Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882: Eine rechtshistorische Untersuchung anhand von Kriminalstatistiken [1 ed.] 9783428477319, 9783428077311

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Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882: Eine rechtshistorische Untersuchung anhand von Kriminalstatistiken [1 ed.]
 9783428477319, 9783428077311

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HERMANN STAPENHORST

Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882

Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen Begründet als „Kriminologische Forschungen" von Prof. Dr. Hellmuth Mayer Herausgegeben von Prof. Dr. Detlev Frehsee und Prof. Dr. Eckhard Horn

Band 4

Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882 Eine rechtshistorische Untersuchung anhand von Kriminalstatistiken

Von Hermann Stapenhorst

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stapenhorst, Hermann: Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882 : eine rechtshistorische Untersuchung anhand von Kriminalstatistiken / von Hermann Stapenhorst. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen ; Bd. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1991/92 ISBN 3-428-07731-8 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0933-078X ISBN 3-428-07731-8

Vorwort Diese Untersuchung hat dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1991/1992 als Dissertation vorgelegen. Herrn Professor Dr. Uwe Wesel, der die Arbeit angeregt hat, danke ich für seine Unterstützung und Förderung. Zu danken habe ich ferner Herrn Professor Dr. Ulrich Eisenberg, der als Zweitberichterstatter wertvolle Hinweise gegeben hat. Berlin, im Dezember 1992 Hermann Stapenhorst

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

11

Erster Teil

Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

14

A. Statistische Grundlage

14

B. Strafart I. Tatsächliche Verhältnisse II. Bewertung 1. Mildernde Umstände 2. Kriminelle Reizbarkeit 3. Strafrechtliche Reformbewegung a) Strafzumessungsverfahren b) Wandel in der Strafauffassung 4. Bedingte Begnadigung 5. Ersatzfreiheitsstrafe 6. Strafvollzug a) Statistische Grundlage b) Gesamtzahl der Inhaftierten 7. Untersuchungshaft C. Strafmaß I. Tatsächliche Verhältnisse II. Bewertung 1. Bedingte Begnadigung 2. Strafvollzug 3. Untersuchungshaft

18 18 18 19 19 23 23 25 26 27 28 28 29 30 31 31 31 32 33 34

D. Deliktspezifische Untersuchung I. Diebstahl 1. Strafart 2. Strafmaß II. Gefährliche Körperverletzung 1. Strafart 2. Strafmaß

34 34 35 35 36 37 37

E. Ergebnis des 1. Teils

37

8

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil

Strafsanktionspraxis von 1919 bis 1932

39

A. Statistische Grundlage

39

B. Strafart I. Tatsächliche Verhältnisse II. Bewertung 1. Geldstrafengesetze 2. Inflation 3. Weltwirtschaftskrise 4. Veränderung der Strafauffassung a) Wandel in der Staatsauffassung b) Psychologie der Urteilstätigkeit 5. Bedingte Begnadigung a) Statistische Grundlage b) Begnadigung c) Widerruf 6. Ersatzfreiheitsstrafe 7. Strafvollzug a) Statistische Grundlage b) Gesamtzahl der Inhaftierten 8. Untersuchungshaft C. Strafmaß I. Tatsächliche Verhältnisse II. Bewertung 1. Bedingte Begnadigung 2. Ersatzfreiheitsstrafe 3. Strafvollzug 4. Untersuchungshaft

41 41 42 42 44 45 46 46 47 49 49 49 50 51 52 52 53 53 54 54 55 55 56 56 58

D. Deliktspezifische Untersuchung I. Diebstahl 1. Strafart 2. Strafmaß II. Gefahrliche Körperverletzung 1. Strafart 2. Strafmaß

59 59 59 60 60 60 61

E. Ergebnis des 2. Teils

62

Inhaltsverzeichnis

Dritter

Teil

Strafsanktionspraxis von 1933 bis 1943

63

A. Statistische Grundlage

65

B. Strafart I. Tatsächliche Verhältnisse II. Bewertung 1. Amnestien a) "Hitleramnestie" vom 7. August 1934 b) "Rheinlandamnestie" vom 23. April 1936 c) "Großdeutschlandamnestie" vom 30. April 1938 d) "Gnadenerlaß" vom 9. September 1939 2. Sondergerichte 3. Kriegskriminalität 4. Strafverständnis 5. Bedingte Begnadigung, Strafvollzug

65 66 66 67 68 69 69 70 70 71 72 74

C. Strafmaß I. Tatsächliche Verhältnisse II. Bewertung

75 75 76

D. Deliktspezifische Untersuchung I. Diebstahl 1. Strafart 2. Strafmaß II. Gefährliche Körperverletzung 1. Strafart 2. Strafmaß III. Vergleich

77 78 78 78 79 79 80 80

E. Ergebnis des 3. Teils

81

Vierter Teil Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

82

A. Statistische Grundlage I. Andere Bundesgesetze II. Straßenverkehrsdelikte

83 83 84

B. Strafart I. Tatsächliche Verhältnisse 1. Zeitraum von 1955 bis 1964 2. Zeitraum von 1965 bis 1969 3. Zeitraum von 1970 bis 1989 II. Bewertungen 1. Ersatzgeldstrafe nach § 27 b StGB a.F

86 87 87 87 88 88 89

10

Inhaltsverzeichnis

2. Erstes Strafrechtsreformgesetz a) Regelungsgehalt b) Einfluß auf die Sanktionspraxis 3. Zweites Strafrechtsreformgesetz 4. Einstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO a) Verhältnis zu Gesamtverurteilungen b) Verhältnis zur Geldstrafe 5. Strafaussetzung zur Bewährung a) Veränderungen in der Aussetzungspraxis b) Wandlungsbewegungen 6. Widerruf der Strafaussetzung 7. Strafrestaussetzung zur Bewährung 8. Ersatzfreiheitsstrafe 9. Strafvollzug 10. Untersuchungshaft a) Zeitraum bis 1975 b) Zeitraum von 1975 bis 1989

91 91 92 93 94 94 95 97 97 100 102 102 103 105 106 107 108

C. Strafmaß I. Tatsächliche Verhältnisse 1. Zeitraum von 1956 bis 1969 2. Zeitraum von 1970 bis 1989 II. Bewertung 1. Zeitraum bis 1968 2. Das Jahr 1969 3. Zeitraum von 1970 bis 1989 4. Strafaussetzung zur Bewährung 5. Ersatzfreiheitsstrafe 6. Strafvollzug 7. Untersuchungshaft

110 110 111 111 113 113 113 114 115 116 116 118

D. Deliktspezifische Untersuchung I. Strafart 1. Diebstahl 2. Straßenverkehrsgefahrdung 3. Bewertung a) Vergleich mit der allgemeinen Entwicklung b) Interner Vergleich 4. Strafaussetzung zur Bewährung

118 119 119 120 120 120 121 123

II. Strafmaß

124

E. Ergebnis des 4. Teils

125

Ergebnis der Untersuchung

127

Literaturverzeichnis

131

Einleitung A m 20. Januar 1988 stellte sich der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages die allgemeine Frage, ob sich die strafrechtlichen Sanktionen bewährt hätten.ι Anlaß war ein entsprechender Bericht der Bundesregierung.^ Der Vertreter der Bundesregierung stellte bei der Erläuterung dieses Berichts u.a. fest, die Geldstrafe habe sich immer mehr als eine echte Alternative zur Freiheitsstrafe erwiesen. Probleme gebe es allenfalls bei der Abzahlung der Strafe im Falle der Arbeitslosigkeit. 3 In der Tat haben sich Zahl, Inhalt und Bedeutung der Strafsanktionen im deutschen Strafrecht seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs (RStGB) im Jahre 1871 tiefgreifend verändert. Insbesondere die Geldstrafe und das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung haben die vollstreckten kurzfristigen Freiheitsstrafen weitgehend verdrängt. Angesichts dieses grundlegenden Wandels im Verhältnis Geldstrafe zu Freiheitsstrafe stellt sich zunächst die Frage, wie sich diese Veränderungen der Strafarten im Verlauf der letzten einhundert Jahre in den amtlichen Statistiken dargestellt haben und durch welche materiellen Einflüsse sie konkret bedingt waren. Ferner ist fraglich, ob die Zunahme der Geldstrafe auch Auswirkungen auf das Strafmaß der Freiheitsstrafen hatte, ob insbesondere die Geldstrafe an die Stelle der kurzen Freiheitsstrafen getreten ist. Schließlich ist zu prüfen, ob sich die allgemein bei allen Delikten festgestellte Tendenz auch bei den kriminologisch bedeutsamsten Delikten widerspiegelt. Rechtstatsächliche Untersuchungen über Struktur und Wandlungen der Sanktionspraxis haben eine lange Tradition.* Die auf der Grundlage der Kriminalstatistiken durchgeführten Untersuchungen befaßten sich vornehmlich mit der Ermittlung, Beschreibung und Analyse der gerichtlichen Strafzumessungspraxis in den einzelnen Epochen. Im Vordergrund standen Fragen nach der Gleichmäßigkeit der Strafzumessung und der Umsetzung gesetz1 ZRP 1988, 111. 2 BT-Drs. 10/5828. 3 ZRP 1988, 112. 4

Vgl. zum Forschungsstand die Hinweise bei Heinz, Strafrechtliche Rechtstatsachenfor-

schung, S. 66 auf die Arbeiten von Woerner, die Nachweise bei Streng, S. 5 ff.

Exner, Nestler, Rabl, Pitschel und Terdenge sowie

12

Einleitung

geberischer Wertungen und Reformziele. Vor allem Heinz hat zuletzt in zahlreichen Arbeiten dazu beigetragen. In der vorliegenden Untersuchung wird daran angeknüpft und zunächst der Versuch unternommen, Erklärungen für in der Statistik festgestellte Ergebnisse zu finden.5 Weiter soll das statistische Material hinterfragt werden, um rechtshistorisch interessante Zusammenhänge aufzudecken, die nicht unmittelbar aus der Statistik ersichtlich sind, aber gleichwohl auf die tatsächliche Situation von Einfluß waren. Die Erklärungsversuche für die sich wandelnde Sanktionspraxis betreffen Aussagen verschiedener Disziplinen, nämlich solche des Strafrechts, der Kriminologie und der Sozial Wissenschaften. Dabei stellt sich das von Streng näher beschriebene "Kommunikationsproblem" desjenigen, der u.a. mit sozialwissenschaftlichen (statistischen) Methoden den meßbaren Aspekten der Strafzumessung nachgehen will.6 Soweit möglich und sinnvoll soll daher die rechtliche Ebene mit der empirischen Ebene in Beziehung gesetzt werden. Denn es liegt in der Natur des Forschungsgegenstandes, daß sich juristische und sozialwissenschaftliche Aspekte ergänzen.7 Entsprechend der oben genannten Fragestellung wurden zunächst die amtlichen Statistiken ausgewertet. Dabei wurde das Zahlenmaterial durch gruppierende Verknüpfung in Tabellen zusammengefaßt. Die exakte Erforschung komplizierter Wandlungsbewegungen innerhalb der Strafarten und Strafmaße wäre - wenn überhaupt - nur durch aufwendige Sondererhebungen möglich, so daß die Bewertungen der Zahlen allenfalls plausible Annahmen begründen können. Gesicherte logische Schlüsse sind vielfach nicht möglich. Als Ausgangspunkt wurden die absoluten Zahlen der Verurteilten in den jeweiligen Jahren genommen. Diese Methode muß sich zwar den Vorwurf gefallen lassen, daß die Zahl der Verurteilten von der Bevölkerungszahl abhängt und dementsprechend verläßliche Schlüsse nur gezogen werden können, wenn alle absoluten Zahlen zu der Bevölkerungszahl ins Verhältnis gesetzt würden. Die Verurteiltenzahl dient indessen lediglich als Bezugsgröße, anhand derer relative Zahlen errechnet werden. Sie selbst wird nicht verglichen. Dazu kommt, daß die Bevölkerungszahl innerhalb der untersuchten Zeitabschnitte - sieht man vom 3. Reich ab - jedenfalls nicht durch territoriale Veränderungen beeinflußt ist. Zu der Verurteiltenzahl wurden die Verurteilungen zu Gefängnis (ab 1970 Freiheitsstrafe) und zu Geldstrafe ins Verhältnis gesetzt. Zuchthaus und Haft 5

Zu den Nachweisen über bisherige Untersuchungen von Strafungleichheit vgl. Streng, S. 53 ff. 6 7

Streng, S. V I I I mit Hinweis auf Bruns, S. 63; vgl. auch Giehring, S. 85. Streng, S. IX.

Einleitung

wurden nicht berücksichtigt, da die Verurteilungen zu Zuchthaus statistisch nicht ins Gewicht fallen und die Masse der Verurteilungen zu Haft wegen der sogenannten Übertretungen erfolgte, die statistisch nicht nachgewiesen sind. Daran anschließend wurde versucht, die im Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe zu beobachtende Entwicklung mit Gesetzesnovellen und der Entwicklung anderer strafrechtlicher Sanktionsformen (z.B. Strafaussetzung zur Bewährung, Ersatzfreiheitsstrafe und Verfahrenseinstellungen gegen Auflagen) in Verbindung zu bringen. Die Geldstrafengesetze der Zwanziger Jahre, das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz aus dem Jahre 1953 sowie die Strafrechtsreformgesetze des Jahres 1969 waren beispielsweise Reformen des Gesetzgebers, die maßgeblich für das Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe waren. Aber auch irrationale Elemente in der Urteilsfindung der Gerichte waren von Bedeutung. Nicht erwähnt wurden Einflüsse auf Strafartbestimmung und Strafzumessung, die durch Änderungen der Gerichtsverfassung erfolgt sein könnten, insbesondere durch die Novellierung der Laienbeteiligung oder der Spruchkörperbesetzung. 8 Bei den Erörterungen war grundsätzlich zwischen den gegen Erwachsene und den gegen Jugendliche verhängten Strafen zu unterscheiden. Die Häufigkeit der gegen jugendliche Personen erkannten Gefängnisstrafe wurde bis zum Inkraftreten des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) durch die Möglichkeit des Verweises (§ 54 Nr. 4 RStGB) beeinflußt, die bei Erwachsenen nicht bestand. Die Strafmündigkeit lag bis 1923 bei zwölf Jahren, danach bei vierzehn Jahren. Nach Inkrafttreten des JGG bestand gemäß § § 6 , 9 Abs. 4 JGG die Möglichkeit von Strafe abzusehen. Diese Unterschiede rechtfertigten es, die gegen Jugendliche verhängten Strafen von der Betrachtung auszuschließen. Eine statistische Differenzierung war jedoch erst ab 1919 möglich. Zudem ist diese Differenzierung in manchen benutzten sekundären Quellen nicht erfolgt, so daß dort aus Gründen der Kontinuität mit den übrigen Quellen die verurteilten Jugendlichen berücksichtigt wurden. Weitere Besonderheiten des Aufbaus der jeweiligen Statistiken sind in den jeweiligen Abschnitten erwähnt, da sie sich zum Teil schwer verallgemeinern lassen. 9

8

Vgl. allgemein zur Laienbeteiligung Benz, S. 88 ff und speziell zu den Einflüssen auf die

Spruchpraxis v. Mayr> S. 561, 903; CasparfLeisel 9

S. 55 ff.

Zur Gliederung und Terminologie der Strafrechtspflegestatistiken vgl. Rangol, MschrKrim

47 (1964), 186 und zu Aussagemängeln der Strafverfolgungsstatistiken vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 17 Rn 21, 22.

ERSTER TEIL

Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913 Deutschland erlebte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg einen anhaltenden Wachstumsprozeß, der fur längere Zeit nur durch die sogenannte Gründerkrise (1874 - 1880) unterbrochen wurde. Die Industrieproduktion des Deutschen Reichs stieg bis 1913 um das Fünffache seit 1870, insbesondere in den sogenannten "neuen" Industrien Elektrotechnik und Chemie. An dieser wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung hatten breite soziale Schichten teil. Es gab Tendenzen der positiven Integration der Arbeiterschaft; die Arbeitsschutzgesetze und Sozialversicherungsgesetze galten als vorbildlich, i° Das Deutsche Reich erhielt am 15. Mai 1871 ein einheitliches Strafgesetzbuch. h Es ging im wesentlichen auf das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 zurück.· 2 An dem Bestand seiner Normen wurden bald Änderungen vorgenommen, die aber an seiner Methode und Struktur nichts änderten, is Von größerer Bedeutung war allein die Novelle vom 19. Juni 1912 (RGBl. 395), die verschiedene Milderungen einzelner Strafdrohungen brachte.

A. Statistische Grundlage Die Darstellung der Sanktionspraxis in dem Zeitraum zwischen 1882 und 1913 basiert auf den vom Reichsjustizamt bearbeiteten Kriminalstatistiken. Diese sind in der vom Kaiserlichen Statistischen Amt herausgegebenen neuen Folge der Statistik des Deutschen Reichs erschienen. Bei der Beschreibung des Verhältnisses Gefängnisstrafe zu Geldstrafe könnte es sich als zweckmäßig erweisen, die Verurteilungen wegen Verstößen gegen Delikte außerhalb des RStGB nicht einzubeziehen. Durch den Ausbau der Strafbestimmungen in der sozial- und wirtschaftspolitischen Gesetzgebung des Deutschen Reiches stieg die Zahl der Strafgesetze außerhalb des

10 Schäfer , Wirtschaftsploetz, S. 247 11 RGBl. 127. ,2

Zur Entstehungsgeschichte vgl. v. Hippel , Deutsches Strafrecht, Bd. I, S. 341 ff. 13 Eb. Schmidt , S. 399.

Α. Statistische Grundlage

15

RStGB zwischen 1882 und 1913.14 Diese "neuen Delikte" wurden in der Statistik unter der Rubrik "Verbrechen und Vergehen gegen andere Reichsgesetze" geführt. In der Reichskriminalstatistik 1882 wurden 142 Delikte e r f a ß t . ^ In der des Jahres 1913 waren es bereits 550 D e l i k t e . ^ Die folgende Tabelle läßt erkennen, welchen Anteil die seit 1883 neu geschaffenen Straftatbestände an der seit 1882 eingetretenen Zunahme aller Verurteilungen h a b e n . 17 Von 100.000 strafmündigen Personen wurden in den Jahren verurteilt: Jahr aufgrund aller in Geltung befindlicher Gesetze

Zahl der Verurteilten aufgrund der gleichen bereits 1882 in Kraft befindlichen Gesetze

% Zunahme seit 1882 1882 1885 1890 1895 1900 1902 1905 1908 1912

996 1006 1049 1200 1164 1246 1205 1230 1224



1,0 5,3 20,5 16,9 25,1 21,0 23,5 22,9

% Zunahme seit 1882 995 1005 1047 1176 1143 1213 1158 1180 1144



1,0 5,2 18,2 14,9 21,9 16,4 18,6 15,0

aufgrund seit 1883 neu geschaffener Gesetze % Zunahme seit 1882



1 2 24 21 33 47 50 80



0,0 0,2 2,3 2,0 3,2 4,6 4,9 7,9

Der Einfluß der neuen gesetzlichen Vorschriften hat sich hiernach seit drei Jahrzehnten erheblich verstärkt und ist zu ca. 1/3 für die Steigerung der Verurteiltenziffer seit 1882 u r s ä c h l i c h . ^ Die Veränderung der Normen des materiellen Strafrechts hatte aber auch Einfluß auf das Verhältnis Gefängnis- zu Geldstrafe. Denn die vermehrte Anwendung der Geldstrafe basierte auf diesen Gesetzesnovellen.

14

Eine Übersicht über die Novellen findet sich bei v. Hippel, Deutsches Strafrecht Bd. I, S. 345 ff. 15 Reichskriminalstatistik 1882, S. (4). Reichskriminalstatistik 1913, S. (6)-(15). 17 Tabelle bei v. Mayr, S. 683. 18 Vgl. Rabl, S. 11 f.; v. Scheel, S. 127.

16

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

A u f Verurteilungen aus sogenannten "neuen" Tatbestanden entfielen: i* 1882 1891 1901 1911

116 498 11.293 32.832

(= (= (= (=

0,2 %) aller Geldstrafen 0,4 %) aller Geldstrafen 5,8 %) aller Geldstrafen 12,1 %) aller Geldstrafen

Daraus ist ersichtlich, daß 1911 mehr als 12 % aller zu Geldstrafen verurteilten Straftater aufgrund "neuer" Gesetze verurteilt wurden. Besonders aussagekräftig wird diese Zahl, wenn man ergänzt, daß dem Richter in drei Viertel dieser Fälle (also 9 % aller 1911 wegen "neuer" Delikte verhängten Geldstrafen) keine andere Wahl blieb; denn dort handelte es sich um Verurteilungen aus Delikten, die nur mit Geldstrafe bedroht waren (reine Geldstrafendelikte). 20 Die Zunahme der Geldstrafenverurteilungen hatte folglich ihren Grund teilweise in der Zunahme der reinen Geldstrafendelikte.21 Von der Gesamtheit der Geldstrafenverurteilungen entfielen auf reine Geldstrafendelikte 1882 1891 1901 1911

5.110 7.136 23.841 39.880

( = 7,3 %) ( = 6,4 %) (=

12,2 %)

(= 14,7 %).22

Sieht man sich die absoluten Zahlen an, ist auffällig, daß die Verurteilungen aus diesen reinen Geldstrafendelikten seit 1882 um 680 % zugenommen haben, während die Zunahme der Geldstrafenverurteilungen wegen Verstößen gegen sämtliche Reichsgesetze (1882: 83.562; 1911: 281.772) lediglich 237 % b e t r u g . 2 3 Für diese Zunahme sind nur zum kleineren Teil (2/5) Strafvorschriften ursächlich, die 1882 schon in Kraft waren; die übrigen 3/5 sind wegen sogenannter "neuer" Delikte verhängt w o r d e n . 2 4 Andererseits muß erwähnt werden, daß von den 1911 erkannten 32.832 Geldstrafen aufgrund "neuer" Delikte 9.154 (ca. 1/4) auf Delikte entfielen, die Geldstrafe wahlweise mit Freiheitsstrafe oder bei mildernden Umständen

19 Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 42. 20

Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 42; diese Zahlen verdreht Rabl, S. 12. 21 Ein Überlick über die Tatbestände, die die Geldstrafe ausschließlich oder wahlweise androhen, findet sich bei Müller, S. 10 ff. und Gutmann S. 14-61; eine detaillierte Aufteilung aller Reichsgesetze, die Geldstrafe in irgendeiner Form androhen findet sich bei Troschitz, S. 65-120. 22 Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 42. 23 Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 42; zu dem gleichen Ergebnis gelangt Pitschel, S. 7. 24 Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 42.

17

Α. Statistische Grundlage

Die Neigung der Gerichte, bei diesen Delikten auf Geldstrafe zu erkennen, ist erheblich größer als bei den alten Delikten derselben Gattung: bei den alten Delikten dieser Gattung waren 68,3 %, bei den neuen 96,6 % aller erkannten Strafen Geldstrafen.^ androhten.25

Aus der folgenden Tabelle ist die Zahl der zu Gefängnis- oder Geldstrafe Verurteilten zu entnehmen. Dabei wurden Verstöße gegen sämtliche Reichsgesetze berücksichtigt: Jahr

Insgesamt

Gefängnis

Geldstrafe

1882 1906 1913

329.968 533.767 561.805

228.139 ( = 69,1 %) 255.567 ( = 47,9 %) 244.739 ( = 43,6 %)

83.562 ( = 25,3 %) 254.768 ( == 47,7 %) 296.984 (== 52,9 %)

Betrug der Anteil der zu Gefängnis Verurteilten 1882 noch 69,1 % an allen Verstößen gegen Reichsstrafgesetze, so steht der Anteil an Geldstrafen im Berichtsjahr 1906 den Gefängnisstrafen etwa gleich hoch gegenüber. Diese Tendenz setzt sich bis zum Vorkriegsjahr 1913 fort, in dem gegen 43,6 % der Verurteilten auf Gefängnisstrafe und gegen 52,9 % auf Geldstrafe erkannt wurde. Zum Vergleich: Gegen die Verurteilten, die gegen Vorschriften des RStGB verstoßen hatten, wurde auf Gefängnis- bzw. Geldstrafe erkannt: Jahr

Insgesamt

Gefängnis

Geldstrafe

1882 1906 1913

323.839 491.552 501.085

227.023 ( = 70,1 %) 253.756 ( = 51,6 %) 242.937 ( = 48,5 %)

78.594 ( = 24,3 %) 214.506 ( == 43,6 %) 238.231 ( == 47,5 %)

Daraus wird ersichtlich, daß der Anteil der Geldstrafenverurteilungen gegen Ende des Berichtszeitraumes um etwa 5 Prozentpunkte niedriger liegt als bei der erstgenannten Tabelle. Die dargestellten Unterschiede rechtfertigen es, im folgenden lediglich auf Verurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB Bezug zu nehmen. Denn aussagekräftige Vergleiche können nur dann gezogen werden, wenn die Grundlage der Untersuchung weitgehend konstant bleibt.

25

Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 43. 26 Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 43. 2 Stapenhorst

18

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

B. Strafart In dem RStGB von 1871 und der Sanktionspraxis bis zum 1. Weltkrieg dominierten die Freiheitsstrafen. Die Gefängnisstrafe als die zweitschwerste Freiheits- und eigentliche Vergehensstrafe dauerte mindestens einen Tag und höchstens fünf Jahre (§ 16 RStGB2?). Daneben war die Geldstrafe (§ 27 RStGB2«) die häufigste Strafe.

L Tatsächliche Verhältnisse Von den wegen Verstößen gegen Vorschriften des RStGB Verurteilten wurden zu Gefängnis- bzw. Geldstrafe verurteilt: Jahr 1882 1884 1886 1890 1895 1900 1905 1906 1910 1911 1913

Insgesamt 323.839 340.181 345.628 372.160 433.697 447.226 481.432 491.552 497.818 497.221 501.085

Geldstrafe

Gefängnis 227.023 230.212 227.787 236.027 256.889 254.150 250.778 253.756 250.793 249.370 242.937

(= (= (= (= (= (= (= (= (= (= (=

70,1 67,7 65,9 63,4 59,2 56,8 52.1 51,6 50,4 50,2 48,5

%) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %)

78.594 93.583 102.082 118.166 158.040 173.096 208.238 214.506 226.564 228.150 238.231

= = = =

= =

= = = = =

24,3 27,5 29,5 31,8 36,4 38,7 43,3 43,6 45,5 45,9 47,5

%) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %)

Zu Beginn der statistischen Erhebungen im Jahre 1882 betrug der Anteil der Gefängnisstrafen an allen Verurteilungen 70 %. Dieser Anteil verringerte sich im Verlaufe der folgenden 30 Jahre stetig bis auf 48,5 %. In dem gleichen Umfang stieg der Anteil der zu Geldstrafe Verurteilten von 24,3 % (1882) auf 47,5 % (1913), so daß sich Gefängnis und Geldstrafe am Ende der Epoche etwa gleichwertig gegenüberstanden.

I I . Bewertung Die geschilderte Entwicklung könnte auf folgende Ursachen zurückzuführen sein.

27 I.d.F. des Gesetzes v. 15.5.1871, RGBl. 127. 28 I.d.F. des Gesetzes v. 15.5.1871, RGBl. 127.

19

Β. Strafart

1. Mildernde

Umstände

Fraglich ist, ob die Neigung der Gerichte, bei Verbrechen mildernde Umstände anzunehmen, um Gefängnisstrafen statt Zuchthausstrafen verhängen zu können, Einfluß auf das Verhältnis Geldstrafe zu Gefängnisstrafe hatte. Die folgende Tabelle zeigt fur den einfachen Rückfalldiebstahl (§§ 242, 244 RStGB), der mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus bedroht war, daß von § 244 Abs. 2 RStGB, der bei mildernden Umständen die Mindeststrafe auf drei Monate Gefängnisstrafe senkte, in zunehmendem Maße Gebrauch gemacht w u r d e . 29 Wegen einfachen Rückfalldiebstahls wurden mit folgenden Freiheitsstrafen bestraft: Zuchthaus über 1 Jahr 1882/84 1890/94 1900/04 1910/13

36,5 31,1 23,7 14,0

% % % %

4,7 10,2 12,0 12,0

% % % %

Gefängnis 3 Monate bis 1 Jahr 48,6 56,0 61,6 71,4

% % % %

Folglich ist der Ausfall, den die Gefängnisstrafe zugunsten der Geldstrafe erlitten hat, zum Teil wieder ausgeglichen worden durch den Zuwachs, der ihr auf Kosten der Zuchthausstrafe zuteil geworden ist.30 Mit anderen Worten: Die Verminderung des Anteils der Gefängnisstrafen wäre noch erheblicher gewesen, wenn nicht gegen Erwachsene wegen Verbrechens immer häufiger statt auf Zuchthaus auf Gefängnis erkannt worden wäre. Andererseits ist die Annahme mildernder Umstände gemäß § 223 a Abs. 2 RStGB ursächlich für den Anstieg der Zahl der Geldstrafenverurteilungen gewesen. Denn nur bei dem Tatbestand des § 223 a RStGB führte die Annahme mildernder Umstände zur Geldstrafe.31 2. Kriminelle Reizbarkeit Das Bestreben, gesellschaftliche Konflikte verstärkt mit den Mitteln des Strafrechts austragen zu wollen, könnte dazu geführt haben, daß häufiger Anzeigen erstattet wurden und demzufolge Delikte zugenommen haben, die vor allem private Streitigkeiten betrafen und zumeist mit Geldstrafe bedroht waren (z.B. §§ 185, 223 RStGB).

