrelationen bestimmen. Diese Relationen entfalten den Raum und bringen das ›Was‹ an seiner Stelle zur Erscheinung. b) Euklidische Raumordnungen Die Ordnungen der Verräumlichung, die die Figuren der Geometrie repräsentieren, sind von anderer Natur als die relationalen Präpositionen, die stets auf anderes verweisen. Die geometrischen Figuren stehen für sich; sie sind ihr ständiges Was, ihre unveränderte substantielle Gleichheit mit sich selbst. Strahlen, Dreiecke, Kreise, Quadrate, regelmäßige Vielecke und die entsprechenden ›platonischen Körper‹ Kugel, Pyramide, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder sind die Raumformen, von denen Kepler annahm,19 dass sie die Ordnung des Kosmos bildeten. Wesentlich ist das Regelmaß, das die Wiedererkennbarkeit der Ordnungen unabhängig von ihrer jeweiligen Stelle und unabhängig von der Zeit garantiert. Solche geometrischen Ordnungen werden als Vorstellungen konstruiert. Wenn wir sie in der äußeren Realität erkennen, wird uns die innere Vorstellung zum Schema der äußeren Erfahrung; und in diesem Angleichungsprozess finden erhebliche Veränderungen statt. Wir sehen dann Körper, die wie Pyramiden oder Dreiecke aussehen, wir sehen Strukturen in die äußere Erfahrung hinein, wir gleichen die äußeren Erfahrungen den inneren geometrischen Idealbildern an, und mit den inneren räumlichen Ordnungskonstrukten schematisieren wir die äußeren Erfahrungen. 19 Johannes Kepler: Mysterium cosmographicum (1596), vgl. Johannes Kepler: Gesammelte Werke, hg. von Max Caspar, Walther von Dyck, München 1938, Band 1: Mysterium cosmographicum. De stella nova, hg. von Max Caspar, München 1938/1993.



Wie sich zeigt91 Abb. 4: Johannes Kepler, Mysterium Cosmographicum (1596), Modell des Sonnensystems bzw. der Planetenbahnen von Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn in Rekurs auf die platonischen Idealkörper 20

Es könnte sein, dass Malewitsch diese apriorische Raumstruktur mitbedacht hat, als er sein schwarzes Gemälde zunächst einfach nur als ›Viereck‹ betitelte. Dass etwas zur Erscheinung kommt, ist dem Auge eine Wahr-nehmung und dem Geist eine Vor-stellung. In diesem Prozess der Angleichung von Wahrnehmung und geistiger Vorstellung findet eine Umwandlung statt: Das äußere als individuell vorausgesetzte Objekt wird entzeitlicht, der genaue Raumeindruck wird nach den inneren Raumordnungen schematisiert. So können äußere Erfahrungen nach inneren Raumschemata geordnet werden, sie werden als allgemeine gemäß den Raumschemata konstruierbar und dadurch allgemein. Wegen dieser Allgemeinheit können sie sprachlich identifiziert werden, und so werden sie kommunizierbar. Erst dann kann man fragen, ob der andere auch das spitzwinklig dreieckige Dach auf dem Haus, das wie ein Würfel aussieht, erkennt; und man kann wegen dieser Schemata seine Erfahrungen nach verschiedenen Raumordnungen beurteilen. Was genau passiert hier? Hier wird das ›Dass‹ einer Erfahrung zunächst in ein ›Was‹ verwandelt und dieses ›Was‹ wird den Ordnungsschemata des Raumes angeglichen. Welches ist die Ordnung der Erfahrung? Wenn man die Erfahrung des Zur-Erscheinung-Kommens betrachtet, erscheint zunächst das ›Dass‹ der Erfahrung; die Identifikation ›als etwas‹ 21 ist der nächste Schritt: Sie setzt vergangene Erfahrungen voraus. Aus den vergangenen Erfahrungen stammen die Gedächtnisschemata, mit denen die Erscheinungen der Ereignisse klassifiziert wurden. Der Gedankengang ist alt: Die vergangenen individuellen Erfahrungen wurden dergestalt verarbeitet, dass sie als Bilder klassifiziert, also verallgemeinert und als Schemata entindividualisiert wurden. Sie wurden in dieser Schematik benannt; so bilden sie einen Knoten von Bildschema und Benennung. Dieser Knoten ist nicht unauf löslich – es gibt die Möglichkeit, sich an ein Schema zu erinnern, ohne das Wort zu wissen und umge20 »Kepler-solar-system-1«. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons: https:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Kepler-solar-system-1.png#/media/File:Kepler-solar-system-1.png (letzter Zugriff 5. Oktober 2015). 21 Vgl. Ernst Tugendhat: Ti kata tinos. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg 1958.

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kehrt. Das zeigt, dass die Begrifflichkeit von Schema und Wort auch unabhängig voneinander möglich ist, dass es also Bildbegrifflichkeit gibt, ohne dass diese versprachlicht sein muss. Aber erst die ineinander verschränkte bildliche und sprachliche Begrifflichkeit gewährleistet die Verfügbarkeit über die Erfahrung. Wie weit die Erfahrung als Bild und Sprache verfügbar ist, kann man nicht wissen – man müsste sonst über sein ikonisches und versprachlichtes Gedächtnis vollständig verfügen können. Und im Gedächtnis bleibt auch die Spur des individuellen Ereignisses haften, auf das sich die ikonische und sprachliche Inszenierung bezieht. Aber jede Inszenierung muss kommunikativ sein; und was kommunikativ ist, ist eo ipso allgemein. So inszeniert die Kommunikation das Individuelle und hebt es in diesem Prozess zugleich auf. 4. Materialität und Medialität a) Aristotelische Paradoxien der Realität Was ist das Wissen der sinnlichen, in unserm Falle d. h. der Seh-Wahrnehmung? Gilt das, was für die Seh-Wahrnehmung gilt, auch für andere Sinne? Man pflegt das sinnliche Wissen als »materiales Wissen« zu beschreiben, das kann nur heißen: Wahrnehmen des Materiellen. In diesem Zusammenhang ist es wohl sinnvoll, an die Dialektik der Materialität zu erinnern: Wenn, formal gesprochen, der Sinn der Materie darin besteht, die extramentale, und das ist zugleich die außersprachliche, Realität zu benennen, dann ist genau diese Benennung als ›Materialität‹ paradox; denn sie benennt etwas, was sich der Benennung definitionsgemäß entzieht, sofern Materialität die außersprachliche Realität meint. Dass diese gleichwohl benannt werden muss, damit die Erkenntnis handhabbar wird, ist selbst ein Moment der Unausweichlichkeit der Sprache für die Erkenntnis der Realität des Realen. Aristoteles beschreibt diesen Sachverhalt mit zwei Begriffspaaren: mit Dynamis und Energeia sowie mit Hyle und Morphe/Eidos. Dynamis, Möglichkeit, ist die Ebene, in der etwas nicht in seiner individuellen Realität, sondern in seiner klassifizierenden Allgemeinheit gefasst wird. Die Sprache selbst leistet die Entrealisierung des Wirklichen zum sprachlich Allgemeinen und damit Möglichen. Sie beschreibt, was real sein kann und ihre eigene Realität; darüber, ob es real ist, wird auf der Ebene der Dynamis keine Aussage gemacht. Diese Allgemeinheit ist die sprachliche Abstraktionsebene, auf der allgemein gültige wissenschaftliche Aussagen gemacht werden. Die Realität dieser Möglichkeit, das extramentale, konkret-materiale ›Ins-Werk-setzen‹ (En-ergeia), entzieht sich der formalen Aussage, weil diese definitionsgemäß eben formal und abstrakt ist. Im Lateinischen heißt Materialität ›Mütterlichkeit‹. Diese Metapher impliziert Fruchtbarkeit und reale Fortpflanzung; sie übersetzt das griechische Hyle (›Holz‹). Auch ›Hyle/Holz‹ ist nur eine Metapher; sie indiziert, dass es sich bei den extra­ mentalen Dingen um etwas handelt, was schlechterdings nicht vollständig im Be-



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griff, der die sprachlich-ideale Fassung der Form (Morphe/Eidos) ist, aufgehen kann. Die extramentale Existenz wird durch Materialität garantiert, ohne dass diese Materialität als solche erkannt würde. Es ist in diesem Zusammenhang nicht ganz gleichgültig zu bemerken, dass Eidos/Idee selbst ›Bild‹ bedeutet. Medialität ist Mittelbarkeit; Mittel ist ein Moment des Handelns, Mittel ist Mittel zum Zweck. Materie, wenn als Medium verstanden, ist ein solches Mittel zum Zweck; und der Zweck des Bildes ist die Darstellung. Mit der Materie wird das Bild vermittelbar. Dieser Mediationsprozess kann selbstverständlich auch Gegenstand eines Bildes sein. b) Der ›Körper‹ des Bildes Mit dem Begriff der Materialität bemühen sich die Kunstwissenschaften auch um die Klärung des Konzepts der Medialität.22 Es sind hier die Materialien und die ›Körperlichkeit‹ der Bildproduktion gemeint; diese werden als Medium der Darstellung gefasst. Gelegentlich spielen hier Erwägungen eine Rolle, die sich auch bei Aristoteles finden, zumal bei der Diskussion des Verhältnisses von Farbe und Fläche. Hier kann man an den Begriff des ›Sichtbarkeitsgebildes‹ oder des reinen ›Bildobjekts‹ anschließen;23 und in diesem Kontext sind phänomenologische Erwägungen wichtig. Reine, geometrische Flächen können als Entfaltung von Dimen­ sionen oder als Abstraktionen aus räumlichen Körpern betrachtet werden, in jedem Falle sind sie intentional erzeugt. Zweidimensionalität kommt in der Realität nicht vor, sie ist ein Erzeugnis der raumerzeugenden Einbildungskraft. Aber es lässt sich an jeder ›realen‹ Fläche feststellen, dass sie eine Farbe haben muss. Nimmt man, phänomenologisch-intentional abstrahiert, das Bild als zweidimen­ sional, als Fläche, dann ist die Fläche in gewisser Weise das Material des Bildes. Und diese Fläche muss in einer Farbigkeit gegeben sein. Monochrome Malerei, z. B. Grisaillen, bringt diese mediale ›Materialität‹ ironisch zur Darstellung; sie verweist darauf, wie die Medialität eines praktischen Prozesses zugleich dessen Ziel ist. Analog kann man diese mediale Materialität zum Ziel der Darstellung machen, das gilt für Leinwand und Bildschirm, für Farbe und Elektroimpuls, für Pinsel, Keyboard, Mischpult und Internet. Materialien sind die Medien, durch die etwas als etwas zur Darstellung gebracht wird, und diese Mittel sind dann selbst Element der Darstellung, sie bedingen das, was in ihnen zur Erscheinung kommt.

22 Vgl. etwa Sybille Krämer: Medien, Computer, Realität, Frankfurt/M. 1998; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwurf einer Bildwissenschaft, München 2001; Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. 23 Vgl. Anm. 6.

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c) Inkarnation und Symbol Was weiß man, wenn man von Medialität weiß? Man prädiziert sie als das, wodurch etwas zur Erscheinung kommt, was irreduzibel sinnlich ist, worauf man nur zeigen kann und was deshalb in Bezug auf das Wissen die Paradoxie alles Sinnlichen an sich hat. Einerseits ist die Sinnlichkeit der Materialität Bedingung aller äußeren, deiktisch oder akustisch ausweisbaren Wahrheit; nur durch Sinnlichkeit weiß man, dass man sich auf dasselbe Individuelle bezieht. Damit ein solcher referentieller Gestus propositionales Wissen werden kann, muss die sinnliche Materialität zum Begriff werden; die Prädikation verweist auf etwas, was in seiner materiellen Eigenheit eben nicht prädizierbar ist. Auch die Phantasie ist Medium und Materialität des Bildlichen. Sie ist Medium des mentalen Bildes, das in einem sinnlichen Medium gebannt werden muss, damit ein Wissen von ihm möglich ist. Das innere Phantasie-Bild ist nie schon konkret, es hat immer eine abstrakte Form, denn es ist noch nicht sinnlich real und damit individuell. Nur in der Versinnlichung wird das Vorgestellte individuelle Wirklichkeit. Das Bannen des inneren Phantasie-Bildes im Sinnlich-Medialen macht die Form des inneren Bildes kommunizierbar, als Bild, als Partitur, als Sprache und Schrift. Das ist ein Prozess der Inkarnation, hier wird der Geist Fleisch, das Imaginäre wird sinnlich und als dieses individuell. Und jetzt verweist die inkarnierte, materialisierte, individualisierte Realität, in der der Geist zur Erscheinung kam, gleichermaßen auf die Individualisierung, die im Medialen geschieht, wie auf die allgemeine Form, die sich in der medialen Versinnlichung zugleich zeigt und verbirgt. Genau das ist der Charakter des Symbols. Für die Kommunikation über die Sinne müssen die Inkarnate den Charakter eines Symbols haben, das über sich hinaus ins Allgemeine weist. Nur im Symbol wird die Materialität zur Inkarnation. Die Materialität kann nie nur für sich stehen, sie muss über sich auf das, was mit ihr ›gemeint‹ ist, hinausweisen. Sie ist Träger eines Zeichens und deshalb sinnliches Symbol für etwas Geistiges. Der Zweck der sinnlichen Symbolik ist Verstehen. Verstehen heißt in diesem Zusammenhang: Es muss deutlich werden, dass ein Laut oder eine Lautverbindung die Lautung eines Wortes ist, das auf ein Geistiges verweist, das aber anders nicht zur Erscheinung – respektive zur Er-hörung – kommen kann. Bilder, sofern Bild heißt, was bildend zur Erscheinung gekommen ist, verweisen auf den Prozess der Verbildlichung. Bilder, die sich mimetisch auf bereits Gebildetes beziehen, sind Zeichen für dieses ihr Sujet. Bilder, die zugleich den Charakter von Kunst haben, wollen diesen Verweisungscharakter durch ihren Autonomieanspruch unterlaufen; aber noch der Autonomieanspruch muss sich ständig mit dem Prozess der SelbstVerbildlichung und der Abbildung auseinandersetzen. Das wird bei Kunstbildern deutlich, die alle benannt werden müssen. Noch die Benennung ›ohne Titel‹ verweist darauf, dass es sich bei Bildern um Symbole handelt. Ein Bild verlangt sein ›Was‹ wie das Subjekt sein Prädikat. Die Vorstellung, ein Bild ohne ein ›Was‹ käme zur Erscheinung, ist so unvorstellbar wie Sprachwissen ohne Prädikationsprozesse.



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Ist das ›Was‹ des Bildes das, worauf es als Symbol verweist? Ist das Bildschema dessen, was sich zeigt, der Verweis auf das Bild selbst? Was ist, wenn das Bild als Symbol über sich hinausweist und etwas zeigt, das sich der diachronen, diskursiven Sprachlichkeit entzieht? Was ist, wenn das Bild selbst als Geometrie zum Symbol der Metaphysik wird? Was zeigt sich da?24 Dann kann man Symbol ganz konventionell verstehen, als Verweis auf die zugehörige zweite Hälfte einer geteilten Münze. Die sichtbare, anwesende Hälfte verlangt die abwesende, unsichtbare. Dieser formale Verweischarakter auf das Abwesende ist das Wesensmoment des Symbols; sobald ein Etwas als ein solches Verweiszeichen begriffen wird, bekommt es einen Sinn, der über die einfache Prädikation von etwas als etwas hinausgeht: das ist die symbolische Dimension, sein erwarteter, immer uneingelöster Sinn als ›Zeichen für‹. Der Wahrheitsindex des Symbolischen ist seine Richtigkeit, die Gerichtetheit auf etwas, wozu es passen soll. Wegen dieses formalen Charakters als ›Zeichen für‹, das seine Erfüllung erwartet, können Symbole Bilder des Unsichtbaren sein, Verweise auf etwas, was nicht oder noch nicht erfassbar ist, prophetische Bilder und Zeichen, dogmatische Bilder. Solche Bilder haben nur die Pose und Gebärde der Gerichtetheit und der Richtigkeit; einen einklagbaren, präzisen Wahrheitsindex von richtig und falsch haben sie nicht. Von einem solchen symbolischen Gebärden-Charakter sind die

Abb. 5: Joachim von Fiore: Liber Figurarum, tabula XI, Códice Reggiano, s. XIII, Symbol der Dreifaltigkeit und der Weltzeiten 24 Zum Zusammenhang vgl. den von Stefan Meier-Oeser verfassten Abschnitt I (Antike, Mittelalter, Neuzeit) des Artikels: Symbol, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. X, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel u.a. 1998, Sp. 710-739, besonders Sp. 717 f.

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dogmatischen und heilsgeschichtlichen Bilder Joachims von Fiore: das gleichseitige Dreieck für die Trinität, die drei ineinander verschlungenen Kreise für die drei Weltzeiten.25 In ihnen zeigt sich simultan, was begrifflich gar nicht oder nur umständlich und im Nacheinander zu erkennen ist; und die Bilder zeigen evidenter, was umständliche Erklärungen nicht erreichen können: die Gleichzeitigkeit von Erscheinung und Verbergen. Erscheinen und Verbergen in eins ist die Eigenart des Verweisens: Malewitschs Schwarzes Quadrat verweist auf das Heilige als Leerstelle, Berninis Teresa verweist auf die Fülle dessen, was sich als Offenbarung der Verfügbarkeit entzieht und zeigt die Unverfügbarkeit zugleich an. Beide Mal ist das Ereignis unerreichbar – und die Kunst ist die Instanz, die dieses Paradox am intensivsten inszenieren kann. Freilich: Anders als in Zeichen zeigt sich das Geheimnis nicht, und darin besteht letztlich seine Theologie. Der Unsichtbare und der Unsagbare macht sich selbst allein symbolisch erfahrbar. Und das ist wahrscheinlich das wirkliche Geheimnis der Bilder.

25

Joachim von Fiore: Epochenkreise und Trinitätssymbolik, vgl. http://faculty.virginia.edu/ kovacs/Joachim%20of %20Fiore%201/joachim5.jpg (letzter Zugriff 5. Oktober 2015).

Spuren von Spuren im Bild Über die Lebendigkeit von Bildern (mit Jacques Derrida) Georg W. Bertram Die Frage nach der Bildlichkeit ist in den gegenwärtigen Diskussionen, die mit der Konjunktur der Bildwissenschaften verbunden sind, eine durchaus mehrdeutige Angelegenheit. Unter anderem fragt sie einerseits nach der Bildlichkeit überhaupt – und andererseits nach der Bildlichkeit, die für Kunstbilder charakteristisch ist. Auch wenn diese beiden Fragen nicht fein säuberlich zu trennen sind, unterscheiden sie sich doch. Die Frage nach der Bildlichkeit überhaupt ist eine im weitesten Sinn medientheoretische Fragestellung. Sie interessiert sich für die mediale Konfiguration von Bildern, für den spezifischen Beitrag, den Bilder zur Welterschließung leisten. Die Frage nach der Charakteristik von Kunstbildern ist hingegen eine ästhetische Fragestellung. Sie betrifft die ästhetische Differenz derjenigen Bilder, die Kunstbilder sind. Da diese ästhetische Differenz möglicherweise überhaupt nicht mit der Bildlichkeit von Bildern zusammenhängt, kann es sein, dass sie für den Begriff des Bildes auch nicht sonderlich aufschlussreich ist. Wenn man die Fragen in dieser Weise unterschieden hat, gilt es allerdings auch, ihren Zusammenhang zu begreifen. Dieser Zusammenhang lässt sich mit folgender These umreißen: Für Bilder ist es spezifisch, dass sie immer wieder auch in ästhetischen Kontexten stehen. Bildlichkeit ist auch ein ästhetisches Medium. Da allerdings dieses ästhetische Medium im Sinne des einleitend Notierten nicht einfach mit dem Medium der Bildlichkeit überhaupt in eins gesetzt werden kann, gilt es zu fragen, wodurch Bilder spezifische ästhetische Momente gewinnen. Dies genau ist die Frage, der ich mich im Folgenden widmen will. Um diese Frage anzugehen, führe ich den Begriff der ästhetischen Strategie ein. Unter einer ästhetischen Strategie verstehe ich eine Operation, die in einem bestimmten Medium ent­w ickelt ist und ästhetische Artikulationen in diesem Medium eröffnet. Ich gehe also davon aus, dass einem Medium wie der Bildlichkeit eine oder mehrere ästhetische Strategien zugesprochen werden können. Genau dies will ich erkunden. Die soweit umrissene Fragestellung setzt die Unterscheidungen voraus, die ich eingangs getroffen habe. Es gilt einerseits anzuerkennen, dass mit der Frage, was Bildlichkeit überhaupt ausmacht, noch keine ästhetische Debatte geführt wird. Andererseits aber lässt sich in der Frage nach der ästhetischen Differenz von Gegenständen eines bestimmten Mediums wie der Bildlichkeit auch nicht einfach von diesem Medium abstrahieren. Es muss also die bestimmte ästhetische Tendenz eines Mediums begreiflich gemacht werden. Und genau dies will ich mit dem Begriff der ästhetischen Strategie zu leisten suchen. Ich kann die Frage, der die folgenden Überlegungen gewidmet sind, damit auch noch einmal folgendermaßen zusam-

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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menfassen: Gibt es spezifische ästhetische Momente an Bildern, die sich nicht einfach als ästhetische Momente im Allgemeinen verstehen lassen? Diese Frage will ich unter Rekurs auf einen bestimmten Beitrag zur Bildtheorie angehen. Es handelt sich um den Beitrag von Jacques Derrida. Ich gehe davon aus, dass sich bei Derrida spezifische Überlegungen zur ästhetischen Strategie von Bildern gewinnen lassen. Derridas Begriff der Spuren im Bild ist ein Beitrag zu einer Erläuterung genau dieser Strategie. Dieser Beitrag lässt sich, so meine ich, in seinem Potential nur dadurch sondieren, dass man eine solche Strategie analysiert. Es ist dafür erforderlich zu klären, welche Bedeutung ästhetische Strategien haben, was es also heißen kann, einzelnen ästhetischen Medien – wie der Bildlichkeit – spezifische ästhetische Strategien zuzusprechen. Ich beginne die folgenden Überlegungen aus diesem Grund damit, dass ich den Begriff der ästhetischen Strategie etwas genauer kläre. Ich lege dar, inwiefern der Begriff der ästhetischen Strategie vor dem Hintergrund eines Nachdenkens über ästhetische Verlebendigung verständlich wird und genau dort seinen Ort hat. Ästhetische Strategien müssen, so meine These, als Strategien der Verlebendigung begriffen werden. Im zweiten Teil komme ich auf Derridas Überlegungen zu einem bildspezifischen Begriff der Spur zu sprechen. Der dritte Teil widmet sich dann der Aufgabe, explizit zu machen, inwiefern Derridas bildspezifischer Begriff der Spur als Begriff für eine ästhetische Strategie von Bildern spezifiziert werden kann. Dabei kommt über Derrida hinaus Hegel ins Spiel, mit dessen Ausführungen zum Material der Bildlichkeit sich die besagte ästhetische Strategie weiter klären lässt. Ästhetische Strategien als Strategien der Verlebendigung Kant hat der Kunstphilosophie ins Stammbuch geschrieben, dass das Schöne als eine Praxis der Verlebendigung zu begreifen ist. Er erläutert diese Praxis mit seinem spekulativen Gedanken eines freien Spiels der Erkenntniskräfte.1 Ein schöner Gegenstand veranlasst demnach bei einem Subjekt einen in besonderer Weise ziellosen Zustand: Die Einbildungskraft und der Verstand befinden sich in diesem Zustand in einem freien Spiel. Und dieses freie Spiel hat einen belebenden Effekt. Es ist für ein Subjekt belebend, das Funktionieren des spezifischen Zusammenspiels zu erfahren, das für dieses Subjekt die Voraussetzung des Zustandekommens von Erkenntnissen ist.2 Dieser Grundgedanke von Kants Bestimmung des Schönen aber macht eine Voraussetzung, die nicht zu halten ist: Kant setzt voraus, dass wir von Erkenntnisvermögen auch dort sprechen können, wo keine Erkenntnisse zustande kommen.3 Die hierzu Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/M. 1977, B 27 ff. zu Kants Verständnis ästhetischer Verlebendigung insgesamt Jan Völker: Ästhetik der Lebendigkeit. Kants dritte Kritik, München 2011. 3 Vgl. zu diesen Interpretationen Kants und Hegels auch Georg W. Bertram: Kunst und All1 Vgl. 2 Vgl.



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Auseinandersetzung mit schönen Gegenständen wird von Kant genau so verstanden: Aus ihr resultieren keine Erkenntnisse. Dennoch werden, so behauptet Kant, die Erkenntniskräfte in ihrem Zusammenspiel belebt. Darin liegt ein Widerspruch, der sich beheben lässt, wenn man die spezifische Form der Erkenntnisse bestimmt, die durch ästhetische Gegenstände zustande kommt. Einen entsprechenden Versuch hat Hegel in seinen Ästhetik-Vorlesungen unternommen. Er bekräftigt dabei Kants Grundgedanken: Schöne Gegenstände haben auch Hegel zufolge eine in besonderer Weise verlebendigende Wirkung.4 Diese lässt sich aber nach Hegel nur erläutern, wenn man schöne Gegenstände im Rahmen einer gesellschaftlichen Praxis begreift. Hegel kommt so zu folgender These: Kunstwerke verlebendigen die wesentlichen Orientierungen einer gesellschaftlichen Praxis. Sie führen einer historisch-kulturellen Gemeinschaft zentrale Werte und Vorstellungen vor und beleben damit die Praxis, die von diesen Werten und Vorstellungen getragen ist.5 Mit dieser Erläuterung macht Hegel verständlich, inwiefern schöne Gegenstände eine besondere Erkenntnis ermöglichen. Sie ermöglichen, so kann man in seinem Sinn pointiert sagen, eine produktive Erkenntnis in Bezug auf eine historisch-kulturelle Praxis. Sie stellen die wesentlichen Orientierungen einer solchen Praxis nicht nur dar, sondern beleben sie zugleich. Damit lässt sich, so Hegel, auch erklären, inwiefern Kunstwerke unter den schönen Gegenständen einen besonderen Status besitzen. Kunstwerke sind Gegenstände, die in besonderer Weise dafür hergestellt sind, um produktive Erkenntnisse hinsichtlich einer gesellschaftlichen Praxis gewinnen zu können. Auch wenn Hegels Erläuterung damit über diejenige Kants hinausführt, macht sie doch noch mindestens eine problematische Voraussetzung. Problematisch ist es, eine historisch-kulturelle Praxis als eine Ganzheit zu begreifen. Hegel geht davon aus, dass hier ein einheitlicher Zusammenhang besteht. Hinsichtlich eines solchen Zusammenhangs bestätigen Kunstwerke die wesentlichen Orientierungen. Hegel stellt dabei nicht in Rechnung, dass in einer historisch-kulturellen Praxis unterschiedliche, auch widerstreitende Perspektiven koexistieren können. So ist sein Begriff der Allgemeinheit, wie derjenige Kants, von problematischen Voraussetzungen geprägt. Diese Voraussetzungen lassen sich aber durchbrechen, wenn man nicht von der Ganzheit einer Praxis, sondern von Kunstwerken als besonderen Objekten ausgeht. tag: Von Kant zu Hegel und darüber hinaus, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft [im Folgenden: ZÄK ] 54 (2009), 203-217. 4 Vgl. zu Hegels Verständnis ästhetischer Verlebendigung Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik, München, 2005, 237 ff.; Robert Pippin: The Absence of Aesthetics in Hegel’s Aesthetics, in: The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy, ed. by Frederic C. Beiser, Cambridge/MA 2008, 394-418, hier: 400 ff. 5 Hegel fasst die wesentlichen Orientierungen, von denen ich spreche, mit dem Begriff der »Idee«. Unter Idee versteht Hegel »die konkrete Einheit des Begriffs und der Objektivität« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt/M. 1970, 147). Eine solche Einheit liegt in den Orientierungen vor, die in einer Praxis verwirklicht sind und die das gesamte begriffliche Tun im Rahmen dieser Praxis leiten.

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Es gilt entsprechend, das verlebendigende Moment von Kunst nicht von dem Bezug auf eine historisch-kulturelle Praxis, sondern von Kunstwerken als spezifischen Gegenständen her zu begreifen.6 Die Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen muss als wesentlicher Aspekt der ästhetischen Verlebendigung begriffen werden.7 Charakteristisch für Kunstwerke ist, dass sie für diejenigen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, eine Herausforderung darstellen. Kunstwerke präsentieren Kon­ stellationen, auf die Rezipierende nicht vorbereitet sind. Auch wenn Rezipierende unterschiedliche Kenntnisse und Vorbereitungen in Bezug auf künstlerische Medien und Verfahrensweisen haben, ist die je spezifische Konstellation eines Kunstwerks doch eine je neue Aufgabe für sie. Man kann hier im Sinne von Adorno und anderen davon sprechen, dass ein Kunstwerk eine eigene Sprachlichkeit realisiert.8 Diese Sprachlichkeit hat zur Folge, dass ein Kunstwerk sich nicht einfach verstehen oder entziffern lässt. Genau aus diesem Grund fordert es Rezipierende heraus. Die Herausforderung schlägt sich darin nieder, dass ein Kunstwerk diejenigen, die sich mit ihm auseinandersetzen, in Bewegung versetzt. Dies geschieht dadurch, dass sie der Konstellation des Kunstwerks folgen. Ein entsprechendes Bewegtwerden macht die Rezipierenden in gewisser Hinsicht unselbständig. Die Unselbständigkeit, von der ich hier spreche, lässt sich gut konturieren, indem man zum Kontrast noch einmal die Erläuterung Kants heranzieht. Kant begreift das ästhetische Spiel als eines, das vom Gegenstand gänzlich unbestimmt ist. Insofern ist das Subjekt nach Kants Verständnis in ästhetischen Erfahrungen ganz bei sich. Versteht man die Rezeptionssituation hingegen so, dass die Rezipierenden mit einer bestimmten und für sie nicht direkt fassbaren Eigenlogik eines Gegenstands beziehungsweise Geschehnisses konfrontiert sind, dann kommt man zu der Auffassung, dass sie in ästhetischen Erfahrungen an die ›Struktur‹ des Kunstwerks gebunden sind. In ästhetischen Erfahrungen werden Rezipierende in die Konstellationen von Kunstwerken hineingezogen.9 Dies wiederum setzt voraus, dass Rezipierende sich hineinziehen lassen. Dazu bedarf es ihrer eigenen Aktivitäten. Rezipierende werden von einem Kunstwerk nur dann bewegt, wenn sie in ihren Aktivitäten durch das Kunstwerk bewegt werden. Dabei handelt es sich um bestimmte Aktivitäten des Sehens, des Hörens, der rhythmischen Bewegung, der 6 Vgl.

zu einer entsprechenden Explikation ästhetischer Verlebendigung aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Kant und Hegel hinaus auch Georg W. Bertram: Ästhetische Verlebendigung, in: Imaginäre Medialität – Immaterielle Medien, hg. von Gertrud Koch u. a., München 2012, 35-55. 7 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch meine Überlegungen in Georg W. Bertram: Autonomie als Selbstbezüglichkeit: Zur Reflexivität in den Künsten, in: ZÄK 55 (2010), 223-234. 8 Adorno fasst diese eigene Sprachlichkeit in erster Linie mit dem Begriff des »Formgesetzes«. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 18 u. a. 9 Im Sinne Adornos kann man diesen Gedanken auch artikulieren, indem man sagt: Die Auseinandersetzungen mit Kunstwerken haben einen mimetischen Charakter. Rezipierende werden von Kunstwerken in eine Praxis involviert, in denen sie den Konstellationen des Kunstwerks folgen. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [Anm. 8], 168 ff.



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sprachlichen Artikulation usf. Rezipierende folgen der Konstellation des Kunstwerks dadurch, dass sie solche Aktivitäten entfalten. Somit wird verständlich, wie ästhetische Verlebendigung im Lichte der Kritiken an Kants und Hegels Position gefasst werden könnte: Die ästhetische Verlebendigung liegt weder in einem freien Spiel der Erkenntniskräfte noch in der Bestärkung wesentlicher Orientierungen einer historisch-kulturellen Praxis. Sie besteht darin, dass Rezipierende in ihren Aktivitäten durch ein Kunstwerk bewegt werden. Kunstwerke lassen sich so als Gegenstände begreifen, die auf eine entsprechende Verlebendigung hin produziert sind. Die in ihnen realisierten Konstellationen setzen Rezipierende in Bewegung. Genau an diesem Punkt nun wird folgende Frage drängend: Inwiefern sind die Konstellationen von Kunstwerken so beschaffen, dass sie sich nicht einfach von Rezipierenden fassen lassen? Wodurch versetzen Kunstwerke diejenigen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, in Bewegung? Wenn sich Verlebendigung nicht nur abstrakt durch die menschlichen Erkenntnisvermögen oder durch eine bestimmte historisch-kulturelle Praxis realisiert, sondern in spezifischer Weise an Kunstwerke als Gegenstände gebunden ist, dann ist es interessant zu fragen, ob sich spezifische Formen ausmachen lassen, durch die sich die ästhetische Verlebendigung in unterschiedlicher Weise realisiert. Es entsteht dann Spielraum dafür, diese Verlebendigung nicht nur als ein strukturell einheitliches Geschehen zu begreifen, das in ästhetischen Erfahrungen zustande kommt, und damit die Möglichkeit, eine genuine Pluralität dieser Erfahrungen zu erläutern. Hier nun wird der Begriff der ästhetischen Strategie relevant. Man kann versuchen, die Spezifik der von einem Kunstwerk hergestellten Konstellationen auf bestimmte ästhetische Strategien beziehungsweise Konstitutionsprinzipien zurückzuführen. Ästhetische Strategien – wie zum Beispiel Rhythmisierung oder Fiktionalisierung – können als Strategien begriffen werden, die in unterschiedlichen Künsten ausgeprägt werden, ohne dabei im engeren Sinn an bestimmte Künste gebunden zu sein. In dieser Weise ließe sich die Pluralität ästhetischer Erfahrungen so erläutern, dass zugleich der Zusammenhang von Kunstwerken und Künsten verständlich wird. In den Künsten wären demnach unterschiedliche ästhetische Strategien ausgeprägt, mittels derer Kunstwerke Verlebendigungen bewirken. Statt von ästhetischen Strategien spreche ich auch von Konstitutionsprinzipien. Es handelt sich um Konstitutionsprinzipien in dem Sinn, dass der Auf bau einer Konstellation in einem Kunstwerk einem oder mehreren solcher Prinzipien folgt. Mit dem Begriff der ästhetischen Strategie beziehungsweise des ästhetischen Konstitutionsprinzips als Basis der Verlebendigung, die von einem Kunstwerk ausgeht, habe ich den Suchbegriff gewonnen, der für eine systematische Interpretation von Derridas Überlegungen zur Bildlichkeit aufschlussreich ist.

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Derridas Bestimmung bildlicher Spuren von Spuren Derridas Nachdenken über spezifische ästhetische Strategien der Bildlichkeit sind besonders in einem Kontext entwickelt, in dem bildliche Reflexionen auf Bildlichkeit im Vordergrund stehen. An unterschiedlichen Stellen seines Werks hat Derrida solche Reflexionen aufgegriffen. Besonders präsent sind sie in dem Text, den Derrida zu der von ihm kuratierten Ausstellung »Memoire d’aveugle« (»Aufzeichnungen eines Blinden«) geschrieben hat. In dieser Ausstellung hat Derrida Zeichnungen und Gemälde zusammengestellt, die ein besonderes Motiv von Bildlichkeit thematisieren: das Motiv der Blindheit. Dieses Motiv wird von Derrida in seinen Kommentaren in seiner Aussagekraft hinsichtlich der Konstitution von Bildern befragt. Man kann diese Aussagekraft im Sinne Derridas folgendermaßen erläutern:10 Charakteristisch für ein Bild ist, dass es sich vom außerbildlichen Sehen abgrenzt. Ein Bild wird dadurch als Bild gesehen, dass es sich von der sonstigen sichtbaren Umgebung abhebt, dass es vom sonst Sichtbaren abgesondert ist. Wer ein Bild als Bild sieht, sieht es nicht als Gegenstand in Kontinuität mit anderen Gegenständen in einem bestimmten Raum. Im Sehen von Bildern durchbricht man die Kontinuität, sieht das Bild also in Abgrenzung von den sonstigen Gegenständen. Damit gilt für Derrida, dass jedes Bild gerahmt ist, unabhängig davon, ob es faktisch einen Rahmen hat oder nicht. Jedes Bild unterliegt einer Logik der Rahmung, einer »parergonalen« Struktur.11 Die Abgrenzung im Felde des Sichtbaren, die die kon­ sti­t utive Rahmung jedes Bildes leistet, kann, so Derrida weiter, als eine spezifische Form des Sehens begriffen werden. Die Spezifik bildlichen Sehens ist, dass es von Blindheit geprägt ist. Wer mit Bildern sieht, ist in bestimmter Art und Weise blind (zum Beispiel gegenüber den sonstigen Gegenständen im Raum). Derrida erläutert die Blindheit, von der hier die Rede ist, unter anderem, indem er von einem »Entzug des Strichs« spricht. Ich zitiere etwas länger aus den Aufzeichnungen eines Blinden (Derrida unterscheidet hier drei Arten beziehungsweise Aspekte der Blindheit): »Betrachten wir jetzt den zweiten Aspekt, bei dem es sich aber nicht um einen zweitrangigen, sekundären Aspekt handelt. Er erscheint – oder vielmehr: verschwindet – ohne Verzug. Ich nenne ihn den Entzug [retrait] oder die Eklipse, das differentielle Nichterscheinen des traits, des Zugs oder Strichs. Wir waren bislang am Akt des Ziehens, am Ziehen des Strichs interessiert. Wie hat man sich jetzt den einmal gezogenen Strich zu denken? Nicht mehr seine Bahnung und die ursprüngliche Bahn der Spur [trace], sondern das, was davon bleibt? Etwas Gezogenes, eine Umrisslinie [tracé], wird nicht gesehen. Man dürfte sie wohl deshalb nicht sehen (sagen wir jedoch nicht: ›Man darf sie nicht sehen‹), weil das, was ihr an farbiger Dichte bleibt,

10 Mit den folgenden Überlegungen folge ich der Interpretation von Anna Krewani: Philo­ sophie der Malerei bei Derrida, Diss. Universität Bochum 2003. 11 Diese »parergonale Logik« hat Derrida in erster Linie in dem Text »Parergon« analysiert. Vgl. Jacques Derrida: Parergon, in: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, 31-176.



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dazu tendiert, immer schwächer zu werden, um den bloßen Rand einer Kontur zu markieren: zwischen dem Innen und Außen einer Figur.«12

Das Zitat ließe sich noch weiter fortsetzen. Ich unterbreche es hier, um zu kommentieren. Betrachten wir zum Beispiel einen einfachen Strich auf einem Gemälde von Hokusai.13 Wer diesen Strich als Strich sieht, sieht nicht das Bild. Er sieht eine bloße Materialität auf der Leinwand. Eine solche Materialität auf der Leinwand aber ist nicht Teil eines Bildes. Damit es zu einem bildlichen Sehen und damit zu einem Bild kommt, muss der Strich in der Konfiguration mit anderen Strichen oder allgemein: anderen Elementen des Bildes gesehen werden. Erst aus einem Zusammenhang von Elementen auf der Leinwand ergibt sich eine bildliche Darbietung.14 Im Gemälde von Hokusai kommt es zum Beispiel zu einem Ausein­ andertreten von Berg und Himmel, zu einer Konturierung von Gegenstand und Horizont. Auch wenn alles auf dem Gemälde äußerst reduziert ist, realisiert sich ein Zusammenhang von Elementen: Der Strich wird so zum Beispiel im Zusammenhang mit großen Flächen gesehen, die ohne Farbauftrag (oder mit je nur geringem Farbauftrag) geblieben sind. Um eine bildliche Darbietung zu sehen, muss der einzelne Strich aus einem solchen Zusammenhang heraus gesehen werden. Dies aber setzt voraus, dass er nicht für sich gesehen wird. Wenn man den Strich für sich sieht, sieht man ihn in seiner Materialität (zum Beispiel als einen bestimmten Auftrag von Schwarz). Gilt es nun, den Strich nicht für sich zu sehen, heißt dies, dass er in seiner Materialität übersehen werden muss. Mit Derrida kann man sagen: Das, was ihm an farbiger Dichte bleibt, tendiert dazu, immer schwächer zu werden. Genau dies heißt es, den Strich in einer Konfiguration von Elementen zu sehen. Der Strich wird mit anderem in Verbindung gesehen. Und damit wird der Strich nicht als solcher gesehen. Es realisiert sich ein Entzug des Strichs, sein differentielles Nichterscheinen. Wer die bildliche Darbietung sehen will, muss sich blind machen für den einzelnen Strich. Dieses grundlegende Moment bildlichen Sehens lässt sich mit dem Begriff der Spur erläutern. Sofern der Strich als Element einer bildlichen Darbietung gesehen wird, fungiert er als Spur. Eine solche Spur, so betont Derrida immer wieder, trägt das Moment ihres Verschwindens in sich.15 Sie ist keine einfache Positivität, sondern ist mit ihrer Negation, ihrem Verschwinden konstitutiv verbunden. Eine Materialität ist nur dadurch eine Spur, dass sie in Verbindung mit anderen Spuren steht. Sie muss von anderen Spuren abgegrenzt sein, muss sich anderen Spuren gegenüber abheben. Für diese Konstitution kann man im Sinne Derridas folgende Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden: Das Selbstporträt und andere Ruinen, München 1997, 57. 13 Mit diesem Beispiel komme ich auf verwandte Überlegungen Nelson Goodmans zurück. Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/M. 1995, 6. Kap. 14 Vgl. zum Begriff der Darbietung im ästhetischen Kontext: Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München 2000, 156 ff. 15 Vgl. Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, 302-350, hier: 348 ff. 12 Jacques

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Formel gebrauchen: Eine Spur gibt es nur als »Spur von Spuren«.16 Dass eine Spur immer auf vielfältige andere Spuren bezogen ist, von denen sie sich abgrenzt, heißt: Immer haben an dieser Spur andere Spuren ihre Spur hinterlassen. Was die Spur ist, ist sie nur aufgrund ihrer Differenzierungen von anderen Spuren. Sie ist es nicht als materiale Positivität. Dies muss erfassen, wer mit etwas als einer Spur umgeht. Für ihn muss dieses Etwas als einfache Präsenz verschwinden, um Spur zu sein. Insofern ist eine Spur immer mit ihrem Verschwinden verbunden. Damit ist für eine Spur eine eigentümliche Zeitlichkeit charakteristisch. Eine Spur ist immer nachträglich. Es gibt sie nur auf dem Umweg über andere Spuren, in einer Verschiebung von Spur zu Spur. Derridas Überlegungen zur Zeitlichkeit von Spuren sind weithin vertraut. Er hat sie kritisch gegen ein Denken der Präsenz entfaltet.17 Nachträglichkeit und Verspätung sind demnach bei Spuren ursprünglich. Diese allgemeinen Überlegungen zum Begriff der Spur greift Derrida in seiner Explikation bildlichen Sehens auf. Hier finden sich Spuren von Spuren in einer besonderen Art und Weise realisiert. Es handelt sich um Spuren von Spuren im Modus des Sehens. Charakteristisch für das bildliche Sehen ist, so Derrida, wie bereits gesagt, die Blindheit, mit der dieses Sehen konstitutiv verbunden ist. Die Blindheit ist nun genau als ein Aspekt der Spur zu begreifen, wie sie für Bilder charakteristisch ist. Das Verschwinden in der Spur ist ein optisches Verschwinden. Es kann nur im Modus des Sehens zustande kommen. Zum Kontrast dazu kann man sich vergegenwärtigen, wie sprachliche Zeichen als Spuren zu begreifen sind. Sprachliche Zeichen sind, so kann man mit Derrida sagen, von anderen Zeichen abgegrenzt. Sie haben ihre Bedeutung nur in einem differentiellen Zusammenhang mit anderen Zeichen. Die Differenzen aber sind hier nicht im sinnlichen Material als solchem realisiert (wiewohl auch sie an ein Material gebunden sind). Phoneme oder Buchstaben sind als differentiell konstitutive Elemente sprachlicher Zeichen in typischer Weise voneinander abgegrenzt. Ein A kann in unterschiedlicher Weise, mit unterschiedlichen Stimmen etc. gesprochen (und auch geschrieben) werden. Die Differenzen zu anderen Elementen sprachlicher Zeichen lassen sich aus diesem Grund nicht auf Basis des jeweiligen Materials begreifen. Sie sind systematischer Natur. Sprachliche Zeichen sind unter vielfältigen anwesenden und abwesenden anderen Zeichen, in einem System von Zeichen, konturiert. Dazu ließe sich weit mehr sagen. Für den Zweck des Kontrasts will ich es bei diesen Andeutungen belassen. Bei Bildern sind Spuren von Spuren nicht in typischer Weise, also nicht in einem System von Zeichen realisiert. Vielmehr gewinnen die Spuren im jeweiligen Bild Kontur. Die Differenzen von Spuren sind so an die optische Wahrnehmung gebunden. Sie haben eine dezidiert optische Dimension. Um diese Spezifik zu artikulieren, kann man von Sehspuren sprechen. Solche Sehspuren sind an die spe16 Jacques Derrida: Positionen, Wien 1986, 67. Vgl. hierzu auch meine Darstellungen zu Derri­ das Philosophie in: Georg W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinander­ setzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002, 87 ff. 17 Von besonderer Bedeutung ist hier Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Frank­ furt/M. 2003.



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zifische Materialität gebunden, die durch einen und auf einem Bildträger realisiert ist. Allerdings ist die bloße Materialität als solche keine Spur. Sie muss in der bereits erläuterten Weise übersehen werden, damit eine Spur ›zustande kommt‹. Genau aus diesem Grund sind Sehspuren in charakteristischer Weise von Blindheit geprägt – davon, dass man nur sieht, wenn man in einer gewissen Hinsicht die Spur (als Materialität) gerade nicht sieht. Sofern sie als Spur fungiert, wird sie in ihrer bloßen sinnlichen Präsenz übersehen, kommt also differentiell zum Verschwinden. Dieses Verschwinden geht bei Spuren von Spuren im Bild von der jeweils optisch wahrnehmbaren Materialität aus. Genau dies ist nach Derrida spezifisch für die Konstitution einer Spur als dem grundlegenden Moment eines Bildes. Ich kann an dieser Stelle noch einmal auf die Grundfrage zurückkommen, die Derrida mit seinen Überlegungen zu Spuren von Spuren auf Bildern zu beantworten sucht. Es handelt sich um die Frage, wie sich die Sichtbarkeit des Bildes durch die Abgrenzung von anderem Sichtbaren herstellt. Ich habe bereits erwähnt, dass Derrida diese Abgrenzung als parergonale Struktur erläutert. Das Sichtbare auf Bildern ist grundsätzlich gerahmt – unabhängig davon, ob Bilder faktisch einen Rahmen haben oder nicht. Diese Rahmung hat Derrida unter anderem in seinen Überlegungen zu Meyer Schapiros Heidegger-Kritik18 weiter erläutert. In seinen »Restitutionen« sucht Derrida dieser Kritik zu begegnen, indem er eine Relektüre von Heideggers ästhetischen Überlegungen unternimmt.19 Er zielt dabei darauf, deren bildästhetische Relevanz anhand des Bildes von van Gogh zu klären, das Heidegger und Schapiro interpretieren.20 Ich will und kann hier nicht weiter auf die Frage eingehen, wie Derrida die unterschiedlichen Positionen von Heidegger und Schapiro kommentiert. Ich will nur kurz betrachten, wie Derrida selbst van Goghs Gemälde interpretiert. Im Zuge des langwierigen Polylogs, den Derridas Text inszeniert, sagt eine der Stimmen: »Andere würden sagen: Die Schuhe halten einen Diskurs über die Malerei, über den Rahmen, über die Züge. Diese Schuhe sind eine Allegorie der Malerei, eine Figur der bildlichen Ablösung. Sie sagen: Wir sind die Malerei in der Malerei. Oder weiter: Man könnte dieses Bild betiteln: Der Ursprung der Malerei.« 21

Derrida relativiert diese Interpretation dadurch, dass er sie dem zuspricht, was andere sagen würden. Derrida ist bekanntlich skeptisch gegenüber der Idee des Ursprungs, gegenüber der Idee des Wesens. Die Malerei, wenn es sie gibt – dies wäre eine Formulierung im Sinne Derridas. Auch wenn Derrida gegenüber allzu allgemeinen Formulierungen solch eine skeptische Zurückhaltung übt, kann man 18 Vgl.

Meyer Schapiro: The Still Life as a Personal Object. A Note on Heidegger and van Gogh, in: The Reach of Mind, hg. von Marianne L. Simmel, New York 1968, 203-209. 19 Vgl. insgesamt Jacques Derrida: Restitutionen – von der Wahrheit nach Maß, in: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, 301-442. 20 Heideggers Interpretation findet sich in Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, Frankfurt/M. 1980, 1-72, hier: 17 ff. 21 Derrida: Restitutionen – von der Wahrheit nach Maß [Anm. 19], 398.

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doch in seinem Sinn sagen, dass van Goghs Gemälde einen Diskurs über seine Bildlichkeit führt. Dieser Diskurs ergibt sich daraus, wie das Gemälde das von ihm Dargestellte darbietet. Das Gemälde zeigt, darauf insistiert Derrida, die aufgelösten Schnürsenkel von Schuhen. Es zeigt damit, wie sich durch eine Darbietung aufgelöster Schnürsenkel eine Darstellung von Schuhen ergibt. Die Schnürsenkel erscheinen als paradigmatische Realisierung von Spuren. Auf dem Bild werden sie als Spuren realisiert, durch die sich das vom Bild Dargebotene auf baut. Damit aber lösen sie sich von dem sonst Sichtbaren ab. Gerade hier wird deutlich, dass Spuren eine besondere Zeitlichkeit aufweisen. Ich habe oben gesagt, dass Spuren immer nachträglich zustande kommen. Diese Nachträglichkeit wird von den Schnürsenkeln gezeigt: Sie müssen erst hervortreten, um als bildliche Spuren sichtbar zu sein. Für die bildliche Darstellung ist so insgesamt die Verschiebung charakteristisch, in der sich die sichtbaren Elemente des Bildes konstituieren. Diese Elemente müssen auf dem Gemälde zutage treten. Sie müssen hervortreten wie die Schnürsenkel, die durch die Öse hindurch in den Vordergrund des Bildes gelangen – und dies dadurch, dass sie sich von anderen bildlichen Elementen differentiell abheben. Die »Logik des Parergons« 22 realisiert sich durch das Verschwinden, das dem optisch dargebotenen Schnürsenkel als einer Spur inhärent ist. Die Ablösung des Bildes vom außerbildlichen ›Sonst‹ realisiert sich durch die Blindheit, die mit jeder Spur einhergeht. In diesem Sinn lassen sich die Schnürsenkel auf dem Gemälde van Goghs als Beispiele für die Konstitution von Bildlichkeit überhaupt begreifen. Das Bild thematisiert seine Spurhaftigkeit als die parergonale Struktur, die für es charakteristisch ist. Bildliche Spuren von Spuren als ästhetische Strategie Nun stellt sich aus meiner Sicht die Frage, welchen Status die Überlegungen Derridas zur Blindheit in der Konstitution des Bildlichen haben. Worum geht es in den Überlegungen zu spezifisch bildlichen Spuren? Ich denke, dass eine Antwort auf diese Frage sich an eine Unterscheidung halten kann, die Derrida in den »Aufzeichnungen eines Blinden« trifft. Derrida unterscheidet dort vor der Passage zum »Entzug des Strichs«, die ich länger zitiert habe, zwei Arten von Blindheit.23 Er bezeichnet sie als »die transzendentale und die sakrifizielle Blindheit«.24 Die transzendentale Blindheit ist Derrida zufolge immer dort im Spiel, wo Bilder als Bilder 22 Ebd.,

385. Unterscheidung Derridas lässt sich als eine subtile Kritik an Merleau-Pontys Verständnis von Kunstbildern verstehen – an einem Verständnis also, dem Derrida ansonsten in vielen Punkten verpflichtet ist. Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, 275-317. Derridas Kritik betrifft Merleau-Pontys Gedanken, dass Bilder insgesamt eine Reflexion von Sichtbarkeit leisten. Es gilt, so kann man Derridas Unterscheidung verstehen, bezüglich dieses Gedankens verschiedene Typen von Bildern zu unterscheiden. 24 Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden [Anm. 12], 46. 23 Die



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gesehen werden. Sie ist konstitutiv für jede Darbietung in Sehspuren – und nach den bislang entwickelten Überlegungen kommt es zu einer solchen Darbietung überall dort, wo Bilder als Bilder gesehen werden. Diese transzendentale Blindheit lässt sich, darauf insistiert Derrida, nicht innerhalb des Bildes greif bar machen. Sie liegt aller Bildlichkeit uneinholbar voraus. Die zweite Art der Blindheit, die sakrifizielle Blindheit, begreift Derrida als eine Reflexion auf die uneinholbare Blindheit alles Bildlichen. Er erkennt sie in besonderer Weise in den Zeichnungen und Gemälden, die sich dem Motiv der Blindheit als einem Moment in der Konstitution von Bildlichkeit zuwenden. Man kann aber im Sinne Derridas auch weiter gehen und sagen: Die sakrifizielle Blindheit ist überall dort im Spiel, wo sie von denjenigen, die ein Bild betrachten, dezidiert gefordert wird. Und genau dies ist bei ästhetischen Bildern der Fall. Ästhetische Bilder fordern von denjenigen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, eine besondere Sehpraxis. Sie fordern, das eingeübte Sehen aufzugeben und sich in immer neuer Weise für die einzelnen Elemente im Bild blind zu machen, um dadurch die Darbietung zu sehen, die sich aus dem Zusammenhang der Spuren im Bild ergibt. Wenn man den Begriff der sakrifiziellen Blindheit in dieser Weise zur Erläuterung ästhetischer Bilder heranzieht, dann wird mit ihm eine ästhetische Strategie bezeichnet. Es handelt sich dann um einen Begriff, der die spezifische Art und Weise fasst, in der ästhetische Bilder ihre Rezipientinnen und Rezipienten herausfordern. Man kann dann mit Derrida folgendermaßen sagen: Ästhetische Bilder realisieren dadurch die Herausforderung, die sie für Rezipierende darstellen, dass sie Spuren in ihrem Verschwinden präsentieren. Sie präsentieren ein Geschehen, durch das sich ein bildliches Sehen überhaupt erst ergibt. Die optischen Spuren von Spuren, die eine bildliche Darbietung ausmachen, sind auf einem ästhetischen Bild nicht als solche fertig. Eine Rezipientin muss sie vielmehr in ihrer Konstitution verfolgen. Dies führt dazu, dass sie nicht einfach von sich aus ein Bild und das von ihm Dargebotene zu identifizieren beziehungsweise einzuordnen vermag. Sie muss vielmehr demjenigen, was das Bild präsentiert, folgen. Sie muss unterschiedliche Materialitäten in ihrem Verschwinden in Bezug auf andere Materialitäten nachvollziehen. Dies ist die Herausforderung, die ästhetische Bilder an diejenigen stellen, die sich mit ihnen auseinandersetzen. Mit seinen Überlegungen zu Spuren von Spuren auf Bildern formuliert Derrida einen Beitrag zum Verständnis eines spezifisch ästhetischen Konstitutionsprinzips von Bildern. Diese Sichtweise versuche ich weiter aufzuhellen, indem ich frage, wie sich der Unterschied zwischen ästhetischen Bildern und sonstigen Bildern im Lichte von Derridas Überlegungen begreifen lässt. Es gibt hier, so müsste man im Sinne von Derrida antworten, keinen generellen Unterschied (es gibt keinen generellen »Ursprung des Bildes« und auch keinen generellen »Ursprung des ästhetischen Bildes«). Der Unterschied ist graduell. Er liegt in der spezifischen Herausforderung, die ästhetische Bilder realisieren. Sie fordern Rezipierende auf, bildliche Darbietungen darin zu verfolgen, wie sie aus Spuren und damit aus einem Verschwinden von Materialität hervorgehen. Ästhetische Bilder fordern demnach, so

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kann man diese Herausforderung noch einmal im Vokabular Derridas artikulieren, von denjenigen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, ein besonderes Opfer. Sie müssen die Blindheit durchlaufen, die zur Konstitution des Bildlichen gehört. Sie verfolgen so, wie sich die bildlichen Spuren aus der Unsichtbarkeit heraus kon­ sti­t uieren. Dies ist bei nicht-ästhetischen Bildern anders. Nicht-ästhetische Bilder setzen darauf, dass eine Unsichtbarkeit der Spuren funktioniert. Sie stützen sich auf diese Unsichtbarkeit als eine etablierte Sprache. Aus diesem Grund kommt Blindheit bei ihnen, wiederum mit Derrida gesprochen, nur transzendental ins Spiel. Sie hat nicht das Moment eines bestimmten Opfers, das für das Sehen des Bildes erbracht würde. Dieses Opfer ist charakteristisch für ästhetische Bilder. Ästhetische Bilder basieren nicht auf immer schon gegebenen Spuren, also auf immer bereits gegebenen Arten und Weisen, durch Farben Kontraste auf einer Leinwand zu produzieren. Vielmehr werden jeweils spezifische Arten und Weisen einer solchen Kontrastproduktion entwickelt. Man kann die je spezifische Produktion folgendermaßen erläutern: Es geht immer darum, die Frage neu zu beantworten, was als eine optisch kontrastierte Spur gilt. Es gibt Bilder, auf denen Spuren Striche sind. Auf anderen Bildern handelt es sich um Farbgrenzen. Auf wieder anderen Bildern handelt es sich um Farbflächen als solche. Dazu wäre weit mehr zu sagen. Es wäre interessant, eine Phänomenologie der unterschiedlichen Realisierungen von Spuren in ästhetischen Bildern zu entwickeln. Dazu aber ist hier nicht der Ort. Die allgemeine ästhetische Strategie, die, so gesehen, für ästhetische Bilder charakteristisch ist, lässt sich nun folgendermaßen bestimmen: (a) Ästhetische Bilder konstituieren sich in Spuren, die in ihrer optischen Kontrastierung präsentiert werden. Charakteristisch für sie ist, dass sie diejenigen, die sich mit ihnen ausein­ andersetzen, dazu herausfordern, immer wieder aufs Neue von den Materialien her die optischen Differenzierungen zu durchlaufen. So kann ich die ästhetische Strategie, um die es hier geht, auch noch einmal anders fassen: (b) In ästhetischen Bildern wird aus dem Verschwinden des Materials heraus ein Zusammenhang von Spuren hergestellt. Ist aber diese Bestimmung nicht zu allgemein? Kann man hier noch von einer speziellen ästhetischen Strategie sprechen oder bin ich nicht – nolens volens – wieder bei einem allgemeinen Begriff ästhetischer Erfahrung angelangt? Man kann argwöhnen, dass die Überlegungen von Derrida, die ich mir hier zu eigen mache, doch nicht taugen, um etwas Spezifisches in Bezug auf einzelne Künste zu sagen. Man könnte denken, dass ich bei einer Bestimmung angelangt bin, die sich durchaus im kantischen Sinn verstehen lässt: als eine Erläuterung des freien Spiels der Erkenntniskräfte auf Basis einer gegenständlichen Materialität (im Sinne der Analysen Christoph Menkes zum Beispiel 25). Um diesen Argwohn zu zerstreuen, will ich kurz eine weitere Position heranziehen: Hegels Kunstphilosophie. Auch Hegel hat in seinen Ästhetik-Vorlesungen Überlegungen dazu angestellt, wie die spezifischen ästhetischen Konstitutions25 Vgl.

Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst [Anm. 5], 52 ff.



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prinzipien einzelner Künste zu erläutern sind. Man kann zwar den Eindruck gewinnen, dass Hegel dabei alles auf die von ihm erläuterte Systematik der Künste abzirkelt und dass er aus diesem Grund der Spezifik einzelner Künste nicht gerecht wird. Diese Einschätzung aber hält einem genaueren Blick nicht stand. Hegel gibt Erläuterungen, die sehr genau einzelne Konstitutionsprinzipien im Ästhetischen bestimmen. Die Erläuterungen Hegels zu Malerei sind dabei denjenigen Derridas erstaunlich verwandt. Sie lassen sich deshalb gut heranziehen, um die ästhetische Strategie, um die es mir geht, noch einmal zu beleuchten. Hegel vertritt in Bezug auf Malerei die These, »die Farbe« sei als das »eigentliche Material der Malerei« 26 zu begreifen. Diese These erläutert er unter anderem folgendermaßen: »Gestalt, Entfernung, Abgrenzung, Rundung, kurz, alle Raumverhältnisse und Unterschiede des Erscheinens im Raum werden in der Malerei nur durch die Farbe hervorgebracht, …«.27 Die Farbe ist ein künstlerisches Material, für das Unterschiede des Scheinens, Unterschiede des Lichts bzw. Unterschiede von hell und dunkel wesentlich sind. Es handelt sich also um ein Material, das nicht aus sich heraus eine Bestimmtheit zu realisieren vermag, sondern dazu die Zusammenhänge mit anderem Material benötigt. Helles und Dunkles realisieren sich nur im Kontrast. Zu einem solchen Kontrast wiederum bedarf es eines je konkreten Materials. Der Kontrast ist nicht in einer Struktur – ideell – etabliert (wie im tonalen System der Musik oder in einer natürlichen Sprache), sondern muss aus einem bestimmten Material heraus realisiert werden. Eine solche materiale Realisierung von kontrastiven Zusammenhängen ist nach Hegels Verständnis charakteristisch für die Malerei. Letztere ist somit in besonderer Weise mit Material verbunden, wobei dieses Material aber nicht als solches präsentiert und gestaltet wird, sondern im Verschwinden seinen Beitrag zur ästhetischen Darbietung leistet. Eine bestimmte Farbe realisiert Helligkeit im Kontrast zu anderen bestimmten Farben. Keine Farbe bietet sich aus sich heraus zu etwas Bestimmtem dar. Mit Hegel kann man so sagen: Die Form der Malerei besteht darin, Material durch ein Etablieren von Zusammenhängen mit anderem Material zu vergeistigen. Die Malerei hat ein sinnliches Material, das seine bestimmte Sinnlichkeit nur insofern zu realisieren vermag, als es vergeistigt wird – als es, mit Derrida gesprochen, differentiell verschwindet. Die Überlegungen Hegels bestätigen damit den Begriff der spezifischen ästhetischen Strategie, den ich mit Derrida gewonnen habe. Bilder gehen in einer besonderen Weise mit dem Material um, das sie verwenden. Sie gestalten dieses Material nicht nur, sondern bringen es intern zum Verschwinden. Dieses Verschwinden geht vom Material aus. Es ist nicht – wie im tonalen System der Musik oder wie bei Zeichen einer natürlichen Sprache – bereits in einer Struktur organisiert. Es ist tatsächlich ein spezifisches Konstitutionsprinzip, einen Zusammenhang von Spuren aus dem Verschwinden von Material zu gewinnen. Diese ästhetische Strategie bedeutet eine besondere Herausforderung für Rezipierende und damit auch eine 26 Georg 27 Ebd.

Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III [Anm. 5], 33.

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besondere Form ihrer Verlebendigung. Diejenigen, die sich mit ästhetischen Bildern auseinandersetzen, sind in spezifischer Weise herausgefordert, mit dem Bild zu sehen. Sie müssen immer wieder aufs Neue blind werden für die einzelnen materialen Momente, aus denen sich eine bildliche Darbietung auf baut, um genau diese Darbietung zu sehen. Mit dem Bild zu sehen, muss hier im Sinne einer spezifischen Verlebendigung verstanden werden. Ästhetische Bilder fordern ein immer neues Sehen.28 Dennoch lässt sich die ästhetische Strategie von Bildern in einem gewissen Maß auch unabhängig von der optischen Wahrnehmung fassen. Es handelt sich um eine spezifische Entwicklung von Zusammenhängen aus dem Verschwinden des Materials heraus. In Bezug auf diese Strategie lässt sich damit fragen, inwiefern sie auch in anderen Künsten realisiert werden kann. Dies aber ist eine Frage, die ich anderen Überlegungen vorbehalten muss.

28 In dieser Bestimmung schließt Derrida an Merleau-Ponty an, bei dem es heißt: »Das Sehen des Malers ist eine fortwährende Geburt.« (Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, 287). Wie bereits erwähnt, ist Derrida so zu verstehen, dass er diesen Gedanken spezifischer zu fassen sucht, als dies bei Merleau-Ponty geschieht (vgl. Anm. 23).

