Zum Standort des Rücktritts vom Versuch im Verbrechensaufbau: Eine Untersuchung anhand der Dogmatik zum System von Versuch und Rücktritt seit dem 19. Jahrhundert [1 ed.] 9783428519910, 9783428119912

Warum führt der Rücktritt zur Straflosigkeit des Versuchs, und wovon tritt der Täter zurück? Vom Versuch? Von der anvisi

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Zum Standort des Rücktritts vom Versuch im Verbrechensaufbau: Eine Untersuchung anhand der Dogmatik zum System von Versuch und Rücktritt seit dem 19. Jahrhundert [1 ed.]
 9783428519910, 9783428119912

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Schriften zum Strafrecht Heft 179

Zum Standort des Rücktritts vom Versuch im Verbrechensaufbau Eine Untersuchung anhand der Dogmatik zum System von Versuch und Rücktritt seit dem 19. Jahrhundert

Von

Antje Schumann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANTJE SCHUMANN

Zum Standort des Rücktritts vom Versuch im Verbrechensaufbau

Schriften zum Strafrecht Heft 179

Zum Standort des Rücktritts vom Versuch im Verbrechensaufbau Eine Untersuchung anhand der Dogmatik zum System von Versuch und Rücktritt seit dem 19. Jahrhundert

Von

Antje Schumann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Sommersemester 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 29 Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11991-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Untersuchung ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2005 von der Juristischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Franz Streng, der mein Promotionsvorhaben trotz der Entfernung zwischen Halle/Leipzig und Erlangen mit vielen hilfreichen Hinweisen begleitet hat. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Joachim Hruschka für die Erstellung des Zweitgutachtens. Besonders unterstützt hat mich das Cusanuswerk unter anderem durch die Förderung mit einem Promotionsstipendium, das mir die Zeit und den Raum für diese Arbeit gab. Namentlich erwähnen möchte ich schließlich Herrn Richter am Landgericht, Bernd Gicklhorn, für das kritische Lesen des Manuskripts sowie die Frauen Nikola Schurig, Yvonne Limbach und Olga Beller vom Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Jugendschutzrecht der Juristenfakultät Leipzig für ihre Hilfe bei der Fertigstellung der Arbeit zur Veröffentlichung. Leipzig, 3. Januar 2006

Antje Schumann

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung in § 31 Pr.StGB von 1851 . . . . 1. Die Ausgangslage: Das preußische Allgemeine Landrecht und die Entwürfe zu § 31 Pr.StGB von 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Versuchs- und Rücktrittsregelung des preußischen Allgemeinen Landrechts (ALR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Versuchs- und Rücktrittsregelungen in den Entwürfen zu § 31 Pr.StGB von 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung in § 31 Pr.StGB von 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die „Rechtstheorien“ des 19. Jahrhunderts: Die Synthese von Versuch und Rücktritt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Exkurs: Die Versuchs- und Rücktrittsregelung des § 31 Pr.StGB von 1851 und das Prozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Andere Partikulargesetzgebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Versuchs- und Rücktrittsregelung in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 . 1. Die Trennung von Versuch und Rücktritt im Gesetz: Die Kritik in den Entwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versuch und Rücktritt in §§ 43 und 46 RStGB von 1871. . . . . . . . . . . . a) Die Begriffsbestimmung des Versuchs in § 43 RStGB . . . . . . . . . . . b) Die Begriffsbestimmung des Rücktritts in § 46 RStGB . . . . . . . . . . aa) Der Begriff „Strafausschließungsgrund“ im 19. Jahrhundert . . bb) Der Rücktritt in § 46 RStGB von 1871 als sog. Strafausschließungsgrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Frage nach der Strafbarkeit der Teilnahme bei einem Rücktritt des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Gesamtbetrachtung bzw. der rechtstheoretische Ansatz zu Versuch und Rücktritt: Die tatbezogene Rücktrittsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Trennung von Versuch und Rücktritt bzw. der kriminalpolitische Ansatz: Die täterbezogene Rücktrittsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung: Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . .

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung in §§ 43 und 46 RStGB von 1871: Dogmengeschichtliche Retrospektive bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Übernahme der gesetzlichen Trennung von Versuch und Rücktritt durch die Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Vorüberlegungen: Die Interdependenz zwischen der Einordnung des Rücktritts im Straftatsystem und dem Begriff „strafbarer Versuch“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“: Die „simultane“ Übersetzung des lebensweltlichen Tatgeschehens vor dem Hintergrund einer „ganzheitlichen“ Verbrechens- und Versuchsperspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das „Separierungsmodell“: Die „abstrahierende“ Übersetzung des lebensweltlichen Tatgeschehens vor dem Hintergrund einer „punktuellen“ Verbrechens- und Versuchsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Exkurs: Der Rücktritt als (negatives) Merkmal der Rechtsfolge „Strafbarkeit“ des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ausblick auf das Meinungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Versuchs- und Rücktrittsinterpretationen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Rücktritt als sog. Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund: Das Meinungsspektrum der herrschenden Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Primärebene“: Versuch und Rücktritt auf der Ebene des strukturellen Delikts- bzw. Verbrechenstatbestandes . . . . . . . . . cc) Sekundärebene: Die Konsequenz der kriminalpolitischen Rücktrittsthese für die Begründung des Strafbefreiungsprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Wesensbestimmung des Versuchs jenseits des Rücktrittsdiskurses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das (objektive) Erfordernis eines Gefährdungsmoments beim Versuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das (subjektive) Erfordernis eines „Vollendungsvorsatzes“ beim Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Exkurs: Begriffsbestimmung des Vorsatzes beim Versuch. . . . c) Der Rücktritt als „eigenartiger“ Strafausschließungsgrund nach R. Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Separation und Gesamtbetrachtung: Dogmengeschichtliche Nachzeichnung ab 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Retrospektive als Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die Kritik an der Separation und die (Wieder-)Entdeckung der Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 a) Der Rücktritt als negatives Merkmal des strafbaren Versuchs . . . . . 78 aa) Die Ansicht Reinh. v. Hippels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 bb) Die Ansicht Lang-Hinrichsens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 cc) Die Ansicht v. Scheurls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 b) Exkurs: Die „Rechtstheorien“ des 19. Jahrhunderts: Eine zu Unrecht verkannte Versuchs- und Rücktrittsinterpretation? . . . . . . . . . . 87 aa) Die Gemeinsamkeiten in Zachariaes Annullationstheorie, Reinh. v. Hippels Deutung des Rücktritts als negatives Merkmal des Tatbestands bzw. des Tatbegriffs bei LangHinrichsen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 bb) „Strafbarer Versuch“ nach globaler und elementarer Strafrechtsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3. Das System von Versuch und Rücktritt in den modernen Versuchsund Rücktrittsauffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Die gesetzlichen Änderungen zu Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert: §§ 43 und 46 RStGB bzw. StGB und die §§ 22 und 24 StGB in der Fassung vom 1. Januar 1975 . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) „Separierungsmodell“ und das Modell der „Gesamtbetrachtung“ in der Diskussion ausgewählter Versuchskonstellationen . . . . . . . . . 99 aa) Das „Separierungsmodell“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Zur Begriffsbestimmung des unbeendeten, beendeten und fehlgeschlagenen Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (1) Das „Separierungsmodell“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (2) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (3) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“ in der neueren Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (4) Exkurs: Die Gleichsetzung des beendeten mit dem fehlgeschlagenen Versuch in seinen subjektiven Komponenten. . . 110 dd) Zur Begriffsbestimmung des fehlgeschlagenen Versuchs . . . . . 113 (1) Das Separierungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (2) Das Modell der Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 ee) „Der Anfang des beendeten Versuchs“ nach Roxin . . . . . . . . . . 117 (1) Das Separierungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (2) Das Modell der Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 ff) „Partieller Rücktritt vom Versuch und Deliktswechsel“: Der Vorsatzwechsel nach dem Versuchsanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (1) Das Separierungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (2) Das Modell der Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 (3) Das Modell der Gesamtbetrachtung in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

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D. Der Rücktritt als negatives Schuldkonstituens des Versuchs . . . . . . . . . . . . I. Die Stellung des Rücktritts im modernen Straftatsystem . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Entwicklung des Verbrechens- und Versuchsaufbaus im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Notwendigkeit einer straftatsystematischen Kategorisierung des Rücktrittsinstituts im Hinblick auf den Rücktritt Schuldunfähiger. . . . 3. Der Rücktritt als Schuldausschließungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Unrechtstatbestand des Versuchs: Der Versuchsanfang. . . . . . . b) Der Schuldtatbestand des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Versuchsanfang und Versuchsende als Handlungskontinuum . bb) Mögliche Einwände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die bisherige Einordnung des Rücktritts in der Schuld . . . . . . . . . . . . . 5. Die Verortung des Rücktritts nach der Schuld: Kritischer Blick auf die Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Rücktritt als Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Rücktritt als „eigener Strafbefreiungstatbestand“. . . . . . . . . . . . c) Der Rücktritt als Strafaufhebungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

A. Einführung Mit dem Überschreiten der Strafbarkeitsgrenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn hat sich der Täter zunächst für das pönalisierungswürdige Unrecht entschieden. Ist damit bereits unwiderruflich auch die Strafbarkeit des Versuchs festgelegt? Das Gesetz sagt „nein“ und eröffnet dem Versuchstäter mit der Rücktrittsregelung des § 24 StGB einen Weg, der zur Straflosigkeit des Versuchs führt. Warum aber gibt es die Rücktrittsoption beim Versuch, und wovon tritt der Täter zurück – Vom Versuch? Von der anvisierten Vollendung? Die Antworten hierauf berühren die Zentralfragen der Rücktritts- sowie der Versuchsdogmatik: Welches Verhalten des Täters unterfällt bereits und noch dem Versuchsbegriff? Die vorliegende Untersuchung versteht sich vor allem als dogmengeschichtliche Aufbereitung des Verhältnisses von Versuch und Rücktritt seit der Kodifikation des preußischen Allgemeinen Landrechts. Die Rückschau auf die jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu geführten Auseinandersetzungen wird zwei gegensätzliche Versuchsperspektiven und deren Konsequenzen für die Erklärung des Strafbefreiungsgrundes und der Einordnung des Rücktritts im Straftatsystem erkennbar werden lassen. Sie wird zudem zeigen, daß diese beiden Ansichten – teils ausgesprochen, teils unausgesprochen – auch die heutige Kontroverse zu Versuch und Rücktritt weitgehend prägen. In der Arbeit wird eine Lösung entwickelt, diese scheinbar unvereinbaren Konzepte in ein konsistentes Modell von Versuch und Rücktritt zu integrieren.

B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung in § 31 Pr.StGB von 1851 1. Die Ausgangslage: Das preußische Allgemeine Landrecht und die Entwürfe zu § 31 Pr.StGB von 1851 a) Die Versuchs- und Rücktrittsregelung des preußischen Allgemeinen Landrechts (ALR) Auf naturrechtlicher Grundlage soll die Kodifikation des preußischen ALR den Anspruch, das „gesamte Leben rechtlich“ zu erfassen, in die politische Wirklichkeit umsetzen.1 Dieses Projekt einer totalen rechtlichen Umhegung spiegelt sich auch in der Pönalisierung des kriminellen Geschehens von seinen Wurzeln an wider.2 Die Vorschriften zum „Verbrechen“ beschreiben auf einer Strafzumessungsskala die einzelnen Stufen des zur Vollendung sich zuspitzenden Handlungsstrangs. Innerhalb dieses detaillierten Abbildes der strafrechtlichen Wirklichkeit wird neben den einzelnen Versuchsstadien auch dem Rücktritt ein eigener Abschnitt zuteil.3 Der Rücktritt führt hier (noch) nicht zur Straflosigkeit des Versuchs,4 sondern gewährt lediglich ein Recht auf Begnadigung.5 Das Rücktrittsinstitut ist jedoch nicht nur in dieser Strafzumessungsnorm geregelt, sondern darüber hinaus in den einzelnen Versuchsbestimmungen enthalten. Denn die jeweilige Versuchsstrafe trifft den Täter nur, wenn das Ausbleiben der Vollendung auf einem 1

Ramm, Gesamtkodifikation, 1995, S. 3. Vgl. Goltdammer, Mat, I, 1851, S. 244. 3 Art 178 Constitutio Criminalis Carolina (CCC) regelt Versuch und Rücktritt in einer Vorschrift: „Straff understandner missethat. Item so sich jemandt mit etlichen scheinlichen wercken, die zu volnbringung der missethat dienstlich sein mögen, understeht, und doch an der volnbringung derselben missethat durch andere mittel, wider seinen willen verhindert würde, solcher böser will, darauß etlich wercke, als obsteht volgen, ist peinlich zu straffen, Aber inn eynem Fall herter dann in dem andern angesehen gelegenheit und gestalt der sach.-“, Zit. nach Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 588. 4 Wie bereits zu Art. 178 CCC vertreten, vgl. Zachariae, o. Fn. 3. 5 Vgl. § 43, II, Tit. 20 ALR. 2

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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„blossen Zufall“ beruht. Damit beschreibt das ALR den Rücktritt auf zwei Ebenen, einmal implizit in den Versuchsregelungen und des weiteren ausdrücklich in einer Vorschrift über die Rechtsfolge des Versuchs, wenn der Täter zurücktritt. Das ALR verbindet somit jene Perspektiven zum System von Versuch und Rücktritt, die – wie im Verlauf der Arbeit gezeigt werden wird – als Streit „Rechtstheorie versus Kriminalpolitik“ die Versuchs- und Rücktrittsdogmatik bis heute prägen. Übersicht 1 Die Vorschriften über das Handlungskontinuum „Verbrechen“ im ALR, Teil II, Tit. 206 § 44

§ 43

§ 42

§ 41

Drohung

Abstehen conatus von der Ver- remotus brechensausführung aus eigener Bewegung

conatus propior

(Ankündigung eines Verbrechens)

(Rücktritt)

Maßnahmen der Sicherung

Recht auf Begnadigung

§ 40

§ 39

conatus proximus

delictum consummatum

(vorläufige (naher Anstalten zu Versuch)8 einem Verbrechen)7

(delictum perfectum bzw. beendeter Versuch)9

(vollbrachtes Verbrechen)

Strafe

Strafe vor Vollendung

ordentliche Strafe

nächst höhere Strafe

„die böse Absicht wird nach Verhältniß des Fortschrittes zur wirklichen Vollziehung geahndet“10 § 44: „Auch blosse Drohungen, ein gewisses Verbrechen begehen zu wollen, sind strafbar; und verpflichten den Staat zu Massregeln, wodurch der Bedrohete in Sicherheit gesetzt wird.“ § 43: „Wer aus eigener Bewegung von der Ausführung des Verbrechens absteht, und dabei solche Anstalten trifft, dass die gesetzwidrige Wirkung gar nicht erfolgen kann; ingleichen der, welcher durch zeitige Entdeckung der Mitschuldigen, und ih6

Zit. nach der Textausgabe des ALR Berlin 1835. Heute: die „Vorbereitungshandlungen“. 8 Heute: das „Unmittelbare Ansetzen“ bzw. auch die Stadien des (rücktrittsfähigen) „unbeendeten“ und „beendeten“ Versuchs. 9 Heute: wohl der sog. „fehlgeschlagene“ Versuch, vgl. Eb. Schmidt, in: v. Liszt/ Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 304; Hruschka, Ged.-Schr. für Zipf, 1999, S. 236, 240. 10 Vgl. § 42, II, Tit. 20 ALR. 7

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

res Vorhabens, die Ausführung dessen hintertreibt, kann auf Begnadigung Anspruch machen.“ § 42: „Hat ein solcher Zufall schon die vorläufigen Anstalten zu der strafbaren Handlung unterbrochen: so wird die böse Absicht nach Verhältniß des Fortschrittes zur wirklichen Vollziehung geahndet.“ § 41: „Die nächste Strafe nach dieser trifft den, welcher durch einen blossen Zufall an der letzten, zur Ausführung des Verbrechens erforderlichen, Handlung gehindert wurde.“ § 40: „Hat der Thäter zur Vollziehung des Verbrechens von seiner Seite alles gethan; die zum Wesen der strafbaren Handlung erforderliche Wirkung aber ist durch einen blossen Zufall verhindert worden: so hat er diejenige Strafe, welche der ordentlichen am nächsten kommt, verwirkt.“ § 39: „Die ordentliche Strafe eines vorsätzlichen Verbrechens trifft denjenigen, welcher dasselbe wirklich vollbracht hat.“

Obgleich auch der preußischen Kodifikation der römisch-gemeinrechtliche Grundsatz „cogitationis poenam nemo patitur“11 zu Grunde liegt, offenbaren die strafrechtlichen Normierungen des ALR vor allem eine obrigkeitliche Ahndung des nach außen kundgetanen „bösen Willens“ als das initium und fundamentum criminis:12 Diese Strafintention zeigt sich einmal in der Sanktionierung bereits des Verbrechensvorfeldes (§ 44 und § 42, II, Tit. 20 ALR) sowie im Wortlaut der „vorläufigen Anstalten zu einem Verbrechen“, in dem die „böse Absicht“ hervorgehoben wird. Schließlich vermag auch die Einordnung des Rücktritts in der Strafzumessungsskala unterhalb der vorläufigen Anstalten darauf hinzuweisen: Die im „freiwilligen Abstehen“ von der weiteren Tatausführung bekundete Abwendung vom „dolus malus“ eröffnet dem Täter im Wege der Begnadigung die Möglichkeit der Straflosigkeit. Die nach einem Rücktritt in der Außenwelt verbleibende Versuchshandlung wird somit für weniger strafwürdig erachtet als jene von der Vollendung weiter entfernte Ausführung der vorläufigen Anstalten. Damit verbleibt als Strafgrund vor allem der „böse Wille“, dessen Bestrafung der Täter beim Versuch – im Unterschied zu den vorläufigen Anstalten – mit einem Rücktritt noch entgehen kann.13 11

Ulpian, zit. nach Hillenkamp LK 2003 Vor § 22 Rn. 3. Dahinter steht der moralisierende Impetus der Aufklärung. Im ALR u. a. sichtbar in der Regelung über die Bestrafung schuldunfähiger Täter in § 17, II, Tit. 20 („Moralität des Verbrechens“): „Unmündige und schwachsinnige Personen können zwar zur Verhütung fernerer Vergehungen gezüchtiget; niemals aber nach der Strenge der Gesetze bestraft werden.“ Vgl. dazu v. Bar, in: Ramm, Gesamtkodifikation, 1995, S. 22, der das Strafrecht des ALR charakterisiert als „Gesetzbuch des ängstlichen und wohlmeinenden Polizeistaats, der überzeugt ist, in allen und jeden Beziehungen durch Belehrung und wenn nötig Bestrafung nicht nur Verbrechen zu verhüten, sondern auch das Wohlbefinden der Bevölkerung heben zu können“. 12

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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b) Die Versuchs- und Rücktrittsregelungen in den Entwürfen zu § 31 Pr.StGB von 1851 Vor dem Hintergrund der soeben dargestellten Regelungen des ALR läßt sich das Ziel der Diskussion um die Kodifizierung des Preußischen StGB von 1851 folgendermaßen skizzieren: Mit der Statuierung des Ultima-ratioPrinzips der Strafe wird eine Entmoralisierung des Rechts angestrebt.14 Damit einher geht die Forderung nach einer Beschränkung der Kriminalisierung durch den Staat, welche mit der Herausnahme des Verbrechensvorfeldes aus der strafrechtlichen Sanktionskontrolle legislatorisch erfüllt wird. Des weiteren soll die umfangreiche Kasuistik des ALR, die zu einer Beschneidung des richterlichen Ermessens führen sollte und aus Gründen der Rechtssicherheit auch bezweckt war,15 durch ein vereinfachtes rechtliches Schema der pönalisierungsbedürftigen Wirklichkeit im Strafgesetzbuch ersetzt werden. Die davon mitumfaßte Neuregelung von Versuch und Rücktritt war in den über 20 Jahre währenden Kodifikationsbemühungen um ein Pr.StGB, welche im Strafgesetzbuch von 1851 ihren Abschluß finden, Gegenstand eingehender Erörterungen. Einen Schwerpunkt bildete die sprachliche Fassung von Versuch und Rücktritt im Gesetz mit Blick auf das Gerichtsverfahren mit Geschworenen. Denn die Entscheidung über die Schuldfrage durch Geschworene setzt Normen voraus, die verständliche und mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortbare Fragen ermöglichen.16 Die Entwurfsgeschichte zu § 31 Pr.StGB von 1851 verdeutlicht, daß die Positivierung von Versuch und Rücktritt in einer gemeinsamen Vorschrift oder in getrennten Bestimmungen ihren Grund nicht in einer Änderung der materiellrechtlichen Auffassung zu beiden Rechtsinstituten hat, sondern zunächst vornehmlich die Gegebenheiten des damaligen Schwurgerichts berücksichtigen soll. Die Entwürfe vor 1843 orientieren sich noch an den Vorgaben des ALR,17 und erst der Entwurf von 1843 (E-1843) leitet jene Epoche ein, aus der das für das RStGB von 1871 als Vorbild dienende Pr.StGB von 1851 hervorgeht. Der E-1843 zu § 31 Pr.StGB von 1851 führt zu einer Entkriminalisierung des Verbrechensvorfeldes, indem er die „vorläufigen Anstalten“ der Versuchsstrafbarkeit entzieht.18 Erst der „Anfang der Ausführung des 13 Daß mit der Bestrafung der „vorläufigen Anstalten“ dem Täter die Rücktrittsmöglichkeit genommen wird, ist ein Bedenken in der Auseinandersetzung zum Pr.StGB von 1851, näher dazu die folgenden Ausführungen. 14 Das Recht nicht mehr als Belehrung der Gesellschaft, vgl. v. Bar, o. Fn. 12. 15 Ramm, o. Fn. 12, S. 23. 16 Auf den Einfluß der verfahrensrechtlichen Gegebenheiten wird an späterer Stelle näher eingegangen. 17 Vgl. Goltdammer, Mat, I, 1851, S. 245.

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beabsichtigten Verbrechens“ soll von nun an den Beginn des Versuchs markieren. Des weiteren normiert die Rücktrittsvorschrift die obligatorische Straflosigkeit des Versuchs. Beibehalten wird im E-184319 noch die graduelle Verbrechens- und Versuchsabstufung des ALR, so daß auch der Rücktritt in einer eigenständigen Normierung (§ 62) erscheint. Die Versuchsregelungen der §§ 58, 59 konkretisieren die Strafzumessung in der Vorschrift des § 56. In § 55 ist eine allgemeine Versuchsdefinition aufgestellt, vergleichbar der des späteren § 43 RStGB von 1871: E-1843, § 55: „Der Versuch eines Verbrechens wird strafbar, sobald derselbe durch eine solche äußere Handlung sich offenbart hat, welche schon als Anfang der Ausführung des beabsichtigten Verbrechens zu betrachten ist.“ E-1843, § 56: „Je mehr der Versuch der Vollendung des Verbrechens sich genähert, und je weniger das Unterbleiben der Vollendung in dem Willen des Thäters seinen Grund hat, desto größer ist die Strafbarkeit des Versuchs.“ E-1843, § 58: „1. Strafe des beendigten Versuchs Wenn bei einem Verbrechen, welches erst mit dem Eintritte eines bestimmten Erfolgs vollendet wird, der Verbrecher Alles, was von seiner Seite zu dieser Vollendung nothwendig war, gethan hat, der Erfolg aber, wider seinen Willen, dennoch unterblieben ist, so soll, statt der auf das vollendete Verbrechen bestimmten Todesstrafe, auf langwierige Freiheitsstrafe, statt [. . .].“ E-1843, § 59: „2. Strafe des nicht beendigten Versuchs In andern, als den in §.58. bezeichneten Fällen bleibt es dem Ermessen des Richters überlassen, inwiefern die Strafe des vollendeten Verbrechens dem Maße nach herabzusetzen, oder eine gelindere Strafart zu wählen sei; [. . .].“ E-1843, § 62: „Wer aus eigener Bewegung von der Vollendung eines schon begonnenen Verbrechens absteht, und, wo dieß nöthig ist, solche Anstalten trifft, daß die beabsichtigte schädliche Wirkung nicht eintreten kann, der soll mit Strafe verschont werden. Ist jedoch die Versuchshandlung schon ein für sich bestehendes Verbrechen, so wird die Strafe dieses letztern dadurch nicht aufgehoben.“

Der legislatorisch vollzogene Bruch mit der herkömmlichen Doktrin von der Strafbarkeit der „vorläufigen Anstalten zu einem Verbrechen“ ist nicht unumstritten20 und entbehrt noch der rechtsdogmatischen Absicherung:21 Den Versuch als „Anfang der Ausführung des beabsichtigten Verbrechens“ 18 Die Herausnahme der „vorläufigen Anstalten“ aus der Versuchsstrafbarkeit soll verdeutlichen, daß nicht allein die „böse Absicht“ zu strafen sei, vgl. Goltdammer, o. Fn. 17. 19 Zit. nach Bemerkungen über den Entwurf des Preußischen Strafgesetzbuches und dessen Begutachtung durch den rheinischen Provinzial-Landtag, 1843, S. 75 ff. (77). 20 Vgl. die Diskussion in der Immediat-Kommission von 1845 bei Goltdammer, o. Fn 17, S. 250.

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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verlagert man weiterhin in jenes Verbrechensvorfeld, welches heute unstrittig den straflosen Vorbereitungshandlungen unterfällt (das Ankaufen der Pistole22). Aufgrund dieses Subsumtionsproblems wird die Vorschrift über den Beginn der Versuchsstrafbarkeit (§ 55) mit der Rücktrittsregelung (§ 62) für unvereinbar gehalten.23 Denn mit der Subsumtion der Vorbereitungshandlungen unter § 55 stellt sich für die Kritik das Problem, daß die Hinderung durch ein „äußeres Ereignis“ stets zu einer Strafbarkeit führe, obgleich der Täter später noch aus „eigenem Antriebe“ von der Verbrechensausführung Abstand nehmen könne. Die Möglichkeit eines Rücktritts sei durch die gesetzliche Fassung des § 55 somit von vornherein ausgeschlossen. Hierin erkennt man einen Widerspruch zu § 62 (Rücktritt), der in allen Versuchsstadien die Möglichkeit der Strafbefreiung eröffnen solle. Vor diesem Hintergrund folgert namentlich der Provinzial-Landtag Rheinpreußens, eine der beiden Bestimmungen müsse entfallen.24 Diese Forderung provoziert das Mißverständnis, die rheinländische Kritik verlange die Streichung des Rücktrittsprivilegs beim Versuch, und in den Motiven zum späteren E-1847 wird die Kriminalpolitik als Rechtfertigung für die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts beim Versuch angeführt.25 Vor allem die unterschiedlichen Versuchs- und Rücktrittsregelungen in den Entwürfen aus den Jahren 1845 und 1847/48 offenbaren den prozessualen Hintergrund für die Abhängigkeit der gesetzlichen Fassung von den verfahrensrechtlichen Umständen.26 Die legislatorische Fixierung des Versuchs soll primär als leicht handhabbare Norm für das Verfahren mit Geschworenen ausgestaltet sein.27 Der E-1845 regelt Versuch und Rücktritt in einer Vorschrift und behandelt den Rücktritt als „Negativvoraussetzung“28 des strafbaren Versuchs. Diese rücktrittsabhängige Versuchsregelung soll jene Schwierigkeiten beheben, zu welchen die Anwendung der separaten Normierungen von Versuch und Rücktritt des E-1843 im Verfahren mit Geschworenen führte.29 21 Abgesehen von der im Einzelfall schwierigen Abgrenzung zwischen der Vorbereitungshandlung und dem Versuchsbeginn. 22 Vgl. o. Fn. 19, S. 79 f. 23 o. Fn. 19, S. 82 f. 24 Vgl. o. Fn. 23. 25 Vgl. die Motive zum E-1847, S. 21 f. 26 Zum Einfuß des Verfahrens auf das materielle Recht Zachariae, Archiv CrimR, 1845, S. 273 f. 27 Das Verfahren mit Geschworenen verlangt nach Normen, die mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können. Vor allem den §§ 55 und 59 des E-1843 wird diese Voraussetzung abgesprochen. Vgl. o. Fn. 19, S. 84; Goltdammer, o. Fn. 17, S. 248; Zachariae, o. Fn. 26. 28 Zum Terminus vgl. Meyer, StrafR, 1888, S. 264.

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

Im E-184530 differenziert man zum ersten Mal zwischen Strafbarkeitsmerkmalen und Strafzumessungsregeln und normiert diese in getrennten Bestimmungen. Die Vorschriften über die Versuchsstadien des E-1843 werden zu einer Versuchsnorm zusammengefaßt. Die Aussage über die Strafbarkeit des Versuchs impliziert zugleich die Voraussetzung eines „NichtRücktritts“. Eine eigenständige Legitimierung der Straflosigkeit des Versuchs bei einem Rücktritt kann hier somit als entbehrlich entfallen.31 E-1845, § 42 (§§ 55 und 62 des E-1843): „Wenn der Vorsatz, ein Verbrechen zu begehen, in solchen Handlungen offenbar geworden ist, welche einen Anfang der Ausführung des Verbrechens enthalten, so sind diese Handlungen als Versuch zu bestrafen, in sofern die Ausführung durch äußere Umstände, unabhängig von dem Willen des Thäters, verhindert worden ist. Handlungen, durch welche die Ausführung eines Verbrechens nur vorbereitet, aber noch nicht angefangen worden, sind nicht als Versuch zu betrachten und zu bestrafen.“

Dieser Entwurf aus dem Jahr 1845 bleibt jedoch – die Motive geben keinen Aufschluß über die Gründe32 – bei den erneuten Verhandlungen zu den Entwürfen der Jahre 1846/47 unbeachtet und nochmals wird auf den E-1843 für eine Revision zurückgegriffen. Im Unterschied zu dieser Vorlage wird im E-1847 auf jegliche Versuchs- bzw. Strafbarkeitsdefinition im Gesetz verzichtet. Lediglich die gegenüber dem vollendeten Verbrechen obligatorisch geringere Bestrafung des Versuchs erhält ihre gesetzliche Fassung. Die Subsumtion der Handlungsakte als Versuch soll nach dem E-1847 gänzlich dem richterlichen Ermessen überlassen bleiben.33 Da das Gesetz hier auf jegliche Versuchs- bzw. Strafbarkeitsmerkmale verzichtet, muß die Straflosigkeit des Versuchs bei einem Rücktritt wieder34 in einer eigenständigen Norm geregelt werden. Diese ausdrückliche Rücktrittsregelung im E-184735 glaubt man nun gegenüber jener – mißverstandenen – Forderung des rheinländischen Provinzial-Landtags zum E-184336 verteidigen zu müs29 Das Verfahren mit Geschworenen – zunächst nur eine rheinpreußische Institution – wird 1849 in ganz Preußen eingeführt. 30 Revidierter Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten. Vorgelegt von dem Ministerium der Gesetz-Revision, 1845, S. 8. 31 Vgl. Schwarze, Archiv CrimR, Beilage-Heft, 1843, S. 44; Zachariae, Archiv CrimR, 1846, S. 566 f.; Goltdammer, o. Fn. 27. 32 Vgl. Goltdammer, o. Fn. 17, S. 251. 33 Als Reaktion auf die gegenüber dem E-1843 geübte Kritik, vgl. Zachariae, Archiv CrimR, 1846, S. 566; bezweifelt wird die praktische Anwendbarkeit dieser Vorschriften des E-1847 im Verfahren mit Geschworenen, vgl. Goltdammer, o. Fn. 17, S. 250. 34 Nach der gemeinsamen Versuchs- und Rücktrittsregelung in § 42 des E-1845. 35 Entwurf des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, nebst dem Entwurf des Gesetzes über die Einführung des Strafgesetzbuchs und dem Entwurf des Gesetzes über die Kompetenz und das Verfahren in dem Bezirke des Appellationsgerichtshofes zu Köln, 1847, S. 8 f.

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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sen und rechtfertigt die Beibehaltung dieser Vorschrift mit der Berufung auf die Kriminalpolitik.37 Wie die Sondervorschrift für die rheinländische Provinz im Einführungsgesetz des E-184738 mit ihrer an § 42 des E-1845 orientierten rücktrittsabhängigen Versuchsregelung sowie die Hintergründe des E-1843 jedoch aufzeigen, stellt die rheinländische Kritik nicht das Rücktrittsprivileg beim Versuch in Frage, worauf die Anführung der Kriminalpolitik in den Motiven zum E-1847 zu insistieren scheint. E-1847, § 40: „Für den Versuch des Verbrechens ist stets eine dem Maße oder auch der Art nach geringere Strafe auszusprechen als diejenige, welche im Falle der Vollendung des beabsichtigten Verbrechens hätte ausgesprochen werden müssen [. . .].“ E-1847, § 42: „Der Versuch soll straflos bleiben, wenn der Thäter aus eigener Bewegung von der Vollendung des Verbrechens absteht, und, wo dies nöthig ist, solche Anstalten trifft, wodurch die beabsichtigte schädliche Wirkung verhindert wird [. . .].“

Die Versuchsvorschriften der Entwürfe aus den Jahren 1846/47 kehren jedoch in der Diskussion zum Pr.StGB von 1851 nicht wieder. Hier setzt sich vielmehr endgültig die rücktrittsabhängige Versuchsregelung des § 42 E-1845 und ihr Äquivalent des § XIX Einführungsgesetz zum E-1847 für die Rheinprovinzen durch. Die Erklärung für die sinngemäße Übernahme dieser Vorschriften in § 31 Pr.StGB von 1851 ist in der Einführung des Verfahrens mit Geschworenen im gesamten Königreich Preußen im Jahre 1849 zu sehen.39 Hierfür sprechen die mit Rücksicht auf die Geschworenengerichte erhobenen Bedenken in der Entwurfsgeschichte sowie die inhaltliche Entsprechung des § 31 Pr.StGB von 1851 mit der gemeinsamen Versuchsund Rücktrittsvorschrift des § 42 E-1845 und des § XIX Einführungsgesetz zum E-1847 für die Rheinprovinzen.40 36 Zu den Hintergründen dieser Forderung vgl. die vorherigen Ausführungen zum E-1843. 37 Vgl. Motive zum E-1847, S. 21 f. 38 Entwurf, 1847, S. 73, Einführungsgesetz zum E-1847 § XIX: „An die Stelle des § 40 des gegenwärtigen Strafgesetzbuches tritt folgende Bestimmung: „Der Versuch ist strafbar, wenn der Vorsatz, das Verbrechen zu verüben, in einem Anfang der Ausführung desselben offenbar geworden ist, und die Vollendung nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände verhindert worden ist [. . .].“; „[. . .] diese Sonderregelung ergänzt und modifiziert die Bestimmungen des Strafgesetzbuches über den Versuch, nach den Bedürfnissen der Rheinischen Geschworenengerichte.“ 39 Vgl. dazu Abegg, Archiv CrimR, 1851, S. 343; ders., Archiv CrimR, zweites Beilage-Heft, 1851, S. 9 f. 40 Ausdrücklich erwähnt das Einführungsgesetz zum E-1847 in seinem § XIX: „diese Sonderregelung ergänzt und modifiziert die Bestimmungen [. . .] nach den Bedürfnissen der Rheinischen Geschworenengerichte.“

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

c) Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung in § 31 Pr.StGB von 1851 § 31 Pr.StGB: „Der Versuch ist nur dann strafbar, wenn derselbe durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung enthalten, an den Tag gelegt und nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände gehindert worden oder ohne Erfolg geblieben ist.“41

Die mißverständliche Formulierung „Der Versuch ist nur dann strafbar, wenn derselbe [. . .] gehindert“ stößt in der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts auf erhebliche Kritik,42 und wird unter anderem von Hälschner43 dahin gehend korrigiert, daß es nicht der Versuch, sondern die Vollendung sei, die gehindert werde. Auch nach Zachariae44 ist der Wortlaut insoweit unzutreffend, als es heißen müßte, die weitere zur Vollendung führende Ausführung werde gehindert. Nach dem Wortlaut des § 31 Pr.StGB von 1851 entsteht der staatliche Strafanspruch gegenüber dem Versuchstäter, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Einmal das Merkmal „Anfang der Ausführung“ und zum zweiten die „äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige“ Hinderung der Handlungen. Diese Versuchsfassung bestimmt somit nicht jede unvollendet gebliebene Tat, sondern nur die „unabhängig vom Willen des Thäters“ ausgebliebene Vollendung als „strafbaren Versuch“ bzw. umgekehrt betrachtet: Die Strafbarkeit des Versuchs wird durch den Rücktritt von vornherein ausgeschlossen bzw. gehemmt. Der Rücktritt in § 31 Pr.StGB wird von der Judikatur dieses Zeitraums im Sinne einer sog. (negativen) Strafbarkeitsbedingung des Versuchs interpretiert.45 Diese Auslegung bezieht die Gründe für die Nichtvollendung der Tat bereits in die Versuchsbetrachtung mit ein und die Strafbarkeit des Versuchs setzt somit auch die Verneinung eines Rücktritts voraus.46 Damit beantwortet ist noch nicht die Frage, warum die Strafbarkeit des Versuchs vom Vorliegen bzw. Nichtvorliegen des Rücktritts abhängt. Diese Diskussion ist der Rechtslehre übertragen und prägt die Versuchs- und Rücktrittsdogmatik in 41 Zit. nach Beseler, Kommentar über das StGB für die Preußischen Staaten vom 14. April 1851, 1851, S. 137. 42 Deutlich Temme, Archiv für die strafrechtlichen Entscheidungen der Obersten Gerichtshöfe Deutschlands, I, 1854, S. 267 Fn. 1: „Den Sinn dieser, den Worten nach sinnlosen Vorschrift [. . .] kann man nur errathen. Der Versuch soll an den Tag gelegt sein, und derselbe Versuch soll doch wieder gehindert sein!“. 43 Hälschner, System, I, 1858, S. 199. 44 Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627. 45 Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 588 f. 46 Das Gesetz selbst verbindet hier Versuch und Rücktritt vor der Frage nach der Strafbarkeit.