29 Rabl, S. 32 f. 30 Reichskriminalstatistik 1911, Erörterungen zu Tabelle I, S. I. 38. 31 S. u. D. I. 1. 2*

20

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

Diese sogenannte "kriminelle R e i z b a r k e i t " 3 2 könnte zur Vermehrung der Geldstrafenverurteilungen gefuhrt haben. Denn die Zahlen der Kriminalstatistik werden nicht nur von den Handlungen beeinflußt, die als Vergehen oder Verbrechen registriert werden, sondern auch durch die Empfindlichkeit derer, denen gegenüber die Handlungen vorgenommen werden.33 Dabei wird der staatliche Sanktionsmechanismus häufig als Mittel persönlicher Rache ausgenutzt und zur Verfolgung persönlicher Ziele benutzt.34 Nach Zahlen, die bei Seuffert veröffentlicht sind, stellten die Staatsanwaltschaften zwischen 1881 und 1897 ca. 50 % der durch Strafanzeigen initiierten Ermittlungsverfahren ein.35 Dies sei ein Zeichen für das erhöhte Strafbedürfnis des P u b l i k u m s . 3 6 Der Anstieg der absoluten Zahlen der Beleidigungs- und Körperverletzungsklagen sei eine Bestätigung dieser A n n a h m e . 3 7 Ob sich die These Seufferts gen läßt, ist fraglich.

durch die Ergebnisse der Kriminalstatistik bele-

Beleidigung und Körperverletzung sind Delikte, die besonders private Streitigkeiten betreffen. Verurteilungen wegen dieser Delikte müßten demnach stärker zugenommen haben als der durchschnittliche Anstieg aller Verurteilungen. Ausweislich der Kriminalstatistik betrug der Anteil der Verurteilungen wegen Beleidigung an allen Verurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB 1882 1892 1902 1912

12,0 % 11,3 % 12,1 %

12,6 %

Für die Verurteilungen wegen einfacher Körperverletzung (§ 223 RStGB) lauten die entsprechenden Zahlen: 1882 1892 1902 1912

5,1 5.5 5,7 4.6

% % % %

32 Seuffert,

S. 64.

33 Seuffert,

S. 64.; vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 26 Rn. 2.

34 Weis/Müller-Bagehl,

KrimJ 3 (1971) 185; Kaiser, Kriminologie, § 54 Rn 10; Kürzinger,

Private Strafanzeigen, S. 240. 35 Seuffert,

S. 65 f.; Ergebnisse aus Untersuchungen jüngeren Datums bei Steffen,

vgl. ferner die Nachweise bei Kaiser, Kriminologie, § 54 Rn 6 a.E. und Rn 7. 36 Seuffert,

S. 66.

37 Seuffert,

S. 67.

S. 176;

Β. Strafart

21

Bei der Beleidigung ist eine relative Zunahme seit 1882 von lediglich 0,6 Prozentpunkten bzw. 5 % festzustellen. Die Verurteilungen wegen einfacher Körperverletzung sind relativ betrachtet gesunken. Diese Zahlen belegen die oben genannte These nicht. Ein Delikt, dessen Bedeutung innerhalb der Gesamtverurteilungen stark zunahm, ist die gefahrliche Körperverletzung (§ 223 a RStGB): Die Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung betrugen im Jahr

1882

1892 1902 1912

11,8 %

16,0 % 20,2 % 18,5 %

aller im Deutschen Reich erfolgten Verurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB. Die Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung nahmen um 6,7 Prozentpunkte zu. Die Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung sind folglich weit mehr als andere Delikte angestiegen. Dieser Anstieg ist Ausdruck der gestiegenen "kriminellen Reizbarkeit". Anhand dieser Zahlen ließe sich Seufferts These plausibel erklären. Dieses Ergebnis wird auch durch die Entwicklung bei der Zahl der Privatklageverfahren bestätigt. Bei den Amtsgerichten sind in den Jahren 1882 1892 1902 1912

82.197 92.925 115.351 149.495

Privatklagesachen anhängig g e w o r d e n e s Bezogen auf die überhaupt anhängig gewordenen Anklagesachen der betreffenden Jahre beträgt der Anteil der Privatklagen: 1882 1892 1902 1912

14,4 16,7 18,9 23,3

% % % %

38 Reichskriminalstatistik 1928, S. 106.

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

22

Hier ist eine Steigerung von knapp 9 Prozentpunkten zu verzeichnen. Die Zunahme privater Streitigkeiten insbesondere der gefahrlichen Körperverletzungen fuhrt zu einer Verschiebung im Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe. Denn der Anteil der Geldstrafenverurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung an der Gesamtzahl der Geldstrafen hat sich verdreifacht: 1882 1892 1902 1912

7,2 14,8 21,9 21,2

% % % %

Zählt man die Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung bei dem Vergleich der Strafarten nicht mit, ergibt sich folgendes prozentuales Verhältnis von Verurteilungen zu Gefängnisstrafe bzw. 1882 1892 1902 1912

68,2 62,9 57,5 52,9

Geldstrafe: 25,4 31,5 37,1 42,5

Von Verurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB -einschließlich der gefahrlichen Körperverletzung- entfielen auf Gefängnisstrafe bzw. 1882 1892 1902 1912

70,1 63,8 55,9 49,3

Geldstrafe: 24,3 31,4 39,6 46,8

Der Anstieg der Geldstrafenverurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB -auschließlich der wegen gefährlicher Körperverletzung- ist geringer als der Anstieg der Geldstrafenverurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB einschließlich der Verurteilungen wegen gefahrlicher Körperverletzung. Das heißt, die allgemein beobachtete Verschiebung zugunsten der Geldstrafe beruht nicht etwa nur darauf, daß die Sanktionspraxis der Gerichte milder geworden ist, sondern auch darauf, daß die Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung stark zugenommen haben.

Β. Strafart

3. Strafrechtliche

23

Reformbewegung

Im folgenden wird auf die Frage eingegangen, ob die zunehmende Milde der Gerichte, die sich in der Zunahme der Geldstrafenverurteilungen ausdrückt, auf die strafrechtliche Reformbewegung Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeführt werden kann. v. Hippel führte die Verschiebung der Strafzumessung von der Gefängnisstrafe zur Geldstrafe auf diese wissenschaftliche Entwicklung zurück. & Diese Tendenz stelle einen "beispielhaften Fall" dar, in dem "der segensreiche Einfluß richtiger Theorie auf eine tüchtige Praxis" zum Ausdruck komme. 40 Dieser gewaltige Fortschritt sei erzielt ohne Veränderung der Gesetzgebung, lediglich aufgrund besseren Erkennens.Auch für Exner war das rechtshistorisch und methodisch Interessante an diesem Wandel, daß er sich "unter der Herrschaft desselben Gesetzbuchs abgespielt hat".42 Die Änderung der Sanktionspraxis erfolgte also, ohne daß der Gesetzgeber überhaupt tätig geworden wäre. Was aber hat nun die Rechtsprechung veranlaßt, mehr und mehr von der Geldstrafe Gebrauch zu machen? a) Strafzumessungsverfahren U m diese Frage beantworten zu können, ist es erforderlich, sich zunächst ein Bild von dem Verfahren zu machen, nach dem die Strafrechtspflege des ausgehenden 19. Jahrhunderts die zu verhängende Strafe zumaß. Woran konnte sich der Richter orientieren? Der zeitgenössischen Strafrechtswissenschaft bescheinigte v. Liszt, sie habe es "zu ihrem Unheil gelernt, sich auf die Auslegung des Strafgesetzbuches" zu beschränken, so daß von ihr keine substantielle Hilfe zu erwarten sei. 43 Sie interessiere sich nicht für den Verbrecher sondern für das Verbrechen, nicht für den Menschen sondern für den Begriff. 44 Auch der Gesetzgeber bot keine konkrete Hilfe für die Strafzumessung. Denn bis zur Einführung des § 13 StGB4* im Jahre 1970 durch das Erste Strafrechtsreformgesetz enthielt das Gesetz keine Richtlinien für die Strafzumessung. Lange Zeit glaubte man, ein weiter Strafrahmen sei das einzige, was

39 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, S. 555. 40

v. Hippel, Deutsches Strafrecht, S. 555. 1 v. Hippel, L Z DC (1915), 1061. 4 2 Exner, Strafzumessungspraxis, S. 17. 4

43 44 4

v. Liszt, ZStW 9 (1889), 489.

v. Liszt, ZStW 9 (1889), 489. 5 I.d.F. des Ersten Strafrechtsreformgesetzes von 25.6.1969, BGBl. I 645.

24

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

man dem Richter auf den Weg zur gerechten Strafe mitgeben k ö n n e t Als das RStGB entworfen und beraten wurde, zeigte sich das allgemeine Bestreben, den Spielraum für das freie richterliche Ermessen zu erweitern. 47 Der Gesetzgeber bemühte sich, dem Richter in weit gespannten Strafrahmen eine möglichst hohe Zahl von "Strafgrößen" (beim Diebstahl nicht weniger als 1825 < 5 χ 365 > ) zur Verfügung zu stellen. Denn in der Schwere des Verbrechens, der die Schwere der Strafe zu entsprechen habe, seien unzählige Abstufungen denkbar. 48 Der Gesetzgeber stellte folglich weite, nach unten zumeist unbegrenzte Strafrahmen auf und entlehnte das Institut der "mildernden Umstände" dem französischen R e c h t . 4 9 Eberhard Schmidt macht die interessante geistesgeschichtliche Beobachtung, daß sich das RStGB dem Strafzweck gegenüber gerade nicht - wie man meistens lesen könne - indifferent verhalten habe. Vielmehr habe es - getreu seiner geistesgeschichtlichen Herkunft aus der spezifisch liberalen Strafauffassung Feuerbachs - die generalpräventive Abschreckung als alleinigen Strafzweck anerkannt. Generalpräventive Tatvergeltung sei der Grundgedanke einer taxartigen Strafzumessung gewesen. Der Richter sollte die Strafzumessung an Stelle des Gesetzgebers vornehmen und entscheiden, welche Strafe der Gesetzgeber gewählt hätte, um den Täter künftig von der Begehung weiterer Taten a b z u s c h r e c k e n . » Diese, die spezifisch richterliche Aufgabe verkennende Fragestellung möge angesichts der ganz engen Strafrahmen des von Feuerbach erarbeiteten bayerischen StGB von 1813 noch eine gewisse Berechtigung gehabt haben, habe diese aber völlig verloren, je mehr seit 1816 die Strafrahmen erweitert worden seien.si Viele Richter fanden aus der Richtungslosigkeit keinen anderen Ausweg als die Flucht in ein System der Taxierung.52 Die einzelnen kriminellen Taten wurden danach nach einem mehr gefühls- als verstandesmäßig gebildeten Taxwert beurteilt. 53 Dieser Taxwert bildete sich als Quasi-Gewohnheitsrecht in der Form des Gerichtsbrauchs. 54 Es wurde moralisiert im Sinne der Ethik des täglichen Lebens.« Die Gerichte schlossen sich gängigen gesellschaftlichen Werturteilen an, wie sie gegenüber Verbrechern gefallt zu werden pflegten. 56

47

Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 15. v. Uszt, ZStW 9 (1889), 738.

« v. Uszt, ZStW 9 (1889), 490. ZStW 9 (1889), 738.

49 v. Uszt,

50 Eb. Schmidt, SJZ 1946, 205. 51 Eb. Schmidt, SJZ 1946, 205. 52 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 15. 53 Eb. Schmidt, S. 404. 54 Vgl. dazu Woerner, S. 65 ff.; v. Mayr 55 Exner, Strafzumessungspraxis, S. 94. 56 Exner y Strafzumessungspraxis, S. 94.

y

S. 904 f.

Β. Strafart

25

ν. Liszt hielt die Aufgabe der Strafzumessung, wie die "vergeltende Gerechtigkeit" sie stelle, für eine unlösbare. Er pointierte dieses Dilemma mit folgenden Worten: "So schwebt unsere ganze Strafzumessung in der Luft; diese höchste und feinste Leistung der 'vergeltenden Gerechtigkeit' erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Taschenspielerkunststück, bei welchem der Künstler sich nicht einmal die Mühe gibt, die andächtigen Zuseher zu täuschen." 57

v. Liszt führte die Milde der Gerichte und ihre Scheu über das gesetzliche Mindestmaß hinauszugehen, auf dieses Dilemma zurück. 58 Am Rande sei bemerkt, daß v. Liszt die Lösung des Problems darin suchte, die richterliche Strafzumessung auf die Zumessung von Strafrahmen zu beschränken und die endgültige Strafe erst während des Strafvollzuges bemessen zu lassen.& b) Wandel in der Strafauffassung Innerhalb der oben skizzierten taxierenden Tatbewertung vollzog sich ein Wandel, der sich nur aus den allgemeinen geistigen Strömungen jener Zeit erklären lassen dürfte.« Die Rechtsprechung löste sich stimmungsmäßig von der ethischen Einstellung und Haltung des 19. Jahrhunderts.6i Auch v. Liszt räumte ein, die Uberzeugung von der gänzlichen Wirkungslosigkeit der Freiheitsstrafe möge nicht ganz ohne Einfluß auf die Gerichte gewesen sein.62 Die Ursachen der einsetzenden Skepsis gegenüber dem geltenden Strafrecht und den absoluten Straftheorien des liberalen Staates lagen in der sich durchsetzenden Überzeugung, daß die auf Vergeltung abgestellten Strafmittel prophylaktisch wirkungslos und schädlich waren.« Äußerer Anlaß für diese Uberzeugung war die durch die Gründerzeit und Industrialisierung bedingte soziale Umschichtung mit einer starken Zunahme des Verbrechens im allgemeinen und das beängstigende Anwachsen der Rückfall- und Jugendkriminalität im besonderen.« v. Liszt setzte sich an die Spitze der Reformbewegung gegen die kurze Freiheitsstrafe. Nach seiner kriminalpolitischen Grundauffassung, die 1882 in seiner berühmt gewordenen Abhandlung "Der Zweckgedanke im Strafrecht" und in dem auf ihr beruhenden Marburger Programm zusammengefaßt worden war, besteht die Wesensart der Strafe darin, den Augenblicksverbrecher 57

V. Liszt, ZStW 9 (1889), 490.

5

* v. Liszt, ZStW 9 (1889), 738.

» v. Liszt, ZStW 9 (1889), 492. « Eb. Schmidt, S. 404. 61 Eb. Schmidt, S. 405. 62 v. Uszt, ZStW 9 (1889), 738. 63 Maurach/Zipf, 64 Maurach/Zipf,

§ 6 Rn. 27. § 6 Rn. 27.

26

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

abzuschrecken, den besserungsfähigen Zustandsverbrecher zu erziehen und den unverbesserlichen Verbrecher unschädlich zu m a c h e n . 65 Davon ausgehend wertete er die Kriminalstatistiken a u s « und kam zu dem bestechend einfachen Schluß: "Unsere gesamte heutige Strafrechtspflege beruht fast ausschließlich auf der kurzzeitigen Freiheitsstrafe. "67 Er folgerte daraus, daß die kurzzeitige Freiheitsstrafe die Rechtsordnung schwerer schädige als die völlige Straflosigkeit des Verbrechers. 68 Die Kritik der Reformbewegung hat, wenn auch nicht unmittelbar statistisch nachweisbar, auch auf die Gerichte Einfluß gehabt. 4. Bedingte Begnadigung Die bedingte Begnadigung könnte insoweit Einfluß auf das Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe gehabt haben, als durch die häufige Anwendung der bedingten Begnadigung der Anteil der letztlich vollstreckten Gefängnisstrafen zurückgedrängt worden sein könnte. Ausgangspunkt für dieses Rechtsinstitut war das Belgische Gesetz über die "Condamnation Conditionelle" vom 31.5.188869 sowie die Gedanken v. Liszts in seinem Aufsatz "kriminalpolitische A u f g a b e n ".το Dieses Institut wurde in den Einzelstaaten von den Justizbehörden als bedingte Begnadigung im Verordnungswege eingeführt und nicht als bedingte Verurteilung, die durch die Gerichte zu erkennen gewesen wäre.7i Die in den Einzelstaaten getroffenen Anordnungen der bedingten Begnadigung wichen in vielen und wesentlichen Punkten voneinander ab. Unter Vermittlung des Reichsjustizamtes wurden zwischen den Regierungen der beteiligten Bundesstaaten Grundsätze vereinbart, die die wesentlichen Voraussetzungen der bedingten Begnadigung vorschrieben.72 Danach wurde die bedingte Begnadigung in der Regel nur bei jungen Erstverbüßern gewährt, die eine kurze Gefängnisstrafe von weniger als 6 Monaten zu verbüßen hatten.73 Uber die Anwendung und die Ergebnisse sind dem Reichstag alljährlich von 1899 bis zuletzt 1909 besondere Denkschriften des Reichsjustizamtes vorge-

65 v. Uszt, Strafrechtliche Vorträge, S. 163 ff. 66 v. Uszt, ZStW 9 (1889), 739 ff.; v. Uszt, Strafrechtliche Vorträge, S. 163 ff. 67 v. Uszt, ZStW 9 (1889), 742. 68 v. Uszt, ZStW 9 (1889), 743. 69 Mitgeteilt bei v. Liszt, ZStW 9 (1889), 340. το v. Uszt, ZStW 9 (1889), 755 ff. 71 Für Preußen: Erlaß vom 23. Oktober 1895, JMB1. S. 348; zur bedingten Begnadigung in den deutschen Einzelstaaten siehe die zusammenfassende Darstellung bei v. Uszt, Vergleichende Darstellung, S. 42 ff. 72 Grundsätze vom 1.1.1903, Drucks, d. Reichstages 1903/04, Nr. 230, S. 995. 73 Siehe zu den einzelnen Voraussetzungen: v. Uszt, Vergleichende Darstellungen, S. 47 f.

Β. Strafart

27

legt worden.74 In den Einzelstaaten wurden die Nachweise auch weiterhin aufgestelltes Die folgende Tabelle setzt die in Preußen erfolgten Begnadigungen von zu Gefängnisstrafe Verurteilten ins Verhältnis zu allen in Preußen wegen des Verstoßes gegen Reichsgesetze erfolgten Verurteilungen.76 Jahr 1900 1901 1902 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913

Ingesamt Verurteilte 286.875 306.695 316.970 322.361 324.908 331.479 333.838 345.122 346.925 344.770 348.501 364.395 352.648

Begnadigung von zu Gefängnis Verurteilte 3.926 (1,4 4.644(1,5 6.563 (2,1 8.079 (2,5 9.166 (2,8 10.263 (3,1 11.269 (3,4 13.742 (4,0 15.014 (4,3 15.885 (4,6 17.585 (5,0 18.673 (5,1 16.691 (4,7

%) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %)

Immerhin knapp 5 % der Verurteilten wurden von dem Vollzug der Gefängnisstrafe durch das Institut der bedingten Begnadigung verschont, wodurch das Verhältnis von Gefängnisstrafe zu Geldstrafe zugunsten der letzteren zusätzlich verändert wird. In welchem Umfang die bedingten Begnadigungen widerrufen worden sind, ist aus den vorliegenden Quellen nicht ersichtlich. 5. Ersatzfreiheitsstrafe Das Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe könnte durch häufigere Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe beeinflußt worden sein. Schon v. Liszt stellte 1889 fest, daß die Geldstrafe in den meisten Fällen auf dem Wege der Strafumwandlung mittelbar wieder zu kurzzeitigen Freiheitsstrafen führe.77

74 Vgl. Drucks, des Reichstages: 1897/98 Nr. 89; 1898/1900 Nr. 687; 1903/05 Nr. 702; 1907 Nr. 234; 1907/09 Nr. 1321; vgl. ferner v. Mayr, S. 981. 75 Für Preußen siehe: Statistisches Jahrbuch fur den Preußischen Staat. 16

Berechnet nach Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch fur den Preußischen Staat. 77 V. Liszt, ZStW 9 (1889), 742.

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

28

Statistische Nachweise darüber, wieviele der verhängten Geldstrafen gemäß §§ 28, 29 RStGB in der Fassung des Gesetzes vom 15. Mai 18717« als Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt wurden, existieren in der Reichskriminalstatistik nicht. In den Erörterungen der Reichskriminalstatistik von 1884 wird lediglich bemerkt, es handele sich bei den umgewandelten Geldstrafen um einen "nicht unbeträchtlichen Bruchteil".79 Nach einer Studie von Rettich für das Königreich Württemberg sind zwischen 1888 und 1892 jährlich etwa ein Drittel aller Geldstrafen entweder in Freiheitsstrafen umgewandelt oder als zur Zeit uneinbringlich registriert worden. 80 Bedenkt man, daß 1886 drei Viertel aller Geldstrafen 50 Mark nicht überstiegen habend, ergibt sich bei einem Umwandlungssatz von durchschnittlich einem Tag Gefängnisstrafe pro 9 Mark Geldstrafe ( § 2 9 RStGB) eine Inhaftierungsdauer von ca. 7 Tagen. Dieses Schicksal ereilte nach der Studie von Rettich demnach jeden Dritten zu Geldstrafe Verurteilten (1886: ca. 36.000). 6. Strafvollzug Die für diese Untersuchung interessierende Frage lautet: Entspricht dem Rückgang der Verurteilungen zu Gefängnisstrafe ein Rückgang der tatsächlich Inhaftierten? a) Statistische Grundlage Statistische Nachweise, die die Beantwortung dieser Frage für das Gebiet des Deutschen Reichs ermöglichen, liegen nicht vor. Der Grund liegt darin, daß eine reichsgesetzliche Regelung des Strafvollzuges fehlte. 82 Für Preußen existieren ausführliche Statistiken sowohl für die Strafanstalten des Ministeriums des Innern sowie für die Gefängnisse der Justizverwaltung.« Unter dem Titel "Statistik der zum Ressort des Königlich Preußischen Minsteriums des Innern gehörenden Strafanstalten" sind für die Jahre 1869 bis 1916/17 Statistiken erschienen. Die Justizverwaltung hat für die Jahre 1902/03 bis 1914/15 Statistiken unter dem Titel "Statistik über die Gefängnisse der Justizverwaltung" herausgegeben. Zusammenfassende Auszüge aus beiden Statistiken sind im Statistischen Jahrbuch für den Preußischen Staat

TS RGBl. 127. 79 Reichskriminalstatistik 1884, S. 14. so Rettich, S. 507.

ei v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge, S. 406. 82

Roesner y Strafvollzug (Statistik), S. 724; vgl. Graff, S. 168 f. Wegen des bestehenden Dualismus des Strafvollzuges in Preußen vgl. Roesner, Strafvollzug (Statistik), S. 725 und zu den Hintergründen Krohne, Strafanstalten, S. ΧΙΠ. 83

Β. Strafart

29

von 1903 bis 1915 vom "Königlich Statistischen Bureau" herausgegeben worden. b) Gesamtzahl der Inhaftierten Wegen des in Preußen bestehenden Dualismus im Strafvollzug empfiehlt es sich, zwischen den Strafanstalten des Ministeriums des Innern und den Gefangnissen der Justizverwaltung zu differenzieren. 84 Die Zahlen der im Zuständigkeitsbereich des Ministeriums des Innern insgesamt im Laufe eines Jahres einsitzenden Gefängnisgefangenen sehen wie folgt aus: 1881 1889 1894 1900 1905 1910 1913

27.101 26.540 27.664 33.663 36.107 36.374 38.737

Dort ist ein deutlicher Anstieg der Zahlen um 43 % von 27.101 (1881) bis auf 38.773 (1913) zu verzeichnen. Die Anzahl der insgesamt im Laufe eines Jahres wegen Gefängnisstrafen in den Gefängnissen der Justizverwaltung einsitzenden Gefangenen betrug: 1890 1894 1900 1905 1910 1913

225.177 232.320 189.257 179.376 181.527 168.041

Während in den Strafanstalten der Innenverwaltung die absolute Zahl der Inhaftierten zunahm, sank die absolute Zahl der Inhaftierten der Justizverwaltung um 25%. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die absolute Zahl der Inhaftierten nicht auf die absolute Zahl der Bevölkerung bezogen werden konnte. Der Rückgang der Inhaftiertenzahl könnte theoretisch auch auf dem Rückgang der Bevölkerungszahl beruhen. Tatsächlich dürfte die Bevölkerungszahl Ende des letzten Jahrhunderts eher gestiegen sein.

84 Eine Übersicht über die Unterstellungsverhältnisse der Anstalten vgl. Statistik über die Gefangnisse der Justizverwaltung in Preußen für das Rechnungsjahr 1913, S. V .

30

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

Der Rückgang der Verurteilungen zu Gefängnisstrafe spiegelt sich auch in der rückläufigen Zahl der Inhaftierten wider. 7. Untersuchungshaft Den bisher zitierten Quellen ist über die Untersuchungshaft lediglich die Gesamtzahl der Häftlinge zu entnehmen, so daß über die Frage, welches Ergebnis nach Vollzug der U-Haft das Verfahren beendete (insbesondere Verurteilung zu Gefängnis oder Geldstrafe), nichts ausgesagt werden kann. In den unter der Regie des Innenministeriums stehenden Anstalten saßen ein: 1881 1889 1894 1900

20.551 12.627 9.839 11.355

1905 1910 1913

14.537 15.523 17.107

In den unter der Regie des Justizministeriums stehenden Anstalten saßen ein: 1890 1894 1900

123.709 144.416 138.010

1905 1910 1913

136.936 147.270 155.358

Es existiert allerdings Zahlenmaterial einer bei Gumbel zitierten hektographierten Ubersicht, die der Justizminister dem Hauptausschuß des Preußischen Landtages vorgelegt h a t t e . I h r Titel lautet: "Übersicht über die bei den Staatsanwaltschaften, bei den Amtsanwaltschaften, im Vorverfahren und bei dem Amtsrichter oder bei dem Jugendgericht im Hauptverfahren in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1929 beendeten Fälle von Untersuchungshaft auf Grund richterlichen Haftbefehls". Diese Veröffentlichung enthält Zahlen über die zu Unrecht verbrachte Untersuchungshaft. Danach waren im Jahre 1908 11,3 % der U-Häftlinge schuldlos in U-Haft. 8 * Eine Verallgemeinerung ist nur mit gebotener Vorsicht möglich, aber unerläßlich, da es sich um die einzigen Zahlen handelt.

85 86

Gumbel, Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 64 (1930) 128. Gumbel, Justiz 1929, 741.

31

. Strafa

C. Strafmaß Das Strafgesetzbuch von 1871 gab dem richterlichen Ermessen bei der Ahndung der mit Gefängnis bedrohten Delikte einen großen Spielraum. Die Gefängnisstrafe wurde nach Tagen bemessen und konnte im Mindestmaß auf einen Tag, im Höchstmaß auf fünf Jahre lauten. Fraglich ist, ob der Zuwachs der insgesamt erfolgten Verurteilungen zu Geldstrafe einer Abnahme bei den kurzen Gefängnisstrafen entsprach und gegebenenfalls welche Dauer diese Gefängnisstrafen hatten.

I. Tatsächliche Verhältnisse In der folgenden Übersicht ist das Ergebnis der Erhebungen für 1890 bis 1913 zusammengestellt:87 Von den insgesamt wegen Verstößen gegen das RStGB zu Gefängnisstrafe Verurteilten entfielen auf das entsprechende Strafmaß in Prozent: Jahr 1890 1895 1900 1905 1910 1913

unter 4 Tagen 11,5 10,2 8,2 8,3 9,0 7,4

4 bis 8 Tage

8 bis 30 Tage

1 bis 3 Monate

10,5 9,9 9,1 8,9 8,5 7,8

17,2 15,9 15,3 13,6 12,1 11,8

10,2 9,7 10,1 8,9 8,2 8,4

3 bis 12 Monate 11,0 10,6 10,9 9,8 9,8 10,1

Geldstrafe 31,8 36,4 38,7 43,3 45,5 47,5

Die Gefängnisstrafen unter drei Monaten machten 1890 49,4 % aller Verurteilungen aus; die unter einem Monat 39,2 %. Im Jahre 1913 lauteten die entsprechenden Prozentzahlen 35,4 % bzw. 26,8 %. Die tatsächliche Durchschnittsdauer der Gefängnisstrafe betrug zwei Monate, die gesetzliche dreißig.

I I . Bewertung Der Anstieg der Geldstrafenverurteilungen von 1890 (31,8 %) auf 47,5 % (1913) um 15,7 Punkte entspricht einem Rückgang der Kategorien "unter vier Tage" und "acht bis dreißig Tage". Im einzelnen sind die kurzen Freiheitsstrafen zwischen 1890 und 1913 folgendermaßen rückläufig:

87

Seitdem existierte ein aussagekräftiges Tabellenprogramm.

32

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

Dauer

Reduktion in Prozentpunkten

unter 4 Tage 4 bis 8 Tage 8 bis 30 Tage 1 bis 3 Monate 3 bis 12 Monate

4,1 2,7 5,4 1,8 0,9

Daraus wird deutlich, daß vor allem die kürzeren Gefängnisstrafen zugunsten der Geldstrafe reduziert wurden. Aus heutiger Sicht beurteilt, handelte es sich bei dieser Verschiebung um eine beachtliche Änderung in der Sanktionspraxis, ohne daß der Gesetzgeber eingegriffen h ä t t e t Zum Vergleich sei hier auf die Wandlungsbewegung zwischen 1970 und 1989 hingewiesen. Der Zunahme bei der Geldstrafe um 5,0 Prozentpunkte entspricht dort eine Abnahme der Freiheitsstrafen unter sechs Monaten von 6,9 Prozenpunkten. 89 1. Bedingte Begnadigung Die bedingte Begnadigung hatte einen beachtlichen Anteil an der Beschränkung der kurzen Inhaftierungszeiten. Der Anteil von Gefängnisstrafen (von einer Woche und weniger) an allen erfolgten bedingten Begnadigungen betrug in Preußen in dem jeweiligen Jahr in Prozent: Jahr bed.Begnadigung > 6 Mo. 3-6 Mo. insgesamt

1-3 Mo. 1-4 Wo.

1900 1902 1904 1906 1908 1910 1912

7,9 % 10,1 % 11,5 % 11,6 % 11,8 % 11,5 % 11,6 %

3.926 6.563 8.079 10.263 13.742 15.885 18.673

0,2 0,3 0,4 0,9 0,9 0,8 1,0

% % % % % % %

1,8 3,3 3,6 4,0 3,7 3,7 4,5

% % % % % % %

22,9 24,8 27,2 27,5 25,4 24,4 25,4

% % % % % % %

< 1 Wo. 67,2 61,5 57,3 56,1 58,2 59,5 57,5

% % % % % % %

Die Dauer der ausgesetzten Gefängnisstrafe betrug in etwa der Hälfte aller Fälle eine Woche und weniger, in 3/4 der Fälle einen Monat und weniger.»