Was sich in der Natur zeigt Romantische Naturphilosophie Olaf Breidbach Was heißt es, über die Natur zu philosophieren? Bedeutet dies nicht gerade, weg von der Anschauung auf etwas zurückzuführen, in dem die Natur eben nicht als das Anschauliche, sondern als das in Formeln und in begrifflichen Abbreviaturen Gefasste erscheint? Zwar hat Gernot Böhme gegen die szientistisch gefärbte Natursicht eine weit in die Phänomenologie des Alltags ausholende Natursicht gesetzt und dies im Verweis auf die antike Tradition in einem unmittelbaren, eben nicht disziplinär versetzten Anschauungsgefüge zu verankern versucht.1 Doch ist Natur als das so unmittelbar Anschauliche dann etwas, was mit dem, was die Wissenschaft sieht, nur bedingt zu vermitteln ist. Diese Natur-Philosophie führt zwar vor die Wissenschaft, stellt diese damit aber doch selbst in Frage. Damit muss sie die beiden Perspektiven in irgendeiner Form miteinander vermitteln, will sie nicht im Fragmentarischen verbleiben. Natürlich müssen wir uns dann aber auch fragen, ob die in dieser Form zur Grundlage einer ›Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht‹ genommene Alltagssicht der Natur das ist, was wir selbst auch in einem umfassenden Sinne mit Natur meinen. Schließlich gehen wir ja auch in unserem Alltag mit der Natur als einer wissenschaftlich bearbeiteten Größe um, nutzen Telefon, Web, genetisch veränderte Lebensmittel, Energie und Medizin, um uns in unserem ›Milieu‹ überhaupt zurecht zu finden. Unsere Natur ist nicht mehr die unmittelbar und direkt erfahrene Größe eines vor und außer unserer (Kultur-)Technik befindlichen Seins. Wir können uns im ökologisch optimierten Wintergarten unsere Naturfilme anschauen, aber wir leben damit in einer ›designten‹ Natur-Natur. Das heißt also auch: Das uns unmittelbar Erscheinende ist uns gar nicht so unmittelbar sicher. Und so meinen wir, wenn wir von einem All sprechen, mehr als das uns in der Nacht vor Augen geführte Sternenband. Wir sehen nicht einfach auf die Sternkonstellationen, sondern begreifen sie in ihrer Raum-Zeit-Schichtung. Und so erfassen wir auch den Erdboden nicht einfach als den festen Grund, den wir im Alltag versichern und auf den wir ein Generationenhaus setzen können. Wir sehen nunmehr nur eine vergleichbar dünne Hülle über einem Ball glühenden Magmas. Es sind dabei nicht einfach nur Brechungen, die hier zu beschreiben sind. Es sind Momente, in denen das, was wir sehen, in einen größeren Horizont gehoben ist, in dem das, was wir im Alltag erfahren, nicht einfach zu integrieren ist. Es geht um die Frage, wie wir die Bezugsgrößen setzen, in denen wir dies Verschiedene denken können. Wir können eine Welt zwar auf die uns erfahrbare Dimension zurückstufen und Gernot Böhme: Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt/M. 1993; Gernot Böhme: Die Natur vor uns. Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Zug 2002. 1

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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die Zeit der Physik in eine Erlebniszeit umschreiben. Doch was erhalten wir dann? Wir können dies sogar in einer Naturwissenschaft tun, und wir haben dabei sehr gute Gründe, die Welt, die wir erfahren, erst einmal als eine Projektion der uns – als neuronalen Wesen – eigenen Verrechnungsmöglichkeiten zu begreifen.2 Nur haben wir uns in dieser wissenschaftlichen Ansicht dann auch jeden Blick auf die Natur versperrt. Wie lösen wir das damit aufscheinende Dilemma? Es sind mehrere Sichten, die wir aber nicht einfach nebeneinander setzen können. Wie können wir aber eine solche Vielfalt von Sichtweisen integrieren oder wie können wir dies ggf. vielleicht auch eben nicht? So müssen wir fragen, inwieweit wir in der so gewonnenen Sicht unserer Anschauung überhaupt noch trauen können. Vielleicht müssen wir denn auch zu einer neuen Anschauung finden.3 Dabei hilft ein Blick zurück auf die Situation eines Naturdenkens vor der fachlich disziplinären Diversifizierung. So führt uns unser Rückblick auf den historischen Beginn unserer modernen induktiv-analytischen Natursicht. Hilfreich wäre dabei, wenn diese In-Blick-Nahme des Vormaligen nicht von vornherein auf die Unmittelbarkeit einer noch nicht disziplinär strukturierten Weltsicht zurückzusehen suchte, sondern auch in der Einheit eine Vielfalt möglicher Ansätze frei präpariert würde. Auch hier gibt es schließlich ein durch ein bestimmtes Interesse geleitetes Sehen. Wobei zu fragen sein wird, ob die dort zu identifizierenden Interessen unseren heutigen entsprechen oder ob uns eben auch andere, aus der vereinfachten Diremption von Alltag und Wissenschaft herausführende Sichtweisen deutlich werden. Romantik verbinden wir in der vereinfacht vermittelten Sicht mit einer einfachen, vielleicht ein wenig naiv, d. h. eben unvermittelt erscheinenden Unmittelbarkeit. Es ist jenes »Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen« des Friedrich von Hardenberg,4 das auf diese Form der Romantikrezeption führt, die dann allerdings aber auch vergessen muss, dass Hardenberg sehr wohl mit diesen Figuren und Zahlen umzugehen vermochte, und auch nicht berücksichtigt, wie Achim von Arnim in seinen Schriften um mathematische Formulierungen ringt. Nur wenn wir diese in diesen ersten Andeutungen greif bare Vielfalt des romantischen Geistes ausblenden, gewinnen wir jenes Signé einer nachhaltig naiven Unmittelbarkeit, in der wir dann zunächst vielleicht meinen könnten, uns vor das Wissenschaftliche zurücksetzen zu können. Doch ist dies ein Trugschluss und generiert eine Fehlanschauung. Was heißt es aber, wenn wir im Blick auf eine andere, differenziert gesehene Romantik nun auch von Unmittelbarkeit sprechen? Was bedeutet es, wenn wir dabei bedenken, dass die mathematische Wissenschaft von der Natur des 18. Jahrhunderts nicht der mathematisch geführten Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts entsprach? Was waren schließlich überhaupt die Formen, in denen ein analytisch vorgehendes Denken dort seine Aussagen fand? In2 Olaf Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung der Welt. Ein Beitrag zur neuronalen Ästhetik, Wien/New York 2000. 3 Vgl. grundsätzlich: Olaf Breidbach, Federico Vercellone: Anschauung denken, München 2012. 4 Novalis: Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard H. Samuel, Stuttgart 1960, 344.



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wieweit – so müssen wir dann fragen – war das Poetische in eine Entgegensetzung zu einer Beschreibung zu setzen, die erst zu ihren Formeln finden musste? Solch eine Abgrenzung und Differenzierung kann natürlich nicht am Beginn eines Weges stehen. Schließlich lässt dieser in seiner späteren Diversifizierung das Resultat einer Entwicklung, nicht jedoch eine schon vorab formulierte Zielstellung erkennen. Demnach ist in einer historischen Analyse zu fragen, inwieweit die entsprechende Entwicklung nur eine der möglichen Konsequenzen der seinerzeit eingeleiteten Schrittfolge war. Hierzu ist es sinnvoll, nach der Ausgangssituation selbst zu fragen, die dann auch nicht retrospektiv auf die darauffolgende Entwicklung, sondern in ihrer damaligen Situation zu untersuchen ist. Hier zeigt sich schon sehr bald eine Vielfalt von Problemstellungen und Ansätzen zur Problemlösung, die an sich Interesse verdient. Schließlich sind schon in dieser ersten Vielfalt Motive angelegt, die sich später in variierter Form wiederfinden, hier aber noch nicht an bestimmte, in der weiteren Entwicklung konsolidierte strukturelle Rahmenbedingungen gebunden sind. Gerade die Wissenschaft zeigte in ihren anzusetzenden Methoden eine Vielfalt von Herangehensweisen, die ggf. jeweils als einzelne noch wenig entwickelt waren. Dabei wurden hier nicht nur Lösungswege ausprobiert, es standen immer auch Lösungsstrategien zueinander in Konkurrenz. So zeigt sich, dass das Tasten der seinerzeitigen Wissenschaften nicht in der sukzessiven Darstellung eines zunächst möglich erscheinenden und dann faktisch eingeschlagenen Weges bestand. In diesem Tasten wurde vielmehr die Art und Weise des Sich-in-Bewegung-Setzens ausgetestet. Das Tasten erschloss nicht nur einen sich dann sukzessive eindeutiger konturierenden Gegenstandsbereich, im Tasten formierte sich auch die Methode solchen im Weiteren immer mehr auf eingefahrene Gleise verlegten Ausrichtens von Erkenntnisinteressen und Erkenntnisformen. Dabei zeigt sich, wie schwer es war, die Standpunkte und Sicherheiten zu erkämpfen, auf denen im Weiteren aufzubauen war und in denen dann die Formeln zu formulieren waren, nach denen diese Gegenstandsbereiche zueinander in Bezug zu setzen waren. Dabei zeigt sich, wie die Methoden aufzufinden waren, mit denen zu Anschauungen zu gelangen war, über die man dann auch diskutieren konnte. Eine hier nicht innehaltende, sondern diesen breiten Horizont in den Blick nehmende Sicht kann dann aber auch etwas von dem enthüllen, was auch das heutige disziplinär geleitete Sehen unterfängt. Dabei könnte es sich zeigen, dass in diesem Unterfangen auch etwas von dem deutlich zu machen ist, was diese disziplinäre Natursicht bis heute leitet. Da ist etwa diese Art des Sehens, die so gerne mit dem romantischen Blick verknüpft wird: die Analogie.5 Diese ist aber zunächst nichts als das In-Bezug-Setzen des Einen zum Anderen; es ist nichts als das Erfahren, in dem nunmehr – ich drücke es positiv aus – in der Darstellung der Zuordnung des Vielen die Differenzen der Einzelheiten kenntlich wurden, so dass dann auch in der Kontur dieses unmittelbaren Kombinierens Erfahrungen in neuer Form möglich 5 Vgl.

Olaf Breidbach: Relationale Identitäten. Analogisches Denken in der zoologischen Systematik, in: Acta Historica Leopoldina 56 (2010), 359-382.

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wurden. Die blaue Blume der Romantik ist denn auch nicht die dornenbewehrte, dem direkten Zugriff entzogene Rose, auch wenn dies die neue Züchtung »Novalis« beschwören mag;6 es ist doch eher die Cichorie, jene unscheinbare Wegwarte, deren Wurzel nur geröstet einen Hauch von Exotik, in der biedermeier­l ichen Form des Kaffeeersatzes, zu liefern vermag. Und dieses pragmatische Moment, das hier in einer prosaischen Ausdeutung der Blume umschrieben ist, ist jener um 1800 existenten Romantik keineswegs unangemessen.7 Naturwissen ist um 1800 nicht diszipliniert. Es gab eine eben angewandte Mathematik, in der Nautik betrieben, Stollen vermessen und Landschaften für die Steuerschätzung erschlossen wurden.8 Es gab aber eben noch nicht die theoretisch geschlossene, formal und terminologisch avancierte Disziplin der Physik, die wir nach 1900 dingfest machen können.9 Physik als Lehre der Naturkräfte formierte sich erst nach 1800 (aus einer schon vorher deskriptiv orientierten Experimentalwissenschaft). Zentral hierfür wurden die erst noch eher sehr zögerlich formulierte Elektrizitätslehre und die Lehre vom Magnetismus. Hier schienen neue Phänomene auf (obwohl der Bernstein – das Elektron – oder der Zitterfisch schon der Antike bekannt waren, aber weder eingehender studiert noch als Teil einer naturwissenschaftlichen Theo­r ie beschrieben wurden). Hier werden im 18. Jahrhundert so denn auch weiter Beobachtungen gesammelt. Phänomene werden in ihren Eigenheiten beschrieben. Dabei formiert sich eine neue Strategie des experimentellen Studierens; ein Herantasten, in dem sich die Grundmomente eines explorierend/induktiven Verfahrens experimentalwissenschaftlichen Zugangs weiter entwickeln. So formiert sich diesem nur vermeintlich ›weltabgewandten‹ Denken ein Zugriff auf die Natur, in dem auch eingehender bestimmt ist, was eigentlich ein Experiment, als ein aus einer präzisierten Fragestellung entwickeltes methodologisch geleitetes Fragen an die Natur, sein kann.10 Analogien sind hier die Brücken, in denen auch in der akademischen Physik der Zeit – Lichtenberg sei mein Zeuge –11 neue Wege erschlossen und damit neue Sichtweisen ermöglicht wurden. Die Natur war nicht mehr das Sammelsurium der Formen, die nach Nutzen, Farbe oder Unterhaltungswert sortiert wurden. Natur war etwas, das in seiner Struktur begriffen wurde, die nicht mehr einfach in Analogie zum Schöpfungsgedanken zu beschreiben war, sondern die   6 http://www.gartenrosen.de/gartenrose-novalis

(letzter Zugriff am 10. Oktober 2015). des Geistes. Jena um 1800: Natur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, hg. von Friedrich Starck, Stuttgart 1994; Fessellos durch die Systeme. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, hg. von Walter Ch. Zimmerli, Klaus Stein und Michael Gerten, Stuttgart 1997; Stefano Poggi: Il genio e l’unità della natura: la scienza della germania romantica (1790-1830), Bologna 2000.   8 Hierzu war etwa Novalis in Freiberg ausgebildet worden.   9 Vgl. Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft, Wissenschaft oder Philosophie, hg. von Olaf Breidbach und Roswitha Burwick, München 2012. 10 Heiko Weber: Experimentalprogramme der frühen Naturwissenschaften. Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) und Joseph Weber (1753-1831), Berlin 2011. 11 So in seinem Vorstellungsvortrag bei der Akademie der Wissenschaften in Göttingen vom 19. Dezember 1778.   7 Evolution



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vielmehr nach einem ihr eigenen Prinzip strukturiert erschien. Albrecht von Haller suchte in seiner Physiologie zunächst, die Naturkräfte zu klassifizieren.12 Leben war für ihn nicht einfach als Effekt der Aktion der so klassifizierten Kräfte erklärt. Es war zunächst in seiner Wirkvielfalt zu bemessen. In dem Moment nun aber, in dem der Funkenschlag der Bioelektrizität, wie er an einem elektrischen Aal wahrgenommen wurde, mit den Wirkungen des Blitzes, der elektrischen Säule und der für die Therapie eingesetzten Reize einer Elektrisier­ m aschine zu korrelieren war, wurde etwas sichtbar, was zumindest für einen Moment als Lebenskraft deutbar schien. So ließ sich in dem zündenden Funken des elektrischen Aals die Naturkraft studieren, die der Himmel im Blitz auf die Erde sandte und die der Forscher anscheinend auch in einer Batterie einspannen konnte.13 War so nicht der Bildungstrieb der Natur, das, in dem Abb. 1: Nachbau der Ritter’schen Ladungssich die Vielfalt der Formen in einem säule. – Arbeitsgruppe für experimentelle sich immer wieder erneuernden Pro­Wissenschaftsgeschichte am Ernst-Haeckelzess aus sich selbst erschuf, zu charakHaus der Universität Jena terisieren? War so nicht das gefunden, was Heisenberg 150 Jahre später meinte, in eine Formel verpacken zu können?14 Eine Funken schlagende Kraft war sichtbar zu machen, ihre elektrisierende Wirkung – das zeigten Humboldt und Ritter in ihren heroischen Versuchen, sich selbst zu elektrisieren15 – war auch ohne ein besonderes Sensorium zu erfassen. Ritter 12 Vgl. Max Neuburger: Die historische Entwicklung der experimentellen Gehirn- und Rückenmarksphysiologie vor Flourens, Stuttgart 1897; Heinrich Buess: Albrecht von Haller and his Elementa Physiologiae as the Beginning of Pathological Physiology, in: Medical History 3,2 (1959), 123-131. 13 Vgl. Stanley Finger, Marco Piccolino: The Shocking History of Electric Fishes: From Ancient Epochs to the Birth of Modern Neurophysiology, Oxford 2011. 14 Vgl. etwa John D. Barrow: New Theories of Everything – The Quest for Ultimate Explanation, Oxford 2007. 15 Gerhardt Wiesenfeldt: Eigenrezeption und Fremdrezeption: Die galvanischen Selbstexperimente Johann Wilhelm Ritters (1776–1810), in: Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur 1 (2005), 207-232.

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bewies denn auch, dass diese schon von Faraday auf Flaschen gezogene Elektrizität – wie es schon Volta vermochte – in Säulen zu packen und in Silberlingen auszuzählen war.16 Schließlich waren die Säulen nichts als aufeinander gestapelte, je durch feuchte Pappstreifen abgetrennte und von Kupfergeld unterlegte Taler. Die Kraft der Natur war derart abzählbar geworden. Ihre Organisation war in einem Prinzip zu fassen, nach dem die Vielfalt der Phänomene zu strukturieren war: Polarität. Diese Polarität war durch die Elektroden in einer galvanischen Wanne auch analytisch zu nutzen. In der in der Wanne angelegten Spannung waren Elemente aus einer Lösung auszufällen, die sich an jeweils einem der Elektrodenpole niederschlugen und so als chemisch zu behandelnde Einheiten darstellbar wurden.17 So erlaubte es die neu erwachsende, die Polarität nutzende Elektrochemie, Naturdinge aufzufinden. Am Plus- und am Minuspol der Elektroden schlugen sich Substanzen nieder, in denen die Chemie fortlaufend neue Elemente identifizierte. Das Denken in Polaritäten war als Forschungsstrategie erfolgreich. So entdeckte denn auch Ritter, dieser Forschungsstrategie folgend, die ultraviolette Strahlung: Henschel hatte gezeigt, dass jenseits vom Roten des Lichtes noch eine Strahlung existierte, die, durch das Prisma gebrochen, zwar nicht sichtbar, aber als Wärme spürbar war. Wenn aber jenseits des Roten etwas zu finden war, musste nach Auffassung des Physikers Ritter auch jenseits des Violetten, der anderen Seite des Spektrums des sichtbaren Lichtes, eine Strahlung erscheinen: das Ultraviolette.18 Ritter suchte diese Strahlung und fand sie – mittels eines künstlichen Auges – durch die Exposition eines Stückes strahlungsempfindlichen Materials. Er belichtete einen Karton und fand im Unsichtbaren ein erstes Photogramm der nicht sichtbaren Struktur des Lichtes, die ihm aber selbst nicht fixiert und so nicht als wirkliches Photogramm konserviert erschien. Damit war die Polarität der Phänomene, der Gegensatz von dem Ende des einen und dem Jenseits des Anderen schlüssig demonstriert. Dies ist nun aber nur ein Beispiel in der Darstellung einer polaren Organisation von Welt, waren doch heiß und kalt, Süd und Nord und Plus und Minus weitere Beispiele dieser Polarität, in die sich eine Vielfalt von Phänomenen einordnen ließ. In der Polarität schien sich so denn auch die Grundstruktur der physikalischen Welt erfassen zu lassen. Selbst der hinsichtlich spekulativer Ambitionen unverdächtige Göttinger Experimentalphysiker Lichtenberg, der in seinen Sudelbüchern über jede nicht abzusichernde Spekulation herzog, suchte seine Physik mit Hilfe der Analogie zu strukturieren. In seinem Vortrag De nova methodo naturam ac motum fluidi electrici investigandi (Über eine neue Methode, die Natur und die Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen) vor der Akademie der Wissenschaften in Göttingen vom 19. Dezember 1778 behandelte Georg Christoph Lichtenberg die Guiliano Pancaldi: Volta: Science and Culture in the Age of Enlightment, Princeton 2005. Wilhelm Ostwald: Elektrochemie. Ihre Geschichte und Lehre, Leipzig 1896. 18 Jan Frercks, Heiko Weber, Gerhardt Wiesenfeldt: Reception and Discovery: The Nature of Johann Wilhelm Ritter’s Invisible Rays, in: Studies in History and Philosophy of Science 40 (2009), 143-156. 16 17



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Eigenschaften des Kristalls Turmalin. Der Vortrag endet mit einer Passage, in der Lichtenberg am Turmalin eine Grundeigenart der gesamten Welt beschrieb. Der Kristall wird ihm damit zum Mikrokosmos einer Gesamtnatur, an dem nun deren grundlegende Eigenschaften beschrieben werden können: »Könnte nicht also auch die Erdkugel ein großer Turmalin sein, dessen Pole mit denen der Welt ungefähr zusammenfallen: der positive mit dem nördlichen, der negative mit dem südlichen.«19 Es sind also auch für den Experimentalphysiker Lichtenberg die Analogien, in denen sich die Dinge ordnen; und dabei erfolgt diese Ordnung nach dem Prinzip der Polarität. Auch der Philosoph Schelling nutzt diesen Begriff, er sucht mit ihm nach den Bedingungen einer Strukturierung der Natur überhaupt und konzipierte, dies nutzend, eine reine, nicht von Vorurteilen geprägte – spekulative – Physik.20 Ihm war klar, dass die Physik seiner Zeit noch immer zu guten Teilen vom Denken des antiken Aristoteles geprägt war. Das, was an Physik gemeinhin gelehrt wurde, war das, was sich im Rahmen einer klassisch-geometrisch operierenden Geometrie in den Formeln des Euklid ausdrücken ließ. Damit waren denn auch die Erfahrungsraster dieser Physik vorgegeben, in die nun Phänomene wie die Elektrizität oder auch die Diskussionen um die Qualitäten von Licht und Farbe nur sehr schwer einzugrenzen waren.21 So führten diese Fragen auf Experimente, die mit den klassischen Begriffen der Physik nicht mehr einzuholen waren. Die Physiker standen aber noch weitgehend im Bann der tradierten und ihnen gelehrten Begriffe. So war denn auch für diese Physik die Bezugsbasis aus ihrer eigenen Tradition vermittelt und eben nicht einfach die unverstellte Natur: Die ist auch nach Schelling so einfach nicht zu haben. Verfügbar war zunächst die wissenschaftlich strukturierte, im Experiment befragte, in den Apparaturen eingefangene und schon auf ein Urteil hin ausgerichtete Natur, die seine spekulative Physik betrachtet. Es ging um das Argument des Physikers; es ging um die Stringenz seiner Urteilspositionen und um die Möglichkeit, in der Zuordnung von etwas, was wirklich Natur ist, das heißt was 19 Georg C. Lichtenberg: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis, Classis mathe­ maticae, tomus I, ad annum 1778, Zweite Abhandlung: Über eine neue Methode, die Natur und die Bewegung der elektrischen Materie zu erforschen. Eingereicht am 19. Dezember 1778, Göttingen 1779, 79. 20 Friedrich W. J. Schelling: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Begriff der spekulativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft. 1799, in: Friedrich W. J. Schelling, Werke, hg. von Manfred Schröter. Bd. 2, München 1927, 269-326. 21 Vgl. hierzu etwa nur die Diskussion um Goethe und Newtons Farbenlehre. Frederick Burwick: The Damnation of Newton. Goethe’s Color Theory and Romantic Perception, Berlin 1986; Dennis L. Sepper: Goethe Contra Newton: Polemics and the Project for a New Science of Color, Cambridge 1988; Friedrich Steinle: »Das Nächste ans Nächste reihen«: Goethe, Newton und das Experiment, in: Philosophia naturalis 39 (2002), 141-172. Sowie allgemein: Klaus Hentschel: Unsichtbares Licht? Dunkle Wärme? Chemische Strahlen? Eine wissenschaftshistorische und -theoretische Analyse von Argumenten für das Klassifizieren von Strahlungssorten 1650–1925 mit Schwerpunkt auf den Jahren 1770–1850, Stuttgart, Berlin 2007.

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als Voraussetzung aller möglichen Detaillierung des Naturalen zu bestimmen ist, zu operieren. Diese Physik bewegt sich also nicht in der Naivität des ersten, vermeintlich unverstellten Blickes einer erkenntnisfreien Unmittelbarkeit, sie bewegt sich vielmehr in der Einsicht in die Beschränkungen eines Handlungsfeldes, das im Anderen zunächst immer nur das sehen kann, was über die bisher eingenommene eigene Position zu definieren ist.22 Wie war nun aber aus diesem Raum des Bekannten auszubrechen? Die einfache Antwort eines Physikers wie Ritter war: durch das Experiment. Und so wurden Experimentalszenarien beschrieben. Und so finden wir Schelling um 1799 denn auch im Dialog mit einem der seinerzeit avancierten Experimentalphysiker im Forschungsbereich der Elektrizitätslehre, mit Johann Wilhelm Ritter. Es lässt sich zeigen, dass dieser Dialog für beide, Ritter wie Schelling, fruchtbar wurde.23 Schelling fand in Ritters Experimentalstrategie ein Schema expliziert, das für ihn die Natur in den verschiedenen Formen ihrer Kraftäußerung differenzierte, womit eine Physik zu beschreiben war, die ihre Erfahrungen als Momente der von ihr aufzuweisenden Erfahrungsmöglichkeiten bestimmte. Um das zu tun, musste diese Physik als mögliche Darstellungsform einer sich in sich strukturierenden Natur expliziert werden.24 Und hier setzte nun auch die Schelling’sche Naturphilosophie – als Wissenschaftslehre – an. Sie war der Versuch, der im Experiment befangenen Wissenschaft ihren Begriff zu geben, nach dem diese dann neu zu ordnen und so auch die Natur neu zu sehen war. Und diese Diskussion können wir in Jena um 1800 personalisieren: Es waren Schelling und Ritter, die hier interagierten. Der daraus folgende Dialog rekonstruiert sich aus den wechselseitigen Anleihen der beiden über Monate in Jena zusammen wirkenden Protagonisten. Zu zeigen ist, dass – zumindest in einem Moment, in der Phase zwischen der Fertigstellung des Beweises, dass ein ständiger Galvanismus alle Lebensprozesse begleitet (Ritter) und dem ersten Entwurf zu einem System der Naturphilosophie (Schelling) – der Austausch von Denkformen und Denkmaterialien die Grenzen zwischen der philosophisch spekulativen und der experimentell ausgerichteten Sphäre einer Naturbetrachtung verwischt.25 Dabei sind die beiden benannten Schriften, die Ritters und die SchelFrancesco Moiso, Schellings Elektrizitätslehre 1797-1799, in: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, hg. von Reinhard Heckmann, Herman Krings und Rudolf W. Meyer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 59-97; sowie: Manfred Durner, Francesco Moiso, Jörg Jantzen: Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften, 1797-1800, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. 23 Jessi P. Kraai: Schellings Rezeption von Ritters galvanischen Untersuchungen, Magisterarbeit, Jena 1996. 24 Olaf Breidbach: Schelling und die Erfahrungswissenschaft, in: Sudhoffs Archiv 88,2 (2004), 153-172. 25 Johann W. Ritter: Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite, Weimar 1798; Friedrich W. J. Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, Jena 1799, vgl. Olaf Breidbach: The Culture of Science and Experiments in Jena around 1800, in: Hans Christian Ørsted and the Romanic Legacy in Science. Ideas, Disciplines, Practices, hg. von Robert M. Brain, Robert S. Cohen und Ole Knudsen, Dordrecht 2007, 177-216. 22 Vgl.



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Abb. 2: Schematische Darstellung von Ritters Experimentalstrategie; Johann Wilhelm Ritter: Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite. Nebst neuen Versuchen und Bemerkungen über den Galvanismus. Weimar 1798, Tafel I

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lings, für die Systematisierungen der experimentellen Wissenschaften auf der einen und der spekulativen Wissenschaften auf der anderen, zentral. In diesen Schriften findet sich eine ihre jeweiligen Teildisziplinen weiterführende Orientierung. In seiner Schrift glaubte Ritter den Schlüssel zu einer innernaturwissenschaftlichen Darstellung eines Grundwirkgefüges gefunden zu haben, über das er die Lebensformen als Naturformen zu erklären vermochte. Schelling gab eine erste Systematisierung, in der er die Natur aus ihrer von ihm beschriebenen Struktur abzuleiten, d. h. nach einem in sich stehenden Schema einer Naturphilosophie zu entfalten suchte. Er skizzierte eine Grundform dieser Reaktionen, die es überhaupt erlaubte, eine Vielfalt von derartigen Reaktionen nebeneinander zu setzen. Etwas Vergleichbares leisteten etwa die Maxwell’schen Gleichungssysteme Ende des 19. Jahrhunderts, die es erlaubten, eine Fülle von Erfahrungsbereichen – hier allerdings auf Grund von mathematisch dargelegten Strukturentsprechungen – ein­ ander zuzuordnen. Während der Physiker Ritter in der konsequenten Darlegung einer sich in sich bestimmenden Natur durch den Philosophen Schelling seinen Leitfaden fand, konnte letzterer an Ritters Experimenten die Puzzleteile identifizieren, in denen er seine Naturprinzipien explizieren und damit überhaupt erst als solche verifizieren konnte. Ritter und Schelling standen damit in einem direkten – die Situation von Spekulation und Empirie um 1800 insgesamt kennzeichnenden – Bezug. Schelling erlaubte es Ritter, seine Beobachtungen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Dieser konnte, geführt durch die Vorstellung Schellings, Stufungen in der von ihm untersuchten Dynamik von Zuordnungsverhältnissen ausweisen, so eine Vielfalt verschiedener Darstellungen aufeinander beziehen und in eine einsichtige Zuordnung bringen. Damit fanden sich seine Experimente in den systematischen Zusammenhang einer von ihm dann in Versuchsserien darzustellenden Naturlehre. Schelling suchte als Philosoph dem Physiker die Vorlage zu liefern, die er in der Vielfalt der ihnen gegebenen Dinge nicht fand. Er suchte nach Prinzipien. Ihn interessierte die Struktur des Naturreiches, die sich in ihm explizierende Idee der möglichen Realisationen einer Natur, über die und in der sich der Typus dieser Natur darstellen ließ. Um diese Struktur zu beschreiben und zu verstehen, ist es, dem Schelling’schen Denken folgend, nun aber nicht nur notwendig, die einzelnen Entitäten, die in der Naturhistorie behandelt werden, aufzulisten, sondern vielmehr diese Entitäten als Realisationen eines generellen Typus von Natur zu verstehen. Erst dann wird die Natur als eigenständige Qualität verständlich. Dies hat zur Konsequenz, dass in einer Analyse der Natur nicht bei den Entitäten stehen zu bleiben ist. Eine Analyse dessen, was Natur ist, konnte demnach nicht in der Naturgeschichte, die bloß Einzelheiten erzählt, verharren: Es war vielmehr notwendig, das Prinzip zu erklären, das diese in der Naturgeschichte beschriebenen Entitäten als Realisationen der Natur (im Sinne eines absoluten Organismus) verständlich machte. Damit war etwa zu begründen, was eigentlich eine Kraft ist – dass mit dem Postulat einer Kraft nicht bloß ein terminologischer Trick zur Zuordnung der Phänomene, sondern eine zunächst heuristisch gesetzte Begrifflichkeit geschaffen



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wurde, in der eine Vielfalt von Phänomenen aufeinander bezogen werden konnte, die dann in ihrer Gesetzmäßigkeit beschrieben und so in den sie konstituierenden Prinzipien erkannt werden konnten. Im Resultat erwächst dann eine spekulative Physik; und diese wird auch im Schelling’schen Denken die Vorbedingung einer wirklich innovativen Experimentalphysik; einer Physik, die nicht mehr die aristotelischen Formen reexpliziert, einer Physik, die nicht mehr nur einfach das, was sie erfährt, in den Formen der aus der Antike tradierten angewandten Mathematik ausbuchstabiert und so das, was neu ist, in die alten Schläuche einer deduktiv operierenden Naturkunde bindet.26 Das neue experimentell geleitete Denken brauchte eben auch neue Begriffe, um sich zu explizieren. Diese konnten aber nicht in der tradierten Physik gefunden werden, da diese ja bei den Dingen bleiben musste und so das Neue in die alten ihr verfügbaren Formen stopfte. Ergo musste es eine Wissenschaft geben, die die Dinge nicht nur beschrieb, sondern die die Erfahrungsmöglichkeiten einer experimentellen Wissenschaft umriss und so in der Vielfalt der Einzelheiten den Grund zu neuen Erfahrungen legte. Dieser Grund konnte nun aber nicht selbst empirisch vermittelt werden. Ergo war eine deduktive Sicherung des Grundes notwendig, die sich dann aber der Erfahrung stellte. Und genau darauf zielt Schelling, wenn er schreibt: »Diese absolute Voraussetzung muß ihre Nothwendigkeit in sich selbst tragen, aber sie muß noch überdieß auf empirische Probe gebracht werden, denn wofern nicht aus dieser Voraussetzung alle Naturerscheinungen sich ableiten lassen, wenn im ganzen Zusammenhange der Natur eine einzige Erscheinung ist, die nicht nach jenem Princip nothwendig ist, oder ihm gar widerspricht, so ist die Voraussetzung eben dadurch schon als falsch erklärt.« 27

Was ist die hier erwachsende spekulative Physik, in der Schelling die Natur auf ihren Begriff zu bringen sucht? Ist dies nun einfach die in sich stehende Beschreibung eines sich in seine Anschauungsformen entäußernden Ichs, in dem Schelling Fichte einen Spiegel entgegenhält? Dies wäre eine Naturphilosophie in systematischer Hinsicht, in der das sich selbst in Freiheit setzende Ich bisher – bei Fichte – auch im Blick nach außen auf sich selber stößt. Schelling suchte in diesem Außen aber ein Anderes, etwas, das nunmehr auch in der Theorie etwas von der Wirklichkeit unserer Naturerfahrung abbildete, zu finden und damit die Gewissheit, dass wir im Anderen nicht einfach auf uns rückverwiesen sind. Dabei ist für ihn diese Natur nicht einfach das Fremde, sondern immer das, was sich uns vermittelt, das Andere, in dem wir uns dann aber doch selbst erkennen und so auch an uns selbst weiteren Halt finden. Das wäre dann eine Natur, die in der Freiheit ihrer Entfaltung genau dadurch bestimmt ist, dass sich das sie denkende Ich in ihr als dem Anderen wiederfindet. So wäre dann die Natur als das Denkbare ein Spiegel, in dem sich das 26 Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie [Anm. 20], 269-326. 27 Ebd., 277.

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sonst nur an sich verwiesene Ich von außen sieht – in dem es so aber eben aus sich heraustritt und so sein Urteilen über die Dinge zerlegt, sondern in dem es sich in den Dingen findet, in dem das, was es außer sich weiß, für ihn dann auch einen Anstoß bildet, den es so selbst zu erfassen vermag. Ist derart Natur gefunden, so ist zu erkennen, dass sich Urteile eines erkennenden Ichs an etwas formieren. Auf dieses Etwas ist in den Urteilen verwiesen, die sich auf dieses Etwas beziehen und es so dann aber auch dem Urteilenden erlauben, sich in dieser Natur wiederzufinden. Dies bedeutet dann aber zugleich auch, dass diesen Urteilen eine Realität zukommt: Nicht einfach, dass diese Urteile eine Realität entstehen lassen, Natur als das Denkmögliche ableiten, sondern indem sie dieses Andere als etwas denken, das in sich bestimmt ist, wird Natur als etwas in sich Bestimmtes begriffen. Dadurch, dass es mir möglich ist, dieses an sich Bestimmte mit meinem Denken zu bestimmen, weiß ich mich in meinen Urteilen eben nicht mehr in mir verloren, sondern in eine Realität gesetzt. Das, was hier expliziert wird, ist ein neues Sehen.28 Es ist die Darstellung des Anderen, dessen, von dem wir noch nicht wissen können; es ist der Versuch, das zu begreifen, das zu erfahren möglich wäre, und so Natur nicht einfach als Gestalt zu erfassen, sondern sie in ihrer Gestaltung als eine sich in sich konstituierende Gestaltung zu begreifen. Damit ist diese Natur Prozess und das Sehen dieser Natur ist – richtig angepackt – ein Sich-Einlassen auf diesen Prozess, in dem nunmehr nichts unmittelbar angeschaut, sondern in dem eine Unmittelbarkeit erschlossen wird, in der und um die sich dann die Bilder finden, in denen wir das, was wir in dieser Natur als leitend begriffen haben, nun als uns anschaulich beschreiben. Das ist dann auch die transzendentale Kehre des Schelling’schen Denkens, in dem die Natur an sich, als etwas, das nur als Formation zu erschließen ist, sich in den Formen der Gestaltung unseres Denkens expliziert. Sie ist als Natur etwas, das unsere Erfahrungen bündelt und das so dann, wenn wir sie denken, gefasst zu werden vermag.29 Die Naturphilosophie beschreibt sich demnach als die Lehre vom Anderen, als die Lehre von dem, was noch nicht in die tradierten Formeln gebunden war; als das, was wir in die Differenz zu dem setzen, was wir zu erkunden vermochten. Dies ist denn auch der Sinn der transzendentalen Erfahrungslehre, als die Schellings seine spekulative Physik darstellt.30 Inwieweit ist nun aber diese spekulative Physik Erfahrungslehre? Was wir nach Kant haben, ist ein System des Wissens, eine Architektur der uns möglichen Schlüsse, die wir in ihrer Konsistenz überprüfen, in ihrer internen Referenz zu- und aufeinander bestimmen können; und wo wir nach Maßgabe der kritischen Vernunft dann ein Minimalkonzept von Sicherheiten, GeltungsbestimManfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt 1985, 23-47. Breidbach: Die Naturkonzeption Schellings in seiner frühen Naturphilosophie, in: Philosophia Naturalis 23 (1986), 82-95. 30 Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie [Anm. 20], 269-326. 28 Vgl.

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mungen und Voraussetzungen einer möglichen Erkenntnis festschreiben können.31 Damit verbleiben wir aber bei uns und sind nicht in der Natur, die wir zwar als Alltagserfahrung voraussetzen, die so aber als solche keine objektive Gewissheit gewonnen hat. Unsere Bilder der Welt, unsere Anschauungen von den Dingen sind so primär immer noch bloß die Projektionen des uns zu denken Möglichen.32 Was da wirklich ist, das ich in seinen Gesetzmäßigkeiten begreife, ist mir – nach Kant – denn auch nicht anschaulich. Wie aber ist dann überhaupt eine Erkenntnis der Natur möglich? In einer transzendentalphilosophischen Sicht ist die Rede über eine Natur natürlich immer nur eine Darstellung unseres Denkens von der Natur und entsprechend können in einem transzendentalphilosophischen Ansatz nur die Grundbedingungen jedes Denkens von Natur eingeholt werden.33 Nur ist damit das Denken und nicht die Natur bestimmt. Ja mehr, die Natur ist nur als das Denkbare begriffen, nur als Repräsentation eines Denkens, nicht aber an sich als ein eigener Bereich, der sich dann zwar ggf. in Gegenstände transformiert, aber doch etwas anderes als solch einen bloßen Gegenstand der Erfahrung (im kantschen Sinne) darstellt. Wenn also Schelling diese Natur in sich bestimmen will, muss er sie als etwas denken, das dieser transzendentalphilosophischen Sicht selbst vorausgesetzt ist. Er muss in der Natur die Voraussetzung finden, die es uns erst ermöglicht, die uns möglichen Urteile auf etwas auszurichten. Es muss demnach eine Natur an sich und damit in ihren Anschauungsformen umrissen werden. Schelling sucht so diese Natur dann folgerichtig auch im Prozess eines sie denkenden Denkens zu begreifen. Er bestimmt sie dann als etwas, das nicht einfach in ihren Abbildern, sondern in ihrer prinzipiellen Abbildbarkeit in diesem Denken als Natur darzustellen ist: Damit ist Natur das, was in dem Denken selbst als zu bestimmende Größe angelegt ist. Dabei kann diese Größe, die im Denken bestimmt wird, nicht das Denken selbst sein. Dann wäre es nur an sich selbst verwiesen und damit grundlos und damit unbestimmt. Nun ist es aber im Verweis auf das Bedachte bestimmt und so ist in diesem Sich-Verhalten zu der so zu bestimmenden Natur eben diese Natur als Möglichkeit gedacht. Diese Natur ist also nicht das Denken, sondern das, was dieses Denken als ein Denken von Natur ermöglicht. Und genau als dieser Ermöglichungsgrund ist die Natur dem Denken real. Da es nun in diesem Sich-Ermöglichen nicht einfach in sich bestimmt ist, sondern sich als etwas erweist, das das Denken führt, zeigt sich das Natürliche als ein Prozess, der in seinen Bestimmungen nur mehr dem Denken als eben solcher darzustellen ist. Entsprechend ist dieses Denken in Ansicht der Natur nicht bei sich, sondern etwas, das, einem Anderem gegenübergestellt, sich nun im Bedenken dieses so Gedachten bestimmt. 31 Wolfgang Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel – mathematische versus spekulative Naturphilosophie, Frankfurt/M. 1997. 32 Olaf Breidbach, Federico Vercellone: Pensare per imagini. Tra sienza e arte, Milano 2010. 33 Olaf Breidbach: Die Naturkonzeption Schellings in seiner frühen Naturphilosophie, in: Philosophia Naturalis 23 (1986), 82-95.

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Diese Natur muss sich also im Prozess ihres In-den-Blick-Nehmens als etwas bestimmen lassen, das diesen Blick ausrichtet, das sich im Denken nicht einfach nur bestimmt, sondern an dem dieses Denken ansetzt und dem es dann als solch ein Inhärierendes zunächst im Denken, dann aber auch in der Möglichkeit, in ihr das Denken zu denken, darzustellen ist.34 Dabei ist das, was hier zur Anschauung zu führen ist, selbst erst in dieser Anschauung bestimmt. Sind die Entitäten, in denen sich diese Vielfalt des Anzuschauenden als Einheit bestimmen lässt, doch eben in jener Methodik gefasst, in der sich das Denken für sich expliziert. Gerade dass die Natur gedacht wird, dass eine Wissenschaft von ihr möglich ist, zeigt sie doch als das auf, was wir uns angeeignet haben, was sich in uns und in unserem Umgehen mit ihr entfaltet und was uns demnach wiederum auch nichts wirklich Fremdes ist. Schließlich, so könnte Schelling entgegnen, ist diese Natur als Natur uns so nur insoweit zugänglich, als wir sie in uns abbilden. So aber sind wir zugleich als Teil der Natur in dieser selbst bestimmt. Das Andere unserer Selbst inszeniert sich derart für sich. Es expliziert sich in und an uns in den Formen unseres Anschauens als das, was derart anzuschauen und zu umgreifen ist. Die Natur als das Andere unserer Selbst ist demnach das, das unser Denken zum Halten bringt, das, an dem sich dieses Denken ausbremst; das, an dem es sich an eine Grenze führt, die es dann bestimmt und in sich auf löst. Was so gedacht ist, ist ein Prozess des Umgehens mit der Natur, eine Bestimmung, in der dieses Denken für sich in sich bestimmt erscheint und in diesem In-sich-bestimmt-Sein, das Andere, eben die Natur, denkt. Darin beschreibt Schelling das Irreduzible des Anderen, das sich in diesem Prozess findet, sich in diesem zeigt und sich expliziert – dann aber in der Versicherung des Denkens, das diesen Prozess erfasst, zusehends zerläuft. So ist es nur mehr als eine dieses Denken führende Dynamik zu beschreiben, die aber nicht als solche, sondern nur in den expliziten Bezugnahmen des Denkens darzulegen ist. Derart – so Schelling – ergibt sich nun die Möglichkeit, diese Produkte eines Denkens nicht einfach in ihrer Konstitution, sondern in den Bedingungen, die sie in diese Konstitution führen, zu denken.35 Insoweit wird dann die Idee einer Produktivität der Natur selbst zur Bedingung, sie als produktive Größe zu denken, und so – jedenfalls entfaltet Schelling dieses Argument – ist sie damit als Voraussetzung ihrer transzendentalphilosophischen Behandlung bestimmt, wenn auch an sich in ihrer Produktivität selbst unbestimmt. Damit aber ist sie das Andere, und dieses weiß sich ja nun in den Einpassungen der vorliegenden Urteile mit dem sie denkenden Ich und in diesem mit sich selbst im Reinen. In einer weiteren Stufe seiner eigenen ›Systementwicklung‹ führt diese Idee dann in Schellings System des transzendentalen Idealismus zum fragilen Gleichgewicht eines wechselseitigen sich Bestimmens der Differenzierungen, in der dann Differenzierung – und in dieser Differenz damit dann auch eine an sich bestimmte Natur – zu denken ist.36 34

Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie [Anm. 20], 271. 294. 36 Ebd., S. 297 ff. Vgl. Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten, Göttingen 1990, 99 ff. 35 Ebd.,



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Diese Differenz findet sich nun in der Physik im Prinzip der Polarität, in dem sich diese Dynamik expliziert, und zugleich konstituiert die Polarität als das Verhältnis wechselseitiger Bestimmung einen in sich geronnenen Prozess, der in dieser Bestimmtheit sich aber wieder selbst als Prozess in Geltung setzt. Was ich demnach in der Erfahrung sehe, ist eine nach diesen Prinzipien strukturierte Physik. Dynamik in diesem Sinne ist dann aber nicht bloße Mechanik; sie ist eine Wirkkomplexität, in der die Vernichtung des Einen dies Eine in ein Anderes überführt und sich so in dessen Potenz überhaupt erst realisiert. Das zeigt Schelling die seinerzeitige Elektrochemie, in der die Natur der chemischen Bindungsabstufungen als Abstufung von Polarisierungen beschrieben war. Das heißt, Natur ist nicht als je Einzelnes, sondern auch in diesen Einzelheiten notwendigerweise als ein in Relation zu Anderem Stehendes zu begreifen. Das Einzelne ist erst in dieser Polarität. Es ist nicht als bei sich Seiendes. Es ist erst seine Verneinung als Einzelnes, in der es sich bestimmt findet. Seine Bestimmung fasst sich aus dem Moment des Prozesses, den es als Einzelnes zwar trägt, der sich in ihm aber nicht beschließt. Soweit Schelling. Das Zerfallen des Prozesses in seine Elemente ist nun allerdings nicht der Prozess, sondern nur dessen Markierung. Die Dualität selbst ist nur aus dem Bezug ihrer beiden Elemente aufeinander als Dualität – und darin als Polarität – erfassbar. Das bedeutet, dass sie sich selbst nur in ihrem Wechselverhältnis, in der Spannung ihrer Elemente zueinander, also in einer in ihnen nur kondensierten Dimension realisiert. Dieses Dritte selbst ist seinerseits nur in der Realisierung der Dualität effektiv und hebt sie nur insoweit auf, als sie diese in sich überhebt. Entsprechend ist die Dynamik nach Schelling denn auch erst in der Triplizität realisiert. Entsprechend wäre die Struktur, die die bloße Statik der Dualität in ihre Dynamik überführt, selbst kein dieser Dynamik Äußeres, sondern diese Dynamik selbst – und dies heißt nach Schelling: Leben. Die Dualität führt damit nicht zur Dissoziation, sondern zur Strukturierung: Sie setzt eine Stufung; die Naturdynamik führt damit zu der Strukturvorstellung einer Dialektik. Das Muster der sich in einer Stufung explizierenden Triplizität, die sich selbst als gefundenes Moment wieder in eine Polarität setzt und so einen Prozess kontinuiert, entspricht – wie schon angedeutet – in seiner formalen Struktur dem Muster der Dialektik. Die Dialektik der Natur ist demnach also keine primär logische Bestimmtheit, keine der Natur äußerliche Kategorialisierung, kein aus dem Verhältnis des Menschen zur Natur gewonnenes Betrachtungsverhältnis. Nicht Herr und Knecht, sondern Kathode und Anode konstituieren hier das Grundgefüge des Dialektischen.37 Dialektik als logische Ordnungskategorie entwickelte sich im Denken Schellings aus dem Schematismus zur Strukturierung des Naturalen. Die Dialektik erwächst in der Natur und zeigt, wie diese Natur als solche und im Denken der Natur jedes sich realisierende Denken selbst zu denken ist. In der Anschauung der Natur 37

Henning Ottmann: Herr und Knecht bei Hegel. Bemerkungen zu einer mißverstandenen Dialektik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 365-384.

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ist dieses Verhältnis fixiert. Indem sich die Natur als polar bestimmt aufweist, differenziert sie sich in den ihr eigenen Polaritäten. Und so würde »[d]ie historische Construktion der organischen Natur […], in sich vollendet, die reale und objective Seite der allgemeinen Wissenschaft derselben zum Vollkommenen Ausdruck der Ideen in dieser, und dadurch mit ihr selbst wahrhaft eins machen«.38 Insoweit können wir mit Schelling festhalten, wie hier in der Theorie eine Natur ihrer selbst angesichtig wird. Mit Schelling führt diese Einsicht in den Prozess, aus dem Ordnungen zu gewinnen sind, zur Ordnung einer Natur, wie sie dann in Okens Naturgeschichte für alle Stände ebenso dingfest zu machen ist wie in Carus Zootomie.39 Hier wird der Schematismus selbst anschaulich: Es sind die sich in dem Schematismus fassenden Phänomene, in denen nun eine für sich stehende Natur anschaulich wird. So produziert ein Naturphilosoph wie Oken nicht nur die Systematik einer nach Prinzipien offerierten Darstellung des Naturalen,40 Oken gibt auch die Tafeln und damit die Anschauungen vor, wie dann auch Carus seine Zoologie in Bildern strukturiert. Oken amalgamierte dabei – ausgehend von Schellings Ansatz einer Naturphilosophie, den er allerdings mit weiter zurückreichenden Traditionen eines alchemischen Naturverständnisses verschweißte41 – eine in sich begründete Naturordnung, in der dann auch das Kulturelle zur Anschauung fand. In seiner Zeit gab dabei sein Verständnis eines Urtyps der Wirbeltierorganisation entsprechend den Vorstellungen von Oken den Ansatz, die verschiedenen Körpersegmente als Variationen eines einfachen segmental organisierten Grundbauplanes zu begreifen. Die daraus erwachsene Vorstellung einer seriellen Homologie greift Carus auf, der hier direkte Parallelen zu seiner Auffassung der Schädelsegmentierung sieht, die Oken nun noch einmal ins Prinzipielle erweitert. Bedeutsamer ist für den Neuansatz von Carus aber die spekulative Einbindung, aus der heraus Oken seinen Schematismus begründet. Für Oken bildete die Darstellung der Natur im Menschen als deren höchste Form das Modell, nach dem nun alle dieser untergeordneten Formen auszurichten und damit in ein System zu bringen waren. Der Mensch in seiner Or38 Friedrich

W. J. Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), in: Friedrich W. J. Schelling, Werke, Bd. 3, hg. von Manfred Schröter, München 1927, 365. 39 Lorenz Oken: Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände, Stuttgart 1833-1845; Olaf Breidbach: Carus’ Beitrag zur vergleichenden Anatomie und Zootomie, in: C. G. Carus. Wahrnehmung und Konstruktion, hg. von Petra Kuhlmann-Hodick, Gerd Spitzer und Bernhard Maaz, Berlin/ München 2009, 241-252. 40 Olaf Breidbach, Michael T. Ghiselin: Lorenz Oken and Naturphilosophie in Jena, Paris and London, in: History and Philosophy of the Life Sciences 24 (2002), 219-247. 41 Michael T. Ghiselin: Lorenz Oken, in: Naturphilosophie nach Schelling, hg. von Thomas Bach und Olaf Breidbach, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, 433-457; zu der auch im Denken nach Schelling, so bei Oken, wieder explizit wirksamen Tradition vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Bilder des Unsichtbaren. Robert Fludds Konzeption des Weltgeistes. Intersections, in: Yearbook for Early Modern Studies 9 (2008), 197-210; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Robert Fludds kabbalistischer Kosmos, in: Scientia Poetica. Literatur und Naturwissenschaft, hg. von Norbert Elsner, Werner Frick, Göttingen 2004, 76-97.



Was sich in der Natur zeigt127

Abb. 3: Carl Gustav Carus, Erläuterungstafel zur vergleichenden Anatomie, Leipzig 18261855; Tab. 1: Wirbellose, einschließlich Ascidae

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ganisation war für ihn die umfassendste Realisation des Typus eines Tieres. Wie bei Goethe ist »das Thier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit« verherrlicht.42 So hat dann hier in der Tat die Natur nicht nur ihre Anschauung, sondern gleichsam ihre Anatomie gefunden.43 Die Naturlehre um 1800 selbst steht noch nicht in den Engführungen einer sich nur auf die Wirkung, das Anschauliche, beschränkenden Darstellung des Naturalen. Es ist nicht einfach das, was da anzuschauen ist, was hier thematisch ist; es ist die Formatierung des Anschaulichen selbst, die interessiert. Hier steht der Philosoph Karl Christian Friedrich Krause, der in seiner Naturphilosophie die Schelling’sche Formel der Identität von Identität und Nichtidentität als Konstruktionsanweisung missdeutet, schon 1806 außerhalb der Diskussionen der sich neu formierenden Wissenschaften.44 Oken leitete – über Schelling – zurück auf die sehr viel älteren Anschauungsformen einer nach dem Menschen gestrickten Naturordnung und entwarf eine Anatomie des Naturalen, die er als zoologische Systematik verbindlich zu machen suchte.45 All dies führte zu Bildern, entwand sich aber dem Anspruch, in diesen Abbildungen der Natur, in der Ordnung der Einzelheiten eben das zu finden, was in der Anschauung selbst die Gewissheit vermittelt, etwas zu sehen. Es war hier nicht sicher, ob wir im Bild der Natur mehr als ein Spiegelbild unserer Selbst betrachten. Es war unklar, inwieweit wir in unseren Anschauungen die Natur des Anderen erfassen. Der philosophische Gegenbegriff zu diesem Konzept einer assoziativen, an den Erfahrungsbildern anknüpfenden Anschauung war das Bild einer unmittelbaren Vergewisserung des Denkens in sich, das sich selbst vor jeder Verbildlichung, d. h. vor jeder möglichen Assoziation in sich selbst anzuschauen versuchte, und zwar nicht in seinen Produkten, sondern als Denken selbst. Dieses sich in sich sehende Denken, diese intellektuelle Anschauung blieb aber bloßes Postulat. Es war Schel42 Johann

W. von Goethe: Bildung und Umbildung organischer Naturen. Die Absicht eingeleitet, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar 1887-1905, Reprint: Weimar 1999, Serie II, Bd. 6, 13. 43 In den 1860er Jahren zeichnete ein Anhänger einer nach Prinzipien strukturierten Naturlehre, Carl Gustav Carus als Präsident der Leopoldina, den streitbaren nachmaligen Evolutionsbiologen Ernst Haeckel für seine vergleichend systematische Darstellung einer Organismengruppe, der Radiolarien, mit der Cothenius-Medaille aus und setzte so die Typik einer Naturästhetik des ausgehenden 19. Jahrhundert zumindest hinsichtlich ihrer realen Filiationen in einen direkten Bezug zu Schelling. Zu fragen ist, ob dies mehr als eine Anekdote darstellt oder ob dies eines der prägnanten Beispiele ist, an dem zu demonstrieren wäre, wie sich nun nach 1830 der Ansatz einer Naturphilosophie von der Wissenschaftslehre hin auf eine Naturästhetik verdünnt. Fechners spekulative Versuche könnten hier für eine Denklinie stehen, die nur im Rückgriff des beginnenden 20. Jahrhundert romantisch erschien. 44 Thomas Bach, Olaf Breidbach: Einleitung – Naturphilosophie als Systemdeduktion, in: Karl C. F. Krause: Ausgewählte Schriften, Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, 3-43. 45 Olaf Breidbach, Die letzten Kabbalisten, die neue Wissenschaft und ihre Ordnung. Bemerkungen zu den Traditionslinien bio- und neurowissenschaftlicher Forschung, in: Form, Zahl, Ordnung. Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, hg. von Rudolf Seising, Menso Folkerts und Ulf Hashagen, Stuttgart 2004, 63-76.



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ling, der in seinem System des transzendentalen Idealismus diese intellektuelle Anschauung – wie angedeutet – als die Grundstruktur jedes Bestimmungsverhältnisses auswies, indem er gleichsam die Gleichungen der Spiegelbilder als Gleichnis einer In-sich-Bestimmtheit des Denkens aufzufassen suchte und so in den einzelnen Bestimmungen des Denkens selbst nicht dessen Logik, sondern dessen In-sichBestimmtheit als unmittelbare, vor aller logischen Diversifizierung zu erfahrende Größe ansetzte. Dieser Schelling, der so vor das Denken in der Enge seiner rationalen Bestimmtheit den sicheren Blick der in sich bestimmten Vernunft zu setzen sucht, scheiterte nun allerdings in seinem Versuch einer Bestimmung dieses aller Bestimmtheit Vorausgehenden. Es ist das gleiche Dilemma, das sich in analoger Weise bei Hegel finden lässt – was formal vielleicht als hermeneutischer Zirkel zu beschreiben wäre, in dieser Formalisierung dem Denken der deutschen Idealisten aber unrecht tut. Diesem hermeneutischen Zirkel, dieser Einsicht in die Eigenbestimmtheit jedes Rationalen, das in seinem Bestimmen nie anders als in dieser Bestimmtheit zu begreifen war, suchten sie etwas entgegenzusetzen. Dieses, was sie entgegen zu setzen suchten, war die Einsicht, dass auch der Zirkel nicht einfach unbestimmt in sich verwies, sondern in der Struktur seines Verweises sicher war. Die Möglichkeit, diesen Zirkel dadurch aufzulösen, dass die Totalität aller Bestimmungen gedacht und in ihrer Regularität entfaltet wurde, wählte Hegel.46 Die andere Idee, dass eben diese Einsicht in die Eigenbestimmtheit des Bestimmens die Voraussetzung jedes Versuches seiner Explikation des Bestimmens war, wählte Schelling.47 Nur ist die diese Bestimmtheit auf den Begriff bringende intellektuelle Anschauung ja nicht einfach als ein Bestimmtsein des Bestimmten, sondern als ein Vermögen gedacht. Dieses Vermögen, so Schelling, steht selbst vor jeder rationalen Deklination des Bestimmt-Werdens.48 Es ist selbst aber erst in diesem Deklinieren als solches anschaulich. Schellings Figur der Argumentation, aus den Darstellungen der Strukturen dadurch herauszuführen, dass er auf die Bedingungen von deren Möglichkeit verwies, ist das eine, dessen Veranschaulichung selbst ist das andere. Wie schon Hegel aufwies, ist die Figur eines Denkens defizitär, das aus seiner Bestimmtheit folgert, dass es die Bedingungen der Möglichkeit seiner Bestimmtheit eben auch vor der bloß rationalen Differenzierung der Bestimmungsverhältnisse erfasst und damit in sich gründet. Dies – so Hegel – gleiche dem Versuch, in der Nacht der Unbestimmtheit den Grund zu erkennen, auf dem dann zu bauen wäre. Der bloße Schrei nach Hilfe sagt aber eben noch nicht, dass Hilfe da ist. Es ist eben nicht daraus, dass wir hier fehl laufen, abzuleiten, dass wir in einem Fundament gegründet sind, das uns eben fehl laufen lässt. Was findet sich denn auch im Dunkel Hösle: Hegels System, Hamburg 1988. Hans M. Baumgartner: Das Unbedingte im Wissen: Ich – Identität – Freiheit, in: Schelling: Einführung in seine Philosophie, hg. von Hans M. Baumgartner, Freiburg/München 1975, 45-57. 48 Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt 1985; Gian F. Frigo: Tra malinconia e redenzione umana: il destino della natura in Schelling, in: Pensare la Natura. Dal Romanticismo all’ecologia, hg. von Gian F. Frigo, Paola Giacomoni, Wolfgang Müller-Funk, Milano 1998, 125-134. 46 Vittorio 47

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der Nacht außer der Selbstbestimmung – und diese kann sich dann ihren Maßstab nur mehr in sich selbst setzen und so dann auch eben nur sich absolut nehmen. Umgekehrt war auch die Bestimmung des Zirkels im Ausweis der Totalität des Bestimmtseins letztlich altbacken. Hegel funktioniert nur in einer gottgegebenen Welt. Dann, wenn es das Absolute gibt, in dem sich das Relative gründet, kann das Relative sich im Verweis auf das Absolute gründen. Ein wenig abstrakt formuliert, ist dies doch im Letzten das Konzept eines scholastischen Denkers, der in der Diversität der Bestimmtheiten des Rationalen eben eine dieses unterfangende Ordnung sieht. Leibniz hatte dies schon radikal formuliert, indem er das Rationale in eine formale Logik zu überführen suchte und diesem eine Vernunft vorordnete, in der sich dieses rationale Explizieren zu sichern vermochte.49 Seine Lösung einer in sich bestimmten Vernunft führte dann aber zum Konzept der Monade, die ja selbst in sich versunken blieb und allein durch Gott, durch ein Absolutes mit den Detaillierungen der ihr entlaufenden Ratio zu vermitteln war. Theodor Fechner hat in seinem Denken der Allbeseeltheit einer Natur, die in allen Einzelheiten dann doch immer wieder die Vernunft expliziert, demonstriert, was es bedeutete, diese vernünftige Seele zu naturalisieren.50 In seiner Darstellung des Seelenlebens der Pflanze zeigt er auf, wie im Denken einer Allbestimmtheit dann letztlich jedes rational Strukturierte in einer in sich bestimmten Seele gründet, die dann als solche erfasst und in einer Art inneren An-Schau mit dem in Gleichung gebracht werden kann, was im Anderen, etwa in der Seele des Betrachters, an Binnenbestimmtheit zu finden ist.51 Die derart zu findende wechselseitige Konkordanz, dieses Mitfühlen durch Einblenden des Eigenen in das Andere, ist das Motiv seiner Naturlehre, in der wieder Gestalt als ein Schema einer vernünftigen Bestimmtheit, aber nicht als ein in sich Bestimmtes begriffen ist. Insoweit sind wir auch beim Denken der Gestalt auf uns selbst verwiesen.52 Wir umgreifen eine Figur, die allein dann, wenn sie einen absoluten Maßstab findet, sich wirklich sicher in sich selbst findet. Damit müssen wir versuchen, diese Entwicklung nicht nur als eine gradlinige Abstufung von einzelnen Zuständen zu begreifen, sondern vielmehr diese Zustände in ihrer elementaren Zusammensetzung zu beschreiben, um dann aus einem Verständnis der Interaktion der diese Zustände bestimmenden Elemente ein Bild von den möglichen Zuständen eines Systems in der Vernetzung von dessen lokalen und globalen Bedingungen zu gewinnen. In einer entsprechenden Analyse, die die Kontingenz der Elemente in ihrer wechselseitigen Bedingtheit fasst, gilt es diese Wechselwirkungen in ihrer Dynamik und über Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin/ New York 1991; Sybille Krämer: Symbolische Erkenntnis bei Leibniz, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46,2 (1992), 224-237. 50 Michael Heidelberger: Die innere Seite der Natur: Gustav Theodor Fechners wissenschaftlichphilosophische Weltauffassung, Frankfurt 1993. 51 Gustav. T. Fechner: Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen, Leipzig 1848. 52 Vgl. Concepts of Morphology, hg. von Olaf Breidbach und Federico Vercellone, Mailand 2008. 49 Sybille



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die Darstellung dieser Dynamik dann die Struktur der Systemevolution selbst aus der Charakterisierung der Interaktion der sie tragenden Elemente zu beschreiben. Dagegen steht in unserer Darstellung der romantischen Naturphilosophie das tastende Beginnen, das etwa Schelling in die Diskussion mit den Wissenschaften führt. Naturphilosophie ist hier nicht – wie bei Gernot Böhme – eine Alternative zu einer Naturforschung, die sich in ihrer Spezialisierung schon längst nicht mehr mit der Natur und unserem Bezug auf sie, mit den Stimmungen unserer Erfahrung und ihren Ausrichtungen unseres Handelns begreift. Schelling steht in einem Dia­log mit den Wissenschaften, seine Natur, sein Sehen der Natur ist nicht zurück vor die Wissenschaften geführt, sondern setzt an bei den empirisch geordneten Phäno­menen. Schelling denkt seine Naturphilosophie als Wissenschaftslehre. Es ist eine Lehre, die die Natur als eine in sich bestimmte Struktur darzustellen sucht, aus der Einsicht in die Notwendigkeiten jeder Naturbestimmung Folgerungen für eine Ordnung des Wissens um die Natur erarbeitet und daraus dann auch mögliche Strukturierungen einzelwissenschaftlichen Wissens bewertet. Diese Naturphilosophie ist als spekulative Physik nicht Esoterik. Sie steht nicht quer zu den Diskussionen der Naturforschung der Zeit, sie ist mit im Boot mit den Naturforschern, die die neu erarbeiteten experimentellen Zusammenhänge einer sich zusehends experimental begreifenden Physik methodologisch zu strukturieren und methodisch als naturwissenschaftlichen Wissenschaftszusammenhang zu ordnen suchen. Schellings Philosophie ist in dieser Hinsicht denn auch nicht der systematische Antipode zu dem nur wenig zeitversetzt publizierenden Fries,53 der eine explizit wissenschaftstheoretische Ausrichtung des Philosophierens fordert, trotz dessen ganz anders lautenden Bekundens. Die Ansicht der Natur, die Schelling zeichnet, ist die Ansicht der Wissenschaften, die er fundiert und systematisiert, für die er nunmehr die ihm möglich erscheinenden Anschauungsformen entwirft. Seine Naturphilosophie gibt keine Bilder, aber sie sucht Anschauungen. Historisch steht sie dabei am Beginn der Entwicklung, in der nun heute die Disziplinen der Wissenschaften ihr Denken in Modelle übersetzen. Das Bild der Natur ist demnach die Anschauung ihrer Interpretation.

53 Jakob

Friedrich Fries. Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker, hg. von Wolfgang Hogrebe und Kai Herrmann, Frankfurt/M. 1999.

Was sich am Körper zeigt Über den Ausdruck der Emotionen Catherine Newmark Kann das Innere des Menschen, sein Seelenleben, in irgendeiner Weise äußerlich zum Erscheinen kommen? Diese Frage gehört seit der Antike zum Grundbestand des Nachdenkens über Emotionen oder Passionen.1 Alle Emotionslehren kommen darin überein, dass die passiones animae von signa oder expressiones am Körper, und insbesondere im Gesicht, begleitet werden, auch wenn dieser Tatbestand nicht bei allen Autoren und nicht in jeder Denkschule im Vordergrund des theoretischen Interesses steht. Dieser Aufsatz will einigen Traditionslinien des Nachdenkens über das Erscheinen von Passionen am Körper nachgehen. Zu zeigen wird sein, dass die Frage nach dem körperlichen Ausdruck von Seelenbewegungen, die in der Antike noch ganz hinter handlungsethische Erwägungen zurücktritt, in der frühen Neuzeit zu einem Hauptschauplatz der moralischen Diskussion über Passionen wird – und dass sich dabei die Frage danach, um was es bei der Passionsmoral geht, von einer Frage über Handlungsethik zu einer Frage der Wahrhaftigkeitsethik weitet – die freilich nie ganz ohne normative Aspekte auskommt. Antike Traditionen – Handlungsethik, Seelenbewegungen, Temperamentenlehre Zunächst ein paar Worte zu den wichtigsten antiken Theorietraditionen, die im 17. und 18. Jahrhundert aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Bei der für die abendländische Theorie der Passionen grundlegenden aristotelischen Emotionslehre, die im Mittelalter von Thomas von Aquin wirkmächtig vereindeutigt und verfestigt wird, taucht die Frage nach dem körperlichen Ausdruck eher wenig auf. Die Emotion wird als appetitus sensitivus gefasst, als motivationaler Trieb, der auf

1 Die Begriffe ›Emotion‹ und ›Gefühl‹, die in der zeitgenössischen Philosophie systematisch unterschieden werden, sind beide neueren Datums – bis ins 18. Jahrhundert finden vor allem die Begriffe ›passio animae‹ und ›affectus‹ zur Bezeichnung der affektiven Phänomene im Menschen Anwendung. In diesem Text verwende ich ›Affekt‹, ›Passion‹, ›Pathos‹, ›Emotion‹ und ›Gefühl‹ synonym. Für eine genauere Differenzierung dieser Begriffe vgl. Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant (Paradeigmata 29), Hamburg 2008, besonders 9-11 sowie die dort angegebene Literatur, und Hilge Landweer, Ursula Renz: Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien, in: Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer, Ursula Renz, Berlin 2008, 3 f.