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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der Auseinandersetzung um den Strafbefreiungsgrund des Rücktritts sowie dessen Verortung im Straftatsystem bis in die heutige Zeit. Eine klare Trennung des Strafbarkeitskriteriums von den übrigen Versuchsmerkmalen wird von der Versuchs- und Rücktrittslehre des 19. Jahrhunderts noch nicht vorgenommen. Eine solche Differenzierung zwischen den Strafbarkeitsvoraussetzungen der Ebenen Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld und Strafbarkeit entwickelt sich erst im Verlaufe des nachfolgenden 20. Jahrhunderts. Dieses Fehlen einer – dem modernen Delikts- bzw. Verbrechensaufbau entsprechenden – Abstufung der einzelnen Elemente der Versuchstat muß bei der Betrachtung der zu § 31 Pr.StGB von 1851 vertretenen Ansichten berücksichtigt werden. Denn die Abgrenzung des Begriffs „Versuch“47 von dessen „Rechtsfolge“ Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit verdeutlicht die Notwendigkeit einer Unterscheidung zweier Argumentationsebenen, welche die Versuchs- und Rücktrittsdiskurse bis heute prägen: Die eine hinterfragt die Versuchs- und Rücktrittsproblematik nach Maßgabe der Verbrechensstruktur der unvollendet gebliebenen Tat (= verbrechensstruktureller Delikts- bzw. Verbrechenstatbestand von Versuch und Rücktritt). Die andere konzentriert sich auf die Folge des Rücktritts für die Strafbarkeit des Versuchs und damit auf die Bestimmung seines Standorts im Straftatsystem (= Rechtsfolgenebene).48 Im folgenden soll die Charakterisierung des Rücktritts in § 31 Pr.StGB als sog. (negative) Strafbarkeitsbedingung des Versuchs näher untersucht werden, auch um einen Vergleich zu den in der heutigen Rücktrittsdogmatik vertretenen – zuweilen gleichlautenden – Termini technici zu ermöglichen. d) Die „Rechtstheorien“ des 19. Jahrhunderts: Die Synthese von Versuch und Rücktritt Zachariae gilt mit seiner „Rechts- bzw. Annullationstheorie“ als Hauptvertreter der heute überwiegend für obsolet gehaltenen sog. „Rechtstheorien“. Den Ansätzen dieses Meinungsspektrums wird dabei vorgeworfen, nach ihrer Rücktrittsthese werde der bereits manifeste Versuchstatbestand annulliert bzw. „geleugnet“.49 Nach Zachariae50 ist es „eine dem Versuche eigenthümliche Frage [. . .], welchen Einfluß die vermöge einer Willensänderung des Thäters unterblie47

Heute: Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld des Versuchs. Vgl. dazu Beling, Methodik, 1922, S. 35 Fn. 28. 49 So Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 372; Jäger, Rücktritt, 1996, S. 3 f., 63; Roxin, StrafR, AT, II, 2003, § 30 I, S. 481 f. Rnn. 11 ff.; Lilie/Albrecht LK 2003 § 24 Rn. 6. 50 Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 230. 48

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bene Vollendung des Verbrechens auf die Strafbarkeit des Versuchs ausübe“. Diese Frage beantwortet er zunächst mit der Straflosigkeit des Versuchs: der Rücktritt sei Strafaufhebungsgrund.51 Mit dem Rücktritt könne der Täter zwar nicht das „Geschehene ungeschehen“ machen,52 aber seine „Willensänderung“ führe zu einer „Annullirung des bösen Willens“ und damit zur Tilgung der Strafbarkeit des Versuchs.53 Die „Annullirung des bösen Willens“ durch den Rücktritt neutralisiert nach Zachariae jedoch nicht – wie bis heute angenommen54 – den in der Tatausführung bereits manifestierten dolus malus. Vielmehr knüpft seine Rücktrittsthese an die beim Versuch nicht mehr äußerlich umgesetzte – bloße „Vorstellung“ gebliebene – Herbeiführung der Vollendung an.55 Zachariae nimmt damit eine als „prospektiv“56 zu bezeichnende Rücktrittsperspektive ein, die mit seiner Versuchsbestimmung korrespondiert: Zur Strafbarkeit des Versuchs gehöre „theils eine äußere, dem Gesetz widersprechende Thätigkeit, theils und hauptsächlich der auf Uebertretung des Strafgesetzes gerichtete böse Wille“57. Formuliert man die „Uebertretung des Strafgesetzes“ bei Zachariae modern als „Vollendung“, dann ist es der die Vollendung umfassende „böse Wille“ bzw. „Vorsatz“, der mit dem Rücktritt annulliert wird. Die Bezeichnung des Rücktritts als Strafaufhebungsgrund bei Zachariae mag mit Blick auf seine „Annullationsthese“ für das heutige dogmatische Verständnis widersprüchlich anmuten. Verständlich wird diese Charakterisierung vor dem Hintergrund der damaligen Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien eines strafbaren58 und straflosen59 Versuchs.60 Eine von der 51 Zachariae, o. Fn. 50, S. 240; bzgl. der Regelung des § 31 Pr.StGB spricht Zachariae vom Rücktritt als (gemeint ist: negative) „Bedingung der Strafbarkeit“, vgl. Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 589. 52 o. Fn. 51: „Was einmal geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden.“. 53 o. Fn. 51. 54 So u. a. von Meyer, StrafR, 1888, S. 264, Fn. 43; Hälschner, StrafR, 1881, S. 360, Fn. 3; Lang-Hinrichsen, o. Fn. 49; aus der heutigen Rücktrittsliteratur vgl. o. Fn. 49. 55 Nach Zachariae, o. Fn. 50, S. 241, werde der vorhanden gewesene Wille (die Vollendung herbeizuführen, Anmerkung der Verfasserin) dort „annullirt“, wo „der Handelnde mitten auf der betretenen Bahn stehen bleibt und den seine bisherigen Schritte leitenden Willen ändert oder aufgiebt“. 56 Zum Begriff beim Versuch vgl. Streng, ZStW 109 (1997), S. 862 ff. (871). 57 o. Fn. 51. 58 Versuch ohne Rücktritt. 59 Versuch mit Rücktritt. 60 Vgl. Goltdammer, Mat, I, 1851, S. 245; bei Hälschner, System, I, 1858, S. 202, offenbart sich die Kategorie „strafloser“ Versuch in der grammatikalischen Unstimmigkeit „rücksichtlich der Straflosigkeit des freiwilligen Rücktritts vom Versuche“;

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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Strafbarkeitsebene getrennte Spezifizierung des tatbestandlichen, rechtswidrigen oder schuldhaften Versuchs wie nach dem modernen Straftatsystem ist für die Rechtslehre dieses Zeitraums noch nicht möglich. Aufgrund dieser übergreifenden Betrachtung des Versuchs als „strafbarer Versuch“ tilgt nach Zachariae der Rücktritt die Strafbarkeit des Versuchs. Dem nach einem Rücktritt verbleibenden Versuchsabschnitt als dem „bereits Geschehenen“ kommt bei ihm somit die Bedeutung des „straflosen“ Versuchs zu.61 Hälschner62 verlangt als „wesentliches Erfordernis des Versuchs, daß die Vollendung zufällig verhindert worden“ sei. Bei ihm erscheint das in § 31 Pr.StGB statuierte Merkmal „nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände“ folglich noch63 in der Umschreibung als „Zufall“. Die auf einem Zufall beruhende Vollendungsverhinderung schließt zugleich das Vorliegen eines Rücktritts des Täters aus. Da auch Hälschner einem Ungeschehenmachen der „bereits geschehenen“ Versuchshandlung ausdrücklich widerspricht, ist es die für eine Vollendung der Tat noch notwendige Versuchshandlung, der nach seiner Rücktrittsthese die „Bedeutung als Versuch“ und damit die Strafbarkeit entzogen werde.64 Bei Köstlin65 schließlich erhält die unvollkommen gebliebene äußere Handlung den „Charakter als Versuch“ erst durch die auf den „gesammten Tatbestand“ gerichtete „Absicht“. Dieser äußeren Handlung werde der „Charakter des Versuchs“ dann entzogen, „sobald der Thäter die das Wesen darin ausmachende Absicht freiwillig wieder aufgiebt.“66 Die „freiwillige Aufgabe der Absicht“ bei Köstlin entspricht Zachariaes „Willensänderung“; während jener den Rücktritt als Strafaufhebungsgrund bezeichnet, formuliert Köstlin diesen umgekehrt als „Bedingung der Straflosigkeit“ des Versuchs.67 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Bezeichnungen des Rücktritts als Strafaufhebungsgrund bzw. als Bedingung der Straflosigkeit des Versuchs nach den Rechtstheorien nicht den heutigen gleichlautenden Termini technici entsprechen. Die zu § 31 Pr.StGB vertretene Charakterisierung des Rücktritts als (negative) Strafbarkeitsbedingung des Versuchs erfolgt vielmehr vor dem Hintergrund der allgemeinen Kategorien strafbarer ebenso Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 246: „die Straflosigkeit des freiwilligen Abstehens von der Vollendung“. 61 Vgl. Zachariae, o. Fn. 60. 62 Hälschner, o. Fn. 60, S. 200. 63 Den Begriff „Zufall“ verwenden die Versuchsvorschriften der §§ 40–42, II, Tit. 20 des ALR. 64 Vgl. Hälschner, o. Fn. 60, S. 199 f. 65 Köstlin, System, I, 1855, S. 231. 66 o. Fn. 65. 67 o. Fn. 65, S. 240.

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

und strafloser Versuch. Dabei ermitteln die Rechtstheorien die Funktion des Rücktritts beim Versuch im Wege einer verbrechensstrukturellen Synthese beider Rechtsinstitute. Dieser „Gesamtbetrachtung“ liegt ein Versuchsbegriff zugrunde, der neben der bereits manifestierten Versuchshandlung auch jenen überschießenden Tatabschnitt miteinbezieht, der „bloße Vorstellung“ geblieben ist: die unmittelbare Ausführung der Vollendung oder kurz: die Vollendungshandlung. Deutlich wird diese Versuchsperspektive in der Kritik Zachariaes68 und Hälschners69 zum Wortlaut des § 31 Pr.StGB, wenn sie betonen, daß nicht der Versuch, sondern die Vollendung gehindert werde. Mit Blick auf das Rücktrittsgeschehen läßt sich die Sichtweise der Rechtstheorien dann in dem Sinne formulieren, daß der Täter nicht vom Versuch, sondern von der – anvisierten – Vollendung zurücktritt. Diese „Abstandnahme von der Vollendung“ definiert Zachariae als „Annullirung des bösen Willens“70 und beschreiben Köstlin und Hälschner allgemein in der Weise, daß mit dem Rücktritt der „Charakter des Versuchs“71 entzogen werde. Dieser Versuchscharakter mitumfaßt das Merkmal der „Strafbarkeit“ des Versuchs, so daß der Rücktritt nicht den Versuchstatbestand im heutigen Sinne,72 sondern den „strafbaren“ Versuchstatbestand tilgt. Die nach einem Rücktritt in der Außenwelt verbleibende Versuchshandlung wird von der Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts als „strafloser“ Versuch klassifiziert.73 e) Exkurs: Die Versuchs- und Rücktrittsregelung des § 31 Pr.StGB von 1851 und das Prozeßrecht Nach § 31 Pr.StGB ist der Versuch nur dann strafbar, wenn ein Rücktritt zu verneinen ist. Diese Bedeutung des Rücktritts als negative Strafbarkeitsbedingung des Versuchs beeinflußt die prozeßrechtliche Frage der Beweislastverteilung:74 Genügt für eine Anklage wegen Versuchs, daß die Klägerseite lediglich den Nachweis des „Anfangs der Ausführung“ erbringen muß, dann obliegt dem Angeklagten der sog. Defensionalbeweis eines Rücktritts.75 Bei einer solchen Beweislastverteilung kommt dann dem Täter die Hauptlast beim Vorbringen der ihn zwar begünstigenden – aber schwerer zu 68

Vgl. Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1869, S. 627. Vgl. Hälschner, System, I, 1858, S. 200. 70 Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 240. 71 Köstlin, System, I, 1855, S. 231; Hälschner, o. Fn. 69, S. 199. 72 Wie die Kritik den Rechtstheorien vorwirft, vgl. o. Fn. 49. 73 Vgl. Goltdammer, Mat, I, 1851, S. 245; Hälschner, o. Fn. 69, S. 202; Zachariae, o. Fn. 70, S. 246. 74 Vgl. Zachariae, o. Fn. 70, S. 260. 75 Goltdammer, o. Fn. 73, S. 259. 69

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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beweisenden – Tatsache zu, daß er „freiwillig“ von der Vollendung abgestanden ist. Insofern aber der Rücktritt in § 31 Pr.StGB als negative Strafbarkeitsbedingung des Versuchs aufzufassen sei, sollen die den Ausschluß dieses Merkmals begründenden Umstände dem sog. Anschuldigungsbeweis unterfallen.76 Eine umgekehrte Beweislastverteilung glaubte man nur bei einer gesetzlichen Trennung von Versuch und Rücktritt in eigenständigen Regelungen vornehmen zu können.77 Zu § 31 Pr.StGB von 1851 muß die Anklage wegen Versuchs folglich auch klären, ob die Tat „nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände gehindert“ worden sei.78 Die Unsicherheiten bei der Beurteilung des hier negativ umschriebenen Merkmals „freiwillig“79 liegen somit beim Anschuldigungsbeweis. Eine plausible Beweisführung ist vor allem wegen des Verfahrens mit Geschworenen von Bedeutung. Diesen Hintergrund verdeutlicht der von Goltdammer80 kommentierte Rechtsfall: Hier fügten die Geschworenen der Bejahung des Tötungsvorsatzes (der Täter hatte auf seine Frau geschossen, diese aber verfehlt) den Zusatz an: „es ist jedoch nicht erwiesen, daß er nur durch äußere u.s.w. Umstände verhindert ist.“ Der Angeklagte mußte daraufhin freigesprochen werden.81 Um solche durch die Fassung des § 31 Pr.StGB provozierten ‚Fehlurteile‘ zu vermeiden, fordert man vereinzelt82 eine modifizierte Anwendung des Gesetzes im Verfahren mit Geschworenen: Wenn es sich um einen „Fehlschlag“ handelt, sollten die Worte „und durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände gehindert worden oder ohne Erfolg geblieben ist“ von den Geschworenen als nicht vorhanden betrachtet werden. Die prozeßrechtlichen Mißhelligkeiten83 bei der Anwendung des § 31 Pr.StGB im Verfahren mit Geschworenen werden in den Entwürfen zum 76 Nach Goltdammer, o. Fn. 73, S. 260, muß somit der Angeklagte den Gegenbeweis des „freiwilligen Abstehens“ nur dann antreten, wenn der Anschuldigungsbeweis gelingt. Vgl. ferner dazu Herzog, Rücktritt, 1889, S. 204. 77 Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 589; Goltdammer, o. Fn. 76. 78 Vgl. Goltdammer, o. Fn. 75. 79 Berner, Grundsätze, 1861, S. 16. 80 Goltdammer, Archiv Pr.StrafR, 1860, Rechtsfall, S. 618 f. 81 Goltdammer, o. Fn. 80, S. 619: „Durch den Wahrspruch sei zwar der Vorsatz des Angeklagten, seine Ehefrau durch einen Schuß tödten zu wollen, festgestellt, dagegen der strafbare Versuch nach §. 31. [. . .] nicht, weshalb auch eine Bestrafung des Angeklagten wegen des in der Absicht zu tödten auf seine Frau abgefeuerten Schusses nicht erfolgen könne.“ 82 Berner, o. Fn. 79, S. 15. 83 Insbesondere der hier beispielhaft dargestellte Rechtsfall von Goltdammer wird in den Verhandlungen zum Entwurf II des StGB für den Norddeutschen Bund, dem

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

StGB für den Norddeutschen Bund, dem späteren RStGB von 1871, die maßgeblich diskutierten Motive für die Trennung von Versuch und Rücktritt im Gesetz sein.

2. Andere Partikulargesetzgebungen Ein ergänzender Blick auf weitere Partikulargesetze zu Versuch und Rücktritt sowie die Entwürfe von Kleinschrod und Feuerbach soll diesen Problemkreis abschließen. Die Darstellung kann hierbei auf einen kursorischen Überblick beschränkt werden, da die Diskussion zum RStGB – wie anschließend gezeigt werden wird – auf der Grundlage der rücktrittsabhängigen Versuchsregelung Preußens geführt worden ist. In Kleinschrods Entwurf84 für die kurpfalzbaierischen Staaten von 1802 ist der Rücktritt eigenständig in § 57 geregelt. Die Bestimmung lautet: „Wenn aber in der Folge dieses Gesetzbuches die Strafe des Versuchs bestimmt wird, so ist dieß nur von jenem Versuche zu verstehen, welcher gegen den Willen des Urhebers unvollendet blieb.“. Der zeitgenössischen Gesetzgebungstechnik entsprechend überträgt auch Kleinschrod das reale Geschehen „Verbrechen“ deskriptiv in eine gesetzliche Fassung, und neben den einzelnen Versuchsgraden (§§ 52–56) erhält auch der Rücktritt ebenso wie im preußischen ALR eine separate Regelung. Deutlich wird bei Kleinschrods Rücktrittsformulierung die damalige Kategorie des bei einem Rücktritt von vornherein „straflosen Versuchs“, da die Versuchsstrafbarkeit nur für jenen Versuch gilt, „welcher gegen den Willen des Urhebers unvollendet blieb“. Mithin verbindet auch Kleinschrod Versuch und Rücktritt, bevor er die Frage nach der Strafbarkeit des Versuchs stellt und schreibt dem Rücktritt zumindest keine nachträglich wirkende Strafaufhebungsfunktion zu. Sprachlich ungenau ist seine Formulierung insoweit, als nach ihr der Rücktritt zur „Unvollendung“ des Versuchs und nicht zum Ausbleiben der Vollendung führt bzw. diese hindert, wie Zachariae und Hälschner später zutreffend den Wortlaut des § 31 Pr.StGB von 1851 korrigieren. Das Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern von 181385 normiert ebenso wie das preußische ALR einzelne Versuchsgrade mit spezifischen Strafzumessungen (Art. 60–64). Der Rücktritt wird in Art. 58 wie folgt geregelt: „Der Versuch ist von aller Strafe frei: wenn der Handelnde an der Vollbringung nicht durch äussere Hindernisse, durch Unvermögenheit oder Zufall verhindert wurde, sondern freiwillig, aus Gewissensregung, Mitleid oder späteren RStGB von 1871, als Argument gegen die rücktrittsabhängige Versuchsregelung des § 31 Pr.StGB angeführt, vgl. Herzog, o. Fn. 76, S. 203 f. 84 Kleinschrod, Entwurf, 1802. 85 Strafgesezbuch für das Königreich Baiern, 1813.

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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auch Furcht vor Strafe von dem Unternehmen abgestanden ist; welches leztere jedoch nicht vermuthet wird. [. . .].“. In Art. 59 erscheint ausdrücklich der „straflose Versuch“, der bei solchen Verbrechen, „worauf Todes- oder Kettenstrafe, Zucht- oder Arbeitshaus gesezt ist“, noch die Anordnung besonderer persönlicher Polizeiaufsicht zur Folge hat. Eine lediglich strafaufhebende Wirkung des Rücktritts läßt sich auch diesen Vorschriften nicht entnehmen. Während die Rücktrittsnorm im ALR dem Täter nur die Möglichkeit einer Begnadigung gewährt, ist nach dem StGB des Königreichs Baierns der Versuch bei einem Rücktritt des Täters bereits „von aller Strafe frei“. In seinem Strafgesetzentwurf für das Königreich Bayern von 182486 hält Feuerbach trotz erheblicher Kritik87 an der Einteilung in Versuchsgrade fest und revidiert den vorgenannten Art. 58 ohne eine materiellrechtliche Änderung folgendermaßen: „Wenn die Vollendung des Verbrechens nicht bloß durch Untauglichkeit der gebrauchten Mittel und Werkzeuge oder durch Zufall, Gewalt und andere äußere Ursachen verhindert oder vereitelt wird, sondern der Verbrecher aus eigenem Antriebe, aus Mitleid, Reue oder auch Furcht vor Strafe sein Unternehmen aufgibt, so ist derselbe, [. . .], keiner Strafe unterworfen.“. Die in Art. 59 des bayerischen Strafgesetzbuchs angeordnete Polizeiaufsicht ist im Entwurf Feuerbachs ersatzlos weggefallen, vermutlich weil er sie für keine dem Strafgesetz unterfallende Norm hielt.88 Vor dem Hintergrund seiner Theorie des psychologischen Zwangs sieht Feuerbach die Rechtfertigung für die Straflosigkeit des Versuchs, wenn der Täter zurücktritt, zunächst in kriminalpolitischen Gründen: „Läßt der Staat den Menschen nicht ungestraft die schon unternommene Tat bereuen, so nötigt er gewissermaßen, das Verbrechen zu vollenden“89. Diese Aussage mag auf den ersten Blick mit der heutigen kriminalpolitischen Begründung des strafbefreienden Rücktritts übereinstimmen. Sie allein in diesem Sinne zu verstehen, würde jedoch zu kurz greifen. Denn Feuerbach spricht hier nur aus, was zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast schon unstrittig geworden ist, nämlich daß der Rücktritt die Straflosigkeit des Versuchs und nicht dessen bloße Strafmilderung bedingt oder, wie noch im ALR kodifiziert, lediglich die Aussicht auf Begnadigung eröffnet.90 Vielmehr legt seine ursprüngliche Entwurfsfassung über den „nächsten91 Versuch“ in Art. 23 die Ansicht nahe, daß auch Feuerbach einer Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt zuneigte: „Ein nächster Versuch ist 86 87 88 89 90 91

Vgl. Schubert, Feuerbachs Entwurf, S. 250 f. o. Fn. 86, S. 145. o. Fn. 86, S. 146. o. Fn. 86, S. 146 m. w. N. Vgl. auch o. Fn. 86, S. 146. heute: beendeten.

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

vorhanden, wenn zwar der Verbrecher diejenige Handlung, mittels welcher seinerseits das Verbrechen zur Wirklichkeit gebracht werden sollte, vollkommen geendigt hat, jedoch entweder I, die zum Wesen der vollendeten Tat gehörige Wirkung zufällig ausgeblieben oder durch einen Dritten verhindert worden ist [. . .]“92. Das „zufällige“ Ausbleiben der Tatvollendung bzw. ein „Nicht-Rücktritt“ ist auch ein Begriffsmerkmal der (strafbaren) Versuchsstadien im preußischen ALR, wie dort führt hier umgekehrt der Rücktritt des Täters zur Verneinung einer Strafbarkeitsvoraussetzung des konkreten Versuchsstadiums. Die graduelle Verbrechens- und Versuchseinteilung positiviert auch das Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Baden von 184593. Dessen Unterscheidung zwischen „nicht beendigtem“ und „beendigtem“ Versuch hat Auswirkungen auf die Honorierung eines Rücktritts, denn das Straflosigkeitsprivileg ist nur beim nicht beendigten Versuch vorgesehen, § 117: „(Freiwilliges Aufgeben des versuchten Verbrechens): Hat der Thäter nach einem nicht beendigten Versuche das Verbrechen freiwillig wieder aufgegeben, so sind die Versuchshandlungen als solche straflos. [. . .]“. § 107, der nach seiner Überschrift den „beendigten Versuch“ beschreibt, enthält wie die Versuchsregelungen des preußischen ALR eine implizite Rücktrittsregelung: „(Beendigter Versuch): Hat der Thäter Alles gethan, was von seiner Seite zur Vollendung des beabsichtigten Verbrechens nothwendig war, ist jedoch der zum Begriffe des vollendeten Verbrechens erforderliche Erfolg durch andere dazwischen getretene Umstände, welche ihren Grund nicht in seinem Willen, noch in seiner eigenen Handlungsweise hatten, abgewendet worden, so ist die That als beendigter Versuch des beabsichtigten Verbrechens zu bestrafen.“. Im Umkehrschluß ergibt sich aus dem gesetzlichen Erfordernis des vom Täterwillen unabhängigen Ausbleiben des Erfolges, daß ein Rücktritt zum hier maßgeblichen Zeitpunkt zur Verneinung des Vorliegens eines beendigten Versuchs und somit zur Anwendung des § 117 (Rücktritt beim nicht beendigten Versuch) mit der Straflosigkeitswirkung führt. Mithin ist in § 107 eine Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt normiert. Der Zeitpunkt, auf den § 107 abstellt, ergibt sich aus der Zusammenschau mit § 118, der den Rücktritt beim beendigten Versuch im Sinne einer Tätigen Reue als bloßen Strafmilderungsgrund normiert: „(Abwenden des Erfolgs durch den Thäter): Hat der Thäter nach beendigtem Versuche das Eintreten des strafbaren Erfolgs selbst abgewendet und das Verbrechen freiwillig wieder aufgegeben, so gilt dieß als Strafmilderungsgrund.“. Hintergrund dieser Regelung ist die damalige Kategorie der „beendigten Unternehmung“, welche im Gesetzestext Badens aus Gründen der Verein92 93

Wortlautwiedergabe nach o. Fn. 86, S. 250 Fn. 28. Zit. nach Thilo, StGB für das Großherzogtum Baden, 1845.

I. Die rücktrittsabhängige Versuchsregelung

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heitlichung94 als „beendigter Versuch“ erscheint. Wie sich aus § 107 ergibt, unterfallen diesem „beendigten“ Versuch jedoch weniger Tathandlungen als dem heutigen „beendeten“ Versuch. Denn solange der Täter seine – wenn auch schon abgeschlossene – Handlung noch neutralisieren kann, wird der Versuch als nicht beendigt angesehen. Ein Beispiel hierfür wäre das Entschärfen der bereits entsicherten Bombe durch den Täter (dann Fall des § 117), während die Rettung des Opfers durch den Täter nach Explodieren der Bombe lediglich ein Abwenden des (Todes-)Erfolges (§ 118) darstellt. Abschließend erwähnenswert sind noch die Versuchs- und Rücktrittsregelungen des Strafgesetzbuches für das Königreich Sachsen von 185595, die als einzige der hier vorgestellten Bestimmungen für eine dogmatische bzw. strukturelle Trennung von Versuch und Rücktritt sprechen können. Denn die Vorschriften zum Versuch (Art. 39–43) enthalten keine Formulierungen, die den Rücktritt als (negatives) Versuchs- bzw. Versuchsstrafbarkeitsmerkmal erscheinen lassen. Ebenso wie im vorgenannten § 117 des StGB Badens kennt auch das sächsische StGB nur einen Rücktritt beim „nicht beendigten“ Versuch, der in Art. 44 als strafloser Versuch bezeichnet wird: „Der nicht beendigte Versuch eines Verbrechens (Art. 40) ist straflos zu lassen, wenn der Verbrecher sein Vorhaben, ohne an der Ausführung desselben durch äußere Umstände gehindert worden zu sein, gänzlich wieder aufgegeben hat. [. . .]“. Ein Rücktritt beim „beendigten“ Versuch, der damaligen „beendeten Unternehmung“, ist ausgeschlossen, da der Täter bereits alles aus seiner Sicht zur Herbeiführung der Tatvollendung Erforderliche getan hat und „sein Vorhaben nicht mehr wieder aufgeben“ könne.96 Statt Straflosigkeit nach Art. 44 kommt lediglich eine Strafmilderung nach Art. 42. 1), die Bestrafung wie ein nicht beendigter Versuch, in Betracht. Aber auch den Versuchs- und Rücktrittsregelungen des sächsischen StGB läßt sich nicht entnehmen, daß der Rücktritt als nachträglich wirkender Strafaufhebungsgrund fungiert. Für die hier vertretene These einer im 19. Jahrhundert vorherrschenden Gesamtbetrachtung von strafbarem Versuch und Rücktritt jenseits des Strafbarkeitskriteriums vermag schließlich auch der Wortlaut des Art. 44 zu sprechen, wonach der nicht beendigte Versuch bei einem Rücktritt straflos zu lassen ist.

94 95 96

Vgl. o. Fn. 93, Anmerkung zu § 107, S. 137. StGB für das Königreich Sachsen, 1855. Vgl. o. Fn. 95, Anm. zu Art. 44.

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

II. Die Versuchs- und Rücktrittsregelung in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 § 43 RStGB lautet: „Wer den Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben, durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens oder Vergehens enthalten, bethätigt hat, ist, wenn das beabsichtigte Verbrechen oder Vergehen nicht zur Vollendung gekommen ist, wegen Versuchs zu bestrafen. Der Versuch eines Vergehens wird jedoch nur in den Fällen bestraft, in welchen das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt.“ § 46 RStGB lautet: „Der Versuch als solcher bleibt straflos, wenn der Thäter 1) die Ausführung der beabsichtigten Handlung aufgegeben hat, ohne daß er an dieser Ausführung durch Umstände gehindert worden ist, welche von seinem Willen unabhängig waren, oder 2) zu einer Zeit, zu welcher die Handlung noch nicht entdeckt war, den Eintritt des zur Vollendung des Verbrechens oder Vergehens gehörigen Erfolges durch eigene Thätigkeit abgewendet hat.“

1. Die Trennung von Versuch und Rücktritt im Gesetz: Die Kritik in den Entwürfen Der Entwurf I zu einem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, dem späteren RStGB von 1871, behält zunächst die rücktrittsabhängige Versuchsregelung des § 31 Pr.StGB noch bei. Erst mit den Verhandlungen zum Entwurf II97 werden Versuch und Rücktritt in jeweils eigenständigen Normierungen positiviert. Insbesondere der bereits erwähnte – von Goltdammer dargestellte – Rechtsfall98 (Fehlschuß) soll in den Verhandlungen zum Entwurf II als „Beweis“ dafür gedient haben, daß § 31 Pr.StGB „Unheil anrichten müsse“.99 Dieser Kommentar des „Sachsen“100 Schwarze101 dürfte die territorialen Ressentiments gegenüber Preußen verdeutlichen, denen bei der Kodifikation des StGB für den Norddeutschen Bund, dem späteren RStGB von 1871, wohl eine nicht unwesentliche Bedeutung zuerkannt werden muß. Sachsen hat – wie das RStGB – eine getrennte Versuchs- und Rücktrittsregelung 97

Vgl. Herzog, Rücktritt, 1889, S. 203 ff. (205). Vgl. Goltdammer, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 618 ff. 99 Vgl. Schwarze, in: Herzog, o. Fn. 97, S. 203 ff. (205). 100 Vgl. die polemische Äußerung von Herzog, o. Fn. 97, S. 205 Fn. 324. 101 Schwarze ist der Autor des im Rahmen dieser Arbeit u. a. verwendeten Kommentars zum RStGB von 1871, vgl. Schwarze, StGB, 1884. 98

II. Die Versuchs- und Rücktrittsregelung in §§ 43, 46 RStGB von 1871

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und die Intentionen Schwarzes „als Sachse!“102 sollen in den Entwurfsverhandlungen maßgeblich zur Trennung der Versuchs- von der Rücktrittsregelung beigetragen haben. Zunächst sind es vor allem Praktikabilitätserwägungen,103 die für die Verselbständigung beider Rechtsinstitute im Gesetz angeführt werden: Eine von der Versuchsfassung losgelöste Rücktrittsvorschrift sei mit Rücksicht auf das Gerichtsverfahren mit Geschworenen vorzuziehen104 und prozeßrechtlich zweckmäßiger.105 Für eine Anklage und Verurteilung wegen Versuchs soll als Voraussetzung genügen, daß der Täter gem. § 43 RStGB mit der „Ausführung des Verbrechens“ begonnen hat;106 den Gegenbeweis der Straflosigkeit des Versuchs wegen eines Rücktritts gem. § 46 RStGB muß der Angeklagte antreten. Die mit dieser Beweislastregelung verbundenen Schwierigkeiten, ein „freiwilliges“ Abstehen von der Vollendung vor den Geschworenen glaubhaft darlegen zu können, obliegen nun dem Versuchstäter. Neben diesen verfahrensrechtlichen Gründen für eine Trennung von Versuch und Rücktritt tritt in der Gesetzgebungsgeschichte der §§ 43 und 46 RStGB von 1871 die Frage nach der Teilnehmerstrafbarkeit bei einem Rücktritt des Täters neu hinzu.107 Nach der damals vorherrschenden Auslegung des § 31 Pr.StGB von 1851 bedingt der Rücktritt des Täters zugleich auch die Straflosigkeit des Teilnehmers.108 Dieses aus der rücktrittsabhängigen Versuchsregelung des § 31 Pr.StGB geschlußfolgerte Ergebnis wird überwiegend moniert,109 und man empfiehlt die eigenständige Normierung des Rücktritts als Strafausschließungsgrund.110 Die Positivierung des Rücktritts als Strafausschließungsgrund in § 46 RStGB soll gesetzlich klären, daß allein der Zurücktretende mit der Straflosigkeit vom Versuch zu privilegieren sei. Diese Rechtsauffassung findet in der Charakterisierung des 102

Herzog, o. Fn. 100. Vgl. dazu Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 260; ders., Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 588 f.; ferner Held, Entwurf, 1870, S. 28; Pollert, Entwurf zu einem StGB für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 19 f.; Herzog, o. Fn. 97, S. 200 m. w. N. 104 Rüdorff, StGB, 1877, § 46, Nr. 2: „Hiernach gestaltet sich namentlich die Fragestellung an die Geschworenen deutlicher“. 105 Vgl. Oppenhoff, StGB, 1871, § 46, Nr. 2; Meyer, StrafR, 1888, S. 265. 106 Oppenhoff, o. Fn. 105; Meyer, o. Fn. 105; a. A. Rüdorff, o. Fn. 104, nach dem die Rücktrittsregelung des § 46 RStGB weiterhin dem Anschuldigungsbeweis unterfällt. 107 Vgl. Binding, Entwurf, 1869, S. 77; Held, Entwurf, 1870, S. 28. 108 o. Fn. 107. 109 Vgl. Binding, o. Fn. 107; Häberlin, Kritik des Entwurfs zum StGB für den Norddeutschen Bund, 1869, S. 28; Oppenhoff, o. Fn. 105, S. 93. 110 Vgl. Held, o. Fn. 107. 103

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

Rücktritts als sog. persönlicher Strafausschließungsgrund, der den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt lasse,111 ihre dogmatische Begründung. Jene diskutierten „Motive“ fehlen jedoch in den amtlichen Motiven zur Versuchs- und Rücktrittsregelung der §§ 43 und 46 des StGB für den Norddeutschen Bund. Die Bestimmung des Rücktritts als Strafausschließungsbzw. Strafaufhebungsgrund wird hier bereits als kriminalpolitische Entscheidung des Gesetzgebers bezeichnet, ohne diese näher zu erläutern oder deren Hintergründe zu erwähnen.112

2. Versuch und Rücktritt in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 a) Die Begriffsbestimmung des Versuchs in § 43 RStGB Nach der Versuchsregelung des § 43 RStGB entsteht der staatliche Strafanspruch gegenüber dem Täter, wenn dessen Handlung den „Anfang der Ausführung“ verwirklicht hat. Im Unterschied zu § 31 Pr.StGB fehlt in dieser gesetzlichen Fassung die Erwähnung des Grundes für die Nichtvollendung der Tat. Folglich stellt sich die Frage, ob und inwieweit das Merkmal „Anfang der Ausführung“ in § 43 RStGB einen anderen gesetzlichen Versuchsbegriff impliziert als jenes in § 31 Pr.StGB statuierte. Zwei Auslegungen sind denkbar: 1. Bei einer isolierten Betrachtung der Versuchsvorschrift in § 43 RStGB läßt sich die Ansicht vertreten, daß das Gesetz bereits zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuchsbeginn eine Demarkationslinie zieht und diese als „strafbaren Versuch“ definiert. Ein solcher Versuchsbegriff umfaßt dann nur den Versuchsanfang113 und die diesem nachfolgende Ausführungshandlung ist nicht als Fortführung des Versuchsverlaufs,114 sondern als neuer Handlungsakt zu bewerten. Da der Grund, warum die Tat unvollendet geblieben ist, jedoch erst dem nach dem Versuchsanfang liegenden Tatakt zu entnehmen ist,115 definierten § 43 111 Oppenhoff, o. Fn. 105, § 46, Nr. 1; Schwarze, StGB, 1884, Exkurs X, § VII, S. 108; Rüdorff, o. Fn. 104, § 46, Nr. 4; Hälschner, StrafR, 1881, S. 362; v. Liszt, StrafR, 1888, S. 204. 112 Vgl. beispielhaft Höinghaus, StGB für den Norddeutschen Bund mit den vollständigen amtlichen Motiven, 1870, S. 68. 113 Vgl. die Begriffsbestimmung des Versuchs bei v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 114 So die Begriffsbestimmung des Versuchs bei Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 230, 240 f.; ders., Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627. 115 Der Versuchstäter überschreitet die „Grenze“ zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn (= Versuchsanfang) und erst in der nachfolgenden Ausführungshandlung offenbart sich entweder ein Rücktritt oder die Fortführung der Tat wird

II. Die Versuchs- und Rücktrittsregelung in §§ 43, 46 RStGB von 1871

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RStGB von 1871 und § 31 Pr.StGB von 1851 zwei unterschiedliche Versuchsbegriffe: Nach § 43 RStGB ist die unmittelbare Ausführung der Vollendung (Vollendungshandlung) kein Element des Versuchsbegriffs, weil die Gründe für die Nichtvollendung der Tat nicht mehr der Versuchsbestimmung unterfallen. Das Merkmal „Anfang der Ausführung“ beschreibt lediglich den Versuchsanfang als „strafbarer Versuch“. Nach § 31 Pr.StGB umfaßt der Versuchsbegriff neben dem Anfang des Versuchs auch die nachfolgende Vollendungshandlung, da die Gründe für die Nichtvollendung der Tat konstitutives Merkmal der Versuchsstrafbarkeit sind. Der „Anfang der Ausführung“ mitumfaßt die Vollendungshandlung als „strafbarer Versuch“. 2. Bei der Einnahme einer ganzheitlichen Perspektive der Versuchsvorschrift in § 43 und der Rücktrittsnormierung in § 46 RStGB hingegen sind die Gründe für die Nichtvollendung der Tat Merkmal des Versuchsbegriffs: § 43 konstituiert den Beginn des strafbaren Versuchs,116 § 46 RStGB komplettiert den Versuchsbegriff um die zur Vollendung führende Ausführungshandlung. Diese Betrachtung folgte der in § 31 Pr.StGB von 1851 aufgestellten Versuchsbestimmung.117 Nach einer Wortlautauslegung kann § 46 folglich auch als Konkretisierung der fragmentarischen Versuchsvorschrift des § 43 RStGB aufgefaßt werden. Die Gesetzgebungsgeschichte der §§ 43 und 46 RStGB von 1871 spricht für eine solche Gesamtbetrachtung: Die legislatorische Trennung von Versuch und Rücktritt ist das Resultat vornehmlich prozeßrechtlicher Erwägungen und soll die Strafbarkeit der Teilnahme bei einem Rücktritt des Täters außer Frage stellen. Diese Bedingungen haben jedoch keinen Einfluß auf die Merkmalsstruktur des Versuchsbegriffs. Insofern folgen § 31 Pr.StGB von 1851 und §§ 43 und 46 RStGB von 1871 derselben Versuchsdogmatik. Der Rücktritt in § 46 RStGB von 1871 wird von der herrschenden Ansicht des hier betrachteten Zeitraums als Strafausschließungsgrund bezeichnet. Auf diese Denomination stützt sich sodann die These, der Rücktritt lasse den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt.118 Dabei umschreibt dieser „Deliktscharakter“ aus heutiger Sicht den „Haupttatcharakter“ des durch äußere Umstände gehindert. Vgl. dazu Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627; ferner Lammasch/Rubo, in: Olshausen, StGB, 1886, § 46, Nr. 27. 116 Dafür könnte die Formulierung „bleibt straflos“ in § 46 RStGB sprechen. 117 Die Rücktrittshandlung wird in den Versuchsbegriff miteinbezogen. 118 Oppenhoff, StGB, 1871, § 46, Nr. 1; Schwarze, StGB, 1884, Exkurs X, § VII, S. 108; Rüdorff, StGB, 1877, § 46, Nr. 4; Hälschner, StrafR, 1881, S. 362; v. Liszt, StrafR, 1888, S. 204.

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

Versuchs als Voraussetzung für eine Strafbarkeit der Teilnahme. Denn die Bezeichnung des Rücktritts als sog. Strafausschließungsgrund wird zur Zeit des RStGB von 1871 vor allem im Zusammenhang mit der Teilnahme erörtert. Von daher ist fraglich, ob der im 19. Jahrhundert verwendete Begriff Strafausschließungsgrund auch eine Verselbständigung des Rücktrittsgeschehens festschreiben sollte. Im folgenden soll zunächst die Charakterisierung des Rücktritts als Strafausschließungsgrund näher untersucht werden. b) Die Begriffsbestimmung des Rücktritts in § 46 RStGB aa) Der Begriff „Strafausschließungsgrund“ im 19. Jahrhundert Das Strafrecht sieht unter bestimmten Umständen vor, daß die Strafbarkeit der Handlung ausgeschlossen sein soll. Der hierauf verwandte Terminus „Strafausschließungsgrund“ sorgt vermutlich noch bis heute119 für bei weitem mehr Unklarheiten als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Bezeichnung „Strafausschließungsgrund“ nimmt im materiellen Recht des RStGB von 1871 die Funktion einer allgemeinen Bezeichnung dafür ein, daß beim Vorliegen spezifischer Voraussetzungen die Tat ohne Ahndung bleibt.120 Neben der Unzurechnungsfähigkeit121 behandelt das Gesetz auch die Verjährung122 begrifflich als sog. Strafausschließungsgrund. Das Prozeßrecht des 19. Jahrhunderts folgt demgegenüber einer anderen Terminologie und differenziert zwischen sog. Schuldausschließungsgründen und sog. Strafausschließungsgründen. Die Schuldausschließungsgründe hemmen bzw. schließen die Strafbarkeit von vornherein aus, die Strafausschließungsgründe heben die bereits vorhandene Strafbarkeit der Handlung ex post wieder auf.123 So wird z. B. die Unzurechnungsfähigkeit im Verfahrensrecht als Schuldausschließungsgrund bezeichnet, während sie nach der Terminologie des RStGB ein Strafausschließungsgrund ist. Diese inhaltlichen Diskrepanzen der im RStGB allgemein als Strafausschließungsgründe benannten Tat- bzw. Täterumstände werden zwar in der Rechtslehre124 und den Kommentaren125 als solche benannt, die Behand119

Vgl. Bloy, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 13 ff.

(20). 120

Vgl. den 4. Abschnitt im RStGB von 1871: „Gründe, welche die Strafe ausschließen oder mildern“. 121 § 51 RStGB von 1871. 122 § 66 RStGB von 1871. 123 Vgl. Meyer, StrafR, 1888, S. 311 Fn. 2. 124 o. Fn. 123.