88 89

Vgl. allerdings die zeitgenössische Kritik bei v. Mayr, S. 912 f.

s. u. 4. Teil, C. II. 3. 90 Vgl. auch Klee, ZStW 24 (1904), 83.

. Strafa

33

2. Strafvollzug Bei der Betrachtung der Strafmaße sind die tatsächlichen Verhältnisse in den Vollzugsanstalten zu berücksichtigen. Nach den Statistiken der zum Bereiche der Innenverwaltung gehörenden Anstalten betrug die durchschnittliche Inhaftierungsdauer der eine Gefängnisstrafe Verbüßenden in Tagen: 1881 1889 1894 1900 1905 1910 1913

76 90 95 86 77 76 83

Die durchschnittliche Dauer der Inhaftierungszeiten betrug knapp 3 Monate. Sie liegt damit über der durchschnittlichen Dauer der erkannten Gefängnisstrafen (2 M o n a t e ) . 9 2 Dieses Ergebnis resultiert daraus, daß die kurzen Gefängnisstrafen weniger häufig vollstreckt wurden als die Langzeitstrafen, und dadurch in die Durchschnittsberechnung der Inhaftierungsdauer nicht einbezogen werden konnte. Nach den Statistiken der Justizverwaltung betrug die Tagesdurchschnittsbelegung in den 1065 (1913) ihr unterstellten Gefängnissen: 93 Jahr 1902 1904 1906 1908 1910 1912 1913

Tagesdurchschnittsbelegung 34.402 32.175 30.058 32.111 31.095 30.868 31.411

Gesamtbelegung 194.123 185.413 180.393 189.525 181.527 176.157 168.041

Eine interessante Beobachtung macht man, wenn man die Zahl der Tagesdurchschnittsbelegung der der Gesamtbelegung gegenüberstellt. Der Rückgang in der Tagesdurchschnittsbelegung von 1902 bis 1913 beziffert sich auf 8,7%. Der Rückgang der Gesamtbelegung ist höher. Er betrug 13,4%. Daraus läßt sich schließen, daß die Verweildauer in den Jahren gestiegen ist. Denn je höher die Tagesdurchschnittsbelegung, desto weniger Gefangene haben die Anstalten im Laufe eines Jahres durchlaufen. 91

Zur Berechnungsmethode vgl. E. Rosenfeld, 92 s. O. C. I. 93

S. 124.

Nachweise über die durchschnittliche Inhaftierungsdauer liegen nicht vor.

3 Stapenhorst

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

34

3. Untersuchungshaft Die Dauer der Untersuchungshaft ist deshalb von Bedeutung, weil sie gemäß § 60 R S t G B * * auf das Strafmaß angerechnet werden konnte. Die durchschnittliche Dauer betrug bei den Untersuchungshäftlingen, die in den Anstalten der Innenverwaltung einsaßen in T a g e n : 9 5 1881 1889 1894 1900 1905 1910 1913

27 32 34 33 30 29 32

Durch die Anrechnung der Untersuchungshaft verkürzt sich die tatsächlich zu verbüßende Inhaftierungszeit im Durchschnitt um die Hälfte auf etwa einen Monat. Denn die Durchschnittsdauer der Gefängnisstrafe betrug zwei Monate.

D. Deliktspezifische Untersuchung Fraglich ist, ob sich das allgemeine Bild der Strafarten und -maße auch bei näherer Betrachtung einzelner Delikte bestätigt, oder ob die Verurteilungen einzelner Delikte konträr zu der allgemeinen Tendenz verlaufen, mit der Folge daß sich die Gesamtverhältnisse verschieben. Dazu werden die häufigsten und folglich aus kriminologischer Sicht interessantesten Delikte, nämlich gefährliche Körperverletzung und Diebstahl, betrachtet. Eine vergleichende Bewertung der Sanktionspraxis bezüglich einzelner Delikte ist wegen der unterschiedlichen Strafdrohungen nur bedingt aussagekräftig.*» Denn die unterschiedlichen gesetzgeberischen Wertungen machen es schwierig, die Sanktionspraxis mit statistischen Mitteln zu vergleichen. Ein Vergleich erfolgt daher an dieser Stelle nur indirekt. 97

I. Diebstahl Diebstahl wurde mit Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren bedroht. Geldstrafe war nicht zulässig.

94 I.d.F. des Gesetzes v. 15.5.1871, RGBl. 127. 95 In den Statistiken der Justizverwaltung sind derartige Nachweise nicht erhoben worden. 96

Zu diesen methodischen Problemen Streng, S. 8. 97 Untersuchungen dieser Art bei Exner, Strafzumessungspraxis, S. 71 ff.

D. Deliktspezifische Untersuchung

35

1. Straf art Geldstrafen kommen entsprechend der Strafdrohung nicht vor. Bei Jugendlichen unter 18 Jahren konnte in besonders leichten Fällen von Vergehen auf Verweis gemäß § 57 Nr. 4 RStGB 98 erkannt werden. Davon wurde in zunehmendem Maße Gebrauch gemacht, um die Gefängnisstrafen zu vermeiden. Bei den insgesamt wegen Diebstahls ergangenen Urteilen wurde vom Verweis wie folgt Gebrauch gemacht: 1882 1892 1902 1912

2,9 %

6,6 %

10,2 % 11,0 %. 2. Strafmaß

Das Strafmaß, das bei Verurteilungen wegen Diebstahls angewendet worden ist, weicht erheblich von dem durchschnittlichen Strafmaß ab. Das Strafmaß beträgt in Prozent von den insgesamt wegen Verstößen gegen das RStGB ergangenen Verurteilungen: Jahr unter 4 bis 8 bis 1 bis 3 3 bis 12 1 bis 4 Tagen 8 Tage 30 Tage Monate Monate 2 Jahre 1892 33,4 1902 30,6 1912 32,4

18,6 18,3 19,5

23,4 21,2 20,8

10,4 11,3 10,9

6,7 7,0 4,9

0,8 0,8 0,5

Beachtenswert ist, daß die kürzesten Gefängnisstrafen (unter 4 Tagen, 4-8 Tage) bei Verurteilungen wegen Diebstahls 1911 mehr als doppelt so häufig angewendet wurden als im Durchschnitt aller Delikte. 1911 wurden 26.547 Gefängnisstrafen unter 4 Tagen wegen Diebstahls verhängt. Das sind 58,4 % aller Gefängnisstrafen unter 4 Tagen (45.479). Die kürzeste Gefängnisstrafe erlangte vornehmlich beim Diebstahl Bedeutung.

98

3*

I.d.F. des Gesetzes v. 15.5.1871, RGBl. 127.

36

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

Dieses Ergebnis wurde auch nicht durch die Novelle vom 19. Juni 1912" korrigiert. In dieser Novelle wurde der Tatbestand des Notdiebstahls und der Notunterschlagung (§ 248 a RStGB) sowie des Notbetruges (§ 264 a RStGB) eingeführt. Ferner wurde in § 370 Nr. 5 RStGB (Mundraub) künftig der Diebstahl "anderer Gegenstände des hauswirtschaftlichen Gebrauchs" privilegiert. Die Strafdrohung betrug in allen drei Fällen Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Monaten. Der Grund dafür war, daß die Strenge der Vorschriften des RStGB betreffend den Diebstahl in der Praxis zu Unerträglichkeiten geführt hatte. Diebstähle von Sachen mit ganz geringem Wert, an deren Verfolgung auch der Verletzte oft kein Interesse hatte, wurden mit schweren Strafen belegt, loo Diese Veränderung hat indessen keinen Einfluß auf die Gesamtverurteilungen wegen §§ 242, 246, 263 RStGB gehabt, wie sich aus der folgenden Tabelle ergibt. 101 Danach betrugen 1913 die Verurteilungen wegen der neu geschaffenen Tatbestände im Verhältnis zu den jeweiligen Grunddelikten: §§ 242, 248 a §§ 246, 248 a §§ 264 a

2,3 %

0,6 % 3,6 %

Nur in 2,3 % aller Diebstähle erkannten die Gerichte den Notdiebstahl an. Das Bild änderte sich auch in den Folgejahren nicht. Die Novelle hatte allerdings dadurch Einfluß auf die Statistik, daß einzelne Fälle, die bisher unter § 242 fielen, nunmehr unter dem Gesichtspunkt einer Übertretung (§ 370 Nr. 5 RStGB) abgeurteilt und von der Statistik nicht mehr erfaßt wurden. !02

I I . Gefährliche Körperverletzung Der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung wurde eingeführt durch die Novelle vom 26. Februar 1876. 103 Seine Strafdrohung lautete Gefängnisstrafe nicht unter zwei Monaten; waren mildernde Umstände vorhanden, war auf Gefängnis bis zu drei Jahren oder Geldstrafe zu erkennen (§ 228 RStGB).

99

RGBl. 395. 100 Drucks, d. Reichstages 1907/09, Nr. 1262, S. 7679 f.

ιοί Reichskriminalstatistik 1913; v. d. Pfordten, 311 f. zitiert Zahlen fur Bayern. 102 Vgl. dazu v. Mayr S. 683 f. 103 RGBl. 25.

Zeitschrift fur Rechtspflege in Bayern 1914,

37

E. Ergebnis des 1. Teils

1. Straf art Die gefahrliche Körperverletzung ist ein Delikt, bei dem die Geldstrafe stärker als im Durchschnitt angewendet wurde, obwohl die Strafdrohung der gefährlichen Körperverletzung (Gefängnis nicht unter zwei Monaten) die Geldstrafe nur bei mildernden Umständen vorsah. Der Anteil der wegen gefährlicher Körperverletzung ergangenen Geldstrafen zu den insgesamt wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilten Angeklagten betrug im Jahr

1882 1892 1902 1912

15,7 31,4 49,6 66,0

% % % %

Diese Steigerung hatte maßgeblichen Einfluß auf das Gesamtverhältnis Geldstrafe zu Gefängnisstrafe. io4 2. Strafinaß Das Strafmaß ergibt sich aus folgender Tabelle. Danach betrug der prozentuale Anteil der einzelnen Strafmaße an allen Verurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB: Jahr

unter 4 Tagen

1892 1902 1912

4,2 2,5 1,4

4 bis 8 Tage 8,1 2,8 3,9

8 bis 1 bis 3 30 Tage Monate 20,3 14,7 9,7

16,8 12,2 9,0

3 bis 12 Monate 15,4 11,3 7,4

Geldstrafe 31,4 49,6 66,0

E. Ergebnis des 1. Teils In der Sanktionspraxis des Deutschen Reichs zu Beginn der statistischen Erhebungen (1882) dominierten die Gefängnisstrafen. In der hier betrachteten Deliktsgruppe der Verstöße gegen das RStGB betrug der Anteil der Gefängnisstrafen an allen Verurteilungen 70 %, der Anteil der Geldstrafen knapp 25 %. Die Verurteilungen zu Geldstrafe steigen im Laufe der folgenden Jahrzehnte bis 1913 auf 47,5 %, so daß sich Gefangnisund Geldstrafe in Zahlen gleichwertig gegenüberstehen.

104 s. ο. Β. Π. 1.

1. Teil: Strafsanktionspraxis von 1882 bis 1913

38

Diese Veränderungen sind ohne gesetzgeberische Maßnahmen erfolgt. Sie sind im wesentlichen auf die Milde der Gerichte zurückzufuhren, die mildernde Umstände weit häufiger annahmen und sich bei der Zumessung des Strafmaßes an der untersten Grenze der gesetzlichen Strafdrohung bewegten. Das Strafmaß wurde beherrscht durch kurze Gefängnisstrafen bis zu 30 Tagen Dauer. Diese kurzen Gefängnisstrafen waren es, die im Laufe der Jahre von der Geldstrafe abgelöst wurden. Die strafrechtliche Reformbewegung, angeführt von Franz von Liszt, war ausschlaggebend für diese Tendenz in der Sanktionspraxis. Auch wenn die Kritik v. Liszts in dem hier behandelten Zeitabschnitt keinen durchschlagenden Erfolg im Hinblick auf die Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe durch den Gesetzgeber hatte, so hatte die Kritik doch bei der Eindämmung der durch die Gerichte verhängten Gefängnisstrafen insgesamt Erfolg. Sie hat dazu beigetragen, vor dem Eingreifen des Gesetzgebers der Geldstrafe einen Teil der Aufgabe zu übertragen, für die nach der früheren Praxis nur die Freiheitsstrafe in Betracht gekommen wäre. ios

105

Exner, Strafzumessungpraxis, S. 26.

ZWEITER

TEIL

Strafsanktionspraxis von 1919 bis 1932 Die Entwicklung der Strafsanktionspraxis im Berichtszeitraum 1919 bis 1932 war geprägt durch die wirtschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands in der Epoche der Weimarer Republik. Diese ist durch drei Abschnitte gekennzeichnet: Von 1919 bis 1924 durch die Demobilisierung sowie durch die Inflation; daran anschließend sich in den Jahren 1924 bis 1928 einer Phase relativer Stabilität und bescheidenen Wohlstandes; schließlich der Zusammenbruch, ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise. Er war bedeutsam wegen der hohen Arbeitslosigkeit (1929: 2 Mio.; 1931: 4,4 Mio.; 1932: 5,6 Mio.)i und den daraus resultierenden sozialen Spannungen und der politischen Polarisierung. Auf dem Gebiet der Strafrechtspolitik hatten vor allem die sogenannten Geldstrafengesetze 2 sowie das Jugendgerichtsgesetz3 Einfluß auf die Entwicklung der Kriminalsanktionen.

A. Statistische Grundlage Die folgenden Untersuchungen basieren auf den vom Reichsjustizministerium bearbeiteten Kriminalstatistiken, die vom Statistischen Reichsamt in der Statistik des Deutschen Reichs herausgegeben wurden. Die Zahl der Verurteilten der jeweiligen Jahre ist - soweit nicht anders vermerkt - diesen Unterlagen entnommen. Bei der Darstellung der Strafsanktionspraxis im Zeitraum 1919 bis 1932 sind die Verurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB zugrundegelegt. Verurteilungen wegen Verstößen gegen andere Reichsgesetze sind nicht be-

1 H. Schäfer , Wirtschaftsploetz, 1984, S. 275 ff. Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe v. 21.12.1921, RGBl. 1604; Geldstrafengesetz v. 27.4.1923, RGBl. I 254; Gesetz über die Vermögensstrafen und Bußen v. 13.10.1923, RGBl. I 943; Verordnung vom 6.2.1924, RGBl. 144. 2

3 Jugendgerichtsgesetz (JGG) v. 16.2.1923, RGBl. I 135.

40

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

bis 193

rücksichtigt, da die ihnen zugrundeliegenden Strafvorschriften in dem hier untersuchten Zeitabschnitt ständig zunahmen.« Im Jahre 1919 waren 376 Strafvorschriften Gegenstand der Statistik in der Kategorie "andere Reichsgesetze". Diese Zahl erhöhte sich stetig. Sie umfaßte im Jahre 1925 bereits 449 und im Jahre 1932 schließlich 522 Straftatbestände.5 Verurteilungen wegen Verstößen gegen "andere Reichsgesetze" hatten von 1919 bis 1932 durchschnittlich einen Anteil von 20,8 % an allen Verurteilungen. Während der Geltung des Polizeistundengesetzes* zwischen 1923 und 1930 stieg der Anteil der Verurteilungen in dieser Kategorie sogar auf knapp 30 %. Die Strafdrohung dieser Normen bestand entweder in der ausschließlich angedrohten Geldstrafe oder in der alternativ neben der Gefängnisstrafe angedrohten Geldstrafe. Von den fünfzehn Delikten, die innerhalb dieser Kategorie die höchsten Verurteiltenziffern aufwiesen, waren fünf (das entspricht einem Drittel) sogenannte "reine Geldstrafengesetze". Das Anwendungsgebiet der Geldstrafe wurde durch diese außerhalb des RStGB liegenden Normen erheblich erweitert. 7 Folgende, der Kriminalstatistik der jeweiligen Jahre entnommenen Zahlen mögen das belegen. Bei den Erwachsenen, die wegen Verstößen gegen alle Reichsgesetze verurteilt wurden, wurde auf Gefängnis bzw. Geldstrafe erkannt: Jahr 1920 1922 1924 1926 1928 1930 1932

Gefängnis 56,0 36,0 37,5 31,7 27,9 31,2 41,1

% % % % % % %

Geldstrafe 43,0 62,7 61,6 66,7 70,7 67,5 57,3

% % % % % % %

4 Außerdem wurden ab 1921 die Verurteilungen wegen Verstößen gegen Militärstrafgesetze statistisch erhoben, nachdem die separate Militärgerichtsbarkeit abgeschafft worden war (Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit v. 17.8.1920; RGBl. 1579). Der Anteil dieser Verurteilungen an den insgesamt erfolgten Verurteilungen beläuft sich allerdings auf nur 0,1% bis 0,6%, so daß diese Kategorie vernachlässigt werden kann. 5 Reichskriminalstatistik 1919, S. 5-12; Reichskriminalstatistik 1925, S. 41-50; Reichskriminalstatistik 1932, S. 35-56; eine umfangreiche Sammlung und Kommentierung der wichtigsten Bestimmungen findet sich bei Stenglein. 6 Art. I § 4 Abs. 2, 3 des Notgesetzes v. 24.2.1923, RGBl. I 147; aufgehoben durch § 33 Nr. 7 des Gaststättengesetzes v. 28.4.1930, RGBl. I 146.

ι E . Best, S. 22.

Β. Strafart

41

Bei den Erwachsenen, die wegen Verletzungen von Vorschriften des RStGB verurteilt wurden, wurde auf Gefängnis bzw. Geldstrafe erkannt: Gefängnis

Jahr 1920 1922 1924 1926 1928 1930 1932

62,6 40,6 45,9 44,7 39,1 39,9 48,0

Geldstrafe 36,1 58,1 52,5 56,3 59,1 59,1 50,7

% % % % % % %

% % % % % % %

Vergleicht man die Zahlen der ersten Tabelle mit jenen der zweiten, stellt man fest, daß die Zahl der auf Gefängnis lautenden Urteile der zweiten Tabelle im Durchschnitt der Jahre 1920 bis 1932 knapp 10 Prozentpunkte mehr an den insgesamt ergangenen Urteilen ausmacht. Für eine ausgewogene Darstellung des Verhältnisses Geldstrafe Gefängnisstrafe im Zeitraum 1919 bis 1932 sind nur die Verurteilungen zugrundezulegen, die aufgrund des RStGB ergingen. Denn zuverlässige Feststellungen über Veränderungen in den Strafsanktionen sind nur möglich, wenn die Straftatbestände, die ihrer Verhängung zugrundeliegen, weitgehend unverändert bleiben.

B. Strafart In der Zeit der Weimarer Republik dominieren zunächst die Freiheitsstrafen, vor allem die Gefängnisstrafe. Die Geldstrafe gewinnt ab 1924 durch die Geldstrafengesetze an Bedeutung.

I . Tatsächliche Verhältnisse Aus der nachfolgenden Tabelle ergibt sich das Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe der Jahre 1919 bis 1932. Von den insgesamt wegen Verstößen gegen das RStGB verurteilten Erwachsenen wurden im Jahr zu Gefängnis bzw. Geldstrafe verurteilt: Jahr

Insgesamt

1919 1920 1921 1922 1923

257.765 458.495 499.653 492.191 649.495

Gefängnis 161.530 287.371 315.498 200.022 249.987

(= (= (= (= (=

62,7 62,6 63,1 40,6 38,5

Geldstrafe %) %) %) %) %)

90.903 165.701 177.648 285.939 391.238

(= (= (= (= (=

35,3 36,1 35,6 58,1 60,2

%) %) %) %) %)

42

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

Jahr

Insgesamt

1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932

512.250 393.787 392.969 389.912 374.174 397.472 418.270 422.085 422.077

bis 193

Gefängnis 235.190 174.133 171.234 159.811 148.636 156.455 166.895 178.748 202.591

(= (= (= (= (= (= (= (= (=

45,9 '%) 44,2 1%) 43,6 1%) 41,0 1%) 39,7 1%) 39,4 1%) 39,9 1%) 42,3 '%) 48,0 '%)

Geldstrafe 269.089 212.347 215.427 224.761 221.037 236.938 247.259 239.218 213.887

(= (= (= (= (= (= (= (= (=

52,5 53,9 54,8 57,6 59,1 59,6 59,1 56,7 50,7

%) %) %) %) %) %) %) %) %)

Aus der Kriminalstatistik geht hervor, daß die Zahl der zu Gefängnisstrafe verurteilten Angeklagten zwischen 1921 und 1923 um etwa 25 Prozentpunkte zurückging. Die Zahl der zu Gefängnis Verurteilten stieg zwar im Jahr 1924 erneut um 7 Prozentpunkte und die Zahl der zu Geldstrafe Verurteilten nahm dementsprechend ab. Gegen Ende des Jahrzehnts pendelten sich jedoch die verhängten Gefängnisstrafen bei durchschnittlich 41,6 % ein. Der Rückgang seit 1921 betrug gut 20 Prozentpunkte. Erwähnenswert ist die Tatsache, daß die Zahl der verhängten Gefängnisstrafen von 1929 bis 1932 von 39,4 % auf 48 % steigt.

I I . Bewertung Die geschilderten tatsächlichen Verhältnisse lassen sich wie folgt erklären. 1. Geldstrafengesetze Auffällig ist zunächst die Veränderung im Zeitraum der Jahre 1921 bis 1923. Die Verurteilungen zu Geldstrafe nahmen um knapp 25 Prozentpunkte zu, während die Verurteilungen zu Gefängnis im gleichen Maße abnahmen. Ursächlich dafür könnte das Inkraftreten des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebietes der Geldstrafe (Geldstrafengesetz) gewesen sein.« Danach konnte bei Vergehen und Übertretungen, für die eine Geldstrafe nicht oder nur neben Freiheitsstrafe zulässig war, und bei denen eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten verwirkt war, dann auf Geldstrafe erkannt werden, wenn der Strafzweck durch die Geldstrafe erfüllt werden k o n n t e . 9

8 Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe v. 21.12.1921, RGBl. I 1604; Geldstrafengesetz v. 27.4.1923, RGBl. I 254; Gesetz über die Vermögensstrafen und Bußen v. 13.10.1923, RGBl. I 943; Verordnung v. 6.2.1924, RGBl. I 44; vgl. dazu ferner die Dissertationen von Erwig, Kleber und Mengele. 9 Vgl. § 3 des Gesetzes; später wurde diese Vorschrift durch das Geldstrafengesetz v. 27.4.1923, RGBl. I 254, als § 27 b in das RStGB aufgenommen.

43

Β. Strafart

Der Grund fur die Einfuhrung dieser Bestimmung war einerseits die Erkenntnis, daß eine Reform des RStGB nicht ohne Schwierigkeiten zu realisieren sein würde. Man wollte deswegen die die Geldstrafe betreffenden Reformgedanken, die sich um die Jahrhundertwende herauskristallisiert hatten, vorwegnehmen, soweit sie im Zusammenhang mit dem Problem der kurzen Freiheitsstrafe standen. 10 Das Geldstrafengesetz sollte ferner dazu fuhren, daß den wirtschaftlichen Verhältnissen mehr als bisher Rechnung getragen werden konnte.n Denn die Strafandrohungen erwiesen sich zum Teil als unzulänglich. Die Gerichte machten von der Freiheitsstrafe Gebrauch, um eine angemessene, spürbare Strafe zufinden. 12 Ob damit tatsächlich die "Wende der deutschen K r i m i n a l p o l i t i k " 13 eingeleitet wurde, muß einer kritischen Prüfung unterzogen werden, da aus den jährlichen Kriminalstatistiken nicht unmittelbar zu erkennen ist, wann die Gerichte von der neu eröffneten Möglichkeit des § 27 b RStGB Gebrauch gemacht haben. Um die Wirkung der Geldstrafengesetze beobachten zu können, erwies es sich daher als notwendig, neben den Erhebungen der Reichskriminalstatistik noch besondere Erhebungen zu veranstalten, u Gesammelt wurde das Material der Jahre 1922 bis 1931^, mit Ausnahme der Zeit vom 1. Oktober 1923 bis 31. März 1925.16 Danach kam § 27 b RStGB bei zu Geldstrafe verurteilten Erwachsenen folgendermaßen zur Anwendung: Jahr 1922 1925 1926 1927

Geldstrafe insgesamt 506.977 337.649 437.325 454.019

Anwendung von § 27 b RStGB 151.438 48.323 58.291 54.734

( = 29,9 (=14,1 (=13,3 (=12,1

%) %) %) %)

10 Hellwig, Geldstrafengesetz, S. 7; v. Hippel, ZStW 42 (1921), 669; Meyer, DStrZ 1919, 242; II. Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebietes der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe, Reichsanzeiger Nr. 171 vom 25.7.1921. 11 Hellwig, Geldstrafengesetz, S. 16 f. 12 Hellwig, Geldstrafengesetz, S. 8 f. 13

Heinz,

MschrKrim 64 (1981), 159; in diesem Sinne auch Zipf, S. 98.

1 4 Für Preußen vgl. allgemeine Verfügung des preußischen Justizministers v. 8.3.1922, JMB1. S. 69 zu II. 15 Für 1922 veröffentlicht in Drucks, d. Reichstages 1920/23, Nr. 6035; fur 1925 bis 1931 veröffentlicht in Reichskriminalstatistik 1930 S. 44-51; Zahlen fur Preußen in den Jahren 1922/23 bei K. Schäfer, JR 1925, 116. 16 Vgl. allgemeine Verfugung des preußischen Justizministers zur Entlastung der Gerichte v. 24.11.1923, JMB1. S. 728.

44

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

Jahr

Geldstrafe insgesamt

1928 1929 1930 1931

461.718 449.407 440.140 383.003

bis 193

Anwendung von § 27 b RStGB 51.434 52.303 52.905 50.154

(=11,1 (=11,6 (=12,0 (=13,1

%) %) %) %)

Bei der Interpretation dieser Zahlen ist zu bemerken, daß diese Sondererhebung - anders als die Kriminalstatistik - die Verurteilungen wegen Verbrechen oder Vergehen gegen alle Reichs- wie auch Landesgesetze erfaßt. Wenn die Zunahme der Zahl der Geldstrafen seit 1921 vornehmlich auf § 27 b beruht hätte, d. h. wenn die Gerichte statt kurzfristiger Gefängnisstrafe bis zu 3 Monaten nun von der Umwandlungsmöglichkeit mehr Gebrauch gemacht hätten, müßte die Zahl der Gefängnisstrafen bis zu 3 Monaten aus den Jahren vor 1921 der Summe entsprechen, die sich aus der Addition der gemäß § 27 b RStGB verhängten Geldstrafen und der Gefängnisstrafen bis zu 3 Monaten nach 1921 ergibt. Die letztgenannte Zahl ist jedoch erheblich höher. Für 1913 machen die Gefängnisstrafen bis zu 3 Monaten 35,4 % an allen Verurteilungen aus. Für 1923 liegt die Summe der nach § 27 b RStGB verhängten Geldstrafen und der Gefängnisstrafen bis zu 3 Monaten bei 78 % an allen Verurteilungen. Daraus folgt, daß der hohe Anteil von Geldstrafen nur zu einem Teil auf der Umwandlungsmöglichkeit beruhte. Der größere Teil der Geldstrafenverurteilungen erging unabhängig von der Vorschrift des § 27 b RStGB. Die insgesamt vermehrte Anwendung der Geldstrafe muß noch auf anderen Faktoren als § 27 b RStGB beruht haben. Pitschel legt die Zahlen der jährlichen Reichskriminalstatistik zugrunde und kommt zu der gleichen Bewertung. Er meint, die Praxis habe den Umweg über die kurzzeitige Gefängnisstrafe gewählt, um überhaupt mit Geldstrafe strafen zu können. Es sei weniger darauf angekommen, anstelle von Gefängnisstrafen Geldstrafen zu verhängen - wie es der gesetzgeberischen Intention entsprochen hätte -, als überhaupt Geldstrafe zu verhängen. § 27 b habe der Praxis einen weiteren Weg zu Anwendung der Geldstrafe geboten, i? 2. Inflation Die Inflation zu Beginn der Zwanziger Jahre war möglicherweise der Grund für den Rückgang der Geldstrafenverurteilungen im Jahre 1924.

17 Pitschel, S. 33.

Β. Strafart

45

Zu dem prozentualen Anstieg der Zahl der zu Gefängnis Verurteilten in den Jahren 1923-1924 meint Pitscheid der Höhepunkt der Geldstrafenpraxis sei 1923 erreicht gewesen und die Entwicklung seitdem wieder rückläufig. 18 Nach Auffassung Nestlers war der "maßgebliche Ubergang" von der Freiheitsstrafe zur Geldstrafe beendet. i* Exner meint demgegenüber, die hohe Zahl der Gesamtverurteilungen des Inflationsjahres 1923 habe zu einer Uberfüllung der Gefängnisse geführt, was die vermehrte Anwendung der Geldstrafe bedingt h a b e . 2 0 Durch den Rückgang der Gesamtkriminalität in den Folgejahren sei auch die Anwendung der Geldstrafe zurückgegangen.21 Folgende Erklärung für die Steigerung der Gefängnisstrafen scheint plausibler: Wegen der hohen Inflation des Jahres 1923 waren die Geldstrafenandrohungen weitgehend wirkungslos geworden. Rechtsmittel wurden mit dem Ziel eingelegt, die Rechtskraft des Urteils hinauszuschieben, so daß die Höhe der Strafe durch die zwischenzeitlich fortgeschrittene Inflation nicht mehr schuldangemessen war. Deswegen verhängten die Gerichte zunehmend Gefängnisstrafen, um die Fühlbarkeit der Strafdrohung zu g e w ä h r l e i s t e n . 2 2 Diese Entwicklung wirkt sich dann in der Statistik des Jahres 1924 aus. Die Verordnung vom 6. Februar 192423, i n der die Höhe der Geldstrafen der Inflation angepaßt wurde, wirkte sich erst 1925 in der Statistik aus. 3. Weltwirtschaftskrise Die Zunahme der Verurteilungen zu Geldstrafe kam 1929 zum Stillstand.24 Die bis 1930 zu beobachtende Tendenz im Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe zugunsten der letzteren war gegenläufig. Es wurden wieder mehr Gefängnisstrafen verhängt. Die Berücksichtigung der Tatsache, daß eine große Zahl der Verurteilten wegen ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage ihre Geldstrafen nicht bezahlen konnten, ließ viele Richter wieder zu Freiheitsstrafen greifen. Genaue statistische Nachweise sind für diese These allerdings nicht ersichtlich.