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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sinnlicher Wahrnehmung basiert und im Unterschied zum Willen oder appetitus rationalis das niedere Strebevermögen darstellt. Die aristotelische Psychologie hat zwar eine physische Basis – Aristoteles entwickelt sie auf Grundlage seiner Physik –, ist aber mehr an den psychischen Mechanismen selbst interessiert als an ihren physischen Begleiterscheinungen. Die wesentlichen Fragen in Bezug auf den äußeren Ausdruck von Passionen sind handlungsethischer Art: Für Aristoteles wird die Seele in den passiones animae aufgrund von körperlichen Eindrücken bewegt, und sie bewegt ihrerseits den Körper zu Handlungen. In der Nikomachischen Ethik liegt der Fokus ganz auf den ethischen Implikationen der Tatsache, dass wir durch unsere Passionen zu Handlungen getrieben werden. Wie dieser Ablauf aber am Körper aussieht, steht bei ihm nicht im Zentrum des Interesses. Gefragt wird mithin nicht danach, ob jemand, der sich schämt, errötet – wichtig ist, welche Handlung aus dem Affekt der Scham folgt. Aristoteles beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, inwiefern von Passionen aufgelöste Handlungen gut oder schlecht sind und sein können, und inwiefern sie – gegebenenfalls mittels rationaler Kontrolle – dem ethischen Ideal der maßvollen Mitte zu entsprechen vermögen. Konkrete Hinweise, wie die physischen Begleiterscheinungen der ›Seelenbewegungen‹ aussehen, findet man hingegen im Kontext der stoischen Philosophie, der zweiten für die Passionslehren des Abendlandes einflussreichen antiken Denkschule. Auch in der intellektualistischen stoischen Passionslehre steht der körperliche Passionsausdruck nicht im Fokus, vielmehr beschäftigen sich auch die stoischen Philosophen vorwiegend mit den moralphilosophischen Implikationen von Passionen. Da diese ihrer Auffassung zufolge falsche, fehlerhafte Urteile, wenn nicht gar Krankheiten der Seele sind, ist das zentrale Anliegen zu zeigen, dass und wie man seine Passionen gänzlich unterdrücken kann. Die stoische Idealfigur ist der Weise, der gänzlich apathés, also passionslos ist. Die Stoa bietet aber auch eine starke physiologische Konzeption der Passionen, die für die Frage nach dem Emotionsausdruck nutzbar gemacht werden kann. Die vier Hauptpassionen Schmerz, Lust, Begehren und Furcht werden als spezifische Seelenbewegungen, namentlich als Zusammenziehen und Anschwellen, Strecken und Zurückziehen definiert: »Unlust (oder Schmerz, Trauer: λύπη, tristitia) ist ein unvernünftiges Sichzusammenziehen (συστολή, constrictio) oder die noch frische Einbildung (δόξα , opinio) der Gegenwart eines Übels, bei dem ein Sichzusammenziehen für notwendig gehalten wird. Furcht (φόβος, timor) ist eine unvernünftige Abkehr (ἔκκλισις, declinatio) oder die Flucht (φυγή, fuga) vor einem erwarteten Schrecken. Begierde (oder Begehren: ἐπιθυμία , concupiscentia) ist ein unvernünftiges Sichausstrecken (δίωξις, elevatio) oder das Streben nach (ὄρεξις, appetitus) einem erwarteten Guten. Lust (oder Freude: ἡδονή, delectatio) ist ein unvernünftiges Anschwellen (ἔπαρσις,



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diffusio) oder die noch frische Einbildung der Gegenwart eines Gutes, bei dem ein Anschwellen für notwendig gehalten wird.« 2

Zwar betreffen diese Bewegungen zunächst eine materiell gedachte Seele, aber eine äußerlich-körperliche Sichtbarkeit der Passionen ist in ihnen wenn nicht schon impliziert, so zumindest leicht mitdenkbar: dass sich der Körper in der Trauer zusammenzieht, dass Furcht eine hastige Abkehr von dem gefürchteten Objekt beinhaltet, dass der Begehrende sich dem Begehrten unwillkürlich nähert und dass die Brust sich freudig schwellt – allen von den Stoikern der Seele zugeschriebenen Emotionsbewegungen entsprechen auch körperliche Ausdrücke, die uns bis auf den heutigen Tag intuitiv vertraut erscheinen. Die ebenfalls aus der Antike stammenden medizinischen Passionslehren bereichern die stoischen Auffassungen – der bedeutendste antike Vertreter Galen ist auch ein wichtiger Überlieferer stoischer Fragmente – um diätetische Erwägungen und vor allem um eine Charakterlehre: die Humoralpathologie oder Lehre von den vier Temperamenten mit ihren vier Grundcharakteren sanguinisch, cholerisch, melancholisch und phlegmatisch. Es sind Texte, die in dieser Tradition stehen, in denen man in der Neuzeit zuerst eine Verbindung nicht nur zwischen Passion und Handlungsethik, sondern zwischen dem Emotionsausdruck selbst und einer allgemeinen Sittlichkeitslehre entdeckt. So etwa beim Arzt Ambroise Paré im 16. Jahrhundert: »[Or pour conclusion], les perturbations de l’ame font grande mutation en nostre corps, pour autant qu’elles sont cause du mouvement des esprits et de la chaleur naturelle: parce qu’icelles dilatent ou compriment le coeur, au moyen de quoy les esprits sont resouls ou astraints, et par ainsi la couleur de la face est muée. Car c’est le propre du coeur [de] mettre en icelle certaines marques de ses affections, qui en elle, pour la rarité de son cuir, sont si apparentes, que par la face on cognoist le jeune d’avec le vieux, l’homme de la femme: la temperature du corps, comme le sanguin du cholerique: le pituiteux d’avec le melancholique, les Mores d’avec les Sauvages, les François d’avec l’Espagnol, le courroucé d’avec le joyeux, aussi le sain d’avec le malade, et le vif du mort: mesmes aucuns ont voulu dire, qu’en la face on pouvoit lire et cognoistre les moeurs de l’homme.« 3

Die Passage thematisiert nicht nur das Sich-Zeigen von Passionen am Körper, sondern sie legt nahe, dass das, was diese Passionen zeigen, nicht nur der jeweils ak2 Pseudo-Andronicus de Rhodes: Peri pathon. Edition critique du texte grec et de la traduction latine médiévale par A. Glibert-Thirry, Leiden 1977, 222 f. Die mitangegebenen lateinischen Begriffe entstammen der Übersetzung von Robert Grosseteste; die deutsche Übersetzung folgt größtenteils Malte Hossenfelder: Antike Glückslehren. Kynismus und Kyrenaismus, Stoa, Epikureismus und Skepsis. Quellen in deutscher Übersetzung mit Einführungen, Stuttgart 1996, 88 [Abweichungen von dieser Übersetzung sind von der Autorin, C. N.]. 3 Ambroise Paré: L’introduction à la Chirurgie, Premier Livre, Chap. XXI (Oeuvres, 1628). Zit. nach Jean Starobinski: Le passé de la passion. Textes médicaux et commentaires, in: Nouvelle Revue de Psychanalyse 21 (1980), 53.

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tuelle Seelenzustand ist, sondern auf eine tiefere, dauerhaftere Innenstruktur des Menschen verweist: auf seine ›Sitten‹ oder Charaktereigenschaften. Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts wird diese Verbindung zwischen dem Emotionsausdruck und einer Moralphilosophie, die nicht mehr (nur) auf die emotional ausgelöste Handlung abzielt, sondern auf das in Emotionen gezeigte Innenleben – und in einem zweiten Schritt: auf seine Wahrhaftigkeit – geht, weiterentwickelt werden. Descartes und Le Brun – Der Passionsausdruck als physisches Zeichen des Seelenlebens Eine starke Theorie dessen, wie die physischen Begleiterscheinungen der ›Erleidnisse der Seele‹ aussehen und was sie erkennen lassen, findet man im 17. Jahrhundert in Descartes’ physiologischer Passionslehre. René Descartes inszeniert seine Philosophie bekanntlich als großen Traditionsbruch mit der aristotelischen Scholastik und bricht folglich auch in der Passionslehre mit dem aristotelischen Paradigma der passio animae als handlungsmotivierender Seelenbewegung. In seinem Traktat Les passions de l’âme von 1649 beschreibt er Passionen vornehmlich von ihrer physiologischen Seite her, als Bewegungen der sogenannten esprits animaux. Zugleich ist seine Passionslehre in ihren therapeutischen Absichten stark an die ärztlichen Traditionen und die stoische Moralphilosophie angelehnt. Bekanntlich ist für Descartes der Körper eine selbstbewegende Maschine, ein Automat; das Prinzip seiner Selbstbewegung ist rein körperlich, nämlich die im Herzen befindliche Wärme, welche auch als eine Art Feuer – »une espece de feu« – vorgestellt werden kann.4 Das Herz ist dabei das Zentrum des Blutkreislaufs: Das Blut wird durch das »Feuer« im Herzen erwärmt und verdünnt, dadurch weitet es sich, verlässt das Herz und macht Platz für neues Blut, welches im Herzen wiederum erwärmt wird; dieser Kreislauf macht den Herzschlag oder Puls aus, bei dem das Blut die Wärme des Herzens in alle Teile des Körpers transportiert und auf diese Weise den Körper nährt.5 Von diesem Blut unterscheidet Descartes nun noch die feinsten Teile – »les plus vives & plus subtiles parties du sang« – und nennt sie »esprits animaux«; diese, und nur diese, bewegen sich vom Herzen, wo das Blut erwärmt und verdünnt wird, nicht in den restlichen Körper, sondern durch besonders enge Durchgänge ins Gehirn.6 Descartes: Les passions de l’âme, introduction et notes par Geneviève Rodis-Lewis, Paris 1994, a. 8. Für die Physiologie insgesamt vgl. aa. 7-16. 5 Ebd., a. 9. 6 Ebd., a. 10. Die Lehre von solchen »feinstofflichen« Animalgeistern hat in der älteren Philosophie eine lange Geschichte; der antike Neuplatonismus kennt sie ebenso wie die Stoa und die galensche Medizin. Descartes benennt die esprits gemäß dieser Überlieferung als »un certain air ou vent tres-subtil« (ebd., a. 7), integriert sie aber in seinen strengen Physiologismus und betont, dass es sich dabei um etwas ausschließlich Körperliches handelt: »[…] ce que je nomme icy 4 René



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Descartes’ Theorie der Passionen versucht diese nun – anders als die aristotelische Tradition, die sie als leib-seelische Ereignisse auffasst – vorwiegend von ihrer physiologischen Seite zu erklären, und zwar als einigermaßen selbstständige Bewegungen der esprits animaux. Passionen sind ähnlich wie Sinneswahrnehmungen, welche durch die Nerven (für Descartes eine Art Schnüre, die von den Wahrnehmungsorgangen durch den Körper zum Gehirn führen) vermittelt werden. Anders als Sinneswahrnehmungen werden sie allerdings nicht nur durch die Nerven vom Körper zum Gehirn geleitet, sondern eben auch von den esprits. Diese teilen zwar die Nervenbahnen, haben aber eine gewisse Selbstständigkeit, weil sie nicht nur Botenstoffe sind, sondern auch ein Eigenleben haben. Insbesondere kann ihre Bewegung auch lange fortwirken, nachdem der ursprüngliche äußere Stimulus nicht mehr da ist. Dies erklärt die relative Unabhängigkeit von Passionen und ihren unwillkürlichen und unkontrollierbaren Charakter, ebenso wie die Tatsache, dass sie anders als Sinneswahrnehmungen nicht immer kausal einem äußeren Objekt oder Ereignis zugeordnet werden können. Mit diesem Modell lassen sich nun die äußerlichen Anzeichen oder Ausdrücke von Passionen sehr gut erklären: Wenn die Passion in der Bewegung der esprits besteht, dann hinterlassen diese, als Teil des Blutes, das sie im Körper bewegen, auch sichtbare Zeichen an diesem: der Herzschlag wird schneller oder langsamer, Körperteile (insbesondere das Gesicht) werden mit Blut gefüllt und erröten oder erbleichen aufgrund von Blutmangel: »On ne peut pas si facilement s’empêcher de rougir ou de pâlir lorsque quelque passion y dispose, parce que ces changements ne dépendent pas des nerfs et des muscles, ainsi que les précédents, et qu’ils viennent plus immédiatement du cœur, lequel on peut nommer la source des passions, en tant qu’il prépare le sang et les esprits à les produire. Or, il est certain que la couleur du visage ne vient que du sang, lequel, coulant continuellement du cœur par les artères en toutes les veines, et de toutes les veines dans le cœur, colore plus ou moins le visage, selon qu’il remplit plus ou moins les petites veines qui vont vers sa superficie.« 7

Aus dieser Physiologie erklärt sich für Descartes, dass Freude zum Erröten führt, weil durch die Öffnung der Herzschleusen das Blut schneller durch die Adern fließt, während Traurigkeit mit Erbleichen einhergeht, weil die Öffnungen des Herzens verengt werden und das Blut langsamer fließt: »Ainsi la joie rend la couleur plus vive et plus vermeille, parce qu’en ouvrant les écluses du cœur elle fait que le sang coule plus vite en toutes les veines, et que, devenant plus chaud et plus subtil, il enfle médiocrement toutes les parties du visage, ce qui en rend l’air plus riant et plus gai. […] La tristesse, au contraire, en étrécissant les orifices du cœur, fait que le sang coule plus lentement dans les veines, et que, des esprits, ne sont que des corps, & ils n’ont point d’autre propriété, sinon que ce sont des corps tres-petits, & qui se meuvent tres-vite, ainsi que les parties de la flame qui sort d’un flambeau.« (Ebd., a. 10). 7 Ebd., a. 114.

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devenant plus froid et plus épais, il a besoin d’y occuper moins de place ; en sorte que, se retirant dans les plus larges, qui sont les plus proches du cœur, il quitte les plus éloignées, dont les plus apparentes étant celles du visage, cela le fait paraître pâle et décharné, principalement lorsque la tristesse est grande ou qu’elle survient promptement, comme on voit en l’épouvante, dont la surprise augmente l’action qui serre le cœur.« 8

Diese Vorstellungen eines Sich-Ausdehnens und -Zusammenziehens des Herzens sowie der esprits animaux stehen natürlich in direkter Traditionslinie zur stoischen Vorstellung eines Ausdehnens und Zusammenziehens der Seele und ihres Pneumas, sie liefern aber auch im Zusammenhang von Descartes’ Physiologie eine plausible Erklärung für beobachtbare physische Effekte der Passionen.9 Aufgegriffen und weiter konkretisiert wird dieses Modell wenig später vom Maler Charles Le Brun: Die berühmte Conférence sur l’expression des passions, die er 1668 in der Académie Royale de Peinture et de Sculpture hält, ist eng an Des­cartes’ Passionstraktat angelehnt. Le Bruns Physiologie der Passionen ist fast gänzlich cartesianisch; in seine Aufzählung einzelner Passionen sowie in seiner Definition der Passion als »un mouvement de l’âme, qui réside en la partie sensitive« lässt er allerdings auch aristotelische Begrifflichkeiten einfließen.10 Der wichtigste und interessanteste Teil von Le Bruns Werk sind aber die Skizzen, mit denen er zeigt, wie die einzelnen Passionen künstlerisch dargestellt werden können. Mit Descartes geht Le Brun davon aus, dass die Passionen in die »glande pinéale« in der Mitte des Gehirns übermittelt werden und dass aufgrund dieser Lokalisierung das Gesicht der zentrale Ort für den Emotionsausdruck ist. Während für Descartes allerdings die Augen der ausdruckstärkste Teil des Gesichts sind – »Il n’y a aucune passion que quelque particulière action des yeux ne déclare«11 –, widerspricht Le Brun ihm dahingehend, dass es nicht die Augen selber, sondern die Augenbrauen sind, auf die der Künstler bei der Darstellung von Passionen besondere Aufmerksamkeit legen muss: »le sourcil est la partie de tout le visage où les passions se font mieux connaître, quoique plusieurs aient pensé que ce soit dans les yeux«.12 Diese Verschiebung hat ihren Grund ohne Zweifel in dem künstlerischen Anliegen, die Passionen möglichst erkennbar darzustellen, wofür die Augenbrauen nützlicher als die Augen selbst sind. Ein großer Teil von Le Bruns Conférence beschreibt in der Folge sehr detailliert die unterschiedlichen Formen, welche die   8

Ebd., a. 115-116. den bereits erwähnten zählen für Descartes auch Zittern, Erschlaffung, Ohnmacht, Lachen, Weinen, Seufzen und Stöhnen zu den hauptsächlichen körperlichen Anzeichen der Passionen. Während sich das Weinen noch physiologisch einigermaßen bruchlos durch Kondensation von Blut und esprits erklären lässt, lässt sich die Blutkreiserklärung von Seufzen und Lachen schon etwas weniger leicht vorstellen. 10 Charles Le Brun: Conférence sur l’expression des passions, in: Nouvelle Revue de Psychanalyse 21 (1980), 95. 11 Descartes: Les passions de l’âme [Anm. 4], a. 113. 12 Le Brun: Conférence [Anm. 10], 99.   9 Nebst



Was sich am Körper zeigt139

Abb. 1: Le Brun Skizze, aus Conférence sur l’expression

Augenbrauen bei unterschiedlichen Emotionen annehmen; sowie auch andere damit verbundene Teile des Gesichts wie Stirn, Nase, Mund. Nur ein verhältnis­ mäßig kurzer Teil am Ende des Textes behandelt die Bewegungen des Körpers als Ganzem. Im Rahmen seines Rückgriffes auf aristotelische Begrifflichkeiten betont Le Brun auch einen Punkt, der bei Descartes im Bemühen, die Passionen ganz dem Körper zuzuschlagen, nur kurz erwähnt wird: dass nämlich die in der kausalen Wirkkette zur Passion gehörende Aktion im Körper selber liegt: »Comme il est donc vrai que la plus grande partie des passions de l’âme produisent des actions corporelles, il est nécessaire que nous sachions quelles sont les actions du corps qui expriment les passions, et ce que c’est qu’action. L’action n’est autre chose que le mouvement de quelque partie, et le changement ne se fait que par le changement des muscles …«13

Das ist mit Blick auf die aristotelische Tradition, welche die Aktion in der Handlung sah, freilich eine gewichtige Umdeutung: das sichtbare Zeichen einer Passion ist nicht die von ihr motivierte Handlung, sondern die Ver­ä nderung am Körper selbst. 13

Le Brun: Conférence [Anm. 10], 95-96. Vgl. Descartes: Les passions de l’âme [Anm. 4], a. 2: »[…] ce qui est en elle [sc. L’âme] une Passion, est communement en luy [sc. le corps] une Action«.

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Diese Verschiebung impliziert auch eine Verschiebung und Erweiterung dessen, worum es bei einer Moral der Passionen geht. Zwar treibt insbesondere den Rationalisten Descartes ganz eindeutig die Sorge um, dass Emotionen sein klares vernünftiges Denken trüben könnten, aber diese Sorge gilt der Sinnlichkeit allgemein, nicht spezifisch den Passionen. Wenn die direkte Wirkung der Passion nicht mehr wie bei Aristoteles die durch sie ausgelöste Handlung ist, sondern die Wirkung schlicht in ihrem körperlichen Ausdruck besteht, dann ist Passionsmoral nicht mehr vorrangig Handlungsethik, sondern vielmehr so etwas wie Wahrhaftigkeitsmoral. Es geht nicht mehr so sehr um die Frage, ob aus meinen Passionen schlechte Handlungen folgen, sondern vielmehr um diejenige, ob ich meine Passionen ehrlich und wahrhaftig zeige – oder aber sie versuche zu verbergen. Denn wenn mein Seelenleben an meinem Körper zum Erscheinen kommt – dann lässt sich daraus sofort die Frage ableiten, ob dieses Sich-Zeigen des Innenlebens auch verändert, manipuliert – kurz: kontrolliert werden kann. Zwar erscheint es im Rahmen der mechanistischen cartesischen Physiologie unplausibel, dass an diesen körperlichen Erscheinungsweisen von Passionen willentlich etwas verändert werden könne, dennoch scheinen Le Brun und auch Des­ cartes selbst davon auszugehen, dass solches möglich ist. Descartes wirft die Frage nach dem Zeigen oder Verbergen von Emotionen selber auf und suggeriert, dass man zumindest gewisse Gefühlsausdrücke bewusst und künstlich herstellen könne: »Pour le ris qui accompagne quelquefois l’indignation, il est ordinairement artificiel et feint.«14 Und sogar eine willentliche Veränderung mit Blick auf das Ziel, seine Emotionen zu verbergen, wird von ihm als möglich angesehen: »Il est vrai qu’il y en a quelques-unes qui sont assez remarquables, comme sont les rides du front, en la colère, et certains mouvements du nez et des lèvres en l’indignation et en la moquerie; mais elles ne semblent pas tant être naturelles que volontaires. Et généralement toutes les actions, tant du visage que des yeux, peuvent être changées par l’âme lorsque, voulant cacher sa passion, elle en imagine fortement une contraire, en sorte qu’on s’en peut aussi bien servir à dissimuler ses passions qu’a les déclarer.«15

Kaum ist der Passionsausdruck also theoretisch als sichtbares und eindeutiges Zeichen einer inneren Empfindung etabliert, wird auch schon die Möglichkeit seiner Kontrolle, Manipulation und Verschleierung ins Spiel gebracht. Und diese Frage ist natürlich eng mit der sozialen, sittlichen Frage verbunden, welche Emotionen zu zeigen angemessen ist – eine Frage, die im höfischen und höflichen 17. Jahrhundert von einiger Bedeutung ist und in moralistischen und literarischen Texten ausführlich behandelt wird. Ein direkt mit Descartes in Verbindung stehendes Beispiel dafür sind die Texte der Königin Christine von Schweden, die sich ausführlich mit Descartes’ Rationalismus auseinandergesetzt hat, mit Descartes korrespondierte und ihn sogar an 14

Descartes: Les passions de l’âme [Anm. 4], a. 127. a. 113.

15 Ebd.,



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ihren Hof einlud, wo er sich kurz nach seiner Ankunft eine Erkältung zuzog und im Jahr 1650 verstarb. Als Schreiberin moralistischer Aphorismen ist Christine von Schweden zumindest implizit Descartes-kritisch, insbesondere finden sich immer wieder Stellen, die einen allzu starken Rationalismus als zu lebensfern verwerfen. Zum Thema der Passions-Verschleierung findet man klare Worte in ihrem O ­ uvrage du loisir: »Ne savoir pas dissimuler, c’est ne savoir pas vivre.«16 Oder auch: »Tout homme qui ne sait pas dissimuler quand il veut, est un sot.«17 Auch die Kunsttheorie jener Zeit ist mit der Frage nach der Wahrhaftigkeit des Passionsausdrucks nachhaltig beschäftigt. Während Le Brun noch glaubt, dass der Passionsausdruck genuin ist – »L’expression, à mon avis, est une naïve et naturelle ressemblance des choses que l’on a à représenter«18 –, wird einige Jahrzehnte später der ganze Umfang der Spannung zwischen dem Anspruch von natürlicher Repräsentation in der Kunst und der Kultivierung und Zivilisierung von Passionen in der Gesellschaft zum kritischen Thema der Kunsttheorie. Watelet – Das Problem der kultivierten Passionsausdrücke Claude-Henri Watelet geht in seinem Werk L’art de peindre von 1752 ausführlich auf das künstlerische Problem ein, dass das, was der bildende Künstler für die naturnachbildende Darstellung braucht, nämlich natürliche Modelle, in der kultivierten Gesellschaft nicht mehr anzutreffen ist. Kontrolle und Unterdrückung unliebsamer Passionen mögen soziale Normen sein, aber für die Kunst ist das ein Problem: »Ce qui caractérise principalement une Nation civilisée, c’est cette gêne utile que les hommes imposent à la plus grande partie des expressions subites & inconsidérées tant de l’ame que du corps. Ces mouvements libres & naturels troubleroient, en effet, la société et entraîneroient le blâme: on a donc soin de les modérer; & ce soin est tel qu’on réprime les signes des passions préférablement aux passions mêmes […] Mais encore une fois, comment faire des observations sur l’Expression des Passions, dans une Capitale, par exemple, où tous les hommes conviennent de paroître n’en ressentir aucune? Où trouver parmi nous aujourd’hui, non pas des hommes coleres, mais des hommes qui permettent à la colere de se peindre d’une façon absolument libre, dans leurs attitudes, dans leurs gestes, dans leurs mouvements, & dans leurs traits? Plus une société sera nombreuse & civilisée, plus la force & la variété de l’Expression doit s’affaiblir; parce que l’ordre & l’uniformité seront les principes d’où naîtra ce qu’on appelle l’harmonie de la société.« 19 Christine Reine de Suède: Apologies, texte présenté, établi et annoté par Jean-François de Raymond, Paris 1994, L’ouvrage du loisir, m. 176, 167. 17 Ebd., m. 215, 173. 18 Le Brun: Conférence [Anm. 10], 95. 19 Claude-Henri Watelet: L’Art de peindre. Poëme avec des Réflexions sur les différentes parties de la peinture, Paris 1760, 126 f. 16

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Watelet gesteht zwar zu, dass Passionskontrolle und -kultivierung sozial wünschenswert sind, aber er bedauert sowohl die Tatsache, dass Maler dadurch keine unverfälschten Emotionsausdrücke zu Gesicht bekommen, als auch den Umstand, dass die Malerei als ästhetische Konvention ein Idealbild eleganter und zurückhaltender Emotionsexpression übernommen hat. Dies geht auf Kosten eines von ihm stark gemachten Auftrags der Darstellung von Natur, wie sie ist, mit all ihren Imperfektionen: »Je demanderai ensuite, en supposant que cela soit, si l’on ne doit pas donner aux Artistes une plus grande liberté qu’on ne leur accorde dans les siecles du Goût, de peindre la Nature avec la variété qui la caractérise, même avec les imperfections qui l’accompagnent & qui servent d’opposition favorable, ou de comparaison nécessaire, pour faire sentir & juger la beauté?« 20 Wenn also die höfische Passionskultivierung den Passionsausdruck sozusagen jederzeit verfälscht, ist das für den Künstler, der die Natur unverfälscht abbilden will, ein schier unlösbares Problem. Die Kritik an der gesellschaftlich konventionalisierten Kultivierung der Passionen geht aber im 18. Jahrhunderts über kunsttheoretische Erwägungen weit hinaus; sie wird auch politisch und kulturkritisch formuliert – auch dies mit dem Argument der moralischen Wahrhaftigkeit. Die Auf klärung mit ihrer Kritik der Zivilisation und ihren Vorstellungen eines intrinsischen Wertes des »Natürlichen«, wie beispielsweise von Rousseau in seinem Discours sur les Sciences et les Arts (1750) und anderen Schriften vertreten, sieht in der überzivilisierten Dissimulation und der höfischen künstlichen Kreiierung von Passionen und Passionsausdrücken eine moralische Dekadenzerscheinung. Die Vorstellung, dass man Passionen sozial benutzen könne, scheint den auf klärerischen Geist zu schockieren, der lieber eine weniger flexible Anthropologie der Passionen und eine geradlinigere moralische Haltung ihnen gegenüber vertreten sähe. Lichtenberg und Kant – wahrhaftige und normative Passionsausdrücke Eine der schönsten polemischen Behandlungen dieses Problems ist die Zusammenarbeit in den Jahren 1779 und 1780 zwischen dem Auf klärer Georg Christoph Lichtenberg und dem Maler Daniel Nikolaus Chodowiecki für Lichtenbergs Göttinger Taschenkalender mit dem Titel Natürliche und Affectirte Handlungen des Lebens. Die Zeichnungen, die Lichtenberg bei Chodowiecki in Auftrag gegeben hatte und die er dann kommentiert, zeigen jeweils zwei Versionen derselben Szene und kontrastieren dabei scharf die »alten«, künstlichen Körperstile und Emotionsausdrücke, welche mit Aristokratie und »ancien régime« assoziiert sind, mit den neuen, natürlichen Gefühlsstilen.21 20 Ebd.,

131. Georg Christoph Lichtenberg: Handlungen des Lebens. Erklärungen zu 72 Monatskupfern von Daniel Chodowiecki, mit einem Vorwort von Carl Brinitzer, Stuttgart 1971. 21



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Abb. 2 und 3: Daniel Nikolaus Chodowiecki, Die Unterredung

Lichtenbergs Kommentare sind sarkastisch und oft komisch. So beim Bild »Die Unterredung«, das eine Dame und einen Herrn in trautem Zwiegespräch zeigt. Das für Lichtenberg überholte Bild zeigt eine Dame im Rokoko-Reifrock und beide Figuren in dramatischem körperlichen Emotionsausdruck. Lichtenberg schreibt dazu: »Die Dame ganz in der rührenden Stellung einer Didone abbandonata, die mit schönen Fingern der einen Hand ihre Zärtlichkeit in ein Recitativ spinnt, und mit der anderen über Liebe klagt, als wäre Liebe Seitenstich, fühlt und sieht sich ganz und allein hier, so gut wie vor dem Spiegel, aus dem sie dieses alles gelernt hat. Ebenso vergnügt ist der männliche Geck, der ihr gegen übersteht, mit sich selbst.« 22 Dem körperlich expressiven Stil wird mithin eine Verflachung der Emotion unterstellt: »als wäre Liebe ein Seitenstich«. Wer so dramatisch seine Emotionen aus­d rückt, so die Implikation, empfindet sie nicht wahrhaftig. Ein weiteres Doppelbild mit dem Titel Empfindung zeigt einerseits ein Paar, das ruhig in sich gekehrt einen Sonnenuntergang betrachtet, daneben eines, das die Arme in die Höhe reckt, den Körper nach hinten beugt und in augenfälliger Begeisterung das Naturspektakel genießt. Lichtenberg schreibt zum ersten Paar: »Sie geniessen den Anblick der untergehenden Sonne, mit dem ruhigen Gefühl, das so wie jene in der Ferne sanft hinwallende Kreiße die bepurperte Fläche des Wassers, in welchem sich ihr Feuer spiegelt, die ganze Seele endlich füllt ohne in ihr 22 Ebd.,

37.

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zu stürmen.« 23 Und zum zweiten: »Wer hier nicht modische Empfindsamkeit und vitu­l irendes Entzücken in Hexametern aufwallen sieht, der sieht nichts. Man glaubt man hörte sie skandieren. Das sind mir ein Paar warme, weichgeschaffene Seelen, die bey dem freundlichen Abschied der Göttin des Tages mehr Theilnehmung äussern, als unser einer, wenn ihr ungeschickter Kutscher Phaeton sie irgendwo am hellen Mittage absetzte.« 24 Während die moderne Empfindung also die »ganze Seele füllt, ohne in ihr zu stürmen«, mithin innerlich ist, ist die körperliche Reaktion des affektierten Paares übertrieben und dem Anlass nicht angemessen. Innerlichkeit und Authentizität sind die maßgeblichen Stichworte von Lichtenbergs Haltung: Dem Körper soll nicht mehr die je spezifische Emotion deutlich anzusehen sein, vielmehr soll er nur noch ein kleines Zeichen, einen bescheidenen Hinweis auf ein intensives inneres Geschehen abliefern – dieses aber wahrhaftig. Es ist hier interessant, dass Lichtenberg Kritik am kultivierten höfischen Emotionsausdruck als übertriebener, affektierter Gestik übt, aber nicht per se den kultivierten Emotionsausdruck kritisiert, sondern nur eine bestimmte Form davon. Denn bei näherem Hinsehen sind natürlich auch die von Lichtenberg favorisierten, sanften, inwärts gewandten und bescheidenen Emotionsausdrücke kultivierte Emotionsausdrücke, die nicht notwendigerweise natürlicher sind als die kritisierte expansive Expressivität. Auch die bürgerliche Innerlichkeit des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, der gemäß wir noch heute stockstill und -steif im Konzertsaal sitzen, ist eine normative Form des Emotionsausdrucks. In diesem Sinne sind die Zeichnungen eine wunderbare Illustration des historisch und literaturgeschichtlich viel beschriebenen Prozesses der Verinnerlichung, durch den die alten »Passionen« zu modernen »Gefühlen« werden.25 Der Diskurs der Authentizität, der diese Bewegung begleitet, geht mit einem neuen Verständnis von Emotionen einher, das in der Literatur und in den bildenden wie darstellenden Künsten entwickelt wird, insbesondere aber die ästhetischen Theorien bestimmt. Eine philosophische Ausformulierung können wir bei Kant finden. Was Kant in einigen seiner Schriften, vor allem in der Kritik der Urteilskraft (1790) und in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), entwickelt, ist die Vorstellung der Emotion nicht als eines Ereignisses oder einer Episode der Seele, die durch äußerliche Anlässe hervorgerufen wird, sondern als eines Vermögens der Seele selbst, also einer grundlegenden Seelenfunktion in uns. Dieses Modell geht mit einer neuen Seelenteilung einher: Während die meisten frühneuzeitlichen Denker der Seele zwei Hauptfähigkeiten oder Teile zuschreiben, nämlich (sinnliche und intellektuelle) Erkenntnis und (sinnliches und intellektuelles) Streben (also Emo23 Ebd.,

48. 51. 25 Vgl. z. B. Stefan Hübsch: Vom Affekt zum Gefühl, in: Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen. Reiner Wiehl gewidmet, hg. von Stefan Hübsch, Dominic Kaegi, Heidelberg 1999, 137-150. 24 Ebd.,



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tionen und Willen), führt Kant eine Dreiteilung der Seele ein, indem er zwischen Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen das Gefühl der Lust und Unlust stellt. Kant unterscheidet in Emotionsangelegenheiten zwischen Affekten, welche zum Gefühl der Lust und Unlust gehören, und Leidenschaften welche dem Begehrungsvermögen zuzurechnen sind.26 Letztere sind moralisch problematische Neigungen, die der Vernunft zuwiderlaufen: Kant nennt unter anderem Liebe, Hass, Rachsucht, Ehrsucht, Herrschsucht und Geschlechtsneigung. 27 Diese sind ihm zufolge moralisch problematisch, weil sie in Konkurrenz zum vernünftigen Willen treten – ganz wie die klassischen Passionen sind sie unzuverlässige Handlungsantriebe, die unser Tun in die Irre führen können. Alle anderen Emotionen allerdings nennt Kant »Affekte« und zählt sie zum Gefühl – also zur grundlegenden sinnlichen Urteilskraft der Seele. Freude, Trauer, Hoffnung, Furcht und viele andere, die Kant zu den Affekten zählt, gehören schlicht zum grundlegenden sinnlichen Vermögen, dem Vermögen des Gefühls.28 Und da das Gefühl ein Seelenvermögen ist, sind diese Affekte nicht bloß sporadische Ereignisse, sondern vielmehr jederzeit vorhanden. Kants neues, drittes Seelenvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, ist nicht nur aktualiter für kurzfristige Gefühle und Emotionen zuständig, sondern jederzeit potentialiter für das Vermögen, Dinge zu fühlen. Gefühle werden diesem Verständnis nach zu einem wesentlichen Teil des Innenlebens einer Person. Sie sind nicht mehr abhängig vom Objekt, das sie auslöst, und auch nicht mehr nur relevant mit Blick auf die Handlung, die sie motivieren, sie sind auch nicht nur das Nebenprodukt von Sinneswahrnehmung, sondern sie sind zur Basis dessen geworden, wie wir die Welt erfahren. Die Empfindsamkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts geht genau von einer solchen grundlegenden Emotionalität des Menschen aus. Mit dieser Verschiebung innerhalb der Emotionstheorie in Richtung Innerlichkeit geht auch die Verschiebung in der Auseinandersetzung mit Handlungstheorien und Moralphilosophie einher, hin zu einem Interesse daran, wie sich Dinge anfühlen. In nachkantischen Gefühlstheorien sind Gefühle ein subjektives Vermögen, und sie sind authentische Ausdrücke des Selbst – nicht mehr moralische Probleme. In dieser verinnerlichten Auffassung der Emotionen spielt die Wahrhaftigkeitsethik, die wir von der Temperamentenlehre über Kunstdiskussionen im 17. und 18. Jahrhundert verfolgt haben, zwangsweise eine größere Rolle. Wenn Emotionen zum stabilen Persönlichkeitskern eines Menschen gehören, dann ist auch ihr Ausdruck Gegenstand einer Wahrhaftigkeitsfrage. Aber auch bei Kant gibt es Erwägungen dazu, ob dieser Ausdruck nicht doch auch kontrolliert und manipuliert werden kann – und ob er das nicht auch mit Blick auf das gesellschaftlich Schickliche werden sollte. So scheint er ein Ideal der Emotionskontrolle zu propagieren, wenn er schreibt: »wer zu schwach ist, seine 26 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe, Band V, Berlin 1913, 272 Anm.; vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Band VI, Berlin 1915, 407-408. 27 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe, Band VII, Berlin 1917, § 73, 251 und §§ 80-85, 266-274. 28 Ebd., §§ 76-79, 254-261.

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Affecten zu beherrschen, bei dem wird auch das Mienenspiel (wider den Dank seiner Vernunft) das Innere blosstellen, was er gern verbergen und den Augen anderer entziehen möchte.« 29 Andererseits scheint er jede Form der Verschleierung von Gefühlen zu verurteilen, wenn er im Anschluss notiert: »Aber die, welche in dieser Kunst Meister sind, werden, wenn man sie doch erräth, nicht eben für die besten Menschen, mit denen man im Vertrauen handeln kann, gehalten; vornehmlich wenn sie Mienen zu künsteln geübt sind, die dem, was sie thun, widersprechen.« 30 Zudem gibt es bei Kant interessanterweise, trotz innerer Sensibilität und Authentizitätsideal, klare moralische Vorgaben über angemessene und unangemessene Emotionsausdrücke, was die Geschlechter betrifft. Ganz allgemein sind Emotionen bei Kant »gegendert«: Er schreibt Gefühl dem weiblichen Geschlecht und Verstand dem männlichen zu, sowohl deskriptiv als auch normativ. Er weist zudem spezifische Emotionen bestimmten Geschlechtern zu, wie Furcht, die er als weiblich betrachtet, und Mut, den er für männlich hält. Auch dies sowohl deskriptiv (anthro­ pologisch, biologisch) als auch normativ, insofern Männer mutig sein sollten und es Frauen ziemt, furchtsam und vorsichtig zu sein (was Kant mit der biologischen Funktion begründet, dass es natürliche Aufgabe der Frau ist, Kinder zur Welt zu bringen).31 Über dieses allgemeine und spezifische Gendering von Emotionen findet man bei Kant auch ein normatives Gendering von Emotionsausdrücken, wie beispielsweise die Anforderung, dass Männer ihre Gefühle nicht durch Tränen ausdrücken sollten: »Lachen ist männlich, Weinen dagegen weiblich.« 32 Umgekehrt beschreibt Kant bei der Diskussion der Schamhaftigkeit das Erröten nicht nur deskriptiv als weiblich, sondern sieht es auch normativ als moralische Tugend.33 Was Gefühle körperlich zeigen, ist also auch bei Kant nicht unabhängig davon, was sie zeigen sollten – der Emotionsausdruck soll wahrhaftig sein, aber die Emotion muss die richtige sein. Kultivierung des Emotionsausdruckes wäre in diesem Sinne Kultivierung der Emotionen selber – das Innenleben muss moralisch so geformt werden, dass es sich auch in der richtigen Weise zeigt.

29 Ebd.,

300.

30 Ebd. 31

»Damit aber die Natur ihre erste Absicht die Erhaltung der Gattung erreichen möchte, so hat sie darinn große Zärtlichkeit bewiesen. Weil diese Absicht dem weiblichen Schoße anvertraut ist, so hat die Natur das weibliche Geschlecht furchtsam gemacht. Diese Furchtsamkeit in  Ansehung der körperlichen Verletzung ist beym weiblichen Geschlecht allgemein.« Kant: Vor­lesungen über Anthropologie (Friedländer). Akademie-Ausgabe, Band XXV-1, Berlin 1997, 706. Vgl. Rolf Löchel: Frauen sind ängstlich, Männer sollen mutig sein. Emotionen und Geschlechterdifferenz bei Immanuel Kant, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, 97. Jahrgang 1 (2006), 61. 32 Kant: Anthropologie, 256. Vgl. Löchel: Frauen sind ängstlich [Anm. 31], 65. 33 Schamhaftigkeit bezeichnet Kant als »dem schönen Geschlecht vorzüglich eigen und ihm sehr anständig« (Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Akademie-Ausgabe, Band II, Berlin 1905, 234), während Erröten für ihn »eine schöne Eigenschaft des Frauen­ zimmers« ist. Vgl. Löchel: Frauen sind ängstlich [Anm. 31], 69 f.



Was sich am Körper zeigt147

Die Frage, wie Emotionen zur Erscheinung kommen, das hat dieser historische Durchgang gezeigt, ist nie ganz unabhängig davon, wie sie gezeigt werden sollten. Selbst wo der körperliche Ausdruck der Passionen als natürliches und wahres Äquivalent des Innenlebens aufgefasst wird, ist die Frage, welches Innenleben sich denn äußern darf, immer noch Gegenstand eines normativen Bemühens. Von der ethischen Beschäftigung mit affektiv motivierten Handlungen über die moralische Frage nach dem Zeigen und Verbergen des passionellen Innenlebens und die sittliche Sorge um die Kultivierung des richtigen Emotionsausdruckes: in der Frage nach dem Erscheinen von Passionen lässt sich über die Jahrhunderte exemplarisch das Gleiten zwischen Deskriptivität und Normativität, zwischen dem, was beobachtet und wissenschaftlich verstanden werden kann, und dem, was sein sollte, aufzeigen, das in philosophischen Emotionstheorien stets präsent ist, von der Antike bis heute.

Panik und Pastorale Jenseitsästhetische Überlegungen zum Erscheinen des Endes Verena Olejniczak Lobsien 1. Große Worte? »Alors les paroles silencieuses vinrent; le grand message fut envoyé d’un continent à l’autre par-dessus l’océan. La grande nouvelle chemina toute cette nuit-là au-dessus des eaux par des questions et des réponses. Pourtant, rien ne fu entendu. Les grandes paroles invisibles allaient et se croisaient, qui intéressaient tous les hommes; cependant aucun d’eux ne les entendit, qui étaient dessous, sur la mer, qui étaient dessous, sur la terre – quand elles vinrent, et elles venaient encore, mais rien dans le ciel ne changea. Les grandes paroles passèrent non vues, ne troublant […]«1 C. F. Ramuz: Présence de la mort, im Wortlaut der Genfer Erstausgabe (»édition originale«) des Textes von November 1922. Die Passage ist philologisch delikat. Denn in dieser Version hat der Text eine eigene Rezeptionsgeschichte; so wurde er etwa übersetzt als The End of All Men, rendered into English by Allan Ross Macdougall, introduction by Denis de Rougemont, New York 1944. In der englischen Übersetzung lautet er: »Then the great silent words came; the great message was sent from one continent to another, over the ocean. | By questions and answers the great news traveled over the seas all that night. | Yet nothing was heard. | The great invisible words, of interest to all men, came and went; yet none heard them – as they passed beneath the seas or under the earth – when they came, and they still came, yet nothing changed in the heavens. | The great words passed unseen, […]« (19). In der von Doris Jakubec und anderen besorgten, hervorragenden neuen kritischen Edition der Romans in zwei Bänden wird der Text dagegen in der Version gedruckt, die in den Œuvres complètes erschien (1940-41), für die Ramuz umfangreiche Überarbeitungen und Modifikationen vorgenommen hatte; s. Présence de la mort in: C. F. Ramuz: Romans, II. Édition publiée sous la direction de Doris Jakubec avec, pour ce volume, la collaboration de Noël Cordonier, Jérôme Meizoz, Christian Morzewski, Jean-Louis Pierre, Philippe Renaud, Alain Rochat et Vincent Verselle, Paris 2005, 1-93, Kommentar mit Varianten: 1493-1516. In dieser, späteren Version lautet der Romanbeginn wie folgt: »Alors les grandes paroles vinrent; le grand message fut envoyé d’un continent à l’autre par-dessus l’océan. | La grande nouvelle chemina toute cette nuit-là au-dessus des eaux par des questions et des réponses. | Pourtant, rien ne fut entendu. | Les grandes paroles passèrent inaperçues, ne troublant rien dans l’air au-dessus des vaisseaux chargés de marchandises et des transatlantiques blancs, dans un ciel seulement remarqué à cause de ses étoiles plus grandes, – et, au-dessus de la houle du large, elles passèrent dans un complet silence.« (1). Ich gebe im Haupttext den früheren Text wieder, zitiert nach dem Apparat von Jakubecs Pléiade-Ausgabe [im Folgenden: Romans], denn er akzentuiert einiges, worauf es mir im Folgenden ankommt, stärker und lakonischer als der spätere: die Unsichtbarkeit der großen Botschaft; die Tatsache, dass sie die ganze Menschheit angeht; ihr 1

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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Verena Olejniczak Lobsien

Mit dieser Rede vom schweigenden, ungehörten und ungesehenem Wort,2 das doch Ungeheuerliches  – nichts Geringeres als das Weltende  – mitteilt, beginnt eine der Erzählungen des Schweizer Autors Charles Ferdinand Ramuz, Présence de la mort von 1922. Sie ist eine von mehreren Erzählungen dieses Autors, die das Thema des Jüngsten Tages und seines katastrophalen Anbruchs behandeln. Wie die meisten seiner Texte ist sie eine Pastorale. Von Ramuz (1878-1947), dem frühen und radikalen Modernen, wird noch ausführlicher zu reden sein; auch von einem spätmodernen Autor, W. G. Sebald. Vor allem aber sollen einige Überlegungen zu der Frage angestellt werden, weshalb diese in einem spezifischen Sinne apokalyptischen Texte ausgerechnet in einem Modus verfasst sind, den man auf den ersten Blick für unangemessen halten mag – im Modus der Pastorale. Diese Überlegungen zur Weise der Darstellung letzter Dinge und Orte stehen in einem weiteren Untersuchungshorizont der Erkundung von Formen, Möglichkeiten und Wirkungen einer literarischen Jenseitsästhetik, die danach fragt, wie poetisch jener Raum präsentiert werden kann, der sich eigentlich nicht sagen lässt.3 Die Frage nach dem »Zur-Erscheinung-Kommen« und seiner »Bildlichkeit«, die im Zentrum des vorliegenden Bandes steht, ist ja mindestens ebenso sehr eine ästhetische wie eine philosophisch-theologische. Die zeitliche Perspektive, in der wir uns bewegen, wenn wir sie zu beantworten suchen, muss angemessen weit sein, zumal wenn es um eine der ältesten literarischen Gattungen überhaupt geht. Denn nicht erst im 20. Jahrhundert treten Tod und das Ende aller Dinge in die Pastorale. Immer schon ist der Tod bei den Hirten. »Et in Arcadia ego«: das wird den Bewohnern der ›grünen‹ und ›goldenen‹ Schäferwelt nicht zum ersten Mal in der Moderne und auch nicht erst in der Frühen Neuzeit gesagt.4 Wohl jedoch abermals, und in besonderem, wiedererkennbarem Ton, im 17. Jahrhundert. Daher unauf hörliches und unauf haltsames Kommen; ihren paradoxen Charakter als schweigendes Wort – kurz, ihre apokalyptische Qualität. Hier bringt sich zur Erscheinung, was die sinnliche Wahrnehmung und die diskursive Sprache hinter sich lässt. 2 Eine weitere Veränderung, die Ramuz für die Œuvres complètes vorgenommen hat und die entsprechend in den Romans wieder gedruckt wird, besteht offenbar darin, dass früher als in der Originalausgabe von 1922 »ces mots« für »paroles« eintritt, sodass (mit einer Unterscheidung, die weder im Englischen noch im Deutschen übersetzerisch gut nachzuvollziehen ist) ›Wörter‹ durch – ungleich bedeutungsschwerere – ›Worte‹ ersetzt werden. 3 Die folgenden Überlegungen sind Elemente dieses größeren Vorhabens; einige der Gedanken zu Ramuz finden sich auch in: Vf. [Verena Olejniczak Lobsien]: Jenseitsästhetik. Literarische Räume letzter Dinge, Berlin 2012. 4 Die klassische Diskussion dieses Themas für die Kunst der Frühen Neuzeit ist immer noch Erwin Panofskys Aufsatz zu Poussin, »Et in Arcadia Ego: Poussin and the Elegiac Tradition«, wieder gedruckt in: Erwin Panofsky: Meaning in the Visual Arts, Harmondsworth 1955, 340-367. Der Topos findet ein verstörendes Echo noch in Cormac McCarthys Roman Blood Meridian or The Evening Redness in the West, New York 1985, der nicht nur aufgrund der betörenden Schönheit seiner Landschaftsschilderungen als zeitgenössischer Pastoralroman zu gelten hat. Judge Holden, die diabolische Zentralfigur dieses Textes, trägt Et in Arcadia Ego als sinistres Motto auf seinem Gewehr eingraviert. Für den Hinweis auf Blood Meridian danke ich Bernd Roling. Zu



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will ich auch einen frühneuzeitlichen Autor mindestens streifen, der in das Geflecht gehört, das sich ergibt, wenn man mit diesem Interesse auf die Werke blickt: Sir Thomas Browne, den Mediziner und Schriftsteller aus Norwich (1605-1682). Ihn hat das Erscheinen des Endes im Leben unter Gesichtspunkten fasziniert, die zu seiner Zeit durchaus brisant waren und die leicht aus dem Blick geraten, wenn man nur auf die vergleichsweise abstrakten Geschicke des ›Wortes‹ schaut – unter der Frage nach der Leiblichkeit des Menschen und nach dem, was sich in ihr, in ihrer Natur und in ihrer Materialität, abzeichnet. Dass das Wort Fleisch geworden ist, ist für Browne nicht nur ein christlicher Topos unter anderen, sondern ein Tenor seiner Schriften, der sich bis in deren Mikrostrukturen hinein ausprägt. Damit aber beginnt seine Prosa mit den Texten unserer eigenen Zeitgenossen in einer (vermittelten, aber doch aufschlussreichen) Weise zu verhandeln, der nachzugehen sich lohnt. Frühe Neuzeit, Antike und Moderne also konvergieren über diesem Thema des Endes und der ihm vorausgehenden Katastrophe. Weshalb aber tritt der Tod in die Pastorale, und wie? Was ist es, das in diesem Modus zur Erscheinung kommen kann wie offenbar in keinem anderen? 2. Der Tod bei den Hirten Immer schon ist der Tod bei den Hirten. Vielleicht liegt es nahe, dass in diesem künstlerischen Modus, der wie kaum ein anderer die Ursprünglichkeit des Lebens und seine angeblich einfachen Anfänge beschwört,5 auch von seinem Ende die Rede ist. Jedenfalls fehlt es nicht an berühmten Beispielen für diese Verklammerung. So lässt der spätantike Autor Longos in seinem pastoralen Liebesroman Daphnis und Chloe (Ende des 2. Jhs.) gleich im ersten Buch einen der Protagonisten gewaltsam sterben und bringt einen zweiten in Lebensgefahr: Der Rinderhirt Dorkon, der die Schäferin Chloe liebt, wird von Seeräubern aus Pyrrha erschlagen; diese treiben seine Rinder auf ihr Schiff und entführen auch Dorkons Rivalen um die Zuneigung Chloes, den Hirten Daphnis, vor ihren Augen (I, 28-29). In seinem Blute liegend, schenkt Dorkon Chloe seine Syrinx, der allein die Rinder gehorchen. »Chloe aber nahm die Syrinx, setzte sie an die Lippen und blies, so stark sie nur konnte; und die Rinder hören es, erkennen die Melodie und stürzen sich brüllend mit einem Sprung in die See. Da nun der heftige Absprung das Schiff auf einer Seite hinabdrückte und beim Eintauchen der Rinder ein tiefes Wellental entstand, schlägt das Schiff um und versinkt in den zusammenschlagenden Wogen; […]« (I, 30).6 Die Piraten kommen um; Daphnis kann sich, mit den Tieren an Land schwimmend, retten. »green world« und »golden world« s. Harry Berger Jr.: Second World and Green World. Studies in Renaissance Fiction-Making, ed. by J. P. Lynch, Berkeley 1988. 5 Vgl. Paul Alpers: What ist Pastoral?, Chicago/London 1996. 6 Longos: Hirtengeschichten von Daphnis und Chloe, griechisch-deutsch, hg. und übers. von Otto Schönberger, Düsseldorf/Zürich 1998, 47.

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Für diesmal geht es gut; die Katastrophe betrifft das zentrale Liebespaar nur indirekt. Dank der Syrinx des ermordeten Dorkon bleibt Daphnis am Leben. Dennoch wird Dorkons Begräbnis feierlich begangen und gibt Anlass zur Trauer. »Auch klägliches Brüllen der Rinder vernahm man, und dabei sah man sie verstört durcheinanderlaufen; und dies war, wie die Schäfer und Ziegenhirten vermuteten, die Klage der Rinder um ihren toten Hirten.« (I, 31).7 Noch ein weiteres Mal, im zweiten Buch, spielt der Aufruhr der Rinder eine wichtige Rolle. Wurde in der ersten Episode die Beziehung zum Großen Pan in Gestalt der Syrinx nur mittelbar angedeutet, so greift der Gott nunmehr selbst ein. Wieder verbreitet ein bewaffneter Überfall Angst und Schrecken: Krieger aus der Stadt Methymna fahren in einer Racheaktion mit zehn Schiffen gegen die Mytilenäer aus, um deren Küste zu verheeren und ihr Vieh zu rauben. Diesmal ist es Chloe, die gewaltsam entführt wird, obwohl sie die Nymphen um Hilfe anfleht. Aber die Nymphen, deren Bilder die methymnäischen Piraten beim Raub der Chloe verspottet hatten,8 erscheinen dem verzweifelten Daphnis im Traum, »ganz ihren Bildern gleich«, und versprechen ihm den Beistand des Pan, der sich besser als sie »auf das Kriegshandwerk« verstünde (II, 23).9 Tatsächlich haben Gebete und Gelöbnisse vor den Bildern beider Gottheiten Erfolg: Nach einer Nacht, in der die Methymnäer, die an einem Vorgebirge ankern, plötzlich meinen angegriffen zu werden, fällt am hellen Tag der Schrecken des Pan auf sie. Es geschehen Zeichen, das Vieh tobt: »Die Böcke und die Ziegen des Daphnis hatten Efeutrauben an den Hörnern, und Chloes Widder und Schafe heulten wie die Wölfe. Sie selbst aber sah man mit einem Fichtenzweig bekränzt. Doch auch auf dem Meer geschahen viel seltsame Zeichen. Denn als sie versuchten, die Anker aufzuwinden, blieben diese in der Tiefe, und die Riemen zerbrachen, als man sie zum Rudern ins Meer senkte; Delphine sprangen aus dem Meer, peitschten mit ihren Schwänzen die Schiffe und lockerten ihr Gefüge. Man vernahm auch über dem schroffen Felsen, der unten am Vorgebirge lag, den Schall einer Flöte, doch war er nicht lieblich wie sonst der Ton einer Schalmei, sondern erschreckte jeden, der ihn hörte, wie die Kriegstrompete. Da verloren sie nun alle Fassung […]« (II, 26)10

Die Angreifer ahnen, dass diese Töne und »Trugbilder«11 ein Werk des Pan sind, aber Gewissheit bringt erst eine Traumerscheinung, die ihr Feldherr Bryaxis »um die Mittagszeit« hat und in der ihm der Gott droht und ins Gewissen redet.12 Chloe wird freigelassen, und sofort ertönt wieder die Syrinx vom Vorgebirge her, »jetzt aber nicht mehr kriegerisch und schrecklich, sondern wie auf der Flur und wie das   7 Ebd.,

49. ebd. (II, 20), 77.   9 Ebd., 79. 10 Ebd., 81. 11 Ebd., 85 ( II, 26, 5: phantasmata). 12 Ebd.   8 Vgl.



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Spiel, das die Herden zur Weide führt« (II, 28).13 Der unsichtbare Spieler geleitet die geraubten Ziegen und Schafe »voller Lust an den Tönen« (II, 29)14 in Sicherheit. Daphnis erkennt, bestätigt durch Chloes Erzählung, »die Taten des Pan« (II, 30)15 und veranlasst, dass man den Nymphen und ihm, dem Hirtengott, vor seinem Standbild dankt und opfert. Die Welt der Hirten auf Lesbos, die Longos hier entwirft, ist also keineswegs der Flucht- und Phantasieraum, der ungestörte Wonnetraum vom natürlichen Leben, als welchen das Klischee die Pastorale gern sieht. Gerade die charakteristische topische und topologische Beschränkung des Genres scheint den Einbruch anderer wie des Ganz Anderen geradezu herauszufordern. Freilich: die Gottheit ist präsent bei Longos, schrecklich und rettend, in diesen und anderen Katastrophen. Die Panik ist ihr verlässliches Zeichen. Das gilt, mit Modifikationen, auch bereits für einen der großen poetischen Vorläufer des Longos. Kaum zufällig trägt der Titelheld seines Romans den gleichen Namen wie der Begründer allen Hirtengesangs bei Theokrit, an die 500 Jahre zuvor. Schon Theokrits Erstes Idyll evoziert die Legende vom Hirten Daphnis, den die Aphrodite in den Liebestod treibt. Auf ihn, den unübertrefflichen Sänger, berufen sich seine Nachfolger, Ziegen- und Schaf hirt, in ihrem künstlerischen Wettstreit; mit ihm, der immer schon gestorben ist, beginnt die pastorale Poesie. Daphnis’ Ende ist der Anfang der Pastorale. Sie hat ihren Ursprung in einer Katas­ trophe, die die ganze Natur in Trauer versetzt. Dass die Göttin den Daphnis dahinraffte, etabliert ihn zugleich als Autorität und als unerschöpfliches Thema der Dichtung.16 Immer schon ist der Tod bei den Hirten – und mit ihm das Bild und die bildliche Rede. Im Zentrum des Theokritischen Idylls steht eine Ekphrasis, die Beschreibung des kunstvoll geschnitzten Trinkbechers, der dem Sieger im Gesangswettbewerb zusteht. Sie ist ihrerseits ironische Kontrafaktur eines heroischen Vorbilds, friedliches (wenn auch nicht ganz eindeutiges) Gegenbild zum Schild des Achill und seiner Darstellung bei Homer. Die Hirtengeschichten von Daphnis und Chloe geben sich gar insgesamt als Ekphrasis aus. Im Proem berichtet der Erzähler, wie er einst auf der Jagd zu Lesbos in einem Nymphenhain ein Bild (eikon) erblickte, »das mit erlesener Kunst gemalt war und Freud und Leid einer Liebe darstellte«.17 Seine eigene Erzählung sei, so behauptet er, aus dem »heftigen Verlangen« entstanden, »die Darstellung des Malers wetteifernd in Worten wiederzugeben«.18 Seit Theokrit ist der Paragone selbst eine pastorale Aktivität; bei Longos konstituiert er, im 13 Ebd.,

87.

14 Ebd. 15 Ebd.,

89. Weitere Ausführungen zu diesem Zusammenhang in: Vf./Eckhard Lobsien: Die unsichtbare Imagination. Literarisches Denken im 16. Jahrhundert, München 2003, Kap. II, »Die pastorale Imagination«, 87-167. 17 Longos: Hirtengeschichten [Anm. 6], 9. 18 Ebd. 16

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poeti­schen Wettbewerb mit dem Theokritischen Vorbild, die eigene Gattung. Zudem werden die vier Bücher von Daphnis und Chloe, in denen der Dichter das Bild im Nymphaeum beschreibt und zugleich literarisch auf es repliziert, zum »Weih­ geschenk für Eros, die Nymphen und Pan« erklärt.19 Aber nicht nur unter poetologischen Gesichtspunkten ist das Bild konstitutiv: Für die antike Pastoraldichtung scheint das Bild die Präsenz der Gottheit und ihr Wirken in der Natur zu garantieren. Solche Evidenz erscheint in der Renaissancepastorale mindestens problematisch. Auch diese trägt nicht selten Züge des »hard pastoral«,20 aber oftmals treten dabei Aspekte des dafür grundlegenden epikureischlukrezischen, materialistischen Naturalismus noch deutlicher zutage. Sie bewegt sich in ihrer Aufnahme der antiken Prätexte in weiter Entfernung von jenem reduktiven Klischee der heiter-glücklichen Schäferwelt, einfach, ursprünglich, mit ihren sanften, unschuldigen, von keines Gedankens Blässe angekränkelten Protagonisten, für dessen Etablierung vor allem die deutschsprachige neoklassizistische Dichtung der Auf klärung gesorgt hat. Die idealisierte Empfindsamkeit, wie sie die antikisierenden Hirtenfiguren eines Salomon Geßner pflegen,21 ist Autoren der englischen Renaissance wie Edmund Spenser, Philip Sidney oder William Shakespeare völlig fremd. Auch in Sidneys Arcadia erscheint die pastorale Welt aufs äußerste bedroht. Bei Sidney wie Spenser und Shakespeare wird sie durch Gewalttat verwüstet oder durch saisonale, gelegentlich auch durch übernatürliche Widrigkeiten beeinträchtigt. Im Shepheardes Calender sind die Hirten unglücklich, unzufrieden, ja bitter. Im großen Nationalepos der Faerie Queene führen ausgerechnet die Schwäche des Ritters, der die höfische Haupttugend allegorisch verkörpert, und das desaströse Gefallen, das er am Schäferdasein findet, zum Untergang der Pastoralwelt und zur Vertreibung der Grazien (Book Six). Selbst in der berühmten langen sheep-shearing scene in Shakespeares Winter’s Tale (4.4.) sind die Festlichkeiten bedrohlich überschattet von väterlicher Feindschaft und aristokratischer Arroganz, die Interaktionen durchzogen von Duplizität und Insinuation und die Gesprächsthemen mehrfach kompliziert durch die simultane Verhandlung und Reflexion diverser Metaebenen der zeitgenössischen Debatte über Natur und Kunst. Dabei erscheint es fraglich, ob göttliche Intervention hier imstande wäre, derlei Eintrübungen zu beseitigen. Vielmehr erweist sich die Präsenz des Numinosen in allen genannten Texten als höchst prekär. Möglichkeiten einer Christianisierung der paganen Motive über die Hirten- und Herdenmetaphorik, die Altes wie Neues Testament bereithalten, werden bei Shakespeare fast gar nicht, in Spensers Shepheardes Calender überwiegend ex negativo, in durchsichtig allegorisierender Konfessionspolemik eingesetzt. Allenfalls in den Cantos of Mutabilitie, die die Faerie Queene beschließen, zeichnen sich in der Überlagerung von pastoralen und escha19 Ebd. 20 Zur Unterscheidung von »hard« und »soft pastoral« s. A Documentary History of Primitivism and Related Ideas in Classical Antiquity, ed. by Arthur Lovejoy et al., Baltimore 1935. 21 Vgl. z. B. Texte von 1753 bis 1772 in: Salomon Geßner: Idyllen, hg. von E. Theodor Voss, Stuttgart 1973, 1988.



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tologischen Diskursen die Konturen eines christlich-paganen Vexierbilds des Weltendes ab.22 Im 17. Jahrhundert wachsen, wie wir sehen werden, im Zeichen der neuen Naturwissenschaften die Schwierigkeiten, von der Präsenz des Göttlichen zu handeln. In ihren einzelnen Schritten und Verwerfungen kann diese Entwicklung hier ebenso wenig gezeigt werden, wie die fast zweieinhalbtausendjährige Literatur- bzw. Kunstgeschichte der Pastorale nacherzählt werden kann. Daran, dass die Verniedlichung der Pastorale und ihre nostalgische Verklärung eine kurzlebige Erfindung des 18. Jahrhunderts sind, lohnt es sich freilich zu erinnern. Vor allem gilt es, den Spielraum des Modus zwischen »hard« und »soft pastoral«, zwischen materialistischen und idealisierend-platonisierenden Versionen, noch einmal unter der Frage danach, was hier zur Erscheinung kommt, an besonders suggestiven Beispielen wie den erstaunlichen Texten des bis in unsere Tage marginalen Autors Ramuz auszuloten. 3. Wort und Fleisch – der Tod in der Mitte des Lebens Weshalb Ramuz? Der französisch schreibende Waadtländer findet überraschende Resonanzen in der Erzählprosa eines ungleich berühmteren literarischen Zeitgenossen der nachfolgenden Generation: W. G. Sebald. Erst auf den zweiten Blick erweist sich Sebald, dessen posthume und immer noch wachsende Berühmtheit nicht zuletzt auf die transatlantische Rezeption seines großen Romans Austerlitz zurückgeht,23 auch als pastoraler Autor. Erst auf den zweiten Blick wird zudem deutlich, wie wichtig und intertextuell aufschlussreich die versteckte Präsenz von Ramuz für sein Werk ist. Erwähnung findet der Schweizer Schriftsteller eher beiläufig, in einer Reminiszenz zu Beginn des ersten Kapitels von Sebalds langer Erzählung Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995): »Heute […] kommt mir zwangsläufig der Gedanke, daß damals, als ich vom achten Stockwerk aus hinabschaute auf die in der Dämmerung versinkende Stadt, in seinem schmalen Haus in der Portersfield Road Michael Parkinson noch am Leben gewesen ist, beschäftigt wahrscheinlich wie zumeist mit der Vorbereitung eines Seminars oder mit seiner viele Jahre ihn schon in Anspruch nehmenden Studie über Ramuz. Michael war Ende Vierzig, Junggeselle und, wie ich glaube, einer der unschuldigsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Nichts lag ihm ferner als Eigennutz, 22 Vgl.

hierzu Vf.: Topik und Tropik der Imagination: Revisionen frühneuzeitlicher Seelenlehre in Spensers Cantos of Mutabilitie, in: Die Frühe Neuzeit: Revisionen einer Epoche, hg. von Andreas Höfele, Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher, Berlin/New York, 2012; sowie, auch zu den pastoralen Dimensionen von Spensers Faerie Queene, Vf.: Jenseitsästhetik [Anm. 3]. 23 Den jüngsten Stand der Sebald-Forschung demonstriert und dokumentiert auf eindrucksvolle Weise die von Richard Sheppard besorgte Sebald-Sonderausgabe des Journal of European Studies 41/3-4 (2011) [im Folgenden: JES ].

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nichts kümmerte ihn so sehr wie die aufgrund der seit einiger Zeit herrschenden Verhältnisse immer schwieriger werdende Erfüllung seiner Pflicht. Mehr als alles andere aber zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. […] In der Sommervakanz machte Michael regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß durch das Wallis und das Waadtland, manchmal auch durch den Jura oder durch die Cevennen. Oft, wenn er von einer solchen Reise zurückkam oder wenn ich den Ernst bewunderte, mit dem er stets seine Arbeit verrichtete, schien es mir, als habe er, auf seine Weise, das Glück gefunden in einer inzwischen kaum mehr denkbaren Form von Bescheidenheit. Doch dann hieß es im vergangenen Mai mit einem Mal, daß Michael, den seit ein paar Tagen niemand gesehen hatte, in seinem Bett tot aufgefunden worden sei, auf der Seite liegend und ganz starr schon und mit einem eigenartig rotfleckig verf ärbten Gesicht. Die gerichtliche Untersuchung ergab that he had died of unknown causes, ein Urteil, dem ich für mich selber hinzusetzte: in the dark and deep part of the night.« 24

Michael Parkinson, Jahrgang 1945 (ein Jahr jünger als Sebald), hat tatsächlich (wie Sebald) an der University of East Anglia zu Norwich gelehrt, über Ramuz (u.a.) promoviert 25 und ist am 10. April 1994 im Alter von 49 Jahren verstorben. Parkinsons persönliche Anspruchslosigkeit spiegelt die typische Lebenseinstellung der Figuren des Autors, dem seine Forschungen gelten. Sein plötzlicher, unter den Kollegen Entsetzen auslösender Tod an einer unerklärlichen Krankheit realisiert ein Motiv, das bei Ramuz wiederholt vorkommt, zumal es von Symptomen begleitet ist, die auf eine unbekannte Seuche hinzudeuten scheinen: Wenig später wird, so erzählt Sebald weiter, auch Parkinsons romanistische Kollegin und gute Freundin Janine Rosalind Dakyns von »einer ihren Körper in der kürzesten Zeit zerstörenden Krankheit« dahingerafft.26 Die damit skizzierte makabre Parallele ist freilich nicht das einzige, was Sebald mit Ramuz verbindet. Ich kann die Fülle an Gemeinsamkeiten hier nur thesenhaft andeuten: Generell wird man sagen können, dass Ramuz für Sebald ein literarischer »Wahlverwandter« 27 ist – wie, neben anderen, Nabokov, Joseph Conrad oder auch Thomas Browne. Beide, Ramuz wie Sebald, sind in einem spezifischen Sinn und ohne jeden Provinzialismus ›Regionalisten‹ – kritisch bezogen auf ihre (vor)alpine Herkunftsregion; ihr Werk eine fortgesetzte, gelegentlich schmerzliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der Heimat, fasziniert von Orten und Gegenden, ihren Grenzen und den Folgen, die die Topographie für die Menschen 24 Die

Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt/M. 1995 [im Folgenden: Ringe des Saturn]; der Text wird zitiert nach der Lizenzausgabe des Fischer Verlags, Frankfurt/M. 1997, hier 14 f. 25 Er wurde 1976 an der UEA promoviert; seine PhD-Qualifikationsschrift ist veröffentlicht unter dem Titel The Rural Novel. Jeremias Gotthelf, Thomas Hardy, C. F. Ramuz, Bern 1984. 26 Sebald: Ringe des Saturn [Anm. 24], 16. 27 Vgl. ebd., 217, 238.