II. Die Versuchs- und Rücktrittsregelung in §§ 43, 46 RStGB von 1871

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lung spezifischer Problemkonstellationen läßt jedoch eine hinlängliche Differenzierung zwischen den die Ebenen Schuld und Strafbarkeit betreffenden Ausschlußgründen vermissen.126 Es bleibt somit zu überprüfen, welche Bedeutung die Charakterisierung des Rücktritts als Strafausschließungsgrund durch die Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts hatte. bb) Der Rücktritt in § 46 RStGB von 1871 als sog. Strafausschließungsgrund Die in § 46 RStGB positivierten Voraussetzungen für die Straflosigkeit des Versuchs werden als „Rücktritt“ beim unbeendeten Versuch und als „Thätige Reue“ beim beendeten Versuch bezeichnet und voneinander abgesetzt. Ausdrücklich wird zur Zeit des RStGB von 1871 nur die sog. „Thätige Reue“ in Absatz 2 als Strafausschließungsgrund behandelt.127 Den Hintergrund dieser Begriffsbestimmung bildet die dogmatische Gleichsetzung mit der „Thätigen Reue“ beim vollendeten Delikt der Brandstiftung in § 310 RStGB.128 Die Rechtslehre des 19. Jahrhunderts charakterisiert den beendeten Versuch als subjektiv vollendetes Verbrechen,129 bei dem ein Rücktritt nicht mehr möglich sei. Der Täter könne lediglich noch eine „Thätige Reue“ üben. Die in § 46 Abs. 2 statuierte Strafbefreiung vom Versuch wird – wie das Strafbefreiungsprivileg der Thätigen Reue in § 310 RStGB – allein auf die kriminalpolitische Entscheidung des Gesetzgebers gestützt.130 Eine solche Auslegung ist auf den Rücktritt beim unbeendeten Versuch nicht übertragbar, und die hier einschlägige Literatur läßt eine Begründung des § 46 Abs. 1 RStGB als kriminalpolitischen Strafausschließungsgrund offen.131 Die dogmatischen Differenzen zwischen dem objektiv vollendeten Delikt der Brandstiftung und der angenommenen subjektiven Vollendung beim be125

Olshausen, StGB, 1886, S. 218 f.; Oppenhoff, StGB, 1871, S. 113 Nr. 1. Dies zeigen die Ausführungen bei Hälschner, StrafR, 1881, S. 529, und bei Meyer, o. Fn. 123, S. 313: „Wahre Schuldausschließungsgründe sind nur diejenigen, durch welche die Strafbarkeit einer jeden sonst strafbaren Handlung hinwegfällt.“. Vgl. ferner auch Schwarze, StGB, 1884, Exkurs XII, § 1, S. 159 f. 127 Vgl. Rüdorff, StGB, 1877, § 46, Nr. 4; Schwarze, StGB, 1884, Exkurs X, § VII, S. 108. 128 Vgl. Rüdorff, o. Fn. 127, § 46, Nr. 6. 129 Schwarze, o. Fn. 127, S. 111. 130 Rüdorff, o. Fn. 128. 131 Diese fehlt bis heute. Allein Stenglein, Lex. nach E-RG, II, 1900, § 46, Nn. 18, 20, S. 1696 f., leitet den Rücktritt als Strafausschließungsgrund beim unbeendeten Versuch später aus der systematischen(!) Stellung des Absatzes 1 zu Absatz 2 in § 46 RStGB her. 126

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

endeten Versuch werden nicht diskutiert. Deshalb bleiben auch die einer Vergleichbarkeit entgegenstehenden Unterschiede – die „Thätige Reue“ als gesetzliche Ausnahme bei der vorverlagerten Vollendung in § 310 RStGB und demgegenüber die grundsätzliche Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts beim Versuch – unbeachtet. cc) Die Frage nach der Strafbarkeit der Teilnahme bei einem Rücktritt des Täters Die Trennung von Versuch und Rücktritt im Gesetz und die Bezeichnung des letzteren als Strafausschließungsgrund sollen neben den verfahrensrechtlichen Weiterungen auch die ansonsten fragliche Teilnehmerstrafbarkeit bei einem Rücktritt des Täters gesetzlich klären.132 Trotz der nun eigenständigen Normierung beider Rechtsinstitute in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 bleibt weiterhin umstritten,133 ob der Rücktritt des Täters auch die Straflosigkeit der Teilnehmer zur Folge habe. In dieser Diskussion gelangen jene Ansichten,134 die eine tat- bzw. versuchsbezogene Rücktrittsperspektive einnehmen, auch zu einer Straflosigkeit der Teilnahmehandlung (= rechtstheoretischer Ansatz). Nach vorherrschender Rechtsauffassung135 soll das Rücktrittsprivileg der Straflosigkeit jedoch nur für den Zurücktretenden gelten. Um diese Ansicht rechtlich absichern zu können, wird der Rücktritt als persönlicher Strafausschließungsgrund qualifiziert.136 Eine solche täterbezogene Begriffsbestimmung impliziert die These, der Rücktritt lasse den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt (= kriminalpolitischer Ansatz).137 Der Grund für eine solche Abgrenzung des Rücktritts vom Versuch ist in der damaligen „strengen“ Akzessorietät der Teilnahme von einer schuldhaft begangenen Haupttat138 zu sehen. Da zudem die Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts noch nicht hinreichend zwischen den Ebenen Schuld und Strafbarkeit des Versuchs differenziert,139 genügt für sie nicht die bloße Bezeichnung Strafausschließungsgrund, sondern sie muß den Rücktritt explizit 132

Vgl. Binding, Entwurf, 1869, S. 77; Held, Entwurf, 1870, S. 28. Zum Meinungsstand siehe Herzog, Rücktritt, 1889, S. 261 ff. (267). 134 Olshausen, StGB, 1886, § 46, Nr. 2 ff.; Berner, StrafR, 1882, S. 188; Herzog, o. Fn. 133. 135 Oppenhoff, StGB, 1871, § 46, Nr. 1; Rüdorff, StGB, 1877, § 46, Nr. 4; Hälschner, StrafR, 1881, S. 363; v. Liszt, StrafR, 1888, S. 204; wohl auch Meyer, StrafR, 1888, S. 265. 136 Vgl. Rüdorff, o. Fn. 135. 137 Vgl. beispielhaft Schwarze, StGB, 1884, Exkurs X, § VII, S. 108. 138 Dazu u. a. Olshausen, StGB, 1886, § 52, Nr. 1. 139 Man unterscheidet nur zwischen einem strafbaren und straflosen Versuch, vgl. o. I.1.d). 133

II. Die Versuchs- und Rücktrittsregelung in §§ 43, 46 RStGB von 1871

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zum persönlichen Strafausschließungsgrund erklären, um trotz eines Rücktritts des Täters die (Versuchs-)Haupttat bejahen zu können. (1) Die Gesamtbetrachtung bzw. der rechtstheoretische Ansatz zu Versuch und Rücktritt: Die tatbezogene Rücktrittsperspektive Jene Ansichten, die den Strafbefreiungsgrund des Rücktritts im Wege einer Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt bzw. „rechtstheoretisch“ erklären, gelangen auch zu einer Straflosigkeit der Teilnahmehandlung, wenn der Täter zurücktritt. Die Einnahme einer tat- bzw. versuchsbezogenen Rücktrittsperspektive bedingt folglich auch die Aufhebung des teilnahmefähigen Haupttatcharakters des Versuchs. Für Olshausen,140 Berner141 und Herzog142 ist bereits aus der Akzessorietät der Strafbarkeit der Teilnahmehandlung mit Versuchsbeginn des Täters e contrario auch deren Straflosigkeit zu schlußfolgern, wenn der Haupttäter zurücktritt. Bei Olshausen wird der Rücktritt als objektiv wirkender Strafausschließungsgrund bezeichnet,143 der die „Folge“ der Strafbarkeit der Versuchshandlung aufhebe.144 Olshausen setzt mit seiner Begriffsbestimmung145 sowie dem Argument der Straflosigkeit der Teilnahmehandlung bei einem Rücktritt des Täters somit beim Versuch nicht nur eine schuldhaft,146 sondern auch eine strafbar begangene Haupttat voraus. Berner147 definiert den Rücktritt als Bedingung der Straflosigkeit des Versuchs, welcher der Versuchshandlung den „Versuchscharakter“ wieder entziehe.148 Bei ihm bleiben die Teilnehmer mangels Versuchscharakters straflos, auch er verlangt folglich einen strafbaren Versuch als teilnahmefähige Haupttat. Für Herzog149 schließlich ist das beim Versuch „zur Cognition kommende Gesamtverhalten des Thäters [. . .] keine strafbare Handlung“, wenn ein Rücktritt vorliegt.150 Einem solchen Versuch fehlt nach seiner Ansicht die „Vollendungspotenz“ als Voraussetzung der Strafbarkeit. Da für 140

Olshausen, o. Fn. 138, § 46, Nr. 2. Berner, StrafR, 1882, S. 188. 142 Von Herzog, Rücktritt, 1889, S. 361, als sog. „qualitas adiecticia“ des deutschen Reichsrecht bezeichnet. 143 o. Fn. 140, Nr. 7. 144 o. Fn. 140, Nr. 6. 145 o. Fn. 140, Nr. 4. 146 Wie ansonsten anerkannt, vgl. Olshausen, o. Fn. 138, § 52, Nr. 1. 147 Berner, StrafR, 1882, S. 179 f. In der 17. Auflage aus dem Jahr 1895 läßt Berner die Teilnahmefrage beim Rücktritt unerörtert. 148 o. Fn. 147, S. 186. 149 Herzog, Rücktritt, 1889, S. 184. 150 o. Fn. 149, S. 184, 261. 141

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

ihn die strafbare Versuchshandlung zugleich auch konstitutives Merkmal der Strafbarkeit der Teilnahme ist, bleibt diese bei einem Rücktritt des Täters straflos.151 Eine Differenzierung zwischen der Schuld und der Strafbarkeit des Versuchs nimmt Herzog – wie Olshausen und Berner – nicht vor. Deshalb bewirkt nach ihnen der Rücktritt – obgleich begrifflich auf die Strafbarkeit und nicht auf die Schuld bezogen – neben der Straflosigkeit des Versuchs beim Täter auch die Straflosigkeit der Teilnehmer. Da die damalige „strenge“ Akzessorietät der Teilnahme eine schuldhaft begangene Tat voraussetzt und dieser „Haupttatcharakter“ bei einem Rücktritt des Täters von den hier vorgestellten Ansichten verneint wird, beschreiben sie nach heutigem dogmatischen Verständnis den Rücktritt inhaltlich als Schuldausschließungs- bzw. Schuldaufhebungsgrund. Auf der Grundlage der limitierten Akzessorietät der Teilnahme von einer vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat liegt des weiteren die Einordnung des Rücktritts als negatives Tatbestandsmerkmal des Versuchs nahe, wie es – was an späterer Stelle noch ausführlich dargestellt wird – Reinhard von Hippel im 20. Jahrhundert vorschlägt. (2) Die Trennung von Versuch und Rücktritt bzw. der kriminalpolitische Ansatz: Die täterbezogene Rücktrittsperspektive Nach der seinerzeit überwiegenden Ansicht152 soll das Rücktrittsprivileg der Straflosigkeit vom Versuch nur für den Zurücktretenden gelten. Um dieses Ergebnis erreichen zu können, wird der Rücktritt als persönlicher Strafausschließungsgrund153 qualifiziert. Eine solche täterbezogene Rücktrittsperspektive erhält durch die These, der Rücktritt lasse den „Versuchscharakter“ unberührt,154 auch die entsprechende tat- bzw. versuchsbezogene Begründung. Damit ist es die Teilnehmerstrafbarkeit, welche zur Zeit des RStGB von 1871 die Trennung von Versuch und Rücktritt bedingt: Um den teilnahmefähigen „Haupttatcharakter“ des Versuchs auch bei einem Rücktritt des Täters aufrechterhalten zu können, muß die Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts den Rücktritt aus dem Versuchsbegriff explantieren. Geschuldet ist das Erfordernis dieser Verselbständigung des Rücktritts- vom Versuchsgeschehen zum einen der „strengen“ Akzessorietät der Teilnahme 151 Eine Vollendungspotenz fehle beim unbeendeten Versuch stets, beim beendeten Versuch werde diese – aus kriminalpolitischen Gründen – präsumiert; vgl. o. Fn. 149, S. 171 f., 174 f. 152 Oppenhoff, StGB, 1871, § 46, Nr. 1; Schwarze, StGB, 1884, Exkurs X, § VII, S. 108; Rüdorff, StGB, 1877, § 46, Nr. 4; Hälschner, StrafR, 1881, S. 362; v. Liszt, StrafR, 1888, S. 204. 153 Rüdorff, o. Fn. 152. 154 o. Fn. 152.

II. Die Versuchs- und Rücktrittsregelung in §§ 43, 46 RStGB von 1871

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von der schuldhaften Haupttat und zum anderen dem Umstand, daß eine Abgrenzung der Schuld- von der Strafbarkeitsebene zumindest in der Versuchsdiskussion nicht erfolgt. Daß die Trennung von Versuch und Rücktritt ausschließlich der Teilnahmeproblematik geschuldet ist, verdeutlichen die Aussagen zum Strafbefreiungsgrund des Rücktritts, wenn dieselben Autoren hier weiterhin einer Gesamtbetrachtung beider Rechtsinstitute folgen. So hebt nach Schwarze155 der Rücktritt vom unbeendeten Versuch den dolus wieder auf;156 die Thätige Reue beim beendeten Versuch mache als neuer Entschluß die Folge (der Versuchshandlung) wirkungslos.157 Bei Meyer158 läßt sich die moderne159 Aussage finden, daß im Falle eines Rücktritts „das äußere Gewicht der That, insbesondere der Eindruck, den dieselbe zu machen geeignet ist, mehr oder weniger hinwegfällt.“ Daß die Lösung des Teilnahmeproblems im Kontext der Frage nach dem Strafbefreiungsgrund des Rücktritts beurteilt werden muß, erkennt Hälschner.160 Um das Rücktrittsprivileg exklusiv dem Zurücktretenden vorbehalten zu können, bleibt ihm nur die Aufgabe seiner früheren „rechtstheoretischen“ Ansicht.161 Deutlich manifestiert sich die dogmatische Aufspaltung von Versuch und Rücktritt bei v. Liszt162: Mit dem Überschreiten der „Grenze“ zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuchsbeginn sei die Versuchsstrafe verwirkt.163 Nach v. Liszt definiert der „Augenblick“164 des Versuchsbeginns endgültig auch den „strafbaren Versuch“.165 Da die Rücktrittshandlung dem Versuchsbeginn nachfolgt, v. Liszt diesen Abschnitt aber nicht mehr in seine Versuchsbetrachtung miteinbezieht,166 155

Schwarze, StGB, 1884, Exkurs X, § VII, S. 111. Im Zusammenhang mit der Teilnahmeproblematik verneint er eine solche Synthese von Versuch und Rücktritt, vgl. o. Fn. 155, S. 108. 157 Vgl. o. Fn. 155. 158 Meyer, StrafR, 1888, S. 265. 159 Als Pendant zur heute beim Versuch vertretenen sog. „Eindruckstheorie“. 160 Hälschner, StrafR, 1881, S. 362. 161 Hälschner, o. Fn. 160, S. 360 Fn. 3, 361, erkennt den Strafbefreiungsgrund des Rücktritts nunmehr in den „Rücksichten der Billigkeit und der Criminalpolitik“. Zu seiner früheren – tat- bzw. versuchsbezogenen – Rücktrittsperspektive vgl. ders., System, I, 1858, S. 200, sowie o. I.1.d). 162 v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202 ff. (204). 163 Vgl. o. Fn. 162, S. 202. 164 o. Fn. 163. 165 o. Fn. 163. 166 Da die Versuchsstrafe bereits mit dem Versuchsbeginn verwirkt sei, vgl. o. Fn. 162, S. 202, 204. 156

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

überzeugt seine These, daß der Rücktritt nichts mehr am „Verbrechenscharakter der Versuchshandlung“ ändere.167 Das Rücktrittsprivileg der Straflosigkeit des Versuchs beruht nach ihm ausschließlich auf einer kriminalpolitischen Entscheidung des Gesetzgebers: dieser übe Strafverzicht, weil er dem Täter eine „Goldene Brücke“ zum Rückzug bauen wolle.168 Auf eine zusätzliche Bezeichnung des Rücktritts als persönlicher Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund muß v. Liszt nicht zurückgreifen. Denn seine Versuchs- und Rücktrittsperspektive spiegelt sich in der von ihm gewählten Bezeichnung wider, wenn er im Rücktritt einen Strafaufhebungsgrund erkennt.169

III. Zusammenfassung: Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert Die Rechtsinstitute Versuch und Rücktritt werden im 19. Jahrhundert in ein einheitliches Handlungskontinuum eingebettet. Der Terminus Versuch beschreibt bis zur Kodifikation des RStGB von 1871 das Durchgangsstadium170 von der Vorbereitung bis zur Einmündung in die Vollendung171 einer Straftat und mitumfaßt das Rücktrittsgeschehen als Deviation bzw. Variante des Versuchsverlaufs. Konstitutive Voraussetzung des strafbaren Versuchs ist somit der Ausschluß eines Rücktritts. Eine solche Einbeziehung des Rücktritts in die Versuchshandlung kann als dogmatische Ausprägung des Ultima-ratio-Prinzips des Strafrechts verstanden werden: Die Versuchshandlung wird erst dann für strafbar erachtet, wenn kein Rücktritt des Täters vorliegt. Anders als das ALR mit der Umschreibung „Zufall“ kennzeichnet die Versuchs- und Rücktrittsregelung des § 31 Pr.StGB von 1851 die Negativvoraussetzung eines Rücktritts mit den Worten „unabhängig von seinem Willen“.172 Da in dieser Gesetzesfassung zugleich die Straflosigkeit des Versuchs bei einem Rücktritt als Rechtsfolge positiviert ist, wird die Statuierung einer eigenständigen Strafzumessung – wie jene des § 43, II, Tit. 167

o. Fn. 166. Vgl. o. Fn. 166. 169 o. Fn. 166. 170 Diese Versuchsperspektive setzt sich in der „Stufenlehre“ des 20. Jahrhunderts fort, vgl. die Charakterisierungen des Versuchs bei v. Liszt/Schmidt, StrafR, 1932, S. 298; H. Mayer, StrafR, 1936, S. 307 ff., 312; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 90 f.; Bockelmann, Untersuchungen, 1957, S. 151; Nachweise zur „Stufenlehre“ in der modernen Rechtslehre bei Lackner/Kühl, StGB, 2004, § 22 Rn. 1. 171 Vgl. Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627: die „Fortführung bis zur Vollendung“. 172 Vgl. Goltdammer, Mat, I, 1851, S. 248 f., 256. 168

III. Zusammenfassung

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20 ALR – entbehrlich. Die zu § 31 Pr.StGB von 1851 vertretenen Begriffsbestimmungen des Rücktritts als sog. Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund173 sowie als Bedingung der Straflosigkeit des Versuchs174 sind – wie bereits erwähnt – nicht im Sinne heutiger Dogmatik zu verstehen. Denn die hierfür erforderliche Differenzierung zwischen den verschiedenen Deliktsebenen ist noch nicht vorhanden175 und deshalb bleibt – auch unter dem Eindruck der zeitgenössischen prozessualen Vorgaben176 – die Diskussion zum Versuch auf die allgemeine Beantwortung der Frage nach der Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Tathandlung beschränkt. Die dogmatischen Kategorien in dieser Auseinandersetzung bilden allein die des strafbaren und die des straflosen Versuchs. Dieser Unterscheidung folgend charakterisieren die Rechtstheorien den Rücktritt als Strafaufhebungsgrund oder Bedingung für die Straflosigkeit des Versuchs, obgleich sie inhaltlich einer verbrechensstrukturellen „Gesamtbetrachtung“ beider Rechtsinstitute folgen. Den Rechtstheorien des 19. Jahrhunderts liegt ein hier sog. vollendungsbezogener Versuchsbegriff zugrunde. Neben der Grenze zu den – seit dem E-1843 zu § 31 Pr.StGB von 1851 straflosen – Vorbereitungshandlungen mitumfaßt die Versuchshandlung auch die unmittelbar zur Vollendung führende Ausführung.177 Der Rücktritt annulliert nicht im Nachhinein den bereits manifesten Versuchstatbestand, sondern die – beim Versuch bloße Vorstellung gebliebene – Vollendungshandlung.178 Da auch dieser Abschnitt als Merkmal des Versuchs definiert wird, fehlt bei einem Rücktritt des Täters dem strafbaren Versuch ein konstitutives Moment. Damit lassen sich nach den Ansätzen der Rechtstheorien als unabdingbare Voraussetzungen für die Strafbarkeit des Versuchs die zwei Komponenten eines Versuchsanfangs und eines Versuchsendes ausmachen: Der Versuchsanfang initiiert die Versuchsstrafbarkeit, das Versuchsende beantwortet mit der Rücktrittsfrage jene nach der (endgültigen) Strafbarkeit oder Straflosigkeit des Versuchs. Weil eine Zuordnung dieser dem Versuchsende179 immanenten Rücktrittsoption zu einer dem heutigen Straftatsystem entsprechenden Deliktsebene noch nicht möglich ist, fragt z. B. Zachariae auch nur, welchen Einfluß der 173 Vgl. Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 588 f.; Schwarze, StGB, 1884, Exk. X, § 1, S. 92 f. m. w. N. 174 Vgl. Köstlin, System, I, 1855, S. 240. 175 Diese Unterschiede vernachlässigt die Kritik, so u. a. von Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 372; sowie aus der jüngeren Literatur von Jäger, Rücktritt, 1996, S. 3 f., 9, 63; Roxin, StrafR, AT, II, 2003, § 30 I, S. 481 f. Rnn. 11 ff. 176 Das Gerichtsverfahren mit Geschworenen und die Frage nach der Beweislastverteilung bei Versuch und Rücktritt, vgl. o. I.1.e). 177 Vgl. Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627. 178 Deutlich Zachariae, o. Fn. 177.

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

Rücktritt auf die Strafbarkeit des Versuchs hat.180 Der nach einem Rücktritt in der Außenwelt verbleibende Versuchsanfang erscheint bei ihm als strafloser Versuch. Diese als „ganzheitlich“ zu bezeichnende Versuchs- und Rücktrittsperspektive liegt der gesetzlichen Fassung des § 31 Pr.StGB von 1851 zugrunde und wird nach der Trennung von Versuch und Rücktritt in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 weiterhin vertreten.181 Die Fortschreibung einer „Gesamtbetrachtung“ unabhängig von der Aufspaltung beider Rechtsinstitute im Gesetz findet ihre Erklärung in den Motiven, die zur eigenständigen Normierung von Versuch und Rücktritt im RStGB von 1871 geführt haben. Die vom Rücktritt unabhängige Versuchsfassung des § 43 RStGB von 1871 ist zunächst das Resultat prozeßrechtlicher Praktikabilitätserwägungen.182 Sie soll die durch die rücktrittsabhängige Versuchsregelung des § 31 Pr.StGB von 1851 provozierte rechtliche Konfusion im Gerichtsverfahren mit Geschworenen vermeiden sowie die Beweislastverteilung zwischen Anklage und Verteidigung bei Versuch und Rücktritt klären. Als weitere und die nachfolgende Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert prägende Problematik tritt in der Gesetzgebungsgeschichte zu §§ 43 und 46 RStGB von 1871 die Frage nach der Teilnehmerstrafbarkeit bei einem Rücktritt des Täters hinzu.183 Das Fehlen einer theoretischen Abgrenzung zwischen den Ebenen Schuld und Strafbarkeit des Versuchs bedingt im 19. Jahrhundert die Unvereinbarkeit einer „Gesamtbetrachtung“ von Versuch und Rücktritt mit der vorherrschenden Rechtsauffassung zum Adressaten des Rücktrittsprivilegs: Die Straflosigkeit der Tathandlung soll nur für den Zurücktretenden gelten.184 Bei einer Einbeziehung des Rücktritts in die Versuchsbetrachtung wird jedoch auch der für eine Teilnahme notwendige „Haupttatcharakter“ der Tathandlung für annulliert erachtet.185 Um dieses Ergebnis zu vermeiden, muß die Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts den Rücktritt aus dem Versuchsgeschehen herausnehmen, um die Teilnehmerstrafbarkeit unabhängig von einem Rücktritt des Täters erörtern zu können. Diese Tren179 Nach der Lehre vom „Rücktrittshorizont“ des BGH wäre dies der „Abschluß der letzten Ausführungshandlung“, vgl. u. a. BGHSt 31, 170 f.; 33, 297 f.; 35, 91 f.; BGH NStZ 2003, 370. 180 Vgl. Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 230. 181 Vgl. o. II.2.b)cc)(1). 182 Vgl. o. Fn. 176. 183 Vgl. Binding, Entwurf, 1869, S. 77; Held, Entwurf, 1870, S. 28; Überblick zur Kodifikationsgeschichte der §§ 43 und 46 RStGB von 1871 bei Herzog, Rücktritt, 1889, S. 200 ff. (205). 184 Vgl. Binding, o. Fn. 183; Häberlin, Kritik des Entwurfs, 1869, S. 28; Held, o. Fn. 183; Oppenhoff, StGB, 1871, S. 93. 185 Näher dazu o. II.2.b)cc)(1).

III. Zusammenfassung

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nung von Versuch und Rücktritt ist mit der These verknüpft, der Rücktritt lasse den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt.186 Die damit vollzogene verbrechensstrukturelle Aufspaltung des Versuchs- und Rücktrittsgeschehens bildet das Fundament der kriminalpolitischen Begründung des Rücktrittsprivilegs sowie dessen Verortung als sog. Strafausschließungsbzw. Strafaufhebungsgrund im Straftatsystem des 20. Jahrhunderts.187 In den amtlichen Motiven zu §§ 43 und 46 RStGB von 1871 bleibt diese Diskussion um die für eine getrennte Normierung von Versuch und Rücktritt sprechenden Umstände unerwähnt. Bereits hier wird die Entwurfsgeschichte vernachlässigt188 und auf die Ansicht reduziert, der Gesetzgeber habe dem Täter mit dem Rücktritt als Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund aus kriminalpolitischen Erwägungen die Option für eine Straflosigkeit vom Versuch eröffnen wollen.189 Die Frage nach dem „Warum“ einer Rücktrittsmöglichkeit beim Versuch bleibt somit weiterhin ungeklärt.190 Die vom Gesetzgeber in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 vollzogene Gestaltung191 des Versuchs und des Rücktritts kann folglich nicht als Entscheidung der zum Rücktritt geführten Kontroverse „Rechtstheorie“ versus „Kriminalpolitik“ bzw. „Gesamtbetrachtung“ versus „Separation“ angesehen werden. Gegen eine solche Auslegung, der Gesetzgeber habe mit der Trennung beider Rechtsinstitute auch diesen Streit klären wollen,192 sprechen die Entwurfsgeschichte der §§ 43 und 46 RStGB sowie der Blick auf die theoretische Auseinandersetzung zu Art. 178 CCC193: Die Ansätze „kriminalpoliti186

Vgl. beispielhaft Hälschner, StrafR, 1881, S. 363; Schwarze, StGB, 1884, Exk. X, § XII, S. 108; v. Liszt, StrafR, 1888, S. 204. 187 Diese These etabliert sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als herrschende Meinung, Nachweise zu den Vertretern der h. M. bei Mezger, StrafR, 1949, S. 402. 188 Nur aus diesen lassen sich aber die „wirklichen“ Motive zu §§ 43 und 46 RStGB von 1871 erschließen, vgl. dazu Reinh. v. Hippel, in: Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 367 Fn. 37. 189 Vgl. Höinghaus, StGB für den Norddeutschen Bund mit den vollständigen amtlichen Motiven, 1870, S. 68. 190 Vgl. Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 38. 191 Zum Ermessen bei der Gestaltung von Versuch und Rücktritt durch den Gesetzgeber vgl. Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 372. 192 So aber später Lang-Hinrichsen, o. Fn. 191, S. 367 Fn. 37. 193 Art. 178 Constitutio Criminalis Carolina regelt Versuch und Rücktritt noch in einer Vorschrift: „Straff understandner missethat. Item so sich jemandt mit etlichen scheinlichen wercken, die zu volnbringung der missethat dienstlich sein mögen, understeht, und doch an der volnbringung derselben missethat durch andere mittel, wider seinen willen verhindert würde, solcher böser will, darauß etlich wercke, als obsteht volgen, ist peinlich zu straffen, Aber inn eynem Fall herter dann in dem andern angesehen gelegenheit und gestalt der sach.-“, Zit. nach Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 588.

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B. Versuch und Rücktritt im 19. Jahrhundert

scher“ und „rechtstheoretischer“ Provenienz markieren hier die Eckpunkte des damals umstrittenen Diskurses zur Wirkung des Rücktritts auf den (strafbaren) Versuch. Während die „rechtstheoretische“ Interpretation zu einer Strafmilderung oder Straflosigkeit gelangt, verneint eine „kriminalpolitische“ Perspektive eine solche Interdependenz zwischen Versuch und Rücktritt. Nach ihr bleibt der Versuch als solcher strafbar.194 Mit der seit dem E-1843 zu § 31 Pr.StGB von 1851 legislativen Festschreibung der Straflosigkeit des Versuchs bei einem Rücktritt ist es somit bei genauerer Betrachtung die kriminalpolitische Ansicht, welche für obsolet gehalten werden kann. Daß sie von der Rechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts und des nachfolgenden 20. Jahrhunderts weiterhin vertreten wird, ist nunmehr einem anderen Kontext geschuldet: Die im 19. Jahrhundert mit der kriminalpolitischen Rücktrittsthese mögliche „Separation“ des Versuchs- und des Rücktrittsgeschehens bildet die Voraussetzung für eine rechtliche Strukturierung der Tathandlung in voneinander unabhängige Bereiche. Eine solche – grobe – Abgrenzung vermag die peripheren Problemkonstellationen zu lösen: hier einmal die Anwendung des materiellen Rechts im Verfahren und zum zweiten die Frage nach der Teilnehmerstrafbarkeit bei einem Rücktritt des Täters. Die für die Versuchs- und Rücktrittslehre im 19. Jahrhundert noch unabdingbare Trennung von Versuch und Rücktritt in jeweils eigenständige Einzelakte verliert mit dem im 20. Jahrhundert entwickelten Delikts- bzw. Verbrechensaufbau und der Einführung der sog. limitierten Akzessorietät der Teilnahme von der rechtswidrigen Haupttat ihre ursprüngliche Dringlichkeit und Rechtfertigung.195 Von daher bleibt die Tradition einer „Gesamtbetrachtung“ beider Rechtsinstitute – nun vor dem differenzierteren dogmatischen Hintergrund des 20. Jahrhunderts – weiterhin virulent.

194

Theorienüberblick bei Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 309 ff. (320); Köstlin, System, I, 1855, S. 238 ff. (240); Herzog, Rücktritt, 1889, S. 147 ff. (160); Überblick zu den in diesem Zeitraum diskutierten Straftheorien bei Berner, StrafR, 1882, S. 6 ff. (18 f.); v. Bar, StrafR, 1882, S. 230 ff. (246), 265 ff. (269), 276 ff. (278), 284 ff. (306), 311 ff. (317). 195 Vgl. dazu auch Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 67, 67 Fn. 420.

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung in §§ 43 und 46 RStGB von 1871: Dogmengeschichtliche Retrospektive bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Der Trennung1 von Versuch und Rücktritt im RStGB von 1871 folgt eine verbrechensstrukturelle Einzelbetrachtung durch die Versuchs- und Rücktrittsdogmatik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Den Ausgangspunkt bildet die von v. Liszt2 stammende Aussage aus dem Jahr 1888: „In dem Augenblicke, in welchem die Grenzlinie zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuche überschritten wird, in demselben Augenblicke ist die auf den Versuch gesetzte Strafe verwirkt. Diese Thatsache kann nicht mehr geändert, nicht nach „rückwärts annulliert“, nicht aus der Welt geschafft werden. Wohl aber kann die Gesetzgebung aus kriminalpolitischen Gründen dem bereits straffällig gewordenen Täter eine „goldene Brücke“ zum Rückzuge bauen. Sie hat es getan, indem sie den freiwilligen Rücktritt zum Strafaufhebungsgrunde machte.“. Diese kriminalpolitische These, nach der der Rücktritt als „Strafausschließungsbzw. Strafaufhebungsgrund“3 den „Delikts- bzw. Verbrechenscharakter“4 des Versuchs unberührt lasse, etabliert sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein als herrschende Meinung. Die nachfolgende Darstellung rekonstruiert die Entwicklung des Meinungsspektrums zu Versuch und Rücktritt nach der Trennung im RStGB von 1871 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie soll vor allem der Frage 1 Zu den „amtlichen Motiven“ Höinghaus, StGB, 1870, §§ 43–46, S. 67 f.; zum – problematischen – Verhältnis zwischen Rechtssetzung und Rechtsdogmatik vgl. Beling, Methodik, 1922, S. 8 f., 17 f. 2 v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 3 o. Fn. 2; Stenglein, Lex. E-RG, 1900, II, § 46 Nr. 18, S. 1696; Wachenfeld, StrafR, 1914, S. 173, 182, 186; vom Hintergrund her auch Sauer, Grundlagen, 1921, S. 634, 637, 638; Rob. v. Hippel, ZStW 42 (1921), S. 531, Fn. 25 m. w. N.; ders., StrafR, II, 1930, S. 403, 410; Allfeld, FG-Frank, 1930, S. 77; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 315, 318; wohl auch H. Mayer, StrafR, 1936, S. 322; zunächst auch Welzel, Grundzüge, 1940, S. 99; weitere Fortschreibung bei Mezger, StrafR, 1949, S. 402 m. w. N. 4 Mit „Deliktscharakter“ ist der „strafbare Versuch“ gemeint. Vgl. die Bezeichnung des Rücktritts als „persönlicher“ Strafaufhebungsgrund bei Welzel, Grundzüge, 1940, S. 99; Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 410.

46

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

nachgehen, ob und inwieweit sich die Abspaltung des Rücktritts- vom Versuchsgeschehen auf die Wesensbestimmung des „strafbaren Versuchs“ auswirkt: Wenn §§ 43 und 46 RStGB den Rücktritt im Unterschied zu § 31 Pr.StGB von 1851 nicht als (negatives) Begriffsmerkmal des „strafbaren Versuchs“ positivieren,5 dann hätte mit der gesetzlichen Trennung beider Rechtsinstitute auch eine dogmatische Auseinandersetzung zum daraus folgenden „anderen“ Versuchsbegriff geführt werden müssen.6

1. Die Übernahme der gesetzlichen Trennung von Versuch und Rücktritt durch die Rechtslehre a) Allgemeine Vorüberlegungen: Die Interdependenz zwischen der Einordnung des Rücktritts im Straftatsystem und dem Begriff „strafbarer Versuch“7 Das „lebensweltliche“ Tatgeschehen, welches dem (nicht)vollendeten Verbrechen zugrundeliegt, ist durch einen kontinuierlichen Handlungsstrang8 gekennzeichnet. Die rechtlichen Kategorien Versuch und Rücktritt erscheinen als Tathandlungsmodi zwischen der Vorbereitungshandlung und der (Nicht)Vollendung (siehe Übersicht 2, S. 47).

5 So die h. M. dieser Zeit vgl. Schwarze, StGB, 1884, Exk. X, § I, S. 92 f.; Stenglein, Lex. nach E-RG, II, 1900, § 46 Nr. 18, S. 1696; v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 316. Bezweifelt wird von einer Ansicht weiterhin, ob §§ 43, 46 RStGB von 1871 überhaupt eine Änderung gegenüber § 31 Pr.StGB von 1851 enthalten, so Herzog, Rücktritt, 1889, S. 201 f.; Meyer, StrafR, 1888, S. 264 f.; v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 550. 6 Gerade diese Diskussion wird jedoch nicht geführt. 7 Vgl. zu diesem (Ausgangs-)Punkt Spohr, Str.Abh. (215), 1926, S. 11 f.: „Je nachdem, wie [. . .] der strafrechtlich relevante Versuch in quantitativer und qualitativer Beziehung gesetzlich abgegrenzt wird, erstreckt sich auch das Anwendungsgebiet des freiwilligen Rücktritts vom Versuch mehr oder minder weit.“; bzw. spiegelbildlich dazu R. Schmidt, Grundriss, 1925, S. 142: „Die Bedeutung des Rücktritts hängt ab von der Auffassung des Versuchs [. . .].“. 8 Vgl. die Vorschriften über das „Verbrechen“ im ALR, §§ 39–44, II, Tit. 20.

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

47

Übersicht 2 (1)

(2)

(3)

(4)

Vorbereitungshandlung (Vh)

Versuchsanfang (Va)

Rücktritt (p/n R)

Versuchsende (Ve)

(Nicht)Vollendung(Vg)

Vh

Va

p/n R

Ve

(Nicht)Vg9

(1)

(2)

(3)

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der P. zum Schuß

(Nicht)Treffen Senken der nicht benutzten P. Unabsichtliches Danebenschießen des anvisierten Absichtliches Danebenschießen Schußobjekts Pistole unerkannt defekt etc.

(4)

Anm. zu p/n R: = positiver/negativer Rücktritt (Rücktritt: Ja/Nein)

Die „Übertragung“ der zwischen Vorbereitungshandlung [= (1)] und (Nicht)Vollendung [= (4)] liegenden Tathandlungssequenz [= (2) + (3)] in den „rechtlichen Kontext“ bzw. in „dogmatische Schemata“ kann unterschiedlich erfolgen:

Das Modell der „Gesamtbetrachtung“: Vor dem Hintergrund einer hier sog. „ganzheitlichen“ Verbrechens- und Versuchsperspektive wird der „einheitliche Lebensvorgang“10 [= (2) + (3)] einer Versuchsphase zugeordnet. Der Versuch stellt ein „Durchgangsstadium“ zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarer (Nicht) Vollendung dar. Der Rücktritt [(3)] erscheint als eine mögliche Variante des Versuchstatbestandes [(2) + (3)]. Das „Separierungsmodell“: Bei der Einnahme einer hier sog. „punktuellen“ Verbrechens- und Versuchsperspektive wird das lebensweltliche Handlungskontinuum in die Stadien Vorbereitungshandlung, Versuch, Rücktritt und Vollendung aufgespalten. Die Tathandlungsphase zwischen Vorbereitungshandlung [(1)] und (Nicht)Vollendung [(4)] wird in einen rechtlichen Versuchs- [= (2)] und in einen eigenständigen Rücktrittsabschnitt [= (3)] unterteilt. Der Rücktritt erscheint als „exceptio“11 des Verbrechens- und Versuchssystems. 9

Vgl. dazu H. Mayer, StrafR, 1936, S. 307; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 91. BGHSt 34, 57; BGH NStZ-RR 2003, 199. 11 Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 30 f. 10

48

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

aa) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“: Die „simultane“ Übersetzung des lebensweltlichen Tatgeschehens vor dem Hintergrund einer „ganzheitlichen“ Verbrechens- und Versuchsperspektive Die „ganzheitliche“ Versuchsperspektive nach dem Modell der „Gesamtbetrachtung“ bewertet die rechtliche Kategorie Versuch als „Stufe“12 eines vollendeten Handlungskontinuums.13 Der Versuch reicht von der „Grenze“ zur straflosen Vorbereitungshandlung [(1)] bis zu jener der strafbaren (Nicht)Vollendung [(4)]. Die Versuchsphase läßt sich durch einen Versuchsanfang, einen Versuchsverlauf und ein Versuchsende beschreiben. Der Versuch erscheint als „Durchgangsstadium“14 zur Vollendung und enthält den Rücktritt als Variante der Versuchshandlung [(2) + (3)]. Übersicht 3 (1)

(2)

(3)

(4)

Vh

Va

p/n R

Ve

Va

Versuchsverlauf

Ve

(Nicht)Vg

Begriff des „strafbaren Versuchs“

Diese Betrachtungsweise liegt den Versuchsregelungen in Art. 178 CCC, §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR und § 31 Pr.StGB von 1851 zugrunde: Nicht jede unvollendet gebliebene Tat stellt hier einen „strafbaren Versuch“ dar, sondern nur die „wider Willen“15, durch „Zufall“16 oder „unabhängig vom 12 Vgl. die „Stufenlehre“ bei v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 298; H. Mayer, StrafR, 1936, S. 307 ff., 312; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 90 f.; Bockelmann, Untersuchungen, 1957, S. 151; Lackner/Kühl, StGB, 2004, § 22 Rn. 1. 13 Vgl. die Wiedergabe dieses Handlungskontinuums in §§ 39–44, II, Tit. 20 des ALR. 14 Vgl. dazu Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 395: „Vorbereitungshandlung, Versuch und Vollendung sind die zeitlich aufeinanderfolgenden Stufen der Verbrechensentwicklung“; H. Mayer, StrafR, 1936, S. 307: „Der Begriff des Versuchs ist [. . .] als vor der Vollendung liegende Verwirklichungsstufe aufzufassen.“; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 91: „Auch das vollendete Verbrechen durchläuft vom Handlungsentschluß bis zur vollen Verwirklichung eine kontinuierliche Stufenfolge von Teilverwirklichungen.“; des weiteren aus der jüngsten Versuchsliteratur Hillenkamp LK 2003 Vor § 22 Rn. 1. 15 Art. 178 CCC. 16 §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR.