« Pitscheid S. 34. Nestler, S. 32. 20 Exner, Strafzumessungspraxis, S. 31. 21 Exner, Strafzumessungspraxis, S. 31. 22 Hellwig, Geldstrafengesetz, S. 23. 23 RGBl. I 44. 24 Exner, MschrKrimPsych 23 (1932), 749.

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

46

4. Veränderung

bis 193

der Strafauffassung

Aber nicht nur legislatorische Veränderungen und wirtschaftliche Einflüße waren für den Rückgang der Freiheitsstrafen verantwortlich. Man kann nicht nur einen Wechsel der Strafarten erkennen, sondern allgemein ein deutliches Abgleiten der Strafmaße nach unten beobachten. Fraeb meint, die Steigerung der Geldstrafe sei lediglich bei Delikten eingetreten, die ihrer Art nach keine erhebliche Bedeutung gehabt hätten, sondern vornehmlich private Streitigkeiten betroffen hätten. Er ist nicht der Auffassung, daß die Gerichte milder geworden seien, sondern daß die "kriminelle Reizbarkeit" bei diesen Delikten gestiegen sei.25 Klee meint die Wahrnehmung gemacht zu haben, daß die Gerichte trotz der Schwere der Straftat in zu hohem Maße von der Umwandlung Gebrauch machten, um die kurzzeitigen Freiheitsstrafen zu vermeiden.26 Die Verkürzung der Dauer der Freiheitsstrafen ist für Bumke eine jedem älteren Praktiker vertraute Erscheinung.27 Den Zug zur Milde führt Exner eher auf irrationale Einflüsse auf die Gerichte denn auf kriminalpolitische Erwägungen der Richter zurück.28 Eine weltanschaulich bedingte Veränderung in der Auffassung von Strafe und Verbrechen, die auch vor den Gerichtssälen nicht Halt mache, erkläre diese V e r ä n d e r u n g . 2 9 a) Wandel der Staatsauffassung Neben der strafrechtlichen Reformbewegung und den mit ihr verbundenen allgemeinen geistigen S t r ö m u n g e n ^ führte auch der Wandel von einer obrigkeitlichen zu einer republikanisch-demokratischen Staatsauffassung bei den Gerichten zu einem Wandel in der Strafauffassung. Denn die Strafauffassung folgt in gewissem Maße der Staatsauffassung. Bendix meint, sie sei "die andere Seite derselben Sache." 31 Letzten Endes geht es bei der Strafauffassung nicht nur um strafrechtliche Belange und kriminalpolitische Erwägungen sondern auch um Fragen der Weltanschauung und Staatsauffassung, z.B. nach den Grenzen des staatlichen Rechts zum Strafen sowie nach Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit.32 Merkel erkannte 1889, daß der jeweilige Geist des Strafrechts identisch sei mit dem Geist, in wel-

25 Fraeb, S. 462 f.; vgl. dazu ο. 1. Teil, Β II 2. 26 Klee, DStrZ 1922, 188. 27 Bumke, MschrKrimPsych 17 (1926), 359, 360. 28

Exner, Strafzumessungspraxis, S. 28 f. 29 Exner, Strafzumessungspraxis, S. 30, 27.

30 s. ο. 1. Teil, Β, II, 3, b). 31 Bendix, Irrationale Kräfte, S. 297. 32 Maurach/Zipf, § 6 Rn. 10.

Β. Strafart

47

chem die Gesellschaft den Kampf gegen die ihren Interessen und Überzeugungen widerstrebenden Individuen f ü h r e . 33 Entsprechend Merkels Erkenntnis dürfte die Strafauffassung mit dem Übergang zur Demokratie eine andere geworden sein. Denn die Geisteshaltung, in der Interessengegensätze in einer rechtsstaatlichen Demokratie gelöst werden, unterscheidet sich von der Geisteshaltung, die die gesellschaftlichen Konfliktlösungsmechanismen einer obrigkeitlichen Monarchie dominiert. Das zu jener Zeit geltende RStGB von 1871 lehnte sich an das preußische RStGB von 1851 an und spiegelte in seinen Strafmitteln und der Schwere seiner Sanktionen die rigorosen Überzeugungen der idealistischen Ethik w i d e r . 34 Es stand noch im Banne der Überschätzung des Wertes der Freiheitsstrafen. Dieser Glaube wurde indessen durch Überlegungen um die Jahrhundertwende erschüttert, die den Wert der Freiheitsstrafe, insbesondere der kurzen Freiheitsstrafe in Frage stellten. Soziale Lehren brachten den Glauben an deterministische Schuld und gerechte Vergeltung ins W a n k e n . 3 5 Mit dem Übergang von der monarchistischen Staatsform zum sozialen, demokratischen Rechtsstaat erfolgte ein Wandel, der auch das Selbstverständnis der Gerichte betraf, obwohl die Richterschaft die neue Staatsform nur zögerlich akzeptierte und ihr intellektuell ablehnend gegenüber stand.36 b) Psychologie der Urteilstätigkeit Die richterliche Tätigkeit ist - wie jedes menschliche Tun - nur möglich, wenn der Betreffende diese Tätigkeit bejaht.37 Um seinem Tun einen Sinn zu verleihen, muß der Strafrichter seine Tätigkeit unter den Generalnenner einer bestimmten, von ihm anerkannten Staatsgewalt einordnen.38 Die Rechtsprechung nimmt an der Kulturbewegung ihrer Zeit teil und ist auf ihrem Gebiet ein Ausdruck der von ihr verinnerlichten geistigen Z e i t s t r ö m u n g e n . 3 9 Diese Vorgänge sind jedoch keine logischen, rationalen Vorgänge. Auch die Einstellung zu den grundlegenden theoretischen Problemen der Rechtspflege entspringt einer ganz und gar untheoretischen, am Leben orientierten Betrachtungsweise.40 Die Weltanschauung des Richters wird von praktischen

33 Merkel, S. 25. 34 Exner, Strafzumessungspraxis, S. 27. 35 Vgl. ο. 1. Teil, Β, II. 3. 36

Zu den Gründen vgl. Kiibler, S. 106 ff.; zur Kritik des Republikanischen Richterbundes

daran; z.B. Kroner, Justiz 1926, 1; S. Rosenfeld, Justiz 1931, 475. 37 Bendix, Psychologie, S. 95. 38 Bendix, Psychologie, S. 105. 39 Bendix, Irrationale Kräfte, S. 285. 40 Alsberg, S.S.

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

48

bis 193

Erfahrungsergebnissen beherrscht und nicht von logischen Schlußfolgerungen einer abstrakten T h e o r i e . A u f den Richter dringen Lebensmächte ein, die es ihm unmöglich machen, nur im Sinne einer höheren Idee eine praktische Aufgabe zu verwirklichen.42 Alsberg schreibt treffend: "Ein Richter, der in seiner täglichen Erfahrung eine Bestätigung dafür zu finden glaubt, daß rein auf Vergeltungsgedanken abgestellte Strafen im Sinne der Abschreckung nicht nur eine praktische Wirkung haben sondern die Strafrechtspflege rechtfertigen, wird vor einer akademischen Lehre, die die Besserung des Täters in den Vordergrund stellt, allenfalls eine respektvolle Verbeugung machen, in der Praxis aber seine alten Grundsätze zur Anwendung bringen." 43

Der Richter sieht den Angeklagten nicht nur in der Isolierung, in der er dem Theoretiker erscheint, sondern im Zusammenhang mit dem verletzten Rechtsgut und mit dem Vergeltungsruf der Opfer. 44 Jeder Entscheidung liegt bewußt oder unbewußt eine bestimmte gefühlsbetonte Vorstellung von der für richtig gehaltenen Lebensordnung zugrunde.4* Wenn das verletzte Rechtsgut an Bedeutung für das Opfer verloren hat und damit auch an Wichtigkeit für den Richter, wirkt ein Wandel von der Praxis her auf den Richter ein. Gerade die Möglichkeit der Richter, in einem ihnen vorliegenden Fall die von ihnen für richtig gehaltene Lebensordnung durchzusetzen, läßt es ihnen ratsam erscheinen, den sich wandelnden Lebensauffassungen Rechnung zu tragen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese veränderten Lebensauffassungen wurden den Gerichten wegen der besonderen Psychlogie der Urteilstätigkeit zum Teil auch über das Medium der republikanischen, demokratischen Staatsform nahegebracht, die insbesondere von den Sozialdemokraten getragen und beeinflußt wurde. Die Sozialdemokraten waren es zudem, die aufgrund ihrer gemeinsamen theoretischen Fundierung mit der strafrechtlichen Reformbewegung deren Ideen besondere Aufmerksamkeit widmeten.4* Die Wandlung in der Praxis der Strafsanktionen in der Weimarer Republik erscheint dann als ein Glied in der Entwicklung der gesamten Kultur, der inneren Anschauungen und äußeren Lebensverhältnisse.4?

4

1 Alsberg, S. 5. 2 Alsberg, S. 8.

4

43

Alsberg, S. 6.

44

Alsberg, S. 8. 4 5 Bendix, Psychologie, S. 112. * Radbruch, MschrKrimPsych 5 (1909), 6. 4 ? Bumke, MschrKrimPsych 17 (1926), 362.

Β. Strafart

49

5. Bedingte Begnadigung Nach dem ersten Weltkrieg wurden in den meisten deutschen Ländern die Befugnisse zur Bewilligung der bedingten Begnadigung Erwachsener auf die Gerichte ü b e r t r a g e n . 48 An dem Charakter der bedingten Begnadigung als Gnadenakt änderte sich dadurch n i c h t s . Die für diese Untersuchung interessante Frage lautet: Ist die Praxis der Gerichte, zu Gefängnisstrafen Verurteilte bedingt zu begnadigen, restriktiver geworden? Durch die geringere Anwendung des Instituts der bedingten Begnadigung könnte das Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe verändert worden sein. a) Statistische Grundlage Die Zahlen der bedingten Begnadigung sind dem "Statistischen Jahrbuch für den Freistaat Preußen, 20. bis 27. Band 1924 bis 1931" entnommen. Die Statistik zeigt allerdings die Zahlen für die in Preußen verurteilten Täter nur für die Jahre 1925 bis 1928. Weitere Angaben sind nicht ersichtlich. Dazu kommt, daß die zitierten Zahlen der insgesamt erfolgten bedingten Begnadigungen solche Strafen betreffen, die wegen Verstößen gegen Reichs- und Landesgesetze erfolgt sind. Die Zahlen der erfolgten Verurteilungen sind der Kriminalstatistik entnommen und betreffen nur Verstöße gegen Reichsgesetze. b) Begnadigung Wenn man die Gesamtzahl der in Preußen verurteilten Täter ins Verhältnis zu den bedingten Begnadigungen von Gefängnisstrafen setzt, ergibt sich folgendes Bild: Jahr 1925 1926 1927 1928

insgesamt Verurteilte 242.042 231.545 227.944 219.560

insgesamt bed. Begnadigung 38.159 32.077 31.584 30.227

(= (= (= (=

15,8 13,9 13,9 13,8

%) %) %) %)

Man muß wegen der oben dargestellten statistischen Besonderheiten berücksichtigen, daß der Prozentsatz der bedingt begnadigten Freiheitsstrafen insgesamt geringer ist, weil die maßgeblichen Verurteiltenzahlen höher sind.

48 Für Preußen vgl. Erlaß der StaatsReg v. 2.8.1920 u. Allg. Vfg. d. JustMin. v. 19.10.1920, MinBl. S. 564; fur Bayern vgl. Bek. d. JustMin. v. 11.7.1919, JustMinBl. 239. 49 Zu der gesamten Entwicklung: v. Hippel, ZStW 42 (1922), 197. 4 Stapenhorst

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

50

bis 193

Die Tendenz ist leicht fallend. Es werden im Laufe des Jahrzehnts 4 Prozentpunkte weniger Strafen ausgesetzt. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß der Anteil der bedingt begnadigten Gefängnisstrafen an allen Verurteilungen im Durchschnitt 15 % beträgt. In diesem Umfang ist das Verhältnis Gefängnisstrafe - Geldstrafe zu korrigieren. c) Widerruf Die Widerrufsquote könnte ein Indiz dafür sein, in welchem Umfang das oben unter b) gefundene Ergebnis wiederum zu korrigieren ist. Um die Zahl der Widerrufe zu der Zahl der Begnadigungen ins Verhältnis setzen zu können, muß man die Durchschnittszahl der bedingten Begnadigungen zugrundelegen, die in den letzten drei Jahren vor dem Widerruf erfolgt sind. Denn die erfolgten Widerrufe beziehen sich meist auf die in den vorangegangenen Jahren bewilligten B e g n a d i g u n g e n . * ) Danach ergibt sich folgendes Bikini Jahre 1922/24 1923/25 1924/26 1925/27 1926/28

Begnadigungen

Jahr

74.271 64.440 48.721 37.750 34.696

1925 1926 1927 1928 1929

Widerrufe 13.483 10.776 8.864 7.619 8.257

(= (= (= (= (=

18,2 16,7 18,2 20,2 23,8

%) %) %) %) %)

Binnen fünf Jahren steigt die Zahl der Widerrufe um 5 Prozentpunkte. Noch deutlicher wird das Bild, wenn man nur die bedingten Begnadigungen und Widerrufe von Freiheitsstrafen von 1-4 Wochen b e t r a c h t e t : ^ Jahre 1922/24 1923/25 1924/26 1925/27 1926/28

» K. Schäfer, (1977), 303 ff.

Begnadigungen

Jahr

21.310 19.104 14.961 12.540 12.243

1925 1926 1927 1928 1929

Widerrufe 4.009 3.442 3.167 2.973 3.463

(= (= (= (= (=

18,8 18,0 21,2 23,7 28,3

%) %) %) %) %)

ZStW 52 (1932) 249; zur Kritik an dieser Methode s. Heinz, BewHi 24

51 Statistisches Jahrbuch fur den Freistaat Preußen; 20. bis 27. Band, Berlin 1924-1931. 52 Statistisches Jahrbuch fur den Freistaat Preußen; 20. bis 27. Band, Berlin 1924-1931.

Β. Strafart

51

Hier kann man bei den Widerrufen eine Steigerung von 10 Prozentpunkten feststellen. Schäfer fuhrt diese Steigerung auf die sich verschärfenden wirtschaftlichen Verhältnisse z u r ü c k . 5 3 Erstaunlich ist jedoch, daß ausgerechnet bei den kürzesten Freiheitsstrafen mehr widerrufen wurde, als im Durchschnitt. Hier wurde der Erfolg, der durch verstärkte Anwendung der Geldstrafe erzielt wurde, wieder aufgehoben. 6. Ersatzfreiheitsstrafe Die Zahl der Verurteilten, die die verhängte Geldstrafe nicht bezahlen konnten und an denen die -zumeist kurze- Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 29 RStGB54 vollstreckt werden mußte, ist allerdings der steigenden Zahl der Geldstrafen gegenüberzustellen und von ihr zu subtrahieren. Die folgende Zusammenstellung zeigt die Zahl derer, die im Deutschen Reich wegen Verstößen gegen Reichs- und Landesgesetze rechtskräftig zu Geldstrafen verurteilt wurden und an denen die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt wurde: 55 Jahr 1922 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931

insgesamt Geldstrafen 506.977 337.649 437.325 454.019 461.718 449.407 440.140 383.003

Ersatzfreihei tsstrafe 5.993 ( = 22.653 ( = 40.186 ( = 38.641 ( = 37.360 ( = 44.085 ( = 53.027 ( = 59.076 ( =

3,9 6,7 9,2 8,5 8,1 9,8 12,0 15,4

%) %) %) %) %) %) %) %)

Während 1922 lediglich 3,9 % der zu Geldstrafe Verurteilten eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen mußten56, betrug die Ziffer 1925 6,7 %, 1927 8,5 %, 1929 9,5 % und 1931 schließlich 15,4 %.57 Das heißt, jeder sechste zu Geldstrafe Verurteilte mußte 1931 seine Geldstrafe durch Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Setzt man die absoluten Zahlen derer, an denen die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt wurde, zu den Gesamtverurteilungen von 1931 ins Verhältnis, dann ist an 9,2 % der insgesamt Verurteilten die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt worden.

53 K. Schäfer, ZStW 52 (1932), 249. 54 I.d.F. des Geldstrafengesetzes v. 27.4.1923, RGBl. I 254. 55 Drucks, d. Reichstages 1922, Nr. 6035, S. 7336; Reichskriminalstatistik 1930 S.44 ff, 45, 56 Drucks, d. Reichstages 1922, Nr. 6035, S. 7336. 57 Reichskriminalstatistik 1930 S.44 ff, 45, 51. 4»

52

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

bis 193

7. Strafvollzug Von Erfolgen in der Beschränkung der Freiheitsstrafe durch die Geldstrafengesetze kann erst dann gesprochen werden, wenn diese Beschränkungen auch im Bereich des Strafvollzuges sichtbar werden. Es stellt sich die Frage, ob sich der Rückgang der Zahl der zu Gefängnis Verurteilten von 1922-1928 auch in der Zahl der inhaftierten Gefangenen niederschlägt. a) Statistische Grundlage Eine laufende jährliche Gefängnisstatistik, die das Gebiet des gesamten Deutschen Reichs umfaßt, wie es bei der Kriminalstatistik der Fall ist, liegt nicht vor. In den von den Ländern vereinbarten Strafvollzugsgrundsätzen war zwar eine alljährlich erscheinende Statistik v o r g e s e h e n . 5 8 Die Ausführung dieses Vorhabens beschränkte sich jedoch auf eine Anlage zum Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes vom 8. Februar 1929, in der eine auf statistischem Material der Länder basierende "Statistik des Gefangenenwesens im Deutschen Reich" dem Reichstag zur Beratung übersandt w u r d e . 5 9 Sie stellt die Statistik für das gesamte Deutsche Reich dar und betrifft Zahlen von 1927. Die deutschen Länder legten Statistiken über den Strafvollzug an. Da auf Preußen der größte Teil der existierenden Strafanstalten im Deutschen Reich (59,2 %; Bayern 12,2 %; Sachsen 6,9 %)«> entfiel, kann auf die preußischen Statistiken zurückgegriffen werden. Sie sind weitgehend repräsentativ für das Deutsche Reich. Seit Beendigung des in der preußischen Verwaltung der Gefängnisse bestehenden Dualismus zwischen Justiz- und Innenverwaltung im Jahre 19186i wurde für die Jahre 1923-1929 eine einheitliche Statistik unter dem Titel: "Statistik über die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen" veröffentlicht. 62 Diese wichtige Quelle hat weder bei den Verteidigern noch bei den Kritikern des in dieser Zeit praktizierten Strafvollzuges Interesse gefund e n . « Alle folgenden den Strafvollzug betreffenden Zahlen sind - soweit nicht anders vermerkt - aus dem jeweiligen Jahrgang dieser Statistik entnommen.

58 § 231 der Vereinbarungen der Landesregierungen über Grundsätze fur den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7.6.1923, RGBl. II 263 ff. 59 Drucks, d. Reichstages 1928; Nr. 814. 60 Drucks, d. Reichstages 1928; Nr. 814. 61 Erlaß vom 14.12.1917, PrGS 1918, 11; Graff, S. 215 f.; Aschrott, DJZ 1927, 1076. 62 Statistik über die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen; Berlin 1926 bis 1931. 63 Gumbel, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 64 (1930), S. 126.

Β. Strafart

53

b) Gesamtzahl der Inhaftierten Die Zahl deijenigen, die insgesamt im Laufe eines Jahres in den Anstalten einsaßen, sank von 473.351 (1923) auf 263.422 (1929)«, was einem Rückgang von etwa 45 % entspricht. In welchem Maße dafür die Besserung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse und/oder die Geldstrafengesetze verantwortlich waren, ist anhand der Statistiken nicht festzustellen. 65 Entsprechend der steigenden Verurteiltenzahl stieg auch die Zahl der Inhaftierten von 1929 bis 1932 um etwa 29 Prozentpunkte. Die folgende Tabelle Inhaftierten in P r e u ß e n : « 1924 1925 1926 1927 1928

zeigt

die

Zahl

der

wegen

Gefängnisstrafen

300.259 256.130 237.464 179.046 161.372

Die Zahl deijenigen, die Gefängnisstrafen abzusitzen hatten, sank in dem Zeitraum von 1924 bis 1928 um etwa 47 %. Als Ursache dafür muß man wohl in erster Linie die Geldstrafengesetze in Betracht ziehen. Denn immerhin betrug der Rückgang der Verurteilungen von Erwachsenen wegen Verstößen gegen das RStGB zwischen 1923 und 1929 nur 39 %. Das heißt, die Zahl der Inhaftierten nahm schneller ab als die Zahl der Verurteilten. Es wurden also weniger Täter zu Gefängnis verurteilt. 8. Untersuchungshaft Den bisher zitierten Quellen ist über die Untersuchungshaft wenig - fast nichts - zu entnehmen. In der Statistik über die Gefangenenanstalten ist lediglich die Gesamtzahl der Häftlinge enthalten, die in Untersuchungshaft saßen. Rund 30 % aller Gefängnisinsassen in Preußen waren Untersuchungshäftlinge. Das zeigt folgende Gegenüberstellung der insgesamt Inhaftierten zu der Zahl der Untersuchungshäftlinge:67 64

Statistik über die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen; Berlin 1926 bis

1931. 65

Die Bevölkerungsentwicklung wurde dabei nicht berücksichtigt; vgl. ο. 1. Teil, Β, II.

5. b). 66 Statistik über die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen; Berlin 1926 bis 1931; die Zahlen der Jahre 1930-1932 entstammen einer Veröffentlichung von Schmidt, DJ 1934, 1023 ff. 67

1931.

Statistik über die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen; Berlin 1926 bis

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

54

Jahr

insgesamt Inhaftierte

Untersuchungshäftlinge 135.169 116.259 103.256 82.303 79.600

460.682 394.899 362.975 281.156 257.835

1924 1925 1926 1927 1928

bis 193

Die Statistik enthält jedoch für die hier interessierende Frage des Verfahrensergebnisses keine Angaben. Nach den bei Gumbefa zitierten Zahlen betrug der Anteil der schuldlos in Untersuchungshaft Einsitzenden an allen in Untersuchungshaft Einsitzenden: 1925 - 12,5 % und 1929 - 10,5 % .69 Ob und inwieweit davon die Betreffenden nach Vollzug der Untersuchungshaft zu ambulanten Sanktionen verurteilt wurden, läßt sich aus den vorhandenen Quellen nicht ersehen.

C. Strafmaß Die für diese Untersuchung interessierende Ausgangsüberlegung lautet: Erfolgte der Zuwachs der Geldstrafen ausschließlich auf Kosten der kurzen Gefängnisstrafen? Um einen aussagekräftigen Vergleich zwischen der Zahl der verhängten Geldstrafen und der Höhe der Gefängnisstrafen zu führen, muß man diese Zahlen zu der Gesamtverurteiltenzahl ins Verhältnis setzen.

I. Tatsächliche Verhältnisse Von den insgesamt wegen Verstößen gegen das RStGB zu Gefängnisstrafe verurteilten Erwachsenen entfielen auf das entsprechende Strafmaß: Jahr 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 68

> 1 Jahr 5,8 5,3 4,4 4,4 4,0 4,0 3,5

% % % % % % %

1 Jahr - 3 Monate 15.8 16.9 15,6 15,8

% % % %

18,6 % 16,6 % 15,4 %

< 3 Monate 40,9 % 40,9 %

20,6 %

18,3 22,9 23.7 25.8

% % % %

Geldstrafe 36,1 % 35,6 % 58.1 %

60.2 %

52,5 % 53,9 % 56,3 %

Gumbel, Archiv fur Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 64 (1930), S. 128. 69 Gumbel, Justiz, 1929, 743.

. Strafa

Jahr 1927 1928 1929 1930 1931 1932

> 1 Jahr 3,0 2,8 2,6 2,6 2,8 3,3

% % % % % %

1 Jahr - 3 Monate 13,5 13,1 12,9 13,0 13,6 15,8

% % % % % %

55

< 3 Monate 24,5 23,9 23,8 24,3 26,0 28,9

% % % % % %

Geldstrafe 57,6 59,1 59,6 59,1 56,7 50,7

% % % % % %

Dem Zuwachs bei der Geldstrafe um 25 Prozentpunkte in den Jahren 1921 bis 1923 entspricht eine Abnahme von 23 Punkten bei den sog. "kurzen" Gefängnisstrafen (bis drei Monate Dauer) und jeweils eine Abnahme von 1 Prozentpunkt bei den mittleren (von drei Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis) und längeren (über einem Jahr Gefängnis) Gefängnisstrafen. Im Verlaufe des Jahrzehnts ist die Prozentzahl der kurzen Freiheitsstrafen an allen Verurteilungen leicht steigend (1923: 18,3 %; 1926: 25,8 %; 1929: 23,8 %; 1931: 26 %). Die Zahl der mittleren und der langen Gefängnisstrafen hingegen sinkt bis 1930 um durchschnittlich einen Prozentpunkt.

I I . Bewertung Der Zunahme der Geldstrafe entspricht fast ausschließlich eine Abnahme bei den kurzen Gefängnisstrafen, so daß man eine Wandlungsbewegung von der kurzen Gefängnisstrafe zur Geldstrafe feststellen kann. 1. Bedingte Begnadigung Die bedingte Begnadigung diente im wesentlichen dazu, die Vollstreckung der kriminalpolitisch unerwünschten kurzen Freiheitsstrafe in solchen Fällen zu vermeiden, in denen die Umwandlung einer verwirkten Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe nicht nach § 27 b RStGB in Betracht kam.™ Die bedingten Begnadigungen erfolgten in der Mehrzahl der Fälle bei Verurteilungen zu kurzen Gefängnisstrafen, wie die folgende Tabelle zeigt. Von den insgesamt in Preußen bedingt begnadigten Gefängnistrafen entfielen auf die Dauer von den entsprechenden Gefängnisstrafen

70 κ. Schäfer, ZStW 52 (1932), 236, 241;

56

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

Jahr

Begnadigung insgesamt

1923 1925 1927 1929

83.033 42.371 35.005 34.397

> 6 Mo. 6,6 6,6 4,9 4,4

% % % %

bis 193

3-6 Mo.

1-3 Mo.

17,2 15,7 12,8 12,7

28,9 30,6 27,2 26,1

% % % %

% % % %

1-4 Wo.

< 1 Wo

29,2 31,3 35,8 37,5

18,1 17,4 19,3 19,3

% % % %

% % % %

Wie sieht die Entwicklung aus, wenn man die Aussetzungen von Gefängnis unter drei Monaten betrachtet? Jahr 1925 1926 1927 1928 1929

Verurteilungen Gefängnis bis 3 Mo. 33.499 46.643 46.590 46.062 46.695

Begnadigungen 32.859 28.746 28.795 27.333 28.522

(= (= (= (= (=

98,1 61,6 61,8 59,3 57,4

%) %) %) %) %)

Hier ist bereits ein Rückgang von 40 Prozentpunkten zu verzeichnen. Als Zwischenergebnis kann man festhalten, daß die Zahl der bedingten Begnadigungen insbesondere bei den kurzen Freiheitsstrafen zurückgegangen ist. 2. Ersatzfreiheitsstrafe Ersatzfreiheitsstrafen sind wegen des Umrechnungsmodus zumeist kurze Freiheitsstrafen. Dadurch erhöht sich die Prozentzahl der kurzen Freiheitsstrafen von 1931 (26,0 %) um 9,2 Punkte auf 35,2 %. 3. Strafvollzug Ob sich die Strafmaße der Verurteilungen zu Gefängnisstrafe in der tatsächlichen Dauer der vollstreckten Gefängnisstrafe widerspiegeln, ist in diesem Teil der Untersuchung nicht mit der wünschenswerten Klarheit zu ermitteln, da die statistischen Unterlagen einen Schluß auf die durchschnittliche Haftdauer nur indirekt zulassen. Dennoch existieren veröffentlichte Zahlen über die Haftdauer. Danach saßen in Preußen im Jahr 1931 etwa ein: 71

71 Gentz, S. 89.

57

. Strafa

60.000

für die Dauer von 1-7 Tagen

20.000 6.000 10.000

fur die Dauer von 7-14 Tagen fur die Dauer von 14 Tagen bis 3 Wochen für die Dauer von 3 Wochen bis 1 Monat

Das sind rund 96.000 Gefangene (1/3 aller in Preußen 1931 Inhaftierten), deren Strafzeit nicht über einem Monat liegt. Diese Strafen wurden nicht nur ausgesprochen, sondern auch vollstreckt oder um mit v. Hentig zu sagen: " a b g e s t a n d e n " . 7 2 In dieselbe Richtung zielt eine Notiz von Sieverts:73 In den kleinen Gerichtsgefängnissen würden fast nur die kurzzeitigen Gefängnisstrafen vollstreckt. Nach dem Stande vom 1.7.1934 waren in Preußen 387 Gerichtsgefängnisse mit einer Belegungsfähigkeit bis zu 50 Köpfen in Betrieb. Eine interessante Beobachtung macht man ferner, wenn man die Zahlen der Tagesdurchschnittsbelegung der Gesamtbelegung g e g e n ü b e r s t e l l t : 7 4 Jahr 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929

Tagesdurchschnittsbelegung 70.035 66.366 54.253 46.030 36.692 32.211 30.155

Gesamtbelegung 473.351 460.682 394.899 362.975 281.156 257.835 263.422

Der Rückgang in der Tagesdurchschnittsbelegung bezifferte sich von 1923 bis 1929 insgesamt auf 57 %. Demgegenüber betrug der Rückgang in der Gesamtbelegung 45 %. Bei dieser Gegenüberstellung fallt auf, daß der Rückgang der Gesamtbelegung geringer ist, als der bei der durchschnittlichen Tagesdurchschnittsbelegung. Daraus läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß die Haftdauer gesunken ist.75 Denn j e geringer die Zahl der durchschnittlichen Tagesbelegung, desto mehr Gefangene haben die Anstalten im Laufe eines Jahres durchlaufen. Das heißt, die jeweilige Verweildauer ist gesunken. In den Jahren 1930 bis 1932 stiegen sowohl die durchschnittsbelegung als auch die Gesamtzahl der I n h a f t i e r t e n : 7 6

Tages-

72 v. Hentig, Die kurze Freiheitsstrafe, MschrKrimPsych 23 (1932), 749. 73 Sieverts, ZStW 49 (1929), 753, 756. 74 Statistik über die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen; Berlin 1926 bis 1931. 75 Schulzke, Der Strafvollzug 1930, 44. 76 Zahlen nach Schmidt, DJ 1934, 1023 ff.