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hat.28 Beide sind, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, Autoren der Pastorale. Bei Ramuz ist der Modus unübersehbar und dominant: Seine Texte thematisieren das ländliche Leben, besonders immer wieder das von den Rhythmen der Viehwirtschaft bestimmte Leben der Bergbauern und das der Winzer in den Landschaften vom Genfer See bis in die Hochalpen. Sebalds Pastorale ist von Anfang an eine gebrochene und gleichsam negativierte, das Verlorene feiernd wider Willen – schon in der Prosadichtung Nach der Natur;29 aber selbst in Austerlitz,30 jenem ansonsten von Architekturgeschichte, um- und verbauten Räumen besessenen Text, und in mancher Hinsicht am eindrucksvollsten in den Ringen des Saturn. In dieser Beschreibung einer Fußwanderung durch Ostengland zeichnen sich immer wieder die verlorenen Umrisse jener vermeintlich heilen, ›grünen‹ Welt ab, als welche sich die britischen Inseln in den Erzeugnissen ihrer kulturellen Imagination gern vorstellen und die in Vexierbildern wie der Parklandschaft des englischen Gartens,31 der Heide von Suffolk 32 oder der Geschichte der Kultivierung von Seidenraupen noch in der Zerstörung ursprünglicher Schönheit aufscheinen. Beide, Ramuz wie Sebald, schreiben im Schatten großer Kriege – vor allem der Erste Weltkrieg findet im Schweizer Grenzland zu Frankreich buchstäblich seinen Widerhall;33 für Sebald ist der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust ein Hauptthema. Beide Autoren kennen und beschreiben wiederholt die Panik auf freiem Felde.34 Beide sind fasziniert vom Katastrophischen, aber gleichsam aus entgegengesetzter Blickrichtung: Bei Ramuz ist die Katastrophe imminent, bei Sebald ist sie immer schon geschehen – er betrachtet sie wie die Pastorale, aus der Perspektive des Verlusts, vor allem der verlorenen Erinnerung und des Bewusstseins von ihr bzw. aus der Perspektive des melancholischen Sehers, der ihrer als einziger und zu seinem Unglück gewahr ist.35 hierzu bei Ramuz e.g. La Séparation des races (Romans, II, 96-224), aber auch wiederholte Explikationen in den essayistischen Schriften, e.g. Raison d’être (1914), übs. von Elisabeth Brock-Sulzer als »Grund des Daseins« in: C. F. Ramuz: Werke in sechs Bänden, hg. von Werner Günther, Frauenfeld 1972-1978 [im Folgenden: Werke]; hier Bd. 6, Frauenfeld/Stuttgart 1975, 7-43. Hier bekennt sich Ramuz zur »[e]infache[n] Gelehrigkeit vor der Topographie« (31; »docilité à la topographie«, zit. Romans, II [Anm. 1], 1504). 29 W. G. Sebald: Nach der Natur: Ein Elementargedicht, Nördlingen 1988 (zitiert im Folgenden nach der Ausgabe Frankfurt/M. 1995). 30 W. G. Sebald: Austerlitz, München 2001. 31 E.g. Ringe des Saturn [Anm. 24], 310-319, mündend in eine Beschreibung des Ulmensterbens und der Niederlegung der alten Bäume in der Sturmkatastrophe. 32 Ringe des Saturn, 201-208; die irische Version ruinierter Pastorale: ebd., 247-263. 33 Ramuz’ Einstellung zum Zweiten Weltkrieg findet kein vergleichbar massives und umfassendes Korrelat in seinen Texten; die Schweizer Neutralitätspolitik gebietet und schafft Distanz. Gleichwohl ist Krieg, nicht nur als historisches Geschehen, wiederholt Thema seines Schreibens, von der Dichtung La Grande Guerre du Sondrebond bis zur Zusammenarbeit mit Strawinsky über der Histoire du soldat. 34 Vgl. e.g. Ringe des Saturn [Anm. 24], 204-208. 35 Leitend ist für ihn durchweg »die Vorstellung | von einer lautlosen Katastrophe, die sich | ohne ein Auf hebens vor dem Betrachter vollzieht« (Nach der Natur [Anm. 29], 77). 28 Vgl.

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Vor allem, aber nicht nur, in Zusammenhang mit dieser gleichsam prophetischen Dimension ihrer Texte, ist für die Schreibweise beider Autoren eine ausgeprägte, wiewohl im Einzelnen durchaus unterschiedliche Visualität kennzeichnend: So entwirft Ramuz modernistische tableaux; in einem frappierend piktorialen, quasiekphrastischen Stil, dessen Effekte man mit der von ihm bewunderten Malerei Cézannes vergleichen mag, der aber im Umgang mit Farbe und Sujet mindestens ebenso stark die Bilder Hodlers oder Segantinis aufruft.36 Ramuz’ Berge sind Gemälde im Entstehen, deren bedrohliche Schönheit seine Sprache im anderen Medium vergegenwärtigt, dabei auf singuläre Weise dynamisiert. Die Perspektivtechnik seiner Texte hat zudem kinematographische, stark entautomatisierende Qualitäten.37 Sebalds ›visualistische‹ Verfremdungen sind dagegen anderer Art, insofern er zum einen das Dokumentations- wie Illusions- und Täuschungspotential von Photographie und Film nutzt und zugleich reflektiert, zum anderen wiederholt und mit großer Eindringlichkeit Gemälde beschreibt – vorzugsweise solche der Renaissance und der Frühen Neuzeit, etwa der Landschafts- und Schlachtenmalerei des holländischen ›Goldenen Zeitalters‹, aber auch Rembrandts »Anatomie des Dr. Tulp«. Verbunden durch den ekphrastischen Gestus (der ja, wie wir gesehen haben, dem pastoralen Autor seit der Antike wohl ansteht) wie durch die »Sinnfigur der nicht näher | identifizierten Katastrophe« 38 rücken beide Autoren Erzähler in den Vordergrund, die Leser von Zeichen sind. Bei Sebald sind sie das obsessiv und manisch – sie sprechen in der ersten Person Singular, und alles spricht zu ihnen. Bei Ramuz suchen einige der Figuren die Zeichen zu verstehen, oft vergeblich, viele täuschen sich oder werden getäuscht.39 Dabei wird das Bestürzende oftmals Ramuz: L’Example de Cézanne (1914), dt. Das Beispiel Cézannes, in: Werke [Anm. 28], Bd. 6, 45-56. Abgesehen davon, dass das ›Bild‹ oder Gemälde, tableau, ein wiederholt vorkommendes Motiv in Ramuz’ Werken ist (mit zentraler Funktion etwa in Terre du ciel), hat er selbst den Begriff als Gattungsbezeichung eingeführt, indem er in einer frühen Version eines weiteren apokalyptischen Textes, Les Signes parmi nous, den Untertitel »roman« durch den des »tableau« ersetzt (vgl. den Kommentar in: Romans, I [Anm. 1], 1683; dort auch Hinweise zur Diskussion der poetologischen Implikationen solcher Adäquation ans Malerische in der Forschung). Unübersehbar fungiert das Malen bei Ramuz als Allegorie der Poesie. Der Maler ist eine der Figurationen des Dichters (vgl. auch Aimé Pache, peintre vaudois) – die andere, im Blick auf ihre unkonventionellen, a-mimetischen, vor allem raum-schaffenden Implikationen ungleich suggestivere, ist die des »Körblers« oder wandernden Korbmachers (le vannier; vgl. Passage du poète, aber auch Présence de la mort). 37 Er schafft keine statischen ›Bilder‹, sondern seine Deskriptionen lassen die Berge buchstäblich entstehen und vergehen, wachsen und sich senken; s. z. B. die erdgeschichtliche Beschreibung der Modellierung des Rhônetals und der umliegenden Bergzüge in einer Auftragsarbeit zum Wallis: C. F. Ramuz: Wallis (Vues sur le Valais, 1943), übers. von Titus Burckhardt, Olten 1964, 7-10. 38 Nach der Natur [Anm. 29], 77. 39 Les Signes parmis nous bietet hierfür ein eindrucksvolles Beispiel, zumal sich die Täuschung hier als Lektüreeffekt wiederholt: Wie die Anwohner des Sees muss auch der Leser die ominösen Vorzeichen als solche der Apokalypse deuten; wie sie ist er zugleich enttäuscht und erleichtert, 36 Cf.



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von einer pluralen Instanz erzählt. In den Texten beider erscheint so die naturalistische, gelegentlich hyperrealistische Genauigkeit der Wahrnehmung und der Deskription gepaart mit einer hoch artifiziellen Erzählweise, die Ekphrasis und Anatomie immer wieder ineinander übergehen lässt. Vor allem ist für Sebald wie für Ramuz der unerklärliche Tod aus der Mitte des Lebens heraus nicht nur für sich genommen Anlass des Schreckens und der Verstörung, sondern auch er ist ein Zeichen, genauer: Index jener Katastrophe, die sich erst anbahnt oder die schon unwiderruflich geschehen ist. Er zeigt sie an, aber sie weist über ihn hinaus. Er figuriert ein Symptom des Endes im Leiblichen, stets mit eschatologischem Unterton. Genau hier, bei der Frage nach dem, was sich darin zur Erscheinung bringt, zeichnen sich jedoch auch gravierende Unterschiede ab, die es lohnen, etwas genauer hinzusehen. Welcher Art also ist die Jenseitigkeit, die in diesen modernen Pastoraltexten evoziert und modelliert wird? Bleiben wir dazu zunächst noch bei Sebald. In der oben zitierten Passage aus den Ringen des Saturn ist der Tod des Ramuz-Forschers Parkinson nicht nur von der unheimlichen Symptomatik des verfärbten Antlitzes begleitet, die noch einige Male in der Erzählung auftritt.40 Der Erzähler kommentiert sein Sterben zudem mit einer eigenartigen englischen Phrase – »in the dark and deep part of the night« –, deren Provenienz nicht erläutert wird. Sie lässt sich nur mit einiger Detektivarbeit ausfindig machen. Dann aber erweist sich die Wendung als erste, noch anonyme Antizipation einer auf den nächsten Seiten41 einsetzenden und dort auch namhaft gemachten ausführlichen intertextuellen Exkursion in das Werk des eingangs erwähnten Thomas Browne. Ungenannt bleibt gleichwohl die Quelle dieses FastZitats. Es entstammt einem Text, der in vielfacher Hinsicht als überaus suggestiver Prätext für Sebalds Erzählung gelten kann: der Abhandlung A Letter to a Friend (posthum publ. 1690, entstanden vermutlich um 1673).42

dass nur ein gewaltiges Gewitter eintritt. Der Text erscheint in seinem fast parodistischen Zugriff auf eines der Lieblingsthemen Ramuz’ mindestens so interessiert am Repertoire der Zeichen, ihrer Qualität, Interpretation und Wirkung wie an seinem eigenen erzählerischen Kunstgriff, der von einem Lesemoment zum anderen alles anders werden lässt – also mittels dieser abrupten Alterierung sehr wohl so etwas wie einen strukturellen Weltuntergang inszeniert, nach dem allerdings alles wieder zum vorherigen Zustand zurückkehrt (Romans, I [Anm. 1], 1231-1314). 40 Zum Beispiel Ringe des Saturn [Anm. 24], 83, 128, 184, auch 58. 41 Ebd., beginnend 19. 42 Zum gesamten Komplex der problematischen Intertextualität von Sebald und Browne, in kritischer Auseinandersetzung mit Sebald, vgl. Vf.: Nekroprosa. Fragen nach den letzten Dingen in Später und Früher Neuzeit: W. G. Sebald und Sir Thomas Browne, in: Frühe Neuzeit – Späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Literaturen und Künsten ab 1970, hg. vom Nordverbund Germanistik, Bern 2011 [Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik NF Bd. 24], 169-186, und Vf.: Transformations of early modernity in W. G. Sebald, JES 41/3-4 (2011), 431-448. Zu ­Brownes ästhetischer Metaphysik s. in größerer Ausführlichkeit die entsprechenden Kapitel in Vf.: Transparency and Dissimulation. Configurations of Neoplatonism in Early Modern English Literature, Berlin 2010.

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Brownes Schrift, verfasst aus Anlass seiner ärztlichen Begleitung eines gemeinsamen, an der Schwindsucht gestorbenen Freundes, entfaltet nun ihrerseits auf den ersten Seiten, denen das Zitat entnommen ist, eine frühneuzeitliche Matrix eben des Fragezusammenhangs von Tod, Leiblichkeit, Lebens- und Weltende und der Zeichen beider. Einsetzend bei Überlegungen zu Vorahnungen des Todes Nahestehender in Träumen, Botschaften oder »sympathetical insinuations«, ihrer Seltenheit und ihrer vergleichsweise geringeren Eindeutigkeit als die biblischen Zeichen des Weltendes (Verdunkelung der Gestirne etc.), kommt er auf ein weiteres gewisses Symptom der Auszehrung zu sprechen, das »Hippocratical Face«, dessen Eingefallenheit dem hippokratisch-galenisch ausgebildeten Mediziner das konsumptive Ende des Patienten vorhersagt.43 Browne fügt dem nun noch eine weitere, eigenartige und befremdliche, bei Hippocrates nicht erwähnte, aber ebenso verlässliche Alteration des Aussehens hinzu, die er bei diesem und anderen Todkranken beobachtet hat: »[…] to lose his own Face and look like some of his near Relations; […] so before our End, by sick and languishing Alterations, we put on new Visages: and in our Retreat to Earth, may fall upon such Looks which from community of seminal Originals were before latent in us.«44 Über die Unzuträglichkeit von Wohnorten (»malevolent Places on Earth«),45 die interessante, aber kaum verifizierbare Möglichkeit eines Zusammenhangs von leichtem Tod und schwerer Geburt46 und die Unheilbarkeit des »Marasmus« bewegt sich die Meditation erneut zur Unausweichlichkeit des Todes wie der Rückkehr aller zum Staub und der unterschiedlichen Vorstellungen vom Ende der Welt, sei es im Weltenbrand der Stoiker, oder eher im Einklang mit christlicher Kosmologie, durch eine Verdunklung der Sonne nach dem Willen des Schöpfers.47 Von dort gelangt man zwanglos zur Frage astrologischer Korrelationen, genauer: zu einer möglichen Beziehung zwischen Todeszeitpunkt und Mondstand. Aber die Erwägung bleibt inkonklusiv, genau wie die nachfolgend angestellte Spekulation zur bestürzenden Perfektion eines denkbaren und nachweislich vorkommenden Zusammenfalls von Geburts- und Sterbetag.48 Nur der tatsächliche Todeszeitpunkt des Freundes erscheint dieser skeptischen Denkbewegung enthoben, und hier nun kommt die Sebaldsche Wendung vor: »However, certain it is he died in the dead and deep part of the Night, when Nox might be most apprehensibly said to be the Daughter of Chaos, the Mother of Sleep and Death, according to old Genealogy; and so went out of this World about that hour

43 Brownes Schriften werden zitiert nach: Sir Thomas Browne: Religio Medici and Other Works, ed. by L. C. Martin, Oxford 1964 [im Folgenden: Religio Medici]; die zitierten Wendungen in Letter to a Friend, ebd., 179, vgl. auch 183. 44 Ebd., 179 f. 45 Ebd., 180. 46 Vgl. ebd., 180 f. 47 Vgl. ebd., 181. 48 Vgl. ebd., 182 f.; der Chronologie bei L. C. Martin zufolge war dies auch bei Browne selbst der Fall.



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when our blessed Saviour entred it, and about what time many conceive he will return again unto it.«49 Was also zeigt sich im Tod, auf dem Antlitz des Sterbenden, medizinisch und metaphysisch? Was bedeutet er? Wie ist das Sterben des einen Menschen bezogen auf das aller – und auf das des Einen, des Heilands? Brownes Text mäandert um solche Fragen herum, ohne sie direkt zu artikulieren, zwischen unsicheren und untrüglichen Zeichen. Als Kliniker, damit professioneller Zeichenleser bleibt er skeptisch, aber zugleich eigensinniger Fideist. Wiederholt springt sein Diskurs um, sodass unvermutet die Möglichkeiten christlicher Eschatologie sichtbar werden. Im Tod des Freundes zeigen sich eben nicht nur Chaos und letzte Nacht, sondern die Stunde der rettenden Geburt Christi wie seiner erwarteten Wiederkunft. Transzendenz ist hier noch vorgesehen, wenn auch nicht mehr selbstverständlich oder konkurrenzlos; ja, sie wird im Schreiben selbst immer wieder praktiziert und gezeigt. Mindestens in dieser literarischen Performanz ist Apokatastasis, die Heimholung aller, noch tröstlich vorstellbar.50 Brownes Schriften geistern durch Sebalds Erzählung. Der spätmoderne Autor entlehnt sich von dem spät-frühneuzeitlichen, den er sich zum Wahlverwandten erkoren hat, eine Attitüde zu den letzten Dingen. Oder vielmehr: er schreibt ihm eine Einstellung zu, um sich ihrer Suggestivkraft zu bedienen und sich zuletzt doch an entscheidenden Punkten von ihr abzusetzen. Man könnte vielleicht zuspitzend sagen, er erschleiche sich Transzendenzeffekte. Seine Texte bedienen sich bestimmter frühneuzeitlicher Strukturen und Motive, um sie in ihrer Wirkung zu kappen. Auch wenn Sebald vorgibt, mit Brownes Haltung auf das menschliche Leben zu blicken, bleibt es für ihn zuletzt doch »entsetzlich, wie wenig wir wissen über uns selbst, über unseren Zweck und unser Ende«.51 4. Harte Pastorale: Bilder der Angst in den Bergen Kehren wir zurück zur Pastorale im engeren Sinn. Allzu weit ist man bei Browne von ihr ohnedies nicht entfernt. Sebald wählt sich Browne ja nicht nur zum intertextuellen Paten, weil er in ihm einen Mit-Anatomen vermutet, sondern auch, weil er ihn zudem als Autor eines Garten-Traktats wahrnimmt, der Schrift zum 49

Ebd., 181 f. Dass dieses Denken bestimmte neuplatonische Anteile hat, habe ich anderswo versucht zu zeigen; s. Vf.: Transparency and Dissimulation [Anm. 42], 87-139; dort auch Angaben zur Forschungsliteratur zu Browne. Weitere Hinweise auf Brownes idiosynkratischen Neuplatonismus finden sich auch in seinem Traktat Christian Morals (der Letter to a Friend z.T. verbatim aufnimmt und weiterschreibt), z. B. in der Spekulation über das Licht vor dem Beginn und nach dem Ende der Welt: »In the City of the new Jerusalem there is neither Sun nor Moon; where glorifyed Eyes must see by the Archetypal Sun, or the Light of God, able to illuminate Intellectual Eyes, and make unknown Visions.« (Browne: Religio Medici [Anm. 43], 238). 51 Sebald: Ringe des Saturn [Anm. 24], 114. 50

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Garten des Kyrus (1658) im Zeichen des Quincunx.52 Mehr noch als alle anderen Texte Brownes scheint dieser aus seinem Thema kultivierter Natur ein signaturistisches Versprechen zu präparieren. Dass er es nicht einlöst, ja, dass er sich sogar ausdrücklich von kabbalistischen Hermeneutiken absetzt, hindert Sebald nicht an einer entsprechenden Vereinnahmung; zu gut passt das ins germanistische Frühneuzeit-Klischee, zu gut eignet es sich auch zur Folie für die abgedunkelte Jenseitigkeit der Sebaldschen Pastorale, in der die facies nigra der Melancholie und die facies Hippocratica entstellter Leiblichkeit zusammenfallen sollen. Wie aber lässt sich anders vom Ende in der ›grünen Welt‹ erzählen? Die Romane des Charles Ferdinand Ramuz sind demgegenüber pastoral nicht in einem nostalgisch-bitteren, sondern in einem emphatischen Sinn. Ebenso nachdrücklich sind sie »hard pastoral«. Auch mit der Gefühlsseligkeit und ewigen süßen Muße der Geßner’schen Idyllen verbindet ihn nichts. Seine Figuren sind »gens de peu«:53 Ihr Leben ist karg und dürftig, nicht selten gefährlich, bestimmt von harter, gelegentlich eintöniger Arbeit im Tages- und Jahreskreis, rhythmisiert durch den Wechsel von sakralen und profanen Zeiten, durch Festtage oder Zäsuren wie den Alpauftrieb bei Beginn der Sömmerung des Viehs auf den Almen und den Abtrieb an deren Ende. Einige seiner Erzählungen sind strukturiert um den klassisch pastoralen Gegensatz von Stadt- und Landleben. Der direkten Produktion von Lebensmitteln in Viehwirtschaft, Agrikultur und Weinbau in überschaubarer Gemeinschaft, der Selbstbescheidung im einfachen, bedürfnislosen Leben, dessen Härten und Anfechtungen stoisch ertragen werden, stehen nicht selten die Gier und die chrematistischen Versuchungen des Geldes und des Goldes gegenüber.54 Die archaisch anmutende ›goldene‹ Welt, als welche Ramuz sein Wallis figuriert, das Land, in dem man »ganz urtümlich [lebt], so urtümlich wie zu den Zeiten Abrahams oder zu den Zeiten Hesiods und Theokrits«,55 das »reiche Land, wo die Menschen arm sind«,56 erscheint als bedrohtes Refugium in einer Wirklichkeit, die sehr wohl die Eisenbahn,57 die Fabrik, den Steinbruch und den Krieg kennt. 52 The Garden of Cyrus. Or, The Quincunciall, Lozenge, or Net-work Plantations of the Ancients, Artificially, Naturally, Mystically considered, in: Browne: Religio Medici [Anm. 43], 126-175. 53 Vgl. die ausgezeichnete »Introduction« von Doris Jakubec zu ihrer Ausgabe der Romans (Romans, I [Anm. 1], IX- LIV, hier X und passim). Ich zitiere die französischen Erzählungen mit Ausnahme von La Grande Peur dans la montagne nach dieser Ausgabe. Teilzitate im laufenden Text erscheinen in der Regel in deutscher Übersetzung nach der sechsbändigen Ausgabe der Werke [Anm. 28]. La Grande Peur dans la montagne wird zitiert nach Ramuz: Die große Angst in den Bergen, übs. von Hanno Helbling, Nachwort Beatrice von Matt, München 2009. Zitate erscheinen im Folgenden mit dem Kürzel Angst und der Seitenzahl dieser Einzelausgabe direkt im Text. 54 Vgl. e.g. Ramuz: Farinet ou la Fausse Monnaie, aber auch Clous Goldsuche in Die große Angst in den Bergen. 55 Ramuz: Wallis [Anm. 37], 86, vgl. ebd., 66; zum »Internationalismus« des Bäuerlichen auch ebd., 37. Auch Beatrice von Matt weist auf die Ramuzsche Selbststilisierung nach Hesiod hin, vgl. »Nachwort« (Angst, 179). 56 Ramuz: Die Trennung der Rassen, in: Werke 3, 232. 57 Vgl. Ramuz: Angst, 7.



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Verhängnisvolle Entwicklungen nehmen ihren Anfang nicht selten in Transgressionen, Grenzüberschreitungen im topographischen wie im metaphorischen Sinn. Ramuz’ Bergwelt ist und ist nicht Arkadien. Hier gibt es kein Ausruhen und keine Beruhigung in der Schönheit. Vielmehr ist ihre Schilderung bewegt von der Frage nach der Beständigkeit des Primitiven und scheinbar Ursprünglichen, von der Frage nach der Gegenwart des Todes in dieser Welt und der Möglichkeit ihres Endes. Dabei kündigt sich auch bei den Berglern Ramuz’ das Ende in Symptomen an – »Es geschehen Zeichen« 58 –, und auch hier wird es regelmäßig als Krankheit figuriert. Zu fragen ist, wie dieses Ende vorgestellt wird, was sich in ihm zeigt, und wie endgültig es ist. Ramuz’ kurzer Roman La Grande Peur dans la montagne (1926)59 erzählt, wie die Bewohner eines namenlos bleibenden Bergdorfes gegen die Stimmen der Alten beschließen, die Alp Sasseneire am Fuß des Gletschers wieder zu nutzen, die nach mysteriösen Vorkommnissen vor zwanzig Jahren aufgelassen worden war. Man stellt Männer ein, die sie bewirtschaften sollen: den Meister und seinen Neffen, den alten Barthélemy, der sich noch an die schlimmen Ereignisse beim letzten Mal erinnert, aber sich nun durch einen Talisman geschützt wähnt, den unzuverlässigen Romain, den kleinen Ernest als »Buben« für die minderen Arbeiten, Joseph, der sich verdingt, weil er Victorine heiraten möchte und ihnen zweihundert Franken zur Gründung des eigenen Hausstands fehlen, und den dämonischen Clou, ein Zyniker und trickster außerhalb der Norm, von dem niemand weiß, was er eigentlich im Schilde führt. Die Alp wird bezogen; schon in der ersten Nacht stellt sich Angst ein. Der Bub wird krank, ein Maultier verunglückt auf dem »schlimmen Wegstück« (Angst, 55), Romain reißt es beim Wildern fast die Hand ab, und »die Seuche« bricht aus. Immer mehr Rinder stecken sich an. Sie müssen mit der langen Axt getötet werden, die Alp wird unter Quarantäne gestellt, und auch die Männer dürfen nicht mehr herunter. Damit sind die Liebenden getrennt. Beim Versuch, ihren Joseph dennoch aufzusuchen, stürzt Victorine in den Wildbach und kommt ums Leben. Joseph gelingt es, auf einem Umweg über den Gletscher den Posten zu umgehen; er gelangt ins Dorf und sieht Victorine aufgebahrt. Wie nicht bei Sinnen kehrt er nach Sasseneire zurück. Clou verstellt ihm auf dem Gletscher den Weg, sucht ihn mit Gold zu locken. Joseph schießt auf ihn. Die verbliebenen Tiere rasen, toll vor Angst, mit den letzten drei Männern zu Tal und werden mit ihnen von den Wachtposten erschossen. Der Gletscher setzt sich in Bewegung, und während die Dorf bewohner bei Victorines Beerdigung in eine Schlägerei geraten und mit den Grabkreuzen wüst aufeinander einprügeln, löst er eine furchtbare Überschwemmung aus,60 die das Dorf fortreißt. der deutsche Titel von Les Signes parmi nous (1919), in: Werke [Anm. 28], Bd. 2. Ramuz: Romans, II [Anm. 1], 415-536. 60 Das Rinnsal, das am Fuß des Gletschers diesen entwässerte, war offenbar durch die innerglazialen Verschiebungen blockiert worden und hatte erhebliche Wassermengen aufgestaut, die nun durch den Eis- und Bergsturz ins Tal entlassen werden. Vgl. auch die Skizze in Ramuz: Wallis [Anm. 37]: »Wie er [i.e. der Bergbauer] sich auch Mühe gebe, hat er auf die Natur doch 58 So

59 Vgl.

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Von Anfang an regiert in dieser Geschichte eine namenlose Angst. Die tatsächlich eintretenden Katastrophen bezeugen sie nur, indem sie ihr nachträglich einen Grund verleihen. Am schlimmsten manifestiert sie sich in der Panik der Tiere, von denen man lebt.61 Zuerst, und besonders unheimlich, bricht sie in der Nacht aus, als die Seuche bereits zu wüten begonnen hat.62 Das Geschehen teilt sich denen, die in der Hütte liegen, nur akustisch mit: »Kurz nachdem Clou zu Bett gegangen war, hat man gehört, daß die Kühe unruhig wurden: eine Glocke wird geschüttelt, eine dieser Glocken, die sie an einem breiten Lederriemen am Hals tragen – in schöner Bronze, mit eingeritzten Zeichnungen. Wie wenn jemand sich näherte, und eine erste Kuh wird aufmerksam, dreht den Kopf und bringt den Klöppel ihrer Glocke zum Schwingen; dann wird ein zweites Tier unruhig, während die erste Glocke schon schneller zu läuten beginnt, als würde ein Trab angeschlagen. Und mit einemmal war das dort drüben unter dem Felsvorsprung, wie wenn einer Feuer an einen Strohhaufen legt, wegen all dem Geläute, das plötzlich auf klingt und dann sich in weiten Kreisen nach allen Seiten und flach über die Weide hin ausbreitet, während die Luft sich bewegte, wie wenn man ein Leintuch an den vier Zipfeln schüttelt. Sie aber regten sich nicht.« (Angst, 107-8)

Beklommen und wie gelähmt stellen sie sich vor, was sie hören – ein Schrecken, der kein Ende nehmen will und der ein anderes Ende zu präfigurieren scheint. »Der Lärm der Glocken hatte sich gelegt: er setzt wieder ein, setzt bald da, bald dort ein. In dieser Nacht kommt kein Tier mehr zur Ruhe; kaum waren sie stehengeblieben, mußten sie wieder weiter; kaum waren sie ruhig, wurden sie wieder gejagt und verfolgt. […] Denn die Kühe hatten wieder zu kreisen begonnen, von Panik erfaßt, wie wenn der Wind, der sich vorher gelegt hat, von neuem ins dürre Laub bläst, die Blätter aufwirbelt und sie nach allen Seiten jagt, dann sich legt und dann wieder einsetzt. Und die Nacht ist endlos lang, und kurz ist sie, die Nacht ist ohne jedes Maß, wie wenn sie nie begonnen hätte und nie enden sollte; […]« (Angst, 109 f.)

Erst am anderen Morgen sehen sie im »großen Licht« des Tages (111), was sie nicht sehen wollen. Zwölf weitere Kühe müssen getötet werden, weil sie sich die Beine gebrochen haben. Aber noch ist das nicht das Ende; ebenso wenig wie das Getöse der Kuhglocken nur ein Vorgeschmack der Schlacht auf dem Friedhof ist, während man vom Kirchturm für die Toten läutet. Das nächtliche Umherrennen der verstörten Tiere nimmt nur das Donnern ihrer Hufe bei der zweiten Panik vorweg, nur eine ganz eng bemessene Einwirkung; er kann schaffen, aber sie kann wieder zerstören, besonders in jenen noch wilden Gegenden von zweitausend Meter Höhe an aufwärts, wo sie sich ganz und gar seinem Zugriff entzieht und wo sie ihn ständig bedroht mit ihren Lawinen, mit den Wassern, die sich im untern Ende der Gletscher ansammeln und plötzlich hervorbersten, mit dem Einsturz ihrer Gesteinsmassen.« (58). 61 Vgl. Ramuz: Angst, 71. 62 Vgl. ebd., 107-113.



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in der sie am Schluss, vor dem Lärm des Gletschers und des Wassers fliehend, zu Tal stürmen.63 Gegenstand des Textes ist, mit anderen Worten, nicht die Katastrophe als punktuelles, einmaliges, räumlich und zeitlich definierbares Ereignis. Der Bergsturz und die Flut werden als solche gar nicht erzählt, von ihnen wird nur im Nachhinein berichtet. Vielmehr handelt der Roman von einer Angst, die von Anfang an da ist und die mit den Katastrophen nicht auf hört. Sie lässt nach und schwillt wieder an und steigert sich zu einer Panik, die den Namen verdient. Denn hier gibt es, wie es scheint, einen Verursacher. Nicht erst und nicht nur die Raserei der Herde antwortet auf eine durchaus personal gedachte, wiewohl namenlos bleibende Präsenz, gelegentlich mit dem großgeschriebenen Pronomen der dritten Person, »Er«, bezeichnet, die die Anwesenheit der Menschen auf Sasseneire beobachtet und missbilligt.64 An keiner Stelle wird diese Präsenz mit Namen genannt. Ihr Ort wie ihr Tun lassen den Großen Pan vermuten, wiewohl alles, was sich zuträgt, auch diesseitig und rational erklärbar wäre. Dieser Gott, wenn er denn einer ist, erscheint jedenfalls mindestens so sinister wie der erzürnte Pan. Er behütet die Lebewesen nicht, sondern versetzt sie in Schrecken; Barthélemy denkt von ihm sogar als »dem Andern, dem Bösen, ihr wißt schon« (143), den nur sein dem heiligen Mauritius geweihtes »Papier« fernhält. Er wird gezeichnet als eine Personalisierung des Numinosen, das hier aber als menschenfeindliches Prinzip und als Dämon erscheint. Der wirkt so »bösartig« wie der Gletscher (36), der schlimme Ort, zu dem man vom Dorf her durch eine Waldschlucht hinaufsteigt, in der eine Dunkelheit herrscht, die man mit Händen greifen kann. Dieser »Andere« war da vor den Menschen, und er bleibt, nachdem sie vertrieben sind. Dass freilich in der Natur noch anderes wohnt, das sich menschlichen Absichten nicht fügt; dass es neben und im alltäglichen Leben ein anderes gibt, »das Leben in der anderen Welt« (6), um das es eigentlich geht, oder wenigstens gehen sollte, und das sich in einer Weise mitteilt, die bis ins Mark erschrecken lässt, – davon handelt der Roman. Von Anfang an gibt es Zeichen, die darauf hinweisen, für alle zu lesen, wenn man sie denn hätte verstehen wollen. Aber man will nur Dinge sehen, die als »gutes Zeichen« gelten können, wie das schöne Wetter beim Alpaufzug (31). Man will nicht wahrnehmen, was die Stille oben auf der Alp am ersten Abend besagt: »Man konnte lang horchen, man hörte gar nichts: es war wie am Anfang der Welt, als der Mensch noch nicht da war, oder wie am Ende der Welt, wenn die Menschen von der Erde genommen sind – nirgend mehr rührt sich etwas, niemand ist mehr da, nichts ist da als die Luft, der Stein und das Wasser, die Dinge, die nicht fühlen, die nicht denken, nicht reden.« (42) Diese Stille spricht vom Tod der menschlichen Welt. Sie rückt einem auf den Leib, bedrängt einen: »man möchte sie nicht mehr hören, die Stille, man sucht sich abzulenken (wenn da nichts mehr ist, wenn es ist, wie bevor die Menschen da wa63 Vgl. 64 Vgl.

ebd., 161, 168 f. ebd., 73, 87, 107, 112, 143.

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ren oder nachdem sie weggenommen sind von der Erde)« (88). Wie der Gletscher selbst, dieses »schlechte Stück Erde« (62), sagt dieses Schweigen zu viel. Es spricht eine Negation von apokalyptischen Dimensionen aus: »[…] und wieder erschien dieses riesige Ding, das nicht wirklich war, nicht zu verstehen, unfruchtbar, unnütz, wie wenn man an Ende des Lebens gelangt sei, ans Ende der Welt, ans Ende der Welt und des Lebens.« (64) Und wer sich in diese Leere einzuschreiben sucht, wie etwa Joseph in seinem Gang über den Gletscher, muss damit rechnen, ausgelöscht zu werden: »Es ist, als sei niemand hierhergekommen seit dem Anfang der Welt, und nie habe einer hier etwas gestört, nur jetzt eben trug da ein Mann die Zeichen ein von seinem Dasein, fort und fort, wie man Buchstaben zu einem Satz, dann zu noch einem Satz aneinanderreiht, und so störte er mit der Spur seiner Schritte als erster die schöne weiße Heftseite.« (125) Aber selbst als nach dem Ausbruch der Seuche die eschatologischen Zeichen erkennbar biblische Gestalt annehmen – »›Zuerst das Blut … Das Vieh in der Mitte … Danach kommt die Finsternis.‹« (76) –, hält man die Plage »nur für ein erstes Zeichen; Angst hatte man vor dem, was weiter kommen würde, aber davon wagte man nicht zu reden.« (84). Die Zeichen werden nicht gedeutet. Was bleibt, ist die Angst vor dem Ende. 5. Hermeneutik der Katastrophe Aber das Ende ist immer schon da. Was sich zur Geltung bringt in diesen Zeichen, diesen Menetekeln, die keiner zu lesen versteht, ist die Imminenz einer anderen Welt in dieser, der hiesigen. Was sich zeigt in pastoralen tableaux wie der rasenden Herde, dem nicht angekommenen Liebesbrief,65 dem Aufstieg Josephs zum Gemsentritt, den sonst nur die Jäger begehen, der ungewöhnlichen Hitze und dem Farbenspiel auf den Hängen, über denen »der Geruch des Todes« liegt (Angst, 142), oder in »unserer Schande« der ins Gras abgemolkenen Milch der kranken Kühe;66 was erfahrbar wird in einer Erzählweise, die überall wechselnde, unberechenbar fluktuierende Perspektivierungspunkte, gleichsam ›Warten‹, zu haben scheint, von denen aus das Geschehen fokalisiert wird und die nicht selten auch im Rücken der Figuren liegen, ist die beständige Anwesenheit einer ubiquitären, von anderswoher beobachtenden, jenseitigen Instanz. Ihr Korrelat ist »die große Angst in den Bergen«. Ramuz’ Erzählung endet im Französischen mit dem Wort »Mort«.67 Was sich aber hier zur Erscheinung bringt, ist das Ende in Permanenz. Die Panik in dieser Pastorale antizipiert kein einmaliges katastrophales Ereignis und keine Apokalypse. Vielmehr bezeichnet sie Dauer und Gegenwart von Endlichkeit. Sie zeigt die InRamuz: Angst, 118. ebd., 121, 141 f. 67 In der für die Œuvres complètes vom Autor selbst revidierten Fassung, vgl. Ramuz: Romans, II [Anm. 1], 536; diese Fassung wurde auch für Die große Angst in den Bergen übernommen: »›Tot.‹« ist auch hier das letzte Wort. 65 Vgl.

66 Vgl.



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stanz und Insistenz eines Jenseits-im-Diesseits an.68 Auch wenn sie die Plötzlichkeit des Hervortretens kennt, ist ihre Figur doch nicht die des unwiederholbaren Einbruchs. Darin unterscheiden sich die Texte Ramuz’ von denen Sebalds, die in einem post-apokalyptischen Zustand spielen, für den sich das Unaussprechliche, fokussiert in der unüberbietbaren Katastrophe des Holocaust, bereits ereignet hat und in einem absoluten Gewesensein persistiert. Sie unterscheiden sich auch von der Art und Weise, wie im 17. Jahrhundert Thomas Browne, der mit ähnlich unsentimentalem Blick die von Krankheit entstellte Leiblichkeit studiert, die Symptome des Endes zu lesen und auszulegen versucht. Alle drei Autoren entfalten und aktualisieren unter historisch unterschiedlichen Bedingungen einen christlichen Topos: Media vita in morte sumus. Der antik präformierte pastorale Modus, dessen sie sich dabei auf jeweils unterschiedliche Weise bedienen, läßt den Schrecken wie den Trost, den der Gedanke des Endes im Leben enthält, mit bestürzender Eindringlichkeit zur Erscheinung kommen. Wo sich Sebald mit der Unrettbarkeit der Welt und der eigenen Untröstlichkeit tröstet, suchen Ramuz’ Romane im Hiesigen und in Figuren der Heimkehr einen Trost,69 der sich nicht immer einstellt. Das liegt in der Konsequenz einer Ästhetik, für die das Ende sich so radikal hier und jetzt, »unter uns«70 ereignet. Figur Browne’scher Jenseitigkeit ist dagegen der Übersprung, eine prekär zuversichtliche Transzendenz, die ihre Abruptheit in virtuoser sprachlicher Performanz ausstellt und zugleich überspielt. Auch für seine geistliche Hermeneutik liegt das Ende mitten im Leben, aber zugleich in einer absoluten Zukunft.

68 Leo

Spitzer hat den ›anakoluthischen‹ Stil Ramuz’ als sprachliches Korrelat eines Zielens auf ›immanente Transzendenz‹ beschrieben: »[…] son mysticisme n’est pas transcendental, mais immanent à la terre: Ramuz reste sure la terre.« (Le Style de Ch. F. Ramuz: le raccourci mystique, in: Spitzer: Romanische Literaturstudien [1936-1956], Tübingen 1959, 329-342, zit. in: Doris Jaku­ bec: Introduction zu Romans, I [Anm. 1], XXXVI). 69 So etwa am Schluß von Présence de la mort; anders in Die große Angst in den Bergen oder auch in der in vielem ähnlichen Erzählung Derborence (Romans, I). 70 Eben »parmi nous«, wie in Les Signes parmi nous, einer der hier einschlägigen Erzählungen.

Das Zur-Erscheinung-Kom men des Menschen Cassirers und Warburgs kulturphilosophische Anthropologie Arno Schubbach Die Frage nach dem Menschen hat es vielleicht mehr mit einem Zur-ErscheinungKommen zu tun, als der anthropologische Diskurs ohne Weiteres widerspiegelt. Um sich zum Thema zu werden, muss der Mensch in der einen oder anderen Form erscheinen und so zum Gegenstand eines Diskurses werden, dessen Subjekt er zugleich ist. Michel Foucault hat diese doppelte Rolle des Menschen in Die Ordnung der Dinge auf die Formel der »empirisch-transzendentalen Dublette«1 gebracht, die in einem kantischen Duktus den Menschen zugleich als transzendentale Bedingung und empirischen Gegenstand des anthropologischen Diskurses fasst. Bezogen auf die Zeit um 1800 nähert diese paradoxale Wendung die Erscheinung des Menschen der empirischen Objektivierung durch die Wissenschaften an. Dass das ZurErscheinung-Kommen des Menschen aber auch als eine Bestimmung der Kultur und ihrer Historizität begriffen werden kann, davon gehen Ernst Cassirers und Aby Warburgs Überlegungen zur Anthropologie aus. Nach der Anthropologie des Philosophen Ernst Cassirer und des Kunstwissenschaftlers Aby Warburg zu fragen, impliziert nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Zunächst ist festzustellen, dass beider Werke nicht von Beginn an unter dem Vorzeichen der Frage nach dem Menschen stehen. Während Cassirer sich vor einem neukantianischen Hintergrund sowohl systematisch als auch historisch zunächst mit dem Problem der Erkenntnis beschäftigt,2 widmet sich Warburg in seinen kunsthistorischen Studien dem Nachleben antiker Motive anhand der Darstellung von Bewegung in der Renaissance.3 Die Frage nach dem Menschen erlangt in beiFoucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1994, 384. sind hier Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, dessen erster und zweiter Band 1906 und 1907 erstmals erschienen sind, sowie Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910. Die Texte Cassirers werden wie üblich nach Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1998-2009 [im folgenden: ECW ] zitiert; es werden aber auch die Einzelausgaben nachgewiesen. Die Bände der Nachgelassenen Manuskripte und Texte, hg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. [im folgenden: ECN ], werden angeführt, sofern sie hinzugezogen werden konnten. Vgl. zum Verhältnis Cassirers zu Warburg einleitend Eveline Pinto: Cassirer et Warburg: De l’histoire de l’art à la philosophie de la culture, in: Ernst Cassirer. De Marbourg à NewYork. L’itinéraire philosophique, publ. par Jean Seidengart, Paris 1990, 261-275; Massimo Ferrari: Eine ›gef ährliche‹ Bibliothek, in: ders.: Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie, Hamburg 2003, 207-247; sowie die durchweg lesenswerten Beiträge in Cassirer Studies 1 (2008) zum Thema »Philosophy and Iconology«. 3 Diese Frage prägt bereits Warburgs Dissertation Sandro Botticellis »Geburt der Venus« und »Frühling« von 1893, vgl. Aby Warburg: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaft1 Michel

2 Gemeint

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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der Arbeiten erst größere Prominenz in der Zeit ihrer Zusammenarbeit im Kreis der »Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg«, nachdem also Cassirer 1919 in Hamburg eine Professur angetreten hatte und Warburg 1925 von einem langjährigen Klinikaufenthalt zurückgekehrt war.4 Dennoch entfalten sich ihre anthropologischen Überlegungen vor unterschiedlichen Hintergründen und in verschiedenen Perspektivierungen. In der besagten Zeit ist Cassirer zunächst einmal mit der Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen Formen beschäftigt, die er 1917 noch in Berlin konzipiert hatte5 und die seine Anthropologie bis zum schließlich 1944 im Exil erscheinenden Spätwerk An Essay on Man prägen wird.6 Cassirers Anthropologie findet daher ihren historischen Ausgangspunkt und systematischen Rahmen in der Kulturphilosophie. Warburgs Texte sind dagegen beherrscht von seinen detaillierten historischen Bildanalysen, vor allem seine Studien zu Darstellungen von Astronomie und Astro­logie in der Renaissance nehmen aber immer häufiger anthropologische Fragestellungen auf, die ihn bereits in seiner Studienzeit

liche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont edierten Ausgabe von 1932, neu hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998 (= Gesammelte Schriften, Abt. 1, Bd. 1 [im folgenden: GS I, 1]), 1-59, bes. 19 und 54-58, bzw. ders.: Werke in einem Band, hg. und kommentiert von Martin Treml u. a., Frankfurt/M. 2010 [im folgenden: Werke], 39-123, bes. 58 und 107-109. Im folgenden zitiere ich Warburg nach diesen beiden Ausgaben, auf andere Ausgaben wird nur verwiesen, wo dies nötig ist; die Titel der Texte werden nur genannt, insofern der Text insgesamt als Beleg dient, einzelne Stellen und Formulierungen werden nur über die Seitenzahl nachgewiesen. Unter der umfangreichen Sekundärliteratur zum Schaffen Warburgs sei an dieser Stelle zunächst allein auf zwei einschlägige und einflussreiche Sammelbände verwiesen: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, hg. von Werner Hofmann u. a., Frankfurt/M. 1980; Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, hg. von Horst Bredekamp u. a., Weinheim 1991; sowie auf das nach wie vor unumgängliche Buch Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Berlin 2006, erstmals erschienen 1970. 4 Einige Einblicke gewähren die nun edierten Briefe in Aby Warburg, Ernst Cassirer: Correspondence, ed. by Maurizio Ghelardi, in: Cassirer Studies 1 (2008), 59-74. Vgl. für einen Überblick über Warburgs Studien nach seiner Genesung Claudia Naber: »Heuernte bei Gewitter«: Aby Warburg 1924–1929, in: Aby M. Warburg. »Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott«. Portrait eines Gelehrten, hg. von Robert Galitz und Brita Reimers, Hamburg 1995, 104-129. 5 Vgl. zum Beginn von Cassirers Arbeit an der Philosophie der symbolischen Formen im Jahr 1917 Arno Schubbach: Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie, Hamburg 2016, bes. 33-139. 6 Der Essay on Man weist schon in seinem Untertitel An Introduction to a Philosophy of Human Culture auf dieses kulturphilosophische Verständnis der Anthropologie hin. Der Text wird im Folgenden nach der Ausgabe New Haven und London 1972 sowie Hamburg 2006 (= ECW [Anm. 2] 23) nachgewiesen. Die Entwicklung von Cassirers Anthropologie lässt sich vorbildlich anhand von Ernst Cassirer: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hg. von Gerald Hartung und Herbert Kopp-Oberstebrink unter Mitwirkung von Jutta Faehndrich, Hamburg 2005 (= ECN [Anm. 2] 6), nachvollziehen. Die maßgebliche Studie zur Anthropologie Cassirers in ihrem historischen Zusammenhang stammt ebenso vom Herausgeber, vgl. Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003.



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beschäftigt hatten. Eine im engeren Sinne anthropologische Schrift wird Warburg nicht veröffentlichen. Die Frage nach dem Menschen steht so bei Warburg und bei Cassirer in jeweils eigenen Zusammenhängen und unter jeweils spezifischen Bedingungen.7 Daher werde ich diese Frage im Folgenden auch nicht direkt angehen, sondern mich im Falle Cassirers auf die kulturphilosophischen Texte der 1920er Jahre beziehen, auf denen seine erst später ins Zentrum rückende Anthropologie auf bauen wird. Zum anderen werde ich entgegen der weit verbreiteten Annahme einer »geistigen Allianz« und eines »von Cassirer und Warburg anvisierten Programms« 8 einer symboltheoretisch begründeten Kulturwissenschaft versuchen, die systematischen Grundlagen und Fluchtlinien ihrer wissenschaftlichen Vorhaben gegeneinander abzuheben. Warburg und Cassirer waren und blieben eigenständige Denker, deren Zusammenarbeit und gegenseitige Wertschätzung Differenzen in Herangehen und Fokussierung eher ein- als ausschloss. Diese Differenzen herauszuarbeiten, soll erlauben, eine Anthropologie auf den Spuren Warburgs und Cassirers zu skizzieren, die Einseitigkeiten beider Ansätze vermeidet und mit Blick auf die kulturelle Dimension des Menschen die nötige theoretische und historische Komplexität reflektiert. Die Differenzen zwischen Warburgs und Cassirers Überlegungen zur Frage nach dem Menschen sollen anhand einiger weniger gemeinsamer, ebenso grundlegender wie allgemeiner Prämissen herausgearbeitet werden. Erstens denken beide den Menschen im Ausgang von seinen kulturellen Erscheinungen, was vor allem unter Einfluss der im 19. Jahrhundert maßgeblich durch Biologie, Psychologie und verwandte Disziplinen geprägten Anthropologie keinesfalls selbstverständlich ist, wie ich im ersten Abschnitt des Aufsatzes zeigen werde. Zweitens gehen Warburg wie Cassirer davon aus, dass das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen in eine historische Entwicklung der Kultur eingebunden ist, die in gewisser Weise eine 7

Vgl. dazu mit Bezug auf die Selbstauskünfte Cassirers und seine Äußerungen über Warburg auch Fabien Capeillères: Art, esthtétique et Geistesgeschichte. À propos des relations entre Warburg, Cassirer et Panofsky, in: Cassirer-Studies 1 (2008), 77-100, bes. 78-87, sowie mit Blick auf die Ästhetik Cassirers ders.: Postface, in: Ernst Cassirer: Écrits sur l’art, publ. par Fabien Capeillères, Paris 1995, 193-253, hier 209-212. 8 Claudia Naber: »… die Fackel deutsch-jüdischer Geistigkeit weitertragen«. Der Hamburger Kreis um Ernst Cassirer und Aby Warburg, in: Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990, hg. von Arno Herzig, Hamburg 1991 (= Die Geschichte der Juden in Hamburg, Bd. 2), 393-406, hier 396 f. Vgl. darüber hinaus Cyrus Hamlin und John Michael Krois: Introduction, in: Symbolic Forms and Cultural Studies. Ernst Cassirer’s Theory of Culture, ed. by Cyrus Hamlin und John Michael Krois, New Haven/London 2004, xi-xxviii, hier xii-xvi. Bereits bei Hans Blumenberg findet sich die weit verbreitete These, dass Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als »Theorie dieser [von Warburgs, A. S.] Bibliothek« zu verstehen sei, wobei er zugleich auf die neukantianischen Prämissen von Cassirers Projekt verwies, vgl. Hans Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg, in ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 163-172, hier 165, sowie in dieser Spur, allerdings in problematisierender Absicht und fragwürdiger Deutung Cassirers Martin Jesinghausen-Lauster: Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985, 57-63.

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Bewegung der Auf klärung, eine Entwicklung von Mythos und Aberglaube zu Wissenschaft und Vernunft beinhaltet, was im Zentrum des zweiten Abschnitts stehen wird. Drittens verweist dieses Moment der Auf klärung darauf, dass das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen ihn selbst involviert, denn er soll sich letztlich selbst zur Erscheinung kommen. Der Prozess des Zur-Erscheinung-Kommens des Menschen ist für Warburg wie für Cassirer der zentrale Bezugs- und Ausgangspunkt der Anthropologie. Sie beschreiben diesen Prozess aber mit verschiedenen Akzentsetzungen und auf unterschiedlichen Ebenen der kulturell-symbolischen Phänomene. Während für den Kunstwissenschaftler Warburg Bilder im ganz konkreten Sinne maßgebliche Erscheinungsformen sind, spielen sie in den Schriften des Philosophen keine zentrale Rolle. Cassirer nutzt dagegen in seinen frühen kulturphilosophischen Schriften, wie ich abschließend zeigen werde, das semantische Potential des Bildbegriffs, um das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen als einen bildlichen Prozess zu fassen. Zwischen Warburgs Analyse von Bildern und Cassirers Einsatz des Bildbegriffs erweist sich das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen als vielschichtig und komplex, was für eine kulturphilosophisch grundierte Anthropologie nicht minder zentral ist als für die Frage nach dem Bild. Zur-Erscheinung-Kommen: Naturalistische und kulturphilosophische Anthropologie Jede Anthropologie auf den Spuren Cassirers oder Warburgs wird davon ausgehen müssen, dass der Mensch im kulturellen und historischen Zusammenhang erscheint und nur dadurch fassbar wird. Diese Annahme kann zunächst nicht als selbstverständlich gelten, weil sie sich unterscheidet von der objektivierenden und naturalistischen Perspektive der Naturwissenschaften, deren Erfolg im 19. Jahrhundert einen prägenden Einfluss auf die entstehende Anthropologie ausübte.9 Sie erfordert aber vor allem eine Antwort auf die Frage, wie die Erscheinung des Menschen im kulturellen Zusammenhang verfasst ist. Diese Frage möchte ich für Cassirer und Warburg diskutieren, indem ich kurz ihre unterschiedlichen Haltungen gegenüber naturalistischen Theorien und die damit einhergehenden Konsequenzen erörtere. Warburg zeigt sich in seinen Texten immer wieder von der psychologischen und biologischen Tradition der Anthropologie beeinflusst.10 Als er sich der Frage nach dem Menschen in den 1920er Jahren näherte, griff er auf Überlegungen aus seiner Studienzeit zurück, die von Charles Darwins Untersuchungen zum Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren von 1872 ebenso angeregt wur  9 Vgl. dazu mit Blick auf Cassirers Anthropologie Hartung: Das Maß des Menschen [Anm. 6], 36-102. 10 Vgl. für eine weitergehende Kontextualisierung von Warburgs anthropologischen Überlegungen auch Peter Burke: Aby Warburg as Historical Anthropologist, in: Aby Warburg. Akten [Anm. 3], 39-44.



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den wie von Tito Vignolis Mythus und Wissenschaft von 1879.11 Zudem trugen die Konzeptionen von Kulturpsychologie und -geschichte seiner Lehrer Karl Lamprecht und Hermann Usener dazu bei, dass Warburg des Öfteren die Sprache der Psychologie zu sprechen scheint und seine eigenen Forschungen auch mit dieser Bezeichnung versieht.12 Warburg beschreibt so die »Kulturwissenschaftliche Bibliothek« als ein »Museum zur Geschichte der Psychologie der geistigen Orientierung«.13 Und das Ziel seines Vortrags »Per monstra ad sphaeram« von 1925 fasst er als den Versuch zusammen, »die polare Spannung zwischen bildhafter und zahlenmäßiger Ursachensetzung als denknotwendige, humane, psychologische Funktion beim Geschäfte der geistigen Orientierung zu erfassen und im Laufe der historischen Entwicklung zu verfolgen«.14 Selbst der unvollendete Mnemosyne-Atlas, in den Warburgs gesamtes Werk münden sollte, scheint sich noch dem Rahmen der Psychologie einzuordnen.15 Ein kurzer Rekurs auf Tito Vignolis Mythus und Wissenschaft macht jedoch deutlich, dass Warburgs ›Psychologie‹ keinesfalls mit den psychologisch-anthropologischen Spekulationen naturalistischen Stils gleichzusetzen ist, von denen er sich anregen ließ. Vignoli entwickelt eine allgemeine Theorie der Entstehung von Mythus und Wissenschaft aus einem gemeinsamen Ursprung. Er stützt sich dabei auf eine evolutionäre Kontinuität von Tier und Mensch und nimmt eine ihnen gemeinsame »physisch-psychische Constitution«16 an. Die Entstehung des Mythos leitet Vignoli aus einer Art ›psychologischer Urszene‹ her, in der etwas Auff älliges wahrgenommen wird, das spontan bedrohlich wirkt und daher Angst einflößt. Tier wie Mensch seien aufgrund der Gesetze ihrer Wahrnehmung nun dazu gezwungen, 11 Vgl. zu Warburg und Vignoli Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 94-98, demzufolge Warburg 1886 Vignolis Mythus und Wissenschaft in der zweiten Ausgabe der deutschen Übersetzung erworben hat; vgl. für die Rolle des Evolutionsgedankens für Warburg im größeren Zusammenhang auch ders.: Aby Warburg und der Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, in: Aby M. Warburg. »Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott« [Anm. 4], 52-73. Vgl. zu Warburg und Vignoli darüber hinaus Bernd Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur. Detail und Sinnhorizont, Berlin 2002, 17-20, sowie mit ausführlichem Referat Thomas Schindler: Zwischen Empfinden und Denken. Aspekte der Kulturpsychologie von Aby Warburg, Münster 2000, 34-71. 12 Vgl. zum Einfluss Lamprechts auf Warburgs Auffassung von Kulturgeschichte und Kulturpsychologie Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 48-56; Georg Syamken: Aby Warburg – Ideen und Initiativen, in: Die Menschenrechte des Auges [Anm. 3], 11-51, hier 22; Bernd Roeck: Der junge Aby Warburg, München 1997, 49 f.; Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur [Anm. 11], 25-28; und Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Frankfurt/M. 2010, 306-310. Vgl. hinsichtlich Hermann Usener, über den Warburg auch von Vignoli erfahren haben könnte, Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 45-48. 13 Aby Warburg: »Per monstra ad sphaeram«. Sternglaube und Bilddeutung. Vortrag in Gedenken an Franz Boll und andere Schriften 1923 bis 1925, hg. von Davide Stimilli unter Mitarbeit von Claudia Wedepohl, München/Hamburg 2008, 68. 14 Ebd., 125. 15 Eine Charakterisierung des Projekts lautet: »Denkraumschöpfung als Kulturfunktion. Versuch einer Psychologie der menschlichen Orientierung auf universeller bildgeschichtlicher Grundlage.« (Warburg: Werke [Anm. 3], 644). 16 Tito Vignoli: Mythus und Wissenschaft. Eine Studie, Leipzig 1880, 7.

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das Wahrgenommene als ›lebendes Wesen‹ zu personifizieren sowie ihm zweckvolles Handeln und kausale Wirkmacht zu unterstellen. In Vignolis Worten: »Und so verschlingen und durchdringen sich Bild der Sinne, lebendes Wesen und causale Virtualität immer wieder in einem einzigen Act der Phantasie.«17 Warburgs bereits zitierter Begriff der »Ursachensetzung« verweist bekanntlich auf diese Urszene Vignolis, in der ein bedrohliches Phänomen als Äußerung eines lebendigen Wesens gedeutet wird. Jedoch sollte man der Versuchung widerstehen, Aussagen und Formulierungen Warburgs aus den verschlungenen Texten zu isolieren, weil seine anthropologischen Überlegungen dann fast zwangsläufig naturalistischen Spekulationen im Stile Vignolis zuzuschlagen wären. Die Bedeutung der psychologischen Theoriestücke wird dagegen genauer fassbar, wenn Warburg am Ende seines Aufsatzes »Italienische Kunst und internationale Astro­logie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara«, der auf einen Vortrag von 1912 zurückgeht, aber erst 1922 veröffentlicht werden konnte, präzisierend von einer »historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks«18 spricht. Dadurch wird die Psychologie zunächst an den Ausdruck zurückgebunden, wodurch Warburg sich von einer naturalistischen Psychologie im Sinne Vignolis absetzt. Denn das »Bild der Phantasie«,19 in dem der Mythos Vignoli zufolge seinen Anfang nimmt, soll Resultat einer rein psychischen Tätigkeit und ihrer objektivierbaren Gesetzmäßigkeiten sein. Das Fortleben des Mythos begreift Vignoli deshalb als unabhängig von der historischen Überlieferung, da es in psychologischer und damit naturgesetzlicher Notwendigkeit gründe.20 Der Kunsthistoriker Warburg geht in seiner Arbeit stattdessen zuallererst und vorrangig vom Ausdruck und von den überlieferten Bildern aus. Die Einführung einer psychologischen Dimension dient dabei primär dazu, eine heuristische Per­ spektive auf das historische Bildmaterial zu entwerfen, weshalb Warburg sich auch damit bescheidet, dass seine »allgemeinen psychologischen Ideen nur als Hilfsvorstellungen Wert haben« 21 mögen. Warburgs Anleihen an die Psychologie sind daher stets im Kontext seiner Bildanalysen zu verstehen, und nur eine Betrachtung ihres Gebrauchs erlaubt es, Warburgs Anthropologie ein schärferes Profil zu verleihen.22 Die psychologischen 17 Ebd.,

107. Vgl. die ganze Passage ebd., 104-110, wo sich insbesondere auch das Beispiel findet, das in der Sekundärliteratur zu Warburg eine gewisse Prominenz erlangt hat, nämlich das Pferd, das ein weißes Tuch sieht, vgl. Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 96. 18 Warburg: Werke [Anm. 3], 396 bzw. Aby Warburg, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Reprint der von Gertrud Bing unter Mitarbeit von Fritz Rougemont edierten Ausgabe von 1932, neu hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998 (= Gesammelte Schriften, Abt. 1, Bd. 2 [im folgenden: GS I, 2]), 478. 19 Vignoli: Mythus und Wissenschaft [Anm. 16], 125. 20 Vgl. ebd., 3 21 Warburg: Werke [Anm. 3], 277 / GS I, 1 [Anm. 3], 158. 22 Den bildanalytischen und epistemologischen Mehrwert der anthropologischen Über­ legungen hebt auch Didi-Huberman hervor: »Die Verankerung der Bilder und Kunstwerke im Feld der anthropologischen Fragen war ein erster Weg, einen Wechsel in der Kunstgeschichte



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›Hilfsvorstellungen‹ hinterlegen den betrachteten Bildern und ihrer historischen Bedeutung zunächst eine zweite, psychische Ebene: Bilder haben demnach für das menschliche Dasein einen Wert, weil der Mensch sich nur in seinem Ausdruck finden kann. Sie dienen dem Bemühen um ein artikuliertes Selbstverständnis und sind von dieser psychischen Funktion nicht loszulösen. Dieser Ausdruck ist in den Augen Warburgs aber anders als bei Vignoli keineswegs auf ein psychisches Ausdrucksgeschehen und dessen objektive Gesetzlichkeit zu reduzieren, weil er seine Mittel und Formeln der verfügbaren Überlieferung entlehnen muss. In der Konsequenz stehen sich in Warburgs »historischer Psychologie des menschlichen Ausdrucks« nicht nackte Psyche und natürliche Welt schroff gegenüber. Der Mensch ist in seinem Bemühen um Selbstverständigung durch seinen Ausdruck und in dessen Rekurs auf die Überlieferung je schon mit einer historischen Welt verflochten und auf sie verwiesen.23 Die psychologisch-anthropologischen Annahmen Warburgs spannen so eine komplexe Konstellation auf zwischen dem Bild, das es zu deuten gilt, seiner Funktion als psychischem Ausdruck und dessen Rekurs auf die bildliche Überlieferung. Die Bilder lassen sich daher als ein Ausdruck deuten, der in erster Linie der Artikulation des Selbstverständnisses der historischen Akteure dient, die in die Bildherstellung involviert sind. Zugleich ist der Ausdruck aber von vorn­ herein durchdrungen von der historischen Überlieferung der Bilder. Warburgs »Psychologie des menschlichen Ausdrucks« sollte so vor allem mit Blick auf ihren Gebrauch in der Bildanalyse verstanden werden, lässt aber nichtsdestotrotz immer wieder untergründige und doppeldeutige Gemeinsamkeiten mit den Naturalismen des 19. Jahrhunderts aufscheinen.24 Dagegen steht Cassirers Anherbeizuführen, aber auch, sie auf ihre eigenen ›Grundprobleme‹ zu verpflichten.« (Didi-­ Huberman: Das Nachleben der Bilder [Anm. 12], 50 f.) Vgl. darüber hinaus ebd., 50-59. Im Zentrum dieses ›Wechsels‹ stehen demzufolge die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit von Bildern. 23 Ebd., 444, spricht Didi-Huberman pointierend von einer »wechselseitigen Durchdringung« und erläutert sie mit Bezug auf das damals aktuelle Problem der »Einfühlung«, vgl. ebd., 440-456. 24 Mir scheint es wichtig, mit Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 94, und gegen die Kritik seitens Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder [Anm. 12], 73 f., Warburgs Prägung durch biologische und psychologische Theorien des 19. Jahrhunderts differenziert zu diskutieren. Wie Didi-Huberman zu Recht moniert, mag Warburg zwar »kein Mann des 19. Jahrhunderts« gewesen sein, er war aber sicher insoweit dessen Kind, dass uns seine naturalistischen Untertöne mitunter fremd erscheinen müssen. Didi-Hubermans Verständnis von Warburgs Psychologie in Annäherung an eine Freud’sche Metapsychologie, die poststrukturalistisch gedeutet und ihrerseits den Naturalismen des 19. Jahrhunderts entzogen wird, erscheint für eine bildtheoretische Weiterführung Warburgs ein vielversprechender Ansatz, nimmt dem Text jedoch naturalistische Ambivalenzen und Unschärfen, vgl. ebd., 306-313. Diese sind für den Vergleich mit Cassirer jedoch entscheidend, den Didi-Huberman auf ähnliche Weise ›vereindeutigt‹, nämlich als einen Idealisten und Neukantianer ohne jede Nuance, vgl. ebd., 221 f. und 478-498. Warburg und Cassirer werden so als Kontrahenten inszeniert – und Cassirer als Beginn einer Verfallsgeschichte von Warburgs Erbschaft, die im Kreis der Bibliothek beginnt und in Panofskys Ikonologie endet. Vgl. ähnlich bereits Margarete Iversen: Aby Warburg and the New Art History, in: Aby Warburg. Akten [Anm. 3], 281-287, bes. 281-284.