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

49

Willen des Täters“17 ausgebliebene Vollendung. Die Frage nach der Strafbarkeit des Versuchs ist somit nur zusammen mit jener nach dem Rücktritt beantwortbar. Der Rücktritt wird in die Versuchsbestimmung miteinbezogen.18 Da der „strafbare Versuch“ neben dem „Anfang der Ausführung“19 der Versuchshandlung [(2)] auch den „Anfang der Ausführung“ der Vollendung [(3)]20 umfaßt, bietet sich als Terminus technicus die Bezeichnung „vollendungsbezogener“ Versuchsbegriff an. Durch die Einbeziehung des Rücktritts in die Versuchshandlung konkretisiert der „strafbare Versuch“ das Verbot einer Rechtsgutsverletzung.21 bb) Das „Separierungsmodell“: Die „abstrahierende“ Übersetzung des lebensweltlichen Tatgeschehens vor dem Hintergrund einer „punktuellen“ Verbrechens- und Versuchsperspektive Die Versuchsperspektive nach dem „Separierungsmodell“ trennt die zwischen Vorbereitungshandlung und (Nicht)Vollendung liegende Tathandlungsphase in einen Versuchs- [(2)] und einen eigenständigen Rücktrittsabschnitt [(3)]. Der Versuch ist hier nicht das „Durchgangsstadium“ zur (Nicht)Vollendung, sondern wird als „aliud“ bewertet. Die Grenze zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn definiert den Begriff „strafbarer Versuch“ [(2)]. Der strafbare Versuch liegt somit bereits vor dem Rücktrittsgeschehen vor, und der Rücktritt [(3)] erscheint als „exceptio“22 des Versuchssystems (siehe Übersicht 4, S. 50). Mit der Ausklammerung des Rücktritts wird auch der „Anfang der Ausführung“ der Vollendung [(3)] aus dem Versuchsbegriff herausgenommen. In der Folge beschränkt sich der Versuch objektiv auf den „Anfang der Ausführung“ der Versuchshandlung [(2)] und damit auf ein Gefährdungsverbot. Das Verletzungsverbot erscheint hingegen als Rücktrittsgebot.23 Als Terminus technicus bietet sich die Bezeichnung „vollendungsseparierter“ bzw. „punktueller“ Begriff des „strafbaren Versuchs“ an. 17

§ 31 Pr.StGB von 1851. Vgl. dazu auch Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 30 f., 67. 19 Heute: das „Unmittelbare Ansetzen“. 20 Der „Anfang der Ausführung“ des Verbrechens wäre damit kein Synonym für den „Anfang der Ausführung“ des Versuchs. 21 Vgl. Reinh. v. Hippel, o. Fn. 18, S. 73. 22 Reinh. v. Hippel, o. Fn. 18, S. 30. 23 Vgl. dagegen den „rücktrittsrechtlichen“ (Versuchs-)Tatbegriff in BGH NStZ 1985, 358 f.; BGH NStZ 1993, 280 f.; weitere Nachweise bei Günther, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 552 f. 18

50

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert Übersicht 4

(1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

Begriff des „strafbaren Versuchs“:

Rücktritt:

Die Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn definiert den „strafbaren Versuch“.

(4) Ve

(Nicht)Vg

Der Rücktritt ist ein eigenständiger „Einzelakt“.

Diese Betrachtungsweise führt zur Verortung des Rücktritts als sog. kriminalpolitischer „Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund“: Der Rücktritt als dem Versuch nachfolgende Tathandlung läßt dessen Verbrechens- bzw. Deliktscharakter unberührt. cc) Exkurs: Der Rücktritt als (negatives) Merkmal der Rechtsfolge „Strafbarkeit“ des Versuchs Bei einer dogmatischen Trennung zwischen dem Begriff des Versuchs und der Rechtsfolge Strafbarkeit oder Straflosigkeit des Versuchs könnte der Rücktritt als Merkmal der Rechtsfolge betrachtet werden. Der Tathandlungsabschnitt [(3)] beschriebe nicht die Versuchsphase, sondern konkretisierte nur die Rechtsfolge des Versuchs. Der Rücktritt wäre ein (negatives) Merkmal der „Versuchsstrafbarkeit“ und hemmte die „Strafbarkeit“ des Versuchs.

Übersicht 5 (1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

(4) Ve

(Nicht)Vg

Versuchsbegriff

Rechtsfolge des Versuchs: straflos oder strafbar

(Delikts- bzw. Verbrechenstatbestand)

(Bestrafungstatbestand)

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

51

dd) Ausblick auf das Meinungsspektrum Die Vorüberlegungen zur Interdependenz zwischen der Stellung des Rücktritts im Straftatsystem und dem zugrundeliegenden Versuchsbegriff sollen eine erste Orientierung für die folgende Darstellung des herrschenden Meinungsspektrums24 vermitteln. Denn die Rekonstruktion jener Ansichten, die eine kriminalpolitische Rücktrittsthese vertreten, kann nur auf Darstellungen von eher fragmentarischem Charakter zurückgreifen.25 Erschwerend tritt hinzu, daß auch die Verbrechenslehre des beginnenden 20. Jahrhunderts noch keinen in seinen Elementen hinreichend differenzierten Deliktsaufbau bereit hält,26 und die Schuldkategorie vornehmlich noch durch die allgemeine Vorsatzdiskussion geprägt ist.27 Bis zur Durchsetzung des „finalen“ Verbrechens- bzw. Deliktsaufbaus wird auf der Schuldebene der traditionelle Streit „Willenstheorie versus Vorstellungstheorie“ ausgetragen.28 Lediglich in dem Spezialfall der „Zurechnungsunfähigkeit“ (Geisteskrankheit etc.) unterscheidet man zwischen einem „Vorsatz“ und einer „Zurechnungs- bzw. Schuldfähigkeit“ als eigenständigen Schuldmerkmalen. Eine solche Differenzierung des rechtlichen „Willens“ kann jedoch zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht als dogmatischer Standard bezeichnet werden. Als Resultat der gesetzlichen Trennung von Versuch und Rücktritt in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 verfestigt sich auch eine verbrechensstrukturelle „Einzelbetrachtung“ beider Rechtsinstitute, so daß man sich zwei gegeneinander abgeschotteten Diskursebenen gegenübersieht. Da diese Spaltung kaum noch hinterfragt wird, bleiben dogmatische Widersprüche, die sich erst aus einer Gegenüberstellung der Argumentationen zum Versuch hier und zum Rücktritt dort offenbaren, unaufgelöst.

24 Zur h. M. zählen hier jene Ansichten, welche die kriminalpolitische Rücktrittsthese vertreten. Nachweise vgl. o. Fn. 3. 25 Vgl. beispielhaft die Ausführungen zum Rücktritt bei Rob. v. Hippel, o. Fn. 3, S. 403; Welzel, o. Fn. 3. 26 Vgl. Welzel, JuS 1966, S. 421 ff. (425); ders., Maurach-FS, 1972, S. 3 ff. (8). 27 Dazu Sauer, Grundlagen, 1921, S. 532 ff., 542, 577; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 65. 28 Zu den Inhalten der sog. Vorstellungs- und Willenstheorie v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 286 ff. (292); Binding, Schuld im StrafR, 1919, S. 6, 13, 45 ff., 48, 51 f.; Sauer, o. Fn. 27; v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 145, 232 Fn. 10, 233 ff. (236), 288 Fn. 5.

52

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

b) Die Versuchs- und Rücktrittsinterpretationen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aa) Der Rücktritt als sog. Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund29: Das Meinungsspektrum der herrschenden Ansicht Die folgende Untersuchung der herrschenden Meinung30 greift auf die in den Vorüberlegungen unter 1.a)cc) behandelte Trennung zwischen einem „Delikts- bzw. Verbrechenstatbestand“31 als Primärebene und einem „Bestrafungstatbestand“32 als Sekundärebene zurück.33 Die Primärebene beschreibt jene Aussagen, die das verbrechensstrukturelle Verhältnis zwischen Versuch und Rücktritt betreffen. Die Sekundärebene stellt die Schlußfolgerungen für die Verortung des Rücktritts im Straftatsystem dar. Diese methodische Vorgehensweise, welche zwischen einer „Verbrechensstruktur“ und einer „Rechtsfolge“ unterscheidet, ist bei dem hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand als Ausgangsposition fast schon unabdingbar. Denn die vornehmlich apodiktisch getroffenen Aussagen zum Rücktritt können so einer Überprüfung auf ihre dogmatische Tragfähigkeit hin erst zugänglich gemacht werden. Während die „rechtstheoretischen“ Ansätze34 ihre verbrechensstrukturelle Zusammenschau von Versuch und Rücktritt anhand der Versuchsmerkmale herleiten, läßt die herrschende Meinung eine Explizierung der von ihr vertretenen „kriminalpolitischen“ These vermissen.35 Die vom Versuch losgelösten Erörterungen zum Rücktritt erscheinen hier vielmehr als periphere „Randbemerkungen“ zum Teilnahmeproblem.36 Die Schwierigkeiten, denen sich eine Analyse der herrschenden Meinung gegenübersieht, soll zunächst die Wiedergabe der Rücktrittsdeutung bei 29 Die die Schuld- und die Strafbarkeitsebene betreffenden Ausschließungs- bzw. Aufhebungsgründe entbehren einer einheitlichen Terminologie, so daß auch die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen nicht als dogmatisch verifiziert und verallgemeinerungsfähig angesehen werden können. Vgl. dazu Kemsies, Schuldaufhebungsgrund, 1929, S. 1 ff. (3), 11 f., 23 f., der den Terminus „Strafaufhebungsgrund“ als „bequemen Sammelnamen“ bezeichnet (S. 23). 30 o. Fn. 3. 31 Hier: die „verbrechensstrukturelle“ Ebene von Versuch und Rücktritt. 32 Hier: die „Rechtsfolge“ für die Begründung des Rücktrittsprivilegs. 33 Vgl. zu diesem Ansatz die Ausführungen bei Bloy, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 177, 177 Fn. 121. 34 Vgl. B.I.1.d). 35 Vgl. dazu auch Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 30 f. 36 Vgl. beispielhaft die Charakterisierung des Rücktritts als persönlicher Strafaufhebungsgrund bei Welzel, Grundzüge, 1940, S. 99.

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

53

H. Mayer37 exemplarisch veranschaulichen: Nach ihm beruht die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts einmal auf „belohnender Vergeltung,38 welche das Strafbedürfnis aufhebt“39. Das hindert ihn aber nicht daran zu konstatieren: „Oder man kann sagen, das Gesamtverhalten des Täters würde durch seinen Rücktritt zu unerheblich, als daß der Verbrechensbegriff noch als erfüllt angesehen werden könnte.“40 Mayer zieht hier somit – unangefochten – sowohl „rechtstheoretische“ als auch „kriminalpolitische“ Aspekte für die Begründung des Rücktrittsprivilegs heran. Eine Auseinandersetzung mit dem damit jeweils implizierten anderen Versuchsbegriff41 erfolgt jedoch nicht, so daß die Widersprüche innerhalb seiner Konzeption unbeleuchtet bleiben. Eine dogmatische Schlüssigkeitsprüfung seiner Interpretation ist aufgrund dieser Konturlosigkeit ohne eine systematische Aufbereitung der einzelnen Argumentationsstränge kaum möglich. bb) „Primärebene“: Versuch und Rücktritt auf der Ebene des strukturellen Delikts- bzw. Verbrechenstatbestandes Die Verortung des Rücktritts als Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund durch die herrschende Meinung42 beruht auf der Verneinung einer Interdependenz zwischen Versuch und Rücktritt: Der Rücktritt lasse den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt. Allein aus kriminalpolitischen Erwägungen des Gesetzgebers entfalle bei einem Rücktritt die bereits verwirkte Versuchsstrafe.43 Diese kriminalpolitische Begründung des Rücktrittsprivilegs hat sich nach der Trennung von Versuch und Rücktritt in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 als mehr oder weniger selbstverständlich etabliert. Das Rekurrieren auf die Kriminalpolitik44 der Legislative ist an 37

H. Mayer, StrafR, 1936, S. 322 f. Die kriminalpolitische Perspektive einer „Separation“ von Versuch und Rücktritt: der Rücktritt als Belohnung, Prämie oder Gnade. 39 Die rechtstheoretische Perspektive einer „Synthese“ von Versuch und Rücktritt: der Rücktritt tilgt das mit dem Versuch entstandene Strafbedürfnis. Diese Sichtweise entspricht der von Meyer, StrafR, 1888, S. 265. 40 Vgl. diesen rechtstheoretischen Ansatz bei Herzog, Rücktritt, 1889, S. 184. 41 Vgl. die Veranschaulichung in den Vorüberlegungen (VÜ) C.I.1.a). 42 o. Fn. 3. 43 Im Anschluß an v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202, 204, vgl. o. Fn. 3. 44 Erinnert sei an dieser Stelle daran, daß zum Zeitpunkt der Trennung von Versuch und Rücktritt im RStGB von 1871 nur der Rücktritt beim beendeten Versuch, § 46 Nr. 2 RStGB, als sog. „Tätige Reue“ kriminalpolitisch begründet wird. Ob diese Erwägung auf den Rücktritt beim unbeendeten Versuch übertragbar ist, spricht später lediglich Stenglein, Lex. E-RG, II, 1900, § 46, Nn. 18, 20, S. 1696 f., an und verneint dies. Für ihn ergibt sich die Einordnung des Rücktritts vom unbeendeten Versuch jedoch aus dem systematischen Zusammenhang von § 46 Nr. 1 und Nr. 2 RStGB. 38

54

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

die Stelle einer dogmatischen Begründung des Versuchs- und Rücktrittsgeschehens getreten. Die historische Entwicklung dieses rücktrittsrelevanten „Deliktscharakters“ des Versuchs ist dabei folgende: In den „Motiven“ zu § 46 RStGB von 1871 bei Höinghaus45 heißt es noch, der Rücktritt wirke „rücksichtlich der an und für sich verwirkten Strafe“. Bei Schwarze46 ist es bereits die „strafbare Handlung“, welche durch den Rücktritt nicht „nachträglich“ entzogen werde. Deutlich heißt es dann bei v. Liszt47: „In dem Augenblicke, in welchem die Grenzlinie zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuche überschritten wird, in demselben Augenblicke ist die auf den Versuch gesetzte Strafe verwirkt. Diese Thatsache kann nicht mehr geändert [. . .] werden.“. Auch nach Frank48 ist der „strafbare Versuch“ eine „Thatsache“, die (trotz des Rücktritts)49 bestehen bleibt. Für Rob. v. Hippel50 entfällt „Die mit dem Beginn der Ausführung nach allgemeiner Gesetzesvorschrift bereits verwirkte Versuchsstrafe [. . .] infolge eines nachträglich eintretenden Ereignisses“. In diesem Sinne weiter Wachenfeld51: „Mit dem Rücktritt entfällt die Strafe, ohne der Tat ihren deliktischen Charakter zu nehmen.“ Eb. Schmidt52 übernimmt die v. Lisztsche Rücktrittsdeutung, die jedoch im Widerspruch zu seiner eigenen Wesensbestimmung des Versuchs steht.53 Auch Welzel54 konstatiert noch55 1940: „Das Recht gibt dem Täter eine letzte Chance [. . .] sich Straffreiheit zu verdienen. Der verbrecherische Charakter der Tat bleibt unberührt, aber von Strafe wird aus kriminalpolitischen Gründen abgesehen. Der Rücktritt ist persönlicher Strafaufhebungsgrund“. Ob und inwieweit die These, der Rücktritt lasse den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt, eine Kenntlichmachung des mit ihr verbundenen Begriffs des „strafbaren Versuchs“ erfordert,56 wird nicht erwogen. Verfolgt 45

StGB von 1870 mit vollständig amtlichen Motiven, 1870, §§ 43–46, S. 68. StGB, 1884, Exk. X, § VII, S. 108. 47 StrafR, 1888, S. 202. 48 StGB, 1901, § 46, V, S. 61. 49 Anmerkung der Verfasserin. 50 StrafR, II, 1930, S. 410 f. 51 StrafR, 1914, S. 186. 52 v. Liszt/Schmidt, o. Fn. 42, S. 318. 53 Vgl. o. Fn. 52, S. 305. 54 Grundzüge, 1940, S. 99. 55 Diese Meinung revidiert er später zugunsten einer Synthese von Versuch und Rücktritt, vgl. Welzel, StrafR, 1956, S. 161. 56 Vgl. die spiegelbildliche Betrachtung dieser Abhängigkeit bei R. Schmidt Grundriss, 1925, S. 142: „Die Bedeutung des Rücktritts hängt ab von der Auffassung des Versuchs“; ders., Grundriss, 1931, S. 158: „Die gedankliche Konstruktion 46

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

55

man den kriminalpolitischen Ansatz aber vor dem Hintergrund des „Lebenssachverhalts“ von Versuch und Rücktritt weiter, dann kann eine solche Rücktrittsperspektive nur für jenen Versuchsabschnitt Geltung beanspruchen, der vor einem Rücktrittsverhalten des Täters liegt:57 Diesen Abschnitt beschreibt v. Liszt58 als „Augenblick, in welchem die Grenzlinie zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuche überschritten wird“ und definiert damit die „Strafbarkeitsgrenze“ schon als „strafbaren Versuch“. Betrachtet man des weiteren die Festlegung des Versuchs auf den v. Lisztschen „Augenblick“ unter dogmatischen Gesichtspunkten, dann ergibt sich: Die „Wesensbestimmung“ des Versuchs beschränkt sich auf jene Merkmale, die sich auf den Zeitpunkt des Versuchsanfangs beziehen. Das sind einmal objektiv der „Anfang der Ausführung“59 der Versuchshandlung und zum zweiten subjektiv die auf den „Versuchsanfang“ bezogene Tätervorstellung, mit der gegenwärtigen Ausführungshandlung die „Versuchsschwelle“60 zu überqueren. Ein über diesen Versuchsabschnitt hinaus gehender „Vollendungsvorsatz“ muß nach der kriminalpolitischen Rücktrittsthese bereits mit dem Versuchsbeginn unwiderleglich festgelegt werden (siehe Übersicht 6, S. 56).61 cc) Sekundärebene: Die Konsequenz der kriminalpolitischen Rücktrittsthese für die Begründung des Strafbefreiungsprivilegs Die kriminalpolitische Ansicht der h. M.62 zum Rücktritt als Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund enthält – wie auf der Primärebene gezeigt werden konnte – einen auf den Versuchsanfang reduzierten Versuchsbegriff: Bereits die Grenze zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn bestimmt den „strafbaren Versuch“.63 Ein des Rücktritts hängt von der Auffassung des Versuchs ab.“; ferner Spohr, Str.Abh. (215), 1926, S. 11 f. 57 Denn sobald das „Versuchsende“ nach hinten verschoben bzw. „hinausgezögert wird“, stellt sich die Rücktrittsfrage innerhalb der als Versuchsphase charakterisierten Tat. Damit würde der Rücktritt aber den „Deliktscharakter“ des „strafbaren Versuchs“ nicht mehr „unberührt“ lassen: Bei einem Rücktritt wäre die Strafbarkeit zu verneinen; fehlt ein Rücktritt, wäre sie zu bejahen. 58 v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 59 Heute: das „Unmittelbare Ansetzen“. 60 Das „Jetzt geht’s los“. 61 Vgl. dazu aber v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 506 Fn. 33 a: „Ist von dem Handelnden bereits ein Teil des gesetzlichen Tatbestands verwirklicht worden, so kann daraus doch keineswegs unbedingt auf den definitiven und bis zur Vollendung fortdauernden Willen ein sicherer Schluß gezogen werden.“. 62 Nachweise o. Fn. 3.

56

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert Übersicht 6 Die kriminalpolitische Rücktrittsthese und der dieser entsprechende Versuchsbegriff

(1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

Subjektiver + Objektiver „Anfang der Ausführung“64

„Rücktritt“

(4) Ve

(Nicht)Vg

Begriff des „strafbaren Versuchs“:

Rücktrittsthese:

„In dem Augenblicke, in welchem die Grenzlinie zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuche überschritten wird, in demselben Augenblicke ist die auf den Versuch gesetzte Strafe verwirkt.“65

„Der verbrecherische Charakter der Tat bleibt unberührt.“66 „Die bereits verwirkte Versuchsstrafe entfällt infolge eines nachträglich eintretenden Ereignisses.“67 „Von Strafe wird aus kriminalpolitischen Gründen abgesehen.“68 Der Rücktritt ist Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund.

solcher „punktueller“ Versuchsbegriff69 trennt die Kategorien Versuch und Rücktritt in jeweils eigenständige „Einzelakte“. Mit dieser Ausgrenzung des Rücktritts aus dem Versuchsgeschehen ist eine verbrechensstrukturelle Begründung des Strafbefreiungsprivilegs nicht mehr möglich. Das heißt, die Antwort auf die Frage, warum der Rücktritt zur Straflosigkeit des Versuchs führt, kann weder im „Delikts- bzw. Verbrechenstatbestand“ noch im „Bestrafungstatbestand“ des Versuchs gesucht werden.70 Die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts auf den Versuch ist ausschließlich auf die Vorgabe in der Rücktrittsnormierung rückführbar. Die gesetzlich eingeräumte Rücktrittsoption beim Versuch erscheint dann als nachträgliches „Implantat“ in die Versuchsstrafbarkeit. Dogmatisch folgerichtig verbleiben bei der Einnahme einer solchen „punktuellen“ Versuchsperspektive nur die – jenseits 63

v. Liszt, o. Fn. 58, S. 202, 204. o. Fn. 59. 65 v. Liszt, o. Fn. 58. 66 Welzel, Grundzüge, 1940, S. 99. 67 Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 410 f. 68 Vgl. u. a. v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202; Stenglein, Lex. E-RG, 1900, II, § 46, Nr. 18, S. 1696; Wachenfeld, StrafR, 1914, S. 186; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/ Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 318; Welzel, o. Fn. 66; Mezger, StrafR, 1949, S. 402. 69 Vgl. C.I.1.bb). 70 o. Fn. 69. 64

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

57

der Verbrechensstruktur des Versuchs ansetzenden – kriminalpolitischen Ansichten für eine Begründung des Rücktrittsprivilegs: Der Rücktritt folgt dem „strafbaren Versuch“ als neuer Tathandlungsakt nach71 und annulliert rückwirkend die bereits verwirkte Versuchsstrafe. Die Rechtfertigung dieser Annullierung ist allein in der Entscheidung des Gesetzgebers für eine Positivierung des Rücktritts zu sehen. Die kriminalpolitischen Ansätze der „Goldenen-Brücke-Theorie“72 und der „Prämien- bzw. Gnadentheorie“73 erklären dann im Sinne einer „Zweck-Mittel-Relation“ die durch den Gesetzgeber konstituierte, strafbefreiende Rücktrittsmöglichkeit. Die der Vermeidung einer Rechtsgutsverletzung verpflichtete These von der „Goldenen Brücke“ stellt die Konkretisierung des „Zwecks“ bzw. „Ziels“ einer legislatorischen Gestaltung dar, indem sie die Begründung für das „Warum“ der Rücktrittsmöglichkeit beim Versuch liefert.74 Die „Prämien- bzw. Gnadentheorie“ spezifiziert die Festlegung des „Mittels“ bzw. das „Wie“ der Zweckerreichung:75 Der Rücktritt wird mit der Strafbefreiung vom Versuch „prämiiert“, die Strafbefreiung vom Versuch ist die „Begnadigung“ des zurückgetretenen Täters. dd) Kritik Die Analyse des herrschenden Meinungsspektrums zum Rücktritt vor dem Hintergrund einer Trennung zwischen einer Primär- und Sekundärebene vermag erste dogmatische Friktionen aufzuzeigen. Diese werden in jenen Ansichten offenbar, welche einerseits die kriminalpolitische Rücktrittsthese76 vertreten, bei ihrer Begründung des Strafbefreiungsprivilegs aber einer verbrechensstrukturellen Argumentation folgen. Die auf der Primärebene vollzogene Trennung von Versuch und Rücktritt wird – ohne eine Hinterfragung – im Nachhinein wieder dementiert. Namentlich trifft dieser Vorwurf Wachenfeld,77 der zum Strafbefreiungsgrund des Rücktritts ausführt: „wohl aber (wird) der Grund beseitigt, aus dem der Versuch überhaupt strafwürdig erscheint. Denn mit dem Rücktritt des Täters hört die Gefahr für die Rechtsordnung auf.“78. Eine solche „Gesamtbetrachtung“ von 71

Vgl. dazu die Ausführungen bei Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 410 f. v. Liszt, o. Fn. 68, S. 202, 204. 73 Rob. v. Hippel, o. Fn. 71, S. 410. 74 Die Frage des „Ob“ einer gesetzlichen Regelung. 75 Die Frage des „Wie“ einer gesetzlichen Regelung. 76 Die mit der Aussage verbunden ist, der Rücktritt lasse den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt, Nachweise vgl. o. Fn. 3. 77 Wachenfeld, o. Fn. 68, S. 182 ff. (186). 78 Wachenfeld, o. Fn. 68, S. 182. 72

58

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

Versuch und Rücktritt entspricht dem rechtstheoretischen Ansatz Hälschners79 und läßt Wachenfelds frühere Aussage, daß „der Rücktritt nichts am deliktischen Charakter des Versuchs ändere“80 kaum mehr nachvollziehbar erscheinen. Die Erklärung für die Annahme der kriminalpolitischen Rücktrittsthese ist bei Wachenfeld allein in der Behandlung der Teilnahmefrage zu finden.81 Somit ist zunächst festzuhalten, daß die kriminalpolitische These weiterhin vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach der Teilnehmerstrafbarkeit bei einem Rücktritt des Täters vertreten wird.82 Wo diese Problematik aus dem Blickfeld gerät, so beim Strafbefreiungsgrund des Rücktritts, wird die Separation von Versuch und Rücktritt wieder aufgehoben: Das Rücktrittsprivileg begründen auch einige jener Autoren weiterhin verbrechensstrukturell bzw. rechtstheoretisch, die eigentlich im Rücktritt einen kriminalpolitischen Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund erkennen.83 ee) Die Wesensbestimmung des Versuchs jenseits des Rücktrittsdiskurses Die kriminalpolitische Rücktrittsthese der h. M.84 setzt – wie gezeigt85 – einen auf den Versuchsanfang reduzierten „punktuellen“ Begriff des „strafbaren Versuchs“ voraus. Da Versuch und Rücktritt nunmehr als voneinander unabhängige „Einzelakte“ bewertet werden, bewegen sich auch die jeweiligen Diskurse auf getrennten Ebenen. Deshalb soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit sich diese punktuelle Versuchsperspektive auch in der parallel geführten Versuchsdogmatik86 wiederfinden läßt.

79

Vgl. Hälschner, System, I, 1858, S. 200. Wachenfeld, o. Fn. 68, S. 182, 186. 81 Vgl. o. Fn. 80. 82 Vgl. Wachenfeld, o. Fn. 80; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 99. 83 Diese Unstimmigkeiten lassen sich bereits bei jenen Ansichten finden, die zur Zeit der §§ 43 und 46 RStGB von 1871 den Rücktritt beim beendeten Versuch vor einen exklusiv kriminalpolitischen Hintergrund stellen, so u. a. bei Schwarze, StGB, 1884, Exk. X, § VII, S. 108, 111. 84 o. Fn. 3. 85 Vgl. C.I.1.a)bb). 86 Betrachtet werden die Aussagen jener Autoren, welche die kriminalpolitische Rücktrittsthese vertreten. 80

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

59

(1) Das (objektive) Erfordernis eines Gefährdungsmoments87 beim Versuch Nach den hier in Frage stehenden Ansichten ist objektives Versuchskriterium eine konkrete Gefahr bzw. Gefährdung für das Rechtsgut.88 Eine Versuchsstrafbarkeit setze die „objektive Gefährlichkeit“89 der Tathandlung voraus. Eine genauere Analyse dieses Gefährdungsmoments wird jedoch nicht vorgenommen, so daß dessen konkrete Ausgestaltung zunächst einer näheren Betrachtung bedarf. Die Verbrechenslehre dieses Zeitraums unterscheidet bereits zwischen den Kategorien Gefährdungs- und Verletzungsdelikt.90 Dabei wird der Versuch – vornehmlich aufgrund seiner subjektiven Merkmalsstruktur – im Zusammenhang mit den Verletzungstatbeständen diskutiert.91 Auch wenn eine eindeutige Zuordnung hier nicht erfolgt, so offenbaren doch die diesbezüglichen Darstellungen, daß der Versuch nicht als Gefährdungsdelikt klassifiziert wird. Vor diesem Hintergrund bleibt zu untersuchen, anhand welcher Maßstäbe sich die Rechtsgutsgefährdung beim Versuch von jener des Gefährdungsdelikts abgrenzen läßt. Nach allgemeiner Auffassung zeichnet sich der Gefährdungsbegriff des Versuchs durch eine graduelle Abstufung aus.92 In einer ersten Annäherung kann man dieses Stufenverhältnis durch die Festlegung einer „mittelbaren“ bzw. „latenten“ und einer „unmittelbaren“ bzw. „manifesten“ Gefahr für das Rechtsgut konkretisieren. Letzere, die manifeste Gefahr, charakterisiert beim Versuch jene „Schnittstelle“, in der die bloße Rechtsgutsgefährdung in eine Verletzung einmünden bzw. umschlagen kann. Bis zu dieser „Schnittstelle“ handelt es sich um eine lediglich latent bestehende Verletzungsgefahr für das Rechtsgut. Die Abgrenzung zwischen den Graden latente/manifeste Gefahr und manifeste Gefahr/Verletzung wäre „strafrechtslogisch“ nach Maßgabe einer „juristischen Sekunde“ vorzunehmen. 87

Vornehmlich diskutiert wird dieses Merkmal im Zusammenhang mit der Frage nach der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs. Sie ist zu bejahen nach der subjektiven Versuchstheorie, vgl. dazu v. Buri, Archiv Pr.StrafR, 1877, S. 265 ff., eine Strafbarkeit verneint die im hier betrachteten Zeitraum vorherrschende Lehre vom „Mangel am Tatbestande“, vgl. Wachenfeld, o. Fn. 68, S. 170; Sauer, Grundlagen, 1921, S. 462, 464, 464 Fn. 2; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 298 f., 299 Fn. 4, 300. 88 Vgl. Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 399, 403, 405; Wachenfeld, o. Fn. 87 Sauer, o. Fn. 87, S. 464; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, o. Fn. 87, S. 301, 302. Kritik am „Gefahrbegriff“ beim Versuch übt H. Mayer, StrafR, 1936, S. 311. 89 Zu den Nuancierungen vgl. die „Gefahrbegriffe“ bei Rob. v. Hippel, o. Fn. 88, S. 399, 403, 405; Wachenfeld, o. Fn. 87; Sauer, o. Fn. 88; Eb. Schmidt, o. Fn. 88. 90 Vgl. dazu die Ausführungen von R. Schmidt, Grundriß, 1925, S. 131 f., sowie bei v. Liszt/Schmidt, o. Fn. 87, S. 303 Fn. 10. 91 Vgl. v. Liszt/Schmidt, o. Fn. 90. 92 Vgl. Rob. v. Hippel, o. Fn. 88, S. 399; v. Liszt/Schmidt, o. Fn. 87, S. 305.

60

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert Übersicht 7 Das Gefährdungsmoment beim Versuch

(1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

latente Gefahr

manifeste Gefahr

(4) Ve

(Nicht)Vg

(Nicht)Verletzung

„Die Gefährdung steigt fortlaufend von der ersten Vorbereitung bis zur Vollendung.“93

Für die Strafbarkeit der Tathandlung als Gefährdungsdelikt genügt das Vorliegen einer latenten Gefahr für das Rechtsgut,94 nach der jeweiligen Gesetzesvorgabe entweder als abstrakte oder als konkrete Rechtsgutsgefährdung. Die Pönalisierung als Gefährdungstatbestand statuiert das „Gefährdungsverbot“. Im Unterschied dazu wäre beim Versuch zunächst zu klären, welchen Gefährdungsgrad die objektive Tathandlung als sog. „Anfang der Ausführung“ umfaßt. Ordnet man den Versuch nicht der Kategorie „Gefährdungsdelikt“, sondern den „Verletzungsdelikten“ zu, dann ist neben dem Versuchsanfang [(2)] auch der diesem nachfolgende Ausführungsabschnitt [(3)] in die Versuchsbetrachtung miteinzubeziehen: Der Versuch beschreibt dann nicht nur die latente Gefährdung, sondern auch die manifeste Verletzungsgefahr für das Rechtsgut. Der Versuchsbegriff konkretisiert in der Folge mit dem „Anfang der Ausführung“ zur Vollendung95 das „Verletzungsverbot“.96 Die kriminalpolitische These der h. M. zum Rücktritt als Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund klammert mit der Begrenzung des Begriffs „strafbarer Versuch“ auf den Versuchsanfang die Stufe der manifesten oder unmittelbaren Verletzungsgefahr hingegen aus: Das Merkmal „Anfang der Ausführung“ umfaßt nur die latent bestehende Gefährdung beim Überschreiten der „Grenze“ zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn.97 Ein Unterschied zum Gefährdungsdelikt be93

o. Fn. 92. Vgl. dazu die Kritik an der „Gefährdungstheorie“ beim Versuch von Frank, in: v. Liszt/Schmidt, o. Fn. 87, S. 303 Fn. 10. 95 Der auch den „Anfang der Ausführung“ zum Versuch enthält. 96 Vgl. Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 73. 97 Vgl. C.I.1.a)bb). Nur beim sog. „fehlgeschlagenen“ Versuch ist eine manifeste Verletzungsgefahr für das Rechtsgut – aus der ex-ante-Sicht des Täters – bereits zu diesem Zeitpunkt gegeben. 94

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

61

steht in objektiver Hinsicht somit nicht, und der strafbare Versuch statuiert lediglich das „Gefährdungsverbot“.98 Diese „punktuelle“ Versuchsperspektive99 im Rahmen des Rücktrittsdiskurses entspricht jedoch nicht jener Sichtweise, welche dieselben Autoren dann einnehmen, wenn eine ausdrücklich auf den Versuch bezogene Charakterisierung erfolgt:100 Nach dieser ist der Versuch als „vor der Vollendung liegende Verwirklichungsstufe aufzufassen“101 und mitumfaßt folglich auch die dem Versuchsanfang nachfolgende Ausführungshandlung [(3)]. Im Ergebnis beschreibt die Rechtslehre des beginnenden 20. Jahrhunderts zwei unterschiedliche Versuchsbegriffe:102 In der Rücktrittsdebatte setzt sie den „punktuellen“ Versuchsbegriff [(2)] zur Untermauerung der Trennung beider Rechtsinstitute voraus,103 in der Versuchsdogmatik werden hingegen auch jene Merkmale der nichtvollendeten Tat dem Versuch zugeordnet, die den Tathandlungsabschnitt [(3)] und folglich auch den Rücktritt betreffen. Diese Versuchsbestimmung beschreibt demnach weiterhin den „vollendungsbezogenen“ Versuchsbegriff [(2) + (3)]. (2) Das (subjektive) Erfordernis eines „Vollendungsvorsatzes“104 beim Versuch Wesentliches subjektives Charakteristikum des Versuchs ist nach der Ansicht des hier betrachteten Meinungsspektrums105 ein „Vorsatz“, der die Kategorien Vorbereitungshandlung, Versuch und Vollendung gleichermaßen auszeichnet. So führt Rob. v. Hippel106 aus: „Für die subjektive Seite, die Schuldseite,107 bedarf es hier zur Erläuterung nur eines kurzen Wortes: der 98

Reinh. v. Hippel, o. Fn. 96. Zum Begriff vgl. C.I.1.a)bb). 100 Vgl. die Ausführungen von Eb. Schmidt gegenüber Frank, in: o. Fn. 94. Beide Autoren vertreten zum Rücktritt die kriminalpolitische These, vgl. v. Liszt/Schmidt, o. Fn. 87, S. 315, 318; Frank, StGB, 1901, § 46, V, S. 61. 101 Vgl. H. Mayer, StrafR, 1936, S. 307. 102 Zu den Begriffen vgl. C.I.1.a)aa)bb). 103 Der „Augenblick“ nach v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 104 In der modernen Versuchslehre wird der Begriff „Vollendungsvorsatz“ beim Versuch zunehmend in Frage gestellt, vgl. dazu Wolter, Leferenz-FS, 1983, S. 545 ff. (549); Struensee, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 523 ff. (527); Streng, ZStW 109 (1997), S. 862 ff. (871); Hillenkamp, Roxin-FS, 2001, S. 689 f., 700 ff., 703, 706 f. 105 Zu diesen zählen jene Autoren, die eine kriminalpolitische Rücktrittsthese vertreten. Diese Vorsatzbestimmung beim Versuch entspricht zugleich der Ansicht der h. L., vgl. Mezger, StrafR, 1949, S. 379 Fn. 3 m. w. N. 106 Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 396. 99

62

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

Vorsatz ist für Vorbereitungshandlung, Versuch und Vollendung derselbe.“ Ebenso befindet Welzel108: „Der objektive Tatbestand ist beim Versuch nicht voll erfüllt. Dagegen muß der subjektive Tatbestand vollständig vorliegen, und zwar so, wie er beim vollendeten Delikt aussehen muß.“ „Ein wesensmäßiger, überpositiver Unterschied zwischen Vollendung und Versuch besteht also nicht!“109 In diesem Sinne schreibt auch Mezger110: „Das Delikt ist „vollendet“, wenn sämtliche Merkmale des Tatbestandes erfüllt sind, es ist „versucht“, wenn es zwar begonnen, aber ein Torso geblieben ist. An einer Stelle aber verlangt auch das versuchte Delikt eine vollkommene Tatbestandserfüllung: auf subjektivem Gebiet, in der Seele des Täters. Der „Entschluß, [. . .] nach § 43 StGB [. . .]: Dieser Delikts-Entschluß ist zu verstehen als Delikts-Vorsatz. [. . .] Daraus ergeben sich [. . .]: 1. Zum Entschluß [. . .] genügt [. . .] Dolus eventualis. [. . .] Denn das Gesetz sieht den Unterschied zwischen Versuch und Vollendung in dem objektiven Merkmal des Ausbleibens des Erfolgs, während im Vorsatz zur Tat beide miteinander übereinstimmen. Dieser Standpunkt entspricht der herrschenden Lehre [. . .].“ Der „Vorsatz“ als subjektives Tatbestandselement wird somit für Versuch und Vollendung als identisch definiert. Diese generelle subjektive Gleichsetzung von Versuch und Vollendung soll zunächst näher untersucht werden: Betrachtet man subjektive und objektive Tatseite der Vollendung, so läßt sich eine „Kongruenz“ zwischen beiden Deliktskomponenten feststellen. Der objektiven Tatbestandsverwirklichung entspricht hier grundsätzlich111 eine subjektive Tatbestandserfüllung. Die äußere Tat als „Ausgangspunkt“112 für die Bestimmung der subjektiven Verbrechensmerkmale impliziert den Vorsatz als „vollendet“113 oder mit anderen Worten: Der Täter hat seine „Vorstellung von der Tat“ bis zur Vollendung verwirklicht. Der „Vollendungsvorsatz“ beim vollendeten Delikt stimmt mit dem objektiven Geschehen überein und kann als „kongruenter“114 Vollendungsvorsatz spezifiziert werden. Diese Übereinstimmung zwischen objektiver und subjektiver 107 108 109 110 111 112

Der „Vorsatz“ noch als Schuldform. Welzel, Grundzüge, 1940, S. 94. o. Fn. 108, S. 92. o. Fn. 105, S. 379 f., S. 379 Fn. 3 m. w. N. Ausnahme: der Irrtum über die Vollendung der Tat. Welzel, Grundzüge, 1940, S. 35; ferner H. Mayer, StrafR, 1936, S. 223 ff.

(226). 113

Die „Zurechnungsfunktion“ des Vorsatzes als Schuldform, vgl. dazu Sauer, Grundlagen, 1921, S. 532, 541 f.; R. Schmidt, Grundriss, 1925, S. 91 f.; Rob. v. Hippel, StrafR, I, 1925, S. 26 f., 27 Fn. 4; Engisch, Untersuchungen, 1930, S. 16 f., 23, 27 f., 39, 43; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 145; H. Mayer, StrafR, 1936, S. 226. 114 Zum Begriff vgl. Streng, ZStW 109 (1997), S. 862 ff. (871).