58

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

Jahr

bis 193

Tagesdurchschnittsbelegung

1930 1931 1932

Gesamtzahl

30.141 32.525 37.982

280.118 317.294 368.967

Hier läßt sich nun die umgekehrte Feststellung machen, daß nämlich die Gesamtzahl prozentual mehr steigt (29 %) als die Zahl der Tagesdurchschnittsbelegung (21 %). Dies ist ein weiteres Indiz für die insgesamt sinkende Haftdauer. 4. Untersuchungshaft Durch die Anrechnung der vor der Strafhaft verbüßten Untersuchungshaft könnte sich die Dauer der tatsächlich zu verbüßenden Strafhaft verringert haben. Dadurch würde auch die Statistik beeinflußt werden, die die Strafmaße betrifft. Denn viele der Verurteilungen zu mittleren und längeren Freiheitsstrafen entsprächen durch die Anrechnung der Untersuchungshaft in der Strafvollstreckung eher der Vollstreckung von kurzen Freiheitsstrafen. Die folgende Tabelle zeigt, daß die Untersuchungshaft von kurzer Dauer überwiegt: 77 1925 bis 14 Tage 15-30 Tage 4-12 Wochen über 12 Wochen

3.951 3.425 5.570 1.700

(27,0 (23,4 (38,0 (11,6

1929 %) %) %) %)

3.456 2.576 4.708 1.297

(28,7 (21,4 (39,1 (10,8

%) %) %) %)

Weit mehr als ein Drittel der Untersuchungshäftlinge saßen zwischen 4 bis 12 Wochen ein. Wie sich aus der Tendenz ergibt, dürften davon mehr Häftlinge unter dem Mittel von 8 Wochen eingesessen haben; denn die Zahl der 24 Wochen Einsitzenden ist doppelt so hoch wie die der über 12 Wochen Einsitzenden. Die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft beträgt 46,5 Tage (1925) bzw. 47,6 Tage (1929).7* Als Zwischenergebnis kann man festhalten: Zwar läßt sich statistisch nicht zuverlässig nachweisen, um wieviel Prozent sich die Strafhaft durch vollzogene Untersuchungshaft verringerte. Man kann jedoch nach dem oben Ge-

77 7

Gumbel, Justiz 1929, 742. « Zur Berechnung vgl. Gumbel, Justiz 1929, 741, 744.

59

D. Deliktspezifische Untersuchung

sagten annehmen, daß 90 % der Untersuchungshäftlinge^ i m Durchschnitt fünf Wochen in Untersuchungshaft verbracht haben. Da 30 % aller Verurteilten in Untersuchungshaft waren, dürfte sich bei einem Drittel aller Verurteilten die Strafhaft um etwa einen Monat reduziert haben.

D. Deliktspezifische Untersuchung Fraglich ist, ob sich die oben festgestellte allgemeine Entwicklung auch bei den statistisch häufigsten Delikten wiederfindet. Die Darstellung der Strafarten und Strafmaße einzelner Delikte im Zeitraum von 1919 bis 1932 beschränkt sich auf die Tatbestände des Diebstahls und der gefährlichen Körperverletzung. Diese Delikte waren im Durchschnitt der Jahre 1919 bis 1932 am häufigsten Gegenstand von Verurteilungen. Von allen Verurteilungen wegen Verstößen gegen das RStGB wurden 1919 bis 1932 durchschnittlich: 23,8 % 6,6 %

der Täter wegen Diebstahls, der Täter wegen gefährlicher Körperverletzung

verurteilt.

I . Diebstahl Bei den Verurteilungen wegen Diebstahls lassen sich folgende Betrachtungen machen. 1. Straf art Von den insgesamt wegen Diebstahls Verurteilten wurden zu Gefängnis bzw. Geldstrafe verurteilt: Jahr 1921 1922 1924 1926 1928 1930 1932

Insgesamt 135.355 149.783 138.416 57.469 51.369 56.505 64.396

Gefängnis 134.927 67.253 61.089 28.763 22.416 24.671 30.541

99,7 44,9 44,1 50,0 43,3 43,7 41,9

Geldstrafe %) %) %) %) %) %) %)

83.132 77.735 28.803 29.030 31.902 33.912

(= (= (= (= (= (=

55,5 56,2 50,1 56,5 56,5 46,6

%) %) %) %) %) %)

79 Das ist die Zahl der U-Häftlinge, die verurteilt wurden, vgl. Gumbel, Justiz 1929, 743.

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

60

bis 193

Der Diebstahl wurde bis zum Jahre 1921 fast ausschließlich mit Gefängnis bestraft, da das Gesetz lediglich die Gefängnisstrafe vorsah. Ein deutlicher Einschnitt läßt sich 1922 bei den Verurteilungen wegen Diebstahls verzeichnen. Seit Inkrafttreten der Geldstrafengesetze war auch beim Diebstahl über § 27 b RStGB die Möglichkeit eröffnet, die Geldstrafe zu verhängen. Dementsprechend lauteten die Zahlen: 1924 wurden nur noch 44,1 % (1921: 99,7 %) aller Delinquenten mit Gefängnis bestraft. Hingegen wurden 56,2 % mit Geldstrafe bestraft. Die Gefängnisstrafe wurde bei Diebstahl sverurteilungen indessen immer etwas häufiger als im Durchschnitt verhängt. 2. Strafmaß Das Strafmaß der Gefängnisstafe betrug bei den Verurteilungen wegen Diebstahls: Jahr 1921 1922 1924 1926 1928 1930 1932

> 1 Jahr 1,6 1,3 1,2 0,8 0,5 0,4 0,4

% % % % % % %

1 Jahr - 3 Monate 11,1 10,1 10,7 10,6 7,2 6,6 6,3

% % % % % % %

< 3 Monate

Geldstrafe

87,1 33,5 32,3 39,1 35,9 36,6 40,7

55,5 56,2 50,1 56,5 56,5 46,6

% % % % % % %



% % % % % %

Beim Diebstahl verringerte sich die Prozentzahl der zu Freiheitsstrafen unter 3 Monaten Verurteilten von 1921 bis 1922 um 53,6 Prozentpunkte. Das entspricht etwa dem Prozentsatz der ab 1922 verhängten Geldstrafe. Der Austausch fand weitgehend zwischen den kurzen Gefängnisstrafen und der Geldstrafe statt. 1928 bis 1930 ist eine Wandlungsbewegung von den langen zu den kurzen Gefängnisstrafen festzustellen.

I I . Gefährliche Körperverletzung Bei den Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung ergibt sich folgendes: 1. Straf art Das Regelstrafmaß bei der gefährlichen Körperverletzung war zwar höher (Gefängnis nicht unter zwei Monaten), das Gesetz gab aber in § 228 RStGB die Möglichkeit, bei mildernden Umständen auf Geldstrafe zu erkennen. Von

61

D. Deliktspezifische Untersuchung

den Verurteilungen wegen gefahrlicher Körperverletzung entfielen auf Gefängnis- bzw. Geldstrafe: Jahr 1920 1921 1922 1924 1926 1928 1930 1932

Insgesamt 34.466 30.888 23.986 23.965 30.817 31.217 33.971 30.538

Geldstrafe

Gefängnis 3.877 5.224 4.792 7.946 10.524 10.454 11.418 13.966

(= (= (= (= (= (= (= (=

11,2 16,5 19,5 32,7 33,8 33,2 33,6 45,5

%) %) %) %) %) %) %) %)

30.788 25.911 19.440 16.239 20.513 20.939 22.536 16.696

(= (= (= (= (= (= (= (=

89,3 83,4 80,5 67,3 66,2 66,8 66,4 54,5

%) %) %) %) %) %) %) %)

Bei den Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung war ein Anstieg der verhängten Gefängnisstrafen von 16,9 % (1921) auf 33,8 % im Jahre 1926 festzustellen. Der Grund dafür könnte darin gelegen haben, daß die Strafvorschrift des § 223 a RStGB durch Art. I I I Nr.6 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte, vom 11. März 1921«) dem Privatklageverfahren nach § 374 RStPO unterstellt wurde.si Die Erweiterung der Privatklagedelikte hatte Einfluß auf die Statistik. Denn die leichteren Fälle der gefährlichen Körperverletzung, die bisher milder bestraft wurden, kamen seltener zur Anklage und zur V e r u r t e i l u n g . 8 2 Demgemäß stieg die Verurteilungsziffer von Gefängnisstrafen, da für schwerere Fälle eine Geldstrafe als nicht ausreichend erachtet wurde. Genaue statistische Nachweise fehlen in diesem Zusammenhang.83

2. Strafmaß Das Strafmaß der zu Gefängnis verurteilten Täter der gefahrlichen Körperverletzung betrug: Jahr 1920 1921 1922 1924 1926 1928

> 1 Jahr 0,5 0,8 1,3 1,8 1,2 0,9

% % % % % %

1 Jahr - 3 Monate 2,2 4,4 7,2 10,7 10,5 9,5

% % % % % %

80 RGBl. 231. 81 Seuffert, S. 35. 82 Exner, Strafzumessungspraxis, S. 24. 83 Vgl. v. Hentig, ZStW 48 (1928), 208.

< 3 Monate

Geldstrafe

8,5 12,1 11,5 20,7 22,5 23,0

89,3 83,9 81,0 67,8 66,6 67,1

% % % % % %

% % % % % %

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

62

Jahr 1930 1932

> 1 Jahr

0,8 % 1,3 %

1 Jahr - 3 Monate 9,2 %

12,8 %

bis 193

< 3 Monate 23,8 % 31,6 %

Geldstrafe 66,7 % 54,7 %

Das Strafmaß bei der Ahndung der gefahrlichen Körperverletzung verläuft gegenläufig zu der Entwicklung, die bereits für das Strafmaß insgesamt festgestellt wurde. Während bei den Verurteilungen insgesamt der Anteil der Gefängnisstrafen unter 3 Monaten ab 1922 um etwa 20 Prozentpunkte fällt, steigt der Anteil der Gefängnisstrafen unter 3 Monaten, die für gefährliche Körperverletzung verhängt wurden, an. Ähnliches gilt für die längerfristigen Gefängnisstrafen. Auch hier ist eine Zunahme zu beobachten, während in der allgemeinen Entwicklung längere Gefängnisstrafen eher rückläufig sind.

E. Ergebnis des 2. Teils Seit dem Jahre 1922 ist ein sehr starker Rückgang der Gefängnisstrafen zugunsten der Geldstrafen zu verzeichnen. Dieser Rückgang ist zum Teil durch das Inkrafttreten der Geldstrafengesetze bedingt und teilweise durch einen Wandel in der Strafauffassung bei den Gerichten. Die Geldstrafen treten dabei meistens an die Stelle von kurzen Freiheitsstrafen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß unterschiedliche statistische Erhebungsmethoden sowie die zunehmende Zahl der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen den Erfolg bei der Begrenzung der kurzen Freiheitsstrafe relativieren. Tatsächlich kürzere Haftzeiten, die sinkende Zahl der Aussetzungen und die steigende Zahl der Widerrufe der Aussetzungen besonders der kurzen Freiheitsstrafen sind geeignet, die Erfolge bei der reduzierten Verhängung der kurzen Freiheitsstrafen in Frage zu stellen.

DRITTER TEIL

Strafsanktionspraxis von 1933 bis 1943 Die weitreichenden Folgen fur die Sanktionspraxis der Gerichte zwischen 1933 und 1943, die durch die Änderungen der Strafgesetze und des Verständnisses der Strafe im Dritten Reich verursacht worden sind, rechtfertigen es, an dieser Stelle diese Änderungen deutlicher als in den vorherigen Kapiteln zu skizzieren. Die Entwicklung der Strafrechtsgesetzgebung war zwiespältigen Charakters. ι Sie begann mit Neuerungen, die eine Ergänzung der Erneuerungen der Weimarer Republik zu sein schienen. Die Neuerungen bedeuteten zum Teil eine Vorwegnahme von Einzelheiten, die noch mit der bisherigen Strafrechtsreformbewegung zusammenhingen.2 Die Zweispurigkeit der strafrechtlichen Unrechtsfolgen begann mit dem Inkrafttreten des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 19333. Es ermöglichte auf der Grundlage der bisherigen Entwürfe ein kriminalpolitisch zielbewußtes Vorgehen gegen den Zustandsverbrecher. 4 Der Dualismus des Sanktionssystems sollte den ethischen Sühnecharakter der Strafe stark herausstellen. 5 Zu einem erheblichen Teil aber ging die nationalsozialistische Gesetzgebung in betontem Gegensatz zu den bisherigen Rechtsanschauungen vor und gestaltete die Strafrechtspflege aus spezifisch nationalsozialistischen Machtinteressen heraus.« Die Strafrechtserneuerung in der Weimarer Zeit wurde als Zeichen der Schwäche gegenüber dem Verbrecher gewertet. Objektiv bedeutsame Neuerungen (Geldstrafengesetze, Jugendgerichtsgesetz, bedingter Straferlaß) wurden als "Verweichlichung" der Strafrechtspflege bezeichnet.7 Die Zunahme der Kriminalitätszahlen galt als der Beweis eines völlig versagenden Strafrechts. «

1 Eb. Schmidt , S. 430. 2 Peters , Umgestaltung, S. 166. 3 RGBl. 1995. 4 Eb. Schmidt , S. 431. *Eb. Schmidt , S. 431, 437. 6 Eb. Schmidt , S. 430. 7 Siehe nur Schwarz , DRiZ 1933, 193; Ginsberg , DRiZ 1933, 298, 299; vgl. ferner Ulken, S. 7 ff. m.w.N. 8 Peters , Umgestaltung, S. 162.

64

. Teil: Strafsanktionspraxis von 1

bis 19

Das nationalsozialistische Programm erschien als eine geschichtsverwurzelte, nationalbewußte, volkhafte, den sittlichen Ideen entsprechende Strafrechtskonzeption. Es hatte zum Ziel, liberales Gedankengut und den Schutz des Individuums bezweckende Rechtspositionen zurückzudrängen und die Volksgemeinschaft vor dem Verbrecher durch Abschreckung und Unschädlichmachung zu sichern.9 Verwirklichung der Generalprävention und Durchsetzung der Staatsautorität waren zentrale Maximen der Strafrechtslehre. 10 Dies geschah durch die Erweiterung der Strafbarkeit einerseits und durch die Auflockerung der gesetzlichen Straftatbestände andererseits. Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935n wurde das Analogieverbot aufgehoben. Gemäß § 2 RStGB wurde danach auch bestraft, "wer eine Tat begeht, ... die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient." 12

Das Einfügen normativer Einzelelemente in den gesetzlichen Tatbestand in Form von wertausfüllungsbedürftigen Begriffen sowie die Umformung der gesetzlichen Tatbestände zu Generalklauseln stellten für den Nationalsozialismus bewußt gewählte Machtinstrumente dar, um willkürlich auf das Recht einwirken zu können, ι3 Bemerkenswert ist weiter die große Härte des Sonderstrafrechts, das der Festigung und Erhaltung des Systems galt, die ideologischen Grundlagen durchsetzen und die Systemgegner vernichten sollte, n Während des Krieges wurden mehrere Verordnungen bedeutsam, die dem politischen und kriegswirtschaftlichen Schutz dienten. Für die Ahndung der entsprechenden Delikte waren ausschließlich die Sondergerichte zuständig. i6

9 Vgl. Lüken, S. 32 ff. und aus der zeitgenössischen Literatur D ahm/Schaffstein, S. 49 unten. 10 Dahm/Schaffstein, S. 49.

11 RGBl. I 839. 12 Einzelheiten bei Lüken, S. 68 ff. 13 Lüken, S. 63, 54 ff., 56 ff.; Eb. Schmidt, S. 434 ff. 14 Peters, Umgestaltung, S. 169. 15 Peters, Umgestaltung, S. 170. 16A. Wagner, S. 245 f.

S. 40 ff u.

Β. Strafart

65

Λ. Statistische Grundlage Ausführliche Ergebnisse liegen als Reichskriminalstatistik nur für die Jahre 1933 bis 1936 vor.i? Für 1937 und 1938 sind lediglich die Hauptergebnisse veröffentlicht, ι» Die Ergebnisse für 1939 und das erste Halbjahr des Jahres 1940 sind teilweise in der Zeitschrift "Wirtschaft und Statistik" veröffentlicht.^ Für die Zeit von 1941 bis einschließlich des ersten Halbjahres 1943 existieren unveröffentlichte Ergebnisse, die bei Blau20 und Angermund21 zitiert sind. Für die Zeit danach liegen keine statistischen Erhebungen vor. Bei einem Vergleich der Prozentzahlen von Gefängnisstrafen und Geldstrafen muß auch hier berücksichtigt werden, daß die Zahl der Straftatbestände, die in der Rubrik "andere Reichsgesetze" geführt werden, gestiegen ist. So stieg die Zahl der in dieser Rubrik geführten Delikte von 578 (1933) auf 735 (1936). 22 Dennoch wurden hier Verstöße gegen alle Reichsgesetze zur Grundlage der Erhebung gemacht. Diese Abweichung findet ihre Rechtfertigung darin, daß die benutzten Quellen nicht einheitlich diese erforderliche Differenzierung vornehmen. Ein Ausweichen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner war daher unerläßlich. Dies ist aber nicht weiter schädlich, da die Tendenz innerhalb des untersuchten Zeitabschnitts trotzdem sichtbar wird. Bei dem Vergleich mit anderen Zeitabschnitten ist jedoch Vorsicht geboten. Aus den selben Gründen sind die Zahlen der Verurteilungen von Jugendlichen nicht von der Betrachtung ausgenommen worden.

B. Strafart Im folgenden soll untersucht werden, ob die Rechtsprechung der Gerichte an der oben skizzierten Entwicklung teilnahm, ob insbesondere die Strafzumessung strenger wurde und sich spürbar auf das Verhältnis Geldstrafe - Gefängnisstrafe auswirkte.

17 Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 478, 507, 577. 18 Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 577. 19 Wirtschaft und Statistik 1940, S. 557, 476; 1941, S. 247. 20 Blau, ZStW 64 (1952), 31, 35. 21 Angermund, S. 208, Fn. 34. 22 Reichskriminalstatistik 1933, S. 91-113; 1936, S. 7-36; Ab 1934 wurden die Strafsachen gegen Wehrmachtsangehörige aus der Reichskriminalstatistik ausgenommen, da seit dem 1. Januar 1934 wieder eine besondere Militärgerichtsbarkeit bestand; Gesetz über die Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit v. 12. 3. 1933, RGBl. I 264. 5 Stapenhorst

. Teil: Strafsanktionspraxis von 19

66

bis 19

I . Tatsächliche Verhältnisse Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über den Anteil von Gefängnisstrafe und Geldstrafe an der Gesamtzahl der Verurteilungen. Von den insgesamt wegen Verstößen gegen Reichsgesetze verurteilten Angeklagten wurden im Jahr zu Gefängnis bzw. Geldstrafe verurteilt: Jahr

Insg.

1933 491.638 1934 381.606 431.426 1935 1936 385.400 444.036 1937 1938 335.665 1939 298.851 1940 266.223 320.766 1941 345.150 1942 177.332 1943 (1943 nur 1. Halbjahr)

Gefängnis 217.722 160.193 158.746 160.525 170.525 139.414 120.736 110.902 128.645 145.036 75.713

(= (= (= (= (= (= (= (= (= (= (=

44,3 42,0 36,8 41,7 38,4 41,5 40,4 41,7 40,1 42,0 42,7

Geldstrafe

%) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %)

257.295 210.157 255.731 209.042 253.062 181.491 163.907 139.594 152.686 142.186 62.323

= =

= = = = = = =

= =

52,3 55,1 59,3 54,2 57,0 54,1 54,8 52,1 47,6 41,2 35,1

%) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %)

Die Verhältniszahl der Gefängnisstrafen sinkt von 44,3 % (1933) in den ersten drei Jahren bis 1935 um etwa 6 Prozentpunkte auf 36,8 %. In dem selben Maße steigt der prozentuale Anteil der Geldstrafen von 52,3 % (1933) auf 59,3 % (1935). In den Jahren 1936 und 1938 ist ein Ansteigen der Gefängnisstrafen im Vergleich zu 1935 bzw. 1937 um 5 bzw. 3 Prozentpunkte und ein Sinken der Geldstrafen in demselben Umfang festzustellen. In den Kriegsjahren 1939 bis 1943 bleibt die Zahl der Gefängnisstrafen weitgehend konstant, während die Geldstrafe um etwa 17 Prozentpunkte zurückgeht.

I I . Bewertung Folgende Gesichtspunkte sind bei der Bewertung der zitierten Zahlen zu beachten.

Β. Strafart

67

1. Amnestien Bei der Bewertung der kriminalstatistischen Ergebnisse insbesondere der Geldstrafe muß berücksichtigt werden, daß die Zahlen für die Jahre 1934, 1936, 1938 und 1939 durch mehrere Straffreiheitsgesetze stark beeinflußt wurden. A u f die Zahlen des Jahres 1934 wirkte sich das Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 7. August 193423 aus, die sogenannte "Hitleramnestie". Die Statistik des Jahres 1936 wird beeinflußt durch das als " R h e i n l a n d a m n e s t i e " 2 4 bezeichnete Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 23. April 193625, die des Jahres 1938 durch das als "Großdeutschlandamnestie"26 bezeichnete Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 30. April 193827 und schließlich die des Jahres 1939 durch den Gnadenerlaß des Führers und Reichskanzlers für die Zivilbevölkerung vom 9. September 193928. Diese "Amnestieinflation" ist umso erstaunlicher, als die Kritik der Nationalsozialisten an der Amnestiegesetzgebung der Weimarer Republik2? hatte erwarten lassen, die Staatsfiihrung werde die Gewährung der Gnade weit sorgfältiger abwägen und von der Massenbegnadigung seltener Gebrauch machen^. Daß die Amnestien tatsächlich Auswirkungen auf die Zahl der Verurteilen zeigten, wird auch mehrfach festgestellt3i, wenngleich der Rückgang der Verurteiltenziffern auch mit anderen Gründen zu erklären versucht wird.32 Die konkreten Auswirkungen dieser Amnestien auf die Zahl der jeweils verhängten Strafarten sind statistisch jedoch nicht zuverlässig nachzuweisen. Denn es wurden keine Zählkarten für die Verfahren angelegt, die aufgrund der Amnestien eingestellt w u r d e n . 33 Daher findet sich in den Kriminal Statistiken der betreffenden Jahre kein Nachweis darüber, wieviele und welche Verurteilungen von den Amnestien betroffen waren.

23 RGBl. 1769. 24 Marxen, S. 12, Fn. 42. 25 RGBl. 1378. 26 Menscheil, S. 11. 27 RGBl. 1 433. 28 RGBl. I 1753. 29 Vgl. dazu Kuss, S. 83 ff. 30 Oppelt, S. 106; vgl. ferner zu den Ursachen der Amnestien in der NS-Zeit Höfig, S. 108 f. 31 Roesner, DJ 1936, 293; Amtliche Bekanntmachung DJ 1938, 800; Reichskriminalstatistik 1935 und 1936, S. 5; 1934, S. 14; 1933, S. 12, 13. 32 Reichskriminalstatistik 1933, S. 13; 1934, S. 15. 33 Vgl. die Ausführungsverordnung des Reichsjustizministers v. 4.5.1938, DJ 1938, 703.

. Teil: Strafsanktionspraxis von 19

68

bis 19

a) "Hitleramnestie" vom 7. August 1934 Als äußerer Anlaß für die "Hitleramnestie" diente die Vereinigung des Amtes des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers in der Person Hitlers. 34 Die nationalsozialistischen Machthaber bezweckten damit, die noch ungesicherte Macht zu festigen.35 Während die Amnestie vom 21. März 1933 dazu diente, die Kampfgefährten der Nationalsozialisten einseitig zu begünstigen36, handelte es sich bei der "Hitleramnestie" um die erste umfassende Amnestie des Dritten Reiches, in die Straftaten ohne politischen Einschlag einbezogen wurden.37 Ihre Bedeutung war groß, da sie einen großen Täterkreis umfaßte, nämlich mit Geldstrafen und/oder Gefängnisstrafen bis 3 Monaten Dauer vorbestrafte Täter.38 Nach einer amtlichen Bekanntmachung des Reichsjustizministeriums vom 18. Dezember 1934 (III a 26386) soll in rund 750.000 Fällen Straffreiheit durch den Erlaß von Strafen oder die Einstellung von Strafverfahren gewährt worden sein.39 Konkrete Ergebnisse der Amnestie liegen ersichtlich nur für Preußen vor. 4 « Danach sind in Preußen 414.407 Personen amnestiert worden, und zwar ist bei 238.832 Personen die Strafe erlassen und bei 175.575 Personen das anhängige Verfahren eingestellt w o r d e n . D i e Zahl der 1934 in Preußen verurteilten Angeklagten betrug 206.250.42 Diese Zahl wäre um 85 % höher, wenn man die Zahl derer addierte, deren Verfahren wegen der "Hitleramnestie" eingestellt wurden. Der Rückgang der Verurteiltenziffer seit 1933 beruht zum Großteil auf dieser Amnestie. Versuche, die Ursachen dafür als Ausdruck einer allgemeinen "Kriminalitätsbesserung" zu bewerten, die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten bewirkt worden sei43, müssen angesichts der eindeutigen Zahlennachweise zurückgewiesen werden.

34 Vgl. die Präambel des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit v. 7.8.1934, RGBl. I 769. 35 Marxen, S. 3. 36 Vgl. die Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit v. 21.3.1933, RGBl. I 134; Hüser, S. 157. 37 Hüser, S. 158. 38 Höfig, S. 47 f. 39 DJ 1935, 5. 40 Stolzenburg, DJ 1934, 1210. 41 Stolzenburg, DJ 1934, 1210. 42 Reichskriminalstatistik 1934, S. 216. 43 Reichskriminalstatistik 1934, S. 15.

Β. Strafart

69

b) "Rheinlandamnestie" vom 23. April 1936 Die beträchtliche Machtentfaltung Hitlers und der Wandel der Machtverhältnisse im Rheinland förderten den Erlaß der Rheinlandamnestie von 1936.44 Sie gewährte nach ihrem § 2 Nr. 1^5 Straffreiheit für Delikte, die mit Freiheitsstrafe bis zu einem Monat und/oder Geldstrafe bedroht waren. Ausweislich der Mitteilung des Reichsjustizministeriums wurde im Deutschen Reich bis zum 1. August 1936 240.340 Personen Straferlaß nach der "Rheinlandamnestie" gewährt.^ In 254.674 Fällen wurde das Strafverfahren eingestellt. 47 Diese Zahlen belegen den beachtlichen Umfang der Amnestie.48 Die Zahl der Verurteilungen im Deutschen Reich hätte ohne die Amnestie 640.074 (statt 385.400) betragen. Die Zahl der Geldstrafen wäre ohne die Amnestie erheblich höher. Denn die weit überwiegende Mehrzahl der eingestellten Verfahren muß Straftaten betroffen haben, deren Begehung Geldstrafe hätte erwarten lassen, da die Geldstrafenverurteilungen die Verurteilungen zu Freiheitsstrafe unter einem Monat weit überwogen. Die Sanktionspraxis zwischen 1935 und 1936 wurde nicht etwa strenger, wie es bei isolierter Betrachtung der Prozentzahlen der Geldstrafen den Anschein haben könnte, sondern die "Rheinlandamnestie" führte zu einer Verschiebung zugunsten der Freiheitsstrafen. c) "Großdeutschlandamnestie" vom 30. April 1938 Der formelle Anlaß für die "Großdeutschlandamnestie" war die "Wiedervereinigung" Österreichs mit dem deutschen Reich.49 Nach § 1 des Gesetzes wurden Strafen erlassen bzw. Verfahren eingestellt, wenn die Strafe auf Freiheitsstrafe bis zu einem Monat oder Geldstrafe lautete, bzw. wenn diese Strafen zu erwarten waren. Dies ist in 237.032 bzw. 275.278 Fällen geschehen.*) Vor allem der Rückgang der Geldstrafenverurteilungen im Jahr 1938 ist auf die "Großdeutschlandamnestie" zurückzuführen. Denn die Zahl der Geldstra-

44 Freister,

Jahrb. des Dt. Rechts 1937, 280;

45 RGBl. 1 378. 46 DJ 1936, 1441. 47 DJ 1936, 1441.

48 Anders Höfig, S. 57. 49 Vgl. Präambel des Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit v. 30.4.1938, RGBl. I 433. 50 Mitteilung des RJMin, DJ 1938, 1323.

. Teil: Strafsanktionspraxis von 19

70

bis 19

fenverurteilungen war noch 1937 höher als die Zahl der Gefängnisstrafen bis zu einem Monat. d) Gnadenerlaß vom 9. September 1939 Der Zweck des Gnadenerlasses vom 9. September 1939^ lag darin, die betroffenen Straftäter zur Eingliederung und zu erhöhter Leistung zu b e w e g e n . 5 2 Danach wurden Strafen erlassen bzw. Strafverfahren eingestellt, wenn eine Gefängnisstrafe von nicht mehr als drei Monaten und/oder Geldstrafe verhängt worden war oder wenn das zu erwarten war. Statistische Angaben sind dazu nicht vorhanden. Der Anwendungsbereich des Gnadenerlasses ist indessen weiter als der der vorangegangenen Amnestien. Daher ist die Vermutung begründet, daß der Gnadenerlaß vom 9. September 1939 ebenso starken Einfluß auf die Zahl der Verurteilten, insbesondere der zu Geldstrafe Verurteilten, gehabt haben dürfte.53 2. Sondergerichte Die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte könnte eine Erklärung für das Ansteigen der schweren Freiheitsstrafen und das Sinken der Geldstrafen in den Jahren 1939 bis 1943 bieten. Die Zuständigkeit der bereits am Ende der Weimarer Republik eingerichteten Sondergerichte 5*, die seit 1933 den nationalsozialistischen Machthabern zur raschen Aburteilung politischer Straftaten d i e n t e n 5 5 , wurde mit Beginn des Krieges durch verschiedene Gesetze und Verordnungen auch auf alle schweren, unpolitischen Straftaten e r w e i t e r t . 56 Die Anzahl der Sondergerichtsurteile wurde statistisch nur in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft öffentlich ausgewiesen, so daß ein genauer Nachweis für die folgenden Jahre nur schwer zu führen ist.57 Es besteht jedoch eine große Wahrscheinlichkeit, daß die Urteile der Sondergerichte besonders streng waren. Denn sie wurden zu dem Zweck gefällt, in Zeiten poli-

si RGBl. I 1753. 52 Best, Dt. Recht 1939, 1865. 53 So auch Blau, S. 42. 54 3. VO des RPräs zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen v. 6.10.1931, RGBl. I 537, 567. 55 V O der RReg zur Bildung von Sondergerichten v. 21.3.1933, RGBl. I 136; V O v. 6.5.1933, RGBl. 1 259. 56 Einzelheiten bei Glum,

S. 16 f., 22 f.; vgl. V O v. 5.2.1936, RGBl. I 97; V O v.

20.11.1938 RGBl. I 1632. 57 Gruchmann, S. 953, Fn 51 mit weiteren Nachweisen aus unveröffentlichten Quellen.

Β. Strafart

71

tischer Unruhe durch schnelle und nachdrückliche Ausübung der Strafgewalt "unruhige Geister" zu warnen oder zu beseitigen.« Verschärfte Strafen wurden sofort vollstreckt um Gefangengenommene abzuschrecken. In den seit 1942 vom Reichsjustizministerium zur Beeinflussung der Gerichte herausgegebenen Richterbriefen wurde der feldzugähnliche Charakter der Entscheidungen der Sondergerichte hervorgehoben.& Der Schwerpunkt strafrichterlicher Tätigkeit verlagerte sich im Verlauf der Zeit immer mehr auf die Sondergerichte. « Das Sondergericht Hamburg fällte beispielsweise im Verhältnis zum Landgericht Hamburg von 1936 bis 1939 nur 16 %, im Jahre 1943 dagegen rund 73 % aller ergangenen Urteile.6i Die Sondergerichte waren damit zu den Standardgerichten der deutschen Strafrechtspflege geworden.« Dabei vermehrte sich die Zahl der Sondergerichte beachtlich. Zunächst entstand in jedem Oberlandesgerichtsbezirk nur ein Sondergericht.« Seit 1940 konnten innerhalb eines Bezirks auch mehrere Sondergerichte errichtet werden.« Ihre Zahl wuchs bis März 1940 auf 56 und bis Ende 1942 auf 74 an.65 Die Sondergerichte wurden auch als solche ständig vergrößert. Denn seit Beginn des Krieges traten durch neu erlassene Gesetze und durch die den Staatsanwaltschaften eingeräumte Ermessensfreiheit in der Anklageerhebung vor dem Sondergericht eine immer stärker werdende Belastung der Kammern ein. 6 6 So mußte z.B. beim Sondergericht Hamburg 1941 bereits eine vierte Kammer gebildet werden.7 Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die Verurteilungen durch die Sondergerichte starken Einfluß auf das Verhältnis Gefängnisstrafe zu Geldstrafe gehabt haben mußten. 3. Kriegskriminalität Ferner beeinflußt die direkte Kriegskriminalität das Verhältnis der Strafarten und ist der Grund für den Rückgang der Geldstrafe in den Jahren 1940 bis 1943. 68 Denn durch die in der Kriegsstrafgesetzgebung neu aufgestellten Tat-

58 Crohne, Deutsche Justiz 1933, 384. 59 Vgl. Schimmler, S. 13; Glum, S. 24. A. Wagner, S. 245. 61 Johe, S. 92. 62 Angermund, S. 205. 63 V O v. 21.3.1933, RGBl. I 136. 64 § 10 VO v. 21.2.1940, RGBl. 1405. 65 siehe die Nachweise bei A. Wagner, S. 245 FN 15. 66 Vgl. Johe, S. 95 ff. 67 Vgl. Becher DR, Ausgabe Β 1942, 122. 68 Außerdem sind Jugendarrest und Zuchthaus stark gestiegen.

72

. Teil: Strafsanktionspraxis von 19

bis 19

bestände hat sich die Möglichkeit, straffällig zu werden, erheblich erhöht.^ Wie hoch diese Möglichkeit tatsächlich war, ist nicht ausgewiesen. Unter Kriegskriminalität versteht man Vergehen und Verbrechen gegen Kriegsgesetze.7*) Folgende Vorschriften bildeten im zweiten Weltkrieg vorwiegend das Kriegsstrafrecht: -Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen?! -Kriegswirtschaftsverordnung 72 -Verordnung gegen Volksschädlinge73 -Verordnung über Gewaltverbrecher 74 -Verbrauchsregelungs-Strafverordnung75

Von sämtlichen Verbrechen und Vergehen gegen die Reichsgesetze machte die direkte Kriegskriminalität aus:7*

0,1 %

1939 1940 1941 1942 1943*

3,3 %

6,0 %

12,2 % 16,7 %

* 1. Halbjahr

Sie macht 1943 etwa ein Sechstel der Gesamtverurteilungen aus. Ihre Bedeutung darf nicht unterschätzt werden, da sie zumeist gerade diejenigen Straftaten umfaßt, die mit schweren und schwersten Strafen bedroht sind und auch geahndet wurden. 77 4. Strafverständnis Fraglich ist, inwieweit das veränderte Selbstverständnis staatlichen Strafens Einfluß auf die Sanktionspraxis hatte. Das Strafgesetzbuch von 1871 war auf dem Gedanken der gerechten Vergeltung aufgebaut. 7« M i t dem Emporkommen des Nationalsozialismus nahmen Bestrebungen zu, die hergebrachten Straftheorien zu verändern und neu auszurichten. 79 Die nationalsozialistische 69 Wirtschaft und Statistik 1940, 557. ™Blau, S. 57. 7 1 VO v. 1.9.1939, RGBl. I 1683. 72

V O V. 4.9.1939, RGBl. I 1609.

7

3 V O V. 5.9.1939, RGBl. I 1679. 74 VO v. 5.12.1939, RGBl. I 2378. 75 VO v. 26.11.1941, RGBl. 142. ™ Blau, S. 58. 77

Blau, S. 58.

78

Exner, Sinnwandel, S. 27. Vgl. ausfuhrlich bei büken, S. 136 ff.

79

Β. Strafart

73

Weltanschauung stellte das Volk, die Volksgemeinschaft, an die Spitze der Werte.so So wurde der Schutz des Volkes der Hauptzweck der Strafeci Die Rechtsprechung schloß sich diesen Veränderungen an.82 Zwar war nur eine Minderheit der deutschen Richter aus Überzeugung bereit, rückhaltlos danach zu verfahren und die Mehrheit der Richter hielt sich an den Gesetzestext, auch dort, wo er im Sinne des Nationalsozialismus umgestaltet wurde. 83 Die Einstellung der in der NS-Zeit tätigen Richter muß jedoch mitursächlich für die strengen Strafen gewesen sein, denn die neuen Straftatbestände hatten einen weiten Strafrahmen und hätten auch milde Strafen erlaubt. Die Einstellung der in der NS-Zeit tätigen Strafrichter muß mit den typisch juristischen Gegebenheiten und den typischen Verhaltensweisen des Juristen in Verbindung gesetzt werden, um dieses "sich abfinden" erklären zu können. g4 Die Auflockerung der Tatbestände durch Generalklauseln, die Verwendung normativer Tatbestandsmerkmale und die Aufhebung des Analogieverbotes waren juristische Methoden, die eine Einflußnahme ermöglichten. Wertausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale wie "geeignet die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu gefährden" 85 oder Generalklauseln wie "das gesunde Volksempfinden" 86 gaben einen fast unbegrenzten Anwendungsspielraum. Die während des Dritten Reiches und namentlich während der Kriegszeit erlassenen Gesetze und Verordnungen 8? gaben den Richtern die Möglichkeit, sowohl neue Straftatbestände zu schaffen als auch den Strafrahmen nach Belieben zu erweitern. 88 Durch die Rückwirkung von Strafgesetzen hatte der nationalsozialistische Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, die Todesstrafe rückwirkend zu verhängen. 89 Im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde konnte ein Strafausspruch dem Reichsgericht zur Nachprüfung unterbreitet werden. 90 Das Reichsgericht konnte sich der Propagierung der "harten Anwendung des Strafrechts" nur schwer widersetzen und hat Einfluß auf die Rechtsprechung der Instanzge-

so Exner, Sinnwandel, S. 28. si Exner, Sinnwandel, S. 31 ff. S2 Z.B. RG, Urteil v. 13.4.1942, DStR 1942, 95, 96. 83

Weinkauff,

84

Peters, Umgestaltung, S. 165. § 2 der VO über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen v. 1.9.1939, RGBl. I 1683.

85

S. 170 ff.; Boberach, S. X I .

86

§ 4 der V O gegen Volksschädlinge v. 5.9.1939, RGBl. I 1679. s. o. I. 88 Blau, S. 38. 89

Absatz II des Reichsgesetzes gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22.6.1938, RGBl. 1651, in Kraft getreten am 1.1.1936; § 5 der VO gegen Gewaltverbrecher ν. 5.12.1939, RGBl. 12378. *> Art. V ZuständigkeitsVO v. 21.2.1940, RGBl. I 410.

. Teil: Strafsanktionspraxis von 19

74

bis 19

richte genommen.9i Die Bestimmungen über die Nichtigkeitsbeschwerde ermöglichten es also, die Verschärfung der Sanktionen d u r c h z u s e t z e n d Möglichen Widerständen des Reichsgerichts gegen die Auslegung älterer Gesetze im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie, die mit der rechtsstaatlichen Tradition hätten begründet werden können, beugte Artikel 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 193593 vor. Danach konnte das Reichsgericht von einer Entscheidung über eine Rechtsfrage abweichen, wenn diese Entscheidung vor dem Inkrafttreten des Gesetzes ergangen war. Es war der dezidierte Auftrag an die Rechtsprechung, bei der Auslegung der nationalsozialistischen Staatsräson Rechnung zu t r a g e n . 9 4 Damit wurden die formal-juristischen Voraussetzungen geschaffen, die es den Richtern ermöglichten, zwar im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber, aber dennoch streng nach dem Wortlaut des Gesetzes urteilen zu können. Der Richter, der solche Gesetze anzuwenden hatte, mußte über Widerstandskraft und Entschlossenheit verfügen, um von den gesetzlichen Instrumentarien verantwortungsvollen Gebrauch zu machen. Diese Unabhängigkeit hatten Richter zu jener Zeit nicht m e h r . 9 5 Staat und Partei setzten zudem alles daran, die Unabhängigkeit der Richter zu schwächen. Es entsprach dem Leitbild vom Richter, daß dieser nicht primär an das Gesetz, sondern an die nationalsozialistische Weltanschauung und ihre Verkündung durch den Führer gebunden war. 96 Dementsprechend suchten Staats- und Parteiorgane das Rechtswesen zu beeinflussen. Die Steuerung durch die politischen Machthaber setzte sich fort in der gezielten Personalpolitik, durch die unbequeme Richter vom Dienst entfernt wurden.

5. Bedingte Begnadigung, Strafvollzug Die bedingte Begnadigung wurde zwar durch den Reichsstatthalter ausgeübt97, die materiellen Voraussetzungen richteten sich aber zunächst nach wie vor nach Landesrecht. Nachdem alle Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übergegangen waren98, lag die Regelungskompetenz beim Reich. Diese wurde durch die Gnadenordnung von 1935 ausgeübt."

91 RG v. 3.12.1942, DR 1943, 396; RG v. 29.1.1943, DR 1943, 754; RG v. 4.2.1943, DR 1943, 483. 92 9

Rüping, GA 1984, 303. 3 RGBl. 1 839.

94

Eb. Schmidt, S. 435. Eb. Schmidt, S. 436. 96 Rüping, Grundriß, S. 96. 95

97

Reichsstatthaltergesetz v. 7.4.1933, RGBl. I 173.

C. Strafmaß

75

Statistische Nachweise über die bedingte Begnadigung existieren weder in den Ländern noch einheitlich für das deutsche Reich, obwohl eine Zählung gemäß § 41 der Gnadenordnung erfolgte. 100 Differenzierte Bewertungen, die den Strafvollzug mit einbeziehen, sind mangels statistischer Grundlage nicht möglich.

C. Strafmaß Wie verhielt es sich nun mit der Strafhöhe der Gefängnisstrafen?

1. Tatsächliche Verhältnisse Die folgende Tabelle gibt Aufschluß über das Strafmaß bei Verhängung der Gefängnisstrafe. Von sämtlichen Verurteilungen wurde in dem entsprechenden Jahr auf folgendes Strafmaß erkannt: Jahr

> 1 Jahr

1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 (1943 nur 1.

98

3,9 % 4,6 % 4,2 % 5,0 % 4,3 % 5,2 % 5,4 % 5,1 % 4,2 % 4,5 % 4,5 % Halbjahr)

1 Jahr - 3 Monate 14,9 % 14,8 % 13,0 % 17,0 % 14,4 % 13,1 % 17,0 % 18,1 % 21,8 % 19,8 % 21,4 %

< 3 Monate

Geldstrafe

25,4 22,6 19,5 19,7 19,3 19,2 18,0 18,4 22,9 17,4 16,3

52,3 55,1 59,3 54,2 57,0 54,1 54,8 52,1 47,6 41,2 35,1

% % % % % % % % % % %

% % % % % % % % % % %

Artikel 2 des Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches v. 30.1.1934, RGBl. I 75; Erstes Gesetz zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich v. 16.2.1934, RGBl. I 91. 99 Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts v. 1.2.1935, RGBl. I 74; Gnadenordnung des RJustMin v. 6.2.1935, DJ 1935, 203, 209; ausfuhrlich K. Schäfer, JW 1935, 900. 100 Graff, S. 215 ff., 220 f., 170.

76

. Teil: Strafsanktionspraxis von 19

bis 19

I I . Bewertung Es fallt zunächst auf, daß die Gefängnisstrafen unter drei Monaten von 1933 bis 1939 um 7 Prozentpunkte zurückgegangen sind. I m Jahre 1934 und 1935 ist der stärkste Rückgang zu verzeichnen. Er ist durch die "Hitleramnestie" bedingt. Durch die Amnestie wurde in Preußen 120.244 Personen Straffreiheit in Form der Einstellung des Verfahrens gemäß § 2 Absatz 2 des Gesetzes**» gewährt, die sonst eine Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder Geldstrafe zu erwarten gehabt h ä t t e n . 102 Die Summe der 1934 zu Geldstrafe und zu Gefängnisstrafe bis zu drei Monaten verurteilten Täter betrug in Preußen nach der Reichskriminalstatistik von 1934k» 155.288. Addiert man dazu die Zahl derer, die eine Geldstrafe und/oder Gefängnisstrafe bis zu drei Monaten zu erwarten gehabt hätten (120.244), ergibt dies eine Summe von 275.532. 1933 betrug die Vergleichszahl in Preußen lediglich 206.787. Die "Hitleramnestie" ist allerdings nicht deshalb erfolgt, um die kurzzeitige Gefängnisstrafe als kriminalpolitisch verfehlt abzuschaffen. Die Abnahme der kurzen Gefängnisstrafen hatte auch nicht etwa ihren Grund in der Einsicht, daß kurze Gefängnisstrafen kriminologisch nicht wirksam gewesen wären^, sondern in der erheblichen Verschärfung der Strafen, die während des Krieges zu beobachten war, sowie den zahlreichen Amnestien. Die mittleren und längeren Gefängnisstrafen stiegen um etwa 2,5 Prozentpunkte, wobei 1936 und 1938 starke Schübe erfolgten, welche ebenfalls durch Amnestien von 1936 und 1938 bedingt waren. Denn die Straffreiheit von Delikten mit Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten führt zu einem prozentualen Anstieg der mittleren und längeren Gefängnisstrafen. Zugleich stiegen die Zahlen der zu Zuchthaus und Jugendarresti 1 Jahr

1933 1934 1935 1936

0,7 1,3 1.3 1.4

1 Jahr - 3 Monate

< 3 Monate

8,8 %

% % % %

79

43,6 42,1 39,6 40,0

10.7 %

10.8 % 13,0 %

Geldstrafe

% % % %

44,7 46,0 48,4 45,8

% % % %

Die Gesamtverurteiltenzahl betrug: 1933 1934 1935 1936

64.661 50.075 50.468 46.786

Angermund berichtet über Quellen, denen zu entnehmen sei, daß sich die Strafrechtsprechung zusehends radikalisierte. i 1 Jahr

1933 1934 1935 1936

1,7 2,4 1,8 1,8

1 Jahr - 3 Monate

% % % %

13,4 13,0 11,8 15,5

< 3 Monate 31,4 27,3 24,9 24,9

% % % %

% % % %

Geldstrafe 53,7 57,8 62,1 58,4

% % % %

Die Gesamtverurteiltenzahl betrug: 1933 1934 1935 1936

22.209 13.652 18.869 15.824

I I I . Vergleich Welche Auswirkungen die Amnestien der Jahre 1934, 1936 und 1938 auf die Verurteilungen wegen §§ 242 bzw. 223 a hatten, läßt sich statistisch nicht nachweisen, da über das zitierte Zahlenmaterial hinaus keine differenzierten Nachweise existieren. Der Regelungsgegenstand der "Hitleramnestie" war aber unter anderem die Einstellung von Strafverfahren, die erwartungsgemäß zu einer Bestrafung bis zu drei Monaten oder Geldstrafe geführt hätten. Da die Statistik für die bis zu drei Monaten Gefängnis Bestraften jedoch genaue Zahlen liefert, erlaubt das Jahr 1934 ("Hitleramnestie") eine Aussage über die Auswirkungen dieser Amnestie. Die späteren Amnestien betreffen nur Gefängnisstrafen bis zu einem Monat. Im übrigen gibt es für die Jahre 1937 bis 1943 keine genauen Angaben hinsichtlich der Höhe der Gefängnisstrafen. Es besteht die begründete Vermutung, daß die "Hitleramnestie" bei Verfahren wegen § 223 a häufiger zu einer Einstellung geführt haben muß als bei § 242. Denn die Abnahme der Verurteilungen von 1933 bis 1934 zu Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten beträgt bei der gefährlichen Körperverletzung 4,1 und beim Diebstahl 1,5 Prozentpunkte. Jahr

242

223a

1933 1934

43,6 42,1

31,4 27,3

E. Ergebnis des 3. Teils

81

Das heißt, die Gerichte haben bei ihrer Entscheidung, ob eine Gefängnisstrafe bis zu drei Monaten zu erwarten und dementsprechend zu amnestieren sei, bei § 223 a den Tatbestand der Straffreiheitsgesetze häufiger angewendet. Verfehlungen nach § 223 a schienen eher einer Amnestie würdig als Verfehlungen nach § 242. Bei der Entscheidung hatte das Gericht jedoch das unterschiedliche Strafmaß der Delikte zu beachten.

E. Ergebnis des 3. Teils Die bisher festgestellte steigende Tendenz der Geldstrafenverurteilungen ist auch von 1933 bis 1939 zu erkennen. Das Ansteigen der Gefängnisstrafen in den Jahren 1936 und 1938 ist nicht etwa auf die von den NS-Machthabern propagierte Härte der Strafgerichte zurückzuführen, sondern hat seinen Grund in der großen Zahl der amnestierten Geldstrafenverurteilten. Dadurch stieg der relative Anteil der Gefängnisstrafen an den Gesamtverurteilungen. Der Anstieg der längeren Gefängnisstrafen auf Kosten der kürzeren ab 1939 war bedingt durch den wachsenden Geschäftsanfall der Sondergerichte, die aufgrund der Kriegsstrafgesetze drakonische Strafen verhängten. Die Manipulierung der gesetzlichen Straftatbestände sowie die gezielte Beeinflussung der Gerichte taten ein übriges, die Strafen zu verschärfen.

6 Stapenhorst

VIERTER

TEIL

Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989 Die Sanktionspraxis in der Bundesrepublik Deutschland in dem Zeitraum zwischen 1948 und 1989 ist maßgeblich beeinflußt durch die große Strafrechtsreform des Jahres 1969. Die Strafrechtsreformbewegung setzte nach dem 2. Weltkrieg bald wieder ein und in den fünfziger Jahren wurde die große Strafrechtsreform in Angriff genommen.1 Es wurden mehrere Gesetzesentwürfe gefertigt2 und ein A l ternati v-Entwurf von 14 Strafrechtsprofessoren vorgelegt3. Zunächst mußten jedoch drängende Probleme in Einzelbereichen durch Novellen geklärt werden. Diesem Ziel diente vor allem das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953.4 Es führte die Strafaussetzung zur Bewährung ein. Das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26. November 1964 gestaltete das Straßenverkehrsrecht neu.5 Zu einem ersten Teilerfolg kam die Reform durch das Inkrafttreten des Ersten Strafrechtsreformgesetzes vom 25. Juni 1969*, das die Einheitsfreiheitsstrafe einführte und die kurze Freiheitsstrafe einschränkte, und des Zweiten Strafrechtsreformgesetzes vom 4. Juli 1969?, das einen neuen Allgemeinen Teil schuf. Zu einem vorläufigen Abschluß der Reformarbeiten kam es ohne Gesamtreform des Besonderen Teils des StGB durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 19748, das das StGB an den neuen Allgemeinen Teil anpaßte. Der Besondere Teil des StGB wurde in den folgenden Jahren durch weitere zahlreiche Strafrechtsänderungsgesetze geändert. 9

1 Vgl. die umfangreichen Literaturhinweise bei LK-Jescheck, Einl. vor § 44 Rn. 58. 2 Vgl. Dreher ΓΤ röndle , Einl. Rn. 5; LK-Jeschek, Einl. Rn. 71 ff. 3

Alternativ-Entwurf eines StGB, vorgelegt von Baumann u.a.

4 BGBl. 1 735. 5 BGBl. I 921. 6 BGBl. 1 645. 7 BGBl. 1717. 8 BGBl. 1 469. 9

Nachweise bei Dreher/Tröndle,

Einl. Rn. 9.

Α. Statistische Grundlage

83

Α. Statistische Grundlage Die Darstellung der Sanktionspraxis in dem Zeitraum zwischen 1950 und 1989 basiert auf den vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Strafverfolgungsstatistiken. Aus diesen Quellen wurden zunächst die Zahlen der Verurteilten zur Grundlage der Beschreibung gemacht, die nach allgemeinem Strafrecht wegen Verstößen gegen das Strafgesetzbuch verurteilt wurden.

I . Andere Bundesgesetze Die Zahlen der wegen Verbrechen und Vergehen gegen andere Bundesgesetze Verurteilten sind nicht einbezogen worden. Denn die in dieser Rubrik erfaßten Delikte sind solche des Nebenstrafrechts, io Anders als die Delikte des Strafgesetzbuches sind die Tatbestände des Nebenstrafrechts nicht Gegenstand kontinuierlicher Erhebungen in dem hier zu beschreibenden Zeitabschnitt gewesen. Neben Erweiterungen der Rubrik "Straftaten nach anderen Bundesgesetzen" durch einzelne Novellen haben sie durch Art. 13 EGStGB vom 2. März 1974H eine beachtliche Einschränkung erfahren. Danach wurden alle Strafvorschriften, die nur Geldstrafe oder Freiheitsstrafe mit niedrigerem Höchstmaß als sechs Monate, allein oder nebeneinander, androhten, in Ordnungswidrigkeiten mit Bußgeldandrohung umgewandelt. Diese Entkriminalisierung des Nebenstrafrechts mit Bagatellcharakter führte ab 1975 zu einer Verschiebung innerhalb des zugrundezulegenden Zahlenmaterials. Ferner ist der Anteil der zu Geldstrafe Verurteilten in der Rubrik "Straftaten gegen andere Bundesgesetze" vergleichsweise viel höher, da die Strafdrohung der dort erhobenen Delikte in der Regel niedriger ist. Folgende Zahlen mögen diese Auffassung belegen. Von den wegen Straftaten aufgrund anderer Bundesgesetze Verurteilten wurden zu Gefängnis- bzw. Geldstrafe verurteilt: Jahr

Insgesamt

1955 1960 1965 1970 1976 1980 1985 1989

153.270 136.139 126.484 92.178 97.118 105.444 95.869 100.995

Gefängnis 9.405 = 8.321 = 10.725 = 3.573 = 8.444 = 14.589 = 14.807 = 16.702 =

6,1 6,1 8,5 3,9 8,7 13,8 15,4 16,5

Geldstrafe % % % % % % % %

143.395 127.672 115.146 88.602 88.671 90.851 80.489 83.814

= = = = = = = =

93,6 % 93,8 % 91,0% 96,1 % 91,2 % 86,2 % 84,0 % 83,0 %

1° Siehe die ausführlichen Straftatenverzeichnisse im Anhang der jeweiligen Strafverfolgungsstatistik. il BGBl. 1469.

6*

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

84

Die Verurteilungen zu Geldstrafe liegen bei über 90 %, während sie bei den Verurteilungen wegen Verstößen gegen das StGB um etwa 40 Prozentpunkte darunter liegen, was folgendes Zahlenmaterial belegt. Von den wegen Verstößen gegen das StGB Verurteilten wurden zu Gefängnis- bzw. Geldstrafe verurteilt: Jahr

Insgesamt

1955 1960 1965 1970 1976 1980 1985 1989

326.450 345.672 378.613 458.279 491.720 492.393 504.102 507.553

Gefängnis 128.699 135.308 158.676 82.437 88.357 89.498 96.485 87.988

= = = = = = = =

39,4 39,1 41,9 18,0 18,0 18,2 19,1 17,3

Geldstrafe % % % % % % % %

194.255 205.693 214.032 375.782 403.291 402.838 407.582 419.542

= = = = = = = =

59,5 59,5 56,5 82,0 82,0 81,3 80,9 82,7

Für eine ausgewogene Darstellung des Verhältnisses Geldstrafe - Freiheitsstrafe sind daher nur Verurteilungen zugrundezulegen, die aufgrund des StGB ergingen. Denn zuverlässige Feststellungen über Veränderungen der Strafsanktionspraxis sind nur möglich, wenn die Straftatbestände, auf denen diese Praxis basiert, weitgehend unverändert b l e i b e n . 12

I I . Straßenverkehrsdelikte Desweiteren sind die Straftaten im Straßenverkehr des StGB^ und des StVG bei der Beschreibung des Verhältnisses Geldstrafe - Freiheitsstrafe nicht berücksichtigt worden. Dieses Vorgehen erscheint aus folgenden Gründen geboten: Wegen des besonderen Charakters der zumeist fahrlässig begangenen Straßenverkehrsvergehen würde ein schiefes Bild des Verhältnisses Geldstrafe Freiheitsstrafe entstehen, u Denn der Anteil der zu Geldstrafe verurteilten Angeklagten liegt im Durchschnitt um 15 Prozentpunkte höher als bei sonstigen Verurteilungen wegen Verfehlungen gegen das StGB, wie ein Vergleich der folgenden Tabelle mit der vorigen zeigt. Von den wegen Straßenverkehrsdelikten Verurteilten wurden zu Gefängnis- bzw. Geldstrafe verurteilt: Jahr

Insgesamt

1955 1960

109.407 125.065

Gefängnis 19.468 = 17,8 % 26.993 = 21,6 %

Geldstrafe 89.711 = 82,0 % 96.637 = 77,3 %

12 S . O.2. Teil, A l l . 13 §§ 142, 315 b, 315 c, 316, 316 a StGB und 323 a StGB in Verbindung mit Verkehrsunfall. 14 Wirtschaft und Statistik 1979, S. 594.

85

Α. Statistische Grundlage

Jahr

Insgesamt

Ϊ965 1970 1976 1980 1985 1989

175.999 246.716 247.201 250.965 212.049 211.402

Gefängnis 63.428 = 22.790 = 21.718 = 24.793 = 21.725 = 19.309 =

36,0 9,2 8,8 9,9 10,2 9,1

Geldstrafe % % % % % %

111.519 223.921 225.478 226.168 190.322 192.089

= = = = = =

63,4 90,8 91,2 90,1 89,8 90,1

% % % % % %

Das Bild wird ferner beeinflußt durch die Veränderungen, die durch das 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26. November 196415 verursacht wurden. Denn in seiner Folge steigt der Anteil der Freiheitsstrafen an den Verurteilungen wegen Verstößen gegen das gesamte StGB an, obwohl der Regelungsgehalt des Gesetzes nur Verkehrsstraftaten betraf. Das 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs regelte die §§ 315 ff. StGB neu und ergänzte einzelne Tatbestandsmerkmale des neuen § 315 c S t G B . D e r Begriff der "Gemeingefahr" entfiel bei allen Bestimmungen. Seine restriktive Auslegung durch die Rechtsprechung 17 hatte vor 1964 dazu geführt, daß der Anwendungsbereich der Vorschriften begrenzt geblieben war. Diese Gesetzesänderung und die verstärkten Bemühungen der Verkehrsrechtspflege in den sechziger Jahren, eine Erhöhung der generalpräventiven Wirkung insbesondere bei Trunkenheitsdelikten zu e r z i e l e n 1 « , sind die Ursache für das Ansteigen der Freiheitsstrafenquote. Dementsprechend steigt der Anteil der Freiheitsstrafen bei den Verurteilungen wegen Verstößen gegen das gesamte StGB um 7,3 Punkte von 39,6 % (1964) auf 46,9 % (1967): Jahr

Insgesamt

1964 1965 1966 1967

375.880 378.613 408.150 424.579

Gefängnis 149.009 158.676 186.341 198.993

= = = =

39,6 41,9 45,7 46,9

Geldstrafe % % % %

220.938 214.032 218.128 221.852

= = = =

58,8 56,5 53,4 52,3

% % % %

Der Anstieg der Freiheitsstrafen bei den Verkehrsdelikten des StGB beträgt dagegen 19,9 Punkte von 26,9 % (1964) auf 46,8 % (1967):

15

BGBl. 1921.

Einzelheiten bei Nüse, JR 1965, 41. 17 BGH 16.1.1958, BGHSt 11, 199; OLG Hamm 13.3.1964, VRS 27 (1964), S. 278. 18

Vgl. Kaiser, Verkehrsdelinquenz, S. 394 ff. m.w.N.

86

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

Jahr

Insgesamt

1964 1965 1966 1967

154.581 175.999 209.450 218.800

Gefängnis 41.596 63.428 93.667 102.313

= = = =

26,9 36,0 44,7 46,8

Geldstrafe % % % %

111.571 111.519 115.563 116.329

= = = =

72,8 % 63,4% 55,2 % 53,2 %

Betrachtet man im Gegensatz dazu die Verfehlungen gegen Vorschriften des StGB mit Ausnahme derer, die Straßenverkehrsdelikte betreffen, stellt man einen Rückgang der Freiheitsstrafen um 1,5 Prozentpunkte von 48,5 % (1964) auf 47,0 % (1967) fest: Jahr

Insgesamt

1964 1965 1966 1967

221.299 202.614 198.700 205.779

Gefängnis 107.413 95.248 92.674 96.680

= = = =

48,5 47,0 46,6 47,0

Geldstrafe % % % %

109.412 102.513 102.565 105.523

= = = =

49,4 50,6 51,6 51,3

% % % %

Das heißt, der Anstieg der Freiheitsstrafenquote beschränkt sich auf die Straßenverkehrsdelikte. Dies rechtfertigt es, die Straßenverkehrsstrafgesetze von der grundsätzlichen Betrachtung auszuschließen. Es wird aber auf sie zurückzukommen sein, wenn Vergleiche sinnvoll erscheinen.

B. Strafart Die für diese Untersuchung interessierenden Strafen sind bis 1969 die Gefängnisstrafe gemäß § 16 StGB ι 9 und ab 1970 die einheitliche Freiheitsstrafe gemäß § 18 StGB2o bzw. § 38 StGB2i sowie die Geldstrafe nach § 27 StGB22 bzw. § 40 StGB23. Bei der Darstellung und anschließenden Bewertung des Verhältnisses Geldstrafe - Freiheitsstrafe werden die Einflüße verschiedener anderer strafrechtlicher Institute und Sanktionsmittel besondere Berücksichtigung finden.

19 I.d.F. des Gesetzes v. 4.8.1953, BGBl. I 735. 20 I.d.F. des 1. StrRG v. 25.6.1969, BGBl. I 645. 21 I.d.F. des 2. StrRG v. 4.7.1969, BGBl. I 717. 22 I.d.F. des Gesetzes v. 24.5.1968, BGBl. I 503. 23 I.d.F. des 2. StrRG v. 4.7.1969, BGBl. I 717.

87

Β. Strafart

I. Tatsächliche Verhältnisse Im folgenden ist das Zahlenwerk der nach allgemeinem Strafrecht erfolgten Verurteilungen dargestellt, die wegen Verstößen gegen das Strafgesetzbuch ausschließlich der Straßenverkehrsdelikte erfolgt sind. Auf die Sanktionspraxis vor 1955 wird nicht näher eingegangen. Es existieren zwar statistische Nachweise über die Sanktionspraxis der Jahre 1948 bis 1954.24 Aus diesem Material lassen sich jedoch die Straßenverkehrsdelikte nicht aussondern, was bei der hier gewählten Methode der Untersuchung zu falschen Schlüssen führen würde. Desweiteren ist die Praxis bis 1955 von zwei Straffreiheitsgesetzen beeinflußt. 25 1. Zeitraum von 1955 bis 1964 Zwischen 1955 und 1964 ist ein unregelmäßiges Sinken des Anteils der Gefängnisstrafe zugunsten der Geldstrafe zu verzeichnen. Der Anteil der Gefängnisstrafe an allen Verurteilungen sinkt von 50,3 % (1955) auf 48,5 % (1964). In etwa dem gleichen Ausmaß steigt der Anteil der Geldstrafe: Jahr

Insgesamt

1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964

217.043 222.343 226.221 225.057 226.507 220.607 221.211 226.328 220.796 221.299

Gefängnis 109.231 110.900 114.183 113.910 112.958 108.315 109.049 110.291 106.716 107.413

= = =

= =

= = = = =

50,3 49,9 50,5 50,6 49,9 49,1 49,3 48,7 48,3 48,5

Geldstrafe % % % % % % % % % %

104.544 108.001 108.351 107.407 108.151 109.056 107.952 111.613 109.709 109.412

= = = =

= = = = = =

48,2 48,6 47,9 47,7 47,7 49,4 48,8 49,3 49,7 49,4

2. Zeitraum von 1965 bis 1969 In der Folgezeit bis 1969 ist der Rückgang des Gefängnisstrafenanteils kontinuierlich von 47,0 % im Jahre 1965 auf 37,2 % im Jahre 1969 zurückgegangen; dem entspricht ein Ansteigen des Geldstrafenanteils: 24 Wirtschaft und Statistik 1950, 63, 316; Statistik der Bundesrepublik Deutschland Bd. 110, 129, 158. 25 Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit v. 31.12.1949, BGBl. 1949, 37; Gesetz über den Erlaß von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren v. 17.7.1954, BGBl. I 203; zu dem Regelungsinhalt der Gesetze vgl. Oppelt, S. 152 ff.; Brandstetter, Straffreiheitsgesetz, S. 9 ff.; Brandstetter, Straffreiheitsgesetz 1954, S. 1 ff.

88

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

Jahr

Insgesamt

1965 1966 1967 1968 1969

202.614 198.700 205.779 212.072 211.940

Gefängnis 95.248 92.674 96.680 96.378 78.750

= = = =

=

47,0 46,6 47,0 45,4 37,2

Geldstrafe % % % % %

102.513 102.565 105.523 112.275 130.495

= = = = =

50,6 51,6 51,3 52,9 61,6

% % % % %

3. Zeitraum von 1970 bis 1989 In den folgenden Jahrzehnten sinkt der Freiheitsstrafenanteil von Jahr Jahr kaum wahrnehmbar, im Endeffekt jedoch spürbar von 28,2 % (1970) ; 23,2 % (1989): Jahr

Insgesamt

1970 1971 1972 1973 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

211.563 213.407 218.497 221.283 244.519 247.792 251.967 241.984 241.428 253.725 279.419 295.716 294.118 292.053 292.741 291.103 298.435 296.151

Gefängnis 59.647 61.811 63.542 63.667 66.639 67.177 69.183 66.077 64.705 67.550 74.859 78.081 76.716 74.760 73.061 72.682 71.790 78.679

= = = = = = = = =

= = = = = = = = =

28,2 % 29,0 % 29,1 % 28,8 % 27,3 % 27,1 % 27,5 % 27,3 % 26,8 % 26,6 % 26,8 % 26,4 % 26,1 % 25,1 % 25,0 % 25,0 % 24,1 % 23,2 %

Geldstrafe 151.861 154.548 154.923 157.593 177.813 180.555 182.717 175.837 176.670 186.134 204.514 217.600 217.362 217.260 219.647 218.396 226.617 227.453

= = = = = = = = = = = = = = = = = =

71,8 71,0 70,9 71,2 72,7 72,9 72,5 72,7 73,2 73,4 73,2 73,6 73,9 74,4 75,0 75,0 75,9 76,8

% % % % % % % % % % % % % % % % % %

I I . Bewertungen Die dargestellten tatsächlichen Verhältnisse im Vergleich von Gefängnisoder Freiheitsstrafe und Geldstrafen lassen sich wie folgt interpretieren.

Β. Strafart

1. Ersatzgeldstrafe

89

nach § 27 b StGB a.F.

Der Anstieg des Geldstrafenanteils und der entsprechende Rückgang der verhängten Gefängnisstrafen zwischen 1955 und 1969 ist erfolgt, ohne daß in diesen Abschnitt fallende Gesetzesreformen darauf Einfluß gehabt hätten. Weder das 3. Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄndG) vom 4. August 195326, welches das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung einführte, noch das 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26. November 196427 hatten Einfluß auf die festgestellte Veränderung. Sie erfolgte allein durch die vermehrte Anwendung der Geldstrafe durch die Gerichte. Gemäß § 27 b StGB a.F. war in Fällen, in denen für Vergehen Freiheitsstrafe von weniger als drei Monaten verwirkt war und eine Geldstrafe nicht zulässig war, anstatt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe zu erkennen, wenn der Strafzweck durch die Geldstrafe erreicht werden konnte. Die Staatsanwaltschaften waren von den Justizverwaltungen angewiesen worden, in weitestem Umfange auf die Anwendung von § 27 b StGB a.F. hinzuwirkend In der Literatur wurde § 27 b StGB a.F. als Mittel zur Verminderung der resozialisierungsfeindlichen kurzen Freiheitsstrafen befürwortet.29 Die Gerichte müssen in größerem Umfang der Meinung gewesen sein, daß der Strafzweck durch eine Geldstrafe erreicht werden könnte. Die Strafverfolgungsstatistiken der Jahre 1955 bis 1969 geben dazu wertvolle Nachweise. Sie erwähnen die Zahl der Geldstrafen Verurteilungen, die aufgrund des § 27 b StGB a.F. ergangen sind. Der Anteil der Verurteilungen zu Geldstrafe, die aufgrund von § 27 b StGB a.F. erfolgten, an der Zahl der gesamten Geldstrafenverurteilungen stellt sich wie folgt dar: Jahr

Geldstrafe insgesamt

1955 1957 1959 1961 1963 1965 1967 1969

104.544 108.351 108.151 107.952 109.709 102.513 105.523 130.495

Anwendung von § 27 b 35.919 37.097 35.205 36.298 42.342 40.801 45.383 57.500

( = 34,4 ( = 34,2 ( = 32,6 ( = 33,6 ( = 38,6 ( = 39,8 ( = 43,0 ( = 44,1

%) %) %) %) %) %) %) %)

26 BGBl. 1 735. 27 BGBl. 1921. 28 Vgl. nur die Anweisung des Präsidenten des Zentraljustizamtes Schleswig-Holstein an die Generalstaatsanwälte, SchlHA 1947, S. 158. 29 Breithaupt, SJZ 1948, Sp. 372, 374.

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

90

Danach steigen die sogenannten "§ 27 b - Geldstrafen" von 34,4 % (1955) auf 44,1 % (1969). Einschränkend ist jedoch zu bemerken, daß der überwiegende Teil dieses Zuwachses bei Verurteilungen wegen Diebstahls erfolgte, dessen Tatbestand die Geldstrafe nicht vorsah. Nimmt man die Diebstahlsverurteilungen von der Betrachtung aus, ergibt sich folgendes Bild: Jahr 1955 1957 1959 1961 1963 1965 1967 1969

Geldstrafe insgesamt 84.771 87.181 89.097 86.916 83.086 75.273 74.068 86.085

Anwendung von § 27 b 16.146 15.927 16.151 15.507 15.852 13.849 14.667 17.177

(=19,0 (=18,2 (=18,1 (=17,8 (=19,1 (=18,4 (=19,8 (=20,0

%) %) %) %) %) %) %) %)

Danach bleiben die Verurteilungen aufgrund § 27 b StGB a.F. weitgehend konstant. Aufschlußreicher ist die Zahlenreihe, die den Anteil der sogenannten "§ 27 b - Geldstrafen" an den Strafen wiedergibt, die insgesamt nach § 27 b StGB a.F. umwandlungsfähig waren. Umwandlungsfähig sind alle verwirkten Freiheitsstrafen von weniger als drei Monaten. Statistisch erfaßbar sind diese Zahlen durch die Summe der ausgewiesenen "§27 b - Geldstrafen" und der Gefängnisstrafen bis drei Monate.^ Danach ergibt sich folgendes Bild: Jahr

nach § 27 b umwandlungsfähige Strafen

1955 1957 1959 1961 1963 1965 1967 1969

102.787 106.343 103.225 100.457 103.855 95.492 99.900 95.389

30

Anwendung von § 27 b 35.319 37.097 35.205 36.298 42.342 40.801 45.383 57.500

( = 34,9 ( = 34,9 ( = 34,1 ( = 36,1 (=40,8 (=42,7 (=45,4 ( = 60,3

%) %) %) %) %) %) %) %)

Ungenauigkeiten ergeben sich zum einen dadurch, daß die Statistik Gefängnisstrafen bis

einschließlich 3 Monate Dauer ausweist, fur § 27 b StGB a.F. jedoch nur Freiheitsstrafen von weniger als drei Monaten in Betracht kommen; zum anderen sind Haft (§ 18 StGB a.F.) und Einschließung (§ 17 StGB a.F.) nicht berücksichtigt.

91

Β. Strafart

Der Anteil der umgewandelten Geldstrafen steigt von 34,9 % (1955) auf 60,3 % (1969). Nimmt man auch hier die Verurteilungen wegen Diebstahls von der Betrachtung aus, zeigt sich, daß der Anstieg nicht so drastisch, aber doch spürbar ausfallt: Jahr

1955 1957 1959 1961 1963 1965 1967 1969

nach § 27 b umwandlungsfähige Strafen ohne Diebstahl

Anwendung von § 27 b

71.307 73.289 72.990 68.769 66.719 58.949 58.905 48.519

16.146 15.927 16.151 15.507 15.852 13.849 14.667 17.177

(=22,6 (=21,7 (=22,1 (=22,5 ( = 23,8 ( = 23,5 (=24,9 (=35,4

%) %) %) %) %) %) %) %)

Die Veränderung beträgt hier immerhin 12,8 Prozentpunkte. Als Ergebnis ist festzuhalten: Die Zahlennachweise über die sogenannten § 27 b - Geldstrafen" lassen eine stärkere Hinwendung der Gerichte zur Verhängung von Geldstrafen erkennen. M

2. Erstes Strafrechtsreformgesetz Das Erste Strafrechtsreformgesetz (1. StrRG) vom 25. Juni 196931 löste die verschiedenen Formen freiheitsentziehender Strafen durch die einheitliche Freiheitsstrafe ab und enthielt Vorschriften, die die Verhängung von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten von besonderen Voraussetzungen abhängig machte. Durch diese gesetzgeberische Reform dürfte die Strafsanktionspraxis im Hinblick auf das Verhältnis von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe in erheblichem Maße beeinflußt worden sein. a) Regelungsgehalt Das 1. StrRG enthält im einzelnen folgende für diesen Teil der Untersuchung interessierende Regelungen: Das Gesetz regelte durch die Änderung des § 27 b StGB a.F. das Verhältnis von Freiheits- zu Geldstrafe neu. Freiheitsstrafen unter sechs Monaten durften

31 BGBl. 1645.

92

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

nur noch verhängt werden, wenn dies zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich war.& Während die Mehrzahl der Vorschriften des 1. StrRG am 1. April 1970 in Kraft getreten sind, galt § 27 b bereits ab dem 1. September 1969 in der geänderten Fassung. Inhaltlich entsprach er der vom 1. April 1970 an geltenden Regelung über den Vorrang der Geldstrafe vor der Verhängung der Freiheitsstrafe in §§ 14, 27 c StGB in der Fassung des Art. 1 StrRG. Heute findet sich diese Regelung in § 47 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. März 198733 wieder. b) Einfluß auf die Sanktionspraxis Daß das 1. StrRG überhaupt Einfluß auf das Verhältnis von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe hatte, kann keinem vernünftigen Zweifel unterliegen. Denn wenn der Gesetzgeber den Gerichten gebot, bestimmte Freiheitsstrafen nur noch bei Vorliegen enger Voraussetzungen zu verhängen, mußten die Gerichte - um überhaupt strafen zu können - bei gleichbleibender Kriminalität und Strafwürdigkeit für die Mehrzahl der Fälle nun auf die andere Strafart, nämlich die Geldstrafe ausweichen. Dabei ist zu bedenken, daß der Zuwachs der Geldstrafe von 1968 bis 1969 - also vor der Reform - auf einer Vorwegnahme der gesetzgeberischen Wertung beruht haben muß.34 Ferner ist die absolute Zahl der Geldstrafen stärker gestiegen als die Zahl der insgesamt Verurteilten, so daß die Zunahme der Geldstrafe eindeutig zu Lasten der Freiheitsstrafe erfolgte.35 In welchem Ausmaß dies geschah, läßt sich der Statistik nicht mit letzter Gewißheit entnehmen und hängt zudem von der Betrachtungsmethode ab. Die Bewertungen des 1. StrRG in der Literatur sind dementsprechend uneinheitlich. Während in der zeitgenössischen Literatur von einer "epochal anmutenden Zäsur"36 gesprochen wird und dabei auf vorläufige Ergebnisse einzelner Länderstatistiken die Verkehrsdelinquenz betreffend Bezug genommen w i r d 3 7 , wird in neueren Publikationen angemerkt, daß die verhängten Freiheitsstrafen nicht in dem erwarteten Umfang zurückgedrängt wurden38. Der Anstieg des Geldstrafenanteils wird vielfach auf etwa 20 Prozentpunkte von ca. 63 % (1968) auf ca. 83 % (1970) bezifferte

32 § 27 b StGB in der Fassung des Art. 106 des 1. StrRG v. 25.6.1969, BGBl. I 645, 680. 33 BGBl. 1945. 34 So zu Recht Kaiser, Strafzumessung, S. 108; Heinz, Mschrkrim 64 (1981), 159, der darauf hinweist, daß die dem ab 1.4.1970 geltenden § 14 innewohnende Regelung bereits ab 1.9.1969 als § 27 b galt und Eingang in die Statistik fand. 35 Kaiser, Kriminologie, § 115 Rn. 26. 36 Kaiser, Tendenzen, S. 29. 37 Kaiser, Tendenzen, S. 29, bezugnehmend auf Kaiser, Strafzumessung, S. 108. 38 Heinz, ZStW 94 (1982), 638. 39 Albrecht, Statistische Angaben, S. 169; Albrecht, Strafzumessung, S. 3; Eisenberg, Kriminologie, § 36 Rn. 4; Grebing, S. 40; Heinz, FS-Jescheck, S. 962; Heinz, MschrKrim 64 (1981),

Β. Strafart

93

Dieser Bewertung sind allerdings die Verurteilungen zugrunde gelegt, die nach allgemeinem Strafrecht wegen Verbrechen und Vergehen gegen alle Bundes- und Landesgesetze erfolgten. Auf den bestimmenden Einfluß, den die Verurteilungen wegen Straßenverkehrsdelikten daran hatten, wird dabei hingewiesen, ohne im einzelnen darzulegen, wie das Verhältnis der Geld- zur Freiheitsstrafe unter Ausschluß der Straßenverkehrsverurteilungen und sonstiger Bundes- und Landesgesetze konkret aussieht.40 Danach beträgt der Zuwachs der Geldstrafe zwischen 1968 und 1970 zwar ebenfalls knapp 20 Prozentpunkte. Allerdings klettert die Prozentzahl nicht auf 83 % sondern auf lediglich 71,8 %.4i Die Dominanz der Geldstrafen wird merklich relativiert. 3. Zweites Strafrechtsreformgesetz Das Zweite Strafrechtsreformgesetz (2. StrRG) vom 4. Juli 196942 sollte aus organisatorischen Gründen erst am 1. Oktober 1973 in Kraft treten.43 Dieser Aufschub zur Anpassung anderer Gesetze erwies sich als zu kurz. Das Inkrafttreten des Gesetzes wurde deswegen durch Gesetz vom 30. Juli 1973*4 auf den 1. Januar 1975 hinausgeschoben. Das 2. StrRG schuf einen neuen "Allgemeinen Teil". Hervorzuheben ist die hier besonders interessierende Anhebung der Mindestdauer der Freiheitsstrafe auf einen Monat (§38 Abs. 2 StGB). Ob diese Anhebung allerdings 1975 Einfluß auf das Verhältnis Geldstrafe Freiheitsstrafe insgesamt hatte, muß bezweifelt werden. Denn der Anstieg der Geldstrafe zwischen 1973 und 1976 beträgt lediglich 1,5 Prozentpunkte. Diese Steigerung auf das 2. StrRG zurückzuführen, erscheint gewagt.45 Zumal die Verurteilungen zu Freiheitsstrafen bis zu einem Monat zwischen 1970 und 1973 an allen Verurteilungen wegen Verstößen gegen das StGB - ausgenommen der Straßenverkehrsdelikte - nur wenig mehr als 1 % ausmachten.^

159; Heinz, BewHi 31 (1984), 17; Heinz, Implementationen, S. 225; Heinz, ZStW 94 (1982), 639; Terdenge, S. 64 und 68. 40

Albrecht, Statistische Angaben, S. 169; Albrecht, Strafzumessung, S. 3; Heinz, BewHi 31

(1984), 17; Heinz, Implementationen, S. 230. 41 s. o. Tabelle B.I.2. und 3. 42 BGBl. 1717. 43

Vgl. Art. 7 des 2. StrRG sowie die Einleitung zum Bericht des Sonderausschusses, BT-

Drucks. V/4094, S. 2. 44 BGBl. 1909. 45 Etwas anderes gilt möglicherweise für Veränderungen zwischen 1968 und 1970; vgl. dazu unten C I I 2 46 1970: 1,8 %; 1971: 1,2 %; 1972: 1,0 %; 1973: 0,9 %.

94

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

4. Einstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO Seit dem 1. Januar 1975 eröffnet § 153 a StPO? die rechtliche Möglichkeit, Strafverfahren nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen einzustellen. Wegen der mit ihr verbundenen Auflagen und Weisungen kommt dieser Einstellung'« aus Sicht des Angeklagten Sanktionscharakter zu.49 Denn namentlich die zu ca. 90 % verhängte Geldbuße*) nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 wird vom Angeklagten als ein Übel empfunden, das ihn wegen des Tatvorwurfs trifft, und ihm wegen eben dieser Wirkung von den Strafverfolgungsbehörden auferlegt wird.si Für die Zeit vor 1975 ist zu bemerken, daß die Einstellungen nach § 153 Abs. 2 und 3 StPO a.F. keine Sanktionen in dem oben beschriebenen Sinne bedeuten. Denn sie lassen sich nur schwer in Beziehung zu formellen Sanktionen der §§ 38, 40 StGB (Freiheitsstrafe, Geldstrafe) s e t z e n . " Entsprechendes Zahlenmaterial wäre deswegen unvergleichbar. Es läßt sich kaum argumentieren, daß in Fällen, in denen heute nach § 153 a StPO verfahren wird, vor der Einführung dieser Vorschrift eine Geldstrafe verhängt worden wäre und diese Fälle daher bei den Geldstrafen zu berücksichtigen seien. Denn mit der gleichen Wahrscheinlichkeit könnte der betreffende Angeklagte vom Tatvorwurf freigesprochen worden sein. Die Einstellungen nach § 153 a Abs. 2 StPO sind in Beziehung zur Gesamtzahl der Verurteilungen, insbesondere zu den Geldstrafen Verurteilungen, zu setzen53, um deren Einfluß auf das Verhältnis Freiheitsstrafe - Geldstrafe ermessen zu können. a) Verhältnis zu Gesamtverurteilungen Zunächst sind die Einstellungen nach § 153 a Abs. 2 StPO ins Verhältnis zu allen Verurteilungen zu setzen, um die Bedeutung dieser Maßnahme in der Strafrechtspflege erkennen zu können. Die Einstellungen nach § 153 a Abs. 2

47

Eingeführt durch Art. 21 Nr. 44 des Einfuhrungsgesetzes zum Strafgesetzbuch v. 2.3.1974, BGBl. 1 469. 48 Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft nach §§ 153 Abs. 1, 153 a Abs. 1 StPO werden im folgenden nicht untersucht, da nur die Einstellungen durch das Gericht in etwa vergleichbar mit den übrigen hier untersuchten gerichtlichen Strafsanktionen sind. 49 Löwe-Rosenberg/Rieß, § 153 a Rn. 8. 50 Rieß, ZRP 1983, 95, Fn. 29; Hertwig, S. 128 f.; Ahrens, S. 90. 51 Löwe-Rosenberg /Rieß, § 153 a Rn. 8. 52 Heinz, Implementationen, S. 224. 53 Rieß, ZRP 1985, 215.

95

Β. Strafart

StPO im Verhältnis zu sämtlichen Verurteilungen wegen Verstößen gegen Bundes- und Landesgesetze betragen in P r o z e n t : * * 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981

2,3 4,4 5,7 6,8 7,8 8,2 8,4

1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

8,3 8,3 8,6 -

8,5 8,7 8,6

Die "besondere Sanktion" des § 153 a Abs. 2 StPO machte 1988 8,6 % an den nach allgemeinem Strafrecht insgesamt erfolgten Verurteilungen aus. Das heißt, auf 12 Verurteilungen kommt eine Einstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO. b) Verhältnis zur Geldstrafe Desweiteren ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Einstellungen nach § 153 a Abs. 2 StPO die Verurteilungen ersetzt haben, wie es einer funktionsgemäßen Anwendung e n t s p r ä c h e ^ ; oder ob und inwieweit sie diese ergänzt haben. Geldbußen nach § 153 a Abs. 2 StPO müßten dann zu den bereits verhängten Geldstrafen statistisch addiert werden. Dazu sollen im folgenden die Verurteilungen der a m t s g e r i c h t l i c h e n 5 6 Strafverfahren näher betrachtet werden. 57 Von den amtsgerichtlichen Strafverfahren wurden erledigt durch Urteil bzw. Einstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO:

54 Die der Berechnung zugrundegelegten absoluten Zahlen sind entommen aus: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 10: Rechtspflege; Reihe 2: Zivilgerichte und Strafgerichte, 1981, 1986, 1987, 1988; Reihe 2.2.: Strafgerichte, 1982, 1983, 1984 sowie den entsprechenden Strafverfolgungsstatistiken. Zahlen fur 1985 waren nicht ersichtlich. 55 Dazu siehe Rieß, ZRP 1983, 96.

56 Ca. 92 % aller Einstellungen nach § 153 a Abs. 2 StPO erfolgen durch die Amtsgerichte, so daß die Werte beim Landgericht und Oberlandesgericht vernachlässigt werden können; vgl. Rieß, ZRP 1985, 213 Tabelle 1 b, 216 Fn. 21. 57 Die Bezugsgröße ist dabei gebildet aus den Nr. 20, 24, 26, 27, 28, 29, 38, 39 der amtlichen Statistik. Die Bezugsgrößen bei Heinz ZStW 94 (1982), 646 und Rieß ZRP 1985, 214, Tabelle 6 a sind wegen fehlender Transparenz zur Übernahme nicht geeignet. In Nr. 26 sind auch Einstellungen nach § 47 Abs. 2 OWiG enthalten. Zu der Verschiebung der Ergebnisse wegen der sonst nicht berücksichtigten Ordnungswidrigkeiten vgl. Heinz, ZStW 94 (1982), 646 Fn. 59; Rieß, ZRP 1983, 94 Fn. 21 und ZRP 1985, 213 Fn. 5.

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

96

Jahr 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Insgesamt 659.955 694.534 730.404 738.063 754.563 767.059 772.779 784.795 754.553

Verurteilungen 405.905 415.409 429.385 421.892 428.044 431.717 432.308 430.368 405.905

-

700.536 662.038 652.483

= = = = = = = = = -

364.549 357.647 359.867

= = =

Einstellung % % % % % % % % %

23.793 32.151 38.569 42.451 45.482 47.359 47.879 48.342 49.299

52,0 % 54,0 % 55,2 %

47.422 48.033 49.003

61,5 59,8 58,8 57,2 56,7 56,3 55,9 54,8 53,8 -

= = = = = = = =

= -

= = =

3,6 4,6 5,3 5,8 6,0 6,2 6,2 6,2 6,5

% % % % % % % % % -

6,8 % 7,3 % 7,5 %

Bei der Bewertung dieser Zahlen stellt man fest, daß dem kontinuierlichen Anstieg der Einstellungsquote bis 1986 eine etwas umfangreichere, aber ebenso kontinuierliche Abnahme der Erledigungen durch Urteil gegenübersteht. Das heißt, bis 1986 tritt die Einstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO an die Stelle der Urteile. In den Jahren 1987 und 1988 ist ein Anstieg der Urteile zu verzeichnen, so daß die ebenfalls steigenden Einstellungen jetzt neben die Erledigungen durch Urteil treten. 58 Die Ersetzungstendenz ist bis 1980 der Strafverfolgungsstatistik zu entnehmen. Nach von Rieß wiedergegebenen Zahlen5* sinkt die Urteilsquote, während die Zahl der sonst Abgeurteilten steigt. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die Einstellungen gemäß § 153 a Abs. 2 StPO keine so nennenswerte Ergänzung der Geldstrafen bedeuten, daß man sie im Verhältnis zwischen Freiheitsstrafe und Geldstrafe zugunsten der Geldstrafe berücksichtigen müßte.® Die Einstellung nach § 153 a Abs. 2 StPO ersetzt die Geldstrafe in einem Teilbereich. Das führt dazu, daß wegen des starken Ansteigens der Einstellungen nach § 153 a Abs. 2 StPO von 1977 bis 1982 der Geldstrafenanteil an allen Verurteilungen wegen Verstößen gegen das StGB einschließlich der Straßenverkehrsdelikte von 82,1 % auf 80,5 % sinkt.

5 « Rieß, ZRP 1983, 97, Tabelle 6a und ZRP 1985, 214 Tabelle 6a, kommt zu einem anderen Ergebnis; siehe aber auch Rieß, ZRP 1983, 99 und DRiZ 1982, 211. Rieß, DRiZ 1982, 211, Tabelle 9. 60 So aber Kaiser, Kriminologie, § 115 Rn. 36, der meint, der Anteil der Freiheitsstrafe nehme deshalb relativ entsprechend ab. 61 Eisenberg, Kriminologie, § 33 Rn. 1; Heinz, ZStW 94 (1982), 639 Fn. 28.