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thropologie schon in ihren allerersten Voraussetzungen jedem Naturalismus fern. Zunächst einmal gründet diese Ferne darin, dass Cassirer sich der Anthropologie auf der Grundlage seiner Kulturphilosophie nähert, die er in den drei Bänden seiner Philosophie der symbolischen Formen ausgeführt hatte. Sein Begriff der Kultur steht sodann unter strikt antinaturalistischen Bedingungen, weil Cassirer seit seinem Studium vom so genannten Marburger Neukantianismus geprägt war, einer der philosophischen Strömungen, die sich im 19. Jahrhundert strikt gegen jeden Psychologismus wandten.25 Die Frontlinien dieser Debatte sind bekannt. Auf der einen Seite Naturalisten wie Vignoli, die die »transcendentale Speculation« 26 der Philosophen kritisierten, den Anspruch erhoben, Erfahrung und Erkenntnis durch objektive, psychisch-physiologische Gesetze zu erklären und so beispielsweise die »aprioristischen Bedingungen des Mythus« rein empirisch feststellen zu können glaubten. Auf der anderen Seite Philosophen wie die Neukantianer oder später auch Edmund Husserl, die sich auf die Unterscheidung zwischen Genese und Geltung beriefen und folgerten, dass die Bedingungen von Bedeutung und Erkenntnis schlichtweg andere seien als die Gesetze eines empirischen Geschehens. Diese Debatte hallt noch bei Cassirers wenigen Nennungen Vignolis in der Philosophie der symbolischen Formen nach, erwähnt er ihn doch stets mit kritischem Verweis auf dessen »Positivismus«.27 Und auch weitere, für Warburg wichtige Denker werden von Cassirer wegen ihres Naturalismus entschieden kritisiert, der Historiker Karl Lamprecht ebenso wie die Gedächtnistheoriker Ewald Hering und Richard Semon.28 Cassirers Kulturphilosophie geht somit davon aus, dass sich Kultur keinesfalls auf biologische oder psychologische Fakten reduzieren lässt.29 Vielmehr sieht sie in Sprache, Mythos und Erkenntnis Formen von Erfahrung, die eigenständige und nicht objektivierbare Bedingungen haben. Wenn Cassirer die Forderung formuliert, es sei von der Wirklichkeit der Erfahrung auszugehen, dann geht es ihm daher nicht um den faktischen, psychischen Vollzug der Erfahrung.30 Cassirer rückt vielmehr die Funktion der Auffassung, in der die Welt Gestalt annimmt und Sinn 25 Vgl. Ferrari: Eine ›gef ährliche‹ Bibliothek [Anm. 2], 211, sowie Capeillères: Art, esthtétique et Geistesgeschichte [Anm. 7], 81 und 87 f. 26 Vignoli: Mythus und Wissenschaft [Anm. 16], 7. 27 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1953, 27, Fn. 2, bzw. Hamburg 2002 (= ECW [Anm. 2] 12), 25, Fn. 24, sowie ders.: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1954, 87-90, bzw. Hamburg 2002 (= ECW [Anm. 2] 13), 82-86. 28 Vgl. die Kritik an Lamprecht in Cassirer: Essay on Man [Anm. 6], 199-202 / ECW 23 [Anm. 6], 215-218, sowie an Hering und Semon ebd., 50 f./56 f. Letztere stellten für den Warburg der späten 1920er Jahre einen wichtigen Einfluss dar, vgl. dazu Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 323-344. 29 Vgl. die kritische Darstellung der naturalistischen Vorstellungen vom Menschen, die sich auf Biologie, Psychologie, aber auch die entstehende Soziologie stützten und das 19. Jahrhundert beherrschten, in Cassirer: Essay on Man [Anm. 6], 18-21 und 64-69 / ECW 23 [Anm. 6], 22-26 und 72-77. 30 Vgl. Ernst Cassirer: Zur »Philosophie der Mythologie«, in: ders.: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), Hamburg 2003 (= ECW [Anm. 2] 16), 165-195, hier 175-181. Mit Blick auf die



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gewinnt, ins Zentrum. Sie beansprucht eine gewisse Gültigkeit, insofern sie mit anderen geteilt wird, und bildet in Sprache, Mythos und Erkenntnis verschiedene Formen aus. Ihre Wirklichkeit besteht wesentlich darin, dass sie jede Erfahrung bedingt und uns unabhängig von diesen Formen der Auffassung keine Dinge an sich gegeben sind, wie Cassirer in den Spuren Kants annimmt. Er geht darüber hinaus davon aus, dass diese Auffassung eine wesentlich kulturelle Leistung darstellt, die in der subjektiven Erfahrung und dem individuellen Selbstverständnis bereits vorausgesetzt ist. Im hegelianisierenden Duktus der Kulturphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formuliert Cassirer: »Die Welt hat für uns die Gestalt, die der Geist ihr gibt.« 31 Die Anthropologie Cassirers ist daher von der kulturphilosophischen Annahme geprägt, dass die Welt des Menschen je schon und insbesondere im Mythos in der Form einer »bildenden Bearbeitung und Darstellung« 32 zu denken sei. Mythische Vorstellungen sind für Cassirer »keine bloßen Gebilde der Phantasie«,33 keine Phantasmen, die in einer psychologischen ›Ursituation‹ im Stile Vignolis von einem von der Welt geängstigten psychologischen Wesen auf die realen und andringenden Dinge projiziert werden.34 Sie sind vielmehr Produkte einer Einbildungskraft, ohne die keine Form von Erfahrung möglich wäre, und daher Elemente einer spezifischen Auffassung der Welt, die den Menschen im Mythos je schon umgibt.35 Statt von einer Projektion der Phantasmen auf die an sich seiende Wirklichkeit müssen wir aus Cassirers Sicht von der Bildung der Welt durch den Menschen in ihren verschiedenen Formen ausgehen. Die Ängstigung durch das Chaos der Realität und die Not der Orientierung – diese Motive, die bei Warburg mitunter anklingen und in der Sekundärliteratur oft mit Verweis auf seine Krankheit verstärkt wurden,36 aber auch darüber hinaus in der Anthropologie einflussreich waren – erscheinen aus einer Cassirer’schen Perspektive als Konsequenzen der naturalistischen Verkürzung der Welt und einer psychologistischen Reduktion der Erfahrung.37 »›Form‹ des mythischen Bewußtseins« (ebd., 178) werden die Frontlinien zwischen Neukantianismus und Psychologismus nochmals deutlich. 31 Ernst Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken, in: ders.: ECW 16 [Anm. 30], 3-73, hier 60 f. 32 Cassirer: Zur »Philosophie der Mythologie« [Anm. 30], 191. 33 Ernst Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, in: ders.: ECW 16 [Anm. 30], 227-311, hier 235. 34 So auch Ferrari: Eine ›gef ährliche‹ Bibliothek [Anm. 2], 222. 35 Vgl. mit Bezug auf die späteren, im engeren Sinne anthropologischen Texte Cassirers Hartung: Das Maß des Menschen [Anm. 6], 313-320 und 325-327. 36 Vgl. exemplarisch Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 98 und 302; Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur [Anm. 11], 112-114; und Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder [Anm. 12], 467 f. 37 So auch Ursula Renz: Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002 (= Cassirer-Forschungen 8), 251 f. und 294. In dieser Fluchtlinie hat Ralf Konersmann gerade auch mit Blick auf Cassirer für einen »Riß zwischen Kulturphilosophie und Anthropologie« argumentiert, vgl. Ralf Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg 2003, 36 und 156, Anm. 123. Dagegen schätzt Ernst

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Cassirer zufolge hat es der Mensch in seiner kulturellen Welt stattdessen je schon mit sich zu tun. Im Essay on Man wird er so formulieren: »Instead of dealing with the things themselves man is in a sense constantly conversing with himself.« 38 In diesem Selbstgespräch des Menschen über den Umweg einer Welt, die stets schon die Züge seiner Tätigkeit zeigt, und nicht in der Konfrontation des psychisch reduzierten Wesens mit einer sinnlos-chaotischen, Angst einflößenden Welt ist die Ausgangssituation von Cassirers berühmtem animal symbolicum zu sehen. Zur-Erscheinung-Kommen Die Historizität der Erscheinung des Menschen Die Ausgangssituation der Anthropologie ist folglich sowohl bei Warburg als auch bei Cassirer darin zu sehen, dass der Mensch nur in seiner Erscheinung und seinem Ausdruck zu fassen ist. Beide stellen jedoch unterschiedliche Aspekte ins Zentrum ihrer Überlegungen. Der Kunsthistoriker Warburg geht von konkreten Bildern aus und deutet sie als Ausdruck des historischen Selbstverständnisses der beteiligten Akteure, der mit der bildlichen Überlieferung eng verflochten ist. Cassirers Analysen bewegen sich dagegen auf der Ebene der symbolischen Formen wie Sprache, Mythos und Erkenntnis, die dem Menschen eigen sind und in denen die Formen der Weltauffassung zum Ausdruck kommen, die den Menschen einer bestimmten Kultur gemein sind. Das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen bewegt sich bei Warburg und Cassirer daher auf sehr unterschiedlichen Ebenen der kulturellen Manifestationen. Beide bestimmen es aber zugleich als ein historisches Verhältnis. Cassirer wie Warburg nehmen dabei an, dass die historische Entwicklung einen Fortschritt mit sich bringt: Sie soll eine auf klärerische Wendung nehmen und letztlich in die ›Befreiung‹ des Menschen münden.39 Diese teleologische Perspektive ist für Cassirers und Warburgs Anthropologie nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie das menschliche Dasein als in sich historisches charakterisiert. Sie ist auch deshalb wesentlich, weil sie Ambivalenzen und Ambiguitäten im Verhältnis des Menschen zu seinem kulturellen Ausdruck charakterisiert. Diesen Aspekt entwickeln Cassirer und Warburg paradigmatisch am Verhältnis von Mythos und Wissenschaft, wobei die besondere Aufmerksamkeit für die Astro­ Wolfgang Orth: Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von Hans-Jürg Braun u. a., Frank­ furt/M. 1988, 45-74, hier 66 f., Cassirers Position hinsichtlich der Annahme einer ursprüng­ lichen Situation der Kultur als weniger eindeutig ein. 38 Cassirer: Essay on Man [Anm. 6], 25 / ECW 23 [Anm. 6], 30; vgl. auch das ganze Kapitel »A Clue to the Nature of Men: the Symbol«, ebd., 23-26/28-31. 39 Warburg spricht so bspw. vom »Befreiungsversuch der modernen Persönlichkeit aus dem Bann magisch-hellenistischer Praktik« (Warburg: »Per monstra ad sphaeram« [Anm. 13], 68); bei Cassirer lassen sich ähnliche Stellen finden, wie z. B.: »Human culture taken as a whole may be described as the process of man’s progressive self-liberation.« (Cassirer: Essay on Man [Anm. 6], 228 / ECW 23 [Anm. 6], 244).



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logie und Astronomie in der Frühen Neuzeit auf Warburg zurückgehen dürfte. Sie greifen damit ältere Diskussionen auf, wie wiederum ein kurzer Rückblick auf Vignolis Mythus und Wissenschaft vor Augen führt. Denn bereits Vignoli sah in der Urszene des Mythos zugleich den Ursprung der Wissenschaft. Wie wir gesehen haben, entsteht der Mythos dieser Überlegung nach dadurch, dass etwas plötzlich Vorkommendes als ein »lebendes Wesen« personifiziert und mit einer »causalen Virtualität« versehen wird. Dieses Wesen gewinnt nun Bestand über den Moment hinaus, indem die ›Reflexion‹, die dem Menschen eigen ist, »Erinnerungsbilder« verknüpft und sie der Abstraktion und Klassifikation unterzieht. Die ›causale Virtualität‹, die zunächst einem einzelnen Wesen zugeschrieben wurde, führt so zur Bildung von Wirkungszusammenhängen, bis schließlich die Gegenstände nur noch als »Symbole für die ihnen zu Grunde liegenden Gesetze«40 aufgefasst werden. ­Vignoli behauptet so, dass »im Mythus von Anfang an ein Causalitätsbegriff phantastisch spukt«, der »für die Wissenschaft […] geradezu nothwendig [sei], wenn sie bestehen, ja selbst, wenn sie sich überhaupt entwickeln soll«.41 Ähnliche Thesen finden sich auch in Cassirers und Warburgs Behandlungen von Mythos und Wissenschaft oder Astro­logie und Astronomie. In dem Aufsatz »Die Begriffsform im mythischen Denken«, der die Reihe der Studien der Bibliothek Warburg 1922 eröffnet, rückt Cassirer den Begriff ins Zentrum und lässt ihn bereits im Mythos die Anfänge der wissenschaftlichen Erkenntnis ausbilden. Daher bestimmt Cassirer die ›Begriffsform‹ zunächst so allgemein, dass sie einen Grundzug aller »geistigen Formen der Weltauffassung« wie Sprache und Mythos, Erkenntnis und Kunst darstellt.42 Der Begriff ermöglicht demnach Vergleiche, um an Dingen Ähnlichkeiten festzustellen und dadurch Klassifikationen zu bilden.43 Der Mythos realisiert diese begriffliche Leistung in der Sprache, verknüpft sie mit spezifischen Ordnungen von Raum und Zeit und kann sie schließlich zu umfassenden astrologisch-mythischen Korrespondenzen ausbauen.44 Er begreift auf diese Weise »das Ganze der Welt als eine gesetzliche Einheit, als ein in sich geschlossenes kausales Gefüge«.45 Wie Vignoli charakterisiert Cassirer also den Mythos, indem er ihm Vorformen des wissenschaftlichen Begriffs und des kausalen Gesetzes zubilligt und sie zugleich von ihrem modernen wissenschaftlichen Verständnis unterscheidet. Cassirer gibt dabei deutlich zu erkennen, dass diese geschichtliche Vorverlegung 40 Vignoli:

Mythus und Wissenschaft [Anm. 16], 96. 144. Vignoli spricht auch von der »phantasievollen Auffassung des Weltganzen als Causalitätsbegriff« (ebd., 127), vgl. darüber hinaus ebd., 183. 42 Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 8; vgl. die ganze Passage ebd., 4-12. 43 Vgl. ebd., 11. Diesen Ansatz wird Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen, aber auch in Ernst Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, in: ders.: ECW 16 [Anm. 30], 227-311, weiter verfolgen. 44 Vgl. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 15, 25-34 und 40. 45 Ebd., 34, vgl. auch ebd., 29-44, und zu Kausalität in Astro­logie und Naturwissenschaft zudem Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften, in: ders.: ECW 16 [Anm. 30], 75-104, hier 96-99. 41 Ebd.,

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der modernen Begriffe zur Konsequenz haben soll, dass der Keim der wissenschaftlichen Astronomie bereits in Mythos und Astro­logie angelegt ist. Er zitiert Warburg zustimmend und fühlt sich ihm vermutlich auch in seiner Einschätzung der Renaissance nah: »Die Renaissance bildet auch hier den entscheidenden intellektuellen Wendepunkt. In ihr läßt sich – ein seltenes Phänomen in der Geistes- und Ideengeschichte – fast genau der Punkt bezeichnen, an dem die ›Revolution der Denkart‹ einsetzt.«46 Cassirers Formulierung lässt jedoch auf horchen, wählt er doch mit der Kantischen »Revolution der Denkart« geradezu eine Losung des Neukantianismus, um den historischen Wandel der Renaissance zu beschreiben. Demzufolge wäre also die historische Entwicklung von der Astro­logie zur Astronomie nach dem Modell einer reflexiven Einsicht in das Verhältnis unserer Vorstellungen zu ihren Gegenständen zu beschreiben. Wie nach der berühmten Stelle aus der Vorrede zur zweiten Auf lage der Kritik der reinen Vernunft der Philosoph davon ausgehen soll, dass sich unsere Erkenntnis nicht nach an sich existierenden Dingen richten müsse, sondern die Gegenstände nach unserem Erkennen,47 scheint der Mensch in der Renaissance zu begreifen, dass die dämonisch-göttlichen Mächte, von denen er sich beherrscht glaubte, letztlich nur fälschliche Substantialisierungen der eigenen ideellen Bestimmungen der Welt und der Produkte der menschlichen Weltauffassung sind.48 Daher verknüpft sich das Verständnis des historischen Wandels mit Cassirers eigenen systematischen Auffassungen der Leistungen des Begriffs, wie sich exemplarisch an seiner Reformulierung der zitierten These Warburgs, in der Astro­ logie hätten sich »Mathematik, das feinste Werkzeug abstrahierender Denkkraft, mit Dämonenfurcht, der primitivsten Form religiöser Verursachung« zusammengetan,49 belegen lässt. Denn Cassirer unterscheidet Astro­logie und Astronomie durch zwei mögliche Weisen der »Bestimmung und Verwendung des Zahlbegriffs«: Die Astro­ logie kennt nur die »Dingzahl«, die im Himmel ihr dingliches Pendant hat, ihr Substrat, an dem alles Mögliche Anteil haben kann und in dem es zur vollkommenen Wechselwirkung gelangt; die wissenschaftliche »Funktionszahl« dagegen begreift Cassirer als »eigentümliche ideelle Funktion des Bestimmens« und damit als eine »eigentümliche Schöpfung des Denkens«.50 Diese auf klärende Einsicht in das Wesen der Zahl kann ihre Verwandtschaft zu Cassirers Theorie des Begriffs aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 kaum verleugnen. Ähnliche Formen 46 Cassirer:

Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 55. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil, Darmstadt 1983 (= Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3), 25 f., in der originalen Paginierung der zweiten Auf lage XV-XVIII. 48 Vgl. dazu auch die Zusammenfassung des Vortrags Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 60 f. 49 So zitiert Cassirer ebd., 53; vgl. die Stelle bei Warburg: Werke [Anm. 3], 447 / GS I, 2 [Anm. 18], 505. 50 Vgl. für die vorangehenden Stellen Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 53 f. 47 Vgl.



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der Beschreibung der Wende von der Astro­logie zur Astronomie, vom Mythos zur Wissenschaft nach dem Vorbild der methodischen Fragestellung von Kants trans­ zendentaler Reflexion und im Rückgriff auf eigene theoretische Positionen sind auch noch in der Studie Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance von 1927 zu finden, die ohne Zweifel eines der bemerkenswertesten Ergebnisse von Cassirers Zusammenarbeit im Kreise der Bibliothek Warburgs ist.51 Cassirers Darstellung eines geistesgeschichtlichen Wandels wirft nun nicht nur grundlegende methodische Fragen der Geschichtsschreibung auf und wird sich leicht dem Einwand ausgesetzt sehen, dass sie einen historischen Wandel nach dem Vorbild einer theoretisch-systematischen Figur des Neukantianismus schildert und ihn in Analogie zu einer theoretischen Einsicht beschreibt, was kaum geeignet scheint, um die Komplexität eines historischen Prozesses zu fassen. Im Rahmen des hier verfolgten Vergleichs von Cassirer und Warburg ist aber in erster Linie ein anderer Punkt von Bedeutung. Cassirer neigt dazu, einen einschneidenden Moment, einen »Wendepunkt« 52 anzunehmen und ihn in den historischen Prozess der »Überwindung des astrologischen Weltbildes« 53 einzuordnen. Cassirer ist dabei vollkommen bewusst, dass er dadurch die historische Lage zugunsten ihrer stimmigen Entwicklung bereinigt und er insbesondere Überlagerungen und Gemengelagen an den Rand seiner historischen Darstellung drängt.54 Es sind nun aber genau diese Gemengelagen der Renaissance, die im Zentrum von Warburgs Interesse stehen.55 Warburg teilt so zwar mit Cassirer die Parteinahme für den wissenschaftlichen Geist, er fokussiert aber anders als Cassirer die Überlagerungen im historischen Übergang und die Verdichtungen der Ambivalenzen im Ausdruck der Menschen, ohne ihre Auf lösung in einer theoretischen Einsicht ins Auge zu fassen. Für Warburg stellen daher die Mittel zur Errichtung Vgl. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1994, bes. 150 f. und mit Bezug auf Warburg 77-82, bzw. ders.: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, Hamburg 2002 (= ECW [Anm. 2] 14), bes. 164 f. und 85-90. Vgl. zu diesem Werk und zur Hamburger Zusammenarbeit Ferrari: Eine ›gef ährliche‹ Bibliothek [Anm. 2], 224 ff., sowie mit Blick auf die voraussetzungsvolle Behandlung der Epoche Wilhelm Schmidt-Biggemann: Cassirers RenaissanceAuffassung, in: Grenzen der kritischen Vernunft. Helmut Holzhey zum 60. Geburtstag, hg. von Peter A. Schmid und Simone Zurbuchen, Basel 1997, 224-240, bes. 229-236. 52 Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 55. 53 Cassirer: Individuum und Kosmos [Anm. 51], 108 / ECW 14 [Anm. 51], 119. 54 »Nirgends handelt es sich um einen kontinuierlichen zeitlichen ›Fortschritt‹, der in gerader Linie zu einem bestimmten Ziel führt. Altes und Neues geht nicht nur auf lange Zeitstrecken nebeneinander her, sondern beides fließt ständig ineinander über. Von einer ›Entwicklung‹ kann daher nur in dem Sinne gesprochen werden, daß sich die einzelnen Gedankenmotive, in eben diesem fluktuierenden Hin und Her, allmählich immer schärfer gegen einander absondern, daß sie in bestimmten, typischen Gestaltungen heraustreten. An solchen typischen Bildungen wird der immanente Fortgang des Gedankens klar, der keineswegs seinem zeitlich-empirischen Verlauf zu entsprechen braucht.« (ebd.). 55 Vgl. für eine ähnliche Charakterisierung auch Ferrari: Eine ›gef ährliche‹ Bibliothek [Anm. 2], 228-230. 51

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der wissenschaftlichen Ordnung der Gestirne selbst die Einfallstore der magischen Dämonenfurcht und des Glaubens an personalisierte Götter dar, so dass jede Befreiung gefährdet bleibt.56 Selbst der moderne »beobachtende Mensch« soll daher noch ganz »im Kampfe um den Denkraum« stehen. Warburg führt in seinem Vortrag »Per monstra ad sphaeram« aus: »Zwischen bildhaft mythologischer und zahlen­ mäßig errechenbarer Ursachensetzung schwankend haben die Sternbilder für ihn – und zwar in denselben forschenden Persönlichkeiten (wie ja auch bei Ptolemäus) einen ambivalenten, polargespannten Charakter, der einerseits in der magischen Praktik kultliche Verehrung fordert, und der andererseits zugleich den Wert einer welt­fernen objektiven Umfangsbestimmung hat für die glitzernden Wesen im Weltraum […].« 57 Astro­logie und Astronomie sind demnach zwei charakteristische, aber unterschiedliche und dennoch miteinander verwobene Formen, wie sich der Mensch durch die Deutung des Himmels und der Sterne in der Welt Orientierung verschaffen kann: nämlich einerseits in einem phantastisch-imaginären Glauben, der in Sternbildern Damönen wähnt und den Menschen seinem astrologischen Schicksal ausliefert, und andererseits in der rationalen und mathematischen Erfassung der Gestirne, durch die der Mensch in dem Maße Distanz zu ihnen gewinnt, wie er die Himmelsbewegungen in ihrer Gesetzlichkeit zu begreifen vermag.58 Die Polarität und Ambivalenz zwischen wissenschaftlichem Denken und magi­ schem Aberglauben arbeitet Warburg besonders deutlich in »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten« heraus. Er geht hier aber ein Stück weiter, insofern er diesen Befund nicht auf eine Übergangszeit wie die Renaissance beschränkt, sondern als eine strukturell unauf lösbare Charakteristik menschlichen Daseins versteht: »Logik, die den Denkraum – zwischen Mensch und Objekt – durch begrifflich sondernde Bezeichnung schafft [sic!] und Magie, die eben diesen Denkraum durch abergläubische zusammenziehende – ideelle oder praktische – Verknüpfung von Mensch und Objekt wieder zerstört, beobachten wir im weissagenden Denken der Astro­logie noch als einheitlich primitives Gerät, mit dem der Astrologe messen und zugleich zaubern kann. Die Epoche, wo Logik und Magie wie Tropus und Metapher (nach den Worten Jean Pauls) ›auf einem Stamme geimpfet blühten‹ ist eigentlich zeitlos, und in der kulturwissenschaftlichen Darstellung solcher Polarität liegen bisher ungehobene Erkenntniswerte zu einer vertieften positiven Kritik einer Geschichtsschreibung, deren Entwicklungslehre rein zeitbegrifflich bedingt 56 Vgl. zur Astro­logie als Pakt von Mathematik und Dämonenfurcht exemplarisch Warburg: Werke [Anm. 3], 447. Dass das »Planisphärium Bianchini auch sehr wohl ein astrologisches Würfelbrett gewesen sein kann«, wie Warburg vermutet, bedeutet dann die Verdichtung dieser Ambivalenz: »[…] das feinste Symbol kosmologischer Auf klärung, einer von den fünf mathematisch regelmässigen Körpern, wie sie in Platons Timaeus als Urelemente des Kosmos erfunden sind, wird zum Verkünder zuf älliger Willkürlichkeit. Das Bestechende in dem akuten Denkraumverlust ist, dass er durch das Hantieren mit den Auf klärungswerten der Mathematik den Abergläubigen, d. h. den zu eigener Denkarbeit unwilligen, anscheinend in die höhere Sphäre der tiefsinnigen Weltweisheit einführt.« (Warburg: »Per monstra ad sphaeram« [Anm. 13], 71 f.) 57 Ebd., 70. 58 Vgl. Warburg: Werke [Anm. 3], 642 f.



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ist.« 59 Selbst die Moderne ist vor der Zerstörung ihrer Errungenschaften nicht gefeit, weil ihr einigen kulturkritischen Bemerkungen Warburgs zufolge die technischen Transport- und Kommunikationsmittel zum Verhängnis werden können.60 Selbst den befreundeten Philosophen sieht Warburg dieser Gefahr ausgesetzt: »Dass Cassirer nur so kurz bleiben will, ist vor dem Forum der Geistesgeschichte – ich drücke mich ungewöhnlich feierlich aus, weiss aber warum – unverantwortlich. Fatum des modernen Eilmenschen, der postpaketlich befördert wird und nicht wandert, sich seine Zusammenkünfte nicht ›ergeht‹.« 61 Die Behauptung Warburgs, die Ambivalenzen der menschlichen Orientierung zwischen Magie und Logik seien ›zeitlos‹ und unauf lösbar, legen die Vermutung nah, er greife hier auf die Annahme einer rein psychologischen Gesetzlichkeit zurück, wie sie sich beispielsweise bei Vignoli finden lässt.62 Und Warburgs Rekurse auf eine »Psychologie der monströs-bildhaften wie der zahlenmäßigen mathematischen Ursachensetzung« 63 oder seine Rede von der »Unzerstörbarkeit des primitiven Menschen, der zu allen Zeiten derselbe bleibt«,64 scheinen diese Vermutung zu bestätigen. Dennoch ist auch hier trotz aller naturalistischen Resonanzen von Warburgs Formulierungen daran festzuhalten, dass die Ambivalenzen des Ausdrucks in seiner notwendigen Verschränkung mit den überlieferten Ausdrucksmitteln gründen. Die Aufgabe einer »Orientierung im Kosmos« stellt nicht nur Mensch und Welt einander gegenüber, sie bedarf der »Orientierungsmittel: Zeichen und Bild« 65 und bezieht daher von vornherein eine Überlieferung mit ein, die ihre eigenen BeWarburg: Werke [Anm. 3], 427 f. / GS I, 2 [Anm. 18], 491 f., vgl. auch ebd., 484 f./534. Vgl. zudem Uwe Fleckner: »… von kultischer Praktik zur mathematischen Kontemplation – und zurück.« Aby Warburgs Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, in: Aby Warburg. Akten [Anm. 3], 313-334, hier 330-332, der sich mit Blick auf Warburgs Konzeption einer Ausstellung zur Geschichte von Astro­logie und Astronomie gegen eine simple Vorstellung der Entwicklung von der Astro­logie zur Astronomie wendet. 60 Vgl. z. B. Warburg: Werke [Anm. 3], 561. 61 Warburg: »Per monstra ad sphaeram« [Anm. 13], 42. 62 Vignoli hatte nicht nur versucht, Wissenschaft und Mythus »von einem einheitlichen Standpunkte aus« (Vignoli: Mythus und Wissenschaft [Anm. 16], 9) zu behandeln, sondern zu einer »einheitlichen Thatsache vor[zu]dring[en], welche Mythus und Wissenschaft aus sich hervorgehen lässt« (ebd., 123). Unter dieser Annahme liegt es aber nah, dass Mythos und Wissenschaft stets einander überlagern können, was Vignoli am Beispiel der Schwere illustriert, die für uns in den »allgemeinen Attractionsgesetzen ihre Erklärung findet«, aber von der »ungebildeten Menge heutzutage« wie vom »prähistorischen Menschen« als »ein in sich thätiges Ding« (ebd., 134) wahrgenommen werde. Diese Überlagerungen sind bei Vignoli in der Natur des Menschen angelegt und können nur durch Fortschritte von Wissenschaft und Gesellschaft, deren Geschichte Vignoli in kaum zu überbietender Simplizität erzählt, gleichsam ausgeschlossen werden. Der Mythos bricht in Vignolis Schilderungen aber doch immer wieder bei denjenigen hervor, die jenen Fortschritten der Bildung entzogen sind: das Kind, der Wilde oder die Ungebildeten. 63 Warburg: »Per monstra ad sphaeram« [Anm. 13], 125 64 Warburg: Werke [Anm. 3], 569. 65 Ebd., 326. 59

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deutungen und Besetzungen mit sich bringt.66 Diese Problemlage des menschlichen Daseins und seiner historischen Ausdrucksform wird durch Warburgs Frage nach dem »Einfluss der Antike auf die künstlerische Darstellung des Menschen«,67 die er seit seiner Dissertation zu Botticelli herausgearbeitet hatte, ins Zentrum gerückt. In der Figur der berühmten »Pathosformel« gelangt der Mensch in der Renaissance nur zum Ausdruck des neuen Lebensgefühls, indem er jenseits der ihn direkt bestimmenden Überlieferung seiner Zeit zurückgreift auf antike Formen der Darstellung und sie sich ungeachtet des konkreten Gehalts zu seinen eigenen Zwecken aneignet.68 Auch im Falle des Verhältnisses von Astronomie und Astro­logie liegt ein ähnlicher Rückgriff vor, soll sich der frühneuzeitliche Mensch doch nur von der Astro­logie und ihrer »lastenden orientalisch-mittelalterlichen Überlieferung« befreien können, indem er auf deren Ursprünge zurückgeht und so die antike Astro­ nomie ›wiederherstellt‹.69 Das Selbstverständnis des Menschen in der Renaissance 66 Warburgs Texte sind hier sicher missverständlich – dennoch scheint es mir nicht angemessen, wenn Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur [Anm. 11], 68 f., wie schon Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 295-304, mit Bezug auf Warburgs Vortrag zum Schlangenritual der Hopi-Indianer, die Aufgabe der Orientierung bei Warburg nach dem Vorbild von Vignolis psychologischer Ursituation von Mensch und Welt beschreibt. Es scheint mir systematisch weiterführender, die psychologischen Anleihen Warburgs trotz aller Uneindeutigkeiten als heuristische Hilfsmittel seiner Ausdruckslehre zu begreifen. Bereits 1975 hat Giorgio Agamben festgestellt: »For Warburg, the symbol thus belongs to an intermediary domain between consciousness and primitive reactions, and it bears in itself the possibilities of both regression and higher knowledge. It is a Zwischenraum, an ›interval,‹ a kind of no-man’s-land at the center of the human.« (Aby Warburg and the Nameless Science, in: Giorgio Agamben: Potentialities. Collected Essays in Philosophy, Stanford (CA) 1999, 89-103, hier 94.) 67 Warburg: »Per monstra ad sphaeram« [Anm. 13], 53. 68 Vgl. zur Pathosformel Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike, in: ders.: GS I, 2 [Anm. 18], 443-449, bes. 445 f. / Werke [Anm. 3], 176-183, bes. 176 f.; ders.: Der Eintritt des anti­k i­sierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance, in: ders.: Werke [Anm. 3], 281-310; sowie zur Erläuterung Martin Warnke: Vier Stichworte: Ikonologie – Pathosformel – Polarität und Ausgleich – Schlagbilder und Bilderfahrzeuge, in: Die Menschenrechte des Auges [Anm. 3], 53-83, hier 61-68. Vgl. zur Aneignung der überlieferten Ausdrucksmittel bereits den Aufsatz von 1907 Aby Warburg: Francesco Sassettis letztwillige Verfügung, in ders.: GS I, 1 [Anm. 3], 127-158, bes. 145-158 / Werke [Anm. 3], 234-280, bes. 259-277; und ders.: Florentinische Wirklichkeit und antikisierender Idealismus. Francesco Sassetti, sein Grab und die Nymphe des Ghirlandaja, in: Werke [Anm. 3], 211-233, bes. 229 f. 69 Warburg stellt eine solche Kontinuität selbst her, so bspw. in seinem Schifanoja-Aufsatz, vgl. Warburg: Werke [Anm. 3], 373 f. Er betont in seinen Analysen astrologisch-astronomischer Darstellungen nun aber stärker den »Wiederherstellungs-Prozess der antiken Sphären-Symbole aus der lastenden orientalisch-mittelalterlichen Überlieferung« (Warburg: »Per monstra ad sphae­ ram« [Anm. 13], 54) oder die »Wiederherstellung des polaren Urstiles der Antike« (ebd., 53). Wie die Herausgeber in Warburg: Werke [Anm. 3], 324 f., anmerken, geht mit diesem Ansatz eine ganze Rhetorik des Echten einher, das von ›Überlagerungen‹ befreit und ›entschält‹ werden muss. Im Schifanoja-Aufsatz spricht Warburg so davon, dass »die Entschälung des griechischen Urbildes bei dieser kritischen Ikonologie ein fortwährendes Wegräumen unberechenbarer Schichten nicht verständlicher Zutaten verlangt« (Warburg: Werke [Anm. 3], 381 / GS I, 2 [Anm. 18], 467). Vgl. ähnliche Formulierungen in: Warburg: Werke [Anm. 3], 328, 345 f. und



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kann sich demnach nur im Rückgriff auf die Antike erneuern und vom mittel­a lter­ lichen Hintergrund befreien, die »Loslösung von spätheidnischer, hellenistischer Befangenheit [geschieht] wieder durch die Hilfe des Altertums selbst«.70 Warburgs »historische Psychologie des menschlichen Ausdrucks« fokussiert somit die Ambivalenzen, die sich im historischen Übergang durch Überlagerungen ergeben und sich in den zu deutenden Bildern verdichtet haben.71 Die fundamentale Ambivalenz, die Warburg am Verhältnis des mythischen und des wissenschaftlichen Weltbildes in der Renaissance untersucht, ist daher anders gefasst als bei Cassirer: Cassirer betrachtet die »eigentümliche Mittel- und Zwitterstellung zwischen Mythos und Wissenschaft« 72 stets mit Blick auf den Übergang zur Wissenschaft, während Warburg mit dem Diktum: »Astro­logie ist Mathematik und Götzendienst zugleich« 73 die prinzipielle Polarität und ihre ambivalente Verdichtung in Bildern fokussiert. Überlagerungen sind daher für Cassirer als Zeichen eines historischen ›Zwischen‹ der Geistesgeschichte zu deuten, für Warburg dagegen als Symptome eines ›Zugleich‹, mit dem es die historischen Akteure zu tun haben und das sich in der Artikulation ihres Selbstverständnisses zeigt.74 Sich-zur-Erscheinung-Kommen Anthropologie und Wissen um sich selbst Die kulturelle Erscheinung des Menschen ist somit für Warburg wie für Cassirer der unumgängliche Ausgangspunkt für eine Anthropologie, weil sie sich gegen eine naturalistische Objektivierung des Menschen wenden. Beide verstehen dabei 349 f. Diese Rhetorik steht in einer gewissen Spannung zur Konzeption des Nachlebens, was genauer zu diskutieren wäre. 70 Warburg: »Per monstra ad sphaeram« [Anm. 13], 124. 71 In diese Richtung weisen auch die Beobachtungen von Syamken: Aby Warburg [Anm. 12], 33 und 35, zu Warburgs Veränderung des Titels einer »Kladde mit systematischen Notizen« von einer »psychologischen Kunstphilosophie« über eine »monistische Kunstpsychologie« zur »pragma­ tischen Ausdruckskunde«. Syamken sieht damit eine systematische Entwicklung Warburgs belegt. 72 Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 37. 73 Warburg: Werke [Anm. 3], 326. 74 Dies wäre anhand von Warburgs Texten zum Schlangenritual der Hopi-Indianer, aber auch mit Blick auf den berühmten Mnemosyne-Atlas weiter zu verfolgen, der in Warburgs Notizen wie folgt charakterisiert wird: »Ikonologie des Zwischenraums. Kunsthistorisches Material zu einer Entwicklungsphysiologie des Pendelganges zwischen bildhafter und zeichen­m äßi­ ger Ursachensetzung.« (Warburg: Werke [Anm. 3], 643) Vgl. auch die »Mnemosyne Einleitung« in Warburg: Werke [Anm. 3], 629-639, sowie Aby Warburg: Schlangenritual. Ein Reisebericht, mit einem Nachwort von Ulrich Raulff, Berlin 1988; die verschiedenen Entwicklungsstufen sind dokumentiert in Warburg: Werke [Anm. 3], 508-600; vgl. zur Polarität und Ambivalenz der menschlichen Orientierung in einer frühen Fassung ebd., 538, sowie für Warburgs erneuten Rekurs auf Vignoli ebd., 577-582. Vgl. für eine Verortung dieser Texte in ihrer Zeit Raulffs »Nachwort« in obiger Edition, 59-95, und vor allem Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), München 2005, 137-169.

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Kultur als unumgängliches, bewegliches wie bewegendes Medium des mensch­ lichen Daseins.75 Das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen ist von einer historischen Dimension, die Ambivalenzen zwischen Mythos, Aberglauben und Erkenntnis mit sich bringt, die Cassirer wie Warburg am Verhältnis von Astro­logie und Astronomie in der Renaissance herausarbeiten. Cassirer betrachtet dabei auf einer geistesgeschichtlichen Ebene den Übergang von einer Weltauffassung zu einer anderen, Warburg fokussiert dagegen ihre Überlagerungen und Verdichtungen im einzelnen Ausdruck und in den Bildern im Rahmen der Bildgeschichte. Dieses Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen ist nun aber kein Schauspiel vor Zuschauern, etwa vor dem beobachtenden Auge des Anthropologen; der Mensch kommt zuallererst sich zur Erscheinung, weshalb Cassirer die Anthropologie auch in Platons Dialogen und Sokrates’ »Erkenne Dich selbst« ihren Anfang nehmen lässt und nicht etwa in den biologisch-psychologischen Diskursen des 19. Jahrhunderts.76 Das Sich-zur-Erscheinung-Kommen des Menschen bezieht sich in Cassirers Anthropologie der symbolischen Formen und in Warburgs »historischer Psychologie des menschlichen Ausdrucks« allerdings auf sehr unterschiedliche Ebenen des menschlichen Daseins und schließt daher ebenso verschiedene Ebenen der Bildlichkeit dieses Erscheinens ein. Für Warburg ist die Frage, wie der Mensch sich erscheint, sehr konkret zu verstehen. Denn nicht nur legen seine psychologisch-anthropologischen Anleihen nahe, das Ausdrucksgeschehen als einen individuellen Vollzug zu verstehen. Vor allem ist es der ganz konkrete Zusammenhang von Warburgs Bildanalysen, die uns den Menschen zuallererst einmal in der Gestalt der involvierten historischen Akteure verstehen lassen. Warburg rekonstruiert meist detailliert die Genese von Bildern, in der Maler, Auftraggeber und Berater ebenso eine Rolle spielen wie literarische und bildliche Überlieferungen. Alle Beteiligten sind konkret historisch situiert und können nur insoweit auf die Überlieferung zugreifen, als diese tatsächlich vor Ort zur Verfügung steht.77 Was in Warburgs Anthropologie sich zur Erscheinung 75 Hinsichtlich der Wertschätzung der produktiven Rolle der Kultur und der Überlieferung scheint mir diese Nähe Warburgs zu Cassirer zutreffender als Didi-Hubermans Annäherung an Nietzsche unter der Kapitelüberschrift »Die Tragödie der Kultur: Warburg und Nietzsche«, vgl. Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder [Anm. 12], 157-171, bes. 168 f. und 175. 76 Vgl. dazu Cassirer: Essay on Man [Anm. 6], 4-6 / ECW 23 [Anm. 6], 8-10. 77 Warburg betrachtet daher auch die konkrete Wanderung der Bilder durch Raum und Zeit und nimmt dabei eine geographische Erweiterung der Kunstwissenschaften über die Grenzen Europas sowie eine materiale Erweiterung über die Kunst hinaus vor, um die Überlieferung und Transformation der antiken Astronomie in der Astro­logie zu beschreiben. Vgl. Aby Warburg: Die Fixsternhimmelsbilder der Sphaera barbarica auf der Wanderung von Ost nach West, in ders.: Werke [Anm. 3], 326-348, bes. 326, sowie die programmatischen Erklärungen am Ende des Schifanoja-Aufsatzes ebd., 396 f. / GS I, 2 [Anm. 18], 478 f. Diese ›Bilderwanderung‹ verknüpft sich in Warburgs Studien zunehmend mit dem genauen Blick auf Bildartefakte wie Teppiche und Drucke in ihrer verschiedenen ›Beweglichkeit‹, vgl. z. B. Warburg: Werke [Anm. 3], 375 f. und 456 / GS I, 2 [Anm. 18], 463 und 513, sowie Warburg: Werke [Anm. 3], 636 f. und GS I, 1 [Anm. 3], 223. Vgl. zu Warburgs Verständnis des Bildes als Artefakt auch Arno Schubbach: Das Bilden der Bilder. Zur Theorie der Welterzeugung und ihrer bildtheoretischen Verpflichtung,



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kommt, sind daher zuallererst Menschen, Individuen, die im historischen Wandel leben und mit seinen Ambivalenzen kämpfen, indem sie um ein artikuliertes Selbstverständnis ringen. Das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen erweist sich damit als ein Bildprozess, in dem der Terminus ›Bild‹ auf die konkreten Bilder, die hergestellt werden, zu beziehen ist, aber auch auf die Vorbilder, die dabei zur Verfügung standen und wiedergewonnen werden mussten, und die Bilder, die überliefert wurden und vom Kunsthistoriker zu deuten sind. Cassirers Anthropologie bewegt sich dagegen auf einem abstrakteren Niveau, da er das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen nicht primär auf der Ebene psychischer Vollzüge und historischer Individuen verhandelt.78 Er bezieht es vielmehr auf die Weltauffassungen bzw. symbolischen Formen wie Mythos und Erkenntnis, Sprache und Kunst, durch die symbolische Erfahrung überhaupt Sinn gewinnt und das Selbstverständnis des Menschen geprägt wird.79 Bilder im konkreten Warburg’schen Sinne spielen dabei kaum eine Rolle – und dennoch lässt sich das Sich-zur-Erscheinung-Kommen des Menschen auch bei Cassirer als ein Bildprozess verstehen. Denn die menschliche Weltauffassung versteht Cassirer als ein ›Bilden‹ und das Sich-zur-Erscheinung-Kommen des Menschen als die Einsicht in die Unhintergehbarkeit dieses Bildens, das allein dem Menschen zukommt. Das Sich-zur-Erscheinung-Kommen des Menschen entfaltet Cassirer exemplarisch in seinem Aufsatz »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«, der im ersten Band der Vorträge der Bibliothek Warburg von 1923 enthalten ist. Ganz im Sinne von Cassirers neukantianischem Rückgriff auf Kants Einbildungskraft betont er dabei den aktiven Grundzug des Bildens: »Die Kraft dieser Erzeugung ist es, die den bloßen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt zum symbolischen Inhalt gestaltet. In diesem hat das Bild aufgehört, ein bloß von außen Empfangenes zu sein; es ist zu einem von innen her Gebildeten geworden, in dem ein Grundprinzip freien Bildens waltet.« 80 Der Begriff des Bildes ist hier »in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen«, nämlich so weit, dass Cassirer immer wieder auch synonym vom Zeichen oder auch vom Wort spricht.81 ›Bild‹ und

in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 18.1+2 (2012), 69-93, hier 84-87. Roeck: Der junge Aby Warburg [Anm. 12], 68, zufolge ist das Kunstwerk bereits nach Warburgs Doktorvater, Hubert Janitschek, »in Zeit und Raum zu plazieren«. 78 Eine ähnliche Differenz zwischen Warburg und Cassirer setzt Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur [Anm. 11], 117-119 und 147 f., an, allerdings unter Inkaufnahme einer allzu einfachen und überholten Vorstellung vom Neukantianismus Cassirers. 79 Vgl. die prominente Definition in Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form [Anm. 45], 79. 80 Ebd., 81. Vgl. zu Cassirers Semantik des Bildes und des Bildens vor dem Hintergrund der transzendentalphilosophischen Tradition ergänzend Schubbach: Das Bilden der Bilder [Anm. 77], 77-81. 81 »Es handelt sich darum, den symbolischen Ausdruck, d. h. den Ausdruck eines ›Geistigen‹ durch sinnliche ›Zeichen‹ und ›Bilder‹ in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen« (ebd., 78).

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›Zeichen‹ sind damit beide Produkte der »Energien des Bildens« 82 und erlauben eine sinnvolle Erfahrung der Dinge in der symbolisch durchbildeten Welt. Dieser Synonymie von ›Bild‹ und ›Zeichen‹ überlagert sich nun aber eine spezifische Differenz im Gebrauch der Begriffe, durch die das Verhältnis des Menschen zu den Gegenständen seiner Erfahrung und seiner eigenen Weltauffassung, damit aber auch sein Sich-zur-Erscheinung-Kommen genauer bestimmt werden. Denn ›Bild‹ und ›Zeichen‹ charakterisieren verschiedene Haltungen gegenüber dem Verhältnis des Menschen zu den Gegenständen seiner Erfahrung. Im Anschluss an Kants Schematismus-Kapitel, auf das Cassirer sich hier wie auch schon in »Die Begriffsform im mythischen Denken« beruft,83 spricht er von ›Bild‹ nun tendenziell dort, wo das bloße Resultat des Bildens im Unterschied zu dessen Prozess gemeint ist. Das Bild scheint dann der Gegenstand zu sein, der vermeintlich unabhängig wäre von der Weltauffassung des Menschen. Das Zeichen oder das Wort unterscheiden sich dagegen vom Bezeichneten und sind als abhängig vom Akt einer ideellen Setzung verstanden: »Indem wir die Eindrücke, die von außen auf uns einzudringen scheinen, nicht bloß wie tote Bilder auf einer Tafel betrachten, sondern wir sie mit der Lautgestalt des Wortes durchdringen, erwacht in ihnen selbst ein neues vielfältiges Leben.« 84 Im Bild scheinen wir die Dinge als gegeben hinzunehmen, mit Wort und Zeichen begreifen wir sie als Gebilde eines symbolisch-geistigen Bildens. Diese begriffliche Differenz zwischen ›Bild‹ und ›Zeichen‹ nutzt Cassirer nun dazu, die verschiedenen symbolischen Formen mit Blick auf ihre jeweiligen Bestimmungen des Verhältnisses des Menschen zur Welt seiner geistigen Auffassung zu charakterisieren.85 Die Erkenntnis, so legt Cassirer nahe, entwickelt sich immer mehr von einer naiven Auffassung der Bilder, durch die sich die Gegenstände im Bewusstsein abbilden, hin zu einem Prozess des Bildens, der in der Operationalität der wissenschaftlichen Zeichensysteme ihr Vorbild hat;86 die Sprache scheint, so Cassirer, eine ähnliche Entwicklung zu verfolgen und nach einer zunehmenden Idealität der Bedeutung hinzustreben;87 dagegen zeichne sich der Mythos dadurch aus, dass er keine solche Entwicklung nimmt, sondern gleichsam nicht vom Bild loskommt, das er als ein Ding betrachtet und es mit einer eigenen Wirksamkeit ausstattet: »Das Bild ist nicht als solches, als eine freie geistige Schöpfung, gewußt und erkannt, sondern es kommt ihm eine selbständige Wirksamkeit zu; es 82

Ebd., 104. So auch die Rede von der »Kraft des inneren Bildens, die sich in der Erzeugung der Welt der Kunst und der Welt der Erkenntnis, in der Erzeugung der mythischen und der sprachlichen Welt beweist« (ebd., 91). 83 Vgl. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 46-51, und Kant: Kritik der reinen Vernunft [Anm. 47], 189 f., in der Paginierung der zweiten Auf lage 179-181. 84 Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form [Anm. 45], 82. 85 »Die Funktion der Bildgestaltung überhaupt mag immerhin als eine letzte übergreifende Einheit gedacht werden können; aber die Verschiedenheit der Formen tritt sofort wieder hervor, sobald man auf das verschiedene Verhältnis reflektiert, das der Geist in jeder von ihnen zu der von ihm erzeugten Welt der Bilder und Gestalten sich gibt.« (ebd., 91) 86 Vgl. ebd., 87-91. 87 Vgl. ebd., 82-85, sowie 94 f. und 101 f.



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geht ein dämonischer Zwang von ihm aus, der das Bewußtsein beherrscht und bannt.« 88 Auf diese Weise verknüpft Cassirer die Charakterisierung der symbolischen Formen mit der Beschreibung des Sich-zur-Erscheinung-Kommens des Menschen innerhalb seiner symbolischen Auffassung der Welt. Wird der symbolisch gebildete Gegenstand der Erfahrung wie im Mythos als Bild aufgefasst, so liefert sich der Mensch den Dingen, ihren Mächten und einer Angst erfüllenden Welt aus. Begreift er dagegen, dass jedes Erfahrene einer ideellen Auffassung und symbolischen Bildung entspringt, so sieht Cassirer darin einen »ideellen Fortschritt […], als dessen Ziel es sich bezeichnen läßt, daß der Geist in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen Symbolen nicht nur ist und lebt, sondern daß er sie als das, was sie sind, begreift«.89 Da Cassirers animal symbolicum durch seine symbolische Auffassung der Welt ausgezeichnet ist, kommt der Mensch zugleich sich selbst zur Erscheinung, wenn er in der Welt so das Bild seiner eigenen ›Energien des Bildens‹ wiedererkennt. Diese These erschöpft sicherlich nicht die Anthropologie, die Cassirer auf der Grundlage seiner Kulturphilosophie bis hin zum Essay on Man entwickelt. Sie bezeichnet aber doch eine wesentliche, organisierende Tendenz dieser Anthropologie auf der Basis von Cassirers Kulturphilosophie. Schluss Cassirer und Warburg begreifen den Menschen von seinem Sich-zur-ErscheinungKommen her und verstehen es als ebenso notwendigen wie produktiven Bildprozess. Sie bewegen sich dabei aber auf unterschiedlichen Ebenen.90 Warburg setzt an konkreten Bildern an und betont ihre Bedeutung für das psychische Ausdrucksleben und Selbstverständnis historischer Individuen, weshalb in seinem Falle auch 88 Ebd.,

92. Ich lasse hier Kunst und Religion aus, die Cassirer darüber hinaus einführt, vgl. ebd., 92-94. 89 Cassirer: Zur »Philosophie der Mythologie« [Anm. 30], 195. 90 Entsprechend wäre auch zu zeigen, dass ihre Begriffe des Symbols voneinander abweichen, vgl. für erste, wenn auch teils irreführende Hinweise Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur [Anm. 11], 61-66. Schon Edgar Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik, in: Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme. Bildende Kunst als Zeichensystem, Band 1, Köln 1979, 165-184, hier 172-175, und Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 99-102, haben darauf hingewiesen, dass Warburgs Symbolbegriff unter dem prägenden Einfluss Friedrich Theodor Vischers steht, dessen Aufsatz »Das Symbol«, in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, 151-193, er bereits in der Dissertation zitiert; vgl. dazu ausführlicher Schindler: Zwischen Empfinden und Denken [Anm. 11], 10-33 und 61-71. Auch Cassirer hat an Vischers Überlegungen zu den distanzierten oder befangenen Haltungen des Menschen gegenüber dem Symbol angeknüpft, wie Andrea Pinotti: Symbolic Form and Symbolic Formula: Cassirer and Warburg on Morphology (between Goethe and Vischer), in: Cassirer-Studies 1 (2008), 119-135, bes. 125-132, betont; diese Anknüpfung steht aber unter neukantianischen Vorzeichen, wie Ferrari: Eine ›gef ährliche‹ Bibliothek [Anm. 2], 218-221, deutlich macht.

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von einer »Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte des Besonderen«91 gesprochen werden kann. Der Bildbegriff Warburgs reduziert sich aber keineswegs darauf, all das zu subsumieren, was er eben Bilder nennt. Vielmehr erfährt er eine darüber hinausgehende Bestimmung, da Warburg Bilder als eine Ausdrucks- und Erscheinungsform des Menschen begreift. Seine Untersuchungen fokussieren stets die Entstehung von Bildern, weil es Warburg sowohl um ihre psychische Funktion für Individuen geht, die um eine Orientierung ringen und ihr Selbstverständnis im Ausdruck finden, als auch um die komplexe Historizität, die sich zwischen der bildlichen Überlieferung und dem menschlichen Ausdruck entspinnt, der sich der überlieferten Formen und Formeln bedient, sie sich anzueignen versucht oder ihren Ambivalenzen anheimfallen kann. Der Bildbegriff Warburgs bezieht sich so auf Bilder im ganz konkreten Sinne, akzentuiert aber ihre historische Genese, um sie mit dem Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen zu verknüpfen, in einem Individuum, dessen Ausdruck Aneignung mit Auslieferung, Aktivität mit Erleiden, Befreiung mit Unterwerfung verschränkt. Der Bildbegriff, den Warburgs Analysen implizit entfalten, ist daher sehr viel abstrakter, als es zunächst erscheinen mag. Cassirer knüpft in seiner Charakterisierung des Zur-Erscheinung-Kommens des Menschen im Wortfeld des Bildes und des Bildens dagegen an einen operativen Einsatz des Bildbegriffs an, der in der Philosophie seit der Antike Tradition hat und unter dem Einfluss Kants im Deutschen Idealismus eine erneute Konjunktur erlebte. Cassirer geht mit den symbolischen Formen so zwar von »Denkformen« 92 aus, die verschiedene Weisen des Welt- und Selbstbezugs des Menschen darstellen und als Ausdruck der genuin menschlichen ›Energien des Bildens‹ zu begreifen sind; für Cassirer sind diese ›Energien‹ jedoch nur in ihrer Wirklichkeit zu fassen, d. h. in der Vielfalt der symbolischen Formen und deren mannigfaltigen Realisierungen. Er begnügt sich daher auch keineswegs mit spekulativen Überlegungen zur Kultur als Produkt des Geistes und eines menschlichen Bildens. Vielmehr organisiert er durch diesen Gesichtspunkt eine kulturphilosophische Anthropologie, die sich auf die Sichtung, Entfaltung und Synthese des kulturwissenschaftlichen Materials einlässt. Das Zur-Erscheinung-Kommen des Menschen ist daher für Cassirer kein allein begriffliches, sondern auch ein materiales Problem.93 Es entfaltet sich in verschiedenen symbolischen Formen wie Sprache, Mythos und Erkenntnis, die wiederum allein fassbar sind in der Vielfalt der Sprachen, Mythen und Erkenntnisse in ihrer jeweils geschichtlichen Entwicklung. Cassirer arbeitet so mit Hilfe der Bibliothek Warburgs eine ungeheure Menge an kulturwissenschaftlichen Dieter Wuttke: Aby M. Warburgs Kulturwissenschaft, in: Historische Zeitschrift 256 (1993), 1-30, hier 13, vgl. auch den nach wie vor lesenswerten Aufsatz Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft [Anm. 90], 165-184, bes. 169. 92 Vgl. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [Anm. 31], 34, 42 und 57. 93 Diese Beobachtung findet sich schon bei Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend [Anm. 8], 165 f., oder auch bei Pinto: Cassirer et Warburg [Anm. 2], 274 f. Die Bedeutung des kulturwissenschaftlichen Materials für Cassirers Kulturphilosophie erläutere ich ausführlich in Schubbach: Die Genese des Symbolischen [Anm. 5]. 91



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Studien auf und versucht sich an ihrer philosophischen Synthese. Diese Synthese zielt nichtsdestotrotz auf Strukturen und ›Denkformen‹ ab und gelangt nie auf eine Ebene der Konkretion, die derjenigen von Warburgs Bildanalysen vergleichbar wäre. In Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis von 1937 deutet Cassirer daher Warburgs Studien zur Bedeutung der ›Pathosformel‹ als eine Grundlage, um die historische Etablierung einer »Art Grammatik und Stilistik der Ausdrucksprache bildender Kunst, wie es beides für die Wortsprache gibt«,94 zu begründen. Es darf bezweifelt werden, ob Warburgs Arbeiten damit angemessen charakterisiert sind. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Cassirer seine kulturphilosophische Anthropologie stets in Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften und ihren historischen Materialien entwickelt hat. Warburg und Cassirer nähern sich daher von jeweils eigenen Ausgangspunkten der Anthropologie und stoßen von verschiedenen Seiten auf das Problem, wie sich das Sich-zur-Erscheinung-Kommen des Menschen zur Vielfalt seiner kulturell-historischen Erscheinungen verhält. Trotz dieser Bewegung führen die beiden Ansätze aber nicht in einen Ansatz über, weil Cassirer trotz aller Auseinandersetzung mit der Vielfalt kultureller Erscheinungen auf ihre strukturell-synthetische Beschreibung abzielt, wohingegen Warburgs anthropologische Überlegungen ihr Maß letztlich in der konkret-historischen Bildentstehung behalten. Dennoch haben sich beide auf das problematische Verhältnis zwischen der allgemeinen Bestimmung des Zur-Erscheinung-Kommens des Menschen und der Vielfalt seiner kulturell-historischen Erscheinungen eingelassen. Dieses Vorhaben erwies sich für Cassirer wie für Warburg als schwierige Herausforderung. Cassirers Aufarbeitung der kulturwissenschaftlichen Forschung strapazierte seine Arbeitskraft bis an ihre Grenzen, wie er im Vorwort des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen erklärt.95 Und Warburg hat nach dem Zeugnis Gombrichs darunter gelitten, die Kluft zwischen einer allgemeinen Anthropologie und dem einzelnen Bild in seiner historischen Genese nicht überbrücken zu können.96 Das Verhältnis zwischen der allgemeinen Bestimmung des Zur-Erscheinung-Kommens des Menschen in einer Kultur, die als Produkt seines geistigen Bildens begriffen wird, und der Vielfalt der Selbstverständnisse von Menschen, ihres historischen Ausdrucks und ihrer Ausdrucksmittel wird wohl kaum eine einfache Lösung erfahren. Es stellt vielmehr bis heute eine Herausforderung von Kulturphilosophie und Anthropologie dar, wo sie sich auf das Problem der materialen Vielfalt und der begrifflichen Einheit ihres Untersuchungsfeldes einzulassen versuchen.

Cassirer: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, hg. von Klaus Christian Köhnke und John Michael Krois, Hamburg 1999 (= ECN [Anm. 2] 2), 173. 95 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Darmstadt 1953, VII f., bzw. Hamburg 2001 (= ECW [Anm. 2] 11), X. 96 Vgl. Gombrich: Aby Warburg [Anm. 3], 110-112 und 180, sowie Friedrich Saxl: Ernst Cassirer, in: The Philosophy of Ernst Cassirer, ed. by Paul Arthur Schilpp, La Salle (IL) 1949, 47-51, hier 49. 94 Ernst

Zum Vorschein Kom men Zur Ikonik der Wahrheit Ludger Schwarte In Sinn-Welten. Welten-Sinn schreibt Wilhelm Schmidt-Biggemann: »Ob das, was wir mit Sinn meinen, wahr ist, ist nicht wichtig. Wichtig ist, daß wir das ›SichZeigende‹ wahrnehmen können. Wahr ist nicht durch ›Sein‹ zu ersetzen, sondern ist Sinn und Richtung von Sein. Dann wäre Sinn das, was ›wirklich‹ ist.«1 Ich möchte diesen Gedanken Schmidt-Biggemanns aufgreifen und insbesondere die Frage stellen, welche Bedeutung, genauer: welcher Eigen-Sinn unseren SinnWelten zukommt. Inwiefern ändert sich die Wirklichkeit, sobald es Bilder gibt?2 Bilder geben unserem Sinnen eine Richtung. Sie orientieren uns auf etwas, das zum Vorschein kommt. Sie können etwas über die Wirklichkeit begreiflich machen, das anders als in Bildern nicht mitgeteilt werden kann. Dieses Potential nenne ich die ›Wahrheitsf ähigkeit der Bilder‹. Sie bieten sich an, eine wichtige Rolle in einer Praktik der Wahrheitsfindung zu übernehmen. Dabei bedürfen Bilder spezifischer Verfahren der Verifikation, die bislang, so scheint mir, unzureichend analysiert worden sind. In der Philosophie finden sich zwei dominante Wahrheitstheorien, die in unterschiedlicher Nuancierung oft reformuliert werden. Die erste, dominante Theo­r ie geht von der Auffassung aus, dass eine Darstellung die Wahrheit über einen Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Ein Satz ist wahr genau dann, wenn das, was er über die Welt sagt, wahr ist. Ein Bild ist dann wahr, so sagt es Wittgenstein, wenn es in der Struktur seiner Elemente einen Sachverhalt korrekt widerspiegelt. Diese Korrespondenz zwischen Darstellung (Denken/Sprache) und Welt wurde ›Homoiosis‹ (bzw. ›Symploké‹) oder ›Adaequatio rei et intellectus‹ (bzw. connexio) genannt. Mit dem Wahrheitsetikett wurde daher entweder die Richtigkeit (rectitudo) oder die Gewissheit (certitudo) einer Aussage bewertet. Die zweite Theorietradition, die mit Heideggers Durchleuchtung des Begriffs ›Aletheia‹ erneut und verstärkt in die Diskussion getreten ist, versteht Wahrheit als ein Ereignis. Wahrheit geschieht: Sie tritt ans Licht, erfasst den Wahrnehmenden und nimmt ihn als Zeugen in Beschlag. Heidegger nennt dieses Geschehen ›Entbergung‹. Wahrheit ist etwas, das sich ereignet, indem sich etwas enthüllt. Für das christliche Mittelalter (in Rekurs auf Proklos, Ps. Dionysius Areopagita, AuSchmidt-Biggemann: Sinn-Welten. Welten-Sinn. Eine philosophische Topik, Frankfurt a. M. 1992, 46. 2 Der hier veröffentlichte Text entspricht dem Manuskript eines Vortrags, den ich auf Einladung der Herausgeberinnen am 1. Juli 2011 im Rahmen der Tagung »Zur-Erscheinung-­ Kommen. Bildlichkeit als theoretischer Prozess« gehalten habe. Das Manuskript ist inzwischen größtenteils in mein 2015 veröffentlichtes Buch »Pikturale Evidenz« eingeflossen. 1 Wilhelm

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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gustinus) ist Gott die Wahrheit, die sich vor allem im Licht, durch Offenbarung, Schöpfung und Illumination mitteilt. Die Epiphanie, die plötzliche Erscheinung, ist eine bildliche Variante dieses Wahrheitsgeschehens. Beide Wahrheitstheorien schließen sich nicht unbedingt aus, sondern argumentieren auf unterschiedlichen Ebenen. Mir geht es um eine dritte Möglichkeit. Ich bin mir nicht sicher, ob es für diese Frage Vorläufer im Sinne einer theoretischen Tradition gibt. In dieser dritten Variante wird nicht die Wahrheit einer Aussage festgestellt und kein Wahrheitsgeschehen bezeugt, sondern hier kommt die Wahrheit selbst zum Vorschein. Wenn ich der Wahrheit selbst ins Gesicht sehen kann, dann ist sie keine Entsprechungsrelation und kein Entbergungsgeschehen. Was kann ich über die Wahrheit selbst wissen? Wenn die Wahrheit selbst mir in körperlicher Gestalt vor Augen tritt, kann ich mich zu ihr verhalten, sie erfahren, bezweifeln, untersuchen. Gibt es tatsächlich Phänomene, angesichts derer ich zu ahnen beginne, was die Wahrheit als solche (in der Realität des Begriffs) ausmacht? Es gibt eine Tradition von Bildmotiven, die die Wahrheit zeigen. Dabei sind zwei Spielarten von besonderem Interesse, nämlich erstens: Darstellungen der Nackten Wahrheit (veritas nuda). Eine zweite, unter anderem von Fritz Saxl untersuchte Tradition der Emblematik und Malerei fasst die Wahrheit als Tochter der Zeit auf (veritas filia temporis).3 Daneben möchte ich hier auf eine dritte Art von Bildern aufmerksam machen, in denen die Wahrheit als das, was nur in Bildern zum Vorschein kommt, angesehen werden kann. Ein Bild-Körper tritt in diesen Fällen als Wahrheit auf. Und zwar nicht als Wahrheit einer Darstellungsrelation und auch nicht als Wahrheitsgeschehen. Sondern er produziert Einsichten über sich selbst wie über jeden anderen Körper; er exemplifiziert ein epistemologisches Verfahren und zeigt die Basis und die Bausteine seiner selbst. Mein Beispiel ist das Skelett. Abb. 1: François Lemoyne, Le temps sauve la verité du mensonge et de l’envie, 1737, Wallace Collection London Saxl: Veritas Filia Temporis, in: Philosophy and History, The Ernst Cassirer Festschrift, New York 1963, hg. von Raymond Klibansky, H. J. Paton, 197-222. 3 Fritz



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Skelette sind Bilder, die die Wahrheit über den Körper anzeigen. Dabei sind sie keine Theorien, Begriffe oder Modelle, sondern sie sind selbst anschauliche Körper. Dieser anschauliche Körper stützt die Vorstellung, dass die Bewegungsfunktionen auf eine Struktur zurückgeführt werden können und dass diese Struktur sich im Knochenbau manifestiert. Die Struktur möglicher Bewegungen scheint in diesem Skelett den Menschen zu überdauern wie die mechanischen Bewegungsgesetze. In der Frühen Neuzeit installiert das Skelett-Paradigma eine sichtbare, auch taktile Wahrheit. Ohne das Gerüst der Knochen, das das Skelett sichtbar macht, wäre die Vorstellung, dass der Körper eine strukturelle Einheit bildet, die wie eine Marionette von einer zentralen Instanz (dem Geist/Gehirn?) aus bewegt werden kann, völlig unplausibel. Im Gegensatz zu einem beliebigen Ding oder einem Knochenhaufen zeichnet sich ein Körper innerhalb des Skelett-Paradigmas dadurch aus, dass er nicht einfach nur koordinierte bewegliche Teile enthält, sondern dass die Einheit seiner Bewegungen durch eine Struktur unterhalb der Oberfläche gebildet wird. Jeder Körper als steuerbare Disposition hat also, dieser neuzeitlichen Vorstellung zufolge, ein Skelett. Skelette zeichnen sich auch unterhalb der meisten Bildoberflächen ab, die seit der frühen Neuzeit entwickelt wurden. Bild-Skelette steuern die Erscheinung des Bildkörpers. Derartige Bild-Skelette wären in den Techniken der Bildvorbereitung aufzuspüren, im Rahmenbau, in der Leinwandbespannung, in den Vorzeichnungen, aber auch in den Techniken der Restaurierung oder in den Medizintechniken, wie z. B. den Röntgenaufnahmen, mit denen man die unsichtbaren bzw. übermalten Tiefenschichten von Gemälden ans Licht bringen kann. Ein solcher erweiterter Begriff des Bild-Skelettes, der die Rückseiten, Grundstrukturen, Tiefenschichten und Bedingungen der Sichtbarkeit von Flächen umfasst, steht allerdings nur im Hintergrund meiner Überlegungen.4 Mir geht es zunächst lediglich um den bisher wenig beachteten Umstand, dass im 16. Jahrhundert in Basel das für unser modernes Körper-Konzept wesentliche Paradigma der Körperstruktur, die auf dem Knochengerüst beruht, geboren wurde. Das Wort ›Skelett‹ meint ursprünglich Mumie (aus dem Griechischen skeletón sóma, der ausgetrocknete Körper). Auch Mumien sind Bildkörper – viele Bilder sind mumifizierte Blicke. Erst seit der Frühen Neuzeit wird unter einem Skelett der Knochenbau, die innere, feste Struktur des Körpers bezeichnet, die man aus getrockneten, zusammengebundenen Knochen rekonstruiert. Zuvor gab es Überlegungen zur Grundstruktur des menschlichen Körpers oder auch zum Knochenbau. Diese haben aber noch wenig mit unserer Vorstellung vom Skelett zu tun. Auch auf spätmittelalterlichen Darstellungen des Todes kommt ein nach wie vor phantastisch anmutendes Knochengerüst zur Darstellung. Hier wird der Knochenbau allerdings schon als Gegenbild zum Lebendigen installiert. 4 Deleuze/Guattari diskutieren den verwandten Begriff des ›Hauses‹, den sie als Gerüst des Fleisches im Bild ins Feld führen: Vordergrund, Hintergrund, Seitenflächen. Siehe Gilles ­Deleuze/ Félix Guattari: Was ist Philosophie, Frankfurt/M. 2000, 212.