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

63

Tatbestandserfüllung fehlt jedoch beim Versuch: Da das Delikt nicht vollendet worden ist, entbehrt der „Vollendungsvorsatz“ hier der Manifestation in der objektiven Vollendung. Folglich handelt es sich beim Versuch zumindest nicht um einen „kongruenten“ Vollendungsvorsatz. Unterstellte man dem Versuchstäter eine solche Vorstellung von der Vollendung der Tat, dann beschriebe der Vorsatz beim Versuch stets einen „Irrtum“.115 Die von der oben genannten herrschenden Ansicht in Anspruch genommene subjektive Kongruenz von Versuch und Vollendung ist somit nicht feststellbar. Bei einer differenzierteren Betrachtung des Vorsatzes lassen sich ein kognitives und ein voluntatives Element unterscheiden:116 Einmal das „Wissen“, mit der Tathandlung einen strafrechtlich relevanten Kausalverlauf in Gang zu setzen und zu halten;117 zum zweiten das „Wollen“ eines mit der Ausführungshandlung verfolgten Ziels bzw. Zwecks.118 Vergleicht man Vorbereitungshandlung, Versuch und Vollendung mit Blick auf eine gemeinsame subjektive Komponente, dann ist es jenes voluntative Merkmal „Wollen“, für das die reklamierte Übereinstimmung zutrifft. Sowohl Vorbereitungshandlung als auch Versuch weisen jenen Bezug zur Vollendung auf, welcher als „Vorstellung von der – zur Vollendung führenden – Tat“119 bei beiden Kategorien noch „prospektiv“120 ausgestaltet ist. Das kognitive Element „Wissen“ beschreibt hingegen die „aktuelle“ Tatsituation bzw. das Bewußtsein des Täters über das gegenwärtige Ausführungsstadium Vorbereitungshandlung, Versuch oder Vollendung. Diese „gegenwärtige“ Vorstellung bestimmt beim Versuch unter anderem das Überschreiten der „Schwelle“ von der straflosen Vorbereitungshandlung zum strafbaren Versuchsbeginn121 und unterscheidet sich folglich von jenem „kongruenten“ Vollendungsvorsatz beim vollendeten Delikt. Festzuhalten bleibt: Die von der Rechtslehre vorgenommene subjektive Gleichsetzung von Versuch und Vollendung beschreibt das voluntative Vorsatzelement „Wollen“ im Sinne einer „Vorstellung von der – zur Vollendung 115

Der Versuch als Irrtum über den Kausalverlauf. Der Merkmalsstruktur des Vorsatzes widmet sich die Kontroverse „Vorstellungs- versus Willenstheorie“, wobei hier vornehmlich die Abgrenzung zwischen dolus eventualis und bewußter Fahrlässigkeit diskutiert wird, vgl. v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 286 ff. (292); Engisch, o. Fn. 113, S. 126 ff. (136); Eb. Schmidt, o. Fn. 113, S. 256 Fn. 9. 117 Vgl. dazu Welzels Bestimmung eines „finalen“ Vorsatzes in JuS 1966, S. 421 ff. (425); insbesondere zum Begriff „Finalität“ ders., Maurach-FS, 1972, S. 6 ff. (8). 118 Vgl. Welzel, o. Fn. 112, S. 35, 39; ders., Maurach-FS, 1972, S. 6 ff. (8). 119 Vgl. dazu auch Streng, JZ 1994, S. 713; ders., JZ 2000, S. 23. 120 Zum Begriff Streng, o. Fn. 114. 121 Sowie die Bestimmung der Versuchskategorien unbeendet, beendet, fehlgeschlagen. 116

64

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

führenden – Tat“. Diese „Vorstellung“ umfaßt beim Versuch den gesamten zwischen Vorbereitungshandlung und (Nicht)Vollendung liegenden Tathandlungsabschnitt [(2) + (3)]: Übersicht 8 Die Vorsatzelemente des Versuchs (1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

(4) Ve

(Nicht)Vg

„Vorstellung von der – zur Vollendung führenden – Tat“: voluntatives Vorsatzelement „Wollen“ beim Versuch: „Der Vorsatz ist für Vorbereitungshandlung, Versuch und Vollendung derselbe.“122

Vorstellung über das „aktuelle“ Tathandlungsstadium: kognitives Vorsatzelement „Wissen“ beim Versuch in Bezug auf: Den Versuchsanfang unbeendet

Das Versuchsstadium beendet

fehlgeschlagen

Die Beschreibung der subjektiven Komponente des „Vollendungsvorsatzes“ in der Versuchsdiskussion unterscheidet sich jedoch von jener, die der kriminalpolitischen Rücktrittsthese123 zugrundliegt: Nach der Versuchsbetrachtung umfaßt der „Vorsatz“ als „Vorstellung von der – zur Vollendung führenden – Tat“ die gesamte Tathandlungssequenz [(2) + (3)]. Das hier untersuchte Meinungsspektrum124 zum Versuch konzipiert somit den „vollendungsbezogenen“ Versuchsbegriff nach der „ganzheitlichen“ Versuchsperspektive.125 Der Rücktritt wäre als negatives Merkmal des „strafbaren Versuchs“ in die Versuchsbetrachtung miteinzubeziehen. Unberücksichtigt bleibt damit der von denselben Autoren zum Rücktritt beschriebene „Deliktscharakter“ des Versuchs, der in seinen objektiven und subjektiven 122 Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 396; ferner Welzel, Grundzüge, 1940, S. 94, diese Ansicht entspricht der h. L. zum Versuch, vgl. Mezger, StrafR, 1949, S. 379, 379 Fn. 3 m. w. N. 123 Vgl. C.I.1.b)bb). 124 Betrachtet werden die Ansichten jener Autoren zum Versuchsbegriff, die innerhalb des Rücktrittsdiskurses eine kriminalpolitische These vertreten. 125 Zum Begriff vgl. C.I.1.a)aa).

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

65

Merkmalen auf den Versuchsanfang [(2)] beschränkt bleibt.126 Der „Vorsatz“ des Versuchs umfaßt dort lediglich das kognitive Element „Wissen“ des Täters, mit der Ausführungshandlung die Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn zu überqueren. Die Vorstellung des Täters von der weiteren – zur Vollendung führenden – Tathandlung muß zu diesem Zeitpunkt des Versuchsbeginns unwiderleglich festgelegt werden.127 ff) Kritik Die Trennung von Versuch und Rücktritt in §§ 43 und 46 RStGB von 1871 führt auch zu einer Separation beider Rechtsinstitute in der Versuchsund Rücktrittsdogmatik. Als Resultat dieser „Einzelbetrachtung“ koexistieren zwei in ihrer Merkmalsstruktur unterschiedliche Versuchsbegriffe: In der Auseinandersetzung zum Rücktritt der „punktuelle“ Begriff des „strafbaren Versuchs“, der lediglich den objektiven und subjektiven Versuchsanfang beschreibt. Diese der kriminalpolitischen Rücktrittsthese inhärente Begriffsbestimmung reduziert die rechtliche Versuchsphase auf die „Abgrenzung“128 zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn. Der Versuch wird objektiv durch den „Anfang der Ausführung“ des Versuchs und subjektiv durch einen mit dieser Demarkierung festgelegten „Vorsatz“ charakterisiert (siehe Übersicht 9, S. 66). Die Ansichten129 zum Versuch behandeln demgegenüber die Vollendungsperspektive als maßgebliches Kriterium und beziehen das dem Versuchsanfang nachfolgende Tatgeschehen in ihre Versuchsbetrachtung mit ein: Der Begriff des Versuchs sei „als vor der Vollendung liegende Verwirklichungsstufe aufzufassen“130. Folglich umfaßt der strafbare Versuch in seinen objektiven und subjektiven Merkmalen die gesamte zwischen Vorbereitungshandlung und (Nicht)Vollendung liegende Tathandlungssequenz. Das Merkmal „Anfang der Ausführung“ bezieht sich nicht nur auf den Versuchsanfang, sondern auch auf die bis zur Vollendung reichende(n) Tathandlung(en). Der darauf gerichtete „Vorsatz“ beschreibt die „Vorstellung von der – zur Vollendung führenden – Tat“. Die Versuchslehre vertritt den „vollendungsbezogenen“ Versuchsbegriff (siehe Übersicht 10, S. 67).131 126

Vgl. C.I.1.a)bb), b)bb). Dies folgt aus der Annahme, mit dem Überqueren der Grenze von der Vorbereitungshandlung zum Versuchsbeginn sei bereits der „strafbare Versuch“ verwirklicht, so deutlich die Aussage von v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 128 Vgl. den „Augenblick“ bei v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202, sowie die Darstellung in B.II.2.b)cc)(2). 129 Auch jener Autoren, welche die kriminalpolitische Rücktrittsthese vertreten. 130 H. Mayer, StrafR, 1936, S. 307. 131 Zum Begriff vgl. C.I.1.a)aa). 127

66

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert Übersicht 9 Der Versuchsbegriff nach der kriminalpolitischen Rücktrittsthese

(1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

Subjektiver + Objektiver „Anfang der Ausführung“132

„Rücktritt“

(4) Ve

(Nicht)Vg

Versuchsbegriff:133

Rücktrittsthese:

1. Subjektive Merkmale: „Vorsatz“ bzgl. Versuchsanfang: a) kognitives Vorsatzelement „Wissen“, die „Versuchsgrenze“ zu überqueren b) voluntatives Vorsatzelement „Wollen“ als „Vorstellung von der zur Vollendung führenden Tat“ wird bereits zum Zeitpunkt des Versuchsanfangs unwiderleglich festgelegt134

Die bereits verwirkte Versuchsstrafe entfällt infolge eines nachträglich eintretenden Ereignisses. Der verbrecherische Charakter der Tat bleibt unberührt.135

2. Objektive Merkmale: a) „Anfang der Ausführung“ des Versuchs b) latente bzw. mittelbare Verletzungsgefahr für das Rechtsgut

132

Heute: das „Unmittelbare Ansetzen“. Vgl. die Versuchsdefinition bei v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 134 Dies ist die Konsequenz der kriminalpolitischen Rücktrittsthese, vgl. o. Fn. 128. Demgegenüber stellt v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 506 Fn. 33 a fest: „Ist von dem Handelnden bereits ein Teil des gesetzlichen Tatbestands verwirklicht worden, so kann daraus doch keineswegs unbedingt auf den definitiven und bis zur Vollendung fortdauernden Willen ein sicherer Schluß gezogen werden.“ 135 Vgl. Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 410 f.; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 99. 133

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

67

Übersicht 10 Der Versuchsbegriff nach der Versuchslehre (1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

(4) Ve

Nicht(Vg)

Vorstellung von der zur Vollendung führenden Tat: voluntatives Vorsatzelement „Wollen“ beim Versuch: „Der Vorsatz ist für Vorbereitungshandlung, Versuch und Vollendung derselbe.“136

Versuchsbegriff: 1. Subjektive Merkmale: a) „Vorsatz“ bzgl. Versuchsanfang: kognitives Vorsatzelement „Wissen“, die „Versuchsgrenze“ zu überqueren b) „Vorsatz“ bzgl. gesamter Versuchsphase: voluntatives Vorsatzelement „Wollen“ als „Vorstellung von der zur Vollendung führenden Tat“ 2. Objektive Merkmale: a) „Anfang der Ausführung“ zur Vollendung b) manifeste bzw. unmittelbare Verletzungsgefahr für das Rechtsgut 3. Fazit: Der Rücktritt erscheint als „Variante“ der Versuchsphase und kann als negatives Merkmal des „strafbaren Versuchs“ charakterisiert werden.

Diese Divergenz zwischen der Begriffsbestimmung des Versuchs nach der kriminalpolitischen Rücktrittsthese auf der einen und jener der Versuchslehre auf der anderen Seite bleibt aufgrund der „Einzelbetrachtung“ beider Rechtsinstitute unreflektiert. Besonders deutlich zeigt sich diese Friktion bei Eb. Schmidt137, dessen Versuchsbeschreibung an die „rechtstheoretische“ Synthese von Versuch und Rücktritt bei Hälschner138 erinnert: Nach Schmidt liegt „das Wesen des Versuchs in der Richtung der Willensbetätigung, mithin in der Beziehung des Geschehenen auf ein Nichtgeschehenes“139 sowie „in der objektiven wie subjektiven Beziehung des Geschehenen auf die nicht eingetretene Veränderung in der Außenwelt“140. 136

o. Fn. 122. Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 301 ff. (305). 138 Hälschner, System, I, 1858, S. 199 f., konstatiert, daß „die Versuchshandlung eben nur in ihrer Beziehung auf die verbrecherische Absicht strafbar ist, und darum nicht strafbar sein kann, so wie der Thäter selbst durch das Aufgeben der Absicht diese Beziehung getilgt hat.“. 139 Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 301. 137

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

Wenn Schmidt hier das Wesen des Versuchs als objektive und subjektive Beziehung des Geschehenen auf ein Nichtgeschehenes141 beschreibt, dann folgt er einer verbrechensstrukturellen Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt. Denn die subjektive Beziehung auf die „nicht eingetretene tatbestandsmäßige Veränderung in der Außenwelt“142 charakterisiert den Rücktritt des Täters als „Wesensmerkmal“ des Versuchs. Diese Begriffsbestimmung berücksichtigt Schmidt jedoch nicht bei seiner zum Rücktritt vertretenen Deutung. Dort folgt er unbesehen der v. Lisztschen kriminalpolitischen Theorie „Goldene Brücke“,143 deren „punktueller“ Versuchsbegriff im Widerspruch zu seiner „Wesensbestimmung“ des Versuchs steht. Diese Diskrepanz ist – wie schon bei Wachenfeld144 – darauf zurückzuführen, daß Schmidt die kriminalpolitische Rücktrittsthese vornehmlich zur Lösung des Teilnahmeproblems heranziehen zu müssen glaubt.145 gg) Exkurs: Begriffsbestimmung des Vorsatzes beim Versuch Die Auseinandersetzungen zu Versuch und Rücktritt verdeutlichen die zwei wesentlichen Komponenten des „Vorsatzes“ beim Versuch: einmal das kognitive Element „Wissen“ als Vorstellung des Täters über das gegenwärtige Tathandlungsstadium; zum anderen das voluntative Element „Wollen“ als Vorstellung von der zur Vollendung führenden Tat.146 Da die Bezeichnung „Vollendungsvorsatz“ beim Versuch diese unterschiedlichen Merkmalsausprägungen nicht hinreichend wiedergibt und zudem aufgrund des verbalen Gleichklangs mit den Vorsatzdefinitionen beim vollendeten Delikt Mißverständnisse unausweichlich sind, sollen an dieser Stelle zwei Termini technici für den „Vorsatz-“ Begriff beim Versuch vorgeschlagen werden. (1) Für die Beschreibung des kognitiven Elementes „Wissen“ bietet sich die Bezeichnung „aktualisiertes Tatbewußtsein“ an: Der Täter ist sich bewußt, mit seiner gegenwärtigen Ausführungshandlung die Grenze zwischen der Vorbereitung und dem Versuchsbeginn einer Straftat zu überqueren: Er nimmt z. B. die Pistole aus seiner Tasche und zielt auf das Tatopfer. 140

o. Fn. 139, S. 305. o. Fn. 139. 142 o. Fn. 140. 143 o. Fn. 139, S. 315. 144 Vgl. Wachenfeld, StrafR, 1914, S. 182, 186, sowie die Darstellung unter C.I.1.b)dd). 145 o. Fn. 139, S. 318. 146 Vgl. dazu Welzel, Grundzüge, 1940, S. 35, 39; ders., Maurach-FS, 1972, S. 6 ff. (8). 141

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

69

Der Täter hat die Vorstellung, für den Eintritt der Vollendung noch weiter handeln zu müssen (Stadium des unbeendeten Versuchs) bzw. daß die bisherige Handlung genügt und er den Vollendungseintritt lediglich abwarten muß (Stadium des beendeten Versuchs) bzw. daß seine Handlung gescheitert und der Vollendungseintritt nicht mehr möglich ist (Stadium des fehlgeschlagenen Versuchs). (2) Für die begriffliche Fassung des voluntativen Elementes „Wollen“ als Vorstellung von der zur Vollendung führenden Tat bietet sich die Bezeichnung als „Vollendungsvorhaben“147 an: Sowohl die Vorbereitung als auch der Versuch einer Tat weisen regelmäßig148 auf das Vorhaben des Täters hin, die Vollendung des Delikts herbeizuführen bzw. diese schrittweise zu verwirklichen: Der Täter öffnet die für ihn fremde Tasche, um sein Vorhaben – die Wegnahme der Diebesbeute – durchführen zu können. Dieses „Vollendungsvorhaben“ konkretisiert jenen von der Versuchsdogmatik sog. „Vollendungsvorsatz“, welcher den Kategorien Vorbereitunghandlung,149 Versuch150 und Vollendung zugrundeliegt. Tabelle 1 Der Vorsatzbegriff beim Versuch Kognitives Vorsatzelement151

Voluntatives Vorsatzelement152

Sog. „aktualisiertes Tatbewußtsein“

Sog. „Vollendungsvorhaben“

beschreibt die subjektive Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn

spezifiziert den herkömmlich sog. Vollendungsvorsatz beim Versuch

sowie die Festlegung der Versuchsstadien unbeendet, beendet, fehlgeschlagen

147

Vgl. die Verwendung des Begriffs „Vorhaben“ in § 31 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Ausnahme: der Standardfall des „agent provocateur“. 149 Vgl. § 31 Abs. 1 Nr. 2 StGB. 150 Vgl. § 22 StGB: die „Vorstellung von der (zur Vollendung führenden) Tat“; zu dieser Auslegung Streng, JZ 1994, S. 713; ders., JZ 2000, S. 23; ders., JuS 2001, S. 543; ferner Hillenkamp, Roxin-FS, 2001, S. 702. 151 Vgl. die Charakterisierungen dieser Vorsatzkomponente des Versuchs bei Gössel, ZStW 87 (1975), S. 28 f., 30 f.; Struensee, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 523 ff. (527). 152 Vgl. die Beschreibung dieser Vorsatzkomponente des Versuchs bei Streng, ZStW 109 (1997), S. 862 ff. (871). 148

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

c) Der Rücktritt als „eigenartiger“ Strafausschließungsgrund nach R. Schmidt153 Im Unterschied zur h. M., die den Rücktritt vor dem Hintergrund einer kriminalpolitischen Entscheidung des Gesetzgebers als Strafausschließungsbzw. Strafaufhebungsgrund definiert, gelangt R. Schmidt zu einer solchen Verortung aufgrund einer verbrechensstrukturellen Gesamtbetrachtung von Versuchsstrafbarkeit und Rücktritt. Schmidt charakterisiert den Rücktritt als Widerlegung der im Versuch154 zunächst vermuteten Rechtsgutsgefährdung: Die Straflosigkeit des Versuchs155 sei „die natürliche Konsequenz des Grundgedankens der Versuchsstrafe, insofern der Täter dann durch sein eigenes Verhalten bewiesen hat, daß eine ernstliche Gefährdung nach Lage des Falls nicht vorlag“.156 Schmidts Rücktrittsinterpretation bezieht sich folglich nicht – wie jene der „Rechts- bzw. Annullationstheorie“ Zachariaes – auf das subjektive Versuchsmerkmal eines bösen „Willens“,157 sondern setzt an der Rechtsfolge „Strafbarkeit“ bzw. „Strafwürdigkeit“ des Versuchs an. Diese Nuancierung in der Deutung läßt sich durch die Paare „Versuch und Rücktritt“ sowie „Versuchsstrafbarkeit und Rücktritt“ beschreiben. Anders als die kriminalpolitische Rücktrittsthese nach der h. M. betrachtet Schmidt Versuch und Rücktritt jedoch auch nicht als jeweils eigenständige „Einzelakte“. Seine Rücktrittsperspektive bewegt sich vielmehr zwischen einer kriminalpolitischen „Separation“ und einer rechtstheoretischen „Synthese“ beider Rechtsinstitute. Der Rücktritt erscheint bei ihm nicht als „Variante“ der Versuchsphase, sondern als Merkmal der Rechtsfolge des Versuchs. Schmidts Bestimmung des Rücktritts als „eigenartiger Strafausschließungsgrund“ müßte somit zwischen einem Deliktstatbestand und einem Bestrafungstatbestand des Versuchs trennen:158 Der Rücktritt wäre dann ein (negatives) Merkmal der „Strafbarkeit“, der den „Haupttatcharakter“ des schuldhaften159 Versuchs für eine Teilnahme bestehen ließe. Eine solche Differenzierung nimmt Schmidt jedoch nicht vor, wenn er aus seiner Rücktrittsthese schlußfolgert, daß bei einem Rücktritt des Täters 153

R. Schmidt, Grundriss, 1925, S. 142. Genauer: Versuchsanfang. 155 Der Strafgrund des Versuchs ist nach R. Schmidt die „konkrete Gefährdung“ für das Rechtsgut. Er vertritt somit die Ansicht der Lehre vom „Mangel am Tatbestande“, vgl. o. Fn. 153. 156 o. Fn. 153. 157 Zu den Elementen des „Willens“ vgl. Welzel, Grundzüge, 1940, S. 35, 39; ders., Maurach-FS, 1972, S. 6 ff. (8); Hruschka, Ged.-Schr. für Zipf, 1999, S. 243 ff. (247). 158 Vgl. die Darstellung dieser Sichtweise unter C.I.1.a)cc). 159 Die damalige „strenge“ Akzessorietät der Teilnahme von einer schuldhaften Haupttat, vgl. Welzel, o. Fn. 157, S. 65, 69 f. 154

I. Versuch und Rücktritt nach der gesetzlichen Trennung

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auch der Teilnehmer straflos sein müsse.160 Da die damalige „strenge“ Akzessorietät der Teilnahme das Vorliegen einer schuldhaften, nicht aber strafbaren Haupttat voraussetzt, definiert Schmidt bei genauerer Betrachtung den Rücktritt nicht als einen eigenartigen Straf-, sondern im Sinne eines Schuldausschließungsgrundes. Diese Lösung der Teilnahmefrage bei Schmidt macht deutlich, daß die Rechtsdogmatik des hier maßgeblichen Zeitraums nicht auf eine hinreichende Abgrenzung zwischen der Schuld und der Strafbarkeitsebene des Versuchs zurückgreifen kann.161 Damit aber wird auch verständlich, warum die Bejahung einer Teilnehmerstrafbarkeit bei einem Rücktritt des Täters für die h. M. an die kriminalpolitische Begründung des Rücktritts gekoppelt ist:162 Die Ansicht, der Rücktritt lasse den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt,163 ermöglicht die Ausgrenzung des teilnahmerelevanten „Haupttatcharakters“ des Versuchs vom Rücktrittsinstitut.

2. Zusammenfassung Mit der eigenständigen Normierung von Versuch und Rücktritt in §§ 43 und 46 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 setzt sich auch eine „Einzelbetrachtung“ beider Rechtsinstitute in der Rechtslehre durch. Diese verbrechensstrukturelle Separation manifestiert sich in der kriminalpolitischen Rücktrittsthese der h. M., nach der der Rücktritt den „Deliktscharakter“ des Versuchs unberührt läßt. Die dieser Aussage inhärente Versuchsperspektive bleibt überwiegend unerkannt. Einzig v. Liszt164 definiert in seinem Lehrbuch von 1888 den hier sog. „punktuellen“ Versuchsbegriff als jenen „Augenblick, in welchem die Grenzlinie zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuche überschritten wird“. Eine solche Bestimmung schon des Versuchsanfangs als „strafbarer Versuch“ ist der Lösung der Teilnahmefrage geschuldet: Da die Versuchsdogmatik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts noch nicht auf einen hinreichend abgestuften Delikts- bzw. Verbrechensaufbau zurückgreifen kann,165 muß der Rücktritt vom Versuchsgeschehen getrennt werden, um 160

o. Fn. 153. Deshalb ist auch die Charakterisierung des Rücktritts als persönlicher Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund nötig. 162 Die kriminalpolitische Rücktrittsthese wird zumeist im Zusammenhang mit der Teilnahmefrage vertreten, vgl. beispielhaft Wachenfeld, StrafR, 1914, S. 182, 186; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 318; Welzel, o. Fn. 157, S. 99 ff. (101). 163 Die kriminalpolitische These der h. M. zum Rücktritt als Strafausschließungsbzw. Strafaufhebungsgrund, vgl. Mezger, StrafR, 1949, S. 402 m. w. N., 408. 164 StrafR, 1888, S. 202. 161

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

zwischen dem „Haupttatcharakter“ des Versuchs und dem Rücktritt differenzieren zu können. Die Verortung des Rücktritts als sog. kriminalpolitischer Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund soll somit die Strafbarkeit der Teilnehmer bei einem Rücktritt des Täters garantieren. Die Versuchslehre vertritt hingegen weiterhin einen hier sog. „vollendungsbezogenen“ Versuchsbegriff, der auch die dem Versuchsanfang nachfolgende Ausführungshandlung miteinbezieht. Da Versuch und Rücktritt nunmehr jedoch als zwei unabhängige „Einzelakte“ behandelt werden, bewegen sich auch die diese betreffenden Diskurse auf getrennten Ebenen. Als Folge dieser Aufspaltung bleiben die Unterschiede in der Charakterisierung des Versuchsbegriffs unerörtert. Bei einer genaueren Betrachtung der kriminalpolitischen Rücktrittsthese lassen sich zwei unterschiedliche Bestimmungen des „strafbaren Versuchs“ ausmachen: Zum Rücktritt wird der auf den Versuchsanfang reduzierte Versuchsbegriff vertreten, nach dem das gesetzliche Merkmal „Anfang der Ausführung“ bereits mit dem Beginn der Versuchshandlung erfüllt ist. Im Unterschied dazu begreift die Versuchsdogmatik den Versuch „als vor der Vollendung liegende Verwirklichungsstufe“166. Nach dieser Beschreibung mitumfaßt der Versuchsbegriff demnach auch die nachfolgenden Tathandlungen einschließlich des „Anfangs der Ausführung“ zur Vollendung.

II. Separation und Gesamtbetrachtung: Dogmengeschichtliche Nachzeichnung ab 1950 1. Die Retrospektive als Ausblick Die historisch-dogmatische Retrospektive auf die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vertretenen Ansichten zum Verhältnis von Versuch und Rücktritt sollte dazu dienen, eine Grundlage für das Verständnis der nachfolgenden modernen Interpretationsmuster zu ermöglichen. Die folgende – nun längsschnittartige – Rekapitulation der Diskussion beider Rechtsinstitute durch Gesetz und Rechtslehre im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vermag vielleicht, das heute festgefahren und diffus anmutende Meinungsspektrum167 vor einen nachvollziehbaren Hintergrund zu rücken. Vor allem aber ist es der Versuch, die in lediglich anderem Gewand wiederkehrenden Grundpositionen zur Frage des Versuchs, und des Rücktritts, zu verdeutlichen. 165

Vgl. dazu Welzel, JuS 1966, S. 421 ff. (425); ders., Maurach-FS, 1972, S. 3 ff.

(8). 166 167

Vgl. H. Mayer, StrafR, 1936, S. 307. Vgl. Jäger, Rücktritt, 1996, S. 3, zu § 24 StGB.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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Die rechtlichen Fixierungen des strafbaren Versuchs in Art. 178 CCC, in §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR sowie in § 31 Pr.StGB von 1851 folgen einer „Gesamtbetrachtung“ von Versuch und Rücktritt, welche in der damaligen Rechtslehre ihren Widerhall findet.168 In negativer Formulierung beziehen Art. 178 CCC und § 31 Pr.StGB von 1851 den Rücktritt in die Strafbarkeitsvoraussetzungen des Versuchs mit ein: Nicht jede Versuchshandlung stellt einen „strafbaren Versuch“ dar, sondern nur die „wider Willen“169 bzw. „unabhängig vom Willen“170 des Täters verhinderte Vollendung. Das ALR regelt den Rücktritt als „Abstehen von der Ausführung“ in einem eigenständigen Paragraphen (§ 43, II, Tit. 20),171 was auf den ersten Blick gegen die hier vertretene Annahme einer „Gesamtbetrachtung“ und für die „Separation“ von Versuch und Rücktritt sprechen könnte.172 Die Einbettung dieser Vorschrift in die Strafzumessungsskala des Verbrechens von der „Drohung“, den „vorläufigen Anstalten“ über die noch getrennt positivierten „Versuchsstadien“ bis zur Vollendung veranschaulicht jedoch den lediglich deskriptiven Charakter dieses rechtlichen Normierungsschemas: Der auf die Vollendung gerichtete Verbrechensverlauf, innerhalb dessen auch ein Rücktritt denkbar ist, soll durch das Gesetz umfassend abgebildet werden.173 Vor allem aber umschreiben diese Vorschriften das jeweilige Bestrafungsmaß und sind somit – aus heutiger Sicht – wohl vornehmlich als Strafzumessungsregelungen zu verstehen.174 Die Struktur des Rücktritts ist hingegen den einzeln positivierten Versuchsstadien (§§ 40–42, II, Tit. 20) zu entnehmen. Denn nach diesen trifft das konkrete Strafmaß den Täter nur, wenn die Vollendung durch einen „blossen Zufall“175 verhindert wor168

Vgl. B.I.1. Art. 178 CCC: „Straff understandner missethat. Item so sich jemandt mit etlichen scheinlichen wercken, die zu volnbringung der missethat dienstlich sein mögen, understeht, und doch an der volnbringung derselben missethat durch andere mittel, wider seinen willen verhindert würde [. . .] ist peinlich zu straffen [. . .].“ (Hervorhebung der Verfasserin); zit. nach Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1857, S. 588. 170 § 31 Pr.StGB von 1851: „Der Versuch ist nur dann strafbar, wenn derselbe durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung enthalten, an den Tag gelegt und nur durch äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umstände gehindert oder ohne Erfolg geblieben ist.“ (Hervorhebung der Verfasserin). 171 § 43, II, Tit. 20 ALR: „Wer aus eigener Bewegung von der Ausführung des Verbrechens absteht [. . .] kann auf Begnadigung Anspruch machen.“. 172 So u. a. Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 367 Fn. 36. 173 Vgl. dazu v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 304. 174 Vgl. Goltdammer, Mat, I, 1851, S. 248, und die Darstellung unter B.I.1.a), b). 175 § 40, II, Tit. 20 ALR: „Hat der Thäter zur Vollziehung des Verbrechens von seiner Seite alles gethan, – die zum Wesen der strafbaren Handlung erforderliche Wirkung aber ist durch einen blossen Zufall verhindert worden [. . .].“ (Hervorhebung der Verfasserin). 169

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

den ist bzw. umgekehrt formuliert: Die in §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR statuierte Versuchsstrafbarkeit entsteht dann nicht, wenn es „kein bloßer Zufall“ war, der die Vollendung verhindert hat. Dieser „Nicht-Zufall“ ist zugleich die Bejahung eines Rücktritts, so daß auch den Versuchsregelungen des ALR eine „Gesamtbetrachtung“ beider Rechtsinstitute zu Grunde liegt. Statt die auf einem Rücktritt beruhende Nichtvollendung – wie seit § 31 Pr.StGB von 1851 geschehen – straflos zu lassen, legt § 43, II, Tit. 20 ALR einen fakultativen Straferlaß im Wege eines Rechts auf Begnadigung fest. Die bis in die heutige Rechtslehre hinein vertretene Auslegung des § 43, II, Tit. 20 ALR als eigenständige176 Rücktrittsnormierung fungiert bei genauerer Betrachtung somit als bloße subsidiäre Strafzumessung für die nach einem Rücktritt in der Außenwelt verbleibende Versuchshandlung. Eine solche „eigenständige“ Vorschrift über die Bestrafung der Konstellation „Versuch mit Rücktritt“ erübrigt sich mit der gesetzlichen Entscheidung, den zurücktretenden Versuchstäter straflos zu lassen. Im Ergebnis ist es daher diese „Rechtsfolge“ der in das Ermessen des Richters gestellten Begnadigung, welche im späteren § 31 Pr.StGB von 1851 – weil der Versuch bei einem Rücktritt nun stets straflos ist – wegfällt. Inhaltliche Unterschiede zwischen den Versuchsregelungen des ALR und jener des § 31 Pr.StGB von 1851 bestehen entgegen dem ersten Anschein folglich nicht. Das ALR regelt den Rücktritt nach hier vertretener Ansicht auf zwei Ebenen: Einmal in den Versuchsregelungen der §§ 40–42, II, Tit. 20, indem der „Rücktritt“ als „Nicht-Zufall“ bereits das Entstehen der konkreten Versuchsstrafe hindert.177 Damit normiert das ALR hier Versuch und Rücktritt im Wege einer „Gesamtbetrachtung“. Zum anderen erörtert es in der zusätzlichen Vorschrift des § 43, II, Tit. 20, welche „Rechtsfolge“ eintritt, wenn die Vollendung aufgrund eines solchen „Nicht-Zufalls“ – nämlich durch einen Rücktritt – verhindert worden ist. Statt generelle Straflosigkeit gewährt diese „Strafzumessungsregel“ zunächst nur ein Recht auf Begnadigung.178 Die vor einem Rücktritt liegende Versuchshandlung wird durch diese Aussage des Gesetzes indirekt für grundsätzlich strafbar erklärt, dem Täter zugleich aber ermöglicht, sich mittels eines Gnadengesuchs der Strafe zu § 41, II, Tit. 20 ALR: „Die nächste Strafe nach dieser trifft den, welcher durch einen blossen Zufall an der letzten, zur Ausführung des Verbrechens erforderlichen, Handlung gehindert wurde.“ (Hervorhebung der Verfasserin). § 42, II, Tit. 20 ALR: „Hat ein solcher Zufall schon die vorläufigen Anstalten zu der strafbaren Handlung unterbrochen [. . .].“ (Hervorhebung der Verfasserin). 176 So Lang-Hinrichsen, o. Fn. 172. 177 Unter C.I.1.b)bb) als „Primärebene“ bezeichnet, welche das „verbrechensstrukturelle“ Verhältnis von Versuch und Rücktritt beschreibt. 178 Die „Sekundärebene“, welche die Frage nach der „Rechtsfolge“ strafbar, strafmildernd, straflos oder – wie hier – Möglichkeit der Begnadigung betrifft, vgl. C.I.1.b)cc).

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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entziehen. Diese Aufstellung eines spezifischen179 Strafmaßes für den geschehenen Versuchsabschnitt – welches durch die unter Umständen „kriminalpolitische“ Beurteilung des Richters180 im Wege der Begnadigung erlassen werden kann – offenbart bereits jene „Separation“ von Versuch und Rücktritt, welche sich später in der Einordnung des Rücktritts als Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund fortsetzt. Mit der gesetzlichen Entscheidung für die Straflosigkeit des Versuchs bei einem Rücktritt in § 31 Pr.StGB von 1851 erübrigt sich zwar die Rechtsfolgebestimmung des § 43, II, Tit. 20 ALR, nicht aber sollen die den Rücktritt integrierenden Versuchsregelungen der §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR wegfallen.181 Folglich ergibt sich bei einer genaueren Analyse des Gesetzeswortlauts der hier maßgeblichen Vorschriften des ALR sowie der Entwurfsgeschichte zu § 31 Pr.StGB von 1851, daß es eigentlich die isolierte Betrachtung von Versuch und Rücktritt sowie die mit dieser korrespondierende kriminalpolitische Rücktrittsthese sind, denen durch einen Gesetzesakt die Grundlage entzogen wurde. Die Entwicklung der finalen Handlungslehre182 seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts führt zur Einordnung des bis zu diesem Zeitpunkt als Schuldform firmierenden natürlichen Vorsatzes in den Tatbestand. Als Resultat183 dieser Verlagerung findet die sog. limitierte Akzessorietät der Teilnahme von der tatbestandlichen, rechtswidrigen Haupttat 1943 in §§ 48, 49 insbesondere 50 Abs. 1 StGB auch ihre Verankerung im Gesetz.184 Somit entfällt der dritte und letzte185 für die gesetzliche Trennung von Versuch und Rücktritt ursprünglich sprechende Grund. Die nun erforderliche Ausein179 Die aus der Vorschrift des § 43, II, Tit. 20 ALR erschlossen werden muß: Wenn nur ein „Recht auf Begnadigung“ besteht, dann ist von einer grundsätzlichen Strafbarkeit auszugehen. Diese entspricht aber nicht jener Strafbarkeit in den Versuchsregelungen der §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR, da letztere nur die durch „Zufall“ verhinderte Vollendung betreffen. 180 Die Prüfung des durch den Täter geltend gemachten „Rechts auf Begnadigung“. 181 Die im ALR getrennt positivierten Versuchsstadien werden in der Formulierung „Anfang der Ausführung“ in § 31 Pr.StGB von 1851 lediglich zusammengefaßt, vgl. B.I.1.b). 182 Vgl. dazu Welzel, ZStW 58 (1939), S. 493 ff., 522 ff., 533 f.; ders., Grundzüge, 1940, S. 22 ff., 35 ff., 39 ff., 44 ff., 58 f.; ders., JuS 1966, S. 421 ff. (425); ders., Maurach-FS, 1972, S. 3 ff. (8). 183 Vgl. dazu Welzel, Grundzüge, 1940, S. 65 ff., 69, 75. 184 § 50 Abs. 1 StGB von 1943 lautet: „Sind mehrere an einer Tat beteiligt, so ist jeder ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld strafbar.“, vgl. Lackner/Maassen, StGB, 1969, § 50 Rn. 3.a): „Abs 1 normiert den Grundsatz der limitierten Akzessorietät.“. 185 Nach der Abschaffung der Geschworenengerichte 1924 und der Klärung der Beweislast bei Versuch und Rücktritt, vgl. dazu auch Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 33, 34 ff. (37), 38 f., 40, 43 ff. (45).

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

andersetzung mit der Frage, ob die separate Betrachtung beider Rechtsinstitute sowie die Bestimmung des Rücktritts als „kriminalpolitischer“ Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund beizubehalten ist, unterbleibt jedoch. Bis in die Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein wird diese Charakterisierung des Rücktritts von der herrschenden Meinung186 unhinterfragt weiterhin zur Lösung der – nun eigentlich obsoleten187 – Teilnahmeproblematik herangezogen. Tabelle 2 Versuch und Rücktritt in den Kodifikationen Modell: Gesamtbetrachtung

Separation

Art. 178 CCC §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR

§ 43, II, Tit. 20 ALR

§ 31 Pr.StGB von 1851 §§ 43 und 46 RStGB von 1871

2. Die Kritik an der Separation und die (Wieder-)Entdeckung der Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt Seit der Mitte der 50er, vor allem in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, mehren sich die Stimmen gegen die herrschende Meinung188 vom Rücktritt als eines kriminalpolitischen Strafaufhebungsgrundes. Dabei entledigt man sich vor allem der „Goldenen-Brücken-Theorie“189 in etwa auf die gleiche Art und Weise, wie sie zunächst großzügig und wenig hinterfragt übernommen wurde. Gestützt wird ihre Ablehnung nun auf die Aus186

Rob. v. Hippel, StrafR, II, 1930, S. 410; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 315, 318; Krauthammer, Rücktritt, 1932, S. 5 ff. (25) m. w. N.; H. Mayer, StrafR, 1936, S. 322 f.; zunächst noch Welzel, Grundzüge, 1940, S. 99; Mezger, StrafR, 1949, S. 402 m. w. N. 187 Mit der Entscheidung des Gesetzgebers für die „limitierte“ Akzessorietät der Teilnahme von der vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat im Strafgesetzbuch von 1943 entfällt die Notwendigkeit einer Trennung von Versuch und Rücktritt sowie die Verortung des letzteren nach der Schuld als kriminalpolitischer Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund. 188 o. Fn. 186. 189 v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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sage, die diesem Konzept zugrundeliegende Annahme190 sei „lebensfremd“ und „vermag den § 46 nicht zu tragen“191. Dieses pauschale Argument genügt, eine bislang in Judikatur und Rechtslehre als gut vertretbar angesehene kriminalpolitische These192 preiszugeben.193 Eindrucksvoll offenbart sich dieser Paradigmenwechsel bei Welzel: Während er den Rücktritt in seinen „Grundzügen“ von 1940 ohne eine nähere Auseinandersetzung als kriminalpolitischen „persönlichen Strafaufhebungsgrund“194 bezeichnet, erkennt er in seinem Lehrbuch „Das deutsche Strafrecht“ von 1956 nunmehr den „wahren Sinn“ in der „Geringfügigkeit“ der „Schuld, die sich im Rücktritt“ zeige.195 Allerdings erläutert Welzel diese Interpretation nicht und verfährt zudem inkonsequent, wenn er nur zwei Seiten später den Rücktritt in Zusammenhang mit der – notabene – Teilnahmefrage wieder bzw. immer noch als „persönlichen Strafaufhebungsgrund“ bezeichnet.196 Da jeglicher Hinweis auf die zuvor gemachte Äußerung fehlt, handelt es sich vermutlich um eine bei der Überarbeitung nicht als korrekturbedürftig verstandene Übernahme aus den Vorauflagen. Diese „Fehlleistung“ vermag jedoch zu veranschaulichen, daß und inwieweit die Teilnahmefrage die Versuchs- und Rücktrittsdogmatik spaltet: einerseits die ‚vage‘ Vorstellung davon, daß der Rücktritt in irgendeiner Art und Weise auf den „Verbrechenscharakter“ des Versuchs zu beziehen sei; auf der anderen Seite – und diesbezüglich bietet sich als „bequemere“197 Lösung die Bezeichnung als Strafaufhebungsgrund an – der auch nach einem Rücktritt des Täters für die Teilnehmerstrafbarkeit unabdingbare „Haupttatcharakter“ des Versuchs. Die Kritik an der Einzelbetrachtung von Versuch und Rücktritt ist wohl vor allem durch Reinhard von Hippels198 Konstruktion des Rücktritts als eines „negativen Tatbestandsmerkmals“ in Erinnerung gerufen worden. 190 Dem Täter könne durch die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts ein „Anreiz“ (= „goldene Brücke zum Rückzug“) dafür geschaffen werden, seine Tat nicht zu vollenden; vgl. v. Liszt, o. Fn. 189. 191 Welzel, StrafR, 1956, S. 161. 192 Vgl. Welzel, o. Fn. 186, statt „Anreiz“ hier „Chance“; ferner Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 368. 193 Das weitere Argument Jägers, Rücktritt, 1996, S. 5, der „Anreizgedanke“ als Rücktrittsmotiv lasse sich empirisch nicht nachweisen, wirkt vor dem Hintergrund einer sich überwiegend normativ verstehenden Strafrechtsdogmatik befremdlich. 194 Welzel, o. Fn. 186. 195 o. Fn. 191. 196 o. Fn. 191, S. 163. 197 Vgl. Kemsies, Tätige Reue, 1929, S. 23 f., der den Begriff „Strafaufhebungsgrund“ dementsprechend als „bequemen Sammelnamen“ bezeichnet. 198 Reinh. v. Hippel, Untersuchungen über den Rücktritt vom Versuch, 1966.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

Während dem plastischen Begriff des negativen Tatbestandsmerkmals bis in die heutige Rechtslehre hinein Aufmerksamkeit zuteil wird,199 scheint der Hintergrund für diese Begriffsbestimmung in Vergessenheit geraten zu sein.200 Denn den Terminus „negatives Tatbestandsmerkmal“ leitet v. Hippel aus einer Analyse jener zwei grundlegenden und perspektivisch unterschiedlichen Versuchsbegriffe heraus ab, welche die Kontroverse über die Einordnung des Rücktritts vorbestimmen. Die im Rahmen dieser Arbeit als „punktuell“ und „ganzheitlich“ charakterisierten Versuchsanschauungen firmieren bei Reinh. v. Hippel in einer Anknüpfung an Radbruchs mehr philosophische Terminologie als sog. „kategorialer“ und „teleologischer“ Versuchsbegriff.201 Ihm nachfolgend sind es die Arbeiten von Lang-Hinrichsen202 und von v. Scheurl203, die diese Interdependenz zwischen der jeweiligen Versuchsauffassung und der dieser entsprechenden Rücktrittsdeutung noch erkennen und erläutern. Da alle diese drei Ansichten im Rücktritt ein „negatives Merkmal“ des „strafbaren Versuchs“ erkennen, sich aber in der Teilnahmefrage unterscheiden, sollen die Übereinstimmungen und Divergenzen näher beleuchtet werden. a) Der Rücktritt als negatives Merkmal des strafbaren Versuchs aa) Die Ansicht Reinh. v. Hippels204 „Welcher Ausschnitt aus dem Verhalten des Täters [. . .] ist Gegenstand des Versuchsbegriffs? Was ist überhaupt die Tat, die anhand des jeweiligen Versuchsbegriffs auf ihre soziale Unerträglichkeit hin zu wägen ist [. . .]?“205 Eine Antwort auf diese beiden Ausgangsfragen in der Arbeit Reinh. v. Hippels wurde in den Vorüberlegungen206 bereits angedeutet. Erinnert sei an die dort erörterten – als „punktuell“ und „ganzheitlich“ bezeichneten – Versuchsbegriffe sowie deren Rückbindung an die Rücktrittsproblematik. Dieser Betrachtung folgen auch die vorangestellten Überlegungen v. Hip199 Zumeist im Zusammenhang mit der Ablehnung dieser Konzeption Reinh. v. Hippels, vgl. Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 370; aus der jüngeren Literatur Jäger, Rücktritt, 1996, S. 4. 200 Deutlich bei Jäger, o. Fn. 199. 201 Vgl. o. Fn. 198, S. 30 f. 202 Lang-Hinrichsen, o. Fn. 199, S. 353 ff. (379). 203 v. Scheurl, Rücktritt vom Versuch und Tatbeteiligung mehrerer, 1972, S. 17 ff. (21). 204 Untersuchungen über den Rücktritt vom Versuch, 1966. 205 Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 30 f. 206 Vgl. C.I.1.a)aa), bb).

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pels, wenn nach ihm bereits im Wortlaut des § 46 RStGB „Der Versuch als solcher bleibt straflos [. . .]“ die zwei von Grund auf verschiedenen Versuchsbegriffe angelegt seien:207 Der eine entspreche „kategorialer Systematik“ und bedürfe „teleologischer Korrekturen“208 (= Versuch)209, der andere ergebe sich durch das „Ausscheiden der Rücktrittsfälle aus der Strafdrohung“ und sei „teleologisch gebildet“ (= strafbarer Versuch). Bei diesem letzteren werde bereits „das Sondermerkmal des strafbaren Unrechts als Ausgangspunkt“210 für die Versuchsbestimmung gewählt.211 Beide Versuchsbegriffe stehen nach v. Hippels Ansicht sowohl in § 46 als auch in § 43 RStGB nach der „Wortinterpretation“212 zunächst gleichberechtigt nebeneinander.213 In Anlehnung an Radbruch erörtert v. Hippel den kategorial verstandenen Versuchsbegriff vor dem Hintergrund seines „rechtstheoretischen“ Ansatzes folgendermaßen: „Will man den Versuchsbegriff kategorial „aus dem allgemeinen Begriff des deliktischen Unrechts ableiten [. . .]“, so ist dieses anscheinend mit dem „Beginn der Ausführung“ (§ 43 I) bereits unabänderlich erreicht [. . .]. Folgerichtig können hinzutretende weitere Tatumstände das Unrecht zwar modifizieren [. . .], nicht aber als solches aufheben [. . .]. Da der fragmentarische Charakter des Strafrechts kategorial nicht verständlich ist [. . .], erscheint jedes Zurückbleiben der Poenalisierung hinter dem kategorial bestimmten Unrecht als Systemwidrigkeit [. . .]. Dementsprechend kann der Rücktritt vom Versuch im System nicht eingeordnet werden. Er erscheint deshalb als persönlicher Strafaufhebungs- oder Strafausschließungsgrund [. . .], ohne daß näher erklärt wird, was darunter juristisch zu verstehen ist [. . .]. Da das System es nicht anders erlaubt, erscheint der Rücktritt dann auch ohne jede Wirklichkeitsforschung als neue Handlung, deren rechtliche „Prämiierung“ „nur“ kriminalpolitisch, d. h. teleologisch gerechtfertigt werden kann [. . .]. Für kategoriale Versuchstheorien [. . .] ist also die Grundfrage des Rücktrittsproblems bereits mit der Systemwahl präjudiziert.“214 Bei einer Übertragung der v. Hippelschen Begriffsklärung zum Versuch in das in den Vorüberlegungen215 dargestellte Versuchs- und Rücktritts207

o. Fn. 198, S. 31. o. Fn. 207. 209 Zur semantischen Unterscheidung der Begriffe „Versuch“ und „strafwürdiger Versuch“ vgl. Maurach, StrafR, AT, 1954, § 43 III C 2, S. 445; Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 31 Fn. 205. 210 Radbruch, in: Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 32 Fn. 209. 211 o. Fn. 198, S. 32. 212 Vgl. die Überschrift, o. Fn. 207. 213 o. Fn. 211. 214 Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 32 f. 208

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schema ergibt sich: Der „kategoriale Versuchsbegriff“ v. Hippels beschreibt den dort sog. Versuchsanfang.216 Umfaßte dieser Tathandlungsabschnitt allein schon das gesetzliche Versuchsmerkmal „Anfang der Ausführung“ – so wohl zunächst auch nach v. Hippel217 –, dann erfüllte bereits das Überschreiten der Grenze zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn alle Merkmale des Begriffs „strafbarer Versuch“.218 Die nachfolgende – u. a. als Rücktritt erscheinende – Ausführungshandlung wäre dogmatisch als eigenständige Tat neu zu bewerten. Eine solche „punktuelle“ Versuchsperspektive vermag die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts auf den Versuch dann nicht verbrechensstrukturell (= rechtstheoretischer Ansatz), sondern nur mit außerhalb des Verbrechens- bzw. Versuchssystems liegenden Erwägungen – hier: die gesetzliche Vorgabe des § 46 RStGB –219 zu erklären (= kriminalpolitischer Ansatz).220 Dementsprechend bedingt nach v. Hippel221 ein kategorialer Versuchsbegriff notwendigerweise den Rücktritt als „exceptio“222 der allgemeinen Verbrechensstruktur. Im Unterschied dazu indiziert eine teleologische Versuchsperspektive zunächst nur, „daß der Rücktritt innerhalb des Versuchsbegriffs seine Aufklärung und Rechtfertigung“ finden müsse.223 Zu dem bis in die moderne Rechtslehre überlieferten Verständnis des Rücktritts als sog. „negatives Tatbestandsmerkmal“ des Versuchs gelangt v. Hippel, indem er die gesamte zwischen Vorbereitungshandlung und Nichtvollendung liegende Tathandlungssequenz als eine Versuchsphase auffaßt (= hier sog. „ganzheitliche“ Versuchsperspektive nach dem Modell der „Gesamtbetrachtung“).224 Es werden somit auch die Handlungen,225 welche der Täter nach dem Versuchsanfang vornimmt, diesem einen „Versuch“ zugeordnet.226 Folglich beginnt der „strafbare Versuch“ nach v. Hippel mit dem 215

Vgl. C.I.1.a)aa), bb). Nach Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 43, die „Vordergrenze“ des Versuchs. 217 Vgl. o. Fn. 198, S. 32 letzter Satz, 2. HS. 218 Wie u. a. die vornehmlich von Roxin aufgeworfene Frage nach dem „Anfang“ des beendeten Versuchs aufzeigt, vgl. Roxin, JuS 1979, S. 3 ff. (12); ders., Maurach-FS, 1972, S. 213 ff. (233). 219 Das Rekurrieren auf den Gesetzgeber zeigt sich deutlich bei v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 220 Vgl. o. Fn. 198, S. 33. 221 Vgl. o. Fn. 198, S. 31. 222 Vgl. o. Fn. 198, S. 30. 223 o. Fn. 220. 224 Vgl. Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 63 f., 66 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH, 68 f., 71, 73. 225 Neben einem „normgemäßen“ Rücktrittsverhalten sind auch „normwidrige“ Handlungen denkbar. Auf diese „Varianten“ der Versuchsphase wird im folgenden noch näher eingegangen. 216

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Überschreiten der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn, endet aber erst mit der letzten Ausführungshandlung227 vor der definitiven (Nicht)Vollendung.228 Diesen Lebenstatbestand des unvollendeten Delikts diskutiert v. Hippel schon umfänglich auf der ersten Aufbaustufe „Tatbestand“.229 Folglich fehlt ein konstitutives „Tatbestandsmerkmal“230 des „strafbaren Versuchs“, wenn der Täter zurücktritt.231 Die Verortung des Rücktritts im „Tatbestand“ führt dazu, daß auch die Teilnehmer – mangels Haupttatcharakters des Versuchs – bei einem Rücktritt des Täters straflos bleiben.232 Ein solches Resultat stellt für v. Hippel jedoch keine Mißliebigkeit dar, die dazu nötigte, den Rücktritt einer anderen Deliktsebene zuzuordnen,233 sondern ist für ihn zunächst die Konsequenz der Betrachtung aus „der allgemeinen Versuchslehre“234 heraus.235 Die verbleibende Strafwürdigkeit des nicht zurücktretenden Teilnehmers kann allein – so v. Hippel – „aus der Gefährlichkeit der Teilnahmehandlung selbst begründet werden“.236 Unverständlich und mangels hinreichender Nachweise237 auch nicht nachvollziehbar muß deshalb die Kritik Jägers bleiben, wenn er v. Hippel vorwirft, dessen Konzeption gerate „mit den Akzessorietätsgrundsätzen der Teilnahmelehre in Konflikt“.238 Bei genauerer Betrachtung ist der Deutungsansatz v. Hippels streng am Akzessorietätsgedanken orientiert, weil er den Rücktritt als „negatives Tatbestandsmerkmal“ auf den Versuch als Haupttat bezieht und das dieser Konzeption geschuldete Ergebnis auch anerkennt. Von Hippels Interpretation geht gerade nicht den in der Dogmenge226

Vgl. Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 67 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung, 68 f. 227 Vgl. BGHSt 31, 170 f.; 33, 297 f.; 35, 91 f.; BGH NStZ 2003, 370. 228 Die „Obergrenze“ des Versuchs nach Spohr, Str.Abh. (215), 1926, S. 13. 229 Vgl. Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 72 f. 230 Eine solche Verortung des Rücktritts als negatives „Tatbestandsmerkmal“ der ersten Aufbaustufe „Tatbestand“ kann – wie gezeigt – nicht ohne weiteres auch den Ansätzen der „Rechtstheorien“ des 19. Jahrhunderts zugeschrieben werden; so aber Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 372, und jüngst wieder Roxin, StrafR, AT, II, 2003, § 30 I, S. 481 f. Rnn. 11 ff. 231 Nach v. Hippel, o. Fn. 198, S. 74, ist der „strafbare Versuch“ ein „pflichtwidriges Unterlassen eines Rücktritts“. 232 Die Teilnahmehandlungen sind nach v. Hippel bei einem Rücktritt des Täters „straflose versuchte Anstiftung oder Teilnahme“, vgl. o. Fn. 198, S. 71. 233 So aber Hälschner, StrafR, 1881, S. 362, und Lang-Hinrichsen, o. Fn. 230, S. 370. 234 Vgl. Reinh. v. Hippel, o. Fn. 198, S. 72. 235 Diese Betrachtung läßt sich auch in der Entstehungsgeschichte der §§ 43 und 46 RStGB von 1871 finden, vgl. dazu Herzog, Rücktritt, 1889, S. 361. 236 o. Fn. 234. 237 Vgl. Jäger, Rücktritt, 1996, S. 4 Fn. 9. 238 o. Fn. 237, S. 4.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

schichte oftmals eingeschlagenen Weg, den Rücktritt allein wegen der Teilnahmefrage auf einer anderen Deliktsebene zu verorten.239 Konsequent zieht er für die Strafbarkeit des nicht zurücktretenden Teilnehmers vielmehr eine eigenständige Begründung in Betracht. Mit seiner Bestimmung des Rücktritts als „negatives Tatbestandsmerkmal“ der ersten Deliktsstufe bezieht v. Hippel bereits in den Tatbestand Erwägungen zur „Strafwürdigkeit“ bzw. „Strafbedürftigkeit“ des Versuchs ein240 und diskutiert sie mit der Rücktrittsfrage folglich vor den Ebenen „Rechtswidrigkeit“ und „Schuld“. Diese dem „Tatbestand“ nachfolgenden Verbrechensstufen sind demnach nur noch jener Versuchskonstellation vorbehalten, bei der ein Rücktrittsverhalten des Täters fehlt. Gegen v. Hippels Rücktrittskonzeption spricht jedoch, daß er mit der Verneinung des „Tatbestandes“ zugleich auch die im Versuchsanfang manifestierte Tathandlung im Ganzen leugnet und als rechtlich irrelevant behandelt. Die Annahme einer solchen nachträglichen Annullationswirkung des Rücktritts auf den „strafbaren Versuch“ verkennt jedoch, daß der objektivierte Versuchsabschnitt als „bereits Geschehenes“ tatsächlich nicht mehr dementierbar sein kann241 und somit auch dogmatisch seine Berücksichtigung finden muß. bb) Die Ansicht Lang-Hinrichsens242 Im Unterschied zu Reinh. v. Hippel vermeidet Lang-Hinrichsen gerade wegen der Teilnahmefrage die Einordnung des Rücktritts als negatives Tatbestandsmerkmal des Versuchs, weil die Beteiligten „unverdienterweise aufgrund des Rücktritts des Haupttäters straflos bleiben“.243 Bei Lang-Hinrichsen ist es deshalb ein über die Schuldebene hinausreichender „Tatbegriff“,244 der „teleologisch“ bzw. im Wege einer „Gesamtbetrachtung“ zu ermitteln sei.245 Ist dieser „Tatbegriff“ erfüllt, dann liegt der „strafbare Versuch“ in allen seinen Elementen verwirklicht vor. Da Lang-Hinrichsen den Rücktritt weder der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- oder Schuldebene zuordnet, aber durch diesen der „Strafanspruch überhaupt nicht entstanden ist“246, verortet er den Rücktritt auf einer zwischen Schuld und Strafbarkeit 239

Wie u. a. Hälschner, o. Fn. 233; Lang-Hinrichsen, o. Fn. 233. Zur Unterscheidung zwischen einem „Subsumtions-“ und einem „Wertungssachverhalt“ vgl. Streng, JZ 1994, S. 709 ff. (714); ders, JZ 2000, S. 20 ff. (27). 241 So auch die Ansicht der Rechtstheorien, vgl. Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627. 242 Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 353 ff. (379). 243 o. Fn. 242, S. 370. 244 Vgl. o. Fn. 242, S. 373. 245 Vgl. o. Fn. 242, S. 371. 246 Vgl. o. Fn. 242, S. 374. 240

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liegenden Stufe. Damit – ohne es jedoch zu kennzeichnen – statuiert LangHinrichsen einen Begriff des „Versuchs“ und einen Begriff des „strafbaren Versuchs“. Letzterer erscheint bei ihm in der allgemeinen Umschreibung „Tatbegriff“ und impliziert bei einem „Nicht-Rücktritt“ das Merkmal „Strafwürdigkeit“247 des Versuchs. Nach Lang-Hinrichsens Konzeption wäre der Rücktritt nicht als Element des Versuchs, sondern des Bestrafungstatbestandes des Versuchs oder kurz: „strafbaren Versuchs“ zu charakterisieren.248 Nach dem Versuchs- und Rücktrittsschema der Vorüberlegungen249 ergibt sich für den Ansatz Lang-Hinrichsens: Der „Versuch“ liegt mit dem Überschreiten der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn vor. Dieser Versuchsanfang erfüllt die Deliktsebenen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld. Der bei Lang-Hinrichsen als „Tatbegriff“ bezeichnete „strafbare Versuch“ umfaßt darüberhinaus die gesamte Tathandlungssequenz zwischen Vorbereitungshandlung und (Nicht)Vollendung und impliziert den Rücktritt als (negatives) Merkmal der „Strafwürdigkeit“ des Versuchs. Lang-Hinrichsen folgt damit einer anderen250 rechtlichen Übersetzung der Versuchsphase in den Verbrechens- bzw. Deliktsaufbau als Reinh. v. Hippel: Während sich nach v. Hippel der „strafbare Versuch“ mit dem Versuchsanfang sukzessive entwickelt, trennt Lang-Hinrichsen zunächst das Kriterium „Strafbarkeit“ vom „Versuch“.251 Bei ihm entsteht zunächst ein tatbestandsmäßiger, rechtswidriger und schuldhafter „Versuch“ und erst anschließend stellt sich mit der Frage nach dessen „Strafwürdigkeit“ auch jene des Rücktritts. Ist ein Rücktritt zu verneinen, liegt mit der Verwirklichung des Merkmals „Strafwürdigkeit“ auch ein „strafbarer Versuch“ vor. Dieser – nicht hinterfragten – unterschiedlichen Handhabung der Begriffe „Versuch“ und „strafbarer Versuch“ ist wohl manches Mißverständnis in der heute zuweilen diffus anmutenden Versuchs- und Rücktrittsdogmatik zuzuschreiben. Darüberhinaus dürfte die in ihrem semantischen Gehalt unerkannt gebliebene Terminologie nicht unwesentlich zum Fehlverständnis der „Rechtstheorien“ des 19. Jahrhunderts beigetragen haben.252 Festzuhalten bleibt, daß auch Lang-Hinrichsen seine Versuchs- und Rücktrittsbetrachtung auf die gesamte zwischen Vorbereitungshandlung und (Nicht)Vollendung liegende Tathandlungssequenz stützt. Im Unterschied zu 247

o. Fn. 246. Ähnlich R. Schmidt, Grundriss, 1925, S. 142. 249 Vgl. C.I.1.a)aa), bb). 250 Wobei beide Konzepte vom Ansatz einer „Gesamtbetrachtung“ des Versuchsund Rücktrittsgeschehens her übereinstimmen. 251 Zu dieser Unterscheidung vgl. Maurach, StrafR, AT, 1954, § 43 III C 2, S. 445; Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 31. 252 Auf diesen Aspekt wird im folgenden näher eingegangen. 248

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

Reinh. v. Hippel ist es bei Lang-Hinrichsen aber nicht die Aufbaustufe „Tatbestand“, sondern ein den „Bestrafungstatbestand“ des Versuchs umfassender „Tatbegriff“, der die normative Bewertungsgrundlage für die Bestimmung des „strafbaren Versuchs“ bereit hält.253 Während Reinh. v. Hippel den „Tatbestand“ um eine wertende Rücktrittskomponente erweitert, schaltet Lang-Hinrichsen für die Verortung des Rücktritts eine zusätzliche normative Stufe „Strafwürdigkeit“ zwischen den Ebenen Schuld und Strafbarkeit ein. cc) Die Ansicht v. Scheurls254 Die Arbeit v. Scheurls widmet sich der Fortführung des durch Reinh. v. Hippel entwickelten Konzepts zum Rücktritt als „negatives Tatbestandsmerkmal“ des Versuchs.255 Allerdings vernachlässigt v. Scheurls Argumentation dann die Grenzen der bei v. Hippel deutlich konturierten Versuchsund Rücktrittsperspektive, wenn die Teilnahmefrage ins Blickfeld gerät. Im Gegensatz zum Vorbild, welches die Straflosigkeit der Teilnehmer bei einem Rücktritt des Täters anerkennt,256 hält v. Scheurls Ansatz diese Stringenz nicht durch. Vielmehr wird – wie in der Dogmengeschichte257 bereits geschehen – die Frage nach dem verbrechensstrukturellen258 Verhältnis zwischen Versuch und Rücktritt auf die Lösung des Teilnahmeproblems reduziert. Um den Haupttatcharakter des Versuchs nach einem Rücktritt des Täters aufrechtzuerhalten, ergänzt v. Scheurl den bereits bei v. Hippel erweiterten Tatbestandsbegriff um ein täterbezogenes Merkmal. Dem Rücktritt als „negatives Tatbestandsmerkmal“ des Versuchs ist nach seiner Ansicht eine „nur persönliche259 Wirkung zuzubilligen“.260 Dieser fragmentarisch bleibende Abschluß scheint v. Scheurl selbst aufgefallen zu sein, da er sogleich – dem Verständnis allerdings noch weniger dienlich – resümiert: „Bei einer 253

Vgl. Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 371 ff. (377). Rücktritt vom Versuch und Tatbeteiligung mehrerer, 1972. 255 Vgl. o. Fn. 254, S. 26 ff. (28), 35, 37. 256 Dabei sei nochmals erwähnt, daß v. Hippel sich konsequent an der Akzessorietät der Teilnahme von der (Versuchs-)Haupttat orientiert und feststellt: „Die Strafbedürftigkeit könnte deshalb bei der Teilnahme nur aus der Gefährlichkeit der Teilnahmehandlung selbst begründet werden. [. . .] Von der allgemeinen Versuchslehre aus gesehen sind also auch die Teilnahmehandlungen bei Rücktritt des Täters nicht strafbedürftig.“, vgl. Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 72. 257 Deutlich bei Hälschner, StrafR, 1881, S. 360 Fn. 3, 361 f. 258 Die eigentlich unabhängig vom Teilnahmeproblem zu hinterfragen wäre, dazu Reinh. v. Hippel, o. Fn. 256, S. 38: „Es ist auffallend, daß in der hier über mehr als ein Jahrhundert zurückverfolgten Problemgeschichte der Streit niemals um den methodischen Ansatz geführt worden ist.“. 259 Hervorhebung der Verfasserin. 260 Vgl. o. Fn. 254, S. 40. 254

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Systematisierung, die lediglich der übersichtlichen Darstellung des Rechtsstoffes dienen soll, mag der Rücktritt daher als „persönlicher Strafaufhebungsgrund“ bezeichnet werden.“.261 Da v. Scheurl diesem Begriff zuvor eine dogmatisch tragfähige Systematik bereits abgesprochen hat,262 wirft die Quintessenz an dieser Stelle mehr Fragen auf als sie beantwortet. Aber auch v. Scheurl weist noch darauf hin, daß die von der h. M. vertretene Charakterisierung des Rücktritts als „Strafaufhebungsgrund“ die Versuchsphase auf den „Versuchsanfang“ reduziert263 und stellt fest: „Die Herauslösung des Rücktritts aus dem Verbrechen wird – mehr oder weniger stillschweigend – mit dem Satz begründet: „Tatsachen sind unerbittlich“. Der Täter, der die Grenze zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuch überschritten habe, sei automatisch strafbar.“264 Diese Versuchsbetrachtung bezeichnet v. Scheurl als „gewisse mechanistische Anschauungsweise“, von der man sich „frei zu machen“ habe.265 Auch seine Arbeit läßt somit noch die dogmatische Genese jener Rücktrittsinterpretationen erkennen, die in der Dogmengeschichte als „kriminalpolitische“ versus „rechtstheoretische“ Ansätze vertreten werden266: Einmal die Bestimmung der Strafbarkeitsgrenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn als „strafbarer Versuch“.267 Eine solche in den Vorüberlegungen268 als „punktuell“ beschriebene Versuchsperspektive versteht den Rücktritt als „exceptio“269 des Versuchs- bzw. Verbrechenssystems. Andererseits wird der dem Versuchsanfang nachfolgende Tathandlungsverlauf vor dem Hintergrund einer Versuchsphase mitberücksichtigt.270 Bei der Einnahme dieser unter „ganzheitlich“ firmierenden Versuchsperspektive bleibt der Rücktritt – als normgemäße Variante – in das Versuchsgeschehen eingebettet.271 261

Vgl. o. Fn. 254, S. 41. Vgl. o. Fn. 254, S. 14 ff. (17). 263 Die nachfolgende in diesem Rahmen relevante Literatur hat diesen Zusammenhang nicht mehr im Blick. So versucht Jäger, Rücktritt, 1996, S. 62 ff., 65, eine Antwort darauf, was ein Rücktritt sei, zu finden, ohne sich näher mit dem Versuchsbegriff zu befassen. Die gegenseitige Abhängigkeit von Versuch und Rücktritt berücksichtigt dagegen die von Jäger (S. 4) vorschnell verworfene Konzeption Reinh. v. Hippels, o. Fn. 256, S. 30 f., denn er fragt zunächst „Welcher Ausschnitt aus dem Verhalten des Täters [. . .] Gegenstand des Versuchsbegriffs [ist]“. 264 v. Scheurl, Rücktritt, 1972, S. 17 f. 265 Vgl. o. Fn. 264, S. 19. 266 Vgl. Herzog, Rücktritt, 1888, S. 147 ff. (160). 267 Vgl. o. Fn. 264, S. 17 f., 19. 268 Vgl. C.I.1.a)bb). 269 Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 30. 270 Vgl. o. Fn. 264, S. 19 f.; o. Fn. 269, S. 71, 73 f., 78; Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 370 ff., (377). 271 Vgl. C.I.1.a)aa). 262

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert Übersicht 11 Der Versuchsbegriff als Ursprung der Rücktrittsauffassung272

I. Hier sog. „punktuelle“ bzw. „atomistisch-mechanistische“273 Versuchsperspektive (1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

Die Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsanfang definiert den „strafbaren Versuch“.

Der Rücktritt wird als neuer „Einzelakt“ bewertet und stellt einen gesetzlich statuierten „Strafaufhebungsgrund“ dar.

(4) Ve

(Nicht)Vg

Diese Betrachtungsweise spiegelt sich in den kriminalpolitischen Theorien zum Rücktritt wider.274

II. Hier sog. „ganzheitliche“ bzw. „teleologische“275 Versuchsperspektive (1)

(2)

(3)

Vh

Va

p/n R

(4) Ve

(Nicht)Vg

Die gesamte Versuchsphase ab der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsanfang bis zur (Nicht)Vollendung definiert den „strafbaren Versuch“. Der Rücktritt stellt eine gesetzlich eingeräumte „Variante“ dieser einen Versuchsphase dar. Die spezifische Verortung des Rücktritts im Delikts- bzw. Verbrechensaufbau hängt wesentlich davon ab, ob und wie man zwischen einem Begriff des „Versuchs“ und einem Begriff des „strafbaren Versuchs“ differenziert.276

Diese Betrachtungsweise spiegelt sich in den „Rechtstheorien“277, der Lehre vom Rücktritt als „negatives Tatbestandsmerkmal“278 sowie der Verortung des Rücktritts als „negatives Merkmal des Tatbegriffs“279 wider.280 272 Vgl. C.I.1.a); ferner Spohr, Str.Abh. (215), 1926, S. 11 f.; R. Schmidt, Grundriss, 1925, S. 142. 273 Vgl. zu den Begriffen Lang-Hinrichsen, o. Fn. 270, S. 370; v. Scheurl, o. Fn. 264, S. 19. 274 Das dogmatische Fundament ist die Aussage v. Liszts, StrafR, 1888, S. 202: „In dem Augenblicke, in welchem die Grenzlinie zwischen den straflosen Vorbereitungshandlungen und dem strafbaren Versuche überschritten wird, in demselben Augenblicke ist die auf den Versuch gesetzte Strafe verwirkt.“. 275 Vgl. Reinh. v. Hippel, o. Fn. 269, S. 30 f. 276 Vgl. Maurach, StrafR, AT, 1954, § 43 III C 2, S. 445; Lang-Hinrichsen, o. Fn. 270, S. 374.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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b) Exkurs: Die „Rechtstheorien“ des 19. Jahrhunderts: Eine zu Unrecht verkannte Versuchs- und Rücktrittsinterpretation?281 aa) Die Gemeinsamkeiten in Zachariaes Annullationstheorie, Reinh. v. Hippels Deutung des Rücktritts als negatives Merkmal des Tatbestands bzw. des Tatbegriffs bei Lang-Hinrichsen Gegenüber den „Rechtstheorien“ des 19. Jahrhunderts wird bis in die jüngste Rücktrittslehre hinein der Vorwurf erhoben, ihre These zum Strafbefreiungsgrund des Rücktritts bewerte den bereits manifesten Versuchstatbestand als „annulliert“ und laufe „im Ergebnis auf eine Leugnung des tatsächlich Geschehenen“282 hinaus.283 Des weiteren wird eingewandt, sie statuierten ohne einen Rückbezug zur jeweiligen gesetzlichen Vorgabe eine obligatorische Straflosigkeitswirkung des Rücktritts.284 Da auch die in diesem Zusammenhang maßgeblichen Versuchsvorschriften des ALR, §§ 40–42, II, Tit. 20, nur die durch „blossen Zufall“ verhinderte Vollendung als Versuch strafen, bleibt allerdings offen, welche legislative Entscheidung dieses Zeitraums die „Rechtstheorien“ unberücksichtigt lassen. Anhand einer zweiten Rückschau auf den Ansatz Zachariaes285 soll exemplarisch überprüft werden, ob diese Einwände zutreffen oder inwieweit 277 Deren Hauptvertreter sind Zachariae, Köstlin und Hälschner; vgl. die Darstellung unter B.I.1.d). 278 Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966; v. Scheurl, Rücktritt, 1972. 279 Lang-Hinrichsen, o. Fn. 270, S. 353 ff. (379). 280 Diese Versuchs- und Rücktrittsperspektive liegt zugrunde: Art. 178 CCC, §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR, § 31 Pr.StGB von 1851; umstritten ist diese Sichtweise zu §§ 43 und 46 RStGB von 1871 und bleibt es bis in die Zeit der §§ 22 und 24 StGB. 281 Zu den „Rechtstheorien“ vgl. B.I.1.d), Meinungsüberblick bei Herzog, Rücktritt, 1888, S. 147 ff. (160). 282 So Jäger, Rücktritt, 1996, S. 4, 9, 63; Roxin, StrafR, AT, II, 2003, § 30 I, S. 481 f. Rnn. 11 ff. 283 Aus diesem Grund hält v. Scheurl, Rücktritt, 1972, S. 20, eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den „Rechtstheorien“ für überflüssig, da sie lediglich noch den „Wert kurioser Antiquitäten“ repräsentierten; ebenso Lang-Hinrichsen, EngischFS, 1969, S. 366 f., 372, der nurmehr auf Sekundärliteratur zurückgreift, vgl. ebd., S. 367 Fn. 38; aus der jüngsten Rücktrittsliteratur Heckler, Rücktritt, 2002, S. 109, 109 Fn. 473, wenn er auf „historische Umschweife“ verzichtet und die Rechtstheorien nach ihm „allgemein als überholt gelten“; ebenso Boß, Der halbherzige Rücktritt, 2002, S. 15. 284 Vgl. v. Scheurl, o. Fn. 283. 285 Vgl. dazu bereits B.I.1.d).

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

lediglich eine Verkennung der „Rechtstheorien“ tradiert wird. Dabei soll vor allem jene Grundaussage der „Rechts- bzw. Annullationstheorie“ Zachariaes verdeutlicht werden, welche im Rücktrittsdiskurs des 20. Jahrhunderts in modifizierter Gestalt286 wiederkehrt. Zachariae287 erkennt in der durch eine „Willensänderung des Thäters unterbliebenen Vollendung“288 den Rechtsgrund dafür, daß der Rücktritt die Strafbarkeit289 des Versuchs tilgt.290 Diese vollendungshindernde Willensänderung definiert er als „Annullirung des bösen Willens“291 und folgert daraus, daß der böse Wille „rückwärts bedeutungslos“292 werde. Jenes „rückwärts bedeutungslos“ bei Zachariae bildet das wesentliche Argument gegen den „rechtstheoretischen“ Ansatz und wird bis in den modernen Rücktrittsdiskurs293 hinein unverändert rezipiert. Ohne eine nähere Analyse des maßgeblichen Kontextes294 wird dabei die von Zachariae hier gewählte Formulierung dahingehend ausgelegt, seine Rücktrittsthese bewerte „rückwärts“ den bereits geschehenen Versuchstatbestand als „annulliert“.295 Einer solchen Interpretation widerspricht jedoch, daß Zachariae selbst ausdrücklich darauf hinweist, daß das „Geschehene nicht ungeschehen“296 gemacht werden könne. Ein genauerer Blick auf Zachariaes Versuchs- und Rücktrittsdeutung offenbart die dogmatische Bedeutung dieser Aussage und die Konsistenz seiner Auffassung: „annulliert“ bzw. „rückwärts bedeutungslos“ ist nach Zachariae nur jener „vorhanden gewesene“297 und die „bisherigen Schritte leitende Wille“,298 den der Handelnde „ändert oder aufgiebt“299. Etwas aufgeben oder ändern kann man zwar für die Zu286 Nämlich im Gewand der sich weiter entwickelten Verbrechenslehre sowie des spezifizierten Verbrechens- bzw. Deliktsaufbaus, vgl. dazu Bockelmann, Untersuchungen, 1957, S. 150; Welzel, JuS 1966, S. 421 ff. (425). 287 Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 230 ff. (241). 288 Vgl. o. Fn. 287, S. 230. 289 Nicht der Versuch(!), sondern die Strafbarkeit des Versuchs wird getilgt. Dieser genaue Wortlaut Zachariaes wird von der Kritik zumeist nicht beachtet, so u. a. von Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 366 f., 370, 372, 374; Jäger, o. Fn. 282, S. 9; jüngst Roxin, o. Fn. 282. 290 Vgl. Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 240. 291 o. Fn. 290. 292 o. Fn. 290. 293 Zuletzt von Jäger, o. Fn. 282, S. 3 f., 9, 63; Roxin, o. Fn. 282. 294 Dieser Vorwurf betrifft vor allem Jägers Darstellung der Rechtstheorien, vgl. o. Fn. 293. 295 Deutlich bei Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 372. 296 Vgl. o. Fn. 290; ders., Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627. 297 Ausdrücklich nochmals Zachariae, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 627. 298 o. Fn. 290. 299 o. Fn. 290, S. 241.

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kunft bzw. ex nunc, nicht jedoch im Nachhinein eine bereits der Vergangenheit angehörende Tatsache.300 Die Tatsache als das „bereits Geschehene“ ist beim Versuch der manifestierte – und somit in der Außenwelt erkennbare – „böse Wille“. Dieser objektivierte Versuchsteil bleibt auch nach Zachariaes „Annullationstheorie“ bestehen. Da der „böse Wille“ aber auf die – über das Versuchsstadium hinausreichende – Vollendung des Delikts gerichtet ist, weist er über das hinaus, was beim Versuch objektiv geschieht.301 Der so charakterisierte „böse Wille“ kann sich im Verlauf der Ausführungshandlung „ändern“302 bzw. „aufgegeben“ werden. Diese „Vollendungsperspektive“ nimmt Zachariae ein und bewertet bei einem Rücktritt des Täters lediglich jenen „Willen“ als „annullirt“, der das objektive Fragment Versuch zu einer vollendeten Tat komplettierte.303 Zachariaes Ansatz bezieht den Rücktritt folglich nicht „rückwärts“ auf die geschehene Versuchshandlung, sondern auf die Vollendung, von der der Täter beim Versuch noch Abstand nehmen kann. Eine solche „prospektive“304 Sichtweise auch auf das Rücktrittsinstitut305 entspricht der lebensweltlichen Vorgabe, so daß es – wie bereits Zachariae306 und Hälschner307 feststellen – genau genommen nicht Rücktritt vom Versuch, sondern von der (anvisierten) Vollendung heißen müßte. Eine genauere Analyse der „Rechts- bzw. Annullationstheorie“ Zachariaes läßt somit – entgegen den von der herrschenden Meinung vorgebrachten Einwänden – nicht den Schluß zu, nach dieser erscheine das manifeste Versuchsgeschehen als „rückwärts bedeutungslos“. Die Formulierung Zachariaes „rückwärts bedeutungslos“308 erfährt mit der ab der Mitte des 20. Jahrhunderts vom BGH vertretenen sog. „Strafzweck-“ bzw. „Indiztheorie“ geradezu eine Renaissance. So führt der BGH in seinem Grundsatzurteil BGHSt 9, 48 ff. (52) zum Strafbefreiungsgrund des Rücktritts aus: „Steht der Täter von dem begonnenen Versuch freiwillig 300

Die Vergangenheit kann nur noch anders interpretiert werden. So die allgemeine Meinung zum sog. „Vollendungsvorsatz“ beim Versuch, stellvertretend seien genannt Welzel, Grundzüge, 1940, S. 94; Mezger, StrafR, 1949, S. 379 f., S. 379 Fn. 3 m. w. N. 302 Der „Delikts- bzw. Vorsatzwechsel“ nach dem Versuchsbeginn, vgl. dazu Günther, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 541 ff. (554), sowie BGH NStZ 1993, 281. 303 Vgl. dazu auch Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 303 Fn. 10. 304 Zum Begriff vgl. Streng, ZStW 109 (1997), S. 868 ff. (871). 305 Zum Versuch vgl. Streng, o. Fn. 304, S. 862 ff., 867 ff. (871). 306 Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 240. 307 Hälschner, System, I, 1858, S. 200. 308 o. Fn. 306, S. 241. 301

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ab, so zeigt sich darin, daß sein verbrecherischer Wille nicht so stark war, wie es zur Durchführung der Tat erforderlich gewesen wäre. Seine Gefährlichkeit, die im Versuch zunächst zum Ausdruck gekommen war, erweist sich nachträglich als wesentlich geringer [. . .].309“310 Aus dem Blickwinkel der „Annullationstheorie“ Zachariaes heraus ließe sich diese Aussage der höchstrichterlichen Rechtsprechung fortführen: die durch den Rücktritt erwiesene „geringere Gefährlichkeit“ des durch die Versuchshandlung manifestierten „bösen Willens“ läßt diesen „rückwärts bedeutungslos“ und damit den Versuch als nicht (mehr) strafwürdig311 erscheinen. Die Versuchs- und Rücktrittsperspektive Zachariaes kehrt in Reinh. v. Hippels „teleologischem Versuchsbegriff“ und – allerdings vom Autor unerkannt –312 im „teleologischen Tatbegriff“ Lang-Hinrichsens wieder. Wie Zachariae betrachten auch v. Hippel und Lang-Hinrichsen den Versuch nicht als „punktuelles“ Gebilde,313 sondern als ein „dynamisches“314 Geschehen, welches den über den Versuchsanfang hinausreichenden Tathandlungsverlauf mitberücksichtigt. Während Zachariae das lebensweltliche Versuchs- und Rücktrittsszenario „simultan“ in den rechtlichen Kontext übersetzt,315 knüpfen die Ansätze v. Hippels und Lang-Hinrichsens nicht mehr an der unmittelbaren Wirklichkeit des Versuchs- und Rücktrittsgeschehens an. Ihre Übertragung des Lebenssachverhalts beschränkt sich nun auf die Abbildung einer von der Realität abstrahierten Vorstellung, welche durch den – im 20. Jahrhundert hinreichend strukturierten –316 Verbrechens- bzw. Deliktsaufbau wiedergegeben werden kann.317 309

Hervorhebung der Verfasserin. Vgl. diese „Indizwirkung“ des Rücktritts schon bei E. R. v. Liszt, ZStW 25 (1905), S. 81: „Der qualitativ gefährliche Wille hat angefangen, sich quantitativ gefährlich zu äußern; der Rücktritt vom Versuch ist ein Ausfluß desselben Willens, der den Versuch herbeigeführt hat, und zwar zeigt uns dieser Rücktritt deutlich, daß das qualitative Moment zu gering war, um die wirkliche objektive Gefährlichkeit des Willens zu begründen. [. . .] Dadurch entfällt das eine Requisit der Strafbarkeit des bösen Willens – und damit auch selbstverständlich die Strafbarkeit selbst. Insofern kann meines Erachtens auch beim untauglichen Versuch der Rücktritt von Bedeutung werden.“ 311 Bei Zachariae, o. Fn. 306, S. 230 „strafbar“. 312 Da er die „Rechtstheorien“ als unvertretbar verwirft, vgl. Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 372. 313 Vgl. Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 30 f., 43; Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 370 f.; ferner v. Scheurl, Rücktritt, 1972, S. 19. 314 Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 371. 315 Die juristische „Methode“ dieser Epoche, wie sie das ALR verdeutlicht. 316 Vgl. dazu Welzel, JuS 1966, S. 421 ff. (425). 317 Dazu Welzel, o. Fn. 316; ferner Bockelmann, Untersuchungen, 1957, S. 150. 310

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Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die Ansätze Zachariaes, v. Hippels und Lang-Hinrichsens charakterisieren übereinstimmend das gesamte Tathandlungsgeschehen zwischen Vorbereitungshandlung und (Nicht)Vollendung als eine Versuchsphase.318 Der Rücktritt ist ein Bestandteil dieses „dynamischen“319 Versuchsverlaufs und kann als negatives Merkmal des „strafbaren Versuchs“ definiert werden. Den Ausführungen Zachariaes ist – im Gegensatz zu jenen v. Hippels und Lang-Hinrichsens – noch deutlich zu entnehmen, wovon der Täter realiter Abstand nimmt und aus rechtlicher Perspektive eigentlich nur zurücktreten kann: von der ursprünglich anvisierten Vollendung. Von Hippel und Lang-Hinrichsen lassen demgegenüber eine genauere Analyse und Identifizierung desjenigen Versuchselementes vermissen, welches ihren Begriff „Strafwürdigkeit“320 des Versuchs konstituiert. Die Antwort könnte in Zachariaes „annullirbaren bösen Willen“ gesehen werden, wie die „Bemerkungen“ Lang-Hinrichsens nahelegen:321 „Die vollständige Bewertungsgrundlage ist der dynamische Vorgang der freiwilligen Transformation eines zunächst gegen ein Rechtsgut gerichteten und betätigten Willens in einen rechtstreuen Willen, der auf die Verhinderung der Rechtsgutsverletzung gerichtet ist. Dieser Gesamtvorgang bildet eine einheitliche, neue Bewertungsgrundlage, ein einheitliches Wertgefüge neuen Ranges, das gesetzgeberisch zu einer anderen Beurteilung der Strafwürdigkeit Anlaß gegeben hat. Gegen die Einheit spricht auch nicht, daß der rechtstreue Wille nachträglich neu gebildet wurde. Wenn man hierin eine die Einheitlichkeit hindernde Zäsur sehen würde, so wäre dies eine psychologisch-naturalistische Betrachtungsweise. Für eine normative Betrachtung, die darauf ausgeht, den vollen Wert- und Sinngehalt zu erfassen, kann auch der Vorgang einer Transformation des Willens eine Sinneinheit darstellen und eine neue einheitliche Bewertungsgrundlage schaffen.“322 Was Lang-Hinrichsen hier als „Transformation des bösen Willens“ auf einer eher metajuristischen Ebene beschreibt, ist bei Zachariae323 unter dogmatischen Gesichtspunkten klarer definiert: Daß es nämlich „eine dem Versuche eigenthümliche Frage ist [. . .], welchen Einfluß die vermöge einer Willensänderung des Thäters unterbliebene Vollendung des Verbrechens auf die Strafbarkeit des Versuchs ausübe.“ Diese Gemeinsamkeit im Ansatz ge318 Im Gegensatz zur „statischen“ Auffassung derjenigen Ansichten, die Versuch und Rücktritt trennen, vgl. Lang-Hinrichsen, o. Fn. 313; v. Scheurl, o. Fn. 313. 319 o. Fn. 314. 320 Vgl. Reinh. v. Hippel, o. Fn. 313, S. 71, 73 f., 78; Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 374. 321 Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 371 f. 322 Hervorhebung der Verfasserin. 323 Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 230.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

rät bei Lang-Hinrichsen aus dem Blick, da er die „Rechtstheorien“ – und somit als deren Hauptvertreter auch Zachariae – als obsolet verwirft.324 bb) „Strafbarer Versuch“ nach globaler325 und elementarer326 Strafrechtsperspektive Die Verbrechenslehre des 19. Jahrhunderts entbehrt für die Abbildung des strafrechtsrelevanten Lebenssachverhalts noch eines strukturierten Subsumtions- und Klassifizierungsschemas, das der moderne Deliktsaufbau bietet. Eine klare Unterscheidung zwischen den einzelnen Aufbaustufen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld wird erst im Verlaufe des folgenden 20. Jahrhunderts entwickelt.327 Auch die Versuchs- und Rücktrittslehre bleibt davon nicht unbeeinflußt. Da zu Versuch und Rücktritt keine durchgreifenden legislativen Änderungen mehr vorgenommen werden, bleiben die Auswirkungen auf diese beiden Rechtsinstitute überwiegend unreflektiert.328 Die Aufspaltung der realen Tathandlung in die einzelnen Deliktsstufen Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld und Strafbarkeit führt jedoch auch zu einem Perspektivenwechsel bezüglich der Begriffe „Versuch“ und „strafbarer Versuch“.329 Denn die Bezeichnung „strafbarer Versuch“ erhält in einem mehrstufigen Deliktsaufbau eine andere Bedeutung als der Terminus „strafbarer Versuch“ im 19. Jahrhundert.330 Die damit erforderliche Neubestimmung der den Begriffen „Versuch“ und „strafbarer Versuch“ in der theoretischen Auseinandersetzung jeweils zugrundegelegten Bedeutung unterbleibt jedoch. Die Unterschiede zwischen den Begriffen „Versuch“ und „strafbarer Versuch“ manifestieren sich in den Betrachtungen von Versuch und Rücktritt bei Reinh. v. Hippel331 und Lang-Hinrichsen.332 Beide verwenden die Ter324

Vgl. Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 372. Mit „global“ wird hier die alltagstheoretische Verwendung des Begriffs „Versuch“ umschrieben, welche die Ebenen des juristischen Verbrechens- bzw. Deliktsaufbaus unberücksichtigt läßt. 326 Der Terminus „elementar“ bezeichnet den am Verbrechens- bzw. Deliktsaufbau orientierten Versuchsbegriff. 327 Instruktiv dazu Welzel, JuS 1966, 421 ff. (425); ders., Maurach-FS, 1972, S. 3 ff. (8). 328 Dazu Bockelmann, Untersuchungen, 1957, S. 150. 329 Vgl. Maurach, StrafR, AT, 1954, § 43 III C 2, S. 445; ferner Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 31; Bloy, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 177, 177 Fn. 121. 330 Die Rechtslehre des 19. Jahrhunderts unterscheidet nur zwischen einem „strafbaren“ und „straflosen“ Versuch, vgl. dazu B.I.1.d), II.2.b)cc), III. 331 Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966. 332 Lang-Hinrichsen, o. Fn. 289, S. 353 ff. (379). 325

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mini „Versuch“ und „strafbarer Versuch“ als allgemeine Kategorien, ohne damit zugleich eine Aussage über die Zuordnung auf eine bestimmte Delikts- bzw. Verbrechensebene zu treffen. Die Begriffe „Versuch“ und „strafbarer Versuch“ werden aus einer Perspektive heraus benutzt, bei der die Bestandteile des Deliktsaufbaus unberücksichtigt bleiben. Der „Versuch“ ist – da das Strafrecht sich vornehmlich auch nur an die strafbedürftige Wirklichkeit richtet – ein Synonym für den „strafbaren Versuch“. Der im 20. Jahrhundert konkretisierte Verbrechensaufbau untergliedert die Stufen Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld und Strafbarkeit. Damit stellt sich die für eine generalisierende Begriffsklärung notwendige Frage, ob und inwieweit der globale Versuchsbegriff des 19. Jahrhunderts von einem aufbauspezifischen elementaren Versuchsbegriff des 20. Jahrhunderts abzugrenzen ist.333 Übereinstimmend setzen nun sowohl Reinh. v. Hippel als auch Lang-Hinrichsen an dem Merkmal „Strafwürdigkeit“ des Versuchs an und verneinen diese bei einem Rücktritt. Da v. Hippel bereits den „Tatbestand“ als erste Deliktsstufe des Versuchs negiert, gibt es für ihn keine inhaltliche Differenz zwischen den Begriffen „Versuch“ und „strafbarer Versuch“.334 Er benutzt den Versuchsbegriff aus einer globalen Strafrechtsperspektive heraus. Eine andere Sichtweise nimmt Lang-Hinrichsen ein: Da das Merkmal „Strafwürdigkeit“ bei ihm nach den Deliktsebenen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld eingeordnet wird,335 differenziert er336 mit seiner Konzeption vom „Tatbegriff“ zwischen einem „Versuch“ und einem „strafbaren Versuch“. Lang-Hinrichsen folgt somit einer am Verbrechens- bzw. Deliktsaufbau orientierten – hier als elementar bezeichneten – Strafrechtsperspektive. Daß er damit von einem anderen Versuchsbegriff als dem des 19. Jahrhunderts ausgeht, offenbart Lang-Hinrichsens Ablehnung der „Rechtstheorien“ sowie die von ihm vertretene Interpretation des § 31 Pr.StGB von 1851.337 Vor dem Hintergrund seines modernen aufbauorientierten Versuchs- und Rücktrittsverständnisses verwirft er die Rechtstheorien unter Teilnahmegesichtspunkten als sog. „Tatbestandstheorie“,338 welche im Rücktritt ein negatives Merkmal des „Tatbestandes“ des Versuchs sähen.339 Zachariae als Hauptvertreter der Rechtstheorien fragt aber nicht nach der Wirkung des Rücktritts auf den Versuch, sondern nach jener auf die Strafbarkeit des Ver333 334 335 336 337 338 339

Vgl. dazu schon Beling, Methodik, 1919, S. 34 f., 35 Fn. 28. Vgl. dazu Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 378. Vgl. Lang-Hinrichsen, o. Fn. 334, S. 374. Ohne daß er dies allerdings entsprechend würdigte. o. Fn. 334, S. 366 f., 370, 372 f. o. Fn. 334, S. 372 f. o. Fn. 334, S. 366 f., 370.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

suchs.340 Dies zeigt, daß er keineswegs den „Versuchs- und Tatbestandsbegriff“ verwendet, den Lang-Hinrichsen dem 19. Jahrhundert zuschreibt.

Übersicht 12 Zur Unterscheidung zwischen einem „globalen“ und „elementaren“ Versuchsbegriff I. Der „globale“ Versuchsbegriff: Tatbestand

+

(1)

Rechtswidrigkeit

+

(2)

Schuld (3)

+

Strafbarkeit/Straflosigkeit (4)

Der „strafbare Versuch“ entsteht sukzessive mit der Verwirklichung der einzelnen Deliktsebenen. Der Rücktritt als negatives Merkmal des Versuchsbegriffs hemmt die Entstehung des „strafbaren Versuchs“.

„Versuch“ und „strafbarer Versuch“ werden synonym verwandt.341

II. Der „elementare“ Versuchsbegriff: Tatbestand (1)

+

Rechtswidrigkeit (2)

Bis zur Beantwortung der Rücktrittsfrage entsteht der „Versuch“.

+

Schuld

Rechtsfolge: strafbar/ straflos

(3)

(4)

Der „strafbare“ Versuch ist das Ergebnis, wenn kein Rücktritt vorliegt.

Der Rücktritt als negatives Merkmal des Versuchsbegriffs hemmt die Rechtsfolge „Strafbarkeit“ des Versuchs.

„Versuch“ und „strafbarer Versuch“ werden divergent verwandt.342

340

Vgl. Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 230. Vgl. den „teleologischen Versuchsbegriff“ bei Reinh. v. Hippel unter C.II.2.a)aa). 342 Vgl. den „Tatbegriff“ des Versuchs bei Lang-Hinrichsen unter C.II.2.a)bb), sowie die Ausführungen zur Rücktrittsperspektive bei R. Schmidt, Grundriss, 1925, S. 142, sowie unter C.I.1.c). 341

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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3. Das System von Versuch und Rücktritt in den modernen Versuchs- und Rücktrittsauffassungen Welzel schließt seinen im Jahre 1966 erschienen Aufsatz343 „Die deutsche strafrechtliche Dogmatik der letzten 100 Jahre und die finale Handlungslehre“ mit den Sätzen: „Welche Wege wird die Strafrechtswissenschaft in der Zukunft gehen? Vermutlich werden die dogmatischen Einsichten der letzten hundert Jahre in ihr aufbewahrt bleiben, aber sie selbst wird nicht mehr Dogmatik im bisherigen Sinne sein!“. Bei einem Blick auf die Versuchs- und Rücktrittsdogmatik des ausgehenden 20. Jahrhunderts erhalten diese noch344 hoffnungsfrohen Schlußworte Welzels einen eher skeptischen Unterton. Seine Vermutung, die historische Dogmatik werde ihren Stellenwert quasi als „Rat der Weisen“ behalten, erscheint aus der heutigen Sicht als unerfüllt gebliebenes Wunschdenken.345 Die von Welzel so bezeichneten „dogmatischen Einsichten der letzten hundert Jahre“ sind vielmehr im Bereich der Versuchs- und Rücktrittslehre wenig konstruktiv genutzt, sondern – versehen mit den Etiketten „Veraltung“ und „Unvertretbarkeit“ – der Vergessenheit preisgegeben worden.346 Während die Verbrechenslehre im 19. Jahrhundert erst beginnt, den strafrechtsrelevanten Lebenssachverhalt den juristischen Bedürfnissen entsprechend zu schematisieren, muß sie in der Moderne an einen Rückbezug zu diesem „Ausgangspunkt“347 ihrer Dogmatik erst wieder erinnert werden.348 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen sich die Verhältnisse somit umgekehrt dar: Der in seinen Abstufungen nunmehr differenzierte Verbrechensaufbau zergliedert auch die diesen zugehörigen „Elemente“. In der Folge tritt der Zusammenhang mit jenem Lebenssachverhalt in den Hintergrund, dem sie als Bestandteile eines „sinnvollen“ Ganzen349 angehören, hier: das Tatgeschehen von Versuch und Rücktritt in der Wirklichkeit. Gegenwärtig 343

JuS 1966, S. 421 ff. (425). In einem sechs Jahre später erscheinenden Aufsatz revidiert er diese Ansicht auch wieder, vgl. Welzel, Maurach-FS, 1972, S. 3 ff. (8). 345 Dazu Gössel, ZStW 87 (1975), S. 3, der betont, daß „die geschichtliche Dimension klar erkannt und mitberücksichtigt wird, während andererseits die Arbeiten der älteren Schriftsteller völlig unberücksichtigt bleiben.“. 346 Die Darstellung bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 3 ff. (8), greift dementsprechend zu kurz. 347 Welzel, Grundzüge, 1940, S. 35. 348 Vgl. zu diesem Aspekt Jakobs, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 276; ferner Schmidhäuser/Alwart, StrafR, AT, 1982, S. 350 ff. (352), 11/47-51; J. Meyer, ZStW 87 (1975), S. 616, 616 Fn. 101. 349 Bloy, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 177, spricht von „soziale(r) Sinneinheit“. 344

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

sieht man sich nicht nur getrennt voneinander geführten Diskussionen – zum Versuch hier, zum Rücktritt dort – gegenüber. Vielmehr sind diese parallelen Auseinandersetzungen jeweils selbst wieder durch die Einnahme einer „punktuellen“ Problemperspektive geprägt.350 Stimmen, die auf die Verbindung zwischen den beiden Diskussionsthemen hinweisen und zur Durchbrechung des „circulus vitiosus“ hätten beitragen können,351 sind weitgehend unbeachtet geblieben. Die nachfolgende Darstellung untersucht jene Diskurse der modernen Versuchs- und Rücktrittslehre, welche sich zwar nicht mehr ausdrücklich dem Verhältnis von Versuch und Rücktritt zuwenden, aber zugleich dieses betreffende Aussagen voraussetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich die moderne Versuchs- und Rücktrittsdogmatik nach der „Separierungsepoche“ einer verbrechensstrukturellen „Synthese“ beider Rechtsinstitute erst wieder annähert. Diese Tendenz manifestiert sich in Jägers352 Einleitungssatz zur – wohl jüngsten,353 aber nicht neuen354 – Wesensbestimmung des Rücktritts: „Will man sich das Wesen des Rücktritts sinnvoll erschließen, so kann dies nicht im Wege einer isolierten Betrachtung von Rücktritt und Versuch geschehen.“355 Daß diese Erkenntnis vorab herausgestellt werden muß, vermag zu verdeutlichen, welchen schmalen Weg die Dogmatik hier seit der von Welzel356 an die Zukunft gerichteten Frage gegangen ist. Für die Versuchs- und Rücktrittslehre der Zeit des Art. 178 CCC, der §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR, des § 31 Pr.StGB von 1851 sowie noch jener der §§ 43 und 46 RStGB von 1871 hätte wohl diese Feststellung – mit umgekehrtem Vorzeichen – für Erstaunen gesorgt.

350 Die Arbeit von Jäger, o. Fn. 346, S. 3 ff. (61), gibt einen Einblick in diesen „Problemkosmos“, ebd., S. 3 Fn. 2. 351 Z. B. Geilen, JZ 1972, S. 335 ff. (343), der den Zusammenhang zwischen der Interpretation des „fehlgeschlagenen“ Versuchs auf der einen und der damit verbundenen Rücktrittsperspektive auf der anderen Seite (S. 338) anmerkt. Gegenwärtig ist die Figur des „fehlgeschlagenen Versuchs“ allein Teil der Rücktrittsdogmatik. 352 o. Fn. 346, S. 62. 353 Neben jener von Heckler, Rücktritt, 2002. Boß, Der halbherzige Rücktritt, 2002, S. 41, 45, 196, glaubt, die Frage nach der Einordnung des Rücktritts im Straftatsystem aufgrund seines „multifaktoriellen“ Ansatzes unbeantwortet lassen zu können. 354 Zum Fundament der von Jäger, o. Fn. 346, S. 1, als „Entwurf einer völlig neuen Rücktrittslehre“ bezeichneten Konzeption wird an späterer Stelle näher eingegangen. 355 In diese Richtung auch Lilie/Albrecht LK 2003 § 24 Rn. 6; Heckler, o. Fn. 353, S. 89, 121, 129 ff. (133); Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, 1999, S. 27 f., 33, 35, 40 f. 356 Welzel, JuS 1966, S. 425.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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a) Die gesetzlichen Änderungen zu Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert: §§ 43 und 46 RStGB bzw. StGB und die §§ 22 und 24 StGB in der Fassung vom 1. Januar 1975 §§ 43 und 46 StGB vor 1975 § 43: „(1) Wer den Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben, durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens oder Vergehens enthalten, betätigt hat, ist, wenn das beabsichtigte Verbrechen oder Vergehen nicht zur Vollendung gekommen ist, wegen Versuchs zu bestrafen. (2) Der Versuch eines Vergehens wird jedoch nur in den Fällen bestraft, in welchen das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt.“ § 46: „Der Versuch als solcher bleibt straflos, wenn der Täter 1. die Ausführung der beabsichtigten Handlung aufgegeben hat, ohne daß er an dieser Ausführung durch Umstände gehindert worden ist, welche von seinem Willen unabhängig waren, oder 2. zu einer Zeit, zu welcher die Handlung noch nicht entdeckt war, den Eintritt des zur Vollendung des Verbrechens oder Vergehens gehörigen Erfolges durch eigene Tätigkeit abgewendet hat.“

§§ 22 und 24 StGB § 22: „Begriffsbestimmung. Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt.“ § 24: „Rücktritt. (1) Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern. (2) Sind an der Tat mehrere beteiligt, so wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die Vollendung verhindert. Jedoch genügt zu seiner Straflosigkeit sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern, wenn sie ohne seine Zutun nicht vollendet oder unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag begangen wird.“

Die Gesetzgebungsgeschichte357 zu § 31 Pr.StGB von 1851 und §§ 43 und 46 RStGB von 1871 läßt die Frage nach dem verbrechensstrukturellen System von Versuch und Rücktritt unbeantwortet. Weder die Gründe für die legislatorische Trennung beider Rechtsinstitute in §§ 43 und 46 RStGB von 1871358 noch die dieser nachfolgende Auseinandersetzung in der Rechtslehre können als Entscheidung zwischen kriminalpolitischer359 oder rechts357

Vgl. B.I.1.b), II.1., III. Das Verfahren mit Geschworenen, die Beweislastverteilung bei Versuch und Rücktritt, die Teilnahmeproblematik; diese tragenden Motive fehlen in den einschlä358

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

theoretischer360 Versuchs- und Rücktrittsanschauung verstanden werden.361 Die Versuchs- und Rücktrittsvorschriften der §§ 22 und 24 StGB vom 1. Januar 1975 sind das Resultat der vornehmlich sprachlichen Abstrahierung jener §§ 43 und 46 des RStGB von 1871. Auch im 20. Jahrhundert klären weder der Gesetzgeber noch die Versuchs- und Rücktrittslehre den „methodischen Ansatz“362 zum Verständnis beider Rechtsinstitute,363 so daß die Kontroverse „Kriminalpolitik“ versus „Rechtstheorie“ unter anderer Firmierung364 fortgeführt wird. Den Hintergrund für die gesetzlichen Modifizierungen der §§ 43 und 46 RStGB von 1871 bis zur Fassung365 der §§ 22 und 24 StGB von 1975366 bilden weiterhin Erwägungen,367 die eine definitive Aussage zum verbrechensstrukturellen Verhältnis von Versuch und Rücktritt nicht enthalten und eine solche auch nicht durch eine nachträgliche Gesetzesexegese zulassen.368 Die Diskussion in der Gesetzgebungsgeschichte der §§ 22 und 24 StGB von 1975 wird geführt zur Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn und zum sog. untauglichen Versuch.369 § 22 StGB (= Unmittelbares Ansetzen; sog. Ansatzformel) soll die dem § 43 a. F. (= Anfang der Ausführung) zugeschriebenen Auslegungsschwierigkeiten für die Rechtsprechung beheben und die Tendenz zu einer Vorverlagerung bzw. gigen Kommentaren, vgl. beispielhaft Höinghaus, StGB für den Norddeutschen Bund mit den vollständig amtlichen Motiven, 1870, S. 68. 359 Da eine Bestimmung des Rücktritts beim unbeendeten Versuch als kriminalpolitischer Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund nicht erfolgt ist, vgl. B.II.2.b)bb). 360 Vgl. v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 550; Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 36 f. 361 So u. a. Herzog, Rücktritt, 1889, S. 212 ff.; Meyer, StrafR, 1888, S. 265; v. Bar, o. Fn. 360; Reinh. v. Hippel, o. Fn. 360, S. 37; a. A. Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 367 Fn. 37. 362 Reinh. v. Hippel, o. Fn. 360, S. 38. 363 o. Fn. 362. 364 So durch die Ansichten Reinh. v. Hippels und Lang-Hinrichsens, vgl. C.II.2.a)aa), bb). 365 Zu den Entwürfen Bockelmann, Untersuchungen, 1957, S. 162 ff. (165); Hillenkamp, Roxin-FS, 2001, S. 692 ff. (694), 695. 366 Die Neuregelungen von Versuch und Rücktritt in §§ 22 und 24 StGB berühren die Zentralfragen beider Rechtsinstitute nicht, vgl. J. Meyer, ZStW 87 (1975), S. 602; ferner Mun˜oz-Conde, ZStW 84 (1972), S. 765; BGHSt 26, S. 201 ff. (204). 367 Vgl. dazu Bockelmann, o. Fn. 365, S. 157 ff. (162); Mun ˜ oz-Conde, o. Fn. 366; JA 1975, S. 95 ff.; J. Meyer, o. Fn. 366, S. 601 ff. (604); Jescheck, StrafR, AT, 1978, S. 419 ff. (422), 419 Fn. 29, 422 Fn. 41; Hillenkamp, o. Fn. 365, S. 692 ff., 696 ff. (698); BGHSt 26, S. 201 ff. (204). 368 A. A. Lang-Hinrichsen, o. Fn. 361. 369 o. Fn. 367.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

99

Tatbestandserweiterung auf bloße Vorbereitungshandlungen in der Judikatur eindämmen.370 Die weitere Frage nach der Strafbedürftigkeit des untauglichen Versuchs liegt schon den Gesetzesentwürfen der Jahre 1922, 1927, 1930 und 1936 zugrunde.371 Die hier getroffenen gesetzlichen Entscheidungen sind im Zusammenhang mit der damals noch einflußreich vertretenen Lehre vom sog. „Mangel am Tatbestande“, nach der der untaugliche Versuch straflos sei, zu sehen.372 b) „Separierungsmodell“ und das Modell der „Gesamtbetrachtung“ in der Diskussion ausgewählter Versuchskonstellationen Im folgenden wird untersucht, inwieweit die Einnahme einer „punktuellen“ oder „ganzheitlichen“ Versuchsperspektive auch zu einer unterschiedlichen Beurteilung der in der modernen Literatur und Rechtsprechung diskutierten Versuchskonstellationen führt. Zuvor sollen die einzelnen Fallgruppen kurz skizziert werden. Übersicht 13 nennt die dogmatischen Kategorien, die während des Tatverlaufs in diesem Zusammenhang relevant sind. Übersicht 14 beschreibt beispielhaft verschiedene Verhaltensweisen des Täters, nachdem er die Versuchsgrenze überschritten hat. Übersicht 15 betrifft die Einstellung des Täters zur ausgebliebenen Vollendung. Übersicht 13 Dogmatische Kategorien (1)

(2)

(3)

Vh

Va

Versuchsphase

(4) Ve

Nicht(Vg)

Varianten der Versuchsphase: 1. kein Rücktritt (negativer R.) 2. Rücktritt (positiver R.) 3. Delikts- bzw. Vorsatzwechsel 4. sog. „fehlgeschlagener“ Versuch bei weiterer Handlungsmöglichkeit: a) „freiwilliges“ Nichtweiterhandeln b) Ausschöpfen der weiteren Handlungsmöglichkeit 370 Vgl. JA 1975, S. 95 ff.; J. Meyer, o. Fn. 367; Jescheck, o. Fn. 367, S. 419 Fn. 29. 371 Vgl. Bockelmann, o. Fn. 365, S. 157 ff. (162); Müller, Geschichte des Rücktritts, 1995. 372 Zur Lehre vom „Mangel am Tatbestande“ vgl. Wachenfeld, StrafR, 1914, S. 170; Sauer, Grundlagen, 1921, S. 462, 464, 464 Fn. 2; Eb. Schmidt, in: v. Liszt/ Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 298 f.

100

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert Übersicht 14 Objektiver Handlungsverlauf

(1)

(2)

(3)

(4)

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der Pistole zum Schuß

1. Zielen und Schießen auf das Treffer (–) anvisierte Objekt 2. „freiwilliges“ Senken der Treffer (–) nicht benutzten Pistole 3. nicht „Erschießen“, sondern Treffer (–) „Bestehlen“ des Opfers Treffer (–) 4. Schuß auf das anvisierte – nicht getroffene – Objekt bei weiterer Schußmöglichkeit a) „freiwilliges“ Senken der bereits benutzten Pistole b) erneutes Schießen auf das anvisierte Objekt

Übersicht 15 Subjektive Bewertung des Versuchsendes Treffer (–) auf der Grundlage des objektiven Handlungsverlaufs (1)

(2)

(3)

(4)

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der Pistole zum Schuß

1. Zielen und Schießen auf das anvisierte Objekt 2. „freiwilliges“ Senken der nicht benutzten Pistole 3. nicht „Erschießen“, sondern „Bestehlen“ des Opfers 4. Schuß auf das anvisierte – nicht getroffene – Objekt bei weiterer Schußmöglichkeit: a) „freiwilliges“ Senken der bereits benutzten P. b) erneutes Schießen auf das anvisierte Objekt

Diskrepanz Kongruenz Kongruenz

Kongruenz Diskrepanz

Erläuterung: Diskrepanz: Das „Vollendungsvorhaben“373 des Täters besteht weiterhin = „prospektiver“374 Vollendungsvorsatz (+). Die objektive Nichtvollendung entspricht somit nicht der Intention des Täters: Rücktritt (–). Kongruenz: Der Täter hat das „Vollendungsvorhaben“ aufgegeben = „prospektiver“ Vollendungsvorsatz (–). Die objektive Nichtvollendung entspricht der Intention des Täters: Rücktritt (+). Anmerkung zu 1.: Mangels äußerlich erkennbarer Anhaltspunkte für einen Rücktritt bzw. seiner „Objektivation“375 wird lebensweltlich vermutet und juristisch fingiert376, daß der Täter sein „Vollendungsvorhaben“ nicht aufgegeben hat: „strafbarer Versuch“. 373

Zum Begriff vgl. C.I.1.b)gg). Zum Begriff „prospektiver Vorsatz“ beim Versuch vgl. Streng, ZStW 109 (1997), S. 868 ff. (871). 375 Welzel, Grundzüge, 1940, S. 35. 376 Vgl. v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 506 Fn. 33 a, 549; Welzel, o. Fn. 375, sowie aus der modernen Vorsatzdiskussion Jakobs, ZStW 97 (1985), 374

II. Separation und Gesamtbetrachtung

101

Anhand der zum Rücktritt bereits ausführlich erläuterten Modelle377 wird nun überprüft, inwieweit die diesen zugrundeliegenden Versuchsperspektiven auch zu unterschiedlichen Ansichten und Ergebnissen bezüglich der eben skizzierten Handlungsmöglichkeiten des Versuchstäters führen. aa) Das „Separierungsmodell“ Die Demarkationslinie der Strafbarkeit zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn beschreibt den „strafbaren Versuch“.378 Die nachfolgenden Handlungen bleiben unberücksichtigt und der lebensweltliche Handlungsverlauf wird in juristische Einzelakte separiert (= „punktuelle“ Versuchsperspektive).379 Übersicht 16: Das Separierungsmodell (1)

(2)

(3)

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der Pistole zum Schuß

1. Zielen und Schießen auf das anvisierte Objekt 2. „freiwilliges“ Senken der nicht benutzten Pistole 3. nicht „Erschießen“, sondern „Bestehlen“ des Opfers 4. Schuß auf das anvisierte – nicht getroffene – Objekt bei weiterer Schußmöglichkeit: a) „freiwilliges“ Senken der bereits benutzten Pistole b) erneutes Schießen auf das anvisierte Objekt

Die Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn definiert den „strafbaren Versuch“380.

(4)

Die Varianten bleiben unberücksichtigt381.

S. 754 ff. (756), 761 ff. (765); ders., Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 282 f.; Hassemer, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 294 ff., 299 f., 303 ff. (309); ferner Frisch, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 317, 322. 377 Vgl. C.I.1.a). 378 Vgl. v. Liszt, StrafR, 1888, S. 202. 379 Vgl. C.I.1.a)bb). 380 o. Fn. 378. 381 Vgl. die Versuchs- bzw. Rücktrittsperspektive der sog. „Einzelaktstheorie“: Jede Variante ist als neue Tat (= Versuch) zu bewerten, Meinungsüberblick bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 48 f.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

bb) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“ Das gesamte Tatgeschehen ab der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn bis einschließlich der „letzten Ausführungshandlung“382 bildet die Bewertungsgrundlage für den Begriff des „strafbaren Versuchs“. Die dem Versuchsanfang nachfolgenden Handlungen stellen keine neuen Taten dar, sondern werden als Fortführung des Versuchsanfangs einer Versuchsphase zugeordnet.383 Das lebensweltliche Handlungskontinuum wird auch im rechtlichen Kontext als eine Tatausführung bewertet (= „ganzheitliche“ Versuchsperspektive).384 Übersicht 17 Das Modell der Gesamtbetrachtung (1)

(2)

(3)

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der Pistole zum Schuß

1. Zielen und Schießen auf das anvisierte Objekt

(4)

2. „freiwilliges“ Senken der nicht benutzten Pistole 3. nicht „Erschießen“, sondern „Bestehlen“ des Opfers 4. Schuß auf das anvisierte – nicht getroffene – Objekt bei weiterer Schußmöglichkeit: a) „freiwilliges“ Senken der bereits benutzten Pistole b) erneutes Schießen auf das anvisierte Objekt

Die Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn definiert den Versuchsanfang.

Die Varianten sind die Fortführung des Versuchsanfangs bis einschließlich der letzten Ausführung, dem Versuchsende.

Versuchsanfang, Versuchsphase und Versuchsende beschreiben den „strafbaren Versuch“

382

Vgl. BGHSt 31, 170 f.; 33, 297 f.; 35, 91 f.; BGH NStZ 2003, 370. Vgl. die Versuchs- bzw. Rücktrittsperspektive der sog. „Gesamtbetrachtungslehre“, Meinungsüberblick bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 45 ff. (48). 384 Vgl. C.I.1.a)aa). 383

II. Separation und Gesamtbetrachtung

103

cc) Zur Begriffsbestimmung des unbeendeten, beendeten und fehlgeschlagenen Versuchs § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB385 verlangt vom Versuchstäter für den Eintritt der strafbefreienden Wirkung des Rücktritts, daß er freiwillig entweder die weitere Tatausführung aufgibt oder die Vollendung der Tat verhindert. Nach wohl gegenwärtig herrschender Ansicht unterteilen diese in § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB positivierten Rücktrittsalternativen zugleich auch den Versuch in spezifische Versuchskategorien:386 § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB beschreibe in seiner 1. Alt. den sog. unbeendeten, in seiner 2. Alt. den sog. beendeten Versuch387 und impliziere eine Aussage über die Existenz des sog. fehlgeschlagenen Versuchs, bei dem ein Rücktritt ausgeschlossen sei.388 Diese über § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB vollzogene Versuchscharakterisierung in unbeendet, beendet und fehlgeschlagen soll in der Folge die jeweiligen Rücktrittsanforderungen präjudizieren.389 Ein solcherart dem § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB zugewiesener definitionsgebender Charakter für den Versuch ist nicht wenig umstritten,390 und es wird bezweifelt, ob die Kategorisierung des Versuchs die Beantwortung der Rücktrittsfrage überhaupt vorwegzunehmen oder auch nur zu erleichtern vermag, wenn nicht deren Sinnfälligkeit gänzlich verneint wird.391 Die Diskussion betrifft dabei vor allem jene Fallkonstellationen, bei denen der zum Zeitpunkt des Versuchsbeginns als beendet oder fehlgeschlagen bewertete Versuch nicht mehr mit der – aus Tätersicht – einschlägigen Rücktrittsregelung harmoniert.392 Um vom Täter nun keine zwar dogmatisch stimmigen, realiter jedoch unsinnigen Rücktrittsanforderungen zu verlangen, wird die über § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB zunächst festgelegte Versuchsbestimmung ex post – d. h. nach dem Abschluß der letzten Ausführungshandlung – der passenden Rücktrittsalternative entsprechend revidiert.393 Vor diesem Hinter385 § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB: „Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert.“. 386 Meinungsüberblick bei Jäger, o. Fn. 383, S. 26 ff. (29). 387 Vgl. u. a. Sch/Schr/Eser, StGB, 2001, § 24 Rn. 6; Lackner/Kühl, StGB, 2004, § 24 Rn. 3. 388 Strittig, Meinungsüberblick bei Jäger, o. Fn. 383, S. 26 m. w. N. 389 o. Fn. 387; weitere Nachweise bei Jäger, o. Fn. 383, S. 28. 390 Nachweise bei Jäger, o. Fn. 383, S. 27 f. 391 So u. a. Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts, 1976, S. 148 f. 392 Der zum Zeitpunkt des Versuchsanfangs als beendet oder fehlgeschlagen charakterisierte Versuch erweist sich nach dem „Abschluß der letzten Ausführungshandlung“ auch für den Täter als unbeendet, so daß – wie er erkennt – für die Vollendungsvermeidung die bloße Tataufgabe genügt, Nachweise aus der Rechtsprechung bei Jäger, o. Fn. 383, S. 27 f. und bei Geilen, JZ 1972, S. 336 ff. (342).

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

grund ist die Forderung jener Autoren nur zu verständlich, welche die Aufgabe solcher „aufgepfropften Kategorien“394 fordern. Der Blick in die historischen Versuchsregelungen des ALR könnte die Perspektivenverengung der modernen Versuchsdogmatik aufzeigen und den Grund für diesen circulus vitiosus395 erklären. Das ALR positiviert die bis heute vertretenen Figuren des unbeendeten, beendeten bzw. fehlgeschlagenen396 Versuchs in seinen Versuchsvorschriften397 als Stadien eines Handlungskontinuums, des „vollbrachten Verbrechens“.398 Somit definiert nicht die Rücktrittsvorschrift des § 43, II, Tit. 20 ALR den Versuch, sondern die Versuchsregelungen selbst benennen noch ausdrücklich die einzelnen Abschnitte der Versuchsphase. Im Unterschied dazu beschränkt sich der Wortlaut der Versuchsbestimmung des § 22 StGB auf die Aussage, daß „eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt“. Das Gesetz beschreibt heute also in der Versuchsregelung nicht mehr die verschiedenen Phasen des Versuchs, sondern verwendet die einheitliche Formulierung des „Unmittelbaren Ansetzens“. Deshalb stellt sich die Frage, ob und inwieweit es sich bei dieser modernen Kurzformel um eine auslegungsbedürftige Abstraktion der im ALR umfassend beschriebenen Versuchsstadien handelt. 393

Vgl. Herzberg, NJW 1991, S. 1633; ferner ders., Blau-FS, 1985, S. 97 ff.

(121). 394

o. Fn. 393. Die über die Rücktrittsvorschift des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB vorgenommene Versuchsbestimmung, welche – umgekehrt – zugleich auch die jeweilige Rücktrittsalternative festlegt. 396 Dem Wortlaut der Versuchsvorschriften des ALR ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob § 40, II, Tit. 20 ALR – nach heutigem Verständnis – den (rücktrittsfähigen) beendeten Versuch oder den fehlgeschlagenen Versuch (damals das sog. delit manqué) positiviert, noch Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 304, spricht diesbezüglich vom „beendeten Versuch in der Gestalt des fehlgeschlagenen Verbrechens“, instruktiv zur Dogmengeschichte des „fehlgeschlagenen“ Versuchs Gössel, ZStW 87 (1975), S. 3 ff. (43); Hruschka, Ged.-Schr. für Zipf, 1999, S. 235 ff. (253). 397 § 40, II, Tit. 20 ALR: „Hat der Thäter zur Vollziehung des Verbrechens von seiner Seite alles gethan; die zum Wesen der strafbaren Handlung erforderliche Wirkung aber ist durch einen blossen Zufall verhindert worden: so hat er diejenige Strafe, welche der ordentlichen am nächsten kommt, verwirkt.“ § 41, II, Tit. 20 ALR: „Die nächste Strafe nach dieser trifft den, welcher durch einen blossen Zufall an der letzten, zur Ausführung des Verbrechens erforderlichen, Handlung gehindert wurde.“ § 42, II, Tit. 20 ALR: „Hat ein solcher Zufall schon die vorläufigen Anstalten zu der strafbaren Handlung unterbrochen: so wird die böse Absicht nach Verhältnis des Fortschrittes zur wirklichen Vollziehung geahndet.“ 398 Vgl. Goltdammer, Mat, I, 1851, S. 244. 395

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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Die sprachliche Fassung des Versuchs in der Welzel zugeschriebenen Formel des „Unmittelbaren Ansetzens“ in § 22 StGB soll – wie bereits erwähnt – die Tendenz einer Vorverlagerung des Versuchsbeginns in das Stadium der Vorbereitungshandlung durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des BGH eingrenzen.399 Mit § 31 Pr.StGB von 1851 wurde die bis zur Gesetzesnovellierung von 1975 beibehaltene Formulierung des „Anfangs der Ausführung“ eingeführt. Das Pr.StGB von 1851 weicht damit von der territorialrechtlichen Vorlage des ALR, welche den Versuch noch in seinen einzelnen Versuchsstadien positiviert, ab. Diese kodifikatorische Änderung ist wohl eher Ausdruck der Entwicklung zu einer Trennung zwischen allgemeinen Strafbarkeitsvorschriften und der Strafzumessung.400 Denn wie anfangs beschrieben normiert das ALR die strafrechtlich relevante Wirklichkeit noch undifferenziert als Bestrafungsskala, vereinigt somit Strafbarkeitsund Strafzumessungsregelungen in einer Norm. Die (Kurz-)Beschreibung des Versuchs im Merkmal des „Anfangs der Ausführung“ in § 31 Pr.StGB von 1851 läßt somit nicht darauf schließen, daß hier zugleich eine andere legislative Versuchsdefinition geschaffen werden sollte. Vielmehr offenbaren die in der Gesetzgebungsgeschichte zu § 31 Pr.StGB von 1851 und noch zu § 22 StGB von 1975 geführten Diskussionen das vornehmliche Anliegen einer Spezifizierung der Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn. In der modernen Versuchs- und Rücktrittsdogmatik wird das Merkmal des „Unmittelbaren Ansetzens“ vorwiegend vor dem Hintergrund der Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn problematisiert,401 nicht jedoch im Hinblick auf die Einteilung des Versuchs in unbeendet, beendet und fehlgeschlagen. Diese Kategorisierung erfolgt – wie zuvor dargestellt – über die Rücktrittsnormierung des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB. Wohl bedingt durch die legislativ sowie in Judikatur und Rechtslehre vorgenommene Aufspaltung und Einzelbetrachtung von Versuch und Rücktritt erscheinen die über den § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB bestimmten Versuchskategorien nicht mehr als Elemente einer Versuchsphase. Vielmehr werden die Versuchsstadien nun als jeweils eigenständige juristische Figuren betrachtet.402 Der gegenwärtig geführte Streit um Sinn und Zweck einer Un399 Bockelmann, Untersuchungen, 1957, S. 157 ff. (162); Mun ˜ oz-Conde, ZStW 84 (1972), S. 765; JA 1975, S. 95 ff.; J. Meyer, ZStW 87 (1975), S. 601 ff. (604); Jescheck, StrafR, AT, 1978, S. 419 ff. (422); Dreher/Tröndle, StGB, 1980, § 22 Rn. 11; BGHSt 26, S. 201 ff. (204). 400 Der E-1845 zum Pr.StGB von 1851 trennt zum ersten Mal zwischen Strafbarkeitsvorschriften und Strafzumessungsregeln, vgl. B.I.1.b). 401 Da sich hier die Strafbarkeitsfrage (vor-)entscheidet, gerät mit der Diskussion dieses Hauptproblems die dem Versuchsbeginn nachfolgende Tathandlungsphase aus dem Blickfeld.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

terteilung des Versuchs deutet aber darauf hin, daß sich auch hier – trotz aller Gesetzesänderungen – die zwei traditionellen Versuchsauffassungen gegenüber stehen. (1) Das „Separierungsmodell“ Eine „punktuelle“ Versuchsperspektive nach dem Separierungsmodell führt zu einer „rechtlichen Verselbständigung“403 der jeweiligen Versuchskategorie. Dogmatische Beachtung findet nur das jeweilige Versuchsstadium als unbeendet, beendet oder fehlgeschlagen unter Ausgrenzung der „sozialen Sinneinheit“404 nach der lebensweltlichen Vorgabe. Die Versuchsstadien „unbeendet“ und „beendet“ sind nicht zwei aufeinanderfolgende Tathandlungsabschnitte eines einheitlichen Handlungskontinuums,405 sondern erscheinen im rechtlichen Kontext als voneinander unabhängige „Versuche“. Durch diese Verselbständigung406 des konkreten Versuchsstadiums wird das „Unmittelbare Ansetzen“ in § 22 StGB durch den spezifischen Anfang und das Ende des unbeendeten, beendeten407 oder fehlgeschlagenen Versuchs definiert. Die rechtliche „Reduktion“ des sukzessiven Versuchsverlaufs führt dann zu dogmatischen Problemen,408 wenn die dem konkreten Anfang der jeweiligen Versuchskategorie nachfolgende Versuchsphase von der ursprünglichen Vorstellung409 des Täters abweicht. Eine solche Charakterisierung des Tatgeschehens entspricht der „statischen“ Sichtweise der sog. Tatplantheorie, nach der sich die Bestimmung des „strafbaren Versuchs“ an der Vorstellung des Täters zum Zeitpunkt des Versuchsanfangs bemißt.410 402 Die von Krauß befürchtete „rechtliche Verselbständigung“ dürfte damit schon zu konstatieren sein, vgl. Krauß, JuS 1981, S. 885. 403 o. Fn. 402. 404 Bloy, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 177. 405 Wie im lebensweltlichen Versuchsablauf vorgegeben und noch im ALR erkennbar positiviert, vgl. dazu Hruschka, Ged.-Schr. für Zipf, 1999, S. 237 ff. (240), 245 ff. (247), 251 f., 253. 406 Im Wege einer juristischen „Vereinigung“ von Versuchsanfang und Versuchsende. 407 Deutlich bei Roxin, Maurach-FS, 1972, S. 213 ff. (233). 408 Vgl. die Fallbeispiele aus der Rechtsprechung des BGH bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 28 Fn. 150. 409 Konkret: Das Verhalten des Täters zum Versuchsanfang indiziert die lebensweltliche wie juristische Annahme, daß dieses auch von einer entsprechenden Vorstellung getragen ist, vgl. dazu v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 506 Fn. 33 a, 549; Welzel, Grundzüge, 1940, S. 35, sowie aus der modernen Vorsatzlehre Jakobs ZStW 97 (1985), S. 754 ff. (756), 761 ff. (765); ders., Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 282 f.; Hassemer, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 294 ff. (297), 299 f., 303 f., 305 ff. (307), 309; ferner Frisch, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 317, 322.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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(2) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“ Die „ganzheitliche“ Versuchsperspektive nach dem Modell der Gesamtbetrachtung bezieht bei der Bestimmung der einzelnen Versuchskategorie den gesamten Handlungsstrang des versuchten Delikts mit ein.411 Das jeweilige Versuchsstadium repräsentiert einen Abschnitt in der Stufenfolge des sich sukzessiv entwickelnden Tatgeschehens.412 Die sich als unbeendet, beendet oder fehlgeschlagen erweisende Versuchsphase setzt sich aus einem Versuchsanfang, einem Versuchsverlauf und einem Versuchsende zusammen. Die Bestimmung des Versuchsanfangs dient der Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn. Der Versuchsverlauf stellt sich als unbeendet, beendet oder fehlgeschlagen dar. Das Versuchsende kann in die „Vollendung“ übergehen oder „Versuch“ bleiben. Bei letzterem stellt sich mit dem Rücktritt die Frage nach der Strafbarkeit oder Straflosigkeit des Versuchs.413 Die Festlegung der Versuchskategorie als unbeendet, beendet oder fehlgeschlagen erfolgt nicht bereits zum Zeitpunkt des Versuchsanfangs wie nach dem „Separierungsmodell“, sondern erst nach dem „Abschluß der letzten Ausführungshandlung“.414, 415 Mit dem Überschreiten der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn wird der „strafbare Versuch“ initiiert, welcher im nachfolgenden416 Versuchsverlauf unbeendet bleibt, beendet wird, fehlschlägt oder in die Vollendung einmündet. Wie auch beim vollendeten Delikt417 charakterisiert der Abschluß der letzten Ausführungshandlung als Tatende die jeweilige Versuchskategorie. Das zwischen Versuchsanfang und Versuchsende liegende Geschehen kann in einem einzigen Ausführungsakt418 bestehen oder durch mehrere aufeinanderfolgende Handlungen419 geprägt sein. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung des Ver410 Vgl. dazu und zur Aufgabe der „Tatplantheorie“ durch die Rechtsprechung des BGH Reinh. v. Hippel, Untersuchungen, 1966, S. 66 ff. (68); Geilen, JZ 1972, S. 335 ff. (343). 411 Vgl. C.I.1.a)aa), II.3.b). 412 Vgl. Welzel, o. Fn. 409, S. 90. 413 Vgl. dazu Jakobs, StrafR, AT, 1993, 26/2/4, S. 741 f.; nach Zaczyk, NKStGB, 2005, § 24 Rn. 5, ist der „Rücktritt – wenn es zu ihm kommt – gleichsam das andere Ende des Versuchs“. 414 Vgl. BGHSt 31, 170 f.; 33, 297 f.; 35, 91 f.; BGH NStZ 2003, 370. 415 Geilen, JZ 1972, S. 337, spricht vom „Aufschub der Versuchsbeendigung“. 416 Bei der einaktigen Tathandlung nach Maßgabe einer logischen „juristischen Sekunde“. 417 Dies wäre ein Argument für die „Gesamtbetrachtung“. 418 Bsp.: der fehlgegangene Schuß auf das Opfer ohne weitere Handlungsmöglichkeit.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

suchsstadiums bleibt stets das Ende des letzten Ausführungsaktes als Versuchsende. Bei einer solchen Betrachtung stellt dann die Versuchsbestimmung selbst schon die dieser entsprechende Rücktrittsanforderung auf: Die hier als Versuchsende berücksichtigte Tathandlung stimmt mit der Vorstellung des zurücktretenden Versuchstäters zeitlich überein. Daher kann die Frage, ob für eine Vollendungsvermeidung (= Rücktritt) weitere Handlungen lediglich zu unterlassen sind420 oder aktiv eingegriffen werden muß,421 konsequent aus der Tätersicht422 beantwortet werden.423 Festzuhalten bleibt: Das Modell der „Gesamtbetrachtung“ berücksichtigt das reale Tathandlungsgeschehen umfassend schon bei der Charakterisierung der Versuchskategorie als unbeendet, beendet oder fehlgeschlagen. Die so vorgenommene Versuchsbestimmung ermöglicht zugleich die Festlegung des erforderlichen Rücktrittsverhaltens im Sinne des § 24 StGB. Demgegenüber muß nach dem „Separierungsmodell“ das bereits zum Zeitpunkt des Versuchsanfangs „statisch“424 definierte Versuchsstadium im Nachhinein der „passenden“ Rücktrittsalternative des § 24 StGB entsprechend revidiert werden.425 (3) Das Modell der „Gesamtbetrachtung“ in der neueren Rechtsprechung des BGH Die Rückkehr zu einer „ganzheitlichen“ Versuchsperspektive läßt sich auch in der neueren höchstrichterlichen Judikatur wiederfinden. Wenn der BGH für die Bestimmung der Versuchskategorie nach Maßgabe des sog. „Rücktrittshorizonts“426 auf den Zeitpunkt „nach Abschluß der letzten Ausführungshandlung“427 abstellt, so definiert er nicht nur den Versuchsanfang,428 sondern auch das Tathandlungsstadium am Versuchsende als kon419 Bsp.: die Vergiftung des Opfers durch mehrere Giftrationen, vgl. dazu Binding, Schuld im dt. StrafR, 1919, S. 52, und Hruschka, Ged.-Schr. für Zipf, 1999, S. 244 f. 420 § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB. 421 § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB. 422 Auf diese stellt der BGH mit seiner Konzeption vom „Rücktrittshorizont“ ab, vgl. BGHSt 31, 170 f.; 33, 297 f.; 35, 91 f.; BGH NStZ 2003, 370. 423 Nach dem Wortlaut des § 24 StGB ist es die Vollendungsvermeidung bzw. -verhinderung, die das Strafbefreiungsprivileg begründet. 424 Vgl. die Sichtweise der „Tatplantheorie“, Meinungsüberblick bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 44 f. 425 Vgl. Herzberg, NJW 1991, S. 1633 f. 426 Nachweise o. Fn. 422. 427 o. Fn. 426. 428 Die Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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stitutives Element des Versuchs.429 Primärer Anknüpfungspunkt für die hier interessierende Fragestellung ist jedoch nicht – wie der Terminus „Rücktrittshorizont“ nahelegt430 – der Blick des Täters auf die Rücktrittsoption,431 sondern jener auf die Vollendung. Denn bei genauerer Betrachtung der Tatsituation zum Zeitpunkt nach Abschluß der letzten Ausführungshandlung ist die Vorstellung des Täters durch ihr „Verhältnis zur Vollendung“432 geprägt: Der Täter sagt sich zum Zeitpunkt des Versuchsendes nicht: „Ich kann noch strafbefreiend zurücktreten“, sondern: „ich will diese Vollendung nicht mehr“.433 Beispiel: 1. Der Eintritt der Vollendung ist – wie der Täter erkennt – weiterhin möglich a) der Täter muß aktiv weiter handeln (unbeendeter Versuch): aa) der Täter gibt die weitere Tatausführung auf, weil er diese Vollendung nicht mehr „will“ [prospektiver Vollendungsvorsatz bzw. hier sog. Vollendungsvorhaben434 (–); Rücktritt (+)] bb) der Täter gibt die weitere Tatausführung nicht auf, wird aber gehindert,435 seinen fortbestehenden „Willen“ in die Tat umzusetzen [prospektiver Vollendungsvorsatz bzw. Vollendungsvorhaben (+); Rücktritt (–)] b) der Täter muß den Eintritt der Vollendung lediglich „abwarten“ = passives Weiterhandeln (beendeter Versuch): aa) der Täter gibt das Abwarten der Vollendung auf, indem er den auf diese gerichteten Kausalverlauf unterbricht [prospektiver Vollendungsvorsatz bzw. Vollendungsvorhaben (–); Rücktritt (+)] bb) der Täter gibt das Abwarten der Vollendung nicht auf, der auf die Vollendung gerichtete Kausalverlauf wird unabhängig von einem Verhalten des Täters unterbrochen436 [prospektiver Vollendungsvorsatz bzw. Vollendungsvorhaben (+); Rücktritt (–)] 429

Dies stellt 1966 bereits Reinh. v. Hippel in seinen Untersuchungen, S. 67,

fest. 430 Geschuldet ist die Terminologie „Rücktrittshorizont“ wohl der heute einseitig über die Rücktrittsvorschrift des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB vollzogenen Versuchsstadienbestimmung. 431 Dies wäre lediglich bei der Sonderkonstellation des „Rücktrittsvorbehalts“ der Fall, vgl. dazu Roxin, Ged.-Schr. für H. Schröder, 1978, S. 146 ff. (150). 432 Bei Eb. Schmidt, in: v. Liszt/Schmidt, StrafR, I, 1932, S. 301, „die Beziehung des Geschehenen auf ein Nichtgeschehenes“. 433 Zu den Elementen des „Willens“ vgl. Hruschka, Ged.-Schr. für Zipf, 1999, S. 243 ff. (245); ferner Gössel, ZStW 87 (1975), S. 30 f.; Streng, ZStW 109 (1997), S. 862 ff., 867 f., 871. 434 Zum Begriff vgl. C.I.1.b)gg). 435 Durch äußere Umstände. 436 Durch äußere Umstände.

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C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

2. Der Eintritt der Vollendung ist – wie der Täter erkennt – nicht mehr möglich: Mangels äußerlich erkennbarer Anhaltspunkte, die auf eine Aufgabe des Vollendungsvorhabens schließen lassen, ist von einem fehlgeschlagenen und damit „strafbaren Versuch“ auszugehen.437 [prospektiver Vollendungsvorsatz bzw. Vollendungsvorhaben (+); Rücktritt (–)]

(4) Exkurs: Die Gleichsetzung des beendeten mit dem fehlgeschlagenen Versuch in seinen subjektiven Komponenten438 Bereits v. Liszt bezeichnet 1888 in seinem Lehrbuch439 die Verwechslung des beendeten Versuchs mit dem fehlgeschlagenen Verbrechen, dem sog. delit manqué, als „Quell der auf dem Gebiete der Versuchslehre herrschenden Streitfragen“. Dieses Mißverständnis ist zur Zeit der Kodifikation des RStGB von 1871 ein wesentlicher Grund für das Entstehen der Ansicht, den Rücktritt beim beendeten Versuch nur im Sinne einer Tätigen Reue als kriminalpolitischen Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund erklären zu können.440 Denn indem der beendete Versuch wie das delit manqué als subjektiv vollendetes Delikt interpretiert wird, ist ein Rücktritt – wegen der subjektiven Vollverwirklichung – nicht mehr möglich.441 In der Folge wird der Rücktritt beim beendeten Versuch in § 46 Nr. 2 RStGB von 1871 wie die Tätige Reue bei der vollendeten Brandstiftung in § 310 RStGB als eine ausschließlich kriminalpolitische Entscheidung des Gesetzgebers angesehen.442 Diese historische Ansicht,443 nach der der beendete Versuch einen subjektiv vollendeten Tatbestand aufweist, definiert bei genauerem Hinsehen jedoch nicht den beendeten, sondern den fehlgeschlagenen Versuch: Denn der Täter des beendeten Versuchs hat zum hier maßgeblichen Zeitpunkt „nach Abschluß der letzten Ausführungshandlung“444 nicht die Vorstellung, unmittelbar die Vollendung herbeizuführen. Eine solche Tätersicht wäre aber die Voraussetzung für die Annahme einer subjektiven Tatbestandserfüllung bei dieser Versuchskategorie. Gegenwärtig hat der Täter des beendeten Versuchs nach seiner Vorstellung lediglich einen Kausalverlauf in Gang ge437

Vgl. dazu v. Bar, Gesetz und Schuld, II, 1907, S. 549. Instruktiv dazu Gössel, ZStW 87 (1975), S. 3 ff. (43) und Hruschka, Ged.Schr. für Zipf, 1999, S. 235 ff. (253). 439 v. Liszt, StrafR, 1888, S. 190 Fn. 2. 440 Vgl. B.II.2.b)bb) m. w. N. 441 Vgl. Schwarze, StGB, 1884, Exk. X, § VII, S. 111; Rüdorff, StGB, 1877, § 46 Nr. 6. 442 o. Fn. 440. 443 Vgl. die Nachweise bei Schwarze und Rüdorff, o. Fn. 441. 444 BGHSt 31, 170 f.; 33, 297 f.; 35, 91 f.; BGH NStZ 2003, 370. 438

II. Separation und Gesamtbetrachtung

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setzt, der ohne eine weitere aktive Handlung für den Eintritt der Tatbestandserfüllung genügte. Für die Vollendung bedarf es – als passive Versuchshandlung – noch eines „Abwartens des Vollendungseintritts“ bzw. eines „Unterlassens vollendungsverhindernder Handlungen“445. Der Täter des beendeten Versuchs verfügt folglich ebenso wie der des unbeendeten Versuchs noch über einen „prospektiven“ Vollendungsvorsatz. Eine subjektive Tatbestandserfüllung nach Maßgabe eines „kongruenten“ Vollendungsvorsatzes wie beim vollendeten Delikt läßt sich jedoch nicht446 feststellen. Daher beschreiben Formulierungen, wie der Täter des beendeten Versuchs habe „von seiner Seite alles getan“447 bzw. „alle zur Verwirklichung des Tatbestandes erforderlichen Handlungen vorgenommen“448, nur die aktive Tathandlungskomponente dieser Versuchskategorie. Für eine zureichende Wesensbestimmung des beendeten Versuchs genügen sie aber nicht. Gerade die beim beendeten Versuch für eine Vollendung noch erforderliche Tathandlungskomponente des „Abwartens der Vollendung“ bzw. des „Unterlassens vollendungsverhinderner Maßnahmen“ ist das wesentliche Unterscheidungskriterium zum fehlgeschlagenen Versuch. Während der Täter des beendeten Versuchs nicht die Vorstellung hat, die Vollendung werde bereits mit dem Abschluß der letzten Ausführungshandlung eintreten, geht der Täter des fehlgeschlagenen Versuchs von dieser Unmittelbarkeit aus: die sich ex post als Fehlschlag darstellende Tathandlung sollte aus der ex-anteSicht des Täters die Tatbestandsverwirklichung unmittelbar herbeiführen. Es bleibt festzuhalten: Die im 19. Jahrhundert vertretene Ansicht449 zum Rücktritt beim beendeten Versuch beschreibt die Konstellation des fehlgeschlagenen Versuchs. Geht man davon aus, die Formel des BGH „nach Abschluß der letzten Ausführungshandlung“450 kennzeichne ein konstitutives Merkmal des Versuchs – und nicht nur separiert des Rücktritts –, dann ergibt sich die Möglichkeit eines „Zurücktretens“ bzw. einer „Abstandnahme“ vom Vorhaben der Vollendung auch451 beim beendeten Versuch: Der Täter kann noch von seinem ursprünglichen „Tatplan“ bzw. „Vollendungsvorha445 Zum Unterlassen als Begriff der negativen Handlung Behrendt, Die Unterlassung im Strafrecht, 1979. 446 A. A. Struensee, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 523, 529, 534, 537 f. 447 Vgl. § 40, II, Tit. 20 ALR: „Hat der Thäter zur Vollziehung des Verbrechens von seiner Seite alles gethan; die zum Wesen der strafbaren Handlung erforderliche Wirkung aber ist durch einen blossen Zufall verhindert worden [. . .]“. 448 Lackner/Kühl, StGB, 2004, § 24 Rn. 3 m. w. N. aus der Rechtsprechung des BGH. 449 Zum Rücktritt als kriminalpolitischer Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgrund vgl. B.II.2.b)bb). 450 o. Fn. 444. 451 Wie beim unbeendeten Versuch.

112

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

ben“, das er zum Zeitpunkt des Versuchsanfangs hatte,452 Abstand nehmen und damit die weitere passive Tatausführung aufgeben.453 Die Bezeichnung des „Rücktritts“ beim beendeten Versuch als „Tätige Reue“ beschreibt dann lediglich das äußerlich erkennbare Verhalten. Ausschlaggebend für die Begründung des „Warum“ der strafbefreienden Wirkung des Rücktritts beim beendeten Versuch ist die Indizwirkung dieser Manifestation454: Die Unterbrechung des auf die Vollendung gerichteten Kausalverlaufs durch den Täter läßt den Schluß zu, daß er den auf die Vollendung gerichteten Vorsatz aufgegeben hat. In der Folge fehlt dem beendeten „strafbaren Versuch“ das konstitutive Merkmal des prospektiven Vollendungsvorsatzes bzw. Vollendungsvorhabens zum Versuchsende oder mit anderen Worten: zum Zeitpunkt nach dem Abschluß der letzten Ausführungshandlung. Bei einer hinreichenden Differenzierung zwischen beendetem und fehlgeschlagenem Versuch ist somit eine verbrechensstrukturelle – und nicht lediglich legislative – Interpretation des Rücktritts beim beendeten Versuch möglich: Wie beim unbeendeten Versuch kann auch hier der „Rücktritt“ im Sinne einer Abstandnahme von der noch nicht geschehenen Vollendung interpretiert werden. Es handelt sich somit nicht um eine allein kriminalpolitisch zu berücksichtigende Wiedergutmachung des bereits Geschehenen wie die „Tätige Reue“ beim vollendeten Delikt der Brandstiftung in § 310 RStGB von 1871. Somit läßt sich feststellen: Die historische Herleitung des Rücktritts beim beendeten Versuch gem. § 46 Nr. 2 RStGB von 1871 und folglich die bis heute vertretene Verortung455 des Rücktritts als kriminalpolitischer Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgrund beruht auf einer – bereits durch v. Liszt456 monierten – Vermengung des beendeten mit dem fehlgeschlagenen Versuch. 452 Die Vorstellung des Täters zum Zeitpunkt des Versuchsanfangs mitumfaßt beim beendeten Versuch das Merkmal des „Abwartens der Vollendung“ bzw. des „Unterlassens vollendungsverhindernder Maßnahmen“. 453 Vgl. Zachariae, Lehre vom Versuche, 1839, S. 241, der die Straflosigkeit des Versuchs bei einem Rücktritt damit begründet, daß „der Handelnde mitten auf der betretenen Bahn stehen bleibt und den seine bisherigen Schritte leitenden Willen ändert oder aufgiebt“. In diesem Sinne spricht auch Lang-Hinrichsen, Engisch-FS, 1969, S. 371 f., vom „Vorgang einer Transformation des Willens“. 454 Zur Bedeutung des Täterverhaltens und der Tatumstände für die Vorsatzbestimmung vgl. Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 754 ff. (756), 761 ff. (765); ders., Ged.Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 282 f.; Hassemer, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 294 ff. (297), 299 f., 303 f., 305 ff. (307), 309; ferner Frisch, Ged.-Schr. für A. Kaufmann, 1989, S. 317, 322. 455 Vgl. Lackner/Kühl, StGB, 2004, § 24 Rn. 1, der nur noch von der h. M. ohne eine namentliche Aufzählung spricht. 456 v. Liszt, StrafR, 1888, S. 190 Fn. 2.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

113

dd) Zur Begriffsbestimmung des fehlgeschlagenen Versuchs457 „Punktuelle“ und „ganzheitliche“ Versuchsanschauung prägen auch die Diskussion zum sog. fehlgeschlagenen Versuch.458 Bei der Einnahme der „punktuellen“ Versuchsperspektive des Separierungsmodells ist der „strafbare Versuch“ mit dem Überschreiten der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn verwirklicht.459 Die nachfolgende Tathandlung wird nicht als die Fortführung des Versuchsanfangs, sondern als eigenständige, neue Tat bewertet.460 Beispiel: Der Täter schießt mit Tötungsvorsatz auf sein Opfer, verfehlt dieses jedoch. Der Täter hat weitere Schußmöglichkeiten, die er a) nicht mehr nutzt und b) nutzt.

(1) Das Separierungsmodell Nach dem Separierungsmodell hat sich der Täter mit dem ersten Schuß wegen Versuchs strafbar gemacht. Es liegt ein „strafbarer Versuch“ vor.461 Daß er darüber hinaus noch hätte weiter handeln können, um sein „Vollendungsvorhaben“ – die Tötung eines anderen – zu verwirklichen, bleibt bei dieser Prüfung nach der „punktuellen“ Versuchsperspektive außer Betracht. Die nachfolgenden Tathandlungen a) und b) sind als neue Tat (= Versuch) zu behandeln.462 Bei der Variante a) steht der Täter – trotz der ihm verbleibenden Vollendungsmöglichkeit – von seinem ursprünglichen „Vollendungsvorhaben“ ab. Diese „Abstandnahme“ wäre hier jedoch nicht als Rücktritt, sondern nur als Unterlassen einer neuen Tat (= Versuch) zu prüfen. Der Täter bleibt wegen des ersten Tötungsversuchs strafbar. Das Unterbleiben weiterer Schüsse auf das Opfer führt lediglich zur Verneinung eines neuen Versuchsbeginns zum „strafbaren Versuch“.463 Bei der Variante b) stellt jeder weitere Schuß auf das Opfer einen neuen „strafbaren Versuch“ dar. Diese „Kette“ von Versuchen endet mit der letz457

Instruktiv zur Dogmengeschichte des fehlgeschlagenen Versuchs Gössel, ZStW 87 (1975), S. 3 ff. (43); Hruschka, Ged.-Schr. für Zipf, 1999, S. 235 ff. (253). 458 Meinungsüberblick bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 29 ff. (31), ferner S. 44 ff. (50); Analyse der Rechtsprechung des BGH bei Geilen, JZ 1972, S. 336 ff. (343). 459 Vgl. Geilen, o. Fn. 458, S. 336; Otto, GA 1967, S. 151. 460 Vgl. C.I.1.a)bb), II.3.b). 461 Abweichend: die Tatplantheorie, die zusätzlich danach fragt, ob der Täter von vornherein mehrere Schüsse eingeplant hatte, zur Kritik an der Tatplantheorie Otto, o. Fn. 459, S. 144 f., 151, mit Fallbeispielen. 462 o. Fn. 460. 463 Vgl. C.I.1.a)bb).

114

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

ten dem Täter verbleibenden Möglichkeit, die Vollendung – die Tötung eines anderen – herbeizuführen. Die Anzahl der „strafbaren Versuche“ entspricht der Anzahl der umgesetzten Schußmöglichkeiten. Übersicht 18 (1)

(2)

(3)

Vh

Va

Versuchsphase

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der Pistole zum Schuß

1. Schuß a) keine Fortsetzung: = „strafbarer Versuch“ = neuer Versuchsbeginn zu verneinen

(4) Ve Nicht(Vg)

1 „strafb. Versuch“

b) Fortsetzung der Schußmöglichkeiten:

2. Schuß = „strafbarer Versuch“

3. Schuß = „strafbarer Versuch“

4. usw.

2 „strafb. Versuch“

3 „strafb. Versuch“

4. usw.

Das „Separierungsmodell“ firmiert in der Debatte um den fehlgeschlagenen Versuch unter der Bezeichnung „Einzelaktstheorie“.464

464 Meinungsüberblick zu Einzelaktstheorie und modifizierter Einzelaktstheorie bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 48 f. m. w. N.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

115

(2) Das Modell der Gesamtbetrachtung Nach dem Modell der „Gesamtbetrachtung“ werden der Versuchsanfang und der nachfolgende Tathandlungsakt als eine Versuchsphase betrachtet. Der „strafbare Versuch“ ist somit erst „nach Abschluß der letzten Ausführungshandlung“465 verwirklicht. Diese „letzte Ausführungshandlung“ kann mit dem Versuchsanfang zusammenfallen: Der Täter schießt mit Tötungsvorsatz auf sein Opfer, verfehlt dieses jedoch. Hatte der Täter nur diese eine Möglichkeit, sein „Vollendungsvorhaben“, die Tötung eines anderen, zu verwirklichen, dann liegt mit dem Überschreiten der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn der „strafbare Versuch“ vor. Der Versuchsanfang und der nachfolgende Tathandlungsabschnitt sind – entsprechend der lebensweltlichen Vorgabe –466 punktuell „vereinigt“. Die letzte Ausführungshandlung ist hier die Abgabe des einen möglichen Schusses. Da dem Täter kein weiterer Weg eröffnet ist, sein Vollendungsvorhaben zu verwirklichen, erübrigt sich die Rücktrittsfrage.467 Diese Versuchskonstellation beschreibt den Grundfall des sog. fehlgeschlagenen Versuchs.468 „Separierungsmodell“ und Modell der „Gesamtbetrachtung“ stimmen bei diesem „punktuellen“ Fehlschlag in ihrer rechtlichen Übersetzung überein: das „Separierungsmodell“ überträgt das lebensweltliche Versuchsgeschehen generell in seinen „Einzelakten“ (= „punktuelle“ Versuchsperspektive); das Modell der „Gesamtbetrachtung“ orientiert sich an der lebensweltlichen Vorgabe, die hier bereits als „Einzelakt“ erscheint (= „ganzheitliche“ Versuchsperspektive) (siehe Übersicht 19, S. 116). Fällt die letzte Ausführungshandlung nicht mit dem Versuchsanfang zusammen, sondern folgt diesem – in einer oder mehreren Tathandlung(en) – nach, dann ist zu klären, inwieweit die Fortführung des Versuchsanfangs rechtlich einer Versuchsphase zuzuordnen ist.469 Bei Berücksichtigung des „einheitlichen Lebensvorgangs“470 erscheinen die Handlungen des Täters alle auf einen Abschluß gerichtet (rechtlich: die Vollendung). Modifikatio465

BGHSt 31, 170 f.; 33, 297 f.; 35, 91 f.; BGH NStZ 2003, 370. Die hier in einer Ausführungshandlung (= „Einzelakt“) besteht. 467 Denn die Vollendung ist nur durch einen „blossen Zufall“ ausgeblieben, vgl. §§ 40–42, II, Tit. 20 ALR. 468 Vgl. den Rechtsfall bei Goltdammer, Archiv Pr.StrafR, 1860, S. 618 f., unter B.I.1.e). 469 Vgl. Otto, GA 1967, S. 151, 153; Geilen, JZ 1972, S. 336 f., spricht vom „Aufschub der Versuchsbeendigung“. 470 BGHSt 34, 57; BGH NStZ-RR 2003, 199. 466

116

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert Übersicht 19

(1)

(2)

(3)

Vh

Va

Versuchsphase

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der Pistole zum Schuß

Verfehlen des Schußobjekts

(4) Ve

(Nicht)Vg

1 „strafb. Versuch“

nen während der Tatdurchführung stellen keine rechtlich neue Tat (= Versuch) dar, sondern sind als Bestandteile eines Handlungskontinuums zu betrachten (= „ganzheitliche“ Versuchsperspektive).471 Ein fehlgeschlagener Versuch liegt erst dann vor, wenn dem Täter nach Abschluß der letzten Ausführungshandlung keine weitere Möglichkeit verbleibt, sein „Vollendungsvorhaben“ zu verwirklichen. Diese „ganzheitliche“ Betrachtung bestimmt die auf die Vollendung gerichtete Tätervorstellung zum Zeitpunkt des Versuchsendes als maßgebliches Kriterium für die Beurteilung, ob es sich um einen „Fehlschlag“ handelt. Als Terminus technicus bietet sich die Bezeichnung als „Vollendungshorizont“ an. Die Formulierung „Vollendungshorizont“ ist zunächst eine Konkretisierung des durch den BGH entwickelten Begriffs „Rücktrittshorizont“472: Die Anforderungen an einen strafbefreienden Rücktritt richten sich grundsätzlich473 danach, welche Vorstellung der Täter nach dem Abschluß der letzten Ausführungshandlung von der Möglichkeit des Vollendungseintritts hat. Wesentliches Merkmal und Ausgangspunkt ist somit die „Vollendungsperspektive“, an der sich das Rücktrittsverhalten des Täters ausrichtet. Darüber hinaus bleibt die hier gewählte terminologische Charakterisierung als „Vollendungshorizont“ allgemein versuchsbezogen und nicht nur auf Rücktrittsfälle beschränkt. Die Prüfung, ob es sich um einen unbeendeten, beendeten oder fehlgeschlagenen Versuch handelt, kann generalisierend nach Maßgabe des „Vollendungshorizonts“ vollzogen werden: Welche Tathandlungen sind 471 Der Blick zunächst auf das reale Tatgeschehen, die deliktsspezifische „Aufspaltung“ wäre daran anschließend zu erörtern. Bsp.: Der Täter tritt vom Tötungsversuch strafbefreiend zurück, hat das Opfer aber bereits verletzt. Hier handelt es sich um das einheitliche Handlungskontinuum „versuchte Tötung eines anderen“, welches gem. §§ 212, 22, 23, 24 straflos, gem. §§ 223, ev. 224 StGB strafbar ist. 472 o. Fn. 465. 473 Ausnahme: Wenn die Vollendung bereits eingetreten ist oder sicher eintreten wird; und zwar unabhängig von der Tätervorstellung.

II. Separation und Gesamtbetrachtung

117

(noch) erforderlich, um die Vollendung herbeizuführen (unbeendeter und beendeter Versuch) bzw. ist der Vollendungseintritt überhaupt noch möglich (fehlgeschlagener Versuch)? Übersicht 20 (1)

(2)

(3)

Vh

Va

Versuchsphase

Ankaufen der Pistole

Ansetzen der Pistole zum Schuß

1. Schuß

(4) Ve

(Nicht)Vg

a) keine Fortsetzung: = Rücktritt

straflos

b) Fortsetzung der Schußmöglichkeiten: 2. Schuß

3. Schuß

4. usw.

1 „strafbarer Versuch“

Anmerkung: Nach jedem Schuß kann der Täter die gegebenen weiteren Schußmöglichkeiten (= Vollendungshorizont) aufgeben und damit strafbefreiend zurückzutreten.474

Die „ganzheitliche“ Versuchsperspektive nach dem Modell der „Gesamtbetrachtung“ firmiert in der Debatte um den fehlgeschlagenen Versuch unter der Bezeichnung „Gesamtbetrachtungslehre“.475 ee) „Der Anfang des beendeten Versuchs“ nach Roxin476 Die Charakterisierung des Versuchs als unbeendet, beendet oder fehlgeschlagen bestimmt die Festlegung der entsprechenden Rücktrittsalternative nach § 24 StGB.477 Die Bestimmung des einzelnen Versuchsstadiums ist deshalb ohne Bedeutung, wenn lediglich die Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn zu klären ist. 474

Fallbeispiele bei Otto, GA 1967, S. 147 f., ferner S. 149 ff. (153). Meinungsüberblick zur „Gesamtbetrachtungslehre“ bei Jäger, Rücktritt, 1996, S. 45 ff. (48); zum Übergang von der Tatplantheorie zur Gesamtbetrachtungslehre in der Rechtsprechung des BGH Geilen, JZ 1972, S. 335 ff. (343); zur Kritik an Tatplan- und Einzelaktstheorie Otto, o. Fn. 474, S. 144 ff. (153). 476 Vgl. dazu Roxin, Maurach-FS, 1972, S. 213 ff. (233); ders., JuS 1979, S. 9. 477 Vgl. Lackner/Kühl, StGB, 2004, § 24 Rn. 3; weitere Nachweise bei Jäger, o. Fn. 475, S. 28. 475

118

C. Versuch und Rücktritt im 20. Jahrhundert

Die Bezeichnung als unbeendeter, beendeter oder fehlgeschlagener Versuch beschreibt – insoweit sich die Rücktrittsfrage nicht stellt – allein das bereits abgeschlossene Tatgeschehen. Damit würde nicht nur der Versuchsanfang, sondern auch das Versuchsende festgelegt werden, welches letztere erst im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung findet. Die in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von Roxin aufgeworfene Frage nach einem konkreten „Anfang des beendeten Versuchs“478 weist hingegen dem Versuchsstadium eine Bedeutung nicht nur im Zusammenhang mit dem Rücktritt, sondern eigenständig auch für den Versuch zu. Indem Roxin für den beendeten Versuch eine spezifische Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn vornimmt,479 isoliert er die Versuchskategorie „beendet“ vom Konnex mit dem Rücktrittsinstitut. Bereits in die Erörterung zur „Strafbarkeitsschwelle“ bezieht Roxin das nachfolgende – hier beendete – Versuchsgeschehen mit ein und reduziert den sukzessiven Tatverlauf auf einen einzigen juristischen Anfangs- und Endpunkt.480 Konsequenterweise müßten dann auch verschiedene „Anfänge“ für den unbeendeten und fehlgeschlagenen Versuch ermittelt werden.481 (1) Das Separierungsmodell Die von Roxin vorgenommene Fassung eines konkreten „Anfangs des beendeten Versuchs“ verdinglicht die „punktuelle“ Versuchsperspektive nach dem Separierungsmodell.482 Der lebensweltliche Tathandlungsverlauf des beendeten Versuchs wird auf einen einzigen Anfangs- und Endpunkt reduziert.483 Der unbeendete Versuch stellt keine „Vorstufe“ des beendeten Versuchs dar, sondern wird als rechtliches „aliud“ definiert.484 Die Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuchsbeginn impliziert als „Anfang“ des Versuchs zugleich auch das – sich als unbe478

Roxin, Maurach-FS, 1972, S. 213. Vgl. Roxin, o. Fn. 478, S. 214, 220 ff. (224), 226, 228, 233. 480 Vgl. Herzberg, Roxin-FS, 2001, S. 762, 769 ff. (771). 481 Die dann zugleich den „strafbaren Versuch“ darstellen; vgl. C.I.1.a)bb), II.3.b). Auch Roxin muß diese – entgegen seiner Intention – unterschiedlich festlegen, vgl. o. Fn. 478, S. 216, 222, 228. 482 Und verdeutlicht die von Krauß befürchtete „rechtliche Verselbständigung“ der Versuchskategorien, vgl. Krauß, JuS 1981, S. 885. 483 Die unterschiedlichen Ansichten zur Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsbeginn verdeutlichen die Spannbreite der Versuchsphase, Meinungsüberblick bei Roxin, o. Fn. 478, S. 219 f., 222, 224; Sch/Schr/Eser, StGB, 2001, § 22 Rn. 54, 54 a. 484 Vgl. Roxin, JuS 1979, S. 9; ders., o. Fn. 478, S. 215, 220 ff. (222), 226. 479

II. Separation und Gesamtbetrachtung

119

endet, beendet oder fehlgeschlagen erweisende – Versuchsende.485 In der Folge werden die Versuchsstadien unbeendet, beendet und fehlgeschlagen – wie auch der Rücktritt – als jeweils eigenständiger „Einzelakt“ bewertet.486

Übersicht 21 (3)

Va

Versuchsphase

(4) Ve

Nicht(Vg)

> > > > > > > > > > :

(2)

Vh

8 > > > > > > > > > >
> > > > > > > > > :

8 > > > > > > > > > >
> > > > > :

8 > > > > > >