Β. Strafart

5. Strafaussetzung

97

zur Bewährung

Neben der Geldstrafe bietet die Strafaussetzung zur Bewährung eine bedeutsame Möglichkeit, den Angeklagten wenigstens mit der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu v e r s c h o n e n . « Aus der Sicht des Angeklagten ist die Strafaussetzung als Mittel zur Vermeidung der Freiheitsstrafe mindestens ebenso wichtig wie die Geldstrafe. Die Funktions- und Wirkungsanalyse der Strafaussetzung spricht dafür, sie - unabhängig von ihrer R e c h t s n a t u r « - als "Uni versai Sanktion eigener Art" zu bezeichnen. 64 Für die vorliegende Untersuchung stellt sich erstens die Frage, ob und inwieweit sich die gerichtliche Praxis, von dem Institut der Strafaussetzung Gebrauch zu machen, seit 1954 geändert hat. Zweitens ist fraglich, ob diese Änderungen lediglich auf einem Austausch zwischen den ambulanten Sanktionsformen (i.e. Strafaussetzungen und Geldstrafe) beruhen, oder vielmehr aus einer Veränderung der stationären Sanktionsformen (i.e. der vollstreckbaren Freiheitsstrafe) resultieren. Nur wenn der Zuwachs der Aussetzungen weit überwiegend auf einem Rückgang der vollstreckten Freiheitsstrafen beruhte, könnte uneingeschränkt von der Entwicklung der Strafaussetzung in den letzten 30 Jahren als einer der "bedeutendsten Wandlungen in der Sanktionspraxis "65 gesprochen werden. Anderenfalls würde lediglich eine ambulante Sanktionsform durch eine andere ersetzt. Das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung wurde durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz (StÄG) vom 4. August 195366 als § 23 StGB eingeführt, an Stelle des § 23 a.F., der die vorläufige Entlassung regelte. Nach der Neufassung konnte das Gericht die Vollstreckung einer Gefängnis- oder Einschließungsstrafe von nicht mehr als neun Monaten oder einer Haftstrafe aussetzen, damit der Verurteilte durch gute Führung während einer Bewährungszeit Straferlaß erlangen konnte. Trotz des Vorliegens einer günstigen Sozialprognose war die Strafaussetzung ausgeschlossen, wenn das öffentliche Interesse aus Gründen der Generalprävention die Vollstreckung forderte, wenn ein Rückfall nach Gewährung früherer Strafaussetzung oder bestimmte Vorstrafen v o r l a g e n . 6 7 a) Veränderungen in der Aussetzungspraxis Als Grundlage der Beschreibung werden die Strafaussetzungen genommen, die bei Verurteilungen wegen Verstößen gegen das StGB - mit Ausnahme der

62 Heinz, BewHi 24 (1977), 296. 63 Vgl. dazu nur Dreher-Tröndle,

§ 56 Rn. 1.

64 Kaiser, Kriminologie, § 116 Rn. 26. 65 Kaiser, Kriminologie, § 116 Rn. 26. 66 BGBl. 1 735. 67 Vgl. § 23 Abs. 3 Nr. 1 - 3 i.d.F. des 3. StÄG, BGBl. I 735. 7 Stapenhorst

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

98

Straßenverkehrsdelikte - ergangen sind, wobei die Aussetzungen nach § 56 Abs. 2 StGB wegen der geringen statistischen Bedeutung außer Betracht bleiben. 68 Sie werden ins Verhältnis zu den Freiheitsstrafen gesetzt, die ihrem Maß entsprechend aussetzungsfähig s i n d . 6 9 Danach ergibt sich folgende Tabelle: Jahr

Insgesamt verhängte aussetzungsfähige Freiheitsstrafen

davon zur Bewährung ausgesetzt

1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973

97.044 99.044 01.763 01.639 00.478 96.178 96.430 97.131 93.362 93.488 82.187 80.273 83.472 83.091 66.065 50.756 51.951 53.775 54.110

39.174 43.493 44.670 43.775 44.089 42.135 42.250 42.881 41.158 41.273 36.915 35.108 35.574 36.118 31.150 28.949 30.637 32.475 34.199

=40,4 =43,9 =43,9 = 43,1 = 43,9 = 43,8 =43,8 = 44,1 =44,1 =44,1 =44,9 =43,7 =42,6 = 43,5 = 47,2 = 57,0 = 59,0 = 60,4 = 63,2

%) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %)

1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986

55.397 56.402 57.801 55.386 54.276 56.246 62.114 64.604 62.884 61.290 59.705

37.811 39.584 40.747 39.437 38.742 40.218 44.297 46.619 45.900 44.866 44.545

= = = = = = = = = = =

%) %) %) %) %) %) %) %) %) %) %)

67,9 70,2 70,5 71,2 71,4 71,5 71,3 72,2 73,0 73,2 74,6

68 Heinz, MschrKrim 64 (1981), 165 und Kaiser, Kriminologie, § 116 Rn. 26 legen andere Zahlen zugrunde. 69 Bis zu neun Monaten (bis einschließlich 1968) und bis zu einem Jahr (ab 1969).

Β. Strafart

Jahr

Insgesamt verhängte aussetzungsfähige Freiheitsstrafen

1987 1988 1989

59.041 57.854 55.886

99

davon zur Bewährung ausgesetzt 43.588 (=73,8 %) 43.317 (=74,9 %) 40.472 (=72,4 %)

Nach anfänglichem Zögern hat die Praxis dieses Institut ab 1956 angenommen. Knapp die Hälfte aller verhängten Feiheitsstrafen werden ausgesetzt, nämlich 43,9 % (1956). Diese Zahl steigt bis 1965 auf 44,9 % und sinkt danach bis 1968 auf 43,5 %. Für die Zeit bis zum 1. Strafrechtsreformgesetz ergibt sich demnach ein gleichmäßiges Bild. Im Jahre 1969 beträgt die Quote 47,2 %, also knapp 4 Prozentpunkte mehr als 1968. Von 1970 (57,0 %) bis 1973 (63,2 %) steigt die Quote um 6,2 Prozentpunkte, so daß die Steigerung seit 1968 insgesamt 19,7 Prozentpunkte beträgt. Von 1976 bis 1989 steigt die Kurve durchgehend auf 72,4 %. Knapp drei Viertel aller aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen werden heute zur Bewährung ausgesetzt. Der Zuwachs insgesamt seit 1954 beträgt 40,2 Prozentpunkte. Sieht man von dem geringfügigen Rückgang der Aussetzungsquote zwischen 1965 bis 1968 (44,9 % auf 43,5 %) ab, stellt das Jahr 1970 einen deutlichen Wendepunkt dar. Durch das Inkrafttreten des Art. 106 Abs. 1 des 1. Strafrechtsreformgesetzes vom 25. Juni 1969το am 1. September 1969 wurde die Obergrenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe auf ein Jahr erweitert. Diese Änderung des Gesetzes kann jedoch deshalb nicht für den Anstieg der Aussetzungsquote verantwortlich sein, weil die Bezugsgröße, nämlich die Zahl der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen ebenfalls, der Novelle entsprechend, angestiegen ist. 71 Der Grund lag vielmehr darin, daß der Gesetzgeber die Sozialprognose in den Mittelpunkt gestellt hat und auf formelle Hindernisse wie Vorstrafen und Rückfall verzichtete. Der Gesichtspunkt der Generalprävention als Gegenindikation für eine Aussetzung wurde nur noch bei der Aussetzung von Freiheitsstrafen über sechs Monaten zugelassen.Die materiellen Voraussetzungen für eine Strafaussetzung nach § 23 StGB a.F. wurden gelockert und erlaubten den Gerichten dieses Institut häufiger anzuwenden. Davon haben die Gerichte ausweislich der Statistik Gebrauch gemacht.

70 71

BGBl. 1645.

Ab 1970 sind 95 % der verhängten Freiheitsstrafen aussetzungsfähig; vorher waren es 90 %; vgl. Heinz, MschrKrim 64 (1981), 164, 165, Tabelle 3. 7 2 Vgl. § 23 StGB i.d.F. des Art. 106 Abs. 1 des 1. StrRG v. 25.6.1969, BGBl. I 645.

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

100

In Ergänzung der unter Β. I. aufgeführten Tabellen zeigt die folgende Tabelle den Anteil der vollstreckten Freiheitsstrafen an den insgesamt nach allgemeinem Strafrecht erfolgten Verurteilungen, die wegen Verstößen gegen das StGB - ausschließlich der Straßenverkehrsdelikte - ergangen sind. Jahr

Insgesamt erfolgte Verurteilungen

1955 1960 1965 1970 1976 1980 1985 1989

217.043 220.607 202.614 211.563 244.519 241.428 292.053 296.151

vollstreckte Freiheitsstrafen 70.057 (=32,3 66.180 (=30,0 58.333 (=28,8 30.698 ( = 14,5 28.828 ( = 11,8 25.963 (=10,8 29.894 ( = 10,2 28.207 ( = 9,5

%) %) %) %) %) %) %) %)

Sie dokumentiert das eigentliche Verhältnis stationärer und ambulanter Strafsanktionen. Die Strafaussetzungen haben sich zu einer eigenständigen "Reaktionsalternative" entwickelt. 73 b) Wandlungsbewegungen Um Wandlungsbewegungen zwischen den einzelnen Sanktionen erkennen und bewerten zu können, ist es erforderlich, die Zahlen der vollstreckten und der ausgesetzten Freiheitsstrafen sowie der Geldstrafen zu den Gesamtverurteilungen jeweils vor und nach dem Inkrafttreten des 1. Strafrechtsreformgesetzes in Relation zu setzen. Für die Verurteilungen wegen Verstößen gegen das StGB mit Ausnahme der Straßenverkehrsdelikte ergeben sich danach folgende Tabellen:

Jahr 1954 1969

aussetzungsfähige Gefängnisstrafen vollstreckt ausgesetzt 65.274 34.915

73 Spieß, BewHi 31 (1984), 252.

39.174 31.150

Geldstrafen

Summe

104.904 130.495

209.352 196.560

101

Β. Strafart

In Prozent ausgedrückt: Jahr 1954 1969

aussetzungsfähige Gefängnisstrafen vollstreckt ausgesetzt 32,7 % 17,8 %

18,3 % 15,8 %

-14,9

-2,5

Geldstrafen

Summe

49,0 % 66,4 %

100 % 100 %

+17,4

Dem Rückgang der aussetzungsfähigen vollstreckten Gefängnisstrafen zwischen 1955 und 1969 um 14,9 Prozentpunkte und bei den ausgesetzten Gefängnisstrafen um 2,5 Punkte entspricht ein Zuwachs bei der Geldstrafe um 17,4 Punkte. Das heißt, die Verschiebung erfolgte im wesentlichen von den stationären Maßnahmen zu den ambulanten. Allerdings liegt die Vermutung nahe, daß diese Verschiebung über die ausgesetzten Freiheitsstrafen erfolgte, diese also einen Zuwachs von den vollstreckten Freiheitsstrafen erhielten und zugleich einen entsprechenden Teil an die Geldstrafen verloren. Für den Zeitraum zwischen 1970 und 1989 sieht die Wandlungstendenz noch günstiger aus: Jahr 1970 1989

aussetzungsfähige Gefängnisstrafen vollstreckt ausgesetzt 21.807 17.917

28.949 40.477

Geldstrafen

Summe

151.861 226.617

202.617 285.847

Geldstrafen

Summe 100 % 100 %

In Prozent ausgedrückt: Jahr 1970 1989

aussetzungsfähige Gefängnisstrafen vollstreckt ausgesetzt 10,8 % 6,2 %

14,3 % 14,2 %

74,9 % 79,6 %

-4,6

-0,1

+4,7

Hier ist ebenfalls eine Verschiebung zugunsten der Geldstrafe erfolgt. Als Ergebnis ist festzuhalten: Der Zuwachs der Aussetzungen erfolgte bei der hier untersuchten Deliktsgruppe auf Kosten der vollstreckten Freiheitsstrafe. Daß dieses Ergebnis nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick auf die von Eisenberg vorgenommene Untersuchung. Er nimmt als Bezugsgröße die

102

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

Zahl der insgesamt V e r u r t e i l t e n . 7 4 Dort ergibt die hier angewandte Methode, daß der Zuwachs der ausgesetzten Freiheitsstrafen zu etwa zwei Dritteln auf einer Abnahme der Geldstrafe beruht. Der Grund dafür könnte in den Verurteilungen wegen Verstößen gegen sonstige Bundesgesetze liegen, wo der Geldstrafenanteil seit 1970 von 96,1 % auf 83,0 % (1989) abgenommen hat. 6. Widerruf

der Strafaussetzung

Die günstige Entwicklung der Strafaussetzungen könnte durch den Widerruf der Strafaussetzungen beeinflußt worden sein. Gemäß § 56 f StGB bzw. § 25 StGB i.d.F. des 1. Strafrechtsreformgesetzes vom 25. Juni 196975 kann die Strafaussetzung widerrufen werden. Zuverlässige statistische Nachweise darüber gibt es nicht. Uber den Widerruf der Strafaussetzung berichtet die Bewährungshilfestatistik. Die dort erwähnten Zahlen lassen sich jedoch nicht zu den Zahlen der Strafaussetzung in Beziehung setzen; denn diese sind in der Strafverfolgungsstatistik e n t h a l t e n d e Um eine aussagekräftige Widerrufsquote berechnen zu können, müßte die Zahl der erfolgten Widerrufe zu der - widerrufsfähigen - Anzahl der Strafaussetzungen in Beziehung gesetzt w e r d e n . 7 7 Schließlich werden in der Statistik nur die Widerrufe gezählt, die bei Verurteilten erfolgten, die einem Bewährungshelfer unterstellt wurden. 78 Nach Aktenuntersuchungen, deren Ergebnisse bei Heinz 19 zusammengestellt sind, werden die Strafaussetzungen in 25 bis 50 Prozent der Fälle widerrufen. Sie korrigieren damit die günstige Tendenz innerhalb der Strafaussetzungen in nicht unerheblichem Maße.eo 7. Strafrestaussetzung

zur Bewährung

Gemäß § 57 StGB setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes der Strafe bei günstiger Sozialprognose zur Bewährung aus.si Ähnlich wie die Aussetzung der gesamten Strafe vor der Vollstreckung hat auch die Strafrestaussetzung den Charakter einer ambulanten Sanktion. 82

74 7

Eisenberg, Kriminologie, § 36 Rn. 4, Tabelle 22. 5 BGBl. 1 645.

76

Zur Begründung vgl. Heinz, BewHi 24 (1977), 304. Zudem ist eine Differenzierung zwi-

schen einzelnen Deliktsgruppen nicht möglich. 77

Heinz, BewHi 24 (1977), 304.

78

Heinz, ZStW 94 (1982), 653 Fn. 70.

Heinz, BewHi 24 (1977), 307, Tabelle 7. so Heinz, MschrKrim 64 (1981), 166. 81 Zur Rechtslage vor 1970 vgl. § 26 i.d.F. des 3. StÄG v. 4.8.1953, BGBl. I 735. Eisenberg, Kriminologie, § 36 Rn. 72 ff.

82

103

Β. Strafart

Statistische Nachweise über die Anwendung der Strafrestaussetzung ergeben sich nur aus der seit 1961 geführten StrafVollzugsstatistik. Das hat zur Folge, daß direkte Bezüge zu der Verurteiltenzahl nicht hergestellt werden können. Einflüsse der Strafrestaussetzungen auf die Entwicklung des Verhältnisses Freiheitsstrafe - Geldstrafe können daher - anders als bei den primären Aussetzungen - nicht dargestellt werden. Ganz allgemein kann jedoch ein Anstieg der Strafrestaussetzungen festgestellt werden, der allerdings mit einem Rückgang der Gnadenentscheidungen einhergeht. 83 8. Ersatzfreiheitsstrafe An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe ( § 4 3 StGB).84 Die für diese Untersuchung relevante Ausgangsüberlegung lautet daher: Hat die vermehrte Anwendung der Geldstrafe den Anstieg der Ersatzfreiheitsstrafen und damit der Freiheitsstrafen insgesamt zur Folge ? Statistische Nachweise über die Ersatzfreiheitsstrafe finden sich in den seit 1971 geführten Strafvollzugsstatistiken, welche Zugänge wegen Vollzugs einer Ersatzfreiheitsstrafe ausweisen. Für die Zeit davor gibt es keine Statistiken. Der Anteil der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen an allen nach allgemeinem Strafrecht erfolgten Verurteilungen zu Geldstrafen wegen Verstoßes gegen Bundes- und Landesstrafgesetze ergibt sich aus folgener Tabelle: Jahr

1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979

Insgesamt erfolgte Verurteilungen zu Geldstrafe 476.785 494.399 504.335 494.266 472.577 492.561 504.555 507.627 487.369

vollstreckte Ersatzfreiheits strafe 18.217 20.478 22.525 27.588 26.903 27.469 27.850 27.724 26.061

(= (= (= (= (= (= (= (= (=

3,8 4,1 4,7 5,6 5,7 5,6 5,5 5,5 5,3

%) %) %) %) %) %) %) %) %)

83 Zu den Einzelheiten vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 36 Rn. 73; Eisenberg/Ohder, Tabelle 1; Böhm/Erhard, MschrKrim 67 (1984), 365.

S. 12,

84 Zum Wortlaut vor 1975 vgl. § 29 StGB i.d.F. des 1. StrRG vom 25.6.1969, BGBl. I 645 und vor 1970: § 29 StGB i.d.F. der Verordnung über Vermögensstrafen und Bußen v. 6.2.1924, RGBl. 144.

104

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

Jahr

Insgesamt erfolgte Verurteilungen zu Geldstrafe

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

494.114 496.793 505.914 516.892 502.727 488.414 484.382 482.347 497.533

vollstreckte Ersatzfreiheitsstrafe 25.905 28.954 34.278 33.715 31.728 30.765 29.801 28.602 29.590

(= (= (= (= (= (= (= (= (=

5,2 5,8 6,8 6,5 6,3 6,3 6,2 5,9 5,9

%) %) %) «) %) %) %) %) %)

Danach wurden 1988 knapp 6 % aller Geldstrafen als Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt. Die dargestellten absoluten Zahlen der Ersatzfreiheitsstrafen sind in der Statistik als "Zugänge" ausgewiesen. Als "Zugänge" werden indessen auch solche Insassen definiert, die nach vorübergehender Abwesenheit zurückkehren oder im Anschluß an eine Freiheitsentziehung zu einer weiteren Freiheitsentziehung v e r b l e i b e n . 8 5 Dieser Zugangsbegriff ist Grundlage für die Statistik.86 Die sich daraus ergebenden Unregelmäßigkeiten 87 dürften jedoch zu vernachlässigen sein, da Verlegungen bei den ohnehin kurzen Ersatzfreiheitsstrafen die Ausnahme sein dürften. Die oben genannten Ergebnisse decken sich im wesentlichen mit empirischen Erhebungen. 88 Die ermittelten Prozentzahlen lassen sich zu dem Verhältnis Geldstrafe Freiheitsstrafe direkt in Beziehung setzen. Zieht man nämlich von der absoluten Zahl der Geldstrafenverurteilungen 6 % ab, die als Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt werden, vermindert sich der Geldstrafenanteil an den Gesamtverurteilungen. Für die hier zugrundegelegten Verurteilungen wegen Verstößen gegen das StGB ohne Straßenverkehrsdelikte ergibt sich damit folgendes Bild in Prozent:89

85 Nr. 7 der Vollzugsgeschäftsordnung (VGO) vom 1.7.1965 i.d.F. v. 1.5.1977. Die VGO wurde von den Landesjustizverwaltungen in bundeseinheitlicher Neufassung vereinbart; vgl. nur fur Baden-Württemberg, AV v. 1.8.1976, Die J, S. 410. 86 Nr. 73 der VGO. 87 Vgl. Heinz, ZStW 94 (1982), 657 Fn. 78. 88 Albrecht, Strafzumessung, S. 271, 233; Eisenberg, Kriminologie, § 33 Rn. 13 m.w.N. 89 Dabei wird eine Ungenauigkeit in Kauf genommen, die sich daraus ergibt, daß sich die absoluten Zahlen der Ersatzfreiheitsstrafe verbüßenden Personen auf Verstöße gegen alle Bundesund Landesstrafgesetze bezieht.

105

Β. Strafart

Geldstrafe

Freiheitsstrafe

Jahr

66,8 66,6

33,2 33,4 33,1

1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

66,9

31.6 31,5 31,8 31.7 31,2 31.0 31,2 30.8 30,5 30.1 29,5 29,5 28.7 27.8

68.4 68.5

68,2 68,3

68,8 69,0

68,8

69.2 69,5 69,9 70,5 70,5 71.3 72,2

Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, daß die verbüßten Ersatzfreiheitsstrafen das Verhältnis Freiheitsstrafe - Geldstrafe erheblich beeinflussen. Von dem zu Anfang dieser Untersuchung dargestellten Verhältnis sind auf Seiten der Geldstrafe etwa 4 Prozentpunkte zu subtrahieren. Damit fällt der Anteil der Geldstrafe auf etwa 70 % ab. 9. Strafvollzug Es ist fraglich, ob die positive Entwicklung im Verhältnis der Geldstrafe zur Freiheitsstrafe auch im Bereich des Strafvollzugs sichtbar wird. Bundeseinheitliche statistische Unterlagen darüber sind seit 1961 in der vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Strafvollzugsstatistik e r s i c h t l i c h . » Mit den Wandlungen in der Sanktionspraxis hat sich auch der Umfang der Gefangenenpopulation verändert, wie die folgende Tabelle der Zahl der Strafgefangenen zeigt: 91 1963 1965 1970 1972

-48.413 - 49.573 - 35.927 - 33.318

1978 1980 1982 1984

-41.557 - 42.235 - 45.584 - 49.254

*> Vgl. Graff, S. 174 ff. sowie S. 221 ff. zu den Landesstatistiken. 91 Strafvollzugsstatistik 1988, S. 19; jeweils am 31.3.

106

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

1974 - 36.763 1976 - 37.860

1986 -45.342 1988 -41.293

Dem Rückgang nach dem 1. Strafrechtsreformgesetz von 1969 folgt ein Anstieg der Zahlen bis 1984 auf den Stand von vor der Reform. Erst Ende der achtziger Jahre ist ein erneuter Rückgang zu verzeichnen. Während also die Zahl der zu Freiheitsstrafen Verurteilten seit 1970 in der hier betrachteten Deliktsgruppe kontinuierlich abnimmt, ist bei den Vollzugszahlen eine Steigerung zu e r k e n n e n . 92 Als Ursache dafür kommt eher die Zunahme der Verurteilungen zu langen Strafen als die Vollstreckung von kurzen Freiheitsstrafen in Betracht. 93 Vergleicht man die Gefangenenziffern zu Beginn des Jahrhunderts mit denen aus der Mitte und zum Ende des Jahrhunderts, stellt man fest, daß der Rückgang der Gefangenenziffern verhältnismäßig geringer ausfällt als der Rückgang der Verurteilungen zu Freiheitsstrafe. In Preußen betrug die Gefangenenziffer pro 100.000 Einwohner 1906: 80,6. Im Jahr 1930 betrug sie: 79,0 94 l n der Bundesrepublik Deutschland kann für 1961 eine Gefangenenziffer von 86,2 ermittelt werden. Während sie 1984 noch 80,6 beträgt, sinkt sie bis 1988 auf 69,2. 95 Zu Beginn des Jahrhunderts waren in Preußen ebensoviele Personen von Freiheitsstrafe betroffen wie 1984 in der Bundesrepublik Deutschland! 10. Untersuchungshaft Die Betrachtung des Verhältnisses Geldstrafe zu Freiheitsstrafe müßte unvollständig bleiben, würde nur auf die im Urteil ausgesprochene Strafe und nicht auch auf den tatsächlichen Freiheitsentzug (z.B. durch Untersuchungshaft) abgestellt. 96 Es ist fraglich, in welchem Umfang die Zahl der zu ambulanten Sanktionen (Geldstrafe, ausgesetzte Freiheitsstrafe) verurteilten Täter durch Verbüßung von Untersuchungshaft tatsächlich Freiheitsentzug erlitten haben. In diesem Umfang müßten sie der Zahl der zu stationären Maßnahmen Verurteilten hinzugerechnet werden.

92 Kaiser, Strafvollzug, § 2 Rn. 91. 93 Homann, MschrKrim 67 (1984), 336; Voß, BewHi 32 (1985), 304. 94 Tagesdurchschnittsbelegung 1906: 30.058, 1930: 30.141; Bevölkerung 1905: 37,37 Mio., 1930: 38,17 Mio. 95 Tagesdurchschnittsbelegung 1961: 48.413, 1984: 49.254, 1988: 41.293; Bevölkerung 1961: 56,17 Mio., 1984: 61,12 Mio., 1988: 61,45 Mio.; vgl. dazu auch Eisenberg, Kriminologie, § 43 Rn. 12, S. 611. 96 Heinz, MschrKrim 64 (1981), 167.

Β. Strafart

107

a) Zeitraum bis 1975 Für die Zeit vor 1975 liegen keine einheitlichen Daten für die gesamte Bundesrepublik Deutschland vor, aus denen sich das Verfahrensergebnis nach verbüßter Untersuchungshaft ergeben würde. Krümpelmann zitiert Zahlen aus Bayern: 97 In den Jahren 1964 bis 1969 betrug der Anteil der schließlich zu Geldstrafen verurteilten Untersuchungshäftlinge an der Gesamtzahl der Untersuchungshäftlinge in Bayern im Durchschnitt ca. 2 deijenige Anteil der zu Bewährungsstrafen Verurteilten betrug im Durchschnitt etwa 13 % . " Wie bemerkt liegen diesbezüglich keine Daten für die gesamte Bundesrepublik vor. Doch zeigt der Vergleich zwischen den beiden größten Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen bei Krümpelmann ähnliche Ergebnisse, so daß ein Schluß auf das gesamte Bundesgebiet gewagt werden kann. 100 Setzt man die oben zitierten Ergebnisse zu den insgesamt wegen Verstößen gegen Bundes- und Landesstrafgesetze zu Geldstrafe bzw. Bewährungsstrafe Verurteilten in Beziehung, ergibt sich bei einer Gesamtzahl von ca. 350.000 Geldstrafenverurteilungen insgesamt101 ein Prozentsatz von 0,06 % Geldstrafen, die, obwohl sie als ambulante Sanktion gedacht waren, tatsächlich teilweise stationär geahndet wurden. Bei den Bewährungsstrafen ergibt sich ein Prozentsatz von 0,4 %. Dies sind Prozentsätze, die vernachlässigt werden können. Das Inkrafttreten des 1. Strafrechtsreformgesetzes bewirkt eine sprunghafte Veränderung: Schon im Jahre 1970 steigt die Zahl der zu Geldstrafen Verurteilten, die vorher Untersuchungshaft verbüßt hatten, auf 17 %; die Zahl der zu Bewährungsstrafen Verurteilten auf 22 % (1970). 102 Diese Steigerung erfolgte trotz des Rückgangs der Freiheitsstrafen insgesamt und obwohl sich eine Fluchtgefahr für die Fälle nicht mehr begründen ließ, in denen keine Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu erwarten war. κ»

97 Krümpelmann, ZStW 82 (1970), 1067; Krümpelmann, Aktuelle Probleme, S. 49; Krümpelmann, Untersuchungshaft, S. 88 f. 98 99

Krümpelmann, Untersuchungshaft, S. 88, Tabelle 8. Krümpelmann, Untersuchungshaft, S. 89, Tabelle 9.

100

Krümpelmann, ZStW 82 (1970), 1055. Absolute Zahlen aus der Tabelle 1 bei Heinz, MschrKrim 64 (1981), 158. !°2 Krümpelmann, Aktuelle Probleme, S. 49 f. 101

103

Krümpelmann, Untersuchungshaft, S. 89.

108

4. Teil: Strafsanktionspraxis von 1948 bis 1989

b) Zeitraum von 1975 bis 1989 Seit 1975 sind in der StraiVerfolgungsstatistik Daten über die Untersuchungshaft enthalten, die Bezüge zu dem Verfahrensergebnis und den einzelnen Delikten erlauben. Wegen der Statistikumstellung aus Anlaß des Inkrafttretens des neuen Allgemeinen Teils 1975 empfiehlt es sich, den "konsolidierten Jahrgang" 1976 der Betrachtung zugrundezulegen. 104 Der bisher gewählten Methode entsprechend wird die Zahl der nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Untersuchungshäftlinge betrachtet, die wegen Verstößen gegen das StGB ohne Straßenverkehrsdelikte abgeurteilt worden sind.105 Von den insgesamt abgeurteilten Untersuchungshäftlingen wurden nach Vollzug der Untersuchungshaft zu Freiheitsstrafe mit Aussetzung zur Bewährung oder Geldstrafe verurteilt: Jahr

Insgesamt U-Häftl.

Freiheitsstrafe ausgesetzt

1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

35.635 33.491 31.808 28.480 28.602 30.826 33.859 32.291 26.993 24.279 21.592 21.021 20.157 19.840

8.284 7.821 7.436 6.812 6.777 7.074 7.617 7.449 5.949 5.412 5.064 5.076 4.958 4.699

= = = = = = = = = = = = = =

23,2 23,4 23,4 23,9 23,7 22,9 22,5 23,1 22,0 22,3 23,5 24,1 24,6 23,7

Geldstrafe % % % % % % % % % % % % % %

3.963 3.622 3.506 3.446 3.589 4.042 4.544 4.117 2.702 2.360 2.058 2.008 2.133 2.119

= = = = = = = = = = = = = =

11,1 % 10,8 % 11,0 % 12,1 % 12,5 % 13,1 % 13,4 % 12,7 % 10,0 % 9,7 % 9,5 % 9,6 % 10,6 % 10,7 %

Mehr als ein Drittel der verurteilten Untersuchungshäftlinge werden demnach nach der Untersuchungshaft "nur" zu ambulanten Sanktionen verurteilt. Sie erleben den Freiheitsentzug nur in Form der Untersuchungshaft. i