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Diese Imaginationen bilden vielleicht die kulturelle Grundlage der ersten Präparation eines Skeletts. Nachdem der berühmte Anatom Andreas Vesal 1543 in Basel unter großer Anteilnahme der Bevölkerung eine Leiche seziert hatte,5 präparierte er anschließend die Überreste mit Hilfe des Chirurgen Franz Jeckelmann und fertigte das Skelett eines Mannes. Das noch heute im Basler Anatomischen Museum ausgestellte Skelett gilt als das älteste erhaltene Anatomiepräparat der Welt.6 Die Herstellung eines Skelettes ist eine mühselige und unappetitliche Angelegenheit. Die notwendigen Methoden der Mazeration hat Vesal in seinem berühmten Buch De humani corporis fabrica detailliert beschrieben.7 Nie zuvor war das Skelett als tatsächliche Grundstruktur des menschlichen Körpers zu sehen gewesen. Das Präparat bildet eine Schnittstelle zwischen dem feuchten Biologischen und dem trockenen Apparativen eines Experimentalauf baus. Dass das Skelett ein Präparat ist, bedeutet, dass es keiner reinen Bilderfindung entspringt. Es trägt eine Bedeutung nur, weil es einem natürlichen Körper entnommen wurde. Und doch ist es Produkt der Imagination und der Technik. Im Zusammenhang mit diesen Techniken der Sichtbarmachung und der Evidenzialisierung betrachtet man es als eine Struktur, die auch ansonsten in lebendigen Körpern zu sehen wäre, wenn diese denn transparent wären.8 Doch ein Skelett ist nicht nur ein Dauer-Präparat, sondern es ist auch eine Skulptur. Anders als man heute vielleicht meinen möchte, ist ein Skelett ein höchst künstliches Produkt; denn in der freien Natur findet man höchstens einen Haufen Knochen beieinander. Nur das Skelett behauptet die Notwendigkeit einer geschlossenen Form. Diese Notwendigkeit muss um höherer Zwecke willen inszeniert werden. Abb. 2: Von Andreas Vesal fabriziertes Skelett (1543), Photographie (Anatomisches Museum Basel)

Kolb: Geschichte des anatomischen Unterrichtes an der Universität zu Basel 1460-1900, Basel 1951, 15-18. 6 Von Vesal zuvor angefertigte Skelett-Präparate sind verschollen. So Hugo Kurz: Die ältesten Skelett-Präparate der Welt, in: Anatomisches Institut 1 (1992), 9. 7 Vgl. Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica libri septem. Basel 1543, § 39, 155-162, »Quo artificio humani corporis ossa et cartilagines inspectioni praeparentur«. Die Präparation von Kadavern für Skelettstudien beschreibt bereits Alessandro Benedettis Historia corporis humani; sive Anatomice (1498-1502), Buch 5, Kapitel 23. Einen späteren Überblick über die Skelettpräparation bietet Gottlieb Metius, »De construendo sceleto (1736)«. Disputationum anatomicarum selectiorum volumen VI, hg. von Albertus von Haller, Göttingen 1751, 47- 85. 8 Zum Begriff des Präparates siehe Hans-Jörg Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, Frankfurt a. M. 2006 und ders.: Schnittstellen. Instrumente und Objekte im experimentellen Kontext der Wissenschaften vom Leben, in: Instrumente in Kunst und Wissenschaft, hg. von Helmar Schramm u.a., Berlin 2006, 1-21. 5 Werner



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Als Skulptur zeigt das Skelett das dreidimensionale Bild des Knochenbaus. Es macht etwas sichtbar, was ansonsten unsichtbar bliebe. Das Skelett zeigt die Basis der Neigungen, Bahnen und Zwänge. Die ersten, von Vesal und seinen Helfern kunstvoll zusammengebundenen und aufgestellten Knochen sind jedoch nicht einfach Medien eines abstrakten Knochenbildes. Es handelt sich vielmehr um die Überreste eines Menschen namens Jacob Karrer, der zuvor enthauptet worden war, was man dem Skelett heute noch ansieht. Das Skelett wurde nicht nur als Lehrstück ärztlicher Kunst, sondern auch als Erinnerung und Ermahnung im Universitätsgebäude ausgestellt. Die Baszler Chronick von 1580 spricht noch nicht vom Skelett, sondern vom »aufgesetzt Menschen Beinwerck im Collegio.« 9 Das Skelett ist weder ein Standbild des Jacob Karrer, noch ist es eine bloße Illustration des menschlichen Knochenbaus. Es zeigt eine mögliche Ansicht eines wirklichen Körpers, zeigt sie als Konfiguration heterogener Materialien. Die Anatomischen Museen sind voller Leichenteile konkreter Menschen, meist anonymisiert (bei pathologischen Mustern heißt es zuweilen: Abb. 3: Detail: Halswirbel von Lunge eines Arbeiters, 52 Jahre). Es sind Mauso­Vesals Skelett (i. e. Jacob K ­ arrer). leen, die alles daran setzen, aus dem Singulären Photographie (Anatomisches den Fall, aus dem Fall das universelle Muster he- ­Museum Basel) rauszuarbeiten. Trotz individueller Eigenheiten, inklusive der Spuren, die das Schwert des Scharfrichters hinterlassen hat, soll sein Skelett nun nicht mehr Jacob Karrer darstellen, sondern den Knochenbau eines universell vorgestellten Menschen. Dies ist nur möglich, insofern das Skelett gerade nicht das Abnorme dieses Kriminellen, sondern die anatomische Grundstruktur, die allgemeine Disposition jedes Menschen hervorkehrt. Das Skelett wird aus dem Sterblichen abstrahiert und besteht doch aus Elementen eines konkreten Körpers. Dass das Skelett als Skulptur aus präparierten, von Drähten, Fäden und Eisenstäben zusammengehaltenen Knochen eines konkreten Menschen eine Zwischenstellung zwischen Natur und Artefakt einnimmt, wird noch deutlicher am ersten weiblichen Skelett, das wenige Jahre nach Vesal, ebenfalls in Basel, Felix Platter hergestellt hat. Wahrscheinlich bei einer Anatomie (ca. zwischen 1558 und 1573) hat Platter das Skelett einer Frau präpariert, deren Name nicht bekannt ist. Während dieser Leichensektion im anatomischen Theater der Universität Basel setzte Platter den Bau des menschlichen Körpers und sich selbst in Szene. Anschließend fertigte er aus der Leiche ein stehendes Skelett. Christian Wurstisen: Baszler Chronick von 1580, über »Anno 1543, den 12 Mai.« Zitiert nach Hugo Kurz: Die ältesten Skelett-Präparate [Anm. 6], 10. 9

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Ludger Schwarte Abb. 4: Von Felix Platter fabriziertes Skelett (1573?), Photographie (Anatomisches Museum Basel)

Das Skelett dieser Frau ist zu einem großen Teil bis heute erhalten. Platter schenkte es 1573 zusammen mit den Skeletten eines Affen und eines Kindes der Universität, in deren Aula es zusammen mit dem Skelett aus der Vesal’schen Anatomie von 1543 aufgestellt wurde. Damit unterstrich Platter die Nähe zu Vesal, verbunden mit dem Anspruch auf ganz besondere Kenntnisse über die spezielle körperliche Verfasstheit der Frau. Allem Anschein nach war es dieses konkrete Skelett einer unbekannten Frau, auf das Platter eine kleine Revolution in der Geschichte der anatomischen Darstellung der Geschlechterdifferenz gründete. Denn im Jahre 1583 veröffentlichte Platter in seinem ersten großen anatomischen Werk De corporis humani structura et usu10 eine Abbildung des Skeletts einer erwachsenen Frau (sceletòs mulieris adultae). Mit seiner Abbildung verfolgte Platter das Ziel, jene Merkmale zu beschreiben und bildlich darzustellen, durch die sich das weibliche Skelett vom männlichen unterschied. Diese Unterschiede wurden mit den Buchstaben A bis M gekennzeichnet und auf der gegenüberliegenden Seite erläutert. Die von Platter gefundenen spezifischen Merkmale des weiblichen Skeletts betrafen das Becken, den Brustkorb, das Brustbein, die Wirbelsäule und den Schädel. Platter ging von einem grundsätzlich eigenständigen Knochenbau der Frau aus. Sein weibliches Skelett wurde, wie Michael Stolberg gezeigt hat, dessen Forschungen zu Platter ich hier folge, zum Paradigma der weiblichen Anatomie.11 Platters Liste von geschlechtsspezifischen Merkmalen des weiblichen Skeletts wurde bald kanonisch. Manche Autoren widmeten der Frage ganze Kapitel. Noch die Encyclopédie folgte 1765 Platters Auf listung bis ins Detail.12 Abb. 5: Weibliches Skelett, aus: Felix Platter, De Corporis Humani, Buch 3, Tafel II Platter: De corporis humani structura et usu libri III, Basel 1583. Michael Stolberg: A Woman Down to Her Bones, The Anatomy of Sexual Difference in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: ISIS 93 (2003), 274-299; und Michael Stolberg: Eine anatomische Inszenierung. Felix Platter (1536-1614) und das Skelett der Frau, in: Spuren der Avantgarde. Theatrum Anatomicum, hg. von Helmar Schramm (u. a.), Berlin 2011, 147168. 12 Artikel »Squelete«, in: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 15, Paris 1765, 482 f. 10 Felix

11



Zum Vorschein Kommen199 Abb. 6: Weibliches Brustbein mit herzförmigem Loch, aus: Platter, De Corporis Humani structura et usu, Buch 3, Tafel VIII, Fig. VIII

Die von Platter und seinen Nachfolgern behaupteten anatomischen Unterschiede zwischen Mann und Frau scheinen eine natürliche Bestimmung der Frau zur Mutterschaft hervorzuheben. Dies zeigt Platter vor allem am Brustbein. Platter erklärt das Struktur-/Funktionsgefüge (structura et usu) folgendermaßen: Das herzförmige Loch im Brustbein ist notwendig, damit die Gefäße den milchspendenden Brüsten das nährende Blut zuführen können. Gerade das weibliche Brustbein mit dem herzförmigen Loch nimmt denn auch in den Darstellungen eine besonders prominente Stellung ein – obwohl es auch Platter zufolge nicht bei allen Frauen zu finden war. Die Mutterliebe, so konnte der Betrachter mit eigenen Augen sehen, war der Frau buchstäblich in den Leib geschrieben. Mit Hilfe einer höchst realitätsgetreu anmutenden visuellen Darstellung konnte Platter seinem weitgehend fiktiven Befund faktische Evidenz verleihen. Das Bild eines weiblichen Brustbeins mit herzförmigem Loch gebar eine Tradition, die immerhin über 200 Jahre (bis zu den Arbeiten Sömmerings) das Bild vom weiblichen Skelett beherrschte.13 Die maßgebliche materielle Grundlage seiner Befunde existiert heute noch, in Form jenes Frauenskeletts Platters nämlich, das er zunächst offenbar zu Hause aufstellte und später der Universität übergab. Noch heute ist es im Basler Anatomischen Museum zu sehen. An diesem Frauenskelett zeigt sich tatsächlich eine derartige, extrem seltene Veränderung, die sich als herzförmig beschreiben ließe. Die ungewöhnlich geformte Spaltbildung im unteren Brustbein, die Platter an der von ihm sezierten Frau fand, war eine zufällig aufgefundene Anomalie. In der Abb. 7: Unteres Brustbein des von Abbildung stellte Platter den Spalt im unte­Platter präparierten Skeletts einer Frau, ren Brustbein der sezierten Frau nicht nur Anatomisches Museum, Basel wesentlich größer dar als für heutige Augen (Photo: Michael Stolberg) 13 Samuel Thomas Soemmering: Tabula Sceleti femini iuncta descriptione, Frankfurt/M. 1797. Vgl. auch Londa Schiebinger: Skeletons in the Closet: The First Illustrations of the Female Skeleton in Eighteenth Century Anatomy, in: Representations 14 (1986), 42-82.

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auf dem überlieferten Skelett sichtbar, sondern machte ihn einem Herzen noch erheblich ähnlicher. Während Platters gedruckte Abbildung die Vorstellung von der skeletalen Disposition zur Mutterschaft evident machen sollte, präsentierte die Universität Basel das Skelett mit einem anderen, dreistufigen Auftrag: Die Skelettpräparate Vesals und Platters wurden 1573 einem Schrank in der Aula aufgestellt, in einem schmalen, kapellenartigen, Brabeuterium genannten Gebäude, das ca. 1460 errichtet wurde (dort, wo die Terrasse zum Rhein hin abfällt), aber heute nicht mehr existiert. Die Schranktüren enthielten lateinische Inschriften, unter anderem mit folgender Ermahnung: »Damit man sie nicht als blosse Schaustücke des Genusses wegen betrachte, sondern dass die Frommen und Guten angesichts dieses Beweises ihrer Sterblichkeit zur Unsterblichkeit angespornt werden, die Erforscher der Natur jedoch die Unterschiede von Geschlecht und Alter ohne Mühe an den menschlichen Skeletten beobachten und sich einprägen können.«14 Das Skelett sollte sich folglich der ästhetischen, der moralischen und der naturwissenschaftlichen Betrachtung anbieten. Diese drei Ebenen der Betrachtung werden in dieser Inskription als Steigerungsformation geschildert. Wichtig erscheint mir, dass die Beobachtung und das Erlernen (exercere) der Alters- und Geschlechtsunterschiede hier nur insofern auf einem Studium der Natur beruhen, als sich die Betrachtung tatsächlich auf ein Präparat aus menschlichen Knochen und nicht aus irgendeinem anderen, visuell identischen Material richtet. Das Bild, das als Wahrheit vor Augen steht und sich zur Untersuchung darbietet, kann nicht auf eine bloße strukturäquivalente Darstellung reduziert werden. Von dieser lokalen Wissenschaftshistorie aus stellen sich mehrere bildtheoretische Fragen: a) Inwiefern ist die Materialität nicht nur beim Präparat, sondern bei Bildern überhaupt relevant? b) Was trägt die Analyse des Skeletts zu einem Verständnis des Bild-Körpers bei? c) Impliziert die Analyse von Bild-Körpern einen spezifischen Wahrheitsbegriff ? Zu a) Es ist leicht nachzuvollziehen, dass ein Präparat aus echten Menschenknochen zu Studienzwecken, zumindest in der frühen Neuzeit, epistemisch relevanter ist als eine künstliche Replik, sei sie auch noch so detailgetreu. Das Präparat zeigt die konkreten Elemente der Grundstruktur, die für gewöhnlich den Anblick des Körpers trägt und sich darunter zuweilen abzeichnet. Wirkliches Körpermaterial in sinnhafter Auf bereitung: Darin unterscheidet sich das Skelett von den Zeichnungen des Knochenbaus, die Vesal publiziert hat. Das Skelett ist ein Sichtbarkeit, Plastizität und Evidenz erzeugendes Gebilde. Ähnlich wie später eine Röntgenphotographie stellt es das Bild eines konkrein: Hugo Kurz: Historische Schätze. Einmalige Exponate im Anatomischen Museum Basel, Basel 2005, 28. 14 Übersetzung



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ten Menschen dar, wird jedoch aufgestellt, um die allgemeine Grundstruktur des menschlichen Körperbaus zu zeigen. Es ist insofern in doppelter Hinsicht Bild. Im ersten Fall ist es eine künstlich hergestellte Ansicht eines (vormals) lebendigen Körpers; und man kann sich fragen, inwiefern er in dieser Bildform, verwandt den Totenmasken und Mumien, wie auch immer minimal, weiterlebt. Im zweiten Fall materialisiert es modellhaft ein Konzept und macht es anschaulich und manipulierbar. Im Skelett treffen beide Bewegungen zusammen. Und doch ist das Skelett mehr als diese Fallunterscheidungen suggerieren. Wie die herzförmige Anomalie des weiblichen Brustbeins gezeigt hat, ist ein Skelett nicht nur die Darstellung von Jemandem oder Etwas. Genauso wenig geht das Porträt einer Landschaft oder eine beliebige Röntgenphotographie in dem auf, was sie erkennen lässt. Bilder sind zunächst eigensinnige Materialkonfigurationen. Zu b): Die Analyse des Skeletts zeigt uns daher, dass wir auf die konkrete Materialität eines Bildnisses achten müssen, um seine Darstellungsleistung zu verstehen. Sie zeigt darüber hinaus, dass das, was als Bildnis zählt, beeinflusst ist vom Körperbegriff, in diesem Fall von der Struktur-/Funktions-Analogie der Anatomie. Das Skelett wird als Standbild überhaupt nur hergestellt, weil es die Grundstruktur transparent macht, aus der die Erscheinungsweisen eines Körpers abgeleitet werden können. Als Bild-Skelett ließe sich folglich die Präsentation einer Struktur verstehen, auf der die Kinesis von Phänomenen beruht. Ein Bild-Skelett, die innere Struktur eines Bildes, die seine Bewegungen und Ansichten funktional erklärbar macht, muss immer dann unterstellt werden, wenn man ein Bild von seinem Medium unterscheiden und dieses Bild als Konfiguration von Sichtbarem beschreiben will. Ohne Bildskelett stünde man also nur vor einer beliebigen Farb-Dispersion oder vor einer beliebigen Anhäufung von Ansichten. Das Bild-Skelett ist nicht zu verwechseln mit einer Intention. Das Bildskelett strukturiert die sinnliche Gestalt und die Bewegung des Bildes selbst; es bedingt die Möglichkeit des Erscheinens, Zeigens, Darstellens. Ein solches Grundgerüst von Bildlichkeit zeigen beispielsweise auch die Mobiles von Alexander Calder. Zu c) Von dort aus lassen sich Merkmale der spezifischen Körperlichkeit von Bildern bestimmen. Allgemein ließe sich sagen, dass Bilder immer auch Präsentationen von Körpern sind und als solche unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Innerhalb des ›anatomischen Bildregimes‹ wird diese Körperlichkeit der Bilder aus Strukturelementen aufgebaut, die eine ›Einheit von Bewegung und Wahrnehmung‹ konfigurieren. Das Gerüst des Körpers, der Körperbau, das Skelett, wird in den Bildpraktiken meist als Bildträger oder Medium konzipiert. Das anatomische Bildregime prägt auch noch die meisten aktuellen Bildtheorien. Diese sind sich darin einig, dass Bilder sichtbare ›Strukturen‹ sind, die sich von den Bildträgern als ihren Medien abheben. Damit etwas ein Bild ist, muss die Wahrnehmung, diesen Theorien zufolge, eine solche Struktur erkennen. Das heißt, sie muss das Bild aus der Masse visueller Information ›herausschneiden und präparieren‹. Das Herstellen eines Bildes erscheint aus dieser Sicht, die ­neben Husserl von Fiedler,

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Sartre und neuerdings von Wiesing vertreten wird, als »Entkörperlichung«.15 Eine nur sichtbare Formrelation, z. B. die Struktur eines Gesichts, wird in der Wahrnehmung generiert. Das, was die sezierende Sicht zerschneidet, ist das physische Ding: die Zeichnung, der Druck, die Photographie, das Gemälde, das Standbild, der Film. Die meisten aktuellen Bildtheorien disqualifizieren das physische Bild als bloßen Bildträger, als Medium, und weisen, wenn sie die Medialität des Bildes diskutieren, meist auf das Bild-Skelett, die bereits herauspräparierte Struktur von optischen, formgebenden Elementen. Die Rede vom Medium, vom Bildträger, bezieht sich somit auf das, womit Sichtbarkeit hergestellt wird. Dieses sogenannte Medium des Bildes ist das Skelett seiner Sichtbarkeit. Das Skelett-Paradigma wirkt sich in diesen Bildtheorien folglich dadurch aus, dass es die Auffassung unterstützt, das Bildding ließe sich in Form und Medium zerteilen. Diese Auffassung nennt Bildträger oder Medium all das, was die Fokussierung auf dargestellte Objekte materiell unterstützt. Das Aufweisen einer Struktur/Funktionsbeziehung zwischen Bildträger und Darstellung scheidet jedoch auch all das als vernachlässigenswert aus, was den Hintergrund, den Untergrund, die Ränder, die Oberfläche und die Unsichtbarkeit dieser Darstellung bildet. Anstatt nun das Bildskelett als Träger der dynamischen Bilderscheinung herauszupräparieren, ziehe ich es deshalb vor, auch die unbestimmten physischen Grundschichten als Teil dessen, was uns als Bild erscheint, zu begreifen. Die vorherrschenden anthropologischen, semiotischen und phänomenologischen Bildtheorien sehen von diesen scheinbar bedeutungslosen Grundschichten systematisch ab. Doch wie wir am Beispiel des Skelettes gesehen haben, können nur diese Grundschichten uns helfen zu verstehen, wie wir überhaupt etwas sehen, wie wir etwas neu, anders und richtig anzusehen haben und warum wir etwas falsch gesehen haben. Deshalb schlage ich vor, das Bild nicht als gesehene Struktur, sondern als ein Ding zu analysieren. Diesem Bildding sind bestimmte Eigenschaften oder Gestaltungsmerkmale zu eigen, die es von anderen Dingen unterscheiden und die auf besondere Weise wirken.16 Das Bildding lässt sich meiner Auffassung nach annäherungsweise bestimmen durch drei Merkmale, nämlich Materialität (Farben und Textur), Dimensionalität (Begrenztheit und Flächigkeit) und Licht (Beleuchtung, Glänzen und Schatten). Dies zumindest sind Eigenschaften, durch die sich Bildnisse in der Regel von anderen Dingen abheben. Für das Bildding ist weder die Darstellung noch die Sichtbarkeit bzw. das Bildbewusstsein konstitutiv. Ein Ding ist weder aufgrund dessen Bild, dass es jemand als Bild anblickt, noch nur aufgrund der Tatsache, dass es etwas zeigt, sondern vor allem, weil es ein von einer Situation geprägtes Ding ist, das 15 Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz, Frankfurt/M. 2005, 32; unter Bezugnahme auf   JeanPaul Sartre: Offizielle Porträts (1939). 16 Hierzu ausführlicher vom Verf.: Die Wahrheitsf ähigkeit des Bildes, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 53/1 (2008), 107-124.



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durch die Ausstellung dieser Spuren ein eigentümliches Spiel mit unserer Wahrnehmung anfängt. Das Bildding stellt ein Reservoir möglicher Ansichten aus. Das bildliche Verkörpern ist ein räumlicher Figurationsprozess, bei dem heterogene Elemente in eine wie auch immer visuell überraschende Konstellation treten, deren Einheit meist durch Materialität, Dimensionalität und Licht hergestellt wird. Bevor sie als transparentes Medium fungieren können, müssen Bilder als Dinge im Raum aufgefasst werden, die unsere Wahrnehmung irritieren.17 Als Verkörperungen sind Bilder Präsentationen einzigartiger Einblicke. Dabei ist das Sich-Zeigen eines Bilddings von der Wahrheit einer Aussage und dem factum brutum, der bloßen Tatsache, zu unterscheiden. Denn im Unterschied zur reinen Aussagenwahrheit und zur bloßen Tatsache gewährt die zum Vorschein kommende Wahrheit das Sich-Zeigen unvordenklicher Dinge in einer Situation. Max Imdahl nannte Ikonik die Eigenlogik des Bildes, unterhalb von Ikonologie und Ikonographie. Er zielte mit diesem Begriff auf die Logik des Bildsinns, d. h. eines Sinns, der sich nur durch die Anschauung eines Bildes vermittelt.18 Die Ikonik fordert eine Reflexion auf das, was nur dem Bild möglich ist, zum Beispiel »evidente szenische Simultaneität« oder eine »szenische Konfigurationsfigur«, wie Imdahl sich ausdrückte. Der Sinn des Bildes, sein Erscheinen, ist nicht identisch mit dem, was zur Erscheinung gebracht wird, sondern lenkt den Blick auf die Bedingungen der Sichtbarkeit. Eine Ikonik der Wahrheit, so meine These, könnte das umdrehen, was die Sprachphilosophie die Entsprechungsrichtung nennt: Nicht die Aussagen entsprechen der Welt und machen sie beurteilbar, sondern die Welt ermöglicht ein Urteil über Aussagen. Die Eigenlogik der Bilder hat daher auf der Ebene der Gestaltung von Dingen anzusetzen und nicht erst dort, wo uns eine erkennbare Struktur erscheint. Auch für Theodor Adorno sind Bilder zunächst Dinge. Es sind »Dinge, in denen es liegt zu erscheinen«. Mit dem Erscheinen eines Nichtseienden ist für Adorno ein objektiver Wahrheitsanspruch verbunden, da, was erscheint, auch möglich sein muss. Die Erscheinung nennt Adorno bekanntlich »apparition«. Diese apparition unterscheidet er vom Erscheinenden wie auch vom Abbild. Eine Zündung, ein Auf leuchten, so muss man Adornos Theorie rekonstruieren, führt bestimmte Dinge in einem immanenten Prozess dazu, eine Erscheinung (apparition) zu hervorzubringen, vergleichbar dem Sternenhimmel oder einem Feuer­ werk. Die Konfiguration des Erscheinenden innerhalb dieser Erscheinung nennt Adorno auch Geist. Gemeint ist »die Lichtquelle, durch welche das Phänomen er17 Zu

dieser Entgegensetzung der Visualität des Bildes zur Visibilität, siehe Georges DidiHuberman: Devant l’image, Paris 1990. Die Imagination der Betrachter wird von diesem Fremdkörper angezogen und destabilisiert. 18 »Thema der Ikonik ist das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist.«, Max Imdahl: Ikonik, Bilder und ihre Anschauung, in: Was ist ein Bild, hg. von Gottfried Boehm München 1994, 300. Als Beispiele nennt Imdahl die »evidente szenische Simultaneität« (ebd., 308) und die »szenische Konfigurationsfigur« (ebd. 310). Vgl. auch Max Imdahl: Giotto, Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1996, 93 ff.

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glüht« und »die Kraft der Objektivation«, die das Feld der Erscheinung durchzieht und die Erscheinungen konfiguriert. Dieser durch das Artefakt in der Erscheinung evozierten Konfiguration steht dann eine subjektive Erfahrung gegenüber, die ihrerseits Bilder einbringt, die, so Adorno, »nicht Bilder von etwas sind« und gerade deshalb »kollektiven Wesens«.19 Bilder sind Versuche, die apparition, das Aufleuchtende, das Angerührtwerden, zu bannen. Adorno folgend könnte man fünf Ebenen der Bildgenese unterscheiden: Vom Ding zur Erscheinung (1), von der Erscheinung zum Erscheinenden (2), vom Erscheinenden zur Konfiguration (3), von der Konfiguration zur Bilderfahrung (4), von der Bilderfahrung zur Abbildung (5). Die Explosion dieser Erscheinung, das Schockhafte, legt das Wesen der Erscheinung als solche erst ganz frei. Nach Ador­nos Meinung gelingt dies nirgends unmissverständlicher als in den Bildern von Wols. Was wir als Abbildung erkennen, beruht folglich auf einem Prozess, in dem ein Ding aus der funktionalisierten Dingwelt hinaustritt und ein explosives Bild erscheinen lässt, in der eine Möglichkeit des Dings zum Vorschein kommt. Unsere Sinn-Welten ändern sich, sobald es Dinge gibt, die uns das Zum-VorscheinKommen entgegen halten. Das Zum-Vorschein-Kommen ist eine Bewegung, die das Vorscheinen vorbereitet. Das Vorscheinen umfasst das, was im Griechischen als ›Apophainein‹ und ›Eklampein‹, im Lateinischen als ›Apparere‹, ›Comparire‹ und ›Lucere‹ begriffen wird, auch die ›Exhibitio‹, ›Editio‹ und ›Praesentia‹. Dass etwas zum Vorschein kommt, muss nicht bedeuten, dass es zuvor verborgen war, wie der Mond, der hinter den Wolken zum Vorschein kommt. Was vorscheint (lucet), kündigt etwas, einen Anfang, Auftritt oder Aufgang, an. Was zum Vorscheinen kommt, beginnt zu leuchten und ist doch noch nicht zu sehen (videtur). Noch nicht im vollen Sinne existent, noch nicht einmal völlig als Schein wahrzunehmen, tritt es bereits plastisch hervor, offenbart sich als etwas, das erst ankommt und bald in die Gegenwart treten wird. Was zum Vorschein kommt, wird zukünftig sichtbar und scheint jetzt in einem noch defizienten Modus, wie ein Blinzeln, Schimmern oder Schillern. Es ist bereits erkennbar, aber noch in einer Vorform, die sinnliche Wirklichkeit und imaginäre Möglichkeit verbindet. Etwas tritt als Möglichkeit auf und bietet sich dem Auge dar. Es wirkt bereits, es kann sich als etwas Gutes oder Schädliches erweisen, es kann sich verraten, wie ein Schatten an der Wand, eine Fußspitze, die unter einem Vorhang hervorlugt oder die Vorzeichen eines großen Ereignisses. Was sich auf diese Weise als Vorform, als Larve eines Phänomens andeutet, leuchtet auf, macht sich bemerkbar, auch wenn es noch nicht als Konfiguration gesehen wird.20 Zwischen dem Vorschein und der Erscheinung liegt das Schimmern, Blenden und Schillern ebenso wie das Abschatten und Dissimulieren; es sind Fähigkeiten der Dinge, mehr oder weniger oder auch etwas völlig anderes zu werden, als sie sind. Das Zum-Vorschein-Kommen, mit dem ein Bild aus dem Ding heraustritt, beleuchtet die Konstituentien der Sichtbarkeit. 19

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 133. hierzu: Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, Frankfurt/M. 1984, 105.

20 Vgl.



Zum Vorschein Kommen205

Es gibt Bilder, die eine Wahrheit oder gar die Wahrheit rein visuell erfahrbar zu machen vermögen, auch wenn wir sie noch nicht sehen und entziffern können. Das Zum-Vorschein-Kommen stellt diese Wahrheitsfähigkeit plastisch vor Augen. Dadurch wird der Wahrheit eine Wirklichkeit eröffnet.

Der Denk er und seine Erscheinung

Das ›Auto-Icon‹ als Theorievehikel, oder: Jeremy Bentham als ›endurance artist‹1 Mirjam Schaub Für Wilhelm mit Dank für ein vermutlich längst vergessenes Telefonat, das mich für die Philosophie gerettet hat!

Philosophen interessieren uns als Denker, nicht als Körper. Wenn doch, dann im Zuge von Kriminalgeschichten – wie bei René Descartes, weil ein abgetrennter Schädel mit Inschriften (lateinisch und schwedisch), rubinroter Urin und eine mögliche Arsenvergiftung durch einen Papstgesandten die Neugierde schüren.2 Nach über zweieinhalb Tausend Jahren Philosophiegeschichte kann sich die Nachwelt gut mit einer Handvoll zweifelhafter Knochen abfinden. Denn jenseits der Phrenologie gilt der Schluss von der Schädelform auf die Brillanz des Denkers als die traurigste aller spekulativen Unternehmungen. So mag es ein zu Recht kaum bekanntes Faktum geblieben sein, dass von allen Philosophen, deren Texte wir bis heute studieren, uns ein einziger ihrer Körper ›in voller Montur‹ erhalten geblieben ist: mit Strohhut auf dem Kopf, breitbeinig auf seinen Stock gestützt, wochentags immer von 9 bis 18 Uhr anzusehen, in einer viel frequentierten Durchgangshalle des University College of London ( UCL). Abb. 1: Entwurf für das Frontispiz zu William Carpenter, The Rights of Nations: a treatise on representative government, despotism, and reform, in which political institutions are deduced from philosophical principles and systematized, London 3 1 Dieser

Text gründet auf einer Reihe von Vorträgen, die ich seit Mai 2010, zuerst an der

LMU München, später in Düsseldorf, Rostock, Hamburg, zum Thema gehalten habe. Eine

längere Fassung dieser Überlegungen ist, mit anderer theoretischer Rahmung, unter dem Titel »Vom Nachleben der Theorie im Kunstraum – sowie umständehalber das des Theoretikers als Auto-Ikone«, erschienen, in: The Beauty of Theory. Zur Ästhetik und Affektökonomie von Theoriebildung, hg. von Joachim Küpper, Markus Rautzenberg, Mirjam Schaub und Regine Strätling, München 2013, 185-212, besonders S. 201–207. 2 Vgl. hierzu Eike Pies: Der Mordfall Descartes, Solingen 1996; Russell Shorto: Descartes Bones. A Skeletal History of the Conflict Between Faith and Reason, New York 2008. 3 Zeichnung von William Henry Hunt (1790-1864), eingraviert von T. A. Dean (fl. 17731840), 145x95 mm, Courtesy of Senate House Library, University of London.

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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Mirjam Schaub

Abb. 2: Installationsphotographie aus dem Jahr 1948 (anonym), welche die Ausstellungsweise des Vorkriegszustandes dokumentiert. Das Foto ist in der Vitrine des University College of London ( UCL), rechts hinter dem ›Auto-Icon‹, zu sehen.4

Jeremy Bentham (1748-1832), der Erfinder des Utilitarismus, wurde nach der von ihm ausdrücklich gewünschten, öffentlichen Sektion nicht beerdigt, sondern sitzt bis zum heutigen Tag in einem auf klappbaren Schrank. Benthams Skelett ist ausstaffiert mit Holzwolle, Lavendel, naphthalinhaltigen Mottenkugeln und Strohpolstern und trägt, neben Handschuhen und Puschen, Benthams Lieblingsrock. Ob die sprichwörtliche Exzentrik der Engländer als Erklärung hierfür reicht? Die nebenstehende Wandvitrine bietet zur Auf klärung ausgerechnet ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Photo von 1948 an, das mit großer Selbstverständlichkeit nicht nur einen, sondern zwei Köpfe zeigt: einen wächsernen mit Hut und einen geschrumpften ohne Hut, wie das Haupt Johannes der Täufers zwischen Benthams Beinen platziert, einer echt, einer falsch, einer ähnlich, einer unähnlich, beide offenbar mit Echthaar des Philosophen drapiert.5 Unsicher, was damit anzufangen sei, wurde das seltsame Schaustück nach 18 Jahren als ›Attraktion‹ (attraction) im Behandlungszimmer von Dr. Southwood Smith (bis 1850) dem University College London ( UCL) geschenkt und dort zunächst für über 40 Jahre weggeschlossen, bevor man sich zu seiner Exponierung entschloss. Mal fand es sich im Aufenthaltsraum der Professoren der UCL (als Professor unter Professoren) wieder, mal in der Bibliothek (als Kopf zu all seinen dort lagernden Manuskripten), mal zur Restaurierung im anatomischen Museum, bevor es in ei4

Abb. 2 nach C. F. A. Marmoy: The ›Auto-Icon‹ of Jeremy Bentham at University College, London, in: Medical History, 2 (1958), London 77-84, hier Figur 2 [ohne Seitenangabe]. 5 Überliefert ist, dass nach der Untersuchung des Auto-Icon durch George Thane und T. W. P. Lawrence am 3. Januar 1898 Folgendes geschah: »Bentham’s head was removed from the auto-icon’s rib cage and transferred to a separate box. Then for a time it was on display at the feet in its display cabinet.« – James E. Crimmins: Jeremy Bentham’s Auto-Icon and Related Writings, Bristol 2002, 17; mit Rekurs auf C. F. A. Marmoy: The ›Auto-Icon‹ of Jeremy Bentham at University College, London, in: Medical History, 2 (1958), 77-86, hier 84.



Der Denker und seine Erscheinung209

ner viel frequentierten Durchgangshalle gegenüber einer ähnlich gestalteten Telefonzelle (heute ohne Telefon und verschlossen) als Freud’sches ›Übergangsobjekt‹ seine vorläufig letzte Aufnahme fand. Als Teil eines beweglichen Ensembles mit Rollen kann die Box die Räume wechseln und tut dies auch, besonders zu runden Geburtstagen der Institution, die es beherbergt. Die UCL hat dafür eine lupenreine Sprachregelung gefunden: »Jeremy Bentham – present, but not voting.« 6 Seinen BetrachterInnen verlangt das humanoide Artefakt durch die Jahrhunderte hinweg ›emphatische Zeugenschaft‹ 7 ab. Seine Gegenwart ist schockierend, gerade weil es sich nicht in einem eigens dafür ausgewiesenen Kunstumfeld befindet. Der nur zu einer Seite hin offene Rollkasten, der abends verschlossen wird, treibt das Spiel mit dem Theater des Eigenen und dem Problem der ›Vierten Wand‹ auf die Spitze. Theatralisch und antitheatralisch zugleich ist es für uns, die ZuschauerInnen, gedacht, doch es braucht auch Pietät für sich selbst. In seiner »unwahrscheinlichen Evidenz« 8 (Niklas Luhmann), wahlweise als Edward Craig’sche ›Super-Marionette‹9 oder als wächserner Votivkopf, wie von Aby Warburg gepriesen, berührt das gruselige Artefakt Kunst- wie Theaterwissenschaft; als verunfallter Schrumpf kopf10 betrifft es Ethnologie, Religion und Philosophie. Mich treibt dabei vor allem eine Frage um: Lässt sich das ›Auto-Icon‹ auch als Theorie-Vehikel auffassen?11 Was zeigt uns das Schaustück, was uns Benthams Philosophie nicht sagen kann? Was kommt in Gestalt des humanoiden Artefakts Neues und Anderes zum Vorschein, was uns die Texte nicht schon lehren? Was tritt vom, nein: am Denker Bentham so mit 180-jähriger Verspätung in Erscheinung? Was, wenn diese Erscheinung sich als eine Anmaßung, vielleicht sogar Sakrileg entpuppte? Als Sozialreformer und ›radical philosopher‹ wollte Bentham offenkundig die Diskrepanz von Theorie und Praxis selbst einreißen, um den ultimativen Nachweis der Richtigkeit seiner utilitaristischen Glücksformel (the greatest happiness of the greatest number) zu erbringen. Um seine unerhörten Theorien in die Zukunft zu tragen, musste er sich also etwas einfallen lassen, was nicht minder radikal als eben diese wäre. Denn Benthams Utilitarismus lässt sich nicht schlichtweg auf das fiktive Hochrechnen des Glücks der größten Zahl reduzieren, indem man der Gesellschaft und jedem Einzelnen zwei einfache Regeln auferlegt: die Verpflichtung   6 So

vermerkt es die offzielle Webseite des University College of London ( UCL): http:// www.ucl.ac.uk/Bentham-Project/who/autoicon (letzter Zugriff 5. Oktober 2015).   7 Juliane Rebentisch, Stanley Cavell paraphrasierend, in: dies., Ästhetik der Installation, Frankfurt/M. 2003, hier 33.   8 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, hier 191.   9 Edward G. Craig: Über die Kunst des Theaters, Karlsruhe 1970, hier 66 f. 10 Der angefertigte Wachskopf wurde notwendig, weil die korrekte Präparierung von Benthams Kopf schon wenige Tage nach der Sektion scheiterte (dazu gleich mehr im Fließtext). – Vgl. Auto-Icon; or, Farther Uses of the Dead to the Living. A Fragment. From the MSS. of Jeremy Bentham, printed but not published, ca. 1842, wahrscheinlich durch John Hill Burton, Exemplar der Bibliothek der UCL , 1-21, hier 2. 11 Bentham hinterlässt der Nachwelt ein 40.000-seitiges Konvolut unfertiger, ziemlich verrückter Manuskripte.

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zu Eigennutz und Transparenz. Hinter diesem Utilitarismus steht gar keine höhere Nützlichkeitsvorstellung, vielmehr die schlichte Beobachtung eines Wettlaufs des schöpferischen, menschlichen Geistes mit der trägen Dingwelt. Dies geschieht vorzüglich dadurch, dass das Sinnlose, Zufällige und Nutzlose allein durch erfinderische Umwidmung und Umwertung beseitigt wird. Utilitarismus bedeutet dann nicht länger Unfreiheit, sondern Erfindungskunst. Doch erst im 20. Jahrhundert stößt dieses Bekenntnis im schier grenzenlosen Kunstraum auf seinen eigentlichen Meister. Dass keine Sache zu gering ist, um nicht zu etwas gut zu sein. Dass es nichts gibt, was an sich wertlos oder unverwertbar wäre, zeigt der Kunstraum – wie die Armut übrigens – vor allen anderen sozialen Systemen. Es sind so verstanden erst die Charakteristika des Kunstraums der Gegenwart, die etwas an der unverstanden gebliebenen Utilitarismusformel des 18. Jahrhunderts sichtbar machen: Dass es nichts gibt, was per se nützlich wäre, weshalb es für Bentham um die gezielte Erfindung potentiell unendlicher Verwendungsweisen gehen muss, auch solchen, die abgelegen und aberwitzig sind. Benthams Ehrgeiz:Die Schließung der Theorie-Praxis-Lücke Bentham entwickelt eine Theorie, in der er die Kluft zwischen Theorie und Praxis, Denken und Handeln mit äußerster Entschiedenheit attackierte. Um dies zu bewerkstelligen, braucht es eine panoptische, oder schlichter: eine totalitäre Form von Theorie, eine Super-Theorie, welche das Theorie-Praxis-Verhältnis ein für alle mal zu kontrollieren gedenkt: »discourse and reality are reversible, without remainder.«12 Die philosophische Denkrichtung, die das im Programm hat, ist unter dem Namen ›Utilitarismus‹ bekannt geworden: A Temple of Reason  – für diesen fröhlichen Leibnizianismus unter den technischen Bedingungen des frühen 19. Jahrhunderts, entworfen, um einer Welt des Zufalls, der Zweck- und der Sinnlosigkeit systematisch zu trotzen, indem auf höchst erfinderische Weise noch das geringste Ding mit mannigfaltigem Sinn versehen und d. h. zu ungeahnten praktischen Verwendungsweisen angestachelt wird, gibt es nur eine einzige Maßgabe: »everything must be usable, must work toward a result. Nothing inside it occurs in vain. All lost must be recouped. All activity is to be analyzed in terms of movement: all movement is expenditure and all expenditure must be productive.«13 Weil es also erstens nichts gibt, das menschliche Erfindungsgabe nicht transformieren und d. h. in etwas potentiell Sinnvolles wandeln könnte und weil zweitens alles, was geschieht, multiple und heterogene Folgen haben wird, die auszuufern drohen, besteht die Aufgabe des Denkers darin, wirkungsvolle und vollautomatische Vorrichtungen zu ersinnen, die ein Ausufern von Fakultät (hier: der Erfindungs12 Jacques-Alain Miller: Jeremy Bentham’s Panoptic Device, übers. aus dem Französischen von Richard Miller, in: October 41 (Summer 1987), 3-29, hier 16. 13 Ebd., 7.



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gabe) wie Faktizität (hier: des Folgenreichtums alles Geschehenden) gleichermaßen unterbinden. Es geht um den geregelten Wettstreit beider genannter Größen: »When [the philosopher] rose to refute arguments against him, he always brought out unexpected uses by engaging in a definitive resection of relationships. He was continually inventing collateral benefits.«14 Die Imagination wird präzise eingesetzt, um alle möglichen, alle denkbaren Folgen vorherzusehen und ihnen einen neue – unvorhergesehene – Richtung zu geben. Nützlich ist dabei – formal gesprochen – das, was das ›Glück der größten Zahl‹ vergrößert, ihr Wohlbefinden steigert. Diese schier prometheische Aufgabe, der Proliferation der Folgen durch eine Opti­ mierung ihrer Verwendungsweisen zu begegnen, kann nur gelöst werden durch ein Kalkül, das inmitten dieses Multiplikationsgeschehens reduktionistisch verfährt wie Occams Rasiermesser und zugleich eine verblüffend einfache Lösung für ein schier unlösbares Problem bereithält, wie das Ei des Kolumbus:15 »This utilitarian concept of the world is based on a simple belief: nothing is without its effect. That is, every thing uses or serves another thing, which is tantamount to saying that things exist only in relation to other things. Consequently there can be no absolute, but, on the contrary, in all things there is a more or less, and any effect can be fitted into the hierarchy vis-à-vis its relationship to a result. In this sense the Panopticon16 is the model of the utilitarian world. In it, everything is artificial, nothing is natural, nothing is contingent, nothing exists for its own sake, nothing is neutral. Everything is precisely measured, no more, no less. […].«17

Die menschliche Imaginationskraft muss zum Äußersten bereit sein, um sich einer Instanz anzuvertrauen, die ihren Proliferationswillen auf künstliche, dabei vollkommen natürlich wirkende Weise beschränkt. Zu diesem Zweck müssen anonyme, bewusstlose Agenten geschaffen werden, deren Machtmittel vollkommen transparent und für jedermann einsichtig sind und zugleich qua panoptischer Präsenz (etwa der Suggestion, man werde gesehen, weil man jederzeit gesehen werden kann) ubiquitär genug wirken, um jedes Überwindungskalkül zunichte zu machen.18 14

Ebd., 8. Formel wählt Jeremy Bentham wiederholt, um den multiplen Nutzen des Panopticons zu preisen. Interessanterweise geht die Geschichte mit dem gekochten Ei, das freilich auf der Spitze nur stehen kann, wenn es entweder leicht angeditscht oder in ein Häufchen Salz gestellt wird, gar nicht auf Kolumbus, sondern auf eine Erzählung von Giorgio Vasari (1511-1574) zurück, der sie wiederum Filippo Brunellechi (1377-1446) zuschreibt, als der sich daran machte, eine eiförmige Kuppel für den Dom Santa Maria del Fiore in Florenz zu konstruieren. 16 Dabei geht es dem Erfinder selbst um die entmultiplizierende (»the de-multipicative power«), die decouragierende Kraft einer solchen panoptischen Vorrichtung, die in der Lage ist, gleichermaßen Armut, Krankheit, Dummheit oder auch das Verbrechen zu beaufsichtigen und zugleich einer neuen Form des Gemeinnutzens zuzuführen. – Vgl. Miller: Bentham’s Panoptic Device, hier 4 [Anm. 12]. 17 Ebd., hier 6. 18 So in etwa: »Laissez-moi construire une prison sur ce modèle, et je m’en fais geôlier: vous verrez, dans le mémoire même, que ce geôlier ne veut point de salaire, et ne coûtera rien à la 15 Diese

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Es verwundert nicht, dass der Philosoph, der dies ersann, die minimalistischen Vorkehrungen der panoptischen Architektur als anonymen Agenten anstelle eines menschlichen und d. h. notorisch fehlbaren Aufsichtspersonals agieren ließ. Es wurde oft bemerkt, dass Jeremy Bentham dem Anstaltsleiter so wenig traute wie den Insassen, weshalb es in seinem – so nie realisierten Modell19 – der Öffentlichkeit zukam, die Aktionen des Anstaltsleiters zu überwachen 20 und Einsicht in dessen ›correction books‹ zu nehmen. Weniger Beachtung findet hingegen der Umstand, dass Bentham das einmal identifizierte Übel an der radix, an der Wurzel zu packen sucht: Der Philosoph greift die herrschenden symbolischen Austauschprozesse seiner Kultur an. Er versucht mit seinen Ideen korrigierend in das einzugreifen, was nach verbreiteter Überzeugung gänzlich ungreif bar bleibt, da es sich ›hinter unserem Rücken‹ vollzieht. Der Utilitarismus ist die Königsformel einer Optimierung, welche Theorie in Praxis und Praxis umstandslos in Theorie zurückverwandeln soll. Alles mag zwar ursprünglich besinnungslose Praxis sein, doch der tätige Utilitarismus erlaubt es, alles Geschehen, alle Praxis durch Theorie – wie A. C. Danto sagen würde – zu verklären und in Theorie zurück zu verwandeln. Dies geschieht, indem sie an allem und jedem ein neues Exempel der eigenen Ambition zu statuieren vermag, nämlich dem Sinnlosen, Zufälligen und Zwecklosen durch beständige erfinderische Umwertung den Garaus zu machen. Utilitarismus und sein Architektur gewordenes Pendant, der Panoptismus sind beide aufs Ganze zielende, theoretische Haltungen (das Bekenntnis zur Allesverwertbarkeit), welche kein Außen mehr zulassen: praknation. […] Cette maison de pénitence seroit appelée panoptique, pour exprimer d’un seul mot son avantage essentiel, la faculté de voir d’un coup d’œil tout ce qui s’y passe.« – Jeremy Bentham: Le Panoptique. Mémoire sur un nouveau principe pour construire des maisons d’inspection, et nommément des maisons de force, Paris 1791 (Nachdruck 1977), Vorwort und Seite 8. Ich zitiere hier, der eigentümlich über Frankreich laufenden Publikationsgeschichte halber, aus der von Bentham selbst autorisierten Übersetzung ins Französische durch seinen Freund und Förderer Étienne Dumont, die vor der englischen Fassung erschien. 19 »[Bentham] published the first of his pamphlets on this [the Panopticon] – in his view important – project in 1791, and another in 1812. His scheme was sanctioned by Act of Parliament in 1794, and a site was found to build a prison to his specification in 1799, but in the end the plan fell through. In 1813 he was paid £ 23,000 in compensation for the rejection of the scheme, on which he had spent a great deal of time and money. […] He thought that the only possible reason for the rejection of so manifestly advantageous a scheme was that parliament did not in fact represent the people, whose interests they did not have at heart…« – Mary Warnock: Introduction, in: Utilitarianism and On Liberty. Including Mill’s ›Essay on Bentham‹ and selections from the writings of Jeremy Bentham and John Austin, ed. by Mary Warnock, Oxford 2003, 1 f. Ein Panopticon für eine Handelsschule für junge Seeleute wurde unter Anleitung von Jeremy Benthams Bruder, Samuel, 1807 in St. Petersburg aus Holz errichtet, brannte jedoch schon 1818 vollständig ab. – Vgl. The Old Radical: Representations of Jeremy Bentham, ed. by Catherine Fuller, Ausstellungs­ katalog (30. September-18 Dezember 1998), London 1998, Fußnote 20, 57. 20 »[L]a transparence de l’administration, si je puis parler ainsi, est la seule sécurité durable; mais la transparence même ne suffit pas, si’ il n’y a pas des observateurs curieux pour tout examiner avec attention.« – »[L]es prisonniers ne seront pas exposés à souffrir par la négligence ou la malice d’un gardien.« – Bentham: Le Panoptique, hier 26; 17 [Anm. 18].



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tische Vorkehrungen zu ihrer eigenen Durchsetzung, die weit über das Gefängnis hinausgreifen,21 kurz exhaustive Theorien,22 die alle mögliche Praxis erschöpfend zu überwachen suchen, indem sie sich und der Praxis, die sie initiieren wollen, eine gedankliche Zwickmühle bauen. Was ich hier Zwickmühle nenne, ist für Bentham jedoch ein vernünftiges Kosten-Nutzen-, ein formalisiertes Lust-Unlust-Kalkül, das Theorie und Praxis zusammenspannt, indem es einerseits Dominanzphantasien nährt und ins Extreme treibt, andererseits jedoch reale Herrschaftsbeziehungen zu depersonalisieren und zu entdramatisieren sucht: »[I]t reveals his [Bentham’s] attempt to undo the reversible relations of power between king and criminal, to cancel // theatricalized power, punishment, or collective representation, to conceive of the state and law in other terms these symbolic exchange, and to institute instead a blandly literal mode of power.« 23 Das Ziel ist die Schaffung egalitärer Verhältnisse und genau diesen soll ein rückhaltlos eingesetztes Transparenzgebot zur Wirklichkeit verhelfen. So kommt es, dass Benthams Ideen, die erst im 20. Jahrhundert durch Michel Foucault das Synonym für die ›Disziplinargesellschaft‹ werden, im 19. Jahrhundert noch umgangssprachlich mit dem Bekenntnis zu flachen Hierarchien gleichgesetzt wurden. Nur 30 Jahre nach Benthams Tod wird das ›Panoptikum‹ (in der latinisierten Form) vorzüglich als Bezeichnung für die bei der Bevölkerung äußerst beliebten Wachsfigurenkabinette verwendet, gerade weil in ihnen in einer veritablen ›Gesamtschau‹ alle soziale Schichten nebeneinander, der König neben dem Königsmörder, präsentiert werden.24 Benthams Ideen nähren so einerseits Kontroll- und Dominanzphantasien, andererseits zielen sie darauf, reale Herrschaftsbeziehungen zu depotenzieren. Das auto-ikonische Projekt fügt sich ein in dieses ehrgeizige Projekt. 21

Bentham gab seiner 1787 im weißrussischen Crecheff verfassten Schrift den erschöpfenden Titel mit: »Panopticon, or: The Inspection-House, containing the Idea of a New Principle of Construction, applicable to any sort of establishment, in which persons of any description are to be kept under inspection; and in particular to Penitentiary-Houses, Prisons, Houses of Industry, Work-houses, Pour-Houses, Manifactories, Mad-Houses, Lazarettos, Hospitals, and Schools with a Plan of Management.« – The Works of Jeremy Bentham, Vol. IV, ed. by John Bowring, Edin­ burgh 1842 ff., 37–73, hier 37. 22 Der Terminus stammt von Bentham selbst, ebenso wie die Wortprägungen to maximize, minimize, demoralize, dynamic, unilateral, self-regarding, cross-examination, false consciousnesss. – Vgl. Jeremy Bentham: Exhaustiveness, as applied by Logical Divion, sowie: Imperfection of the current Conceptions relatively to Exhaustiveness and Bifurcation, in: ders.: Chrestomathia, ed. by M. J. Smith und W. H. Burston, Oxford 1983, App. IV Essay on nomenclature and classification, 139–275, hier 220–238 und 239–242. 23 David Collings: Monstrous Society: Reciprocity. Discipline, And the Political Uncanny at the End of Early Modern England, c. 1780–1848, Cranbury 2009 darin: Kap. 3. Society without Reciprocity: The Auto-Icon of Jeremy Bentham, 95–130, hier 95 f. 24 Vgl. etwa das von den Brüdern Castan, welche in den 1860er Jahren ein zwei Stockwerke umfassendes Panoptikum in Berlin gründeten und es zu einer Attraktion machten, in der man sich gruseln und staunen konnte. – Vgl. Angelika Friederici: Castan’s Panopticum. Ein Medium wird besichtigt. Eine kunsthistorische Rekonstruktion – Die Lesart zur Schaulust. Monographie in Themenhefen, Berlin 2008, Vgl. auch http://www.castans-panopticum.de/ (Letzter Aufruf: 05. 10. 2015).

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Abb. 3: Das Wachsmodell von Benthams Kopf durch Jacques Talrich (1832), gefer­t igt nach ­einer Büste von Pierre Jean ­Davide (1828) und dem Gemälde von Henry William Pickersgill (ca. 1829)25

Zu der Ironie dieser Geschichte gehört, dass auch Benthams ›AutoIcon‹ schon im Jahr 1832 einen Wachskopf erhielt, sinnigerweise bei dem Versuch, die  – unfreiwillig  – auf klaffende Lücke zwischen Theorie und Praxis der von Ärzten verpfuschten ›Auto-Ikonisierung‹ zu schließen. Der idealisierte, nach einem Pickersgill-Gemälde und einer Büste gefertigte Wachskopf kam nicht ohne Not hinzu, denn die Präparierung von Benthams Kopf (man hoffte offenbar auf die Bewahrung seiner Mimik) scheiterte schon wenige Tage nach der Sektion, vermutlich aufgrund der zu hastigen Extraktion von Körperflüssigkeit. Um Ansehnlichkeit zu garantieren, hatte Bentham vorgeschlagen, nach der neuseeländischen Methode der Maori vorzugehen. Sie erschien ihm kostengünstiger als die der alten Ägypter, auch stärker um das Gesicht als individueller Signatur eines so dann auch posthum unverwechselbaren Menschen bemüht. Bentham kannte offenbar den schwunghaften Handel mit tätowierten Häuptlingsköpfen aus Neuseeland. Er übernahm die Idee der Präparierung des Gesichts, samt kosmetischer Auf hellung der Lederhaut, daneben ausdrücklich den ihr unterstellten ›kulturellen‹ Sinn. (Die feuergetrockneten Köpfe nahmen an kultischen Verrichtungen sowie am täglichen Leben ihrer Familien teil, bevor sie nach einigen Monaten bestattet wurden. Das Kaufinteresse der Engländer befriedigten die 25 Dieses anonyme Photo ist auf den offiziellen Seiten von The Bentham Project des University College London (UCL) in einem Artikel von Tim Causer über »Jeremy Bentham’s third head« vom 23. Juli 2012 in der korrekten Nomenklatur als sein »zweiter Kopf« abgebildet. Siehe: http://images.google.de/imgres?imgurl=http%3A%2F%2Fblogs.ucl.ac.uk%2Fbentham-project %2Ffiles%2F2012%2F07%2FBentham2011_091.jpg&imgrefurl=https%3A%2F%2Fblogs.ucl. ac.uk%2Fbentham-project%2F2012%2F07%2F23%2Fjeremy-benthams-third-head%2F&h=30 00&w=2250&tbnid=xChEUC3bV0r76M%3A&docid=_iOyChskw7WVuM&ei=Wh-GV-TP H8G8Uq2Sg5AB&tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=837&page=1&start=0&ndsp=19&ved=0a hUKEwjk5KvfpPDNAhVBnhQKHS3JABIQMwgmKAQwBA&bih=684&biw=1149 (Letzter Aufruf: 13. Juli 2016).



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Abb. 4: Anonyme Photographie, die den Handel mit tätowierten Köpfen der Maori aus Neuseeland zeigt

schlauen Maori übrigens mithilfe tätowierter Sklavenköpfe …) Bentham faszinierte an diesem nekromantischen Brauch besonders die Verlängerung der körperlichen Gemeinschaft (company) und das »Bewahren« (preservation) der Freundschaft über den Tod hinaus.26 Doch was bezweckt dieser Sinntransfer in das England des 19. Jahrhunderts? Reizt Bentham der Gedanke, die in Europa ungewöhnliche und neugierig machende Ausstellungsform könne als Köder funktionieren, um seine unverstandenen Ideen sicherer in die Zukunft zu tragen?

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Bentham schreibt dazu: »The usage of the New Zealanders in reference to the preservation of their friends, is scarcely unknown to any one in Great Britain. Rambling over the whole field of thought and action, […] in quest of matter and means for adding to the common stock of human happiness, it occurred to me that civilized man might be benefited by an application of this savage ingenuity. I do not stop to consider what, on another occasion, might be well worth considering, how it has chanced that the barbarous New Zealanders have preceded the most cultivated nations in the Auto-Icon art; nor shall I dwell on the curious contrast between their weaknesses and their sagacity. […] Experiments have been making in this country, which promise complete success, by the slow exhaustion of the moisture from the human head. Specimen exist in the College of Physicians. […] It was not only when the Auto-Icon art was burst open by me, that I perceived is varied bearings upon man’s felicity.« – Bentham: Auto-Icon-Fragment, hier 2. [Anm. 10].

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Benthams Testament als Gründungstext der installation art – das ›Auto-Icon-Fragment‹ als Gründungstext der performative arts? Für die Bewertung des ›Auto-Icon‹ scheint es nicht unerheblich, dass das Artefakt von gleich zwei theoretischen Texten aus Benthams Feder flankiert wird. Neben dem installativen (Benthams Testament)27 existiert interessanterweise noch ein performativer Text (das sogenannte ›Auto-Icon‹-Fragment 28). Der erste widmet sich mit minutiösen Angaben der Herstellung des ›Auto-Icon‹, letzterer ausufernden Plänen zu seinem immerwährenden Gebrauch. Das von Bentham bewusst irreführend als ›Selbst-Bildnis‹ titulierte Artefakt existiert daher als ›Auto-Icon‹ doppelt: als kurioses, vom fremder Hand ausgeführtes Ausstellungsobjekt, zugleich aber auch als Textfragment, welches die ›Auto-Iconisierung‹ als alternative Bestattungsform für jedermann propagiert. Der unvollendete Text – betitelt mit: Auto-Icon, or Farther [sic!] Uses of the Dead to the Living – enthält damit die von den Nachlassverwaltern bewusst unterdrückte Theorie zu der gleichzeitig nach Kräften in Szene gesetzten individuellen Konservierungspraxis. Solch ein double-bind wirft Fragen auf: Warum darf in der Praxis etwas so überaus transparent sein, was als Theorie im Dunkeln bleiben soll? Dass Theorie und Praxis in einem konfligierenden Verhältnis stehen, ist bekannt. Dass es Theoretiker gibt, welche die von Aristoteles erfundene Theorie-Praxis-Lücke selbst angreifen, ist mutig, im Fall von Bentham unheimlich. Denn Bentham musste buchstäblich die Daseinsebene wechseln, um seinen radikalen, soziopolitischen Theorien größere Plausibilität zu verleihen. Der wohl programmatische Satz des Fragments – Every man be his statue – heißt ja auch: Wir sind nicht nichts! Es soll und es wird etwas übrigbleiben, und sei es die scheinbar geringe Inthronisierung des sterblichen Rests. Die christliche Figur des Opfertodes Jesu, das Leiden als Bedingung von Erlösung, erscheint verkehrt: Bentham präsentiert sein ›Auto-Icon‹ als fröhliche Morgengabe, als jungfräuliches Geschenk, das fortgesetzte Gemeinschaft an die Stelle von Trauer und Verlusterfahrung setzt.29 Überhaupt ist das ›Auto-Icon‹-Fragment in einem humoristischen, burlesken Ton verfasst, was seine spätere Anfeindung erklärt, bis hin zum Verdacht, 27 »My

body I give to my dear friend Doctor Southwood Smith to be disposed in manner hereinafter mentioned […] The skeleton he [Southwood Smith] will cause to be put together in such manner as that the whole figure may be seated in a Chair usually occupied by me when living[,] in the attitude in which I am sitting when engaged in thought in the course of the time employed in writing […] He will cause the skeleton to be clad in one of the suits of back occasionally worn by me […]«. – Jeremy Bentham, aus dem Testament am 30. Mai 1832, zitiert nach Marmoy: Bentham’s ›The Auto-Icon‹ at UCL , hier 80 [Anm. 5]. 28 Anders als der – früh zur Rechtfertigung veröffentlichte – Letzte Wille wurde das gleichnamige Pamphlet zehn Jahre nach Benthams Tod zwar in kleiner Auf lage anonym gedruckt, doch sogleich wieder eingestampft. Veröffentlicht wurde das Fragment auf Englisch erst wieder im Jahr 2002 (vgl. Anm. 4). Vom Gebrauch einer nicht-wissenschaftlichen Ausgabe im Deutschen, die seit 1995 im Verlag Die Blaue Eule vorliegt, darf abgeraten werden. 29 Eine einzige kritische Frage lässt Bentham jedoch zu, sie ist psychologischer Natur: »Would the sight, – the constant sight of the dead be too melancholy, – too saddening for the living?« Seine Antwort



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eine satirische Fälschung, eine Persiflage auf Benthams Nützlichkeitsdenken zu sein. Es steckt voller Ausrufe, Zwischenrufe, Einwürfe und rhetorischer Fragen. Alles ist so mündlich wie nur eben möglich gehalten, manchmal meint man ein Zähneknirschen und ein donnerndes Lachen zwischen den Zeilen zu hören: »Ridiculed it will be, of course […] but the invention will go on […].« 30 Nicht weniger als elf verschiedene Nutzungsweisen der neuen Erfindung wetteifern um Vorherrschaft: »[U]ses–by which addition is to be made to human happiness. And they are – 1. Moral, Including 2. Political; 3. Honorific; 4. Dehonorific; 5. Economical, or money-saving; 6. Lucrative, or money-getting; 7. Commemorational, including 8. Genealogical; 9. Architectural; 10. Theatrical; and 11. Phrenological. But this crowd of uses involves us in a labyrinth: each cries – First place! Each demands precedence. […] Behind you, as far as I am concerned, may follow the others; but am I not the father of ye all?«.31

Überhaupt scheint das Skandalon des Textes in seiner fröhlichen Ausdehnung der neuen Praktik auf alle Menschen zu bestehen. So wie Bentham in seiner Mahagoni-Box werden auch im theoretischen Text alle Auto-Ikonen beständig in Bewegung gehalten. Sie werden, je nach Zeitgeist und Volksstimmung, in Tempeln der Verehrung wie der Verachtung auf bewahrt: William Pitt, der Premierminister, an dem die Realisierung von Benthams Panopticon scheiterte, fällt selbstredend sofort in Ungnade. Die Auto-Ikonen werden mit wechselnden Gewändern bekleidet und ähnlich wie Hunde zum Spazieren ausgeführt. Der Text ist deutlich zur Selbstunterhaltung geschrieben. Doch dahinter scheint sich zugleich etwas Bahn zu brechen, das erst Jahrzehnte später für die Performative Arts Sinn machen wird. So sticht am Ende eine Passage über die geisterhafte Belebung und d. h. über das Puppenspiel mit den Auto-Ikonen nach allen Regeln der Kunst ins Auge. Kinder sollen unter die Skelette schlüpfen und sie in anmutige Bewegungen versetzen. Und wirklich haben die Präparatoren jedes Fingerknöchelchen von Bentham verdrahtet. Marionetten, Wachsfiguren, Voti – ein danse macabre der fallimagini? Was Bentham hier in aller Unschuld als danse macabre vorschlägt, trifft sich mit einigem von dem, was Edward Gordon Craig 1908 in seinem berühmten Text über den Schauspieler und die Übermarionette zu bedenken gibt: »Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird die unbelebte figur einnehmen – wir nennen sie die über-marionette […] [sic].« 32 f ällt gutgelaunt, aber entschieden aus: »A curtain or sliding screen provides a remedy.« – Bentham: Auto-Icon-Fragment, hier 3 [Anm. 10]. 30 Ebd., hier 2 [Anm. 10]. 31 Ebd., hier 2 [Anm. 10]. 32 »Viel ist über sie geschrieben worden … Heute, in ihrer unglücklichen Zeit betrachten sie die meisten leute als eine bessere Art von puppe, und denken, sie habe sich aus der puppe ent-

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Wir können nun über die beiden mechanischen Über-Marionetten, die sich 2009 am Brandenburger Tor zum Fest der Wiedervereinigung treffen, über die Steinbilder und Tempel eine Brücke schlagen zu der Praxis der Wachsfigur. Seit der Antike tradiert, handelt es sich um eine Form magischen Totengedenkens (erinnert sei hier an den Fund zweier Wachsköpfe in einem antiken Grab in Cumae, 1852), welches – wahrscheinlich angeregt durch Edward B. Taylors Buch Primitive Culture (1871) – den Anstoß gab für Aby Warburgs Idee des Nachlebens als eines Überbleibsels, das diagnostisch und kulturphilosophisch lesbar wird. Das rituelle Überbleibsel ist zugleich das Phantom einer vergangenen wie auch ein Symptom der gegenwärtigen Kultur, Teil einer ›maskierten Realität‹, die Zeugnis ablegt von einem bereits erfolgten Statuswechsel wie Bedeutungswandel, während die nachlebende Sache – statt sie dem Vergessen oder der Zerstörung preiszugeben – einem völlig neuen Gebrauch anheimgestellt ist. Warburgs Bemerkung vom Nachleben antiker Kulte schärft sich im Kontext eines »eigentümlichen künstlerischen Industriezweig« (ebd.) der sogenannten ›Fallimagini‹. Seit der Zeit von Lorenzo de’ Medici, der »1478 glücklich den Dolchen [der Pazzi] entronnen, seine lebensgroße Wachsfigur […] dreimal in florentinischen Kirchen in verschiedenem Kostüm auf hängen [ließ]«,33 erfreut sich in Florenz die »Herstellung von Totenmasken aus Gips und Stuck« als »getreuen Abbilder der Vorfahren« 34 großer Beliebtheit. »Die Menge dieser Voti schwoll schon gegen Anfang / des 16. Jahrhunderts derartig an, daß in der Kirche selbst Platzmangel eintrat und die Figuren der Stifter an Stricken oben am Gebälk aufgehängt und deswegen die Mauern durch Ketten verstärkt werden mußten, und erst als durch das öftere Herabfallen eines Voto Andächtige erheblich gestört wurden, verbannte man das Wachsfiguren-Kabinett in einen seitlichen Hof, wo Reste des Panoptikums noch bis Ende des 18. Jahrhunderts zu sehen waren.« 35 wickelt. Das ist nicht richtig. Sie ist ein Abkömmling der Steinbilder in den alten Tempeln: das heute recht degenerierte Abbild eines Gottes. […] Sie wird nicht mit dem Leben wetteifern … ihr vorbild wird … der körper in trance sein; sie wird sich in eine schönheit hüllen, die dem tode ähnlich ist, und doch lebendigen geist ausstrahlen.« – Craig: Über-Marionette, 66 f. [Anm. 9]. 33 Aby Warburg: Bildniskunst und Florentinisches Bürgertum, Leipzig 1902, 99. Vgl. hierzu auch Georges Didi-Huberman: Das nachlebende Bild. Aby Warburg und Tylors Anthropologie, in: Homo Pictor, Colloquium Rauricum, Bd. 7, Leipzig 2001, 205-224. 34 Ebd., hier 119 [Anm. 33]. 35 Ebd., hier 99 f. In der Kirche Santissima Annunziata befinden sich noch im Jahr 1630 »600 lebensgroße Figuren« aus Wachs und »22.000 Voti aus Papiermaché« (ebd.). Warburg schließt: »Das Innere der Kirche muß demnach wie ein Wachsfigurenkabinett ausgesehen haben; auf der einen Seite standen die Florentiner […] und daneben die Päpste […], mit besonderem Stolz aber wurden die Fremden gezeigt, die aus Verehrung für die Santissima Annunziata ihre lebensgroße Visitenkarte abgegeben hatten, z. B. König Christian von Dänemark, als er 1474 durch Florenz kam, und als ganz besondere Merkwürdigkeit sogar die Figur eines mohammedanischen Türkenpaschas, der trotz seines Unglaubens seine Votofigur der Madonna weihte, um sich einer glücklichen Rückkehr zu versichern.« – Warburg: Bildniskunst, hier 118 [Anm. 33].



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Panoptikum – ja, richtig gehört. Doch nicht nur im Florenz des 15. bis 17. Jahrhunderts, sondern auch im England des 19. Jahrhunderts werden Voti populär. Bentham, dessen panoptischen Vokabulars sich Warburg hier zwanglos bedient, erwähnt im ›Auto-Icon‹-Fragment die zu seiner Zeit die Westminster Abbey bevölkernden, wächsernen effigies, doch lehnt er sie als unsozial und nicht fälschungssicher ab.36 Über seinen eigenen idealisierten Wachskopf – von einem französischen Künstler namens Talrich nach einer Büste und einem Gemälde entworfen – wäre Bentham wohl ›not amused‹ gewesen, dennoch verdankt er ihm aufgrund seiner ästhetisch ansprechenderen Form mutmaßlich sein posthumes ›Überleben‹.

Das ›Auto-Icon‹ und die Performance-Kunst Hinter der ›Auto-Iconisierung‹ des eigenen Körpers bricht sich ein Plan Bahn, der erst Jahrzehnte später für die Performative Arts Sinn ergeben wird: nämlich die Verpflichtung auf den desinteressierten – und häufig schmerzvollen – Selbstgebrauch des Körpers als anonymem Agenten. Das scheinbar Persönlichste, der eigene Körper, soll zum unpersönlichen Demonstrationsobjekt werden. Aber wofür? Nicht auf Personenkult (der ihm faktisch das Nachleben in der UCL sichert) ist das ›Auto-Icon‹ angelegt, sondern auf Akte radikalen Gebrauchs – hier eines sterblichen Überrests, der sich zum Träger einer bislang unverstandenen Inventionskunst macht. Dass sich Bentham damit buchstäblich und d. h. körperlich, mitsamt seiner Theorie, mitten in die Popkultur und doch außerhalb eines Museums in den Kunstraum hinein katapultiert hat, ist, wenngleich kaum seine Absicht gewesen, doch wie eine ausgleichende Gerechtigkeit für das Unverstanden-geblieben-Sein. Aufgrund seines Experimentalcharakters, seiner intellektuellen Großzügigkeit und gleichzeitigen Anschaulichkeit ist der Kunstraum 37 der Gegenwart besonders gut geeignet, einander widerstreitende Theorien gewinnbringend in Beziehung zueinander zu setzen. Das wird besonders pikant, wenn, wie im Fall von Jeremy Bentham, der philosophisch ad acta gelegte Utilitarismus plötzlich als ambitionierte Theorie erscheint, die sich Kant mit seiner Rede vom »interesselosen Wohlgefallen« wohl nie hätte träumen lassen. Benthams Utilitarismus wird – erst über den demonstrativen Umweg des ›Auto-Icon‹ – verstehbar als eine Anstrengung, welche überraschend neue Gebrauchsformen erfindet und so die Phantasie als Mittel zur 36 »Names may be invented – can be forged; and the existence of persons bearing them can be asserted – in black and white […]. But Auto-Icons cannot be invented, cannot be forged.« – Bentham: Auto-Icon-Fragment, hier 5. [Anm. 10]. 37 Unter dem Begriff des Kunstraums – zwischen George Dickies ›art world‹ und Aby Warburgs ›Denkraum‹ angesiedelt – sei die Gesamtheit der aktuell verfolgten Werkverständnisse, Ausstellungsformen, Kunstbegriffe wie ihre Kritik zusammengeführt. Der Kunstraum – mit bestimmtem, statt unbestimmtem Artikel – ist somit kein räumlich eingrenzbares (etwa auf ein Museum limitierbares), sondern ein generatives Konzept, das sich der Institutionalisierung immer schon entzieht.

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bewussten Verwandlung von an sich tumber Praxis auf bietet.38 Das geschieht vorzugsweise über die minutiöse Kontrolle der Details (marked space), gleichzeitig aber auch durch generöse Auslassungen (unmarked space), um zwei Termini von George Spencer-Brown (aus: Laws of Form, 1969) in die Debatte zu werfen. Der Letzte Wille wie das ›Auto-Icon‹-Fragment selbst stecken voller marked und unmarked space.39 Abb. 5: Marina Abramovic´ am ­ersten Tag ihrer 75 Tage langen ­Performance »The Artist is Present« im MoMA (New York)40

Diese sind später als Grundprinzipien der Installation Art oder der Performance Kunst kenntlich geworden: Die Verpflichtung auf den desinteressierten (und dabei nicht selten schmerzvollen) Selbstgebrauch des Körpers als anonymem Agenten in der Performance-Kunst, das Ausreizen scheinbar unsinniger oder übermenschlicher Verhaltensanweisungen. Erinnert sei – um das Extreme, die Radikalität des Aktes nicht zu vergessen – an die Performance Rope Piece von Linda Montano und Tehching Hsieh (1982/83), die sich zu einem einjährigen Zusammenleben verpflichteten, dergestalt, dass sie an einem acht Fuß langen, um die Hüfte geknüpften Seil miteinander verbunden blieben. Das einzige Gebot, dass sie sich auf legten, 38 »Thus

every man would be his own monument; and if copies were wanting, a cast in plaster would supersede the necessity of sculpture. The Lords Spiritual and Temporal, in their Auto-Icon state, should be disposed of in their own most Honourable Houses. Their robes on their back – their coronets on their head – how rare a galanty-show! The wax-works in the vaults of Westminster Abbey – Mrs. Salmon’s Museum in Fleet Street – yea, even Solomon in all his glory at the puppet-show, would dissolve before it and ›Like the baseless fabric of a vision, Leave not a rack behind‹.« – Bentham: Auto-Icon-Fragment, hier 4 [Anm. 10]. Darin versteckt ist ein Shakespeare-Zitat, das Bentham Prospero entlehnt: The Tempest, Act IV, Scene 1, Vers 148-158. 39 Genau wird die gewünschte Kleidung und Körperhaltung im Letzten Willen beschrieben, aber in Frage der Auf bewahrung des Körpers (box or case) oder auch der Eingeweide (a wine decanter?) bleibt Bentham erstaunlich offen, so als verstehe er schon, dass er dafür nicht mehr Sorge tragen kann oder muss. 40 Die Photographie von Marco Anelli trägt den Titel: Day 1, 420 min. Marina Abramovic´: The Artist Is Present. Die Rechte liegen beim Museum of Modern Art, New York. https://www.flickr. com/photos/themuseumofmodernart/4479477668/in/photostream (Letzter Zugriff 5. 10. 2015)



Der Denker und seine Erscheinung221

war zugleich das unmenschlichste, schwerste: Sich in dieser Zeit niemals zu berühren.41 Stets geht es um den Entschluss, sich freiwillig einem von der eigenen Willkür vorab minutiös festgelegten Verhaltenszwang zu unterwerfen. Strategien wie diese können darüber hinaus sehr unterschiedliche inhaltliche Färbungen haben. Bei Guillermo Gomez-Peñas und Coco Fuscos Performance Undiscovered Amerindians42 (1992) etwa geht es um ein Spiel mit kulturellen Stereotypen, aber auch um die Brüskierung des Publikums, das die Rahmung der Situation nicht einzuordnen weiß, nicht als Kunst begreift. In The Artist is Present (2010) erlegt es sich Marina Abramovic´ auf, 75 Tage lang regungslos und stumm während der regulären Öffnungszeiten im Atrium des MoMA in New York zu sitzen. (Sie isst nichts, trinkt nur gelegentlich.) Anlass ist ihre eigene Show, die gleichnamige Retrospektive, die erste überhaupt, die eine Institution solcher Größenordnung der Performance-Kunst widmet. Die Besu­ cherInnen dürfen sich Abramovic´ ebenso stumm so lange gegenübersetzen, wie sie es wollen; so lange, wie sie Abramovic´s nach innen gekehrten Blick oder den Druck der hinter ihnen ungeduldig Wartenden aushalten. Die meisten fangen früher oder später an, lautlos zu weinen,43 vielleicht aus Erschöpfung, es endlich soweit gebracht zu haben; vielleicht, weil sie im Schutz des greif baren körperlichen wie seelischen Schmerzes der Künstlerin Zugang zu den eigenen Versehrungen bekommen: sich selbst sehen, spüren – weil man von jemand Anderem, der unendlich viel Zeit zu haben scheint, angeblickt wird? Jedenfalls zeugt die aus dieser Gabe des »fast nichts« bestehende, minimalistische Arbeit der »einfach nur« dasitzenden Performance-Künstlerin von einer sprachlos machenden Nähe, die sich inmitten einer anonymen, öffentlichen Situation herstellt und ihre BetrachterInnen auf rätselhafte Weise zu berühren vermag. Bei aller Unterschiedlichkeit zu den zuvor genannten Beispielen wird doch die Gegenwärtigkeit und implizite Theatralität der Gegenstände der installation art wie der Interventionen der performative art deutlich, die sich gegen anthropomorphe 41 Vgl. http://bodytracks.org/2009/08/linda-montano-and-tehching-hsieh-artlife-aka-ropepiece/ (Letzter Aufruf am 5. Oktober 2015). 42 »Fusco and Gomez-Peña enclosed their own bodies in a ten-by-twelve-foot cage and presented themselves as two previously unknown ›specimens representative of the Guatinaui people‹ […]. Inside the cage Fusco and Peña outfitted themselves in outrageous costumes and preoccupied themselves with performing equally outlandish ›native‹ tasks. Gomez-Peña was dressed in an Aztec style breastplate, complete with a leopard skin face wrestler’s mask. Fusco, in some of her performances, donned a grass skirt, leopard skin bra, baseball cap, and sneakers. She also braided her hair, a readily identifiable sign of ›native authenticity.‹ […] The performance piece had an illustrious two year exhibition history, including performances at Covent Garden in London, The National Museum of Natural History at the Smithsonian in Washington D. C., The Field Museum in Chicago, the Whitney Museum’s Biennial in New York, the Australian Museum of Natural History and finally in Argentina, on the invitation of the Fundacion Banco Patricios in Buenos Aires.« – http://www.english.emory.edu/Bahri/UndiscAmerind.html (Letzter Zugriff 5. Oktober 2015.) 43 Vgl. dazu http://marinaabramovicmademecry.tumblr.com/ (Letzter Zugriff 5. 10. 2015).

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Deutungen sperren und zugleich deutlich an diesen Maß nehmen. All dies lässt sich, wie ich meine, mit Blick auf das ›Auto-Icon‹ in das 19. Jahrhundert zurückrechnen. Bentham ging es exemplarisch um ein Einreißen der Diskrepanz von Theorie und Praxis. In der Performance-Kunst geht es bis heute, ironisch gebrochen oder nicht, um das Einreißen der Differenz von Kunst und Leben; um das Einreißen der Werkkategorie als etwas, dass unabhängig vom oder eben ohne die Gegenwart des eigenen Körper existieren könnte. Die Unterschiede betreffen daher weniger diese Grundhaltung, die auf Erschöpfung aller Mittel zielt, als die reflexive Begrenzung der eigenen Ambition. Die Kontrollanordnungen der performative art einer Marina Abramovic´ etwa setzen tentativ und zeitlich begrenzt einen Wahnsinn gegen den nächsten, im Wissen, dass das Leben selbst chaotisch und voller Kontrollverluste ist. Benthams Vermächtnis jedoch, Vorbild der von ihm selbst verteilten Trauerringe – bleibt ein radikales: Sein ›Auto-Icon‹, das alle Formen stellvertretender Gedächtniskultur auszuhebeln versucht, greift die wirkmächtige symbolische Ordnung unserer Kultur an, die traditionell die Ansprüche des Individuums beschneidet, dessen Wunschvorstellungen kappt.44 Nichts Geringeres als die tradierten symbolischen Austauschprozesse will der Philosoph zum Stillstand zwingen. Das ›Auto-Icon‹ ist ein unbewegter Beweger, der schon bei Aristoteles vorgibt, nichts zu repräsentieren außer sich selbst: What you see is what you get. Doch ganz so einfach ist es nicht. Mit seiner aus der Zeit gefallenen, unwahrscheinlichen Existenz versucht das ›AutoIcon‹ das Unmögliche: den nicht aufgehenden Rest, der es selbst geworden ist, gegen den Augenschein, gegen Theatralität und Schauerlichkeit zum anonymen Agenten der eigenen Theoriebildung zu verklären. (David Collings spricht treffend von »The undead Puppet of Utility«45.) Das ehemals Persönlichste, der eigene Körper, soll zum unpersönlichen Demonstrationsobjekt werden, aber für was? Nicht auf Personenkult (der ihm das faktische Nachleben in der UCL sichert) ist das ›Auto-Icon‹ angelegt, sondern auf Akte radikalen Gebrauchs. Radikaler Selbstgebrauch, ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten (eigene wie fremde), wird jedoch erst 180 Jahre später lesbar als popkulturelles Credo. Die Popkultur ist deshalb so populär, weil für sie der Gebrauch alles und Missbrauch im strengen Sinne unmöglich ist, denn der allein Glück bringende Radikalgebrauch weist Besitzund Geltungsansprüche zurück, sogar die an sich selbst. Dass sich Bentham damit buchstäblich und d. h. körperlich, mitsamt seiner Theorie, in die Gegenwart und dort außerhalb eines Museums in den Kunstraum hinein katapultiert hat, scheint nicht seine Absicht, jedoch ausgleichende Gerechtigkeit oder Ironie des Schicksals gewesen zu sein angesichts eines Philosophen, der das Endlich-zur-ErscheinungKommen seines Denkens buchstäblich als eine Frage der Ausdauer begriff. 44 In

Anlehnung an ein Strukturmerkmal des Psychischen ist damit die auf Anerkennung, Achtung und ritualisierten Austausch bedachte, unsichtbare Herrschaftsordnung gemeint, die Jacques Lacan als Inbegriff der Ordnung der Sprache, des Diskurses, des Gesetzes selbst ausmachte, weil sie sich gegenüber dem Subjekt zur Erfahrung eines ›großen anderen Willens‹ verdichtet, die sich nicht regulieren lässt. 45 Collings: Monstrous Society, hier 127 [Anm. 23].

A pparition: Epiphanie und Menetek el der Kunst Aspekte einer Ästhetik des Zur-Erscheinung-Kommens bei Theodor W. Ador­no Anne Eusterschulte

»Schein, der in der Ferne der Bilder dem Denken als Gestirn der Versöhnung strahlt: im Abgrund der Innerlichkeit brennt er als verzehrendes Feuer. Hier wäre er aufzusuchen und zu benennen, soll dort der Erkenntnis seine Hoffnung nicht verloren gehen.«1

»Kunstwerke sind neutralisierte und dadurch qualitativ veränderte Epiphanien. […] Sie sind Dinge, in denen es liegt zu erscheinen«,2 so Theodor W. Ador­no in Reflexionen der Ästhetischen Theorie, die in Hinführung auf das transzendierende Moment ästhetischer Erfahrung wiederholt auf eine Figur rekurrieren: apparition, Zur-Erscheinung-Kommen. Wenn Ador­no sich, um den Erscheinungscharakter und -vollzug zu bestimmen, dem Begriff der apparition zuwendet, so ist das keine marginale Eigensinnigkeit. Die translative Verschiebung auf den Begriff der apparition weist auf eine semantische Verdichtung, auf die Einlagerung historisch sedimentierter Konnationen, die in der ästhetischen apparition durchscheinen bzw. sich in verschränkten Perspektivierungen artikulieren: Aspekte ästhetischer Erfahrung sind hiermit konstellativ angelegt. 1. Eine erste Hinsicht fokussiert die ästhetische Temporalität,3 Momente einer para­ doxalen Gleichzeitigkeit von plötzlichem Aufstrahlen und Verschwinden, dargelegt an Himmelserscheinungen, apparitiones; dem instantanen Aufscheinen eines Sternes, der explosiven Lichtgestalt eines Feuerwerks, das im Augenblick seiner Erscheinung in ein Nichts zerstiebt, kometenhaften Dynamiken von Aufglühen und Verlöschen, kurz: auf Epiphanien der Kunst, deren materiale Präsenzerscheinung4 W. Ador­no: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen [im Folgenden: KdÄ], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel ­Ador­no, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, [im Folgenden = GS], Frankfurt/M. 1997, 98. 2 Theodor W. Ador­no: Ästhetische Theorie [im Folgenden: ÄT ], GS 7, 125. 3 Zur Neutralisierung der empirischen durch die »ästhetische Zeit« vgl. ebd., 164. 4 Hans Ulrich Gumbrecht bestimmt »Präsenzkulturen« – im Unterschied zu »Subjektkulturen« bzw. repräsentationaler Bedeutungsgenerierung – dadurch, dass sie »Bedeutung nicht ohne Verkörperung verstehen« können (Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, mit einem Nachwort hg. von Jürgen Klein, Frankfurt/M. 2012, 219) und hält in Hinsicht auf die Genese von Wissen fest, dies entstehe »durch Offenbarung, durch göttliche Offenbarung (d. h. durch einen göttlichen Akt) oder durch Selbstoffenbarung (Heideggers ›Enthüllung des Seienden‹!) der Objekte der Welt« (ebd., 217). Im Unterschied hierzu ist für Ador­nos Epiphaniebegriff, fernab ontologischer 1 Theodor

ZÄK-Sonderheft 14  ·  © Felix Meiner Verlag 2016  ·  ISBN 978-3-7873-2255-8

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mit der Plötzlichkeit 5 einer Verflüchtigung koinzidiert. Die Erscheinung verflüchtigt sich im Augenblick ihres Erscheinens. 2. Der Epiphaniecharakter birgt zeit- und geschichtsphilosophische Interpretamente, die ihre Brisanz aus latenten, eschatologisch-messianischen Theologemen ziehen. Es geht hier nicht darum, Ador­nos Ästhetik einen kryptotheologischen Impetus anzuheften, wohl aber um eine systematische ›Umbesetzung‹ (Blumenberg), mittels derer die Ästhetik aus der Theologie Kredit zieht.6 Wir werden dies Kreise ziehen lassen zu ästhetischen Reflexionen auf die Epiphanien des Schönen bei James Joyce. 3. Damit deuten sich theologische Implikationen an. Punktuelle Bezugnahmen auf ein Offenbarungsgeschehen in Rekurs auf die Heiligen Schriften sowie mittelalterliche Konzepte des Epiphanen mögen diese appartionstheologischen Einlassungen – die materiale Gegebenheit stets im Blick wahrend – verdeutlichen. Elemente einer theologisch grundierten Auffassung stellarer apparition gehen, ins Innerweltliche transponiert, auf den Bereich ästhetischer Erfahrung über. Temporalität und Materialität des Kunstwerks kommen in Reibung, zünden im Wahrnehmungsakt. 4. Die utopische Legierung ästhetischer apparition weist auf eine imaginative Dimension: eine im Kunstwerk gleichsam material geborgene, in der Konkretion des Singulären verdichtete Prägnanz, ein fruchtbarer Augenblick der Sinnfülle, der für das wahrnehmende Bewusstsein den Lauf der sukzessiven Zeit außer Kraft setzt, zum Stillstand bringt. Doch gerade in dieser Brechung des Zeitregimes entfaltet ästhetische Erfahrung ihre Dynamik. Sie wird nicht etwa stillgestellt – weder akustisch noch im Sinne eines Stillstands in der Bewegung. Sofern das Kunstwerk sich in der Erfahrung geradezu entlädt, d. h. explosiv ein Kontinuum durchbricht, ja aufsprengt,7 wird ein Geschichtsfluss beredt, der Imaginationen des Möglichen in Abweichungen von der scheinbar lückenlos verfugten Notwendigkeit des Bestehenden freisetzt. Eine Spur dieser Kunst imaginativer Abweichungen führt zu Paul Valérys apparitions. 5. Dass es auch anders sein könnte, die geringfügige Versetzung, lässt ein uneingelöstes Mögliches am Kunstwerk zur Erscheinung kommen. Diese transgressive Verschiebung wirft ein abschließendes Licht auf den Sprachcharakter der Kunst, eine konstellative écriture, der ein Versprechen eingeschrieben ist. Die Referenz auf die sprachliche Figur einer Dialektik im Stillstand 8 und damit auf Walter Benjamin Grundlegungen, die dialektische Beziehung von singulärem subjektivem Erfahrungsvollzug und partikularem Erfahrungsobjekt, eingebettet in einen je historisch-materialen Kontext, konstitutiv für eine geschichtliche Dynamik, die in der ästhetischen Erfahrung aufscheint. Das Wahrheitsgeschehen hat je einen historischen Index, entfaltet sich in situativer Temporalität. 5 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M. 1981. 6 Ador­nos frühe Kierkegaardstudie legt hierfür das Fundament. 7 Bergsons Theorie des élan vital bzw. createur, die quasi elektrische Zündung steht hier stets im Hintergrund. 8 »Zu denken ist an Benjamins Formulierung von der Dialektik im Stillstand, entworfen im Kontext seiner Konzeption des dialektischen Bildes [in der Sprache, A. Eu.]. Sind Kunstwerke als Bilder die Dauer des Vergänglichen, so konzentrieren sie sich im Erscheinen als einem Momentanen. Kunst erfahren heißt so viel wie ihres immanenten Prozesses gleichwie im Augen-



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liegt hier schon in der Luft. Wir werden dem utopisch-messianischen Funken, wie ihn Benjamin an Goethes Wahlverwandtschaften aufgehen lässt, eben dem hoffnungsverheißenden Stern, der im Moment der Katastrophe aufscheint, folgen. Dieses Moment springt auf Ador­nos Ästhetik über und zündet gewissermaßen in der ästhetischen Erfahrung – einer ästhetischen Manifestation profaner Erleuchtung. All das sind lediglich heuristisch aufgefächerte Aspekte einer Konstellation. Sie greifen ineinander und verfugen sich in der Figur der apparition. Eben diese Figur – in Anlehnung an Auerbachs figura-Begriff – ist konstitutives Moment ästhetischer Erfahrung. Apparition Ästhetische Temporalität Was heißt es, dass Kunstwerke Dinge sind, in denen es liegt, zur Erscheinung zu kommen? »Am nächsten kommt dem Kunstwerk als Erscheinung die apparition, die Himmelserscheinung. Mit ihr halten die Kunstwerke Einverständnis, wenn sie aufgeht über den Menschen, ihrer Intention entrückt und der Dingwelt.« 9 Gleich Himmelserscheinungen liegt das Erscheinen, das sich in der ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken vollzieht, weder in der Hand menschlichen Verfügens, ist kein Produkt intentionaler Akte, noch lässt es sich ›dingfest‹ machen im Kontext der kulturell zubereiteten Gegenstände unseres Umgangs, mithin der verdinglichten Lebenswelt. Ein kurzer Rekurs auf den lateinischen Terminus apparitio – bzw. das Pendant im französischen wie englischen Sprachgebrauch – mag zeigen, wie sich die bei Ador­no angelegten Motiviken sprachphänomenologisch und ideengeschichtlich verbinden.10 Apparitio weist im Verständnis der römischen Antike auf Wahrnehmungsereignisse  – man könnte, um neben der aktiven Perzeptivität den passivischen Charakter zu betonen, auch von Widerfahrnissen sprechen –, d. h. auf Phänomene, deren aufleuchtendes Erscheinen oder Aufgehen vielfach direkt mit einem Verlöschen zusammengeht bzw. mit einer Plötzlichkeit, die sich aus der Simultaneität von Sich-Augenblicklich-Zeigen und blitzhaftem Sich-Entziehen bestimmt. Dies erlaubt in modifizierenden Aneignungsweisen der spätantiken bzw. mittelalterlichen Offenbarungstheologie eine Figuration von Augenblickshaftigkeit

blick des Stillstands innezuwerden, vielleicht ist davon der zentrale Begriff der Lessingschen Ästhetik, der des fruchtbaren Moments, genährt.« (Adorno: ÄT, GS 7, 131).   9 Ebd., 125; Hervorhebung A. Eu. 10 Dass Ideengeschichte hier stets Problemgeschichte indiziert, ganz im Leben stehend und aus historischen Bewältigungsstrategien von Wirlichkeitserfahrungen erwachsen, sei hier en passant betont und als Plädoyer für ein Verständnis von Philosophiegeschichte eingeflochten, deren Aufgabe es nicht zuletzt ist zu zeigen, wie der Historie von Sprach-, Begriffs- oder Ideen­ genese stets materiale historische Prozesse insinuiert sind: Das nimmt ihr nicht sondern vertieft erst systematische Bedeutungszuweisungen.

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freizulegen, die analog in der ästhetischen Theorie Ador­nos evoziert wird. Greifen wir also einen Moment ein wenig weiter aus. Das lateinische apparitio ruft in der römischen Tradition beispielsweise die Erfahrung eines anbrechenden Tages, das aufgehende Licht, nicht zuletzt aber das Erscheinen von Gestirnen oder Aufleuchten von Kometen am Himmel auf und wird vor diesem Hintergrund zur Bestimmung eines ins Auge springenden Versichtbarungsgeschehens. Was sich am Himmel ins Licht setzt, ist eine Bewegung in der Zeit, die etwas instantan klar vor Augen stellt und eine Unmittelbarkeitserfahrung des ›Hindeutens auf‹ evoziert. Gelten doch die Himmelserscheinungen in antiken Kulturen vielfach als divine, schicksalsverheißende oder auch -wendende Zeichen, als prophetisch ausdeutbare Zeichen-Konstellationen bzw. Prodigien, die auf heraufziehendes Heil wie Unheil weisen können: Himmelsschriften eines Zukünftigen, Herauf kommenden, die einer Auslegung bedürfen. Apparitiones bergen Zeichen- und Botencharakter, d. h. sie deuten auf etwas hin, und sei es auch auf enigmatische Weise, das sich vor Augen stellt, um etwas zur Erscheinung zu bringen, das sich selbst im Verborgenen hält, dieses jedoch im Erscheinen als Verborgenes aufleuchten lässt. Handelt es sich bei Himmelserscheinungen grundsätzlich um temporäre, dynamische Kon-Stellationen, so wird insbesondere über die Momenthaftigkeit und Flüchtigkeit von plötzlichen, augenblickshaft auf- und vergehenden Phänomenen (Kometen, Wetterleuchten, auffahrenden Sternen, sei es auch in literarischer Fiktion) eine Art Anspruch deutlich, der sich in der Weise des Erscheinens artikuliert bzw. wie eine kurzlebig aufscheinende Botschaft anspricht: Was sich zeigt oder zum Erscheinen kommt (appareo) – und etwas Latentes, das, was sich verborgen und versteckt hält (lateo), in sich birgt –, lässt etwas gegenwärtig erscheinen, d. h. zeigt im Präsenzmodus – und weist doch auf eine Vergangenheit bzw. in mythologischer wie religiöser Sicht auf eine noch nicht erfüllte Zukunft. Sind doch die Lichtpunkte am Himmel, die wir mit dem bloßen Auge wahrnehmen können, Erscheinungen von Sternen, die Lichtjahre entfernt davon existieren oder im Augenblick ihres Erscheinens für uns vielleicht längst erloschen sein mögen. In dieser Hinsicht birgt der Erscheinungscharakter eine zeitliche Konfiguration von Vergangenem, Jetztzeit und Zukünftigem, die präsentisch erfahrbar wird. Übertragen wir dies auf Kunstwerke, dann ist es an ihnen, gleich Himmels­ erscheinungen, dinghaft und doch ephemer 11, kurzlebig aufzugehen und sich in 11 ἐφήμερος weist im Griechischen auf die Dauer nur eines Tages. In diesem Sinne, wiederum in Konnotation zu Himmelserscheinungen, sind Ephemeriden Tagesaufzeichnungen eines Gestirnsstandes, gleichsam Umschriften eines tagesflüchtigen stellaren Geschehens: ephemere Konstellationen. Für Ador­no alludiert das Ephemere der Kunst an das Auratische des Naturschönen, den Charakter der Ferne des Nächsten (Benjamin), somit an eine Vergänglichkeit und Flüchtigkeit »des nicht dingfest zu Machenden, nicht ganz zu Haltenden, der zu dem Wesen des Kunstwerks ebenso wie zu unserer Erfahrung von Natur wesentlich dazugehört.« Theodor W. Ador­no: Ästhetik (1958/59), hg. von Eberhard Ortland, in: ders.: Nachgelassene Schriften, hg. vom Theodor W. Ador­no Archiv, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 3, Frankfurt/M. 2009, 45 (im Folgenden: ÄV ).



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einer temporären Konstellation über die Faktizitäten der eingerichteten Welt hinwegzusetzen. Sie schießen auf in Leuchtzeichen, die ein anderes Licht auf die Dinge werfen und einen veränderten Blick freisetzen, wenn wir ihrer Bahn folgen: »Sie überflügeln die Dingwelt durch ihr eigenes Dinghaftes, ihre artifizielle Objektivation. Beredt werden sie kraft der Zündung von Ding und Erscheinung. Sie sind Dinge, in denen es liegt zu erscheinen.«12 Für Ador­no trägt das Erscheinende in zweierlei Hinsicht über die Dinghaftigkeit der Kunstwerke hinaus. Zum einen, sofern Kunstwerke eben nicht schlichtweg Dinge unter anderen und wie gewöhnliche Dinge sind. In der ›artifiziellen Objektivation‹ hallt, so Ador­no, vielmehr ein vergangener Schauer nach – worin ein religionsphilosophischer Anspruch zum Tragen kommt, der noch zu erläutern sein wird. Zum anderen legt Ador­no immer wieder den Akzent auf den Sprachcharakter dieser der Kunst eigenen Objekthaftigkeit, aus der etwas spricht »als ihre eigene Sprache«, die geradezu »etwas Musikähnliches« hat. Im Erscheinen wandelt sich der Charakter räumlicher Objekte augenblickshaft und sie »werden zu einem Zeitlichen«,13 erscheinen als dynamischer, sprechender Prozess. Die räumliche Statik des Objektes schlägt instantan in eine zeitliche Dynamik um. Wir haben es hier gleichsam mit einer Kippfigur zu tun. Dieses Umschlagen von räumlicher und zeitlicher Gegebenheit lässt sich als dialektisches Verhältnis von Sehen/visueller Synchronizität und Hören/akustischer Diachronie fassen, die für unterschiedliche Medien und Genres der Kunst in je spezifischer Weise gilt.14 Verstehen wir es zunächst einmal so, dass zwischen dem artifiziellem Ding in seiner material ausgeformten Widerständigkeit und der ästhetischen Auffassung eine Reibung entsteht, in der das Erscheinen gleichsam zündet: Der künstlerische Gegenstand wird sprechend, bringt sich geradezu zur Sprache. Das ›Bild‹ emergiert in einer sprachförmigen, zeitlichen Bewegung. Das zeitlich Ausgesprochene erscheint in der Erfahrung als in sich bewegtes Bild und verräumlicht sich. Aus Freuds Vorlesungen kennen wir die Formulierung »Wenn jemand spricht, wird es heller«.15 Das Vernehmbarwerden der Sprache konstituiert als temporaler Vollzug nicht nur eine eigene Zeitlichkeit, sondern eine Differenzierung, eine 12 Adorno:

ÄT, GS 7, 125; Hervorhebung A. Eu. Vorlesung vom 23. 1. 1962, unveröffentlichte Bandtranskription, Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Signatur Vo 7063. Für den Hinweis auf diese Vorlesung danke ich Michael Schwarz vom Walter Benjamin Archiv in Berlin sehr herzlich! Für die Genehmigung von Zitaten aus der unpublizierten Ästhetik-Vorlesung danke ich dem Adorno Archiv und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. 14 Damit ist keine Gleichsetzung unterschiedlicher künstlerischer Medien und ihrer ›Sprache‹ bzw. ›Schrift‹ (écriture) behauptet, im Gegenteil ist es Ador­nos Ansinnen, die unterschiedlichen Modi von Temporalität und Verräumlichung differenziert zu betrachten. Vgl. Ador­no: Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, in: ders.: GS 16, 628-642. 15 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, hg. v. Anna Freud u. a., Bd. XI, Frankfurt/M. 1999, 422 f. und hierzu beispielhaft Platon: Charmenides 154d-e: »Sprich, damit ich dich sehe«. 13

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gleichsam räumliche Situierung dessen, wovon die Rede ist. Dieses Erkennbarwerden vollzieht sich nicht als physiologisches Sehen, sondern als Vorstellbar-Werden vermittels der Sprache. Es geht nun zunächst einmal grundsätzlich um den Sprachcharakter der Kunst und das Verhältnis von Hör- und Sichtbarwerden, wie es sowohl in biblischen als auch in rhetorischen Konzepten thematisch wird.16 Wenn etwa Cicero die ›Hervorhebung‹ als eine Technik der rhetorischen Kunst dadurch bestimmt, dass das hörbar Gemachte plötzlich sichtbar in Erscheinung tritt,17 dann wird die verlautbarte Sprache zum Anstoßgeber mentaler Vorstellungstätigkeiten bzw. eines inneren Wahrnehmungsvollzugs. Die Augenblicklichkeit einer EvidenzErfahrung – in Übertragung des griechischen Terminus ἐνάργεια, der das flüchtige Aufglänzen (ἀργός) in sich trägt – löst im Nachvollzug der äußeren Wahrnehmung (Hören) plötzlich eine innermentale Anschauung aus, ohne dass diese sich auf eine quasi-visuelle Bildlichkeit reduzieren ließe, sie hat vielmehr cinematographischen Charakter.18 Das in der Plötzlichkeit der Kunsterfahrung Erscheinende hat, als hic et nunc eintretendes, einen eigenen »Zeitkern«, auch »wenn es als Gemaltes, als Komponiertes oder als Geschriebenes dauert«.19 Wenngleich es instantan quasi ›Hören und Sehen vergehen lässt‹, uns aus dem Gewohnheitsgefüge alltäglichen Wahrnehmens herausreißt, ist diese Erfahrungs-Intensität – Ador­no nennt sie wiederholt ein ›Knistern‹ 20 – doch von einer Art, »daß man an gewissen Punkten die Augen 16

Zur Verschränkung von Sehen und Hören in der rhetorisch-ästhetischen Tradition sowie zur Aufnahme des alttestamentlichen Topos »Rede, daß ich dich sehe« vgl. die Überlegungen von Alexander Gottfried Baumgarten in den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus §§ XCII und schließlich die berühmte Formulierung in Hamanns Aesthetica in nuce (Kap. 1), worin der Schöpfung ein stimmhaft sich mitteilender, allerdings in Verwirrung geratener, gleichsam zersprengter Sprachcharakter beigelegt wird, deren disiecta membra ins Geschick zu bringen – Ador­no wie Benjamin beziehen sich vielfach auf diese Stelle –, Aufgabe der poetischen Kunst ist, gleichsam eine Übersetzungsleistung. Hierzu Eusterschulte: Mimesis oder ›ästhe­ tische Wahrheit‹, Berlin 2016/17 (im Erscheinen). 17 Cic. De orat. III 202: »ut eis, qui audient, illud, quod augebimus, quantum efficere oratio possit, tantum esse videatur«; Herv. A. Eu. 18 ›Bilder‹ abwesender Dinge so im Geist vergegenwärtigen, dass sie lebendig präsent erscheinen, dies leistet eine enargetische Sprachform: »Daraus ergibt sich die ἐνάργεια (Verdeutlichung), die Cicero ›illustratio‹ (Ins-Licht-Rücken) und ›evidentia‹ (Anschaulichkeit) nennt, die nicht mehr in erster Linie zu reden, sondern vielmehr das Geschehen anschaulich vorzuführen scheint, und ihr folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen.« Quintilian: Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher, Erster Teil: Buch I -VI, hg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1988 (= Texte zur Forschung 2), hier: VI 2, 32; 711. 19 Adorno: Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript vom 23. 1. 1961 (Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Vo 7067) [Anm. 13]. 20 Vgl. Adorno: ÄT, 123; unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript vom 23. 1. 1961, sowie Ador­no: Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, GS 16, 635: »Das Wort knistern ist vielleicht die erträglichste Annäherung an das, was unter Schriftcharakter zu verstehen sei und unter der Konvergenz von Malerei und Musik.« Knistern, wortgeschichtlich mit dem Knirschen verwandt, sowohl im Sinne eines hörbaren Entflammens, wie ein kurzlebiges Aufflammen von Reisig im Feuer, als auch eines ›Schalls der Zermalmung‹.



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weit aufmacht oder an gewissen Momenten einer Musik die Ohren aufmacht«. Ein Detail gewinnt Leuchtkraft, spricht uns aus dem Ganzen des Kunstwerks plötzlich an, so etwa aus Beethovens d-Moll-Sonate (op. 31.2), sodass man »das Gefühl hat, daß ein Stern aufgeht«.21 Eine solche jäh auf blitzende ›sternenhafte Stelle‹, natürlich nicht dem musikalischen Werk vorbehalten, ist zugleich eine Art hoffnungsgeladenes Versprechen: »Manche Takte Beethovens klingen wie der Satz aus den Wahlverwandtschaften ›Wie ein Stern fuhr die Hoffnung vom Himmel nieder‹ […]. Man muß lediglich die Stelle im Zusammenhang des Satzes spielen und dann allein, um zu hören, wie sehr sie ihr Inkommensurables, das Gefüge Überstrahlende, dem Gefüge verdankt« und so als ›Ungeheures‹ heraussteht.22 Wie das Sprechen respektive Hörbarwerden ein imaginatives und doch leibhaftes Vorstellen eröffnen kann, so wird das, was in der Kunst ans Licht tritt und sich zu erkennen gibt, gewissermaßen stimmhaft. Es artikuliert sich medienspezifisch in einer je eigenen künstlerischen Formen-Sprache: »Die subjektive Durchbildung ist im Stande der Rationalität die einzige Figur, in der etwas wie Sprache der Schöpfung widerscheint, mit der Paradoxie der Verstelltheit des Widerscheinenden. Kunst versucht einen Ausdruck nachzuahmen, der nicht eingelegte menschliche Intention wäre. […] Ist die Sprache der Natur stumm, so trachtet Kunst, das Stumme zum Sprechen zu bringen«.

Gerade hier tritt eine der Kunst immanente Widersprüchlichkeit auf. Bietet sie eine »verzweifelte Anstrengung« auf, dem Stummen eine Stimme zu verleihen, so geht es doch gerade darum, das subjektiv-intentionale Moment zurücktreten zu lassen, um das »schlichtweg Unwillentliche[n]« 23 zur Sprache kommen zu lassen – nicht etwa: es zur Sprache zu bringen.24 Diese Spannung artikuliert sich in einem Zur-Erscheinung- und Zur-SpracheKommen, das stets Umschlagmoment von Aufscheinen und Verlöschen ist. Die spontane Anmutung, dass etwas sprechend wird, löst sich sogleich auf und entzieht sich semantischen Festschreibungen. Ador­no operiert mit einem paradoxalen Modell. Die Spur, die das ästhetische Erscheinen zieht, ist momenthaftes Offenbarwerden und Verflüchtigung in einem. Die ambigue Präsenzerfahrung oszilliert zwischen der Wahrnehmung einer sinnlich-empirischen Gegebenheit und einem instantanen innergeistigen Vollzug. 21 Adorno: Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript vom 23. 1. 1961 (Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Vo 7071) [Anm. 13]. 22 Adorno: ÄT, GS 7, 280, zur Anlehnung an Benjamins Wahlverwandtschaften-Studie abschließend. 23 Ebd., 121. 24 Ador­no nimmt hier wie an anderen Stellen explizit Bezug auf Benjamins Essay Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Ador­no und Gershom Scholem, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977 [im Folgenden: GS], hier: Bd. II 1, 140-157; vgl. Ador­no: Relation zwischen Musik und Malerei, GS 16, 633.

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Dies gilt nicht minder für die celeste Analogebene der Himmelserscheinung, d. h. für die Auffassung einer Konstellation von Himmelskörpern als Chiffrenschrift oder enigmatischer Zeichensprache. Auch diese ›Schrift‹ steht nicht schlichtweg am Himmel, sondern zeigt sich einer Weise der Inblicknahme, einer kon-stellierenden Wahrnehmung und bringt damit einen mentalen Akt ins Spiel, der die Wahrnehmungsereignisse ›sprechend‹ werden lässt. So erst fallen sie uns in den Blick, nicht mehr als Gegenstände einer Nah- und Aufsicht, sondern als Anblickende, die in eine unnahbare Ferne ziehen. Diese Weise eines Hin-Blickens oder einer aufmerkenden Hin-Sicht lässt ein Angeblicktwerden von Seiten des materialen Gegenstandes erfahrbar werden.25 »[ J]edes wahre Kunstwerk ist so, als schlüge es dem Betrachter die Augen auf, als ereignete es sich in dem Augenblick der Betrachtung.« 26

Es sei nur beiläufig daran erinnert, dass apparitio in der mittelalterlichen Psychologie als synonym verwandter Begriff für phantasia/imaginatio bzw. phantasma fungiert.27 Was die Imagination, die Vorstellungskraft zur Erscheinung bringt, sind apparitiones, mentale und doch sinnliche Vorstellungen, oder Vorstellungsszenerien, die nicht schlichtweg Gegenstände einer Wahrnehmungserfahrung ›wiedervergegenwärtigen‹, sondern diese in eine mentale Figuration ›übersetzen‹, ihr Eigenleben zum Sprechen kommen lassen.28 25 Walter

Benjamin entwickelt diese Überlegungen zum auratischen Charakter der Dinge, die unter unserem Aufmerksamwerden den Blick erwidern, in: Über einige Motive bei Baudelaire (1939), in: Benjamin, GS I 2, 646 f. »Dem Blick wohnt die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. […] Das Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« In Rekurs auf Novalis, Proust, Valéry, Karl Kraus. Die »Belehnung« vollzieht sich in Formen eines unmittelbaren Gewahr-Werdens – wie im Traum –, der unwillkürlichen Erinnerung, einer artifiziellen Apprehension und lässt das nunmehr Sehend-Sprechende selbst einen in die Ferne ziehenden Blick entwickeln, »der Blick der dergestalt erweckten Natur träumt und zieht den Dichtenden in seinem Traume nach. Worte können auch eine Aura haben. Karl Kraus hat sie so beschrieben ›Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück‹.« Vgl. George Didi-Hubermann: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, aus dem Franz. von Markus Sedlaczek, München 1999. 26 Adorno: Unveröffentliches Vorlesungsmanuskript vom 23. 1. 1961 (Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Vo 7063) [Anm. 13]. 27 Beispielhaft hierfür etwa eine frühscholastische Definition: »FANTASIA et fantasma dicuntur a fasmos grece, quod est apparitio latine. Unde hec fasma, fasme et hoc fasma, fasmatis, id est apparitio, et proprie inanis et incerta ut in nocte.[…]« Vgl. Summa Britonis sive Guillelmi Britonis Expositiones vocabulorum biblie, ed. by L. W. Daly and B. A. Adly, vol. I, Patavii 1975, p. 253 (= Thesaurus Mundi – Bibliotheca Scriptorum Latinorum Mediae et Recentioris Aetatis, 15/16) vgl. hierzu: Jacqueline Hamesse: Imaginatio et phantasia chez les philosphes du 12e et 13e siècle, 153-184, hier 156, in: Phantasia – Imaginatio. V° Colloquio Internazionale, Roma 9–11 gennaio 1986, atti a cura di M. Fattori e M. Blanchi, Roma (= Lessico Intellettuale Europeo XLVI). Die Anspielung auf das griech. phásma (Erscheinung, Gespenst) lässt den beunruhigenden, dubiosen Realitätscharakter phantasmatischer Nachtgestalten hervortreten. 28 Dass Phantasien Bilder von sinnlich aufgefassten Gegenständen sind, die in der Seele ›figu­



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Was die Vorstellungstätigkeit dabei im versetzenden Blick aus dem materialiter Gegebenen zum Sprechen kommen lässt – stellen wir uns vor, etwas wie ein Kind mit einem ent-stellenden Blick ins Auge zu fassen 29 – bzw. was durch das Kunstwerk, sofern der Blickende sich darauf einlässt, in der ästhetischen Erfahrung freigesetzt wird, ist stets zugleich der Umschlagspunkt, sich etwas vorzustellen, das im Verhältnis zur Wirklichkeit auch anders sein könnte. Kunstwerke sind in diesem Sinne, »nicht allein das Andere der Empirie: alles in ihnen wird ein Anderes.« 30 Gerade in der paradoxalen Konstitution des Wahrnehmungsereignisses, dem Aufscheinen eines Entschwindens, liegt damit ein utopisches Potential, eine Versetzung in ein Anderes im Bewusstsein der Unmöglichkeit, dieses tatsächlich oder ganz konkret ausgemalt vorstellen zu können. Diese Ver-Setzung, die geringfügige Verschiebung, alludiert an Motive etwa der lurianischen Kabbala und die Hoffnung auf eine Restitution des ›Bruchs der Gefäße‹. Ador­no setzt hier allerdings nicht auf die Wieder-Fügung des Zersprengten, der disiecta membra, womit stets auch auf die Verwirrung der Schriftoffenbarung angespielt wird,31 sondern vielmehr auf eine Weise, die Brüchigkeit der Realität überhaupt erst einmal aus dem Gewohnheitsblick herauszuheben, sie drastisch sichtbar werden zu lassen. In der Blickverschiebung auf die Brüche, auf das beschädigte Leben, d. h. in der konstellativen Wahrnehmung des Zerbrochenen, wird ein mögliches Anderssein vorstellbar: »Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in eine neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle zu finden. Weniger als daß sie imitierten, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor.« 32 So erst scheint imaginär ein Es-könnte-auch-anders-Sein auf. Oder wie Ador­no es in Bezug auf die Erscheinung, die am künstlerischen Bild ästhetische Erfahrung konstitutiert, formuliert: »keine imago ohne Imaginäres«33. Kunstwerke zeugen für etwas, was nicht ist, eine mögliche Praxis, ein Noch-nicht-Dagewesenes, das jedoch kraft der Erinnerung an Gewesenes die Möglichkeit des Möglichen wachruft. riert‹ werden (»in animo postea figurata«), ist eine Standarddefinition des mentalen Bildcharakters. Vgl. ebd. 29 Denken wir etwa an die Wahrnehmungsereignisse aus der Perspektivierung eines kind­ lichen Blickes in Benjamins Berliner Kindheit. 30 Adorno: ÄT, GS 7, 126. 31 Vgl. Adorno: KdÄ, GS 2, 189 zum Aufstand des verschriebenen Buchstabens gegen den Schreiber. 32 Adorno: ÄT, GS 7, 199; Hervorh. A. Eu.; vgl. ebd. 208: »Ist ein Wahres an der These von der Kunst als der Welt noch einmal, so ist doch diese Welt in ihrer Komposition aus den Elementen der ersten versetzt, gemäß den jüdischen Beschreibungen vom messianischen Zustand, der in allem sei wie der gewohnte und nur um ein Winziges anders. Nur ist die Welt noch einmal von negativer Tendenz gegen die erste, eher Zerstörung dessen, was durch die vertrauten Sinne vorgespiegelt wird, als Versammlung der zerstreuten Züge des Daseins zum Sinn.« Hervorh. A. Eu. 33 Ebd., 132.

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»Das Nichtseiende ist ihnen vermittelt durch die Bruchstücke des Seienden, die sie zur apparition versammeln. Nicht ist es an der Kunst, durch ihre Existenz darüber zu entscheiden, ob jenes erscheinende Nichtseiende als Erscheinendes doch existiert oder im Schein verharrt. Kunstwerke haben ihre Autorität daran, daß sie zur Reflexion nötigen, woher sie, Figuren des Seienden und unf ähig, Nichtseiendes ins Dasein zu zitieren, dessen überwältigendes Bild werden könnten«.34

Folgen wir diesem Gedanken, dann liegt eben hier ein Versprechen der Kunst, das keine Einlösung, wohl aber eine Sehnsucht bezeugt, die aufstört und zugleich einsteht. Kunst macht etwas vorstellbar, sensibilisiert die Reflexion für Unwirkliches als unverwirklicht Mögliches angesichts der Unwirklichkeit der bestehenden Wirklichkeit. Dies vollzieht sich in einem Erscheinen-Lassen, dessen Scheincharakter stets bewusst zu halten ist, um nicht Potenzen als erreichbare, ideale Faktizitäten zu affirmieren, sondern imaginative Eröffnungen eines Möglichkeitssinnes auszulösen, versprechende Andeutungen. »Im Aufgang eines Nichtseienden, als ob es wäre, hat die Frage nach der Wahrheit der Kunst ihren Anstoß. Ihrer bloßen Form nach verspricht sie, was nicht ist, meldet objektiv und wie immer auch gebrochen den Anspruch an, daß es, weil es erscheint, auch möglich sein muß.« 35

Dieses Imaginäre ist nicht subjektive Phantasmagorie, kein Wolkenkukucksheim des subjektiv ausgesponnenen Möglichen, sondern im Akt intensiver Hingabe 36 an ein Kunstwerk, an seine Sprache, artikuliert sich in der ästhetischen Erfahrung ein kollektiver Unterstrom. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist geschichtlich. Die subjektive Erfahrung in Versenkung in das künstlerische Objekt ist stets imprägniert von materialen historischen Erfahrungen und bewegt sich in geschichtlich veränderlichen Bahnen. Erfahrung ist je geschichtlich tingiert, kann gar nicht anders als innerhalb eines historischen Geschehens gefasst sein. Eine verbindende kollektive, d. h. geteilte Geschichte von Erfahrungen, die aber keineswegs als explizit gemachter, propositional verhandelbarer kultureller Erfahrungshorizont zur Verfügung steht, sondern sich vielmehr in Versetzungen und Brechungen im Kunstwerk artikuliert, ist im Kunstwerk nicht auszulöschen: »Die Sprache der Kunstwerke ist wie eine jegliche vom kollektiven Unterstrom konstitutiert. […] Kraft solchen Erfahrungsgehalts, nicht erst durch Fixierung und Formung im üblichen Verstande weichen die Kunstwerke von der empirischen Realität ab; Empirie durch empirische Deformation. Das ist ihre Affinität zum Traum«.37 34 Ebd.,

129; vgl. ebd., 200. 128. 36 Vgl. hierzu die Ausführungen in Adorno: ÄV, 192, 196, 204, 397 Anm. 15 in Bezug auf Hegel. 37 Adorno: ÄT, GS 7, 133; Hervorhebungen A. Eu. Vielleicht wird deutlicher, wie dies zu verstehen sein kann, wenn wir an Freuds psychoanalytische Theorie von Versprachlichungs­a kten in Bezug auf das Unbewusste denken, das in Träumen immer wieder auf bricht, aber nicht ab35 Ebd.,



Apparition: Epiphanie und Menetekel der Kunst233

Die historische Auffassung ›ästhetischer Bilder‹ und die Bedingungen dafür, dass sie ins Auge fallen oder gar nicht in den Blick kommen, sei es in Phasen einer sensibilisierten Wahrnehmung, Wertschätzung, eines besonderen Aufmerkens, oder sei es im Gegenteil in Zeitspannen, die durch ein Übersehen, ein Vergessen-Sein, gezielte Ignoranz, ideologisch gelenkte Ausblendung oder allgemeines Desinteresse gegenüber einer ›Sprachform‹ künstlerischer Werke gekennzeichnet sein können, all dies sind Indikatoren für das ›Nachleben‹ 38 eines Wahrheitsgehaltes und seines möglichen Werdens. Kunstwerke, die ja etwas in eine material gebundene Form übersetzen, sind so einerseits eine Art Gerinnungszustand, indem sie etwas in einer dinghaften Formung fixieren, d. h. zum Gegenstand der Darstellung machen. Sie geben denselben aber andererseits immer wieder einer Verflüssigung anheim, sofern historisch veränderliche Darbietungs- und Auffassungs-Situationen ein und dasselbe ›Bild‹ immer wieder neu kontextualisieren und sprechend werden lassen. Vor allem aber manifestieren die ›ästhetischen Bilder‹ im Moment des Erscheinens eine eigene, ›innere Zeit und Historizität‹, die zur Realgeschichte in einem Vermittlungsverhältnis steht. In ihnen ist zeitliche Erfahrung kraft einer spezifischen Konstellationsweise eingeschrieben. Die Bildsprache ist keine unveränderliche oder repräsentationale Fixierung. »Die ästhetischen Bilder sind kein Unbewegtes, keine archaischen Invarianten« gleich archetypischen Vorstellungsmustern Jung’scher Prägung, die den Vorstellungsschatz subjektiver Phantasie präformieren. »Kunstwerke werden Bilder dadurch, daß die in ihnen zur Objektivität geronnenen Prozesse selber reden. […] Weit eher sind die latenten und im Augenblick durchbrechenden Prozesse, ihre innere Historizität, die sedimentierte auswendige Geschichte.« 39

Für Ador­no weisen sich Künstler/innen gerade durch die subjektive Fähigkeit aus, sich in die Erfahrungswelt und ihre historische Gegebenheit zu versenken, um in ihren »tragenden Erfahrungen, monadologisch, vorzustellen, was jenseits der Monade ist. Das Resultat des Werks ist ebenso die Bahn, die es zu seiner imago durchmißt, wie diese als Ziel; es ist statisch und dynamisch in eins.«40 Nicht nur produktionsästhetisch kristallisiert sich kollektive geschichtliche Erfahrung in einem Werk aus. Gleichzeitig sind es rezeptions- und wirkungsästhetisch lebensweltliche, materialhistorische Einbettungs- und Auffassungsverhältnisse, die durch die subjektive Erfahrung eine kollektive, gleichsam objektive Wahrnehmungsverfasstheit zum Austrag bringen. In Kunstwerken sprechen sich nicht nur objektiv gegebene Wirklichkeitsverhältnisse in subjektiven Konstellatiobildliche Bilder sind es, sondern vor allem alltägliche, mit bildhaften Rudimenten aufgeladene, vor allem aus Klangresten formierte Versprachlichungen, an die sich das nicht Sagbare in gleichsam deformierter Empirizität partikulärer Erfahrungen bindet. Aus dem Alltagsmaterial konstel­ liert manifestiert sich das kollektiv-geschichtlich Ungesagte aus dem Besonderen. 38 Vgl. ebd., 288 f. 39 Ebd., 132 f.; Hervorh. A. Eu. 40 Ebd.

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nen aus. Sie sprechen Subjekte an und, indem sie und wie sie dies tun, artikulieren sie keineswegs individuelle Idiosynkrasien, sondern lassen gerade an der Affizierung einzelner Subjekte zur Erscheinung kommen, was kollektiv virulent ist. Theologische Unterströmungen ästhetischer Erfahrungen: Joyce Dass Kunstwerke neutralisierte Epiphanien sind, wie Ador­no betont, deutet schon darauf hin, dass es hier nicht um einen Dualismus von noumenaler und phänomenaler Sphäre zu tun ist. Die apparitio non apparentis, das Zur-Erscheinung-Kommen des Nichterscheinenden, wird in der subjektiven Hingabe an das ästhetische Objekt in seiner materialen Dinghaftigkeit zum Präsenzgeschehnis – es fordert eine Weise der Selbstvergessenheit, die nicht Selbstaufgabe ist, ein hochsensibles SichÜberlassen an das, was eben in dieser intensivierten Wahrnehmung sein Eigen­ leben offenbart. Beide aber, objektive Gegebenheit des Kunstwerkes wie subjektive Erfahrungsweise, sind material-historisch bestimmt durch lebensweltliche Konventionen sowie vielfach kollektiv unbewusste und doch profunde Ebenen der Wirklichkeiten, in denen wir leben (Blumenberg). Und doch bewahrt diese Blickverschränkung einen Offenbarungscharakter, lässt eine »Spur von Offenbarung« aufscheinen, denn das »theologische Erbe der Kunst ist die Säkularisation von Offenbarung«.41 Wieder tritt damit die eigentümliche Spannung zu Tage. Die Kunst lediglich zum Widerschein des Realen zu erklären, hieße, ihr den geradezu positivistischen Status einer Wiederholung der verstellten Weltverhältnisse zuzusprechen, sie zum Gegenstand innerhalb des gegenständlich Gegebenen zu degradieren – Dinghaftigkeit ohne Darüberhinaus bis hin zur Anbiederung an wissenschaftliche Naturalismen. Ihr aber einen Offenbarungsgehalt zu unterlegen, sie gleichsam zum Symbol einer sich verkündenden Wahrheit aus einer anderen Welt zu erklären, hieße, sie zum repräsentationalen Kultobjekt mit numinoser Aufladung zu deklarieren – eine Art Fetisch obskurer Offenbarungsquellen bis hin zu den Illusionismen einer Kunstreligion. Wie aber lässt sich zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Naturalisierung und Sanktifizierung ein transgressiver Schein retten, ohne ihn als Heiligenschein, als Epiphanie einer höheren Wahrheit im buchstäblichen Sinne zu zelebrieren?42 Für Ador­no trägt sich diese Widersätzlichkeit in den Werken selbst aus, die in ihrer enigmatischen Verschlossenheit beidem entgegenarbeiten. »Die hermetischen Werke behaupten das ihnen Transzendente nicht als Sein in einem höheren Be41 Ebd., 162. Vgl. Adorno: Unveröffentlichte Vorlesung vom 23. 1. 1961 (Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Vo 7065) [Anm. 13]: »Kurz, alle Kunstwerke sind säkularisierte und dadurch in sich veränderte Epiphanien.« 42 Vgl. ebd., 159.



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reich, sondern heben durch ihre Ohnmacht und Überflüssigkeit in der empirischen Welt auch das Moment der Hinfälligkeit an ihrem Gehalt hervor. […] Wodurch aber die daseienden Kunstwerke mehr sind als Dasein, das ist nicht wiederum ein Daseiendes sondern ihre Sprache.«43 Nicht also offenbart sich hier eine göttliche Stimme im auratischen Nimbus noch etwa subjektiv enthusiasmiertes Geniegebaren und erst recht wird im künstlerischen Werk nicht die bloße Tatsächlichkeit in Ausdrucksgestalten kanalisiert und prolongiert. Sinn- und Sinnesschein des Kunstwerks, ein suggestiver Schein von sinnhaltiger Einheit, operieren gegen die tumbe, antagonistische Faktizität des Realen, zitieren gleichsam einen verlorenen Sinn an, ohne affirmative Setzung, um jede Illusion von Sinnhaltigkeit im selben Atemzuge zu negieren. Das Kunstwerk alludiert an etwas, was fehlt und muss sich des engagierten, konkretisierenden Anscheins, dies einfassen zu können, zugleich begeben; eines Scheincharakters, der den Eindruck erwecken könnte, als sei fernab der Verwerfungen des Realen eine konkrete Harmonisierung in Aussicht zu stellen, dargeboten in einer in sich konsonanten Komposition. Unstimmigkeit, Dissonanz und das heißt auch und stets zugleich aufstörende Vielstimmigkeit markiert vielmehr den Ausdruck, der sich in der ästhetischen Erfahrung verlautbart: Die Leugnung jeder Sinnfügung weist aber als Verlusterscheinung auf Verlorenes, verleiht ein Gespür für die uneingelösten Latenzen im Faktischen. Immerdar verstrickt sich die Kunst in Evokationen von Schein, kann gar nicht anders als ästhetisch zu illudieren, ein feines Gespinst zu evozieren, um es sogleich zu zersprengen, zu desillusionieren: Sehnsuchtsfiguren und Trauer ob des flüchtigen Scheins. »Aus den Kunstwerken wortlos leuchtet heraus, daß es sei, vor der Folie, daß es uneinlösbares grammatisches Subjekt, nicht ist; auf nichts in der Welt vorhandenes läßt es demonstrativ sich beziehen.«44

Dieser antithetische Charakter des Kunstwerks, wie Ador­no ihn zu fassen sucht, mag Anknüpfungen an Heideggers Kunstwerkaufsatz wachrufen und zweifellos schlägt eine Auseinandersetzung hiermit in vielerlei Hinsicht durch. Und doch setzt sich Ador­nos Ästhetik der Apparition von einem Wahrheitsgeschehnis, und sei es auch eines, in dem Geschichtlichkeit sich offenbart, wie Heidegger sie in der Kunst ins Werk gesetzt sieht, entschieden ab. Halten wir an dieser Stelle nur die dinghafte, singuläre, unvertauschbare Konkretion des Kunstwerks in der ästhetischen Erfahrung als zündendes Moment und Entladung in der und unter den besonderen Umständen der Zeit fest, um insbesondere den theologischen Unterstrom des Erscheinens noch etwas genauer zu explizieren. Wir unternehmen ein paar Schritte in die mittelalterliche Apparitionstheologie in einer literaturästhetischen 43 Ebd., 44 Ebd.,

160; Hervorh. A. Eu. 161.

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Perspektivierung des 20. Jahrhunderts und das heißt, wir folgen einer Wegführung, die im Werk von James Joyce theologisch fundierte Reflexionen auf produktionswie rezeptionsästhetische Erfahrungsweisen des Epiphanen anlegt. In Joyces Stephen hero ist es das beiläufige Zuteilwerden eines bruchstückhaft hörbaren Gespräches zwischen einer jungen Dame und einem Herren, das sich vor der Kulisse einer »reine[n] Inkarnation der irischen Paralyse« abspielt – den typischen brauen Backsteinhäusern irischer Wohnstraßenzüge –, das dem erzählenden Helden geradezu peinigend in die Wahrnehmungsfähigkeit einschneidet und ihn erwägen lässt, Momente von ebensolcher eindringlichen Beiläufigkeit in einem Epiphanie-Buch zu sammeln. Marginal scheinende Gegenstände, Situationen oder flüchtige Begebenheiten treten plötzlich aus dem Gewohnheitsgefüge des alltäglich-immerdar Wahrnehmbaren oder auch schon vielfach Gesehenen in seiner funktionalen Beiläufigkeit heraus (wie etwa eine Bahnhofsuhr). Es ist die besondere ästhetische Weise eines momenthaft sich eröffnenden geistigen Sehens, gleichsam eine visionäre Einstellung, die das fokussierte Objekt ›epiphanieren‹ lässt, sodass es sich, für einen Augen-Blick und sofort wieder entfliehend, in eindringlicher Augenscheinlichkeit manifestiert.45 Die Rede von einer Manifestation – rhetorisch eine Vorstellungsintensität, die etwas zum Greifen nah vor Augen stellt, eine Erfahrung unmittelbarer Evidenz – weist theologisch auf ein Offenbar-Werden. Übertragen auf die epiphanierende Schönheit: eine Erfahrungskonstitution im Zuge eines veränderten Wahrnehmens, das die Dinge sprechend werden lässt, indem es sie aus dem Insgesamt des Sichtbaren herausstehen lässt, eine immanente Potentialität zur Veräußerung kommen lässt. Joyce rekurriert auf eine bei Thomas von Aquin vorgenommene Differenzierung von Momenten, die etwas als schön in Erscheinung treten lassen: integritas, consonantia, claritas.46 Der theologische Kontext wird auf die Bestimmungen der Bedingungen ästhe­ tischer Erfahrung transferiert, um drei ineinander greifende Momente einer Wahrnehmung zu differenzieren, die den ästhetischen Gegenstand konstituiert: 1. Durch die Herauslösung aus dem Insgesamt der Wahrnehmungswelt wird er in seiner Integrität erfahrbar, als dieser bestimmte Eine – der Fokus liegt nun auf dem partikularen Gegenstand selbst.

45 »Unter Epiphanien verstand er eine jähe geistige Manifestation (a sudden spiritual manifestation), entweder in der Vulgarität von Rede oder Geste, oder in einer denkwürdigen Phase des Geistes selber. Er glaubte, dass es Aufgabe des Schriftsteller sei, diese Epiphanien mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie selbst die zerbrechlichsten und flüchtigesten aller Momente seien (the most delicate and evanescent of moments).« Siehe James Joyce: Stephen der Held, in: ders.: Stephen der Held. Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, übertragen von Klaus Reichert, Frankfurt/M. 1987, hier: Stephen der Held, 224. Für den engl. Text s. James Joyce: Stephen Hero. Part of the First Draft of ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹, ed. by Theodore Spencer, revised edition by John J. Slocum and Herbert Cahoon, London 1956, 216. 46 Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologiae pars I, qu. 39, ar. 8.



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2. Der synthetisierende Wahrnehmungsvollzug nimmt ihn sodann in seiner immanenten Strukturierung in den Blick, als dieses in sich durchgestimmte geformte Ganze. 3. Erst unter diesen Voraussetzungen eines Wahrnehmungsvollzugs zeigt sich in der strahlenden Erscheinung47 eine spezifische Washeit (quidditas): »Seine Seele, seine Washeit, springt uns an aus dem Gewand seiner Erscheinung (Its soul, its whatness, leaps to us from the vestment of its appearance). Die Seele des gewöhnlichsten Gegenstands, dessen Struktur sich durch diese Blickeinstellung zeigt, scheint uns zu strahlen. Der Gegenstand vollbringt seine Epiphanie (The soul of the commonest object, the structure of which is so adjusted, seems to us radiant. The object achieves its epiphany).«48 Der Gegenstand wird selbst aktiv, springt auf, strahlt, schlägt gewissermaßen, um den Benjamin’schen Topos aufzurufen, unter unserer Inblicknahme die Augen auf und spricht uns an. Man könnte auch sagen, er sticht ins Auge, wenn man diese Wendung ganz unmetaphorisch ernst nimmt, um im Sinne des punctum (Barthes) darauf zu verweisen, dass etwas aus dem Ensemble der kulturell codierten Wahrnehmungskonventionen plötzlich heraussticht und uns angeht. Das ist kein verborgener Hintersinn, der in einer hiervon zu scheidenden repräsentativen Umkleidung symbolisch sichtbar wird, um auf eine entfernte ontologische Ebene zu verweisen – kein »Licht aus einer andern Welt, von deren Idee die Materie bloß der Schatten, von deren Realität dieselbe das Symbol bloß ist (a light from some other world, the idea of which the matter is but the shadow, the reality of which it is but the symbol).«49 Die materiale Gegebenheit, das Gewand, weist auf das Gewahrwerden eines Inkorporationsverhältnisses, das sich in der Korrelation von Hervorstechen – etwas kommt auf uns zu – und Gesehenwerden – wir nehmen etwas in den Blick – verlebendigt. Joyce beschreibt dies gerade an den vermeintlich unscheinbarsten Alltagsgegenständen als Epiphanie oder Geschehnis des Lichtwerdens, an Dingen also, die gar zu leicht übersehen werden, die so wirken, als seien sie vollständig in ihrer alltagspraktisch-funktionalen Bedingtheit verhaftet. Wie sollten diese plötzlich aufstrahlend erscheinen? Wiederum handelt es sich hier nicht um einen rein physischen Sehakt, auch das ist im Hinblick auf Ador­nos Epiphanie-Verständnis wesentlich, sondern um eine künstlerische Sehweise (artistic apprehension), die ein »ästhetisches Bild« in Erschei47 Bei Thomas ist dieses dritte Moment der Schönheit, pulchritudo, bestimmt durch einen eigentümlichen Farbglanz, ein Schimmern (»unde habent colorem nitidum«), das erst unter dieser Inblicknahme in Erscheinung tritt. Die theologisch-rhetorischen Implikationen des color nitidus werden in der ästhetischen Theorie, etwa Baumgartens, zu einem Grundmoment des begrifflich uneinholbaren ästhetischen Glanzes. 48 Joyce: Stephen der Held, 227; ders.: Stephen Hero [beide Anm. 45], 218; Hervorh. A. Eu. 49 Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, in: Joyce: Stephen der Held [Anm. 45], 488; für den engl. Text siehe James Joyce: A Portrait of the Artist as a Young Man, London 1956, 217.

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nung treten lässt. Es ist ein plötzliches Umschlagen, der Gegenstand wird gewissermaßen vor dem geistigen Auge (spiritual eye) lebendig. Wie aber vollzieht sich das? »Die höchste Qualität verspürt der Künstler, wenn das ästhetische Bild in seiner Imagination konzipiert wird (The supreme quality is felt by the artist when the estethic image is first conceived in his imagination). Den Geist in diesem geheimnisvollen Moment hat Shelley sehr schön mit einer glimmenden Kohle verglichen. Der Moment, da diese höchste Qualität der Schönheit, die klare Ausstrahlung des ästhetischen Bildes, leuchtend wahrgenommen wird vom Geist, der von seiner Ganzheit gefangengenommen und von seiner Harmonie fasziniert worden ist, ist die leuchtend stumme Stasis des ästhetischen Wohlgefallens, ein geistiger Zustand, der jener Herzverfassung sehr ähnlich ist, die der italienische Physiolog Luigi Galvani, mit einem Ausdruck, der fast so schön ist wie der Shelleys, die Entrückung des Herzens genannt hat.« 50

Abermals sind wir mit theologischen Motiven konfrontiert, die ganz in eine tentative Beschreibung ästhetischer Erfahrung eingeflossen sind. Handelt es sich bei der ästhetischen Erfahrung vorrangig um eine Verlebendigung der Dinge, deren Wesenseigenschaften (Quiddität) in der Weise des Gesehen-Werdens plötzlich aufstrahlen? Wandelt sich Joyces Perspektive, wenn er später in Portrait of the Artist den artistischen Blick als imaginative Instanz akzentuiert? Ohne in diese kontrovers geführte Diskussion 51 hier intensiver eintreten zu wollen, lässt sich in Hinsicht auf das Erscheinen bei Ador­no festhalten, dass eben diese beiden Momente ineinandergreifen. Die spezifische Inblicknahme, die die Dinge aufstrahlen lässt und über den Alltagsblick hinaus in ihrer Eigentümlichkeit sehbar macht, ist gar nicht zu trennen von einer imaginativen Bewegung, die eben dieses Aufscheinen vergegenwärtigt und geistig forttreibt. Die Temporalität des »gesteigerten ›Augenblicks‹«,52 wie sie etwa bei Joyce, bei Proust oder Musil – wichtigen Referenzautoren Ador­nos – thematisch wird, lässt sich als Absage an konkrete sozialutopische Entwürfe, ja als resignative Suspension kollektiv realisierbarer Utopien eines gelingenden Zusammenlebens lesen. An deren Stelle tritt »das ›Ich‹ im Zustand emphatischer Wahrnehmung, einer die soziale, aber auch bloß private Wirklichkeit transzendierenden ›Ekstase‹ des ›Glücks‹«. Diese Art der Fokussierung auf die innere Erfahrung des Subjekts scheint im Kontrast zu Ador­nos Hoffnungsmoment, zu stehen, gleichsam als Rückzug in eine glücksverheißende Innerlichkeit in Abwendung vom Weltgeschehen. »Die objekPorträt des Künstlers, 488; Joyce: Portrait of the Artist, 217; Hervorh. A. Eu. Vgl. hierzu Rainer Zaiser: Die Epiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines religiösen Erlebnismusters (= Ètudes littéraires françaises 63), Tübingen 1995, 34-50; in Rekurs auf Thomas Zaniello: The Epiphany and the Object-Image Distinction in: James Joyce Quaterly 4 (1966/67), 286-288, siehe 286; Umberto Eco: Die Poetiken von Joyce. Von der Summa zu Finnegans Wake, in: ders.: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1973, 293-442 mit einem Überblick zur Forschung. 52 Bohrer: Plötzlichkeit [Anm. 5], 186. 50 Joyce: 51



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tive Realität wird nicht mehr als eine utopisch veränderbare gedacht, die futuristische Antizipation fällt überhaupt weg, und die utopische Phantasie verlagert sich in die Innenseite des Subjekts«, genügt sich möglicherweise als »Utopie des Ästhetischen« im »Glanze selbst«,53 d. h. in den durch literarische Fiktionen evozierten Phantasien des Momentanen. Doch das ist nicht zwangsläufig als resignativer Rückzug in Innenwelten zu verstehen. Denn die Emergenz der Phantasie hat insofern eine sozialkritische Dimension, wenngleich indirekt, als sich bereits das Eintauchen in imaginierte Welten als eine Reaktion auf die Deformation äußerer Lebenswelten deuten lässt. In diesem Sinne wäre sie als implizite Kritik zu lesen, denn, wenngleich eine eskapistische Verinnerlichung trügerisches Residuum des Für-sich-Seins angesichts von Ohnmacht sein kann, so ist die Innerlichkeit im strengen Sinne als »volle Erfahrung des äußeren Lebens, inwendig wiederkehrend« zu fassen, »so wie die Zeit, das Medium von Musik, der innere Sinn ist« (ÄT, 177) und das heißt geradezu Bedingung kritischer Besinnung. Eben so ist auch das diesen Überlegungen vorangestellte Motto zu verstehen. Auch ist die spezifische Augenblickserfahrung bei Joyce oder Proust kein bloß punktuales Gewahrsein des reinen Jetzt, sondern aufgeladen mit erinnerter Zeit, Augenblicken vergangener Erfahrung, die im Jetztmoment unwillkürlich wieder gegenwärtig werden, auf eine verschüttete Welt, zuletzt auf Kindheit weisen. Für Ador­no sind gerade die Phantasie- und Reflexions-Bewegungen, die in lite­ rarischen Fiktionen frei werden, in Rekurs auf die maßgeblichen Autoren der französisch- wie englischsprachigen Avantgarden (Baudelaire, Proust und Valéry hier – Poe und Joyce dort, um nur einige aufzuführen), ein Ausgangspunkt, um das Erscheinen eines möglichen Anderen vor dem Hintergrund materialhistorischer kollektiver Erfahrungen kritisch zu reflektieren und als Reflexionsform in Hinsicht auf das uneingelöst Mögliche über die bloße subjektive Innenschau hinaus zu pointieren. In Hinsicht auf Aspekte dessen, was die Bestimmung der Epiphanie für die ästhetische Erfahrung konturierbar macht, sei insbesondere der letzte Aspekt, die plötzliche Gefangennahme herausgehoben. Dieses Entrücktsein, verstehen wir es nicht als Moment der bloßen Verinnerlichung, ist momenthaft-gewaltsam und von einer befremdenden Intensität, die in die Reflexion eingeht. Ador­no alludiert vielfach den fruchtbaren Augenblick in Anlehnung an Lessing: eine momenthaft aufscheinende Prägnanz.54 53 Bohrer:

Plötzlichkeit [Anm. 5], 186. Allerdings gilt diese Prägnanz (schwanger gehen mit) keineswegs allein – wie bei Lessing – für die Malerei. Entscheidend ist vielmehr die augenblickliche Konzentration, gleichsam ein nukleares Sprengpotential, das insofern ›unwirklich‹ ist, als es eine verdichtete Zeit- und Geschichtserfahrung punktual erfahrbar macht. Roland Barthes bestimmt diese Punktualität von Sinnfülle als künstlichen, irrealen bzw. nicht realen Charakter der Kunst, »er wird eine Hieroglyphe sein, aus der sich auf einen Blick (aus einer Einstellung, wenn wir zum Theater, zum Film übergehen) die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft herauslesen lassen, das heißt der 54

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»Zu Erscheinungen im prägnanten Verstande, denen eines Anderen, werden Kunstwerke, wo der Akzent auf das Unwirkliche ihrer eigenen Wirklichkeit f ällt. Der ihnen immanente Charakter des Aktes verleiht ihnen, mögen sie noch so sehr in ihren Materialien als Dauerndes realisiert sein, etwas Momentanes, Plötzliches. Das Gefühl des Überfallen-Werdens im Angesicht jedes bedeutenden Werkes regis­ triert das.« 55

Der Aktcharakter der Kunstwerke, als ginge von ihnen ein Eingriff aus, der uns überf ällt, uns in sie hineinzieht, eine plötzliche Vereinnahmung  – eben hierin liegt ein freisetzendes Moment, sich im Hineingezogenwerden ganz von der entfremdeten Welt zu entfremden. Schließlich handelt es sich um eine momenthaft erfahrbare Befreiung oder ›Transzendenz gegenüber dem bloßen Dasein‹ in einer körperhaft gegenwärtigen Augenblickserfahrung von Unmittelbarkeit. Diese Erfahrung ist jedoch nicht als hedonistisches Glückgefühl eines wohlgefälligen Ganzbei-sich-Seins misszuverstehen; vielmehr ist sie Moment »des Überwältigtwerdens, der Selbstvergessenheit, eigentlich der Auslöschung des Subjekts […] Es ist dann so, wie wenn in diesem Augenblick – man könnte sie Augenblicke des Weinens nennen – das Subjekt in sich erschüttert zusammenstürzen würde […] sich selber auslöscht und sein Glück hat an dieser Auslöschung«.56 Diese »temporäre Suspension« des Subjektes im Sich-Überlassen an das Kunstwerk ist kein gedankenloses Aufgehen in sinnlicher Erfüllung. Sofern in der materialen Struktur der Kunst, der Dissonanz in der Form, selbst eine gewisse Widerständigkeit gegen ein umstandsloses Sich-treiben-Lassen liegt – Ador­no nennt das eine Stauung der Reflexion –, provoziert sie geradezu Verstehensprozesse, wie sie im Gefühl des Erhabenen gegenwärtig werden. Die Erfahrung des Erhabenen, wie sie Kant an Naturgewalten entwickelt, wird zum strukturalen Grund jener Erfahrung von Widerständigkeit, die der ästhetischen Erfahrung stets innewohnt. »In diesem Gefühl des Widerstandes gegen das bloße Dasein ist eigentlich die Utopie enthalten, daß dieses bloße Dasein nicht das letzte Wort habe. Und dieses bilderlose Bild der Utopie, dieser Ausdruck einer Utopie, die sich nicht etwa selbst ausspricht, sondern nur dadurch kundtut, daß etwas stärker erscheint, oder daß wir stärker erscheinen als die Welt, so wie sie nun einmal ist.« 57

historische Sinn der dargestellten Geste. Diesen entscheidenden, absolut konkreten und abstrakten Augenblick wird Lessing (im Laokoon) als prägnanten Augenblick bezeichnen.« Roland Barthes: Diderot, Brecht, Eisenstein, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Franz. v. Dieter Hornig, Frankfurt/M. 1990, 97. Zum französischen Original vgl. Roland Barthes: Diderot, Brecht, Eisenstein (1973), in: L’obvie et l’obtus. Essais critiques III, Paris 1982, 89. 55 Adorno: ÄT, GS 7, 123. 56 Ador­no: ÄV, 197. 57 Ebd., 52.



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Kants Erhabenheitsästhetik wird zur Folie, um ästhetische Erfahrung über ein Spannungsgefühl, ein »In-sich-Erzittern« zu begreifen, »als eine Art Bewegung des Bewußtseins […], das eben schwankt zwischen diesem Gefühl der Ohnmacht und des Überwältigtwerdens und jenem Gefühl des Seiner-selbst-mächtig-Seins und des Widerstandes. […] Und wenn alle Kunst seitdem, um schön zu sein, um etwas von Glück überhaupt zu geben, notwendig und unabdingbar auch dissonant hat sein müssen, dann ist dieser grundsätzlich dissonierende Charakter aller in einem umfassenden Sinn modernen Kunst eigentlich Ausdruck jener Dialektik, auf die Kant im Naturschönen gestoßen ist.« 58

Apparitionstheologeme Gehen wir  – das ästhetische Erzittern im Blick  – nochmals zurück zu einigen Andeutungen auf die theologische Hintergrundsemantik ästhetischer Erfahrung. Ador­no macht aus der translativen, inversiven Indienstnahme theologischer Elemente in Hinsicht auf ein systematisches Darlegungsinteresse keinen Hehl. Aber das geschieht gerade nicht in der Verschränkung der Kunst mit, sondern ihrer klaren Abstinenz von religiösen Aufladungen.59 Wenn der Apparitionscharakter der Kunst u. a. dadurch gekennzeichnet werden kann, dass hier nicht »objektlose Innerlichkeit« 60 gefragt ist, sondern sowohl produktionsästhetisch (im Kunstwerk) wie rezeptionsästhetisch (in der ästhetischen Erfahrung) durch das singuläre Subjekt hindurch objektive Strömungen zum Sprechen gelangen, die sich jeweils in einem spezifischen, historischen Inkarnat artikulieren (einer künstlerischen Formsprache, in der die Form stets als sedimentierter historischer Gehalt gefasst ist), und wenn in der ästhetischen Erfahrung je Gestaltwerdungen der Kunst und ihres historischen Index aufscheinen, dann wird deutlich, inwiefern das Zur-ErscheinungKommen auf ein Inkorporationsverhältnis weist. Erinnern wir uns, dass die lateinische Formulierung apparitio im theologischen Kontext an die Stelle des griechischen ἐπιφάνεια bzw. θεοφάνεια tritt. Eine Theopha58

Ebd., 53 f. hierzu den englischsprachigen Aufsatz Ador­nos: Theses Upon Art and Religion Today, in: GS 16, 645-653. Proust ist für Ador­no hier der Autor, der gerade indem er sich dem konkreten, partikularen materialen Gegenständen zuwendet, eine allgemein, ja wahrhaft theologische Idee (die Auferstehungs- und Unsterblichkeitshoffnung) in seine literarischen Werke transponiert, diesen den Charakter einer ›Hieroglyphe‹ (wortwörtlich: heilige Schriftzeichen) verleiht, sofern er in Konzentration auf opake Details die Erinnerung an Vergangenes wachruft, die Macht des Vergessens bricht. »It is he who, in a non-religious word, took the phrase of immortality literally and tried to salvage life, as an image, from the throes of death.« Ebd., 653. Damit nimmt Proust für Ador­no, indem er wider das Sterben des individuellen Lebens kraft des Vergessens agiert, dem Tod seinen Stachel: »O death, where is thy sting?…« – eine Referenz auf Paulus 1. Kor 15,55. 60 Wie Ador­no sie in seiner Auseinandersetzung mit Kierkegaard und der Konstruktion des Ästhetischen wiederholt diskutiert. 59 Vgl.

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nie/Epiphanie (Gotteserscheinung) als Moment eines visionären Sichtbarwerdens weist auf eine Offenbarungserfahrung, die einer singulären Person, raum-zeitlich begrenzt, momenthaft, zuteilwird: ein singulär erfahrener Augenblick – denken wir nochmals an Ador­nos Formulierung zurück – »der Transzendenz gegenüber dem bloßen Dasein«,61 religionshistorisch ein alt- wie neutestamentlich vielfach verbürgtes direktes Erfahrbarwerden Gottes. Etwa die Berufung, wie sie Mose am Sinai erfährt. Es handelt sich also keineswegs, auch wenn die Eingemeindung des griechischen Terminus in der lateinischen Spätantike dies nahezulegen scheint, um ein christlich konnotiertes Theologem.62 Interessieren soll uns hier die im weiteren Sinne ›sprachliche‹ Offenbarung. Der theologische Status von Epiphanien weist auf ein je medialisiertes Zur-Erscheinung-Kommen, das Schubkraft für außertheologische ästhetische Debatten besitzt: eine Epiphanie, ein In-Erscheinung-Treten des Ineffablen (theologisch: Gottes), die nicht nur die dialektische Gleichzeitigkeit von Latenz und Apparenz offenkundig macht, sondern darüber hinaus die Materialisierung in einer ›Sprache‹, d. h. in temporalisierten, gleichsam diaphanen Artikulationsformen. Nehmen wir etwa die schöpfungstheologische Vorstellung auf, wie sie beispielsweise Augustin formuliert, dass die Naturerscheinungen geradezu ausrufen (clamant), dass sie Ausdruck göttlicher Hervorbringung sind, indem sie sich als veränderliche zeigen. Wiederum ein Umschlagen von Sichtbar- und Hörbarkeit: »Und die Stimme der so Rufenden ist genau der Augenschein, den sie uns bieten (Et vox dicentium est ipsa evidentia).« 63 Der Sprachcharakter der physischen Dinge verbürgt eine Evidenzerfahrung, sofern ihre sichtbare Veränderlichkeit von einem unsichtbaren Unveränderlichen ›spricht‹. Alles was erkannt und wahrgenommen wird, so heißt es in einer berühmten Formulierung des mittelalterlichen Philosophen Johannes Scotus Eriugena, ist nichts anderes als das Erscheinen des Nichterscheinenden (non apparentis apparitio), eine Manifestation des Verborgenen (occulti manifestatio), Affirmation des Negierten (negati affirmatio), ein Begreifen des Unbegrifflichen (incomprehensibilis comprehensio) oder eine Rede des Unaussprechlichen (ineffabilis fatus).64

61 Adorno:

ÄV, 196.

62 Systematisch

relevant ist der Sprachcharakter der Gotteserscheinung als Selbstmitteilung im Weltganzen (vgl. Ps 50, Ps 68) bzw. sprachförmiges Offenbarwerden in Feuer, Nebel, Rauch, Naturgewalten, insbesondere aber in der hörbaren (aber nicht sichtbaren) Ansprache an Mose am Sinai (Ex 3,14-19,16), ebenso im Traum des Jakob (Gen 28, 10 ff.), im Deboralied (Ri 5, 3-5, vgl. Hab 3), in den Prophetien eines Ezechiel oder Daniel – Letztere wird uns gleich wieder begegnen –, die geradezu eine Ausbildung in imaginativen Szenerien evozieren. In der christlich geprägten Spätantike steht Epiphanie für das historische Erscheinen Christi in leiblicher Existenz bzw. für den adventus dei, etwa über die Motivik der Anbetung der Weisen (Könige), denen ein Stern den Weg gewiesen hat. 63 Augustinus: Confessiones XI 4, 6. 64 Vgl. Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon / De divisione naturae, ed. by Sheldon Williams, P III 4; 58; 12-19, 120.



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Nun geht es gar nicht darum, Ador­nos Philosophie näher an die negative Theologie zu rücken, sondern auf weitere historische Sinnschichten, die im apparitioBegriff angelegt sind, hinzudeuten. Wenn sich, theologisch grundiert, etwas Göttliches in allen Erscheinungsweisen der Dinge ausspricht bzw. wahrnehmbar werden kann (omnis visibilis et invisibilis creatura theophania, id est divina apparitio, postest appellari), jedes sichtbare wie unsichtbare Ding als Erscheinung Gottes gefasst werden kann, dann führt das, in den Immanenzzusammenhang profaner Erleuchtung gewendet und vor allem transponiert auf eine geschichtliche Natur der Dinge und ihrer historischen Zurichtungen, auf eine irreduzible, alles Begreifen transgredierende Dimension, die die bloße Dinglichkeit überschreitet. Aber wichtiger vielleicht noch ist die wiederum theologisch imprägnierte Frage, wie uns dieses Offenbarwerden zu Bewusstsein kommen kann. Der Gedanke des Blitzschlagartigen, Augen-Blickes (oder Augen-Blitzes), gleichsam die Zündung von Ding und Erscheinung, hat hier eminente Bedeutung. Vergegenwärtigen wir uns dies wiederum exemplarisch an einem berühmten Zeugnis Augustins, der dieses augenblickhafte, sehende Gewahrsein als »blitzenden Moment eines zitternden Erblickens (in ictu trepidantis aspectus)« zu fassen sucht: einschneidend – ictus ist ein Stich oder Schnitt, wie er unter Waffengewalt zugefügt wird – und jähe Manifestation von flüchtigster Intermittenz, die den empirischen Zeitfluss durchstößt, den Wahrnehmenden in Erschütterung versetzt. Was hier gewaltsam einbricht, ist nicht die Vision eines überzeitlichen Heilszustands, sondern ein Moment einer Einsicht, wie sie im Diesseits auf brechen kann, nur um sich sofort wieder zu entziehen. Sie ist nicht zu halten. »[A]ber daran mich festzuschauen, das vermochte ich nicht: den Schwachen schlug es zurück ins Gewohnte, und was ich in mir davon herumtrug, war nur der liebende Gedanke daran, bei dem mich verlangte, als hätte ich den Duft einer Speise verspürt, die zu essen ich noch nicht fähig war.« 65 Was hier begegnet, sind sinnliche, äußerst zarte Anmutungen einer Hoffnung im Hier und Jetzt, Andeutungen der messianischen Figur eines Zur-Erscheinung-Kommens, das flüchtig bleibt, ja instantan wieder auf den Boden der Realität zurückwirft. Es geht an dieser Stelle lediglich um diese Konnotation der theologisch gefassten Gotterscheinung: die innerzeitlich widerfahrende Apparition als ein die Zeitläufte durchfahrendes Auf blitzen. Wiederum in eine profane Erleuchtungstheorie mit geschichtskritischer und politischer Invektive gewendet, wie es George Didi-Hubermann in Bezug auf das ›dialektische Bild‹ bei Benjamin und in Auseinandersetzung mit Agamben entwickelt hat,66 wäre zu fragen, inwiefern diese Art der Apparition sich als Figur eines Nachlebens (Aby Warburg) verstehen lässt. Dies allerdings nicht im Sinne poliConfessiones VII 17, 23 ff., übers. v. J. Bernhart, Frankfurt/M. 1987, 347. Zur Plötzlichkeit vgl. Mal 3,1. 66 Vgl. George Didi-Huberman: Apokalypsen?, in: ders.: Überleben der Glühwürmchen. (Survivances des lucioles), aus dem Französ. von Markus Sedlaczek, München 2012 (= Text und Bild, hg. v. Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter, Bernd Stiegler, begründet von Gottfried Boehm und Karlheinz Stierle), 76 ff. 65 Augustinus:

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tisch aufgeladener apokalyptischer Erlösungsszenarien oder futuristischer Utopien am Ende aller Tage – vielmehr wäre die momenthafte Sprengkraft gerade in der ästhetischen Erfahrung einer blitzhaften Gewalt flüchtigster Einsicht zu suchen,67 die im Zusammenschießen von Vergangenheit und Gegenwart im Jetzt ein mögliches Anderes in Erscheinung treten lässt – das Nachleben eines anders Möglichen. Die »Entfaltung der Werke ist das Nachleben«, so Ador­no, sofern die in sich ohnehin unversöhnlichen Momente, die im Kunstwerk verfugt sind und die für die Unversöhnlichkeit des Geschichtlichen ›instehen‹ oder zeugen, eine innere Dynamik bergen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten wiederum differente, gleichsam explosive Entäußerungen erfahren können, kairotisch auf- und vielleicht auch ausbrechen.68 Vielleicht lässt sich das am negativen καιρός, wie ihn Ador­no bei Beckett verwirklicht sieht, nachvollziehen. Wenn Beckett, so etwa in Warten auf Godot, aber ebenso in vielen anderen Prosadichtungen, Fortbewegung als ›Auf-der-Stelle-Treten‹ inszeniert, mit Wiederholungen, Endlosschleifen, immer wieder abgeschrittenen Parcours und Dialogfragmenten operiert, dann lässt sich das einerseits als »Extrapolation des negativen καιρός s« lesen: »Die Fülle des Augenblicks verkehrt sich in endlose Wiederholung, konvergierend mit dem Nichts.« Was sich so zeigt, ist für Ador­no keine Realitätsdarstellung oder ein Versuch, restringierte menschliche Verkehrsformen vorzuführen, sondern vielmehr ein Verfahren, eine grundierende menschliche Erfahrungsweise so, wie sie jetzt und genau in diesem Augenblick ist, freizusetzen. An diesem »Nullpunkt aber, in dem Becketts Prosa ihr Wesen treibt, wie Kräfte im unendlich Kleinen der Physik, springt eine zweite Welt hervor, so trist wie reich, Konzentrat geschichtlicher Erfahrungen«,69 und dieses plötzliche Aufspringen der negativen Sinnfülle, Kairos der Erfahrung,70 wäre eben die im Kunstwerk einstehende Dynamik, die sich immer wieder explosiv entladen kann. Längst ist es überfällig, auf ein zweites Moment, mit dem Kunstwerke über die Dinglichkeit des Empirischen trotz ihrer Dinghaftigkeit hinausstehen, hinzuführen: Die transformative Bestimmung der ästhetischen Erfahrung, die am Erscheinen des Kunstwerks explosiv erschütternd auf bricht, rekurriert für Ador­no auf den theologischen Schauer – eine blitzschlagartige Gotteserfahrung, deren Gewalt zugleich Furcht wie Ehrfurcht evoziert. Wenn Kunstwerke »Nachbilder des Schauers« sind, eines Schauers, der sich umso mehr im Kunstwerk entäußert, desto unüberbrückbarer die Kluft zwischen den realhistorisch vorfindlichen, funktional ein67 Didi-Huberman bezieht sich hierbei auf Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte und die Andeutung eines Messias, der durch eine »kleine Pforte« eintreten könne, jede Sekunde, um dies als Chiffre für das dialektisch auf blitzende, vorbeihuschende Bild und seine flüchtige Schönheit zu lesen: »›Das dialektische Bild ist ein Kugelblitz, der über den ganzen Horizont des Vergangnen läuft‹ schreibt Benjamin in diesem Kontext. […] In unserer eigenen historischen Welt«. Ebd., Zerstörungen, 105. 68 Zu diesem ›Nachleben‹ vgl. bei Ador­no insbesondere ÄT, GS 7, 288 ff. 69 Adorno: ÄT, GS 7, 52 f.; Herv. A. Eu. 70 Kairos ist im Unterschied zu Chronos der kritische Augenblick, der eine Entscheidung fordert, den Menschen herausfordert, so auch alttestamentlich die Zeit der Gnade bzw. neutesta­ mentlich der herauf kommenden Herrschaft Gottes (Mk 1,15).



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gerichteten Einzeldingen der rational operationalisierten Wirklichkeit und einem nicht-reduktionistischen, gleichsam wesenhaften ›Mehr‹ der Phänomene scheint, dann stellt sich die Frage, in welcher Weise »der vergangene Schauer als ein Vergangener in ihnen nach[zittert]«.71 Im Zuge der Auf klärung ist dem Schauer ob des Wirkens numinoser Naturmächte, der Ohnmacht gegenüber göttlichen Gewalten, aber auch der Bannkraft ritualisierter Unterwerfungsgesten gegenüber einem Erscheinen des Göttlichen an Stätten kultischer Verehrung der Boden entzogen. Diese auf klärerische Entzauberung der Natur sowie die Kritik religiöser Irrationalismen ist auf der einen Seite ein Befreiungsschlag: Sie nimmt die mythische Angst. Aber in eben diesem auf klärerischen Prozess verliert die Natur ihren Schauer, d. h. ihren erschütternden, unbegrifflichen Anspruch, eben das, was ›mehr‹ ist als die bloße Positivität des Faktischen. Ist es nicht dieselbe Auf klärungsbewegung, die zu einer Rettung des Schauers ansetzt, sofern sie den Blick lenkt auf das, »was an der Realität selbst Schauer erregt«,72 auf eine rationalistische Ernüchterung also, die den Dingen mit Austreibung des Numinosen jeden Zauber, jedes über das funktionalistische Kalkül hinausweisende Moment genommen hat? Konfrontiert mit dem Schrecken des unerbittlich Wirklichen kann der Wahrheitsgestus der Kunst greifen. Einerseits, sofern sie die Irrationalität der vermeintlich rationalen Verfasstheit der Welt erfahrbar macht. Andererseits, indem sie das der Natur des Singulären abgeschnittene Vielsagende aufnimmt und im künstlerischen Werk aufscheinen lässt. »Natur hat ihre Schönheit daran, daß sie mehr zu sagen scheint, als sie ist.«73 Dieses transitorische Moment der Natur, ihre Anmutung eines Vielsagenden – im Benjamin’schen Sinne könnte man dies die auratische Dimension einer nahen Ferne nennen –, den höchst flüchtigen Schein eines ÜberSich-Hinausweisenden sucht die Kunst der Kontingenz zu entreißen. Wie könnte sie das, wenn doch dem Schein etwas Unwillkürliches, nicht Dirigierbares, ein Offenbarungscharakter anhaftet, der als solcher nicht zu erzwingen ist, sondern sich zeigt? Indem die konstellierende Verfahrensweise, d. h. die konstruktive Formung und Konzentration im Kunstwerk zum Verdichtungspunkt eines Geschehens wird, das aus dem Zusammentreten materialer Momente eine Sprache gewinnt. »Ihre Transzendenz ist ihr Sprechendes oder ihre Schrift, aber eine ohne Bedeutung oder, genauer, eine mit gekappter und zugehängter Bedeutung. Subjektiv vermittelt, manifestiert sie sich objektiv, aber desto desultorischer«.74 71 Ador­no:

Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript vom 23. 1. 1961 (Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Vo 7064) [Anm. 13]. 72 Adorno: ÄT, GS 7, 130. 73 Ebd., 122. 74 Ebd.; vgl. ebd. 171: »Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos, ihr sprachloses Moment hat den Vorrang vor dem signifikativen« Moment, der Mitteilungs- und Bezeichnungsfunktion. »Ausdruck ist der Blick der Kunstwerke.«

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Desultorisch, wie bei einem Pferdewechsel des Kunstreiters, in einer sprunghaften, stets überspringenden Bewegung, ein Wagnis und Risiko. Der Sprung ist kein planungsgemäß zu produzierender Wechsel zum Aufscheinen von Transzendentem, keine zielgerichtete Evokation von Wirkeigenschaften oder Intensitäten. »Der ­erstrebte Schauer taugt nicht mehr: er stellt sich nicht ein.« (ÄT, 122) Er kann nicht produziert, heraus- und auf uns zugeführt werden, lässt sich nicht bewerkstelligen. Wie also stellt sich die Erfahrung ein? Ador­nos Lesart fragmentarischer Über­ legungen Paul Valérys bietet einen Antwortversuch. Imaginative Prägnanz: Seinkönnen und Abweichungen – Valéry Kehren wir nochmals zurück zur Feststellung, dass Kunstwerke im prägnanten Verstande zu Erscheinungen eines Anderen werden, wenn der Akzent auf »das Unwirkliche ihrer eigenen Wirklichkeit fällt« und der »immanente Charakter des Aktes« ihnen, »mögen sie noch so sehr in ihren Materialien als Dauerndes realisiert sein, etwas Momentanes, Plötzliches« verleiht, das den Erfahrenden überfällt.75 Wenn über die materiale Gegebenheit des sinnfälligen Kunstwerkes als Objekt von Wahrnehmungsvollzügen hinaus ein Anderes erfahrbar wird, eine flüchtige, instantane Präsenz eines nicht Bestimmbaren, dann macht dies eine gewisse »Unwirklichkeit« der Kunstwerke aus, sofern sie etwas erscheinen lassen, das sich nicht empirisch verifizieren oder begrifflich bestimmen lässt. Dennoch aktualisiert sich aus ihnen im prägnanten Verstande, einem Verstehen also, das diesen fruchtbaren Moment imaginativ und reflexiv zu entfalten vermag, eine andere, mögliche Wirklichkeit. Aufgerufen ist eine Reflexionsform, die im Ausgang von äußeren Sinneswahrnehmungen geistige, eigensinnige Bahnen zieht – vergleichbar dem Träumen oder der Weise, sich Abweichungen und Launen – Capricen – zu überlassen und so der ästhetischen Prägnanz, dem fruchtbaren Augenblick einer allusiven Fülle Raum zu geben. »Wer weiß denn, ob die eigentlichen Gesetze oder die wesentlichen Formen des Denkens nicht in denjenigen Augenblicken – Phasen – am reinsten sichtbar werden, in denen die größte Freiheit (des Ersetzens, Überspringens, des Phantasierens) zu herrschen scheint? Zuständen, die analog wären zu den reibungsfreien Bewegungen der Himmelskörper und den chemischen Reaktionen bei hoher Temperatur.   Dadurch käme den Launen der Künstler, den närrischen Einf ällen der Kinder ein sehr viel tieferer Sinn zu. Dergleichen Nichtigkeiten hätten ihren Wert. Festzuhalten ist auch, dass diese Spielereien zwar bekanntlich sehr leicht, unverbindlich und umkehrbar aussehen, aber ein sehr hohes Tempo erfordern.«

– so Paul Valéry.76 75 Vgl. 76

ebd., 123. Paul Valéry: Wert der Kapricen (1905-1906. Ohne Titel, III, 869), in: ders., Cahiers/Hefte 6,



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Capricen, Launen, sich auf eigensinnige Ver-Setzungen einlassen können, denn: »Die wirklichen Einfälle – stammen aus einer Art plötzlicher oder zumindest halbplötzlicher Kristallisierung. Es ist zu tun um eine Anordnung sui generis, hervorgegangen aus dem Zufall. Dieser Zufall selbst, also eine Anzahl von Umständen, kann auch das Gefühl, die Emotion enthalten, jedoch als ein Element. Dieses SichAnordnen hat große Ähnlichkeit mit Phänomenen der Erinnerung – der generalisierten Resonanz. So kann das Geräusch – der Halb-Ton – aufeinanderstoßenden Metalls bei günstiger Disposition des Gehirns einem glücklichen Einfall zum Dasein verhelfen.« 77 Das poetische Hervorbringen – das konstellative Verfahren schlägt hier bereits durch –, von dem Valéry spricht, ist nicht intentionale Bewegung, nicht planvolles Komponieren. Es überlässt sich den Einfällen, bringt tänzerisch in ein Ensemble und ist doch in seiner Formstrenge alles anders als beliebig. Um Resonanzen, Anklänge in Vorstellungszuständen zu erzeugen und zu transferieren, sind es insbesondere die Findungen, Abweichungen, Vielstimmigkeiten, die aus dem Material emergierend in der künstlerischen Sprache in Bewegung kommen, Möglichkeiten in freischwebenden Resonanzen vorstellbar machen. »Analogien und Metaphern müssen als reguläre Produkte, als Akte eines ganz bestimmten Zustands gelten, in welchem alles Erscheinende nur in einer Art Resonanz von Ähnlichkeiten erscheint. In diesem Zustand tritt kein Ding isoliert auf, der Geist geht in vollständigen Gruppen vor, und was isoliert bleibt, ist ihm unvollständig, unvollendeter Akt. An diesem Punkt der Wahrnehmung scheint es so, als sei jegliches wirklich vorhandene Objekt Bestandteil eines psychischen Unteilbaren – nicht etwa weniger wirklich sondern mehr.« 78

Wir hören hier schon die konstellative Präsenz, den Möglichkeitssinn (Musil) heraus. Weder auf produktionsästhetischer noch auf rezeptionsästhetischer Seite ist diese Verselbständigung subjektiven, assoziativen Abirrungen überlassen. Immer wieder geht es Valéry um die uneingelösten Möglichkeiten, die im und aus dem Material, dem Werk, einem geringfügig scheinenden Ding als Latenzen imaginativ freigesetzt werden und zur Erscheinung kommen. »Der Mensch schaut ein Bild an und sieht eine Wirklichkeit. Er betrachtet eine Zeichnung und sieht Dinge. Er schaut Dinge an und sieht mögliche Akte, Operatio­ nen. Dieses Mögliche allein verleiht dem Gesehenen seinen Wert. auf der Grundlage der von Judith Robinson besorgten französischen Ausgabe hg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeld, hier: Poietik, übers. v. Hartmut Köhler, Frankfurt/M. 1993, 99 f. Für den französischen Text s. Paul Valéry: Valeur de caprices (1905-1906. Sans titre, III, 869), in: ders.: Cahiers, tome II, édition établie, présentée et annotée par Judith Robinson-­ Valéry, Paris 1974, hier: Poïétique, 989. 77 Valéry: Poietik [Anm. 76], 110 f. (1914. L 13, V, 15 f.); für den franz. Text s. Valéry: Poïétique [Anm. 76], 998. 78 Valéry: Poietik, 111; Valéry: Poïétique, 998 f.; Hervorh. A. Eu.

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  Er stellt sich diese möglichen Akte vor, ahnt sie vorher (seien sie nun ausführbar oder nicht), und daraus gewinnt er das Empfinden konstanter Relationen, unabhängiger Variationen, Verbindungen, geschlossener Systeme… Das Genie gründet in der Wahrnehmung dieses Möglichen. Es vergrößert es noch, sei es in einem besonderen Punkt, sei es auf systematischem Wege. Manchmal führt es weitere Verbindungen ein, manchmal auch Freiheiten, an die bislang niemand dachte.« 79

Erfinden, das Fremde im Partikularen erfahrbar machen, »wie wenn man aus dem Fall von Wassertropfen, aus dem Rütteln eines Zuges oder dem rhythmischen Stoßen einer Maschine eine Melodie heraushörte … Es braucht dazu, glaube ich, einen unbestimmten – Gegenstand oder Kern oder Stoff, und eine Disposition.« 80 Für Ador­nos Auseinandersetzung mit Valéry liegt gerade in dieser Erfahrungsfähigkeit für das Mögliche im Gegebenen ein Moment, die strikte Nichtidentität der existierenden Phänomene mit begrifflichen Zuweisungs- und instrumentalisierenden Bemächtigungsversuchen im Sinne der Dialektik der Auf klärung zu untermauern. »›Die kleinsten, unerklärten Fakten enthalten in sich immer genug, um alle Erklärungen der großen Fakten zu entkräften.‹ (Windstriche 140)« 81 Aber diese Abweichungen sind keine Beliebigkeit oder freies subjektives Imaginieren, sondern tragen sich in eine strenge Formgesetzlichkeit um, in eine aus dem Material emergierende Sprache, die nicht referiert oder mitteilt, keinen Gegenstand der empirischen Welt repräsentiert, sondern die Möglichkeiten der Abweichung in eine strenge Form einholt. In Ador­nos Lesart wird dabei der geschichtsphilosophische, materialhistorisch-kritische Ansatzpunkt Valérys 82 Angelpunkt einer Reflexion auf das verstellte Mögliche. So etwa wenn er Valérys Reflexion aufgreift: »In meinen Gedanken suche ich mit all dieser Zaubermacht des Meeres zurechtzukommen, indem ich mir sage, dass es nicht auf höre, meinen Augen das Mögliche vorzuführen […] Seine Ähnlichkeit mit sich selbst macht es zur Sprache. Allein in der Sprachähnlichkeit hat Kunst ihre Einheit.« Diese in sich geschlossene Selbst­ä hnlichkeit macht es zum Pendant eines Absoluten, auch und gerade in seiner Unbestimmbarkeit und Unnachahmlichkeit, so etwa der unausmesslichen Bewegtheit changierender Momente, dem Ineinandergleiten einzelner Töne in ein Rauschen,83 der Fülle der Möglichkeiten. Diese Absolutheit  – in sich geschlossene, bestimmte Unbe79 Valéry:

Poietik (1914, W 14, V, 368) 113; Valéry: Poïétique, 1000; Hervorh. A. Eu. Poietik (1919, B 1919, IV, 399), 103; Valéry: Poïétique, 992. 81 Ador­no: Valérys Abweichungen, in: Noten zur Literatur, GS 11, 177 in Übernahme einer Wendung aus Valérys Verschwiegenheiten (Choses tues), vgl. Paul Valéry: Choses tues, in: ders.: Œuvres, Tome II, édition établie et annotée par Jean Hytier, Paris 1960, 498. Bei den von Ador­no zitierten Windstrichen handelt es sich um eine dt. Übersetzung, die eine Zusammenstellung aus Rhumbs, Autres rhumbs, Littérature und Choses tues bietet. 82 »Verschlüsselt ist damit erreicht, daß das ästhetische Subjekt nicht das produzierende Individuum in seiner Zuf älligkeit ist sondern ein latentes gesellschaftliches, als dessen Stellvertreter der einzelne Künstler agiert.« Ebd., 187. 83 Bereits bei Leibniz wird die ästhetische Erfahrung des je ne sais quoi am Beispiel des Meeres illustriert. 80 Valéry:



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stimmtheit – im Bedingten nachzuahmen, »daran haftet das utopische Versprechen« der Kunst. »›Merk auf dieses feine, unauf hörliche Geräusch; es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.‹ (W 76)« 84

Écriture: Epiphanie und Menetekel der Kunst Diese ambigue Instantaneität von aufstrahlender Beredtheit und Verflüchtigung im ästhetischen Erscheinen, die Ador­no in seinen Reflexionen immer wieder in Analogie zu Himmelsgeschehnissen aufruft, weist auf einen spezifischen Zeitmodus ästhetischer Erfahrung, der theologisch imprägniert ist und eine stets aufs neue entschwindende Schrift evoziert. Neben der Epiphanie sind Kunstwerke Menetekel. Haben wir bislang vor allem dem Epiphanen Raum gegeben, sei nun der Menetekel-Charakter einbezogen. Dies wird insbesondere deutlich, wenn wir die eschatologische Spannung, in die Ador­no das Zur-Erscheinung-Kommen einfasst, systematisch ernst nehmen: »Kunstwerke sind neutralisierte und dadurch qualitativ veränderte Epiphanien. […] Sie sind Dinge, in denen es liegt zu erscheinen. […] Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, auf blitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen läßt.« 85

Epiphanie und Menetekel. Nach dem alttestamentlichen Buch Daniel ist es die König Belschazzar im Zuge seines frevelhaften Prunkmals plötzlich auf einer Wand aufleuchtende, wie von einer wunderwirkenden Hand geschriebene unheilverkündende Schrift, die zu lesen oder zu deuten keiner der königlichen Weisen und Wahrsager vermag: eine Schrift, die eine katastrophische Wendung in sich zu bergen scheint, die sich auf rätselhafte Weise und in unausdeutbaren Zeichen einschreibt und schieres Entsetzen auslöst. Allein der Prophet weiß die zukunftsweisende Botschaft zu entziffern, die eine realgeschichtlich längst sich vollziehende Katastrophe andeutet.86 Der Schriftcharakter, der hier zum Austrag kommt, weist ›hieroglyphisch‹ auf eine göttliche Weisung, die wohl als Mahnung verlischt, aber bereits darin etwas Rätselhaftes und Bedrohliches signalisiert. Es mag überzogen erscheinen, diesen Hinweis auf das biblische Menetekel so zu exponieren, zumal er in Ador­nos Ästhetik nur einmalig eine Erwähnung erfährt. Und doch ist es gerade diese pointierte Korrelation von Menetekel und Epiphanie, in der sich, in Übertragung auf die ästhetische Erfahrung, erst die augenblickshafte, elektrifizierende Aufladung von Gefahr und Verheißung im Vollzug konzentriert. Denn in eben diesem blitzartig aufzuckenden Katastrophenzeichen, dem Anzeichen von Verder84 Ador­no:

Valérys Abweichungen, GS 11, 200. Hervorh. A. Eu. ÄT, GS 7, 125. Hervorhebung A. Eu. 86 Dan 5,1-39. 85 Adorno:

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ben und Zerstörung, aktualisiert sich für Ador­no ein dem Kunstwerk immanenter Spannungszustand, der ästhetische Erfahrung mental wie somatisch erschüttert. »Es liegt ja in dem jähen Erscheinen der Kunstwerke selbst, also dem, worin sie den Himmelserscheinungen gleichen, also immer zugleich auch ein Verschwindendes, sich Verfinsterndes und Bedrohliches und indem nun die Katastrophe über die Momente der Wirklichkeit des Kunstwerkes triumphiert, durchmisst sie selber den Augenblick der Wirklichkeit in einer ähnlichen Weise, wie etwa die Werke Frank Kaf kas [… die] dem, der sie erf ährt, ohne Distanz auf den Leib rücken, etwa so, wie wenn man auf Schienen stünde und ein Schnellzug auf einen unmittelbar heranbrauste. Im Kunstwerk also sind demnach der theologische Gehalt – wenn ich einmal das Erscheinen an ihm so nennen will – und der nihilistische, also das Verbrennen, seit eben dieser Erscheinung in sich selbst, zwei Seiten des gleichen.« 87

Es wird jetzt vielleicht deutlicher, inwiefern Kunstwerke ›Sprache‹ sind, wie sie fernab jeder kommunikativen oder mitteilenden Funktionalisierbarkeit ›beredt‹ werden, wenn wir uns diese seismographischen Frequenzen vergegenwärtigen: »Sprache sind Kunstwerke als Schrift.« Gerade dieser écriture-Charakter kennzeichnet für Ador­no die Auseinandersetzung mit der Kunst in der Moderne. Anmutungen einer »gekritzelten Schrift«, so bei Klee, Wols – wir mögen vielleicht an Cy Twombly denken –, die sich keiner Lesbarkeit eröffnen, vielmehr ›sagen‹, dass sie sich einer Enträtselung verweigern, dass ihr »Code verloren ward und zu deren Gehalt nicht zuletzt beiträgt, dass er fehlt. Sprache sind Kunstwerke als Schrift.« 88 Dass der Sprachcharakter, in einem umfassenden Sinne und in Rekurs auf Benjamin, je einer ist, dessen Bedeutungszuweisung abgeschnitten ist, der sich also einer hermeneutischen Auflösung entzieht, wurde schon betont. Doch inwiefern ist diese Sprache, der Ausdruck in einer dem Material eigenen Form, als Schrift (écriture) zu bestimmen? Bezogen auf Ador­nos Überlegungen zum Verhältnis von Malerei und Musik wird abermals die raum- und zeitkonstitutive Dimension der Kunstformen relevant, ihre je medienspezifischen Weisen, etwas zum Sprechen zu bringen. Hierin konvergieren Malerei und Musik (oder andere Kunstformen), ohne dass dies eine synästhetische Verwischung der genreeigenen Zeit- und Räumlichkeit indizieren sollte. Diese Sprachbewegung ist keine gestische oder erzählerische Ausdrucksform, ebenso wenig eine kommunikative Mitteilungsform oder Symbolisierungsfunktion mit repräsentationaler Referenz auf ein Nachgeahmtes. Die Sprache manifestiert sich an der aus dem je spezifischen Material und seiner Beschaffenheit konstruktiv ausgeformten 87 Ador­no:

Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript vom 23. 1. 1961 (Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Vo 7076) [Anm. 13]. 88 Adorno: ÄT, GS 7, 189. Neben der écriture automatique wäre hier Verbindungen zum Begriff der écriture blanche bzw. der écriture au degré zéro bei Roland Barthes bzw. dem Nullpunkt der literarischen Sprache nachzugehen, der wiederum für die Auseinandersetzung mit sprachlichen Ausdrucksverfahren bei Maurice Blanchot wichtig wird.



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»Durchgebildetheit«, eine Formgebung also, die aus dem Material spricht: »die Figuren ihres Durchgebildetseins sind Schrift«89 und, so ließe sich hinzufügen, Chiffrenschriften, die die Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem brechen, Befremden auslösen hinsichtlich eines Unaussprechlichen, das einen latenten Schrecken geradezu körperlich erfahrbar macht, ohne ihn zu benennen. »Nicht abwegig wäre, jenen Schriftcharakter seismographisch zu nennen. Bewirkt wird er vom fernen, auch vorwegnehmenden Erzittern bei Katastrophen. Im Reflex darauf zucken die Künste zusammen; die Spuren solcher Zuckungen, welche die Werke bewahren, sind die Schriftzüge an ihnen.« 90

Aufzeichnungen, Notationen von Nach- oder Vorbeben von Erd-Erschütterungen.91 Geschichtliche Katastrophen sind dem Kunstwerk also gleichsam eingeschrieben: Zuckungen und Ausschläge/Schocks der materialen Geschichte. Sofern »die Kunstwerke Schläge oder Schocks austeilen, explodiert ihre Erscheinung […] wird zur Katastrophe«.92 Der Schriftcharakter weist wiederum auf die dialektische Figur von Feststellung und Dynamisierung. Grapheme einer Erschütterungsbewegung, die einerseits zeitlos fixiert sind (gleich einer Notation) und zugleich eine Verzeitlichung im Akt des ›Lesens‹ provozieren. Stillgestellt im Raum (im ›Schriftbild‹ lokalisiert) indizieren sie zugleich eine raumgreifende Bewegung (Performativität). Es sind immer wieder Spannungsfiguren, die Ador­no auf das Kunstwerk bzw. die ästhetische Erfahrung anlegt, um diese aufgeladene, räumlich wie zeitlich punktualisierte Explosivität zu fassen. Und so kehren wir zur Plötzlichkeit als Konvergenzmoment der Zeit- und Raumkünste, die jeweils zugleich eine spezifische raum- und zeitkonstituierende Erfahrung eröffnen93 zurück, d. h. zu eben derjenigen Figur, die Ador­no umkreist: 89 Ador­no:

Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, in: GS 16, 634. Musik und Malerei, GS 16, 635. 91 Die Adaption seismographisch notierbarer Ausschläge, Intensitätskurven einer stets in Zuckungen erbebenden Erde, latenter Eruptionsgefahr, weist im übertragenen Sinne auf die Sedimentierungen in den Gesteinsschichten der Erfahrung, die nachbeben, als Echo nachhallen, nachleben und die in Kunstwerken, denen sie als écriture virulenter Katastrophenmalen eingeschrieben sind, in der Ausdrucksgestalt pulsieren. Hier ist aber ebenso an realgeschichtliche Erschütterungen zu denken: die Desillusionierung jedweder Möglichkeit, auf klärerischen Opti­ mismus oder gar eine Theodizée rechtfertigen zu können eingedenk der Verheerungen des Erdbebens von Lissabon etwa. All dies weist – um Blanchot aufzurufen – auf die écriture du desastre schlechthin. 92 Ador­no: Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript vom 23. 1. 1961 (Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, Vo 7066) [Anm. 13]. 93 Ador­no modifiziert und spezifiziert hiermit die Lessing’sche, dichotomische Distinktion von Simultaneität/Malerei und Sukzessivität/Poesie unter Einbeziehung der Musik bzw. der ›Sprachkünste‹ i.W.S. in genauer Bestimmung der jeweiligen Weise einer Raum- und Zeitkonstitution und transponiert auf diese in jeweils eigener Weise den transitorischen Charakter des prägnanten Augenblicks: »…so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies 90 Ador­no:

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»Schrift sind Kunstwerke als aufleuchtende, und solche Plötzlichkeit hat ebenso etwas Temporales wie die dabei sich herstellende Transparenz des Phänomens etwas Optisches.« 94 Entscheidend wird die jeweils dem Kunstwerk eingespeicherte Zeit, ihre seismographische, spannungsgeladene Tingierung mit Zeitlichkeit und das heißt eingelagerte realgeschichtliche Erfahrung. »Erscheinung aber und deren Explosion am Kunstwerk sind wesentlich geschichtlich.« In sich ist das Kunstwerk geschichtlich – nicht erst durch eine historische Einordnung in einen Geschichtsverlauf – es ist »als Seiendes ein Werdendes. Was an ihm erscheint, ist seine innere Zeit, und die Explosion der Erscheinung sprengt deren Kontinuität. […] Kunstwerke analysieren heißt so viel wie der in ihnen aufgespeicherten immanenten Geschichte innezuwerden.« 95 In diesem Sinne ist das einzelne Kunstwerk je auch »Mnemosyne«, erinnerte Zeit. Es steht im Augenblick des Erscheinens für das Bewahren wie das Verschwinden ein. »Kunstwerke sind ein Stillstehendes so gut wie ein Dynamisches, Gattungen unterhalb der approbierten Kultur wie die Tableaux in Zirkusszenen und Revuen« 96 oder wie ein Feuerwerk, das illusionär über die Niederungen des Lebens momenthaft hinwegführt, aber nicht idealisierend und ohne darin verhaftet zu sein, sondern gerade die Verwerfungen und Verstellungen als desillusionierte Versprechen versprühend. »Nicht durch höhere Vollkommenheit scheiden sich die Kunstwerke vom fehlbaren Seienden, sondern gleich dem Feuerwerk dadurch, daß sie aufstrahlend zur ausdrückenden Erscheinung sich aktualisieren. […] Weniger besitzen sie Idealität, als daß sie vermöge ihrer Vergeistigung ein blockiertes oder versagtes Sinnliches versprechen.« 97

Ganz wie ein Feuerwerk, dessen aufsteigender Glanz, der im Moment des ZurErscheinung-Kommens erlischt, dem staunend Zugewandten gerade das Moment des Verschwindens im Aufleuchten zur Erfahrung bringt. So gewaltig und präsent, so fragil und fliehend. Es reißt augenblickshaft aus dem Gewohnten und wirft zugleich auf die Uneinlösbarkeit des Erscheinenden zurück. Dass es gerade das Feuerwerk ist, ein kometenhaftes Zugleich von Aufscheinen und Vergehen, das für Ador­no zum Inbegriff dessen wird, was im übertragenen Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. […] Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur einen Augenblick sein können;…« (Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in Gotthold Ephraim Lessing: Werke, Bd. VI, Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hg. von Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1996, 25 f.) 94 Ador­no: Musik und Malerei, GS 16, 640. 95 Adorno: ÄT, GS 7, 132. 96 Ebd., 124. 97 Ebd., 126.



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Sinne ein Kunstwerk in seinem Erscheinen als ästhetische Erfahrung auszulösen vermag, führt vielleicht nochmals auf die Auseinandersetzung mit Kierkegaard zurück. Wird doch bereits im Kierkegaardbuch die Rakete zur Chiffre der ästhetischen Sphäre bzw. einer Dialektik des Bildes: »›So steigt eine Rakete in einem Schuß auf, steht einen Augenblick stille als ein zusammengehaltenes Ganzes, um sich dann sprühend nach allen Seiten zu zerteilen.‹ Nicht anders die Idee der ästhetischen Sphäre: freigesetzt von subjektiver Dialektik und weit sie überstrahlend, innehaltend in der Ewigkeit des Momentes als scheinhafte Ganzheit, zerfallend das Licht der Hoffnung über den Dingen, denen sie zugehört wie die Rakete dem modernen Altertum von Pyrotechnik. […] Die Hoffnung, die dem Ästhetischen innewohnt, ist die der Transparenz zerfallender Figuren.« 98

Was bleibt, wenn die Hoffnungsschimmer immerdar wieder zerstieben? Und inwiefern sollte gerade in der Ästhetik der zerfallenden Figuren eine Hoffnung aufscheinen? Ador­no konstelliert Motiviken, konnotiert Erfahrungen, deren alltägliche Vertrautheit und geradezu populärer Spektakelcharakter kritische Sedimentierungen dennoch in die ästhetische Erfahrung übersetzbar machen. Immer wieder geht es um tentative Versuche, miteinander verschränkte Aspekte von Zeit- und Raum­ erfah­r ung in paradoxalen Figuren zu fassen, d. h. Konfigurationen von Momenthaftigkeit und Flüchtigkeit, Erfahrungszustände von instantaner Intensität, Plötzlichkeit und Innehalt bis zur Erstarrung angesichts einer Widerständigkeit, mit der das Kunstwerk Kontinuitätsgefüge unterbricht und augenblickshaft erschüttert. Ebenso bricht der Überwältigungscharakter ästhetischer Erfahrung, das Stocken des Atems, in eine Dynamisierung um: Was sich zeigt und im Erfahrbarwerden entzieht, sich in seinem Verschwinden anzeigt, ver-setzt gleich der Erfahrung des Erhabenen in einen Spannungszustand, der imaginative Bewegungen auf ein ›Anderes‹ evoziert und nicht zuletzt latente politische Implikationen besitzt, die als Nachbeben eines Vergangenen zugleich Vorbeben eines möglichen Kommenden sind.99 KdÄ, 186 f.; Hervorh. A. Eu. sprechendes Beispiel ist Benjamins »Schönes Entsetzen«: »Der vierzehnte Juli. Von Sacré-Coeur aus übergießen bengalische Feuer Montmartre. Der Horizont hinter der Seine glüht. Feuergarben fahren auf und erlöschen über der Ebene. Zehntausende stehen am steilen Abhang gedrängt und folgen dem Schauspiel. Und diese Menge kräuselt unauf hörlich ein Flüstern wie ein Fältchen, wenn der Wind im Mantel spielt. Spannt man sein Ohr dem schärfer entgegen, so tönt darin noch anderes als Erwartung der Raketen und Leuchtkugeln. Erwartet nicht diese dumpfe Menge ein Unheil, groß genug, aus ihrer Spannung den Funken zu schlagen; Feuersbrunst oder Weltende, irgend etwas, das dies samtne, tausendstimmige Flüstern umschlagen ließe in einen einzigen Schrei, wie ein Windstoß ein Scharlachfutter des Mantels aufdeckt? Denn der helle Schrei des Entsetzens, der panische Schrecken ist die Kehrseite aller wirklichen Massenfeste. Der leise Schauer, der die ungezählten Schultern überrieselt, bangt nach ihm. Für das tiefste, unbewußte Dasein der Masse sind Freudenfeste und Feuersbrünste nur Spiel, an dem sie auf den Augenblick des Mündigwerdens sich vorbereitet, auf die Stunde, da Panik und Fest, nach langer Brudertrennung sich erkennend, im revolutionären Aufstand einander umarmen.   98 Adorno:   99 Ein

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Unter diesen Voraussetzungen mag der »Präsenzeffekt« ästhetischer Erfahrung angesichts einer nicht vorwegnehmbaren Instantaneität, Ereignishaftigkeit und Singularität in der Erscheinung 100 wie aus dem »Nichts« zu kommen scheinen, gleichsam eine Gewalt, die das erfahrende Subjekt überfällt: »Wir meinen Epiphanien, die uns zumindest für einen Augenblick davon träumen lassen und vielleicht sogar in die körperliche Erinnerung rufen, wie gut es war und wie gut es wäre, in Einklang mit den Dingen der Welt zu leben, to live in synch with the things of the world.«101

Doch ist die ästhetische Erfahrung bei Ador­no ambivalenter gefasst. Zum einen, sofern das Glücksmoment zugleich einen unaufgelösten Widerspruchs aufspringen lässt, in einen Aufruhr versetzt, weil hier ein innerweltlicher Schauer von höchst gewaltsamer Permanenz an die Stelle des theologischen Gotteserlebnisses oder Formen einer Entrückung getreten ist: »Das in ihr […] Erscheinende ist nicht länger Ideal und Harmonie; ihr Lösendes hat einzig noch am Widerspruchsvollen und Dissonanten seine Stätte.« Die Kunst lässt erschauern, wahrt ein Aufschrecken und entfaltet zugleich einen spezifischen ›Zauber‹, der eine Hoffnung aufweckt: »Denunziation und Antezipation sind in ihr synkopiert. Ist apparition das Aufleuchtende und Angerührtwerden, so ist das Bild der paradoxe Versuch, dieses Allerflüchtigste zu bannen. In Kunstwerken transzendiert ein Momentanes; Objektivation macht das Kunstwerk zum Augenblick.«102

Zum anderen aber ist dieses entsetzende Angerührtwerden kein numinoses überzeitliches Geschehen, sondern auf blitzendes Erschrecken eingedenk einer singulären, irreduziblen geschichtlichen Erfahrung, die unscharf zwar, als unbewusste Erfahrung aufsteigend, doch alles andere als unwirklich sich darstellt103 – und als Erinnerungsspur, die zwar die Faktizität des Gegebenen durchzieht, zugleich aber über diese hinausführt. So formuliert Ador­no in berühmten Worten: »Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt. Stets stammt sie aus dem Vergangenen, Hoffnung aus ihrem Widerspiel, dem, was hinab mußte und verurteilt ist; solche Deutung wäre dem letzten Satz von Benjamins Text über die Wahlverwandtschaften, ›Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben‹, wohl angemessen.«104 Von Rechts wegen begeht man in Frankreich die Nacht des vierzehnten Juli mit Feuerwerk.« Benjamin: Denkbilder, in: ders.: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, GS IV 1, 434 f. 100 Gumbrecht: Präsens [Anm. 4], 346. 101 Ebd., 351. 102 Adorno: ÄT, 130. 103 Vgl. zur inneren Historizität eines jeden ›sprachlichen Wesens‹ bzw. der rhetorischen Leiblichkeit sprachlicher Darstellung: Adorno: Negative Dialektik (im Folgenden: ND), in: GS 6, 63-66. 104 Adorno: ND, 370 f.



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Aber heißt das, Hoffnung in sinnerfüllten Augenblicken zu suchen, so etwa in der ästhetischen Erfahrung, sich damit gegen die jede Ausflucht desillusionierende Beschädigung im widerfahrenden Leben zu entschädigen, resignativer Rückzug in ein Innenleben, das aber momenthaft Erfüllung verspräche? Wohl kaum. Wäre sie in einer diesseitig avisierten Glückserwartung, etwa dem sozialistischen Traum einer »Fülle des Lebens« zu suchen, in dem niemand Entbehrung leiden müsste? Auch dies ist für Ador­no nichts anderes als eine Verschlingung in die diesseitige Dialektik von Gier und Gewalt, »eben des Hoffnungslosen«, das die Welt ohnehin bestimmt. Wie aber darüber hinaus gelangen? Denken wir nochmals an Proust und seine Weise, »der Hoffnung auf die Auferstehung zum tastenden Ausdruck« zu verhelfen. Eine Hoffnung, mit der die Theologie negativ gegen »die Diesseitsgläubigen« so recht behielte wie gegen einen blanken Nihilismus als völlige Absage an Sinnversprechen, Affirmation einer toten Leere als factum brutum.105 Es ist keine Auferstehung einer metaphysischen Jenseitigkeit, die in die Philosophie zurückzuholen wäre: »der Begriff der Auferstehung gehört Geschöpfen, keinem Geschaffenen, und ist bei geistigen Gebilden Index ihrer Unwahrheit –, vielleicht aber entsteht sie erst mit der Realisierung des in ihrem Zeichen Gedachten. Kunst antizipiert davon etwas.«106 An der Kunst wäre es, im Schein zum Zeichen eines Scheinlosen zu werden, gegen das bodenlose Nichts ein Zeichen zu setzen: »Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene. Untilgbar am Widerstand gegen die fungible Welt des Tauschs ist der des Auges, das nicht will, daß die Farben der Welt zunicht werden. Im Schein verspricht sich das Scheinlose.«107

Schließen wir also mit einem letzten stellaren Motiv ab, das diese Überlegungen zusammenziehen mag; einem Aspekt der apparition, der kon-stellaren Plötzlichkeit, der sich in den hier entwickelten, eher konstellierenden Annäherungen an die ästhetische Erfahrung bei Ador­no längst angedeutet hat: dem Sternenschein, der über der reinen Diesseitigkeit des Faktischen wie dem verzweifelten Nihilismus als Hoffnungsschimmer aufgeht. »Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg.« Diese Wendung aus Goethes Wahlverwandtschaften, die Benjamin in seiner hierauf bezogenen Studie aufgreift, um mit dem vielzitierten Appell an die Hoffnung um der Hoffnungslosen willen zu mahnen, ist alles andere als eine tröstende Transzendenzanmutung und führt dennoch auf eine Möglichkeit, in den ›Sprachen‹ der Kunst einen flüchtigsten Schein im Angesicht des Katastrophischen zu retten: »Denn der Schein der Versöhnung darf, ja er soll gewollt werden: er allein ist das Haus der äußersten Hoffnung. So entringt sie sich ihm zuletzt und nur wie eine zitternde Frage klingt jenes ›wie schön‹ am Ende des Buches den Toten nach, die, 105 Ebd.,

371. 396; Hervorh. A. Eu. 107 Ebd., 396 f. 106 Ebd.,

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wenn je, nicht in einer schönen Welt wir erwachen hoffen, sondern in einer seligen. Elpis bleibt das letzte der Urworte: der Gewißheit des Segens, den in der Novelle die Liebenen heimtragen, erwidert die Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen. Sie ist das einzige Recht des Unsterblichkeitsglaubens […], der einzig und allein in der Darstellung zum Ausdruck kommt […] der fallende Stern.«108

Wo in Benjamins messianischer Hoffnung noch ganz Rosenzweigs Stern der Erlösung nachhallt, wird das messianische Licht bei Ador­no selbst zu einer Figur, wie etwas sich in einem ganz anderen Lichte zeigen könnte. Die Kunst und mit ihr die ästhetische Erfahrung ist ein Weg, die Möglichkeit einer solchen messianischen Hoffnung auf Erlösung überhaupt zur Sprache zu bringen: in der Transparenz zerfallender Figuren: »Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig im Messianischen Lichte daliegen wird.«109 Eben dafür ›spricht‹ die Kunst, darin läge ihre messianische Sprache110, etwas Uneingelöstes zur Erscheinung kommen zu lassen. Sollte längst die Frage aufgekommen sein, warum denn all diese Überlegungen nicht an einem konkreten künstlerischen Beispiel auskristallisiert, an einem ›Bild‹ etwa verdeutlicht wurden, so sei daran erinnert, dass das dialektische Bild – folgen wir Benjamin – ein Bild in der Sprache ist und jede Kunstform eine Sprachform kraft ihrer Darstellung ist, mit je eigener écriture. Deren Ausschlägen in sprachlichen, literarischen Formen wurde hier nachgespürt. Und ist nicht Ador­nos Sprachform der ästhetischen Theorie selbst in gewissem Sinne eine solche konstellierende écriture, die im sprachlichen Kunstwerk zur Erscheinung kommt?111

Benjamin: Wahlverwandtschaften, GS. I 1, 201; Hervorh. A. Eu. Minima Moralia, 153, Zum Ende, GS 4, 283. 110 Und möglicherweise klingt, vermittelt über Benjamin, auch bei Ador­ no ein Nachhall Rosenzweigs an, eben in Hinsicht auf den ›Sprachcharakter‹, den Ador­no auf die Kunst trans­ feriert, ist doch für Rosenzweig in der restitutiven Funktion des Sprachgeschehens eine messianische Verheißung angelegt, denn es »gibt bis auf diesen Tag noch keine Sprache der Menschheit, sondern die wird erst am Ende sein. […] denn das Wort ist bloß ein Anfang, bis es auf das Ohr trifft, das es auf-f ängt, und auf den Mund, der ihm ant-wortet.« Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, mit einer Einf. v. Reinholf Maxer und einer Gedenkrede v. Gershom Scholem, Frankfurt/M. 1988, 122. 111 Für kritische Infragestellungen wie äußerst wertvolle Hinweise danke ich Konstantin Bethscheider, Sara Ehrentraut und Simon Godart. 108 Walter

109 Adorno: