Die Deutschenrechte des Grundgesetzes: Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft [1 ed.] 9783428500987, 9783428100989

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Die Deutschenrechte des Grundgesetzes: Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft [1 ed.]
 9783428500987, 9783428100989

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A N G E L I K A SIEHR

Die Deutschenrechte des Grundgesetzes

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 867

Die Deutschenrechte des Grundgesetzes Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft

Von Angelika Siehr

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Siehr, Angelika: Die Deutschenrechte des Grundgesetzes : Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft / Angelika Siehr. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 867) Zugl.: Berlin, Humboldt-Uni v., Diss., 1999 ISBN 3-428-10098-0

D 11/68 Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10098-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern

Vorwort Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, also diejenigen Rechte, die das Grundgesetz als Deutschengrundrechte (Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit und Berufsfreiheit) oder als staatsbürgerliche Rechte im engeren Sinne (allen voran das Wahlrecht) im Gegensatz zu den „Menschen"bzw. „Jedermannrechten" allein den Deutschen vorbehält, sind - das ist der Ausgangspunkt dieser Untersuchung - in einem verfassungsrechtlichen Spannungsfeld angesiedelt: Es erwächst aus der Paradoxie, daß mit den großen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Nordamerika und Frankreich die universellen Rechte des Menschen zur Legitimationsbasis partikulärer Staatsgründungen bestimmt worden sind. Die universellen Rechte des einzelnen können daher in praxi nur von einzelnen Staaten garantiert werden, die sich zugleich als politische Form souveräner Nationen begreifen. Die Deutschenrechte, die der Staat des Grundgesetzes trotz ihrer menschenrechtlichen Verwurzelung nur seinen eigenen Staatsbürgern garantiert, markieren den Schnittpunkt zweier Legitimationsstränge, und zwar der Legitimation des Staates aus der Idee der Menschenrechte und der Legitimation des Staates aus dem Nationalstaatsprinzip, das den besonderen Pflichten des Staates gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen Rechnung trägt. Ausgehend von der Überlegung, daß es zu einer verkürzten Wahrnehmung des Problems führen müßte, wenn es entweder allein aus der Perspektive der Menschenrechte oder allein aus der Perspektive des Staates beleuchtet wird, ist der erste Teil der Untersuchung der Analyse des spannungsreichen Verhältnisses von Menschenrechtsidee und Nationalstaatsprinzip gewidmet. Dem schließt sich im zweiten Teil die Suche nach einer rechtsdogmatischen Lösung im Umgang mit den Deutschengrundrechten an, die sich grundrechtsdogmatisch sowohl als Freiheitswie auch als Gleichheitsproblem begreifen lassen. Der (knappe) dritte Teil bietet einen Ausblick in das europäische Verfassungsrecht und dient gleichzeitig als Nagelprobe für den im zweiten Teil vorgeschlagenen Lösungsweg über Art. 3 Abs. 1 GG. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1999 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Die bis zum Ende des nachfolgenden Wintersemesters erschienene Literatur wurde berücksichtigt; danach war dies nur noch vereinzelt möglich.

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Vorwort

Herzlichen Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Hasso Hofmann, der dieses für mich bis zum Schluß spannende Thema angeregt und während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl begleitet hat. Nicht zuletzt verdanke ich auch seinen gleichermaßen eindrucksvollen wie lebendigen Seminarveranstaltungen sowie seinen Schriften, insbesondere jenen, die jetzt im Sammelband „Verfassungsrechtliche Perspektiven" zusammengefaßt sind, wertvolle Anregungen. Dafür und für weitere Förderung und Unterstützung mein Dank. Ferner danke ich Prof. Dr. Alexander Blankenagel herzlich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und ihm sowie Prof. Dr. Michael Stolleis für die mir gewährte Unterstützung. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Norbert Simon für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Bewilligung einer Druckbeihilfe. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich aber insbesondere auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen PD Dr. Susanne Baer, Dr. Christian Bumke, Dr. Klaus-Joachim Grigoleit und Tobias Herbst für vielfältige Unterstützung. In noch höherem Maße gilt dies für meinen Mann Dr. Harald Alberts. Dank besonderer Art schulde ich der Fahrbücherei des Büchervereins Schleswig-Holstein für den Bereich der Gemeinde Kropp (bei Schleswig) und Umgebung, deren außergewöhnlich hilfsbereite Mitarbeiter sich nicht scheuten, entlegenste staatsrechtliche Werke aus dem 19. Jahrhundert per Fernleihe zu bestellen und mir für meinen „privaten Lesesaal" zur Verfügung zu stellen oder gar im Bücherbus ein aufklappbares Microfichegerät herbeizuschaffen. Außerdem danke ich Konstanze Braun für Korrekturarbeiten, Jörg Junge für Hilfe bei erneuter Literaturrecherche für die Veröffentlichung, Philipp A. Riecken für Unterstützung bei der Erstellung der Register und Ute Espig für die Erstellung der Druckvorlage. Mit großer Dankbarkeit und Freude erfüllt mich schließlich auch die Verleihung des Humboldt-Preises durch die Humboldt-Universität zu Berlin im Oktober 2000, der mir Ansporn für weitere wissenschaftliche Projekte sein wird.

Berlin, im Frühjahr 2001

Angelika Siehr

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Die Deutschenrechte - Instrument „nationaler Schließung" in einer menschenrechtlichuniversalistischen Verfassung I.

Menschen- und Bürgerrechte in einer individualistisch-universell gedachten Ordnung 1. Die doppelte Bedeutung des Begriffspaares „Menschen- und Bürgerrechte" 2. Perspektiven des Verhältnisses von Menschenrechten und Deutschenrechten des Grundgesetzes 3. Überpositive Menschenrechte als externer Maßstab a) Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG und Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG b) Der „doppelte Geltungsbegriff' und seine Konsequenzen für die Deutschenvorbehalte c) Zum menschenrechtlichen Gehalt der Deutschengrundrechte (1) Verfassungs- und ideengeschichtlicher Rückblick (2) Aktueller Zugang zum Problem (3) Ergänzende Betrachtungen aus völkerrechtlicher Perspektive .... d) Zwischenbilanz 4. Menschenrechtsbekenntnis und Positivität der Grundrechte ein rechts- und verfassungstheoretisches Dilemma? 5. Der verfassungsimmanente Ansatz a) Implikationen einer auf menschenrechtliche Grundsätze gebauten Verfassungsordnung ( 1 ) Schutz und Freiheit - Zwei Dimensionen von Menschenrechten und Menschenwürde (2) Insbesondere: Würdenorm und Deutschenrechte (3) Die neuzeitliche Wende im Freiheitsbegriff (a) Perspektiven Wechsel: Von der (Binnen-)Perspektive des Herrschaftsverbandes zu der des autonomen Individuums .. (b) Von den alten partikulären Freiheiten zur gleichen Freiheit des Menschen b) Exkurs: Nationaler Rechtsstaat gegen menschenrechtlichen Universalismus (1) Die deutsche Grundrechtsentwicklung bis 1949

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Inhaltsverzeichnis

(a) Der Streit um die Deutschenvorbehalte unter der Weimarer Reichsverfassung (b) Die Vorgeschichte (c) Weitere Faktoren (2) 1949 und 1789 - Rückblick und Aufbruch in der deutschen Verfassunggebung c) Fazit: Konsequenzen für die Beurteilung der Deutschenvorbehalte des Grundgesetzes 6. Zwischenergebnisse - und neue Fragen II. Nation und Nationalstaat in staats- und verfassungsrechtlicher Perspektive: Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz 1. Zum Begriff des Nationalstaatsprinzips 2. Zugehörigkeit zu Staat und Nation: Der Verfassungstext im Spannungsfeld von Staatswerdung und politischer Philosophie a) Staatsangehörigkeit als Mitgliedschaft im Staatsverband (1) Das Problem: Mitgliedschaft und Menschenrechte (a) Staatsangehörigkeit und Schutz der Menschenrechte (b) Prämissen des politischen Denkens der Moderne (c) Konsequenzen und völkerrechtliche Lösungsansätze (2) Staatsangehörigkeit als am modernen Staat orientierte Ausformung eines Mitgliedstatus (3) Zum materialen Gehalt der Staatsangehörigkeit als Mitgliedschaft im modernen Staat (a) Mitgliedschaftliche Rechtspositionen aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zum Staat (b) Die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte im Parlamentarischen Rat b) Staatsbürgerschaft als Mitgliedschaft im demokratischen Rechtsstaat ( 1 ) Mitgliedschaft und Menschenrechtsidee im Verfassungsstaat .... (a) Die Argumentation im Parlamentarischen Rat (b) Das Problem: Mitgliedschaftliche und menschenrechtliche Gleichheit (2) Zur Integrationsleistung der Staatsbürgerschaft (a) Der Staatsbürger und das Autonomieprinzip (b) Staatsmitgliedschaft und staatsbürgerliche Mitgliedschaftsrechte (3) Grenzen der Integration (a) Vom Territorial- zum Personenverband: Staatsangehöriger und Ausländer (b) Der Verfassungsstaat und das Prinzip der „territorialen Schließung" (c) Formen der „Schließung" innerhalb des Verfassungsstaates c) Zugehörigkeit zur Nation - in deutscher und in globaler Perspektive (1) Das Konzept der Nation im Grundgesetz (a) Typologie der Nation (b) Kultur- und Volksnation (c) Staatsbürgernation

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Inhaltsverzeichnis (d) Hintergründe, Gefahren und Chancen des konzeptionellen Dualismus (e) Das Staatsangehörigkeitsrecht im Spiegel des Konzepts der Nation (2) Zugehörigkeit als primäres Gut und die Diskussion um gerechte Vergabekriterien (a) Zugehörigkeit im Spannungsfeld von individueller und nationaler Selbstbestimmung (b) Zugehörigkeit als primäres Gut (Walzer) (c) Das doppelte Dilemma der Zulassungsentscheidungen (d) Gleichheit und Differenz, Identität und Anerkennung ein interdisziplinärer Diskurs (e) Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte (f) J. Habermas (g) Kritik 3. Die Beförderung des nationalen Wohls als Verfassungsprinzip a) Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz b) Zum Rechtscharakter des Nationalstaatsprinzips III. Resümee: Das Nationalstaatsprinzip in einer menschenrechtlich-universalistisch fundierten Verfassung 1. Paradoxien der Zwillingsexistenz von Menschenrechtsidee und Nationalstaatsprinzip 2. Die Vermittlungsfunktion der Verfassung a) Die Stiftung von Legitimität durch zwei gegensätzliche Prinzipien ... b) Und umgekehrt: Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Konzept von Nation und Mitgliedschaft im Staatsverband 3. Konsequenzen für die Bürgerrechte des Grundgesetzes a) Rechtfertigung der „nationalen Schließung" über die Deutschenvorbehalte (1) Die Grundpflichten des status passivus als Anknüpfungspunkt .. (2) Rechtfertigung der Deutschenvorbehalte bei Rechten des status activus im Gegensatz zum status negativus b) Die Deutschenvorbehalte der Rechte des status negativus zwischen dem menschenrechtlichen Postulat gleicher Freiheit und „nationaler Schließung" 2. Teil Die rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte (Art. 8,9 Abs. 1,11 und 12 Abs. 1 GG) I.

Die bislang vertretenen Auffassungen 1. Versuch der Harmonisierung über die Lehre vom Menschenrechtskern oder Menschenwürdegehalt der Deutschengrundrechte a) Der Problemhorizont b) Bestimmung des Menschenrechts- oder Menschenwürdekerns

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Inhaltsverzeichnis

c) Geltendmachung des Menschenrechts- oder Menschenwürdekerns ... d) Kritik 2. Versuch der Harmonisierung über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG als menschenrechtlicher Standard a) Der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts b) Praktische Bedeutung einer Prüfling am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG c) Ergänzende Positionen in der Literatur (Schwerdtfeger u.a.) d) Kritik 3. Der Gleichheitssatz a) Die Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG b) Der allgemeine Gleichheitssatz und die Lehre vom Willkürverbot .... c) Art. 3 Abs. 1 GG und die Deutschengrundrechte - Ansätze im Schrifttum (1) Die Deutschenrechte als Ungleichtatbestände (2) Die Bedeutung von Zulassungsentscheidungen (Isensee) (3) Funktionell orientierte Ansätze II. Die Deutschengrundrechte im Lichte der neueren Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes 1. Die „neue Formel" und ihre Anwendung auf Differenzierungen in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen 2. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 3. Die Gleichheitskonzeption Husters a) Die zwei Fallgruppen des Art. 3 Abs. 1 GG und ihr jeweiliges Verhältnis zum Gleichheitssatz b) Das Eingriffsmodell des Gleichheitssatzes c) Die Verhältnismäßigkeitsprüfung d) Zur Kritik an diesem Ansatz 4. Folgerungen für Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen III. Ergebnisse des zweiten Teils

3. Teil Ausblick: Die Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

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Literatur- und Quellenverzeichnis

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Personenregister

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Sachregister

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Erster Teil

Die Deutschenrechte - Instrument „nationaler Schließung44 in einer menschenrechtlichuniversalistischen Verfassung I. Menschen- und Bürgerrechte in einer individualistischuniversell gedachten Ordnung 1. Die doppelte Bedeutung des Begriffspaares „Menscheil- und Bürgerrechte" Von „Menschen- und Bürgerrechten" wird meist in einem Atemzug gesprochen. Dahinter steht die Vorstellung von einer Einheit oder zumindest einem Komplementärverhältnis dieser Rechte, wie sie besonders klar in der berühmten „Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 zum Ausdruck kommt. Ganz dem universalistischen Denken der Aufklärung verpflichtet und von dem Bewußtsein durchdrungen, „Wahrheiten für alle Zeiten und für alle Länder" zu verkünden, wie ein Deputierter der revolutionären französischen Nationalversammlung bei der Beratung dieser epochemachenden Menschenrechtserklärung begeistert ausrief, sollten hier die elementaren Rechte des Menschen als Mensch und des Menschen als Bürger niedergelegt werden. 1 Es ging dabei also nicht um eine Abgrenzung unterschiedlich großer Kreise von Rechtsträgern, 2 sondern um die Rechte desselben Individuums, die einerseits in der Perspektive eines hypothetischen vorpolitischen Naturzustandes, anderer-

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Hasso Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, in: Der Staat, Bd. 34 (1995), 1 ff. (13) m.w.N. in Fn.51; Gerd Kleinheyer, Grundrechte. Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. Stuttgart 1992, 1047 ff. (1068 f.). 2 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, München 1988, 1017, stellt daher fest, daß „Mensch" und „Bürger" insoweit als Synonym galten, und Sachs spricht von einer „kumulative(n) Qualifikation der Menschenrechte" (vgl. Ausländergrundrechte im Schutzbereich von Deutschengrundrechten, in: BayVBl. 1990, 385, Fn.6; ders., in: Stern, aaO, 389 ff. m.w.N.).

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

seits im „bürgerlichen" Zustand bzw. Staatszustand betrachtet werden. 3 Auch der staatsrechtlichen Literatur des deutschen Vormärz ist diese Betrachtungsweise noch ganz selbstverständlich: So weist etwa Silvester Jordan, der spätere Mitverfasser der Kurhessischen Verfassung von 1831, in seinem Werk „Versuche über allgemeines Staatsrecht in systematischer Ordnung und mit Bezugnahme auf Politik" von 1828 eher beiläufig daraufhin, daß „der Mensch nicht als Gegensatz des Bürgers [erscheint], sondern als Eins mit diesem; nur als der durch den Staat geschüzte (verbürgte) Mensch, als der Mensch im Staate im Gegensaze des Menschen im Naturzustande". 4 Eine andere Bedeutung gewinnt diese Unterscheidung dann jedoch in späteren Verfassungen, insbesondere auch im Grundgesetz: Wenn im nüchternformalisierenden Sprachgebrauch grundrechtlicher Dogmatik anstelle von „Menschen- und Bürgerrechten" von „Jedermann- und Deutschenrechten" die Rede ist, so zeigt sich an dieser Begrifflichkeit nicht nur die Transformation naturrechtlich begründeter Rechte in positiv geltendes Verfassungsrecht und (möglichst) handfeste Grundrechtsdogmatik, sondern es wird gleichzeitig deutlich, daß diese Differenzierung gerade auf die unterschiedlich großen Kreise der Grundrechtsberechtigten abzielt.5 Somit zerfallt die Einheit komplementärer Rechte des Individuums in zwei Gruppen von Rechten: solche, die von jedem geltend gemacht werden können und solche, die an die Zugehörigkeit zum Staatsverband anknüpfen. 6 Das heißt, die universalistisch-abstrakte Vorstellung von Rechten des Menschen im status civilis, die ihrem kosmopolitischen Ansatz entsprechend von „dem Menschen" und „dem Staat" nur im Singular spricht, die Ausschlüsse konkreter Nationen und Staaten mit ihren definierten Grenzen nicht kennt, wird durch die Bezugnahme auf diese beiden Kategorien abgelöst und entscheidend verändert: Dem Universalismus der in der Verfassung positivierten Menschenrechte tritt nun in Gestalt der Bürgerrechte unvermittelt das fest umrissene und gleichzeitig begrenzte „wir" einer partikularen staatlichen 3

Dazu Hasso Hofmann, Grundpflichten und Grundrechte, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (HdbStR), Bd. V: Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg 1992, § 114, Rn.4, jetzt in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, Tübingen 1995, 73 ff. (75); ders., Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, jetzt ebd., 3 ff. (16 f.). 4 Marburg 1828, 396 f. 5 Stern (Fn.2), 1025 ff.; vgl. auch Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 16. Aufl. Heidelberg 2000, Rn. 107 f. 6 Zum engen und zugleich spannungsreichen Verhältnis von Menschen- und Bürgerrechten s. auch Peter Koller, Menschen- und Bürgerrechte aus ethischer Perspektive, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 3, 1995, 49 ff, 60 ff., der einerseits ihre Einheit als universelle, allen Menschen von Geburt an zustehende Rechte und andererseits die Differenz beschreibt, die aus dem Charakter der Bürgerrechte als Mitgliedschaftsrechte in einer in eine Vielzahl selbständiger Staaten aufgeteilten Welt folgt.

I. Menschen- und Bürgerrechte

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Gemeinschaft gegenüber. Die jedem Menschen allein kraft seines Menschseins zustehenden Rechte - „the rights of all people at all times and in all situations", wie es nach der bekannten Definition Maurice Cranstons heißt7 - stehen auf diese Weise neben Rechten, deren Innehabung durch die Selbstdefinition einer konkreten Nation vermittelt wird, 8 die eben nicht nur alle, auf die die Zugehörigkeitskriterien zutreffen, ein- sondern auch andere Menschen als „Fremde" ausschließt. Gerade auch die grundrechtsdogmatische Bezeichnung der Bürgerrechte als „Deutschenrechte" (bezogen speziell auf die Freiheitsrechte der Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 11 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG auch „Deutschengrundrechte") rückt die Frage nach der Zugehörigkeit zur „deutschen Nation" als Anknüpfungspunkt für diese Rechte klar ins Blickfeld.

2. Perspektiven des Verhältnisses von Menschenrechten und Deutschenrechten des Grundgesetzes Damit stellt sich die Frage, wie sich das Aufbrechen der ursprünglichen ideellen Einheit der Individualrechte zugunsten eines Dualismus von als universell gültig gedachten und von national radizierten Rechten innerhalb einer freiheitlichen - und das heißt insbesondere auch: auf menschenrechtliche Grundsätze gebauten - Verfassung auswirkt, oder ganz konkret auf das Grundgesetz bezogen: wie das Verhältnis von Menschenrechten und Deutschenrechten des Grundgesetzes zu bestimmen ist.9 Die relativ geringe Beachtung, die diese Frage bislang gefunden hat, legt die Vermutung nahe, daß man mehrheitlich entweder stillschweigend davon ausgeht, 7

What are Human Rights? London/Sydney/Toronto 1973, 19 ff. (21 ). Siehe dazu die Beiträge in: Helmut Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a.M. 1994, sowie Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992, 4. Aufl. 1994, 109ff., 124ff., insbes. 632ff. Zur Problematik der Vermittlung zwischen universalistisch strukturierten individuellen Ich-Identitäten und den Strukturen der an Volk und Staat haftenden kollektiven Identität s. auch die Bemerkung bei Erhard Denninger, Über das Verhältnis von Menschenrechten zum positiven Recht, in: JZ 1982, 225ff. (230f.). 9 Die Begriffswahl „Menschen- und Deutschenrechte" liegt gegenüber den herkömmlichen Begriffspaaren „Menschen- und Bürgerrechte" oder „Jedermann- und Deutschenrechte" quer, ist aber besser als diese geeignet, die Polarität zwischen dem universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte und der Anknüpfung an die partikulare Denkkategorie der Nation in den Deutschenrechten auszudrücken; i.E. ähnlich Helmut Quaritsch, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: HdbStR V (Fn.3), § 120, 663 ff., Rn. 133, der von einer bewußten Unterscheidung zwischen „Menschenund Deutschengrundrechten" im Parlamentarischen Rat spricht. 8

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

daß es sich schlicht um ein spannungsfreies Nebeneinander von Rechten handelt, die eben nach Herkunft, Geltungsgrund und Rechtsqualität (als vorstaatliches oder staatlich gesetztes Recht) bzw. nach dem Kreis der aus den Grundrechtsnormen aufgrund positiver Setzung subjektiv-rechtlich Berechtigten verschieden sind, oder aber meint, daß das Problem - so es eins gab - doch jedenfalls gelöst sei. Gerade in der älteren Literatur, die offenkundig der erstgenannten Ansicht zuneigt, hieß es in der Konsequenz denn auch ganz lapidar, daß die Deutschenrechte des Grundgesetzes eine bewußte Beschränkung enthalten und Ausländern insoweit folglich kein Grundrechtsschutz eingeräumt sei.10 Wie schon die verschiedenen Definitionsansätze - Rechtsqualität hier, subjektiv-rechtliche Berechtigung dort - signalisieren, läßt sich die Frage nach dem Verhältnis von Menschen- und Bürgerrechten je nach Kontext und Begriffsbestimmung ganz unterschiedlich verstehen: Wird auf Rechtsqualität und Geltungsgrund Bezug genommen, so erscheinen die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte", auf die sich auch das Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG bezieht, gegenüber den verfassungsrechtlich verankerten Deutschenrechten als externer Maßstab. Ein verfassungsimmanenter Ansatz zielt hingegen auf das Verhältnis der Deutschenrechte - also der Art. 8, 9 Abs. 1, 11, 12 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1 und 2, 20 Abs. 4, 33 Abs. 1-3 und Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG - zu den verfassungsgesetzlich normierten Menschenrechten bzw. Jedermann-Grundrechten des Grundgesetzes. Ebenfalls von einem positivrechtlichen Verständnis des Begriffs der „Menschenrechte" ausgehend kann zum dritten aber auch untersucht werden, ob sich die Deutschenrechte mit den auf völkerrechtlicher Ebene kodifizierten Menschenrechten vereinbaren lassen. Und hinter der solcherart aus verschiedenen Perspektiven beleuchteten Frage nach dem Verhältnis von Menschen- und Deutschenrechten steht letztlich die Frage nach der Rechtfertigung dieser Differenzierung. Dabei liegt auf der Hand, daß es bei alledem keineswegs um rein akademische Fragen geht, sich die hier vertretenen Positionen vielmehr unmittelbar auf den dogmatischen Umgang mit den Deutschengrundrechten auswirken, da eine verfassungsrechtliche Spannungslage dogmatisch andere Anforderungen stellt als das konfliktfreie Nebeneinander inhaltlich fest umrissener Rechtspositionen. Die Annahme, daß das Verhältnis von Menschen- und Deutschenrechten des Grundgesetzes unproblematisch sei, sich einfach als spannungsfreies Nebeneinander zweier Gruppen von Rechten beschreiben lasse, setzt voraus, daß es sich dabei um zwei klar gegeneinander abgrenzbare Kategorien von je unterschiedlichen, gegenständlich begrenzten Individualrechten handelt. Die Kategoriebildung erfolgt bezüglich der „Menschenrechte" aber auf allen drei oben 10

Siehe dazu die umfangreichen Nachw. bei Klaus-Peter Dolde, Die politischen Rechte der Ausländer in der Bundesrepublik, Berlin 1972, 45 f., Fn. 1.

I. Menschen- und Bürgerrechte

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dargestellten Ebenen und orientiert sich dem jeweils zugrundeliegenden Menschenrechtsbegriff entsprechend an unterschiedlichen Kriterien. Wenn nachweisbar wäre, daß diese Abgrenzungskriterien entweder kumulativ vorliegen, die Gruppen der nach verschiedenen Kriterien definierten überpositiven, positivrechtlich im Grundgesetz oder völkerrechtlich verankerten Menschenrechte einerseits und die Deutschenrechte des Grundgesetzes andererseits sich also inhaltlich nicht überschneiden, oder es auf einen der genannten Menschenrechtsbegriffe - und dies könnte nur der überpositive sein - nicht ankommt, wäre eine Spannungslage definitiv ausgeschlossen. Sie wäre aber auch dann ausgeschlossen, wenn im Falle inhaltlicher Überschneidungen oder Widersprüchlichkeiten Kollisionsnormen zur Verfügung stehen bzw. die Lösung sich aus der Normhierarchie ergeben sollte, was im Blick auf das Völkerrecht von Bedeutung sein könnte. Im folgenden sollen die aus unterschiedlichen Blickwinkeln zum Verhältnis von Menschen- und Bürgerrechten vertretenen Positionen näher beleuchtet werden, um zu klären, ob sich die Annahme eines spannungsfreien Nebeneinanders zweier Gruppen von Rechten bestätigen läßt.

3. Überpositive Menschenrechte als externer Maßstab Die von der deutschen Staatsrechtslehre vorgenommene Einteilung der Grundrechte in Menschen- und Bürgerrechte bzw. Jedermann- und Deutschenrechte - beide Begriffspaare sind als Bezeichnung gebräuchlich 11 - orientiert sich allein an der positivrechtlichen Charakterisierung des Grundrechtsberechtigten. Wenn die Norm „alle" oder „alle Menschen",,jeden" oder Jedermann" als Berechtigten nennt, aber (mit Ausnahme von Art. 38 GG 1 2 ) auch dann, wenn 11

Vgl. Pieroth/Schlink (Fn.5), hier: 6. Aufl. 1990 (ansonsten wird die 16. Aufl. 2000 zit.), Rn.69 („Jedermannsrechte"); s. auch die Nachw. bei Stern (Fn.2), 1016 mit Fn. 56, 1023 ff. (1027). 12 Auch das in Art. 38 I S. 1 GG normierte Wahlrecht ist nach ganz überwiegender Ansicht ein Deutschenrecht. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut, folgt nach h.M. aber aus Art. 20 II GG, wonach das Wahlrecht als Ausdruck des Demokratieprinzips und der Volkssouveränität allein dem (Staats)Volk zusteht. Der Begriff des Staatsvolkes umfasse nicht die gesamte im Staatsgebiet ansässige Bevölkerung, sondern nur die Deutschen i.S.v. Art. 116 I, also keine Ausländer und Staatenlosen. Daher könnten auch nur Deutsche Träger des Wahlrechts sein. Heftig umstritten war jedoch, ob dies auch ein Ausländerwahlrecht auf kommunaler Ebene ausschließt; bejahend die beiden Urt. des BVerfG v. 31.10.1990, E 83, 37 ff. (Schleswig-Holstein) u. 60 ff. (Hamburg), dokumentiert bei Josef Isensee/Edzard Schmidt-Jortzig (Hg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, Heidelberg 1993. Zum Meinungsstreit allgemein Dolde (Fn. 10); für ein kommunales Ausländerwahlrecht Dietmar 2 Siehr

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

sie den Kreis der Rechtsträger nicht ausdrücklich anspricht, 13 handelt es sich um ein „Jedermann-Grundrecht". Dieser Terminus erscheint gegenüber dem vielschichtigen und darum möglicherweise mißverständlichen Begriff „Menschenrecht" dann vorzugswürdig, wenn es allein um die postivrechtliche Kennzeichnung der Grundrechtsträgerschaft geht. 14 Soll ein verfassungsrechtliches Individualrecht hingegen nur Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG zustehen, so wird es als Deutschenrecht bezeichnet. Ob ein Jedermann- oder ein Deutschenrecht vorliegt, läßt sich, da letztere (abgesehen von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) stets mit einem ausdrücklichen Deutschenvorbehalt versehen sind, auch unmittelbar aus dem Text des Grundgesetzes entnehmen. Angesichts des im Grundgesetz selbst in Art. 1 Abs. 2 enthaltenen Bekenntnisses „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" stellt sich aber nun die Frage, wie sich die positivrechtliche Differenzierung zwischen Jedermann- und Deutschenrechten gegenüber diesen vorgegebenen, unabdingbaren Menschenrechten verhält, und wie sich insbesondere diejenigen dazu äußern, die - stillschweigend - von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- und Deutschenrechten des Grundgesetzes ausgehen. Läßt sich zwischen diesen Rechten möglicherweise eine „horizontale Teilung" in dem Sinne vornehmen, daß überpositive Menschenrechte als Jedermann-Grundrechte positiviert wurden, mit diesen also - ungeachtet konkretisierender und gestalterischer Momente der Positivierung - zumindest im Kern inhaltlich übereinstimmen, während den Deutschenrechten als originär positivrechtlicher Rechtsschöpfung eben dieser spezifische Menschenrechtsgehalt fehlt? 15 Nur unter dieser Voraussetzung ließe sich auf der Grundlage des BeBreer, Die Mitwirkung von Ausländern an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland durch Gewährung des Wahlrechts, insbesondere des Kommunalwahlrechts, Berlin 1982; ebenso Brun-Otto Bryde, Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie, in: JZ 1989, 257 ff.; a.A. statt vieler Helmut Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, in: DÖV 1983, 1 ff. 13 Sachs, Ausländergrundrechte (Fn. 2), 385 (mit Verweis auf Stern). 14 Krit. gegnüber dem Gebrauch des Begriffs „Menschenrechte" zur Bezeichnung von Grundrechten Stern (Fn. 2), 1025 f.; ähnlich Josef Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32 (1974), 49 ff. (76), der es für mißverständlich hält, die „allgemeinen Grundrechte mit erborgtem Pathos als ,Menschenrechte4 zu bezeichnen". Zu den Gründen, warum davon in dieser Untersuchung gelegentlich bewußt abgewichen wird s. Fn. 9. 15 Davon, daß diese Vorstellung der Trennung zwischen Deutschen- und Jedermannrechten in der Verfassung zugrunde liegen müsse, geht offenbar Heinrich Rolvering aus; vgl. Die Rechtsgarantien für eine politische Betätigung von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Tübingen 1970, 114; zum Begriff der „horizontale Teilung" s. Albert Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 3. Aufl. Köln u.a.O. 1989,

I. Menschen- und Bürgerrechte

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kenntnisses des Art. 1 Abs. 2 GG, das offenbar von einem überpositiven Begriff der Menschenrechte ausgeht, die These von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- und Bürgerrechten aufrechterhalten.

a) Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG und Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG Die Formulierung des Art. 1 Abs. 2 GG - die sich im übrigen deutlich an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 anlehnt,16 deren fünfzigster Geburtstag unlängst feierlich begangen wurde - ist Ausdruck der weltweiten Rückbesinnung auf die überstaatlichen, vorgegebenen Menschenrechte 17 als Reaktion auf die Greueltaten des NSRegimes. Nach den durch die nationalsozialistische Diktatur ausgelösten tiefgreifenden Erschütterungen des allgemeinen Wert- und Rechtsbewußtseins waren die Bemühungen um Wiedergewinnung und Neuordnung der Staatlichkeit in Deutschland, aber auch der bewußte Rekurs anderer europäischer Staaten auf die rechtskulturellen Grundlagen ihrer Staatlichkeit, ganz von dem Bestreben geprägt, sich des überlieferten Bestandes an Grundwerten der europäisch-nordamerikanischen Rechtskultur zu vergewissern. Dies geschah insbesondere durch die betonte Anknüpfung an die gemeinsame Menschenrechtstra-

§4 3.d), und 4. Aufl. 1997, §4 Rn. 10, der eine „vertikale Trennung" zwischen einem „menschenrechtlichen Kern" und einem „positivrechtlichen H o f für richtiger hält. 16 Dort beginnt die Präambel mit den Worten: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet" internationale Quelle: GAOR 3rd Sess., Resolutions part I, 71; dt. Obersetzung in: Satorius II, Nr. 19. V. Mangoldt wies im Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates auch ausdrücklich auf diese Erklärung hin, s. Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, bearb. v. Klaus-Berto v. Doemming/ Rudolf Werner Füsslein/Werner Matz, in: JöR, n.F., Bd. 1, 1951, 50. 17 Sachs, Ausländergrundrechte (Fn.2), 386. Der Aspekt der Rückbesinnung zeigt sich auch sehr deutlich darin, daß Art. 1 der Menschenrechtserklärung von 1948 („Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen") inhaltlich unmittelbar an die berühmte „Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 anknüpft, wo es in Art. V r heißt: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits"; Textabdruck in: Les Constitutions et les Principales Lois Politiques de la France depuis 1789, par L. Duguit/H. Monnier/R. Bonnard, septième edition par Georges Berlia, Paris 1952, 1 ff. Hierzu Ulrich Klug, Versuch einer philosophischen Begründung der Menschenrechte, in: ARSP 1988, Beiheft 33: Menschen- und Bürgerrechte, 9 ff. (10).

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

dition, 18 wie etwa auch die dem Art. 1 Abs. 2 GG durchaus vergleichbaren Menschenrechts-Klauseln der französischen Verfassung vom 13.10.1946 und der italienischen Verfassung vom 27.12.1947 belegen.19 Hinsichtlich des Verhältnisses der nach Art. 1 Abs. 3 GG mit Bindungswirkung „als unmittelbar geltendes Recht" ausgestatteten „nachfolgenden" Grundrechte zu den vorstaatlichen Menschenrechten finden sich widersprüchliche Aussagen: Teils heißt es, sie beruhten regelmäßig auf jenen überpositiven Menschenrechten, zu denen Art. 1 Abs. 2 GG den Brückenschlag unternimmt, 20 und umfaßten auch meist deren Inhalt, 21 teils wird betont, daß das Grundgesetz den Bestand seiner Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG nicht durch Rückgriff auf die zuvor als Bekenntnisgegenstand deklamierten Menschenrechte, sondern allein durch einen Verweis auf die Positivierungen im nachfolgenden Verfassungstext bestimme.22 Beide Feststellungen ließen sich noch auf einen Nenner bringen, wenn die erstgenannte Aussage als Hinweis darauf interpretiert werden könnte, daß in den Grundrechten lediglich historisch und ideengeschichtlich die Idee vorstaatlicher Menschenrechte weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, Niederschlag finde. Entsprechende Erläuterungen, ergänzt durch die Bemerkung, daß die Grundrechte mit ihrer Positivierung eine neue, für ihre Wirksamkeit gestärkte und gefestigte Dimension erhalten hätten,23 finden sich tatsächlich, werden dann allerdings oft schon im nachfolgenden Satz durch die Behauptung unterminiert, daß diese „ver18

Dazu (auch mit Hinweisen auf die Formulierungen in den Verfassungen der deutschen Bundesländer) Denninger (Fn. 8), 226; s. auch Helmut Lecheler, Menschenwürde und Menschenrechte im modernen Verfassungsstaat, in: Anton Rauscher (Hg.), Christliches Menschenbild und soziale Orientierung (Mönchengladbacher Gespräche 13), Köln 1993, 69 ff. (70 ff.). 19 Das französische Volk „réaffirme solennellement les droits et les libertés de l'homme et du citoyen consacrés par la Déclaration des droits de 1789", heißt es in der Präambel der französischen Verfassung und in Art. 2 der italienischen Verfassung: „La Repubblica riconosce e garantisce i diretti inviolabili dell' uomo". 20 Vgl. Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 81 (1956), 117 ff., insbes. 120 ff.; s. auch Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, in: JZ 1981, 457 ff. (458). Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert vorsichtiger, daß die Grundrechte „als Ausfluß des Bekenntnisses zu unveräußerlichen Menschenrechten (erscheinen), die ihrerseits ihren Grund in der Unverletzlichkeit der Menschenwürde haben". Damit seien die Grundrechte meta-positiv verankert, in einen bestimmten Begründungszusammenhang hineingestellt (Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, hg. v. der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 1990, 14; s. dazu auch Klug (Fn. 17), 13 ff. 21 Stern (Fn. 2), 43. 22 Stern (Fn. 2), 349. 23 Stern (Fn.2), 1026; vgl. auch ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HdbStR V (Fn.3), 3 ff., § 108, insbes. Rn. 51 ff.

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fassungsrechtliche Fundierung (...) indessen nur eine Verdrängung (nicht Vernichtung) der menschenrechtlichen Qualität [bedeutet]; das Menschenrecht lebt wieder auf, wenn die positivrechtliche Dimension nicht der Menschenrechtsidee entspricht." 24 Oder an anderer Stelle: „Sofern die Grundrechte hinter diesem Postulat zurückbleiben, gelten die Menschenrechte unmittelbar" 25; eine Konsequenz, die sich aus dem als absolut26 und unabdingbar vorausgesetzten Charakter der vorstaatlichen Menschenrechte ergebe, denen daher „Vorrang vor anderen Verfassungsbestimmungen" 2 7 zukomme.

b) Der,, doppelte Geltungsbegriff u und seine Konsequenzen für die Deutschenvorbehalte Hier zeigt sich im Gegensatz zu einem positivistischen Ansatz, der allein die positivierten Grundrechte für maßgeblich hält und die Heranziehung der überpositiven Menschenrechte als externen Maßstab ablehnt, ein „doppelter Geltungsbegriff', der naturrechtlichen und positivrechtlichen Geltungsgrund in sich vereint, indem er ein und denselben Verfassungsrechtssatz synchron auf beide zurückführt. 28 Als Beispiel sei der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde genannt, der danach als Naturrechtssatz „auch gelten würde, wenn er nicht in der Verfassung stünde", nunmehr aber auf der Positivierung in Art. 1 Abs. 1 GG beruhe, „ohne daß er seinen besonderen Charakter verloren" habe.29 Gleiches gilt für die in der Menschenwürde wurzelnden und als Grundrechte positivierten Menschenrechte, 30 die in ihrem Bestand von ihrer Formulierung in 24

Stern, Staatsrecht III/l (Fn. 2), aaO; ähnlich ders., Menschenrechte (Fn. 23), Rn. 52. Stern, Staatsrecht III/l (Fn. 2), 44. 26 Den absoluten Charakter der überstaatlichen (aber in staatlichen Gesetzen niedergelegten) Grundrechte betont etwa Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht, 22. Aufl. München 1978, § 13 Il.l.b), S. 101. 27 Dazu auch Hans-Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Franz L. Neumann/ders./Ulrich Scheuner (Hg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, 2. Bd., Berlin 1954 (2. unveränderte Aufl. 1968), 1 ff. (7 f.). 28 Siehe dazu die ausführlichen Erläuterungen bei Denninger (Fn. 8 ), 227 f. 29 H. C. Nipperdey (Fn. 27), 7 f. Auch das BVerG stellt in einer seiner frühen Entscheidungen fest, daß auch dadurch, „daß der Gesetzgeber des Grundgesetzes in seine Grundentscheidung Normen einbezogen und damit im Grundgesetz positiviert hat, die vielfach als übergesetzlich bezeichnet werden (etwa in Art. 1, aber auch in Art. 20 GG), [...] sie ihren besonderen Charakter nicht verloren[haben]"; vgl. E3, 225 [233]; s. dazu auch Starck, Menschenwürde (Fn. 20), 457 ff. 30 Dürig (Fn. 20), 117 ff., insbes. 119 ff., sieht die Menschenwürde als Grundlage eines Wert- und Anspruchssystems der Grundrechte. Da ein genereller Anspruch auf Achtung der Menschenwürde nicht vollziehbar sei, werde dieser Gesamtanspruch durch Art. 1 Abs. 2 zunächst in einzelne „Menschenrechte" aufgelöst, die dann in Abs. 3 unter 25

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Gesetzen völlig unabhängig sein sollen 31 - nur deshalb können sie bei einem „Zuwenig an Positivierung" wieder „aufleben". 32 Man sollte annehmen, daß diejenigen, die von einem „doppelten Geltungsbegriff 4 ausgehen und zugleich das Verhältnis der Deutschengrundrechte zu den überpositiven Menschenrechten für problemlos halten, die Deutschengrundrechte, 33 also die Versammlungs- (Art. 8) und Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1), die Freizügigkeit (Art. 11) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1), daraufhin abgeklopft haben, ob sie Freiheitsrechte Deutschen vorbehalten, die zum Bestand der in Art. 1 Abs. 2 GG als „unverletzlich und unveräußerlich" bezeichneten Menschenrechte zählen. Denn bei aller Verschiedenartigkeit der für die Existenz von Menschenrechten gegebenen Begründungen 34 besteht doch dahingehend Übereinstimmung, daß diese Rechte unmittelbar aus der Natur des Menschen folgen und in engem Zusammenhang zu seiner Würde und Person-

der herkömmlichen Bezeichnung „Grundrechte" auf der staatlichen Ebene zu subjektiven öffentlichen Rechten aktualisiert würden, „ohne ihnen allerdings damit ihren vorverfassungsmäßigen Gehalt zu nehmen". 31 So etwa Maunz (Fn. 26); zweifelnd, ob neben den formulierten Texten die Berufung auf ungeschriebene, überstaatliche Rechte noch Bedeutung haben könne, allerdings ders., Deutsches Staatsrecht, 23. Aufl. München 1980, § 13 II. 1. a), S. 103 f. Den durch Verfassungstexte nicht zu relativierenden Charakter der Menschenrechte betont jedoch nach wie vor Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar. Begründet von Hermann v. Mangoldt, fortgeführt v. Friedrich Klein. Bd. 1: Präambel, Art. 1-5, 3. Aufl. München 1985, Rn. 107 zu Art. 1; vgl. auch Stern, Menschenrechte (Fn. 23), Rn. 52. 32 Siehe dazu Fn. 24. Ein „Mehr" an Positivierung ist natürlich unschädlich. Nach Stern, Menschenrechte (Fn. 23), Rn. 53, verhalten Menschen- und Grundrechte sich wie teilweise deckungsgleiche Kreise, wobei der Grundrechtskreis in der Regel größer ist. 33 Die staatsbürgerlichen Rechte werden zunächst ausgeklammert, da dort die Fragestellung aufgrund des angenommenen Bedingungszusammenhanges zwischen ihrer Innehabung, die (insbes. über das Wahlrechts) Zugang zu den Herrschaftsbefugnissen der staatlichen Gemeinschaft vermittelt, und der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft eine andere ist als bei Freiheitsrechten; dazu unten S.84ff., Fn.228 u. pass.; speziell zum kommunalen Ausländerwahlrecht s. Fn. 12. 34 Diese finden sich u.a. im christlichen und im säkularen Naturrecht; daneben wird aber auch auf anthropologische, philosophische und theologische Vorstellungen zurückgegriffen; s. dazu Starck, Menschenwürde (Fn.20), 459 ff., und die Beiträge in: Johannes Schwartländer (Hg.), Menschenrechte. Tübingen 1978 (u.a. Wolfgang Schild, Systematische Überlegungen zur Fundierung und Konkretisierung der Menschenrechte, ebd., 37 ff.; Hans Ryffel, Zur Begründung der Menschenrechte, ebd., 55 ff.; Schwartländer, Staatsbürgerliche und sittlich-institutionelle Menschenrechte. Aspekte zur Begründung und Bestimmung der Menschenrechte, ebd., 77 ff.); ders. (Hg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, München/Mainz 1981; Klug (Fn. 17).

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haftigkeit stehen.35 Damit dürften diese natürlichen, dem Menschen schon kraft seines Menschseins zustehenden Rechte im Falle ihrer Positivierung aber auch keine Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft enthalten. Wenn sie durch ihre Niederlegung in Verfassungstexten nicht relativiert werden können,36 müßte sich die vorstaatliche Qualität der Menschenrechte gegenüber einer positivrechtlichen Verkürzung der Grundrechtsberechtigung durchsetzen, mit der Folge, daß sich dann auch Ausländer und Staatenlose auf diese Rechte berufen könnten. Ganz in diesem Sinne stellt beispielsweise Dürig fest, daß die Menschenrechtsqualität der einzelnen Grundrechte nicht nach ihrer positivrechtlichen Ausgestaltung bestimmt werden könne, da der „Verfassunggeber nach eigener Auffassung eben nicht die Autonomie [habe], sich bei einem Spezialrecht durch positivrechtliche Beschränkung auf Staatsbürger mit seinem deklaratorisch anerkannten obersten Konstitutionsprinzip der Verfassung [der Menschenwürde] in Widerspruch zu setzen".37 Tatsächlich findet sich die Behauptung der (Teil)Nichtigkeit der Deutschengrundrechte hinsichtlich ihrer personalen Beschränkung aber nur sehr selten: Soweit ersichtlich, vertrat lediglich Karl Brinkmann die Auffassung, daß der Ausschluß von Nichtdeutschen in Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG nicht haltbar sei und gelangte so zur Nichtigkeit der Deutschenvorbehalte. 38 Andere wie Dürig oder Bachof ließen die These von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- und Deutschenrechten nicht gelten und suchten nach entsprechenden Lösungen im Sinne einer Harmonisierung, ohne jedoch etwa die Deutschen vorbehalte grundsätzlich in Frage zu stellen. Und wieder andere halten, von einem positivistischen Ansatz ausgehend, schon die Fragestellung für obsolet. Auf all dies wird noch einzugehen sein. Doch interessiert hier zunächst die Position derjenigen, die von einem „doppelten Geltungsbegriff 4 ausgehen und 35

Stern, Staatsrecht III/l (Fn.2), 6 ff., 43; zur Würde des Menschen als Grundlage der Menschenrechte s. auch Josef Isensee, Wahrheit und Freiheit, in: ARSP 1988, Beiheft 33, 52 ff. (66). 36 So betont etwa Maunz (Fn. 26), daß „der Bestand der überstaatlichen Grundrechte von ihrer Formulierung in Gesetzen völlig unabhängig ist. Sie sind absolut und können durch Verfassungstexte nicht relativiert werden". 37 Dürig (Fn.20), 120, 141. Ein Anwendungsbeispiel liefert er in Fn. 55: Er halte trotz der formalen Beschränkung des Art. 11 auf „Deutsche" daran fest, daß dieser Menschenrechtsqualität habe und insoweit nicht nach Staatsangehörigkeit gefragt werden dürfe. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 38 Ders., Grundrechts-Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949, Bonn 1967 (Loseblatt), bes. Anm. 1. a) zu Art. 8 Abs. 1, auf den in den folg. Kommentierungen verwiesen wird; s. aber auch Anm. 1. a) zu Art. 9 Abs. 1; Anm. 1. a) zu Art. 11 Abs. 1 ; Anm. 1. a) zu Art. 12 Abs. 1 ; vgl. auch Anm. 5. a) ß) zu Art. 16 Abs. 2.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

gleichzeitig meinen, daß überpositive Menschenrechte und Deutschengrundrechte spannungsfrei nebeneinander bestehen. Denkbar wäre dies nur unter der Voraussetzung, daß bei den Deutschengrundrechten ein (überpositiver) menschenrechtlicher Gehalt eindeutig ausgeschlossen werden kann. Zwar deuten Sätze wie: „Die dem Ausländer im Grundgesetz zuerkannte Grundrechtsberechtigung wahrt seine Menschenwürde und bestätigt ihn in den klassischen Menschenrechten" 39 auf den ersten Blick auch darauf hin. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß sie lediglich der Rechtfertigung der Differenzierung dienen 40 und nicht den Schluß erlauben, daß keines der überpositiven Menschenrechte als Deutschengrundrecht positiviert wurde. Ganz im Gegenteil, an diesem Punkt wird überraschend eine argumentative Kehrtwende vollzogen: „Die Menschenrechtsidee verbietet jedoch nicht, daß der Verfassunggeber ,seine' Grundrechte in ,seiner4 Verfassung ,ausgestaltetsolange er nicht , letzte Grenzen der Gerechtigkeit 4 überschreitet. Für die Grundrechtsverbürgung bedeutet dies, daß sich der Verfassunggeber am Menschenrechtsgehalt orientieren sollte, ihm aber ,genau umgrenzte sachliche, zeitliche und personelle (...) sowie örtliche Beschränkungen4 grundsätzlich nicht verwehrt sind. 4441 Und dann die Flucht nach vorn: Mit der Beschränkung des personellen Geltungsbereichs bei den Deutschengrundrechten habe der Verfassunggeber „nicht die Menschenrechtsqualität oder doch wenigstens den Menschenrechtsgehalt eines Teils dieser Grundrechte negiert, sondern nur die subjektiv-rechtliche Berechtigung aus diesen Normen eingeschränkt 44.42 Auf dem Boden der zunächst vorgetragenen These, nach der die Grundrechte zumindest teilweise vorstaatliche Menschenrechte positivieren, und das Menschenrecht wieder aufleben soll, wenn die positivrechtliche Dimension ihm nicht entspricht, läßt sich diese Argumentation wohl kaum halten. Denn wenn 39

Stern, Staatsrecht III/l (Fn.2), 1030. Stern, aaO; der gesamte § 70 II. 7. ist der Frage der Rechtfertigung der Differenzierung gewidmet. 41 Stern, aa0,1026. Er lehnt sich bei diesen Formulierungen teilweise an die o.g. Entscheidung BVerfGE 3, 225 (233), an, in der das Gericht aus dem „vielfach als übergesetzlich bezeichnet(en)" Charakter bestimmter Normen, die der Verfassunggeber in seine Grundentscheidung einbezogen habe, gefolgert hatte, daß sie daher in „ihrer Einzelausgestaltung, namentlich in der Frage, inwieweit Ausnahmen von ihnen zuzulassen sind", nur insoweit „zur freien Disposition des Verfassungsgebers [stehen] [...] als jene letzten Grenzen der Gerechtigkeit selbst nicht überschritten werden". Zwar betont das BVerfG in diesem Zusammenhang ausdrücklich die trotz der Bindung „an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze" (vgl. BVerfGE 1, 14 [61]) noch in relativ weitem Umfang bestehende Gestaltungsfreiheit des Verfassunggebers ; doch erscheint es nicht logisch, dies auch auf den als überpositiv bezeichneten Anteil der fraglichen Normen zu beziehen. 42 Stern, aaO, § 70 II. 6. c) a), S. 1027. 40

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bei allen Kontroversen um Begründung und konkreten Inhalt der vorstaatlichen Menschenrechte aus ihrer Überpositivität überhaupt irgend etwas resultieren soll, dann ist es der Umstand, daß sie sich als unmittelbar aus der Menschennatur folgende „natürliche" Rechte in bezug auf die subjektiv-rechtliche Berechtigung staatlicher Dispositionsfreiheit entziehen: Sie berechtigen stets und überall den Menschen. 43 Das lenkt den Blick auf die Frage, wo die Ursache dafür zu suchen ist, daß die Überpositivität der Menschenrechte zunächst in hehren Worten beschworen, dann jedoch im Anwendungsfall interpretati ν so weit zurückgestutzt wird, daß sie praktisch folgenlos bleiben muß. Offenbar will man sich auf die legitimatorische Kraft dieser Idee berufen können, ohne die überpositiven Menschenrechte tatsächlich als Prüfungsmaßstab anwenden zu müssen, und dafür gibt es mehrere Gründe: Zum ersten geriete man dabei unweigerlich mitten in die alte, wenn auch heute facettenreicher und differenzierter geführte Debatte zwischen „Naturrechtlern" und „(Rechts-)Positivisten"44 hinein. Ein kruder, sich allein aus seiner Kampfhaltung gegen das Naturrecht begreifender Gesetzespositivismus wird heute zwar von niemandem mehr vertreten, und auch der Gegensatz zwischen rechtspositivistischen und naturrechtlichen Positionen ist im Laufe der vergangenen 50 Jahre weiter entschärft worden: Durch die Rezeption naturrechtlicher Grundbegriffe und -Vorstellungen, wie beispielsweise des Menschenwürdesatzes, in Verfassungsurkunden dringt die einst „von außen" an das positive Recht herangetragene „legitimierende Kraft der Naturrechtselemente in die Einzelaussagen des positivierten Normtextes ein, verbindet sich mit der legitimierenden Kraft, die dieser aus seiner bloßen ,Positivität' zieht, und verstärkt sie" (Denninger). 45 Diese nahezu symbiotisch anmutende Verbindung, die den alten Streit 43

Vgl. die Definition Cranstons in Fn. 7. Einen guten Überblick über die Naturrechtsdiskussion der Jahre 1945-1960 bietet der von Werner Maihofer hg. Sammelband „Naturrecht oder Rechtspositivismus?" Darmstadt 1962, 2. Aufl. Bad Homburg 1966. Nach den für die erste Phase des Neuanfangs und der Neubesinnung charakteristischen programmatischen Aufsätzen, folgt eine zweite Phase der Diskussion, in der um eine „Neubegründung des Rechts durch Naturrecht und Rechtspositivismus hindurch" (Maihofer, X) gerungen wird. Zum heutigen „aufgeklärten" Rechtspositivismus, der um die Grenzen normativer Machbarkeit weiß und in dem aufgrund einer vorgängigen Analyse der Voraussetzungen und Grenzen der Steuerungsfähigkeit von Recht gesteckten Rahmen das „wahre Potential des positiven Rechts" zu entfalten sucht s. Otto Depenheuer (Hg.) Vorwort zu Gerd Roellecke, Aufgeklärter Positivismus. Ausgewählte Schriften zu den Voraussetzungen des Verfassungsstaates, Heidelberg 1995. 45 Denninger (Fn. 8), insbes. 228 f., setzt sich hier mit Kelsen auseinander und stellt u.a. die These auf, daß sich mit der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzenden 44

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zu überwinden schien, könnte aber empfindlich gestört werden, wenn nach „überschießenden", nicht ausdrücklich rezipierten und doch im Sinne eines Prüfungsmaßstabes „klagbaren" Anteilen des „überpositiven Rechts" gefragt würde. Zum zweiten würde eine Überprüfung der Grundrechte am Maßstab überpositiver Menschenrechte einen dem Inhalt und Umfang nach abschließend definierten Katalog der Menschenrechte voraussetzen. Es gibt jedoch keinen allgemein verbindlichen Kanon der Menschenrechte und kann es aufgrund der vorausgesetzten Vorstaatlichkeit und Überpositivität dieser Rechte auch gar nicht geben.46 Dementsprechend sind auch die vereinzelt gebliebenen Bemühungen, im Grundrechtskatalog Elemente vorstaatlichen und staatlich gesetzten Rechts auseinander zu dividieren, ebenso gescheitert47 wie der frühe Versuch des als Begründer des modernen Katalogs der Menschenrechte geltenden Christian Wolff, in seinem berühmten Werk „Institutiones Iuris Naturae et Gentium" 48 einen ausfuhrlichen - und gerade deshalb aus heutiger Sicht eher komische

zunehmenden Rezeption naturrechtlicher Grundbegriffe in Verfassungsurkunden die Funktion der ursprünglich naturrechtlich fundierten Rechtsinhalte von einer (nach)revolutionären Legitimation zu einer evolutionären Korrektur hin verändert habe. 46 So auch Josef Isensee, Menschenrechte - Staatsordnung - Sittliche Autonomie, in: J. Schwartländer (Hg.), Freiheitsethos (Fn.34), 70 ff. (72 f.), mit der Begründung, daß die menschenrechtliche Idee sich in der geschichtlichen Bewährung entwickelt, sich durch Erfahrung anreichert und auch neue Bedürfnisse bündelt; zustimmend Stern, Staatsrecht III/l (Fn.2), 38; ebenso Lecheler (Fn. 18), 83 f. Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978, 137 f., stellt zudem zutreffend fest, daß die Existenz von verbindlichem Naturrecht ein metaphysisches Problem sei, für die Rechtsanwendung jedoch entscheidend sei, daß Existenz und Inhalt des Naturrechts sich nicht objektiv erkennen lassen, Naturrechtslehren also nicht falsifizierbar sind. 47 Dazu Ingrid Madert-Fries, Die grundrechtsdogmatische Stellung des Ausländers im Freiheitsbereich der Deutschengrundrechte, Diss. Saarbrücken 1988, 90 m.w.N. 48 Kurzgefaßt dt.u.d.T.: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts; Halle 1754, Nachdr. hg. u. mit einem Vorwort von Marcel Thomann, Hildesheim/New York 1980. Dazu statt vieler Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Frankfurt 1993, 209 f. m.w.N. (insbes. Fn. 211). Georg Jellinek weist zu Recht daraufhin, daß diese bunte und teilweise recht kuriose Liste von Rechten praktisch wirkungslos bleibt und Wolff nicht gehindert hat, der typische Vertreter des Polizeistaates zu werden, da die Vorstellung eines auch den Gesetzgeber bindenden höherrangigen Rechts bei ihm noch völlig fehlt, so daß allein das positive Gesetz entscheidet, was von diesen Rechten im Hinblick auf den Staat übrig bleibt (Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 4. Aufl. 1927, in: Roman Schnur [Hg.], Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, 1 ff., 58 f.). Anders jedoch nur wenige Jahre später die Declaration of Rights von Maryland (1776), die dem Gesetzgeber ausdrücklich die Abschaffung oder Beseitigung der Rechteerklärung verbietet, vgl. R. L. Perry (ed.), Sources of our Liberties, o.O. 1959, 341 ff. (342).

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Züge tragenden - Rechtekatalog zu entwerfen, der dann von den „angebohrnen Rechten" (vgl. §§74, 95) der Gleichheit (§70), der Freiheit (§77) und des Rechts auf Sicherheit und Verteidigung (§§89 f.) über hieraus entspringende Rechte auf Nahrung und Medikamente (§ 114), Kleidung und Wohnung (§§ 115 f.) bis hin zu dem Recht auf künstliche Verschönerung des Körpers mit „Zierrathen", auf Glückseligkeit und auf Bequemlichkeit des Lebens (§§ 117 ff.) reichte. 49 Zum dritten sind aber nicht nur das „ob" der Anwendung und der Inhalt des Prüfungsmaßstabes streitig, sondern insbesondere auch die Konsequenzen seiner Anwendung gefürchtet, die unter bestimmten Prämissen bis zu der gewagten Annahme sogenannten „verfassungswidrigen Verfassungsrechts" 50 mit der Folge der Teilnichtigkeit der Deutschengrundrechte hinsichtlich ihrer personalen Beschränkung führen könnten.51 Will man all dies vermeiden und gleichzeitig an der These von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- und Deutschengrundrechten festhalten, so gibt es an sich nur zwei Möglichkeiten: Entweder man verabschiedet sich von der Unabdingbarkeit überpositiver Menschenrechte, gibt jedenfalls die in den Anfangsjahren des Grundgesetzes vertretene Vorstellung auf, daß es jenseits dessen, was im Verfassungstext an ursprünglich naturrechtlichem Gedankengut positiviert worden ist, noch „überpositives Recht" gebe, auf das man sich berufen könnte. Oder aber man hält an der Idee eines überpositiven, durch verfassungsgesetzliche Positivierung nicht zu beeinflussenden Rechts fest, 49

Vergleichbares findet sich u.a. bei Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Naturrecht der einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker, 6. Aufl. Gießen 1795, §§37-43. Höpfhers Vorstellungen von den „angebohrnen Rechten der Menschheit" spiegeln zwar zunächst mit der Trias des „Recht(es) des Menschen über sich selbst", der natürlichen „Freyheit" und „Gleichheit der Menschen" (§§38-40, S.48ff.) die Kerngedanken der Aufklärung wider; schon die beiden folgenden Rechte „Wahrheit und Aufrichtigkeit zu verlangen" sowie das „Recht auf einen guten Namen" zeugen indes von einer gewissen Beliebigkeit und lassen Zweifel am Wert solcher Rechte aufkommen, deren absoluter Charakter sich allenfalls im „ursprünglichen Zustande" (§42, S. 53) behaupten läßt. 50 Allgemein zu dieser Möglichkeit Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, Tübingen 1951. In der Lit. ist dies ganz überwiegend auf Ablehnung gestoßen; sehr zurückhaltend auch BVerfGE 3, 225 ff. (232 f.): Ein ursprünglicher Verfassunggeber sei der Gefahr, die äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten, zwar nicht denknotwendig entrückt, die Wahrscheinlichkeit sei jedoch so gering, daß „die theoretische Möglichkeit originärer verfassungswidriger Verfassungsnormen 4 einer praktischen Unmöglichkeit nahezu gleichkomme"; ablehnend speziell bzgl. der Deutschenvorbehalte auch Sachs, Ausländergrundrechte (Fn. 2), 386. 51 So bei Brinkmann, Komm. z. GG (Fn.38), bes. Anm. l.a) zu Art.8 Abs. 1; s. aber auch Anm. 1. a) zu Art. 9 Abs. 1; Anm. 1. a) zu Art. 11 Abs. 1; Anm. 1. a) zu Art. 12 Abs. 1; vgl. auch Anm. 5. a) ß) zu Art. 16 Abs. 2. Dagegen u.a. Sachs, Ausländergrundrechte (Fn.2), 386 mit Fn.23.

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müßte dann aber darlegen können, daß ein menschenrechtlicher (von der Positivierung unberührter) Gehalt bei den Deutschengrundrechten eindeutig auszuschließen ist. Doch obgleich der positive Nachweis eines bestimmten Kanons überpositiver Rechte, wie dargelegt, unmöglich ist, erweist sich dieses negative Ausschlußverfahren als weitaus schwieriger als man auf den ersten Blick glauben könnte. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, spricht trotz aller Kontroversen um den konkreten Inhalt der als überpositiv bezeichneten Menschenrechte sehr viel mehr dafür, daß zumindest die in Art. 8, 9, 11 und 12 GG normierten Deutschengrundrechte (Deutschenrechte im engeren Sinne) sich inhaltlich - wenigstens im Kern - auf sogenannte „klassische" Menschenrechte beziehen und damit ebenfalls Menschenrechtsgehalt besitzen als für die gegenteilige Annahme.

c) Zum menschenrechtlichen Gehalt der Deutschengrundrechte (1) Verfassungs- und ideengeschichtlicher Rückblick Forscht man nach dem menschenrechtlichen Gehalt der Deutschengrundrechte, so ist beispielsweise im Hinblick auf die heute in Art. 8 GG als Deutschengrundrecht ausgestaltete Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen, daß das „right to assemble together, to consult for the common good" erstmals in Art. XVI. der „Declaration of the Rights of the Inhabitants of the Commonwealth, or State of Pennsylvania,52 die der Verfassung vom 28. September 1776 vorangestellt wurde, sodann in weiteren einzelstaatlichen amerikanischen bills of rights 53 und schließlich auch im ersten Amendment zur Unionsverfassung der Vereinigten Staaten54 als eines der als „natural, essential, and unalienable" bezeichneten Rechte des Menschen55 genannt wird. 52

Textabdruck in: Bernhard Schwartz, The Bill of Rights, A Documentary History, New York 1971, 263 ff. (266). 53 Dort teilweise mit dem Zusatz „in an orderly and peaceable manner", vgl. Art. XVIII. der North Carolina Declaration of Rights von 1776, Textabdruck bei Schwartz (Fn.52), 286 ff, Art. XVIII. der Vermont Declaration of Rights von 1777, Textabdruck ebd., 319 ff, Art. XIX. der Massachusetts Declaration of Rights von 1780, Textabdruck ebd., 339 ff, und Art. XXXII. der der Verfassung von New Hampshire von 1784 als Part I. vorangestellten Bill of Rights, Textabdruck bei Perry (Fn.48), 382 ff. 54 Constitution of the United States, proposed by Convention Sept. 17, 1787, effective March 4, 1789; First Ten Amendements passed by Congress Sept. 25, 1789, ratified by three-fourths of the States Dec. 15, 1791; Text in: The Constitution of the United States, ed. by Edward Conrad Smith and Harold J. Spaeth, 12 th ed., 41 ff. 55 So die Formulierung in Art. I der Bill of Rights von Massachusetts (1780), Textabdruck bei Schwartz (Fn.52), 339ff. In Art.I der Rechteerklärungen Pennsylvanias und

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Auch die in Art. 9 und 11 GG als Deutschengrundrechte normierten Rechte der Vereinigungsfreiheit und der Freizügigkeit werden, wie Georg Jellinek in seiner berühmten Kontroverse mit Emile Boutmy betont, in jenen bills of rights bereits anerkannt. 56 Seiner - vielfach kritisierten - These von der ModellFunktion der Religions- und Gewissensfreiheit entsprechend, nach der mit diesem „Urrecht" der „Punkt gefunden (war), von dem aus sich die unveräußerlichen Rechte des Individuums spezialisieren", meint Jellinek, daß auch die Vereins· und Versammlungsfreiheit auf die Religions- und Gewissensfreiheit zurückweise, genauer: auf die puritanisch-independentistische Lehre von der Kirche als einem Verein der Gläubigen und die Forderungen nach der Freiheit kirchlicher Versammlungen, die dann in der Folgezeit säkularisiert worden seien. Doch habe der gegen die herrschende Kirche kämpfende Angelsachse des 17. Jahrhunderts „Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit" gewollt, um schrankenlos seinen Glauben bekennen zu können. In den Erklärungen der Rechte durch die nunmehr souveränen Staaten Nordamerikas seien dann „entsprechend den Verletzungen, die andere Richtungen der individuellen Freiheit in der letzten Zeit durch England erfahren hatten", neben die bisher schon behaupteten Freiheitsrechte - Freiheit der Person, des Eigentums, des Gewissens - neue hinzugetreten, und zwar Versammlungsrecht, Preßfreiheit, Freizügigkeit. 57 Gerade das Fehlen des so wichtigen Vereins- und Versammlungsrechtes, der Freizügigkeit sowie des Petitionsrechts in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 führt Jellinek als Beleg für seine bekannte These an, daß es kein einziges Recht des Individuums gebe, das die Franzosen vor den Amerikanern formuliert hätten, wohl aber umgekehrt. Die Franzosen hätten sich demnach bei der Abfassung ihrer berühmten und einflußreichen Menschenrechtserklärung von 1789 an den einzelstaatlichen amerikanischen bills of rights orientiert, ohne diesen „einen einzigen originellen Rechtsgedanken" hinzuzufügen. Somit gebühre der Ruhm der erstmaligen verfassungsurkundlichen Anerkennung der Menschenrechte, die diesen - anders als eine allgemeine Philosophie der Freiheit - erst juristische Wirksamkeit verleihe, den amerikanischen bills of rights; eine Feststellung, die er sodann in der pointierten Formulierung gipfeln läßt: „die Prinzipien von 1789 sind in Wahrheit die Prinzipien von

Vermonts lautet die Formulierung: „That all men are born equally free and independent, and have certain natural, inherent and inalienable rights". 56 Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte (Fn. 48), 30, 65. 57 Jellinek, aaO, zur Modell-Funktion der Gewissensfreiheit: 39 ff, insbes. 46 f. („Urrecht"), 61 („Punkt gefunden"), s. auch 49, 52 ff., 57; speziell zu den religiösen Wurzeln der Vereinsfreiheit s. 58; zum Hinzutreten dieser Grundrechte aufgrund neuer Verletzungserfahrungen, 64 f.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

1776". 58 Selbstredend widerspricht Boutmy dem energisch, hebt insbesondere hervor, daß sich Versammlungs-, Vereins- und auch Pressefreiheit „in einer Republik gleichsam aus dem Wesen des Staates" ergeben, es also - und darin ist ihm sicher zuzustimmen - keineswegs dem Beispiel der Religionsfreiheit zu danken sei, daß sie nun in einer Erklärung vereinigt und der Verfassung vorangestellt wurden. 59 Merkwürdigerweise versäumen es beide Wissenschaftler indes, die konkrete Bestimmung zu zitieren, in der die Vereinsfreiheit niedergelegt ist. Tatsächlich wird sie weder in den einzelstaatlichen amerikanischen bills of rights noch in den (auch als „Bill of Rights" bezeichneten) ersten zehn Amendments zur Unionsverfassung ausdrücklich genannt. Jellinek spricht von dem „Vereins- und Versammlungsrecht" allerdings stets im Singular. 60 Das deutet darauf hin, daß er wohl davon ausgeht, daß die ausdrückliche Garantie des Versammlungsrechtes die Vereinsfreiheit mit umfasse. Diese Rechtsauffassung wird durch die spätere Rechtsprechung des Supreme Court gestützt,61 der in zahlreichen Fällen ausgeführt hat, daß „Freedom of Association" im ersten Amendment zwar nicht ausdrücklich erwähnt werde, jedoch implizit in den dortigen Bestimmungen zur Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie dem Petitionsrecht enthalten sei und daher den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz genieße. Und diese Rechte wurden tatsächlich bereits in Art. X I I (Meinungs- und Pressefreiheit) und Art. X V I (Versammlungsfreiheit und Petitionsrecht) der pennsylvanischen sowie in anderen einzelstaatlichen bills of rights als natürliche und unveräußerliche Rechte niedergelegt. Jellineks Schluß, daß somit dort auch die Vereinsfreiheit geschützt gewesen sei, erscheint daher vertretbar, ein Hinweis auf den Ableitungszusammenhang wäre allerdings hilfreich gewesen. Ohne auf weitere Einzelheiten des aus der Distanz doch ein wenig seltsam anmutenden Streits zwischen G. Jellinek und Boutmy einzugehen, sei noch ergänzt, daß sich, wenn auch nicht in der französischen Déclaration von 1789, so doch jedenfalls in der französischen Verfassung von 1791 unter „Titre Premier" inmitten der als „droits naturels et civils" garantierten Rechte die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und das Petitionsrecht finden. Auch in der Acte Constitutionnel du 24 Juin 1793 et Déclaration des Droits de l'Homme et

58 Jellinek, aaO, 67, zum Vorgehenden bes. 30, 122 f., aber auch 12 ff., 16, 29, 116, 122, 127 f. 59 Emile Boutmy, dt.u.d.T. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek, übers, v. Ruth Groh, in: Schnur (Fn.48), 78 ff., 109 ff. (111). Allgemein zu dieser Kontroverse s. H. Hofmann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 13 f., sowie Stern, Staatsrecht III/l (Fn. 2), 83 ff. mit umfangreichen w.N. 60 Vgl. Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte (Fn.48), 30, auch Fn. 70. 61 Dazu m.w.N. Steven Emanuel, Constitutional Law, New York 1989, 534 ff.

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du Citoyen heißt es in Art. 7: „le droit de s'assembler paisiblement (...) ne peuvent être interdits". 62 Dabei kommt schon in der Bezeichnung als „droits naturels" zum Ausdruck, daß es den Franzosen hier um vorstaatliche Menschenrechte geht. Gleiches gilt für die Rechteerklärungen der Amerikaner; auch nach ihrem Selbstverständnis werden die dort verbrieften Rechte durch die bills of rights nicht erst verliehen, sondern lediglich anerkannt. Dies wird insbesondere in Sect. 1 der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 deutlich, die für die pennsylvanische und alle folgenden bills als Vorbild galt: „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity", 63 heißt es dort. Damit ist festzuhalten, daß sowohl die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit als auch die Freizügigkeit in den berühmten Rechteerklärungen der Neuzeit (direkt oder implizit) als Menschenrechte anerkannt wurden. Hinsichtlich der Freizügigkeit ist allerdings zu berücksichtigen, daß in dem noch kaum besiedelten und auf stete Einwanderung angewiesenen Kolonistenland das Recht der Einwanderung und freien Wohnsitznahme natürlich nicht gefährdet war. Es existierte ganz selbstverständlich und bedurfte keines besonderen Schutzes, also auch keiner schriftlichen Fixierung in den Rechteerklärungen. Der potentiellen Freiheitsgefährdung entsprechend wird daher - zuerst in Art. XV der pennsylvanischen Bill of Rights von 1776 - nur das Recht der Auswanderung ausdrücklich in schriftlicher Form anerkannt. 64 Dieses Recht hat sich dann im 19. Jahrhundert gegenüber der Freizügigkeit verselbständigt und wird deshalb nach heute herrschender Meinung nicht vom Schutzbereich des Art. 11 GG umfaßt. 65 Insofern ist, anders als es nach Jellineks Darstellung den An62 Abdruck der Texte bei Berlia (Fn. 17), 4 und 62 ff. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Vereinigungsfreiheit findet sich jedoch erst in der Constitution de la République Française du 5 Fructidor An III vom 22.8.1795, und zwar in Form einer „Schrankenbestimmung". Dort wird in Art. 2 in verkürzter Form der in der Déclaration von 1789 definierte Freiheitsbegriff wiederholt: „La liberté consiste à pouvoir faire ce qui ne nuit pas aux droits d'autrui", und in Art. 360 heißt es dann: „II ne peut être formé de corporation ni d'association contraires à l'ordre public", Textabdruck ebd., 73 ff. (73, 107). 63 Abdruck des Textes in: Smith/Spaeth (Fn. 54), 23. 64 Art. XV lautet: „That all men have a natural right to emigrate from one state to another that will receive them, or to form a new state in vacant countries, or in such countries as they can purchase, whenever they think that thereby they may promote their own happiness." Eine fast wortgleiche Formulierung findet sich in Art. XVII der Rechteerklärung Vermonts von 1777, Textabdruck bei Schwartz (Fn. 52), 319 ff. 65 Hierzu ausführlich Detlef Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts, Berlin 1970, 106 ff., insbes. 109 ff. mit Fn.21ff.; a.A. Ulrich Scheuner, Die Auswanderungsfreiheit in der Verfassungsgeschichte und im Verfassungsrecht Deutschlands, in: FS Richard Thoma zum 75. Geburtstag, Tübingen 1950, 199ff. (222f.), der wegen des

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schein hat, die allen Menschen in der französischen Verfassung von 1791 garantierte Freizügigkeit umfassender als jene in den amerikanischen bills of rights. 66 Dort heißt es: „La Constitution garantit (...) , comme droits naturels et civils: - La liberté à tout homme d'aller, de rester, de partir, sans pouvoir être arrêté, ni détenu, que selon les formes déterminées par la Constitution". Andererseits findet sich ein die freie Einreise und Aufenthaltnahme umgreifendes, schriftlich niedergelegtes Recht der Freizügigkeit sogar schon sehr viel früher im englischen Recht, und zwar in Art. 41 und 42 der dem König von England, Johann I. ohne Land, von den Baronen, dem Klerus sowie englischen Bürgern abgerungenen Magna Charta Libertatum vom 15.6.1215.67 Art. 41 regelt zunächst die Freizügigkeit der Kaufleute. Dort heißt es: Alle Kaufleute dürfen heil und sicher aus England ausreisen und nach England kommen und in England sich aufhalten und reisen, sowohl zu Lande als auch zu Wasser um zu kaufen und zu verkaufen, ohne alle bösen Zölle, gemäß den alten und rechten Bräuchen, außer in Kriegszeit und wenn sie aus dem gegen Uns im Krieg engen historisch-dogmatischen Zusammenhangs von Auswanderungs- und Niederlassungsfreiheit die Auswanderungsfreiheit aus Art. 11 GG entnehmen will und dabei auf die entsprechende Auslegung einer vergleichbaren Schweizer Verfassungsbestimmung verweist. Dies kann jedoch angesichts des Umstandes, daß die Auswanderungsfreiheit in der WRV nach der Freizügigkeit (Art. I l l ) in Art. 112 I gesondert geregelt war, nicht überzeugen. Es spricht demnach viel dafür, die Auswanderungsfreiheit mit der h.M. dem Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) zuzuordnen. 66 Die Bestimmung findet sich unter „Titre Premier", „Dispositions Fondamentales Garanties Par La Constitution"; Textabdruck bei Berlia (Fn. 17), 1 ff. (4). 67 Textabdruck in dt. Übersetzung (in Zusammenarbeit mit Klaus Wieser) bei Demetrios L. Kyriazis-Gouvelis, Magna Carta: Palladium der Freiheiten oder feudales Stabilimentum, Berlin 1984, 41 ff. Die große Bedeutung der Magna Charta äußert sich u.a. darin, daß die gesamte Verfassungsgeschichte Englands auch als „Kommentar zur Magna Charta" bezeichnet wurde. Im Mittelalter erwartete man von jedem neuen König ihre Ratifizierung, so daß sie bis zum Jahre 1416 bereits mehr als fünfzigmal bestätigt worden war. Im Statute Book wird nur die Charta Heinrichs III. von 1225 aufgeführt, die auch die endgültige Form der Magna Charta darstellt. 13 der 63 Artikel der Magna Charta von 1215 wurden mit geringfügigen Änderungen in die Charta von 1225 übernommen und sind daher heute noch formell gültig. Obgleich eine juristische Betrachtungsweise also an sich auf die Charta von 1225 abstellen müßte, rücken Verfassungsrechtler bei ihren Forschungen die Charta von 1215 in den Vordergrund. Das hängt damit zusammen, daß die Charta in ihrer tatsächlichen Geltung im Laufe der Zeit weit über ihren juristischen - und das heißt: allenfalls einfachgesetzlichen - Geltungsrang hinausgewachsen ist: Ihr wurde ein „Respekt und sogar Anhänglichkeit zuteil, wie es einem Grundgesetz gebührt" (so Kyriazis-Gouvelis, aaO, 33; ausfuhrlich und m.w.N. ders., bes. 21, 28 mit Fn. 31 u. 32 ff. mit Fn. 47). Eine Analyse der Gründe für diese Entwicklung findet sich auch bei William Sharp McKechnie, Magna Carta, A Commentary on the Great Charter of King John, Glasgow 1914, second ed., New York 1963, 120 ff.

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befindlichen Lande sind; und wenn solche (Kaufleute) sich bei Kriegsbeginn in Unserem Lande befinden, sollen sie festgehalten werden ohne Leibes- und Vermögensschaden, bis Uns oder Unserem Oberjustitiar bekannt wird, in welcher Weise die Kaufleute Unseres Landes behandelt werden, die dann in dem mit Uns im Kriege befindlichen Land angetroffen werden; und wenn die Unseren dort unversehrt sind, sollen die anderen in Unserem Land (auch) unversehrt sein. Art. 42 lautet dann: Es soll fortan jedem freistehen, Unser Königreich zu verlassen, und zurückzukehren, heil und sicher, zu Lande und zu Wasser, vorbehaltlich der Treupflicht gegen Uns, ausgenommen während kurzer Frist in Kriegszeiten, aus Gründen des allgemeinen Wohls des Königreiches. Ausgenommen sind die Gefängnisinsassen und die Gesetzlosen nach Landesrecht, und Leute eines gegen uns im Krieg befindlichen Landes, sowie Kaufleute, mit denen verfahren werden soll wie oben gesagt.68 Es ist kein Zufall, daß die Freizügigkeit gemäß Art. 41 im Bezugsfeld wirtschaftlicher Regelungen erscheint, die die Ausweitung des englischen Welthandels befördern sollten. 69 Denn es handelt sich bei der Magna Charta - ebensowenig wie bei den späteren englischen Rechts- und Freiheitsverbürgungen, namentlich der Habeas-Corpus-Akte (1679) und der Bill of Rights (1689) nicht um eine „rudimentäre (...) oder embryonale (...) Menschenrechtserklärung" (H. Hofmann). 70 Die Magna Charta formuliert keine „natürlichen und unveräußerlichen Rechte", sondern beschränkt sich angesichts der Beschwerden der verschiedenen Stände und der als Mißbrauch angeprangerten Willkürakte des Königs auf praktische Maßnahmen zur Einschränkung der königlichen Gewalt innerhalb der Feudalbeziehungen, zur Befriedung der Gesellschaft durch rechtliche Schutzbestimmungen sowie die Sicherung bestimmter wirt-

68 Textabdruck bei Kyriazis-Gouvelis (Fn.67), 50 f.; zum Begriff des „Gesetzlosen" ders., aaO, 28 Fn.31. Kleinheyer (Fn. 1), 1051, benennt ein etwas jüngeres Dokument, in dem das Freizügigkeitsrecht Niederschlag gefunden habe, und zwar Art. 5 und 6 der Joyeuse Entrée von Brabant von 1356. 69 Diese Bestimmung muß im Zusammenhang mit den anderen Bestimmungen der Charta über den Handel und den Erhalt der alten Freiheiten und freien Bräuche der Städte gesehen werden. Der Stadt London, allen anderen Städten, festen Orten, Dörfern und Häfen wurden nicht nur ihre alten Privilegien zuerkannt (Art. 13), sondern die Bedeutung Londons als Handelszentrum wurde darüber hinaus auch durch die Einfuhrung der Londoner Maße und Gewichte im ganzen Land (Art. 35) gestärkt. Insgesamt ergab sich aus diesem Bündel von Regelungen ein wichtiger Anstoß zur Entwicklung des Binnen- und Außenhandels. Zur Wirkungsgeschichte der Magna Charta s. die gute Darstellung bei Kyriazis-Gouvelis (Fn. 67). 70 H. Hofmann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 12 f.; s. dazu auch Kleinheyer (Fn. 1), 1048 ff. (1051). 3 Siehr

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schaftlicher Interessen.71 Dabei bleibt die große Mehrheit der Engländer von ihren Vergünstigungen ausgeschlossen, da der „freie Mensch des Königreichs" eben nicht das englische Volk ausmachte: „Homo" konnte nach damaligem Verständnis auch ein Synonym für „Baron" sein, als „liber homo" galt dann nur der Landbesitzer (freeholder). 72 Die Magna Charta ist jedoch im Laufe der späteren verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in ihrer Bedeutung über diese an ihren spezifischen historischen Kontext gebundene Interpretation weit hinaus gewachsen und hat - insbesondere nach ihrer Wiederentdeckung während der Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts - weltweiten Einfluß erlangt; Kyriazis-Gouvelis spricht insoweit von einer „fast mythischen Strahlkraft". 73 Auch wenn die Magna Charta also selbst keine Menschenrechtserklärung darstellt und 1215 davon sogar noch sehr viel weiter entfernt war als nach den interpretativen Häutungen, die sie in

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Überhaupt fällt auf, daß die Bestimmungen der Charta ganz überwiegend wirtschaftlicher Natur sind, d.h. vornehmlich auf die Sicherung der wirtschaftlichen Interessen der Barone abzielen. Die darüber hinausgehenden Rechtsschutzgarantien für Freie sowie die Bestimmungen zugunsten der Kaufleute und Bauern lassen dagegen das Bestreben erkennen, der Widerstandsbewegung gegen die Krone eine möglichst breite Grundlage zu verschaffen und dabei auch die Untervasallen, Stadtbürger und freien Bauern einzubeziehen; dazu Kyriazis-Gouvelis (Fn.67), insbes. 20 ff., 33 ff, 37 ff. Für eine Systematisierung und Klassifikation der Errungenschaften und besonderen Charakteristika der Magna Charta s. auch McKechnie (Fn. 67), 109 ff. 72 Siehe dazu McKechnie (Fn.67), 113ff, insbes. 115; zustimmend KyriazisGouvelis (Fn.67), 22 mit Fn.9, 38. Dieser Sprachgebrauch ist allerdings kontextabhängig: Nach Art. 20 der Magna Charta darf keinfreier Mensch willkürlich mit einer Geldbuße bestraft werden; sie muß stets der Schwere des Delikts angemessen sein und darf erst nach der beeideten Aussage rechtschaffener Nachbarn auferlegt werden. Hier übersetzt Kyriazis-Gouvelis (in Zusammenarbeit mit Klaus Wieser) „freier Mensch" mit „Kaufmann" oder „Bauer", aaO, 27, 46. Nicht einbezogen wird jedoch der in Art. 20 ebenfalls erwähnte Hörige, der, wie McKechnie (Fn.67), 118, betont, lediglich unter dem Aspekt geschützt wird, daß er zum Vermögen seines Grundherrn zählt. In diesem Sinne heißt es in Art. 4 zur Verwaltung des Landes eines minderjährigen Erben durch den Vormund auch: „und das ohne Vernichtung und Vergeudung von Menschen oder Sachen" (Textabdr. bei Kyriazis-Gouvelis [Fn. 67], 42 f., Hervorhebung durch die Verf.). 73 AaO, 33; und McKechnie, aaO, 120 f., schreibt: „The importance of the Charter for the men of 1215 did not lie in what forms its main value for the constitutional theorists of today. To the barons at Runnymede its merit was that it was something definite and utilitarian - a legal document with specific remedies for current evils. To English lawyers and historians of a later age it became something intangible and ideal, a symbol for the essential principles of the English Constitution, a paladium of English liberties (...). In many a time of national crisis, Magna Carta has been appealed to as a fundamental law too sacred to be altered - as a talisman containing some magic spell, capable of averting national calamity".

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den folgenden Jahrhunderten durchlaufen hat - bei immer neuen Verletzungen elementarer Rechte unter veränderten historischen Umständen ein beharrliches Pochen auf dasselbe Dokument, dem bei allmählicher Änderung des „sprachlichen Codes" fast unmerklich ein neuer Sinngehalt unterlegt wird 7 4 - so wird sie doch als eine der mittelbaren Grundlagen und damit Vorläufer der Menschenrechtserklärungen angesehen.75 Es erscheint insofern bemerkenswert und könnte im Hinblick auf die immer wieder vorgetragene These von der kontinuierlichen Ausweitung und Verallgemeinerung der Rechte des Menschen76 zumindest nachdenklich stimmen, daß das in Art. 11 GG auf Deutsche beschränkte Recht der Freizügigkeit 77 in diesem Dokument aus dem Jahre 1215 nicht auf Landeskinder beschränkt war. Immerhin bildet die Magna Charta nicht nur einen Grundstein, sondern in ihrer gewandelten Bedeutung auch einen unmittelbaren Bezugspunkt für spätere Rechteerklärungen bis hin zur Frankfurter Paulskirchenversammlung, in der man „eine Erklärung der Rechte des Volkes, eine Art Magna Charta für das deutsche Volk" 7 8 schaffen wollte, und wirkt selbst heute - nach mehr als 785 Jahren 74

Vgl. dazu McKechnie, aaO, 112, der feststellt, daß schon der reine Zeitablauf, indem er einen veränderten Kontext erzeugt, dazu führe, daß einem zu späterer Zeit wortgleich wieder in Kraft gesetzten Gesetzestext ein veränderter Sinngehalt zukomme. Daher sei es kein ungewöhnliches Mittel, um Reformen zu entschärfen und politisch akzeptabel erscheinen zu lassen, daß sie „disguised as returns to the past" präsentiert werden. 75 Kyriazis-Gouvelis (Fn. 67), 9, 35, 38. 76 Martin Kriele, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: Öffentliches Recht und Politik, FS f. Hans Ulrich Scupin zum 70. Geburtstag, hg. von Norbert Achterberg, Berlin 1973, 187 ff. (205): „Die Geschichte der Grundrechte ist ein ständiges Zusammenfließen von zwei Quellen: zum einen den verfassungsrechtlichen Zurückweisungen von Souveränitätsansprüchen, zum anderen der naturrechtlichen Ausweitung der damit begründeten Rechte von zunächst ständischen Rechten durch das Gleichheitsprinzip: von ständischen Vorrechten zu Rechten aller freien Bürger, dann zu Rechten aller Staatsangehörigen, schließlich zu allgemeinen Menschenrechten". 77 Bedauert wird diese Beschränkung „angesichts der Ausgangsentscheidung des Grundgesetzes für unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte" insbes. von Dürig, Freizügigkeit, in: Neumann u.a. (Fn. 27), 507 ff., 521 (zur Geschichte des Art. 11 GG, aaO, 509 ff.). Vgl. auch Kay Hailbronner, Freizügigkeit, in: HdbStR (Fn. 3), Bd. VI: Freiheitsrechte, Heidelberg 1989, 137 ff., §131, Rn. 1 ff., der im Zusammenhang mit Beschränkungen der Freizügigkeit in der Nachkriegszeit die krit. Bemerkung von Theodor Eschenburg zitiert: „Das Recht der Freizügigkeit, einst ein Menschenrecht, ein Gesetz, das dem Menschen diente, wird immer mehr unter dem Druck der Not zu einem Gesetz, das den Menschen zu einem Objekt rein utilitaristischer Interessen von Zonen, Ländern, Gemeinden und Arbeitgebern degradiert", s. Rn. 7 mit Fn. 28, 29. 78 Biedermann im Vorparlament, in: Friedrich Siegmund Jucho (Hg.), Verhandlungen des Deutschen Parlaments, Frankfurt/Main 1848, 1. Lfg., 130; ähnlich Leue, ebenda, 133: „eine Magna Charta (...) berathen werden kann".

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nochspürbar nach, wie gelegentliche Hinweise in US-amerikanischen Gerichtsentscheidungen zeigen.79 Wenn aber die in Art. 8, 9 und 11 GG verankerten Rechte zumindest in ihrem Kerngehalt bereits in historischen Verfassungsdokumenten der Neuzeit als überpositive Menschenrechte niedergelegt wurden, dürfte es nicht ganz einfach sein, ihre menschenrechtliche Qualität rundheraus zu bestreiten und so die These von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- und Deutschenrechten aufrechtzuerhalten. Wie oben dargelegt, gilt dies ausgehend von der Idee überpositiver Menschenrechte schon dann, wenn - wie hier - zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Deutschengrundrechte einen Menschenrechtsgehalt besitzen, auch wenn der positive Nachweis im Blick auf das geschilderte naturrechtliche Erkenntnisproblem nicht zu führen ist. 80 Bleibt die Frage, ob es sich denn zumindest bei der in Art. 12 Abs. 1 GG als Deutschengrundrecht normierten Berufsfreiheit, wie gelegentlich behauptet, um ein „neues Grundrecht" ohne menschenrechtlichen Gehalt handelt.81 Auch das muß jedoch bezweifelt werden. Ganz neu ist selbst die ausdrückliche Anerkennung der „Berufswahl- und Berufsausbildungsfreiheit" nicht, die neben dem in §133 in Verbindung mit beruflicher Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit garantierten Recht, Jeden Nahrungszweig zu betreiben", bereits in § 158 der Frankfurter Reichsverfassung vom 28.3.1849 niedergelegt wurde; und dies sogar trotz der in der Paulskirchenverfassung sonst üblichen Deutschenvorbehalte ohne einen solchen: „Es steht einem Jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will", hieß es dort. 82 Geht

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Vgl. Bridges v. California, 314 U.S. 252, 282 (1941) und Kennedy v. MendozaMartinez, 372 U.S. 144, 186 (1963), eine Entscheidung, in der die Traditionslinie zwischen dem schon von Blackstone als „foundation of the liberty of Englishmen" bezeichneten Art. 39 der Charta von 1215 (der später mit Art. 40 zusammengefaßt und als Art. 29 in die formell heute noch gültige Magna Charta von 1225 aufgenommen wurde) und der Fourteenth Amendment's „Due Process of Law"-Clause hervorgehoben wird. Art.39 lautet in der dt. Übersetzung von Kyriazis-Gouvelis (Fn.67): „Kein freier Mensch darf festgenommen, oder gefangen gehalten, noch depossediert, noch für gesetzlos erklärt, noch verbannt oder auf irgend eine Art ruiniert werden, noch werden Wir gegen ihn vorgehen oder (Leute) gegen ihn ausschicken, es sei denn auf Grund gesetzlichen Urteils von Seinesgleichen oder auf Grund des Gesetzes des Landes". 80 Siehe dazu Fn. 46. 81 Quaritsch, in: Ausländer (Fn.9), Rn.132; dagegen Walter Hamel, Das Recht zur freien Berufswahl, DVB1. 1958, 37 ff. (40); vgl. dazu auch Peter Häberle, Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, 345 ff., bes. 346. 82 RGBl., 16. Stück, v. 28.4.1849, S. 129. Die Berufsfreiheit wurde damals hinsichtlich ihrer ökonomischen und ihrer kulturellen Dimension noch regelmäßig in zwei getrennten Bestimmungen (hier: § 158 u. § 133) abgesichert; zu dieser zunächst zwei-

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man weiter zurück, so findet sich in den klassischen Menschenrechtskatalogen zwar keine wörtliche Formulierung eines Menschenrechts auf „Berufsfreiheit" oder eines „Grundrechts der Arbeit"; 83 zu untersuchen wäre aber, ob dieses Recht nicht vielleicht in John Lockes Begriff von „Property" mitenthalten oder zumindest angelegt ist. Nach Locke ist der Mensch nur zum Schutze seines im Naturzustand gefährdeten Eigentums, worunter er „Lives, Liberties and Estates" versteht, 84 bereit, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zu vereinen oder sich einem bereits bestehenden Gemeinwesen anzuschließen.85 Eigentum aber erwirbt er ohne Zustimmung anderer, allein durch seine Arbeit. So schreibt Locke - dessen maßgeblicher Einfluß auf die amerikanische Verfassunggebung j a bekannt ist 86 - im berühmten 5. Kapitel seines „Second Treatise of Government" über das Eigentum: gleisigen Entwicklung Hans-Peter Schneider, Artikel 12 - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, in: VVDStRL 43 (1985), 7 ff. (bes. 11 f.). 83 Eingehend dazu die beiden Beiträge „Artikel 12 GG - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit" von H.-P. Scheider (Fn. 82), m.w.N. in Fn. 3, und Helmut Lecheler, VVDStRL 43 (1985), 48 ff., wobei letzterer betont, daß Arbeit und Beruf durch die Verfassung einheitlich geschützt werden, der klassischen Berufsfreiheit also kein neues „Grundrecht der Arbeit" erst an die Seite treten müsse (vgl. bes. 61 ff., 64 ff.). 84 John Locke, Two Treatises of Government (1690), Sec. ed. with an Introduction and Apparatus Criticus by Peter Laslett, Cambridge u.a.O., o. J., Second Treatise, Chap. IX, § 123. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Freiheit und Eigentum seit dem 17. Jh. auch Hannah Arendt, On Revolution, New York 1963, Nachdr. d. rev. Fassung v. 1965 1988, p. 180; dt.u.d.T. Über die Revolution, 4. Aufl. München 1994, 233 f.: Damals lag die primäre Aufgabe der Gesetze im Eigentumsschutz, da Freiheit grundsätzlich durch Eigentum garantiert war. Erst im 20.Jh., das die vollen staatsbürgerlichen Rechte nicht mehr an den Besitzstand knüpfte, „hat man der Freiheit zugemutet, sich gegen Staat und Gesellschaft ohne den Schutz, den das Eigentum gewährt, zu behaupten". Zur Bedeutung des Property-Begriffs in der Gründungsphase der U.S.A. s. auch Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776-1787, New York/London 1972, 218 f. 85 Locke, ebd. In der ersten Phase des Naturzustandes gibt das Streben nach Eigentum noch keinen Anlaß zu Streit (vgl. ebd., Chap. V, §§3Iff.). Ein jeder dürfe sich durch seine Arbeit von dem, was die Natur ihm darbiete, jedoch nur so viel aneignen, wie er nutzen kann, bevor es verdirbt. Erst die Erfindung des Geldes als eines beständigen Gegenstandes, den die Menschen, ohne daß er verdarb, aufheben und nach gegenseitiger Übereinkunft gegen die verderblichen Versorgungsmittel eintauschen konnten, führte zur Bildung größerer und dauerhafter Besitztümer. In dieser zweiten Phase des Naturzustandes wirken sich die unterschiedlichen Grade des Fleißes und der Geschicklichkeit der Menschen somit aus, fuhrt der Gebrauch des Geldes zu einer ungleichen Verteilung des Privateigentums. Der zunächst mehr oder weniger friedliche Naturzustand verwandelt sich allmählich in einen Kriegszustand, was letztlich zur Überwindung des Naturzustandes führt. 86 Nicht nur die oben bei Fn. 63 zitierten einleitenden Worte der Virginia Bill of Rights von 1776 knüpfen systematisch an Lockes Vorstellung vom Naturzustand als

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion 27. Though the Earth, and all inferior Creatures be common to all Men, yet every Man has a Property in his own Person. This no Body has any Right to but himself. The Labour of his Body, and the Work of his Hands, we may say, are properly his. Whatsoever then he removes out of the State that Nature hath provided, and left it in, he hath mixed his Labour with, and joined it to something that is his own, and thereby makes it his Property.

Diese von Locke als ursprüngliches Naturgesetz bezeichnete Herleitung des Eigentumsrechtes aus der Arbeit folgt bei ihm unmittelbar aus dem elementarsten natürlichen Recht des Menschen, seinem Recht auf Selbsterhaltung. 87 Aus diesem Zusammenhang wird deutlich, daß sein Begriff von „Property" - über das reine Sacheigentum weit hinausgreifend - auch die ökonomische Entfaltungsfreiheit des Menschen als notwendige Bedingung der Schaffung und Sicherung einer Existenzgrundlage umfaßt. Lockes Begründung des Eigentumsrechts aus der Arbeit stellt in der Geschichte der politischen Ideen insofern eine Neuerung dar, als die Schaffung des Privateigentums nach herkömmlicher Vorstellung etwa von Thomas von Aquin, aber auch moderner Naturrechtslehrer, auf Übereinkunft beruht. Lockes Ansatz trägt den Interessen des sich als Produzenten verstehenden Bürgers jedoch besser Rechnung, da der Erwerb von Ei-

normativem Modell vorstaatlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte an (dazu Hasso Hofmann, Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, in: Recht-Politik-Verfassung, Frankfurt 1986, 93 ff. [106]), sondern es wurde sogar Jefferson, dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung von 1776, vorgeworfen, er habe aus dem Second Treatise abgeschrieben. Wood (Fn. 84), 283 f., 289 ff, verweist auch auf eine Verfassungsdebatte in Maryland (1787), in der man sich gleichfalls ausdrücklich auf Locke berief. Und in der Präambel der Massachusetts Declaration of Rights (1780) heißt es ganz in seinem Geiste: „The body-politic is formed by a voluntary association of individuals: it is a social compact, by which the whole people covenants with each citizen, and each citizen with the whole people, that all shall be governed by certain laws for the commen good" (Textabdr. bei Schwartz [Fn. 52], 339). - Nur die von Locke selbst im Auftrage Shaftesburys u.a. ausgearbeitete Verfassung für NorthCarolina, die dort 1669 in Kraft trat, soll wenig mit den Prinzipien der two treatises übereingestimmt haben; dazu Jellinek (Fn. 48), 48 f. 87 Vgl. hierzu Locke (Fn. 84), First Treatise, Chap. IX, § 86: „For the desire, strong desire of Preserving his Live and Being having been Planted in him, as a Principle of Action by God himself, Reason, which was the voice of God in him, could not but teach him and assure him, that pursuing that natural Inclination he had to preserve his Being, he followed the Will of his Maker, and therefore had a right to make use of those Creatures, which by his Reason or Senses he could discover would be serviceable thereunto. And thus Man's Property in the Creatures, was founded upon the right he had, to make use of those things, that were necessary or useful to his Being"; siehe aber auch im Second Treatise, Chap. V, § 25. Für die parallele Konzeption des Rechts auf Arbeit als „ökonomisches Subsistenzrecht des Menschen" bei Baruzzi s. Häberle, Arbeit (Fn. 81), 347.

I. Menschen- und Bürgerrechte

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gentum bei ihm allein auf der Initiative, der Arbeitskraft und dem Fleiß des einzelnen beruht, der dabei auf die Zustimmung anderer nicht angewiesen ist. 88 Getreulich die Gedankengänge Lockes nachzeichnend, heißt es dann in dem berühmten Edikt von Ludwig XVI. zur Aufhebung der Zünfte: 89 Dieu en donnant à l'homme des besoins, en lui rendant nécessaire la ressource du travail, a fait, du droit de travailler, la propriété de tout homme; et cette propriété est la première, la plus sacrée et la plus imprescriptible de toutes. Nous regardons comme un des premiers devoirs de notre justice, et comme un des actes les plus dignes de notre bienfaisance, d'affranchir nos sujets de toutes les atteintes portées à ce droit inaliénable de l'humanité. Dieses schon 1776 - noch vor der Rechteerklärung Virginias - im Edikt Ludwigs XVI. als unveräußerliches Menschenrecht bezeichnete Recht, le „droit de travailler", wurde paradoxerweise dann von der Konstituante nicht unter die Menschenrechte aufgenommen. Das 1789 Versäumte wurde jedoch wenig später in Art. 17 der der Verfassung von 1793 vorangestellten Déclaration zumindest unter einem Teilaspekt mit der Anerkennung umfassender Gewerbefreiheit nachgeholt. Dort heißt es: „Nul genre de travail, de culture, de commerce, ne peut être interdit à l'industrie des citoyens." Und ergänzend fügt Art. 18 hinzu, daß jedermann über seine Dienste und seine Zeit verfügen könne (sich aber nicht verkaufen oder verkauft werden dürfe, da seine Person kein veräußerliches Eigentum sei). 90 Mit der „Berufsfreiheit" wurde in Art. 12 Abs. 1 GG somit ein alter, um Arbeit und Gewerbe, Selbsterhaltung, Selbstbestimmung und Freiheit kreisender Gedanke aufgegriffen und nicht zuletzt unter dem prägenden Einfluß des Protestantismus mit seiner Affinität zum bürgerlichen Berufsdenken und der Ausdifferenzierung bestimmter Berufsbilder im einzelnen näher ausgestaltet.

88

Dies hebt Walter Euchner in seinem Art. Locke (1632-1704), in: Hans Maier/ Heinz Rausch/Horst Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens, 2. Bd., 5. Aufl. München 1987, 9 ff. (16 f.), zutreffend hervor. Im Unterschied zu jenen Naturrechtslehrern, die, wie Hobbes, die Anerkennung von Privateigentum auf vertragliche Vereinbarung gründen, deren Einhaltung jedoch im Naturzustand mangels staatlicher Zwangsgewalt für ungewiß halten, ist bei Locke das Privateigentum bereits im Naturzustand eine relativ stabile Rechtsfigur; s. dazu H. Hofmann, Naturzustand (Fn. 86), 101 ff., insbes. 105 f. 89 Recueil général des anciennes lois françaises depuis l'an 420 jusqu'à la révolution de 1789, Vols.(Tome) 23-29, Troisième race. Branche des bourbons. Règne de Louis XVI. Publié par M. Jourdan/Isambert/Decrusy, Tome 1 er du règne, du 10 Mai 1774 au 20 Mai 1776, Paris 1863, Nachdruck, Farnborough, Hants (England) 1966, 375. 90 Textnachweise bei Berlia (Fn. 17), 63.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion (2) Aktueller Zugang zum Problem

Daneben findet sich aber sogar noch ein weiterer - und in der heutigen Diskussion weitaus stärker beachteter - möglicher Zugang zum menschenrechtlichen Gehalt nicht nur der Berufsfreiheit, sondern auch der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit: Es ist dies die Vorstellung, daß die Grundrechte als Ausfluß des Bekenntnisses zu unveräußerlichen Menschenrechten erscheinen, die ihrerseits aber ihren Grund in der Würde des Menschen haben,91 wobei die Versuche einer inhaltlichen Umschreibung des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs und des damit verknüpften Menschenbildes dann wiederum auf einen inneren Zusammenhang zwischen dem Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG einerseits und den Freiheitsrechten der Art. 8, 9 und 12 GG andererseits schließen lassen. Anders ausgedrückt: Der menschenrechtliche Gehalt der Grundrechte läßt sich einerseits aus der „externen" Perspektive vorstaatlicher Menschenrechte beleuchten, indem man also fragt, ob sich Gemeinsamkeiten mit bestimmten, in den klassischen Menschenrechtskatalogen anerkannten Rechten ergeben. Es kann andererseits aber auch beim verfassungsrechtlichen Würdebegriff selbst angesetzt und nach dem „Menschenwürdegehalt" der einzelnen Grundrechte gefragt werden, der, wenn die Würde als eigentlicher Wurzelgrund der Menschenrechte oder umgekehrt Menschenrechte „als zu Ansprüchen konkretisierte Menschenwürde" 92 betrachtet werden, im Blick auf den in den Einzelrechten erreichten Konkretisierungsgrad ebenso gut als deren „menschenrechtlicher Gehalt" angesprochen werden kann. Sprachlich ist dies oft kaum mehr als eine fast unmerkliche Akzentverschiebung. Häufig schwimmen auch die Formulierungen zwischen „Menschenrechtsqualität" und „Menschenwürdegehalt" hin und her, doch besteht im Ansatz insofern ein gravierender Unterschied, als jetzt der verfassungsrechtliche Würdebegriff selbst - in Abgrenzung zu den in langer Tradition stehenden philosophischen oder theologischen Begründungen und Interpretationen der Würde des Menschen - Ausgangspunkt aller Betrachtungen ist. 93 Ungeachtet des meta-juristischen Verweisungszusammenhangs verliert damit die Frage, was wann und wie in welchem Menschenrechtskatalog stand, 91

Dazu Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar. Begründet v. Hermann v. Mangoldt, fortgeführt v. Friedrich Klein, Bd. 1: Präambel, Art. 1-19, 4. vollständig neubearb. Aufl. München 1999, Rn. 107 zu Art. 1 II; eingehend Klaus Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, in: Norbert Achterberg/ Werner Krawietz/Dieter Wydukel (Hg.), Recht und Staat im sozialen Wandel, FS für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, Berlin 1983, 627 ff. 92 Lecheler, Menschenwürde (Fn. 18), 83. 93 Eingehend zum verfassungsrechtlichen Würdebegriff Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, Berlin 1990.

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an Gewicht. Vielmehr richtet sich das Augenmerk auf die Verfassung selbst, auf das ihr zugrundeliegende Menschenbild und auf die rechtliche Bedeutung von Würde im Selbstverständnis der Verfassungsinterpreten. So hat etwa das Bundesverfassungsgericht zur Würdegarantie wiederholt ausgeführt, ihr liege das Bild vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt sei, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten. Diese Freiheit verstehe das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen Individuums, sondern als die einer gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Person. 94 Der vor dem Hintergrund einer solchen Inhaltsbestimmung zwischen dem Menschenwürdesatz und der Berufsfreiheit aufscheinende Konnex hebt auf den ersten Teil der Formulierung des Gerichts ab, also auf den aus der Menschenwürde ableitbaren Gedanken selbstbestimmter Gestaltung des persönlichen Lebensentwurfs, der mit der in Art. 12 Abs. 1 GG verankerten Berufsfreiheit, die selbständige ebenso wie unselbständige Berufe erfaßt, die ökonomische Basis individueller Lebensgestaltung in den Blick nimmt. Zugleich ist man sich aber auch der besonderen personalen und Identitäts-konstituierenden Bedeutung von Arbeit „als Beruf bewußt: Arbeit ist Ausdruck menschlicher Selbsterhaltung und -entfaltung. Das Grundrecht der Berufsfreiheit wird demgemäß als Garantie selbstverantwortlicher Existenzgestaltung, individualer Persönlichkeitsbildung sowie sozialer Statusbestimmung des einzelnen verstanden. 95 Seit dem Apothekenurteil begründet das Bundesverfassungsgericht den hohen Rang der Berufsfreiheit in ständiger Rechtsprechung aus ihrem engen Zusammenhang

94

St. Rspr., vgl. BVerfGE 45, 187 (227); E 50, 166 (175), jeweils unter Verweis auf E33, 303 (334) m.w.N.; s. auch E50, 290 (353) mit Verweis auf E4, 7 (15f.). Siehe in diesem Zusammenhang auch Ulrich Becker, „Das Menschenbild des Grundgesetzes" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1996. 95 Rupert Scholz, in: Theodor Maunz/Günter Dürig/Roman Herzog/Rupert Scholz/ Peter Lerche/Hans-Jürgen Papier/Albrecht Randelzhofer/Eberhard SchmidtAßmann, Grundgesetz. Kommentar, 7. Aufl. München 1994 (Std. 2000, Lfg. 1 bis 37), bes. Rn. 9 zu Art. 12; H.-P. Schneider, Artikel 12 GG (Fn. 82), 15 u. pass. Siehe zu dem auch von der Berufssoziologie bestätigten starken personalen Bezug der Berufsfreiheit Helmut Rittstieg, in: Alternativkommentar zum GG (im folg. AK), Bd. 1: Art. 1-37, 2. Aufl. Neuwied 1989, Rn. 12 ff.; Brun-Otto Bryde, Artikel 12 Grundgesetz - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NJW 1984, 2177 ff. (2181 ff.); Peter Badura, Arbeit als Beruf (Art. 12 Abs. 1 GG), in: Peter Hanau u.a. (Hg.), FS f. Wilhelm Herschel z. 85. Geb., München 1982, 21 ff. (23 ff.); Jost Pietzcker, Artikel 12 Grundgesetz Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NVwZ 1984, 550 ff. (552 ff.); Manfred Gubelt, in: Ingo v. Münch /Philip Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 1 (im folg. GGKI), 4. Aufl. München 1992, Rn.2 zu Art. 12; s. auch Häberle, Arbeit (Fn.81), 346 f., 348 ff.; allgemeiner Stern, Menschenwürde (Fn. 91), 640.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

mit der Persönlichkeitsentfaltung. Das Grundrecht ziele „auf den Schutz der wirtschaftlich sinnvollen - Arbeit, aber es sieht sie als ,Beruf, d.h. in ihrer Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen im ganzen, die sich erst darin voll ausformt und vollendet, daß der Einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich einen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt. Das Grundrecht gewinnt so Bedeutung für alle sozialen Schichten; die Arbeit als ,Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde", heißt es dort. 96 Und Hans-Peter Schneider zieht aus dem unmittelbaren Persönlichkeitsbezug der Arbeit für das Verständnis des Art. 12 GG unter anderem die Folgerung, daß niemand vom Staat daran gehindert werden dürfe, sich durch eigene Arbeit seine Existenzgrundlage zu schaffen. In diesem „Recht zur Arbeit" sei „der Menschenrechtskern" der Berufsfreiheit enthalten".97 Damit unterfalle die Arbeits- und Berufsfreiheit dem Schutzversprechen, das dem Staat für die Würde des Menschen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit obliegt. 98 - Wenn auf diese Weise der „Menschenwürde-Kern" der Berufsfreiheit herausgeschält wird, zeigt sich übrigens

96

BVerfGE 7, 377 ff. (397, s. auch 400, 402 f.); vgl. auch BVerfGE 13, 97 (104 f.); E 32, 54 (71); E41, 251 (263 f.); E 50, 290 (362); E 71, 183 (201). 97 H.-P. Schneider (Fn.82), 15; zustimmend Rittstieg, in: AK, Rn. 164 zu Art. 12, der dies direkt auf die Problematik der Deutschenrechte bezieht; ähnlich schon Peter Ruppel, Der Grundrechtsschutz der Ausländer im deutschen Verfassungsrecht, Diss. Würzburg 1968, 199, bezogen auf einen „menschenrechtlichen Mindestbestand an beruflicher Betätigungsfreiheit, jenen unumstößlichen Kern, ohne den der Mensch seiner Würde entkleidet wäre"; s. allgemein auch Scholz, in: Maunz/Dürig, Rn. 44 zu Art. 12 („Ein Recht auf Arbeit besteht [...] zunächst insoweit, wie es zu den elementaren Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins und einer sich in Freiheit und Sozialität entfaltenden Persönlichkeit gehört, sich nach freier Willensentscheidung zwecks Sicherung der eigenen materiellen Lebensexistenz beruflich zu betätigen") m.w.N. u. Hamel (Fn. 81), 37 (die Initiative zum Ergreifen eines Berufs stehe dem einzelnen unantastbar zu). 98 Schneider, aaO, 19 (s. auch 21, 35 f., 40, 47 mit Ls. 17) in Anlehnung an Badura, Arbeit (Fn.95), 23; ähnlich Badura, Grundfreiheiten der Arbeit, in: Dieter Blumenwitz/ Albrecht Randelzhofer, FS f. Friedrich Berber z. 75. Geb., München 1973, 11 ff. (12); Scholz, Recht auf Arbeit, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Jürgen Jekewitz/Thilo Ramm (Hg.), Soziale Grundrechte, Heidelberg/Karlsruhe 1981, 75 ff. (hier: 75); Häberle, Arbeit (Fn.81), bes. 348 f.; Rudolf Wendt, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, DÖV 1984, 601 f.; Dürig, Menschenwürde (Fn.20), 136, spricht vom „Menschenrechtsgehalt" der einzelnen Grundrechte, u.a. des Art. 12, der gleichzeitig umschreibe, was als „Minimalgehalt" (156) zum Wesensgehalt als inhaltlicher Absicherung der Menschenwürde gehöre (vgl. aaO auch 140, 142, 145). Speziell zur Problematik der „Menschenrechtsqualität" und des Menschenwürdebezuges der Berufsfreiheit im Blick auf deren Deutschenvorbehalt s. Otto Bachof, Freiheit des Berufs, in: Karl August Bettermann/ Hans-Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hg.), Grundrechte (Fn. 27), 155 ff. (177 f.).

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deutlich eine Parallele zu dem über das natürliche Selbsterhaltungs- und Eigentumsrecht bei John Locke vermittelten Zugang zum menschenrechtlichen Gehalt der Berufsfreiheit: Nicht die in Art. 12 GG niedergelegte ausdifferenzierte Form, sondern vielmehr der ihr zugrundeliegende allgemeinere und umfassendere Gedanke der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung des Individuums ist stets der Kristallisationspunkt aller Überlegungen. Demgegenüber knüpft die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß auch der Vereinigungsfreiheit ein „menschenrechtliche(r) Gehalt" zukomme," am zweiten Teil seiner Ausführungen zu dem der Würdegarantie zugrundeliegenden Menschenbild des Grundgesetzes an, das nicht das des „isolierten und selbstherrlichen Individuums" sei, sondern das der „gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Person". Auch die Vereinigungsfreiheit konkretisiert und schützt demnach eine bestimmte Dimension der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen, und zwar die der „Persönlichkeitsverwirklichung in Gruppenform". Sie schützt in ihrem Kern den einzelnen vor der Gefahr einer Isolierung und enthält damit nach verbreiteter Ansicht einen Menschenrechtskern. 100 Und was für Art. 9 GG gilt, muß aus den gleichen Erwägungen heraus auch für Art. 8 GG gelten: Ganz in diesem Sinne stellt beispielsweise Kloepfer fest, daß (auch) die Versammlungsfreiheit in ihrem Kern ein Menschenrecht enthalte, das dem Grundrechtsträger die maßgebliche kommunikative Persönlichkeitsentfaltung zusammen mit anderen in Gruppenform gewährleiste. Dies trage dem Verlangen des Menschen nach Gemeinschaft im Sinne eines sozialen Grundbedürfnisses Rechnung und schütze ihn insbesondere auch vor totaler Isolation durch staatliche Eingriffe. 101

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BVerfG 50, 290 (353). Mit scharfer Ablehnung reagiert Detlef Merten, Vereinsfreiheit, in: HdbStR VI (Fn. 77), 775 ff., § 144, Rn. 22 f. 100 Scholz, in: Maunz/Dürig, Rn.41 zu Art. 9; ähnlich unter Bezugnahme auf die Natur des Menschen als „homo socialis" auch Ruppel (Fn.97), 175; ablehnend, soweit es um den darauf gestützten rechtsdogmatischen Umgang mit den Deutschenrechten geht, Jörg Hofmann, Der Deutsche als Tatbestand von Grundrechten und Grundpflichten, Diss. Heidelberg 1993, 24. 101 Michael Kloepfer, Versammlungsfreiheit, in: HdbStR VI (Fn.77), 739 ff., § 143, Rn. 5, s. auch Rn.33, wo er feststellt, daß sich auf den im Verbot absoluter Isolation durch staatliche Eingriffe bestehenden Menschenrechtskern jedermann berufen könne; ähnlich Ruppel (Fn.97), 183; s. auch Roman Herzog, in: Maunz/Dürig, Rn.7ff., 12f., bes. 17 zu Art. 8 (,,,überpositive(r)' Menschenrechtskern"); Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. (Fn.31), Rn. 135 zu Art. 1 III; Ingo v. Münch, Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 3. Aufl. München 1985, Rn.5 zu Art. 8; anders Philip Kunig, in: Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn. 8 zu Art. 8: Der Schutz sei nicht auf einen „Menschenrechtskern" reduziert.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Beiden Grundrechten ist zudem gemeinsam, daß sie keineswegs nur der kollektiven Verwirklichung anderer Grundrechte, insbesondere der Meinungsfreiheit, dienen, sondern ihnen in einem freiheitlichen Gemeinwesen auch eine eigene, herausgehobene Funktion zukommt. Schon Montesquieu hatte festgestellt, daß die Trennung der Individuen „dem Geist des Despotismus" 102 entspreche. Anders formuliert: Für die Freiheitlichkeit eines Gemeinwesens wird der Schutz von Kommunikation und Assoziation zur Feuerprobe; sie erweist sich eben gerade in der Frage, ob die daraus entstehende politische Unruhe unterdrückt oder im politischen Prozeß produktiv umgesetzt wird. 1 0 3 Mit den Art. 8 und 9 GG gelingt somit der Brückenschlag zwischen dem in der Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG sich spiegelnden Menschenbild des Grundgesetzes, der Vorstellung von der natürlichen, aber nur in Gemeinschaft mit anderen zu realisierenden Freiheit des Menschen und der Freiheitlichkeit des Gemeinwesens selbst. Spätestens an dieser Stelle begegnet einem also wieder das schon eingangs geschilderte Problem: Von universalistischen Vorstellungen, von einem Bild „des Menschen" ausgehend, gelangt man über die Brücke der Art. 8 und 9 GG zu einer partikulären staatlichen Gemeinschaft, stößt damit zwangsläufig auf das Problem, wer zu dieser Gemeinschaft gehört und welche Kriterien dafür maßgeblich sind. Den damit zusammenhängenden Fragen, die sich im übrigen für die Rechte der Art. 8 und 9 GG in etwas anderer Weise stellen als für die in Art. 12 GG verankerte Berufsfreiheit, da Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (ebenso wie die Meinungs- und Pressefreiheit) für die freiheitliche Demokratie von „schlechthin konstituierender Bedeutung" sind und insofern einen stärkeren Bezug zur jeweiligen politischen Gemeinschaft und den sie stets auf neue konstituierenden politischen Aktivitäten ihrer Staatsbürger aufweisen, 104 102 Charles de Montesquieu, De l'Esprit des loi (1748), in: Oeuvres complètes de Montesquieu. Texte établi et présenté par Jean Brethe de la Gressaye, Tome III (Livres XIX-XXVI), Paris 1958, L. XIX, chap. XVIII a.E. (S.21); s. dazu auch Arnd Morkel, Montesquieus Begriff der Despotie, in: Zeitschrift für Politik (ZfP) n.F., Bd. 13 (1966), 14ff. (19). 103 Siehe hierzu Merten, Vereinsfreiheit (Fn. 99), Rn. 3 f. 104 Jenseits der allgemein anerkannten Bedeutung für den demokratischen Prozeß ist die Interpretation dieser Grundrechte allerdings streitig: Eine demokratie-funktionale Interpretation versteht sie vornehmlich aus ihrer öffentlichen und politischen Funktion heraus. So betont auch das BVerfG hinsichtlich des Art. 8 GG die über den abwehrrechtlichen Gehalt hinausgehende Bedeutung als Recht des Bürgers auf (kollektive) Teilhabe an der politischen Willensbildung und unterstreicht in der BrokdorfEntscheidung die kompensatorische Wirkung, die die Versammlungsfreiheit in ihrer Ausprägung als Demonstrationsfreiheit gegenüber einem Defizit an unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeiten des Staatsbürgers auf den politischen Prozeß entfalte (E69, 315 [343 ff.]); krit. Kloepfer (Fn. 101), Rn. 5, insbes. 7 ff., der angesichts einer prinzipiell

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wird noch nachzugehen sein. Hier ist zunächst nur die Feststellung wichtig, daß die Deutschenvorbehalte der Art. 8, 9 und 12 GG wohl kaum als völlig unproblematisch bezeichnet werden können, wenn man gleichzeitig davon ausgeht, daß diesen Grundrechten über die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG ein „menschenrechtlicher Gehalt" vermittelt wird; eine Überlegung, die nach Dürigs Lesart des Art. 11 GG im übrigen auch für das Grundrecht der Freizügigkeit gilt. 1 0 5 Denn wie sollten Rechte, die man sich in ihrem Kerngehalt als Ausfluß der Würde des Menschen vorstellt, auf Deutsche beschränkt werden können, 106 wenn gleichzeitig der Schutz der Würde in Form einer jeden Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes berechtigenden Verfassungsgarantie niedergelegt ist, ohne daß dies zumindest eine verfassungsrechtliche Spannungslage auslöst?

akzeptierten demokratisch-funktionellen Grundrechtsinterpretation vor einer Vernachlässigung des in diesen Grundrechten enthaltenen abwehrenden Freiheitsgehaltes warnt; ähnlich Böckenförde, der dies als logische Konsequenz einer demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie sieht, nach der die demokratie-konstituierende Aufgabe die Grundrechte legitimiert und ihren Inhalt determiniert; s. Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/Main 1991, 115ff. (120 f., 133 ff., 143 ff.). 105 Menschenwürde (Fn. 20), 140f.: „Der aufnahmebegehrende Mensch bliebe dem staatlichen Geschehen (jetzt des Aufnahmestaates) als Objekt ausgeliefert und Art. 11 wäre folglich in seinem Wesensgehalt verletzt, wenn dem (wie ein Tier aus Angst) fliehenden Menschen der Zuzug (das ist mehr als ,Asyl' i.S. des Art. 16 II Satz 2) verweigert würde". In Fn. 55 stellt er dann ausdrücklich fest, daß Art. 11 trotz der formalen Beschränkung auf „Deutsche" Menschenrechtsqualität habe und insoweit nicht nach der Staatsangehörigkeit gefragt werden dürfe; dazu ausfuhrlich ders., Freizügigkeit, in: Neumann u.a. (Hg.), Grundrechte II (Fn. 27), 507 ff. (521 ff.), wo er den Menschenrechtsgehalt des Freizügigkeitsrechts, der etwas weiter gehe als der des Asylrechts, an Hand einzelner Fallgruppen verdeutlicht. Diese Position ist zu Recht auf heftige Kritik gestoßen, da sie schon an der positivrechtlichen Fassung des Art. 16 II a.F. eindeutig vorbeiging; vgl. dazu Quaritsch, Ausländer (Fn. 9), Rn. 134 mit Fn. 340. Jenseits dieser überzogenen Konsequenzen wird ein Menschenwürdegehalt des Art. 11 aber im Anschluß an Dürig durchaus bejaht; s. Madert-Fries (Fn.47), 126 f.; im Sinne eines Minimums an räumlicher Bewegungsfreiheit auch Isensee, Ausländer (Fn. 14), 79. 106 Demgemäß ziehen Bachof, Freiheit des Berufs (Fn.98), 155 ff. (177 f.), u.a. auch die Konsequenz, daß die Beschränkung der Berufsfreiheit (bzw. der anderen Deutschengrundrechte) auf Deutsche dort ihre Grenzen finde, wo dies der Menschenwürde zuwiderlaufe; dazu im einzelnen im 2. Teil unter I. 1.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion (3) Ergänzende Betrachtungen aus völkerrechtlicher Perspektive

Neben der Frage nach dem über den Menschenwürdesatz des Grundgesetzes vermittelten menschenrechtlichen Gehalt der Deutschengrundrechte ist da aber auch noch die Indizwirkung, die sich aus einer völkerrechtlichen Verankerung als Menschenrecht ergeben könnte. 107 Die Deutschengrundrechte der Freizügigkeit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Berufswahl werden zunächst in Art. 13, 20 und 23 der - allerdings nicht mit Rechtsverbindlichkeit ausgestatteten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948108 genannt, letzteres auch als Teilaspekt eines (ebenfalls nur als Programmsatz normierten) Rechtes auf Arbeit in Art. 6 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) vom 19.12.1966.109 Die Freizügigkeit ist darüber hinaus in Art. 12 des am selben Tage verabschiedeten Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) 110 und in Art. 2 des Protokolls N r . 4 1 1 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vom 4.11.1950 112 als Individualanspruch garantiert. Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind in Art. 11 EMRK und Art. 21, 22 IPbürgR als jedermann zustehende Rechte verbrieft.

107

Vgl. Quaritsch, Ausländer (Fn.9), Rn. 133. Resolution 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen in: GAOR 3rd Sess., Resolutions part I, 71; dt. Übersetzung in Satorius II, Nr. 19. 109 BGBl. 11,1973, 1570. Dieser Pakt wurde inzwischen von 134 Staaten ratifiziert. 110 BGBl. II, 1973, 1534 ff. Die Freizügigkeit i.e.S., wie sie bei uns in Art. 11 GG normiert ist, und die Auswanderungsfreiheit werden dabei getrennt erfaßt: (1) „Jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen. (2) Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen". Dieser zweite Menschenrechtspakt der Vereinten Nationen vom 19.12.1966, der im Gegensatz zum IPwirtR eben nicht nur Programmsätze, sondern konkrete Individualansprüche enthält, wurde von 133 Staaten ratifiziert; zu den beiden Menschenrechtspakten Alfred Verdross /Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. Berlin 1984, Rn. 1233 ff., bes. 1238, 1247 ff. 111 Vom 16.9. 1963, BGBl. II, 1968, 423. Die Formulierung ist wortgleich mit der in Art. 12 IPbürgR. Dieses vierte Zusatzprotokoll gilt für Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Zypern, Griechenland, Schweiz, Türkei, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland. 112 BGBl. II, 1952, 686 mit Änderungen. Die Konvention wurde von der Bundesrepublik unter dem Vorbehalt ratifiziert, daß Art. 7 Abs. 2 nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG angewendet wird. Sie ist gemäß Bekanntmachung vom 15.12.1953 (BGBl. II, 1954, 14) am 3.9.1953 in Kraft getreten. 108

I. Menschen- und Bürgerrechte

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Durch die Kodifikation dieser Menschenrechte auf völkerrechtlicher Ebene kann schon aufgrund der Rangfolge in der Normenhierarchie grundsätzlich keine Spannungslage zu den Deutschengrundrechten entstehen, da die völkerrechtlichen Menschenrechte - soweit sie nicht zu den nach Art. 25 GG den Gesetzen vorgehenden allgemeinen Regeln des Völkerrechts zählen - nach ihrer Transformation in innerstaatliches Recht in der Bundesrepublik regelmäßig im Rang einfachen Bundesrechts gelten, die Deutschengrundrechte als verfassungsrechtliche Normen somit im Konfliktfall Vorrang hätten.113 Davon abgesehen hat die Bundesrepublik ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen durch die weitgehende einfachgesetzliche Gleichstellung von Deutschen und Ausländern bzw. Staatenlosen im Vereins- und Versammlungsgesetz aber auch erfüllt, 114 bzw. bewegt sich bei Beschränkungen der Freizügigkeit von Ausländern innerhalb des durch Art. 2 Abs. 3 und 4 des vierten Zusatzprotokolls zur EMRK abgesteckten Rahmens. Aus der verfassungsrechtlichen Normierung der Deutschengrundrechte resultiert somit keine Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen. 115 Davon zu trennen ist aber die Frage, ob die völkerrechtliche Kodifikation als Menschenrechte möglicherweise indiziert, 113

Dies gilt im Grundsatz; z.B. ist jedoch bezogen auf die EMRK streitig, ob sie deutsches Verfassungsrecht überlagert, im Rang einfachen Bundesrechts steht (so z.B. Quaritisch, Ausländer [Fn. 9], Rn. 14) oder eine Interposition einnimmt; dazu im Blick auf die Versammlungsfreiheit Egon Crombach, Die öffentliche Versammlung unter freiem Himmel, Berlin 1976, 16 ff. Auch hinsichtlich des genauen Umfangs des völkerrechtlichen Mindeststandards, der i.S.d. Art. 25 als allgemeine Regel zu beachten ist und in einem Kernbereich sogar den Charakter von ius cogens besitzt, bestehen Unsicherheiten; vgl. Rainer Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, Berlin u.a.O. 1994, 113 m.w.N. Die von Karl Doehring wiederholt vorgetragene These, nach der der völkerrechtliche Mindeststandard über Art. 25 GG letztlich zu einer Absenkung des Grundrechtsschutzes des Ausländers führen soll, da den allgemeinen Regeln Verfassungsrang zukomme (vgl. Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32 [1974], 7 ff. [37 ff. mit Fn.89]), ist allerdings stets auf heftigen Widerspruch gestoßen; s. statt vieler Isensee, Ausländer (Fn. 14), 85f., Fn.89; Manfred Zuleeg, Grundrechte für Ausländer: Bewährungsprobe des Verfassungsrechts, in: DVB1. 1974, 341 ff. (345 f.). 114 Nach § 1 VersG hat jedermann das Recht, öffentliche Versammlungen zu veranstalten und daran teilzunehmen, und § 1 VereinsG lautet schlicht: „Die Bildung von Vereinen ist frei (Vereinsfreiheit)." Die weitergehenden Einschränkungsmöglichkeiten politischer Versammlungen durch §37 AuslG und von Ausländervereinen gem. §14 VereinsG sind durch gleichartige Beschränkungen in Art. 11 Abs. 2 und Art. 16 EMRK gedeckt. Damit ist für diesen Bereich die Streitfrage bezogen auf den Rang der EMRK (vgl. Fn. 113) entschärft; so auch Kloepfer, Versammlungsfreiheit (Fn. 101), Rn. 33. 115 Vgl. im einzelnen Quaritsch, Ausländer (Fn. 9), Rn. 14-32. Sehr dezidiert Doehring, Ausländer (Fn. 113), 32 ff. (34); s. auch ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. Frankfurt/Main 1984, 98ff. (99), 282: Das deutsche Verfassungsrecht leiste sogar erheblich mehr, als der internationale Mindeststandard erfordere und in anderen Staaten üblich sei.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

daß diese Rechte auch zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" zählen, auf die sich das naturrechtliche Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG bezieht; und wenn ja, ob dies fur das jeweilige Recht als solches - die auch im Völkerrecht vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten sprechen eher dagegen oder aber fur einen wie auch immer zu bestimmenden Kernbereich gilt.

d) Zwischenbilanz Diese Fragen sollen hier nicht weiter vertieft werden. Es reicht in diesem Zusammenhang aus festzuhalten, daß es nicht möglich ist, Menschen- und Deutschenrechte als strikt voneinander getrennte, spannungsfrei nebeneinander bestehende Kategorien von Rechten zu konstruieren, wenn man davon ausgeht, daß die Grundrechte - zumindest teilweise - überpositive, in der Würde des Menschen wurzelnde Menschenrechte kodifizieren, da dann auch die Deutschengrundrechte an diesem Menschenrechts- oder Menschenwürdegehalt (partiell) teilhaben bzw. eben nicht nur positives Recht enthalten. Doch ziehen, wie oben angedeutet, nur ganz wenige daraus die Konsequenz, die Deutschenvorbehalte prinzipiell abzulehnen. Dies würde im übrigen schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus erheblichen Bedenken begegnen, da völlig offen bliebe, wer an Hand eines wie zu konkretisierenden Maßstabes dazu legitimiert sein sollte, sich über die vom Verfassunggeber, dem pouvoir constituant, getroffenen Festlegungen hinwegzusetzen, auf welches außerhalb des Verfassungsgesetzes liegende objektive Erkenntnismittel sich ein solches Vorgehen also stützen könnte. 116 1,6

Zur Position Brinkmanns oben bei Fn. 38; zum Problem verfassungswidrigen Verfassungsrechts s. oben bei Fn. 50. Dahinter steht die Frage, ob auch der pouvoir constituant selbst an überpositives Recht gebunden sei oder nicht. Allgem. zum Streitstand aus der älteren Lit. Herbert Sauerwein, Die „Omnipotenz" des pouvoir constituant. Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungstheorie, Diss. Frankfurt a.M., 1960, insbes. 41 ff., 83 ff., der selbst die sachlogischen Strukturen des Staats- und Verfassungsrechts analysieren und dabei bestimmte rechtliche „Minima" - u.a. „Menschenrechte" - deduzieren will, um so die Grenze im Sinne einer „optimalen Annäherung" zu bestimmen (143 ff, insbes. 147 ff., 153 ff, 159, 175 ff., 180). Für eine völlige rechtliche Ungebundenheit des pouvoir constituant Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl. München 1999, §9. III. 2; differenzierter Murswiek (Fn.46), 137ff., der zwar allgemein feststellt, daß, wenn es dem staatlichen Recht übergeordnetes Naturrecht gäbe, auch der Verfassunggeber daran gebunden sei, bezogen auf das „ob" aber auf das schon erwähnte Erkenntnisproblem hinweist (vgl. Fn. 46). Daher sei eine Bindung des pouvoir constituant an überpositives Recht praktisch nicht möglich. Werde jedoch wie in der Präambel, in Art. 1 Abs. 1 u. 2 GG der überpositive Charakter bestimmter Rechtssätze positiv behauptet, so besitze diese Behauptung selbst positive Verfassungskraft. Die Bindung des pouvoir constituant an einzelne Naturrechtssätze sei in diesem Ablei-

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Andere folgern daraus, daß es eben nicht möglich sei, eine „horizontale Trennung" in dem Sinne vorzunehmen, daß die Deutschengrundrechte nur positives Recht, die Jedermannrechte hingegen naturrechtliche Menschenrechte enthalten, die Trennlinie vielmehr „vertikal" bzw. zwischen „menschenrechtlichem Kern" und „positivrechtlichem H o f des Grundrechts verlaufe. 117 Die Deutschenvorbehalte werden somit zwar prinzipiell akzeptiert, es entsteht nach dieser Auffassung jedoch in dem Augenblick, in dem die auf dieser Grundlage vorgenommenen Beschränkungen den menschenrechtlichen Kern des jeweiligen Deutschengrundrechts berühren, eine verfassungsrechtliche Spannungslage, die es dogmatisch zu bewältigen gilt. Schließlich ist da auch noch der schon skizzierte, in sich widersprüchliche Standpunkt, der die von verfassungsgesetzlichen Formulierungen nicht zu beeinträchtigende und insofern „absolute" Geltung vorstaatlicher Menschenrechte zunächst hervorhebt, 118 dann aber im Blick auf die Deutschengrundrechte die Gestaltungsfreiheit des Verfassunggebers betont, der - ohne die Menschenrechtsqualität oder zumindest den Menschenrechtsgehalt eines Teils dieser Rechte zu negieren - „nur die subjektiv-rechtliche Berechtigung" aus diesen Rechten einschränke. 119 Der Widerspruch, der in der Behauptung unbedingter Geltung überpositiver (und damit staatlicher Disposition entzogener) Menschenrechte bei gleichzeitiger Gestaltungsfreiheit des Verfassunggebers liegt, 120 wird nicht aufgelöst, nicht erläutert, warum der absolute Geltungsanspruch, soweit die Deutschengrundrechte betroffen sind, unversehens in eine völlig konturenlose Relativierbarkeit mutieren 121 und der Menschenrechtsgehalt dieser Rechte sogar bis zur Überschreitung „letzte(r) Grenzen der Gerechtigkeit" einschränkbar sein soll. Man kann sich der Erkenntnis wohl nicht entziehen, daß jedenfalls dann, wenn der um eine Verklammerung von Menschenrechtsbekenntnis und unmittelbarer Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 2 und 3 GG bemühte „dop4 pelte Geltungsbegriff 4 beibehalten bzw. dem Gedanken überpositiver Menschenrechte noch in irgendeiner Weise Einfluß auf das positive Recht zugestanden wird, bezüglich der Deutschenvorbehalte der Art. 8, 9, 11 und 12 GG eine

tungszusammenhang also keine Bindung an überpositives Recht, sondern an das Grundgesetz. 117 Bleckmann (Fn. 15, 3. Aufl.), §4 3. d), verweist zur Begründung darauf, daß die positivierten Grundrechte nicht in vollem Umfang Naturrecht enthalten, vielmehr sei der Naturrechtsgehalt bei der Kodifikation um positives Recht erweitert worden. 118 Siehe oben S.21 bei Fn.26. 1,9 Siehe oben S.24 bei Fn.42. 120 Siehe oben S.21 und 24. 121 Hier heißt es nur noch, daß sich der Verfassunggeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit „am Menschenrechtsgehalt orientieren sollte"; Stern, Staatsrecht III/l (Fn. 2), 1026. 4 Siehr

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verfassungsrechtliche Spannungslage zu konstatieren ist, mit der man sich dann konsequenterweise auch rechtsdogmatisch auseinandersetzen müßte. Damit drängt sich allerdings die Frage auf, ob dies auch gilt, wenn darauf verzichtet wird, überpositive Menschenrechte als externen Maßstab heranzuziehen, der „doppelte Geltungsbegriff' - wie ganz überwiegend auch längst gescheh e n 1 2 2 - also aufgegeben und allein auf der Grundlage des positiven Verfassungsrechts argumentiert wird. Mit anderen Worten: Stellt die Vorstellung eines spannungsfreien Nebeneinanders von Menschen- und Deutschenrechten nicht gerade für den in der heutigen Rechtspraxis doch wesentlich bedeutsameren Fall der rein positivrechtlich orientierten Bestimmung des Verhältnisses von Menschen- (jetzt im Sinne von Jedermann-) und Deutschenrechten eine zutreffende Beschreibung dar? Darauf wird zurückzukommen sein. Im Hinblick auf die inhaltlichen Überschneidungen zwischen den historischen Ausformungen der Idee überpositiver Menschenrechte in den großen Verfassungsdokumenten der Neuzeit und den Deutschengrundrechten soll jedoch vorab der Frage nachgegangen werden, wie von einem solchen positivrechtlichen Ansatzpunkt aus mit dem Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG umgegangen wird.

4. Menschenrechtsbekenntnis und Positivität der Grundrechte ein rechts- und verfassungstheoretisches Dilemma? Im Ergebnis unterscheidet sich die zuletzt beschriebene Position, wie sie etwa von Stern vertreten wird, ohnehin nur unwesentlich, nämlich allein durch den (praktisch folgenlosen) Hinweis auf „letzte Grenzen der Gerechtigkeit" als Schranke absoluter staatlicher Dispositionsfreiheit von einem positivistischen Ansatz. Während aber Stern versucht, der Idee überpositiver Menschenrechte 122

Diese Vorstellungen, die Denninger (Fn.8) mit der Bezeichnung des „doppelten Geltungsbegriffes" so treffend charakterisiert, wurden infolge der Naturrechtsrenaissance nach dem 2. Weltkrieg insbesondere von maßgeblichen Kommentatoren der 50er Jahre vertreten, so etwa von Nipperdey (Fn. 27) oder von Maunz (Fn. 26). Wie Denninger, aaO, 228, bemerkt, gibt aber auch gerade Maunz mit seinem Standardlehrbuch „Deutsches Staatsrecht" ein gutes Beispiel für die fast unbemerkte Abkehr von diesem Ansatz und dem damit verbundenen stillen Wandel von Vorverständnis und Perspektive, der sich in kleinen Schritten von der Annahme einer absoluten, von ihrer Formulierung in Gesetzen völlig unabhängigen Geltung überstaatlicher Rechte mit Vorrang vor anderen Verfassungsbestimmungen über eine „Geltung" in Anfuhrungsstrichen bis hin zu Zweifeln, ob denn die Berufung auf ungeschriebene, überstaatliche Rechte neben den formulierten Texten überhaupt noch eine Bedeutung haben könne, von einer Auflage zur nächsten (vgl. 22. Aufl. München 1978, 101, gegenüber der 23. Aufl. München 1980, 103 f.) vollzieht.

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Rechnung zu tragen, ohne dabei die Gestaltungsfreiheit des Verfassunggebers und die Positivität der von ihm geschaffenen Grundrechte anzutasten, ist in der positivistischen Perspektive für die bloße Vorstellung eines positivrechtlich verankerten Bekenntnisses zu überpositiven Menschenrechten und folglich auch für die Frage nach deren Verhältnis zu den Deutschenrechten an sich gar kein Raum. Gleichwohl muß man sich ihr im Hinblick auf den eindeutigen Verfassungstext stellen, 123 und dies bleibt - ungeachtet der Betonung des rein proklamatorischen Charakters des Art. 1 Abs. 2 GG - angesichts der theoretischen Möglichkeit von Diskrepanzen zwischen Menschenrechtsbekenntnis und den positivierten Grundrechten mißlich. Denn was die juristische Geltung im strikten Sinn unberührt läßt, könnte doch die Legitimationskraft schwächen. Dem sucht man durch die Erklärung zu begegnen, daß das Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG „von vornherein unter dem Vorbehalt der Deutschengrundrechte" stehe, diesen somit rechtssystematisch „keinen ,menschenrechtlichen' Kern vermitteln" könne. Kurz: Der nationale Verfassunggeber dürfe eben „verbindlich entscheiden, was in seinem Staat ,menschenrechtliches' JedermannGrundrecht ist und was als verfassungsrechtliches Individualrecht nur den eigenen Staatsangehörigen zugebilligt wird". 1 2 4 Wenn aber überpositives Recht unter den „Vorbehalt" staatlicher Disposition gestellt wird, bedeutet dies nichts anderes, als daß sein spezifischer Charakter, der eben in seiner Unabdingbarkeit, also seiner mangelnden Disponibilität liegt, geleugnet wird. Das Bekenntnis des Deutschen Volkes zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" erscheint nach dieser Lesart inhaltsleer; von Art. 1 Abs. 2 GG bleibt damit nicht mehr als eine Fassade nach Art eines Potemkinschen Dorfes: Der Betrachter ist bei dem, was er sieht, auf seine eigenen Vorstellungen zurückverwiesen, während das, was er hinter der Fassade vermutet, in Wahrheit nicht existiert. Wer aber umgekehrt an der Überpositivität der Menschenrechte festhält, verstrickt sich unentrinnbar in dem oben geschilderten naturrechtlichen Erkenntnisproblem, 125 das die juristische Operationalisierbarkeit dieser Rechte, ihre Heranziehung als externen Beurteilungsmaßstab für positiv gesetztes Recht - hier die Deutschenrechte - oder gar eine unmittelbare Rechtsanwendung durch Gerichte ausschließt.126 Durch diese Fest123

Klug (Fn. 17), 13, stellt dazu fest, daß „sowohl Vertreter des juristischen wie solche eines philosophischen Positivismus vor dem Phänomen [stehen], daß man es hier mit empirischen rechtlichen Normen zu tun hat, in denen zur Begründung ihrer Verbindlichkeit (...) auf überpositive Normen ausdrücklich verwiesen wird"; s. auch die Überlegungen bei Doehring, Staatsrecht (Fn. 115), 281 f. 124 Quaritsch, Ausländer (Fn. 9), Rn. 133; zur Gegenposition s. bei Fn. 37. 125 Siehe dazu Murswiek (Fn. 46). 126 Dazu krit. Ulrich Scheuner, Pressefreiheit, VVDStRL 22 (1965), Iff. (46 f. m.w.N. in Fn. 135), der auf wenig gelungene Versuche in der Rspr. des BGH hinweist,

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Stellung beruhigt, wendet sich ein Großteil der deutschen Staatsrechtslehre von dieser als un- oder meta-juristisch betrachteten Fragestellung ab, hält damit insbesondere auch die Frage nach den Deutschenrechten fur erledigt. Soweit sich das Schrifttum heute noch dazu äußert, geschieht dies regelmäßig nicht in dem Bewußtsein, zu einem offenen Problem Stellung zu nehmen. So heißt es beispielsweise: Die mit den Deutschenrechten bezweckte „Bevorzugung des Staatsbürgers als Teil des (Staats-)Volks (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) ist nicht nur unbedenklich, sondern auch gerechtfertigt, weil ihn dafür in seinem allgemeinen Gewaltverhältnis' auch besondere Pflichten treffen. Deshalb kann an , Deutschen'-Rechten nur sentimental-verschwommene Mitmenschlichkeits- und Brüderlichkeitsideologie Anstoß nehmen". 127 Hier zeigt sich zweierlei: Zum einen wird das rechts- und verfassungstheoretische Dilemma erkennbar, in dem der Parlamentarische Rat steckte, als er versuchte, eine nach Rechtsgeltung und Legitimität naturrechtlich fundierte Verfassungsordnung, zugleich aber auch juristisch operationalisierbares positives Recht zu schaffen, und gleichzeitig einem „Zuviel an naturrechtlichem Wertabsolutismus und einem Zuviel an positivistischer Regelungswillkür" einen Riegel vorzuschieben. 128 Zum anderen wird deutlich, daß in den Jahren nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes eine Entwicklung in Richtung auf die Betonung des positivrechtlichen Charakters der Grundrechtsnormen und der damit gezogenen Grenzen eingesetzt hat. 129 Es fragt sich nur, was daraus zu folgern ist: Ist die Verbindung zwischen positivierten Grundrechten und vorstaatlichen Menschenrechten damit gekappt, geht das Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG rechtlich gesehen ins Leere, ist der von Art. 1 Abs. 3 GG gewollte Brückenschlag also mißlungen? Und wenn der endlose Streit naturrechtlicher Positionen nun im ideengeschichtlichen Hintergrund verhallt, während die Dispositionsfreiheit des nationalen Verfassunggebers in einzelnen Rechtsfragen aus naturrechtlichen Prinzipien konkrete Entscheidungen abzuleiten. Dagegen hat das BVerfG (E10, 59 [81]) eine Orientierung seiner Rspr. an naturrechtlichen Normen ausdrücklich abgelehnt, weil eine solche Prüfung sich schon „durch die Vielfalt der Naturrechtslehren [verbiete], die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird". 127 Merten, Vereinsfreiheit (Fn.99), Rn.22. Der durch derartige Ausführungen begründete Eindruck, es mit einer längst geklärten Frage zu tun zu haben, betrifft naturgemäß nicht nur die grundsätzliche Rechtfertigung der Differenzierung zwischen Menschen- und Deutschenrechten, sondern auch den rechtsdogmatischen Umgang mit den Deutschenrechten. Dies gilt vor allem seit der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1973, E 35, 382 (399 ff.), zur Ausländerfreizügigkeit; vgl. auch E 38, 52 (57) und insbes. E 78, 179 (196 ff.), die den Weg über das „Auffanggrundrecht" des Art. 2 I GG bestätigt haben. Dazu unten im 2. Teil unter I. 2. 128 Denninger (Fn. 8), 227. 129 Denninger, aaO, wobei sich diese Entwicklung in der seitdem verflossenen Zeitspanne von fast zwei Jahrzehnten noch verstärkt hat.

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und die Positivität der von ihm geschaffenen Grundrechte ganz in den Vordergrund getreten ist, bedeutet das dann automatisch eine Bestätigung der unausgesprochenen These von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen(jetzt im Sinne von Jedermann-) und Deutschenrechten?

5. Der verfassungsimmanente Ansatz Überraschenderweise bedarf es jedoch gar nicht erst des Rückgriffs auf „überpositive Rechte", um Zweifel an der These von einem problem- und spannungslosen Nebeneinander von Jedermann- und Deutschenrechten aufkommen zu lassen. Denn davon kann selbst dann keine Rede sein, wenn allein das positive Verfassungsgesetz, die dort normierten Grundrechte und Verfassungsprinzipien, betrachtet werden, und zwar deshalb, weil beide Gruppen von Rechten nicht nur in denselben Vorstellungen gründen, sondern die „Väter" (und „Mütter") des Grundgesetzes diese auch zum Gegenstand positiv geltender Verfassungsprinzipien und verfassungsrechtlicher Gewährleistungen gemacht haben. Sie haben sich in Art. 1 Abs. 2 GG also nicht etwa auf ein folgenloses Lippenbekenntnis beschränkt, sondern das Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" 130 in der von ihnen im folgenden entworfenen Verfassungsordnung auch positivrechtlich umgesetzt.131

a) Implikationen einer auf menschenrechtliche Grundsätze gebauten Verfassungsordnung (1) Schutz und Freiheit - Zwei Dimensionen von Menschenrechten und Menschenwürde Ausgangspunkt der Betrachtungen zum Verhältnis von Deutschen- und Jedermannrechten im Grundgesetz ist zunächst die Frage, was eine menschenrechtliche Fundierung der Verfassung eigentlich beinhaltet. - Sicherlich weit

130

Vgl. zu dieser Formulierung des Allgemeinen Redaktionsausschusses JöR n.F. Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 53. 131 Insoweit ist die Heranziehung überpositiver Rechte als externer Beurteilungsmaßstab entbehrlich, das oben dargestellte naturrechtliche Erkenntnisproblem für die Rechtsanwendung praktisch ohne Bedeutung. Auch die Bemerkung Klugs (Fn. 123) zielt auf den Verweis auf überpositive Rechtsprinzipien als Geltungsgrund bestimmter positiver Normen, nicht auf die Frage der durch diese Rechtsprinzipien angeleiteten inhaltlichen Ausgestaltung der Verfassung.

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mehr, als daß als Reaktion auf elementare Unrechtserfahrungen des Menschen 132 auf der rechtlichen Ebene entsprechende Verletzungstatbestände definiert und die korrespondierenden fundamentalen Abwehrrechte gegen und menschenrechtlichen Schutzansprüche an den Staat 133 verfassungsrechtlich als Jedermannrechte verbürgt werden, wie dies etwa beim Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder vor willkürlicher Freiheitsentziehung im „Habeas-Corpus-Artikel" des 104 GG der Fall ist. Doch ist dieser Schutzaspekt keineswegs gering zu veranschlagen und soll daher im folgenden noch näher beleuchtet werden. Als Beispiel wäre das Folterverbot zu nennen, das nach überwiegender Ansicht direkt aus Art. 1 Abs. 1 GG zu entnehmen ist, wenn die Menschenwürdegarantie negativ, also vom Verletzungstatbestand her, definiert wird 1 3 4 - ein probater juristischer Kunstgriff, wenn die positive inhaltliche Bestimmung eines Rechtsbegriffs besonderen Schwierigkeiten begegnet. Bezeichnenderweise wählt auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 1 Abs. 1 GG Formulierungen wie „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung", 135 die allein auf die Umschreibung von Würde-verletzenden Handlungsweisen ausgerichtet sind. 136 Theoretischer Bezugspunkt dieser beim Verletzungsvorgang ansetzenden Definition von Würde soll die berühmte von Günter Dürig im Anschluß an Josef Wintrich entwickelte „Objekt-Formel" sein, wonach die Menschenwürde als solche getroffen ist, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabge132 Dazu, daß menschenrechtliche Verbürgungen teils auf elementare Unrechtserlebnisse antworten, teils gegen alle Arten von Heteronomien gerichtet sind, s. H. Hofmann, Menschenrechtliche Autonomieansprüche, jetzt in: Verfassungsrechtliche Perspektiven (Fn. 3), 51 ff. (59 f.); s. auch unten Fn. 147. 133 Zu der Paradoxie, daß das Anliegen der Menschenrechte, der Schutz des Menschen, gerade „ihrem natürlichen Gegner4, der Staatsgewalt," anvertraut werden muß, s. Günter Frankenberg, Menschenrechte im Nationalstaat, in: ARSP 1988, Beiheft 33, 81 ff. (82, 84, 89 ff.). 134 Dazu H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde (1993), jetzt in: Verfassungsrechtliche Perspektiven (Fn.3), 104 ff. (107, 110 u. pass.); Lecheler, Menschenwürde (Fn. 18), 76; s. auch Geddert-Steinacher (Fn.93), 26, speziell zur Objekt-Formel s. 31 ff.; für eine allgemeine Darstellung und Analyse der Rspr. des BVerfG ebd., 136 ff. 135 BVerfGE, aaO; oder: „grausames, unmenschliches und erniedrigendes Strafen" vgl. E 45, 187 (228). 136 Angesichts der auffallenden Konzentration auf die Modalitäten der Verletzungshandlung spricht Alexander Blankenagel, Gentechnologie und Menschenwürde, in: KJ 1987, 379 ff. (387), auch von einem modalen Grundrecht: Die Menschenwürde sei kein weiteres Auffanggrundrecht wie Art. 2 Abs. 1 GG, da sie sonst im Verhältnis zu anderen Grundrechten strukturell Gleiches in genereller Form gewährleisten müßte. Tatsächlich sei Würde jedoch keine Handlung, sondern der Modus einer Handlung.

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würdigt wird". 1 3 7 Sie lehnt sich damit erkennbar an die ethischen Maximen Kants an, der in der Metaphysik der Sitten formulierte: „der Mensch kann von keinem Menschen (...) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit)". 1 3 8 Das Bundesverfassungsgericht greift die „Objekt-Formel" auch immer wieder ganz direkt auf, so etwa mit der Feststellung, daß dem Menschen „in der Gemeinschaft ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch" zukomme; deshalb widerspreche es „der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen". 139 Solche Würdeverletzungen werden nicht nur bei Folterungen, sondern auch bei Menschenversuchen oder körperlichen Strafen, um nur drei der in Literatur und Rechtsprechung gebildeten Fallgruppen herauszugreifen, bejaht. In anderen Bereichen wie der Gentechnologie wird diese Frage hingegen kontrovers diskutiert. 140 Sofern eine Würdeverletzung angenommen wird, soll diese nach heute 137

Dürig, in: Menschenwürde (Fn.20), 127 ff.; mit ausführlichen Erläuterungen der praktischen Bedeutung der „Objekt-Formel" ders., in: Maunz/Dürig, Rn. 28 zu Art. 1 Abs. 1 GG; ders., ebd., Rn. 34: „Es verstößt gegen die Menschenwürde, wenn der Mensch zum Objekt eines staatlichen Verfahrens gemacht wird". Bezogen auf Art. 100 Bay.Verf. („Würde der menschlichen Persönlichkeit") hatte vor Dürig bereits Josef Wintrich formuliert, daß danach „der Mensch auch in der Gemeinschaft und ihrer Rechtsordnung immer ,Zweck an sich selbst' (Kant) bleiben" müsse, „nie zum bloßen Mittel eines Kollektivs, zum bloßen Werkzeug oder zum rechtlosen Objekt eines Verfahrens herabgewürdigt werden" dürfe (vgl. Über Eigenart und Methode verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, in: Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit, FS f. Wilhelm Laforet, München 1952, 227 ff. [236]). 138 Vgl. Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, in: Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Sonderausg. auf der Grundlage des 5. reprograf. Nachdr. Darmstadt 1983 der Ausg. Darmstadt 1956, Bd. 7, §38, 600. Zu dem hier besonders deutlich hervortretenden begrifflichen Verweisungszusammenhang, in dem Menschheit, Würde und Persönlichkeit bei Kant stehen, s. Kersting (Fn. 48), 203 ff. mit Fn. 199. Zur Kant-Rezeption in der Objekt-Formel des BVerfG s. auch GeddertSteinacher (Fn.93), 31 ff., zusammenfassend 57, sowie H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 110 mit Fn.29, und insbes. auch die eingehende Untersuchung von Ralph Alexander Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants, Stuttgart/München u.a.O. 1993, bes. 271 ff., 280 ff., 285 ff. 139 BVerfGE 50, 166ff. (175); vgl. schon E9, 89ff. (95) und später E57, 250ff. (275); E 72, 105 ff. (116). Prinzipiell zustimmend Stern, Staatsrecht III/l (Fn.2), §58 II 3. c), S. 24 f. m.w.N.; a.A. Norbert Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, in: JuS 1983, 93 ff. m.w.N.; generell krit. auch H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 110 f., insbes. im Hinblick auf den Versuch im sog. Abhörurteil (E 30, 1 [26]) die „Objekt-Formel" um subjektive Momente zu ergänzen. 140 Zu weiteren Fallgruppen Dürig, Rn.30 zu Art. 1 I; Pieroth/Schlink (Fn.5), Rn. 361; bezogen auf das Problemfeld der Gentechnologie Blankenagel (Fn. 136) 383 ff.,

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überwiegender Auffassung auch direkt über Art. 1 Abs. 1 GG geltend gemacht werden können. Das heißt, der Norm wird insoweit echter Grundrechtscharakter zugestanden, und zwar gewährleiste dieses „Elementargrundrecht" den „Schutz der körperlichen, geistigen und sittlichen Person". 141 Die Gegenansicht argumentiert demgegenüber, daß eine Würdeverletzung stets auch die Verletzung eines Spezialgrundrechts impliziere und will auf dieser Grundlage - bei Verletzungen der körperlichen Integrität also etwa über Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG - den entsprechenden Grundrechtsschutz gewähren. 142 Im Ergebnis bleibt dieser Meinungsstreit für den Umfang des Rechtsschutzes somit ohne Konsequenzen. Bemerkenswert ist jedoch ein anderer Gesichtspunkt: Die genannten FallBeispiele für Würdeverletzungen zielen alle in irgendeiner Weise auf die Begrenzung staatlicher Gewaltanwendung und den Schutz der körperlichen und seelisch-geistigen Integrität des Menschen und reagieren dabei auf spezifische historisch erfahrene Gefährdungslagen. Doch wird mit dieser Fokussierung auf elementare Unrechts- und Verletzungserlebnisse des Menschen offenkundig erst die eine Seite des Bekenntnisses zu Menschenrechten als „Grundlage jeder staatlichen Gemeinschaft" erfaßt, denn darauf allein ließe sich noch kein freiheitliches Staatswesen gründen. Auch wenn natürlich das Folterverbot als konkretisierter Teilaspekt der durch Art. 1 Abs. 1 GG als staatliche Verpflichtung anerkannten Achtung der Menschenwürde - genauer: als Bestandteil des nach 385 ff. u. pass; s. dazu auch Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdbStR (Fn. 3), hier Bd. I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, 815 ff., §20, Rn.84ff., zu weiteren Bsp. Rn.93ff, 96 ff. Vor einem inflationären Gebrauch der Würdenorm warnt H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 104 f., 107; ähnlich Geddert-Steinacher (Fn. 93), 15 ff. (bes. 16), die einerseits eine Tendenz zur „Fundamentalisierung", andererseits eine Tendenz zur „Veralltäglichung" des Würdearguments diagnostiziert. Zur - oft nur beiläufigen - Behandlung in der Rspr. des BVerfG s. Michael Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dargestellt am Beispiel der Menschenwürde, in: Christian Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, Tübingen 1976, 405 ff., 414 ff. 141 So Isensee, Ausländer (Fn. 14), 77. Siehe zum Grundrechtscharakter des Art. 1 I (bejahend) Stern, Staatsrecht Bd. III/l (Fn.2), S. 351 ff., §63 III 2. a) m.w.N; ebenso Pieroth/Schlink (Fn.5), Rn.350; BVerfGE 15, 249 (255); 15, 283 (286); 28, 243 (263) 61, 126 (137); dagegen Dürig, Menschenwürde (Fn.20), 118 ff.; ders., in: Maunz/Dürig, Rn. 13 zu Art. 1 I.; ausfuhrlich Werner Krawietz, Gewährt Art. 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung und Schutz seiner Würde?, in: Dieter Wilke/Harald Weber (Hg.), Gedächtnisschrift f. Friedrich Klein, München 1977, 245 ff. Aus der neueren Lit. (ebenfalls ablehnend) Geddert-Steinacher (Fn.93), 167ff. m.w.N.; s. auch Madert-Fries (Fn.47), 63 ff. 142 So z.B. Geddert-Steinacher (Fn.93), 167ff. (bes. 169, 171, 172f., 175, 200 mit These Nr. 28, 29).

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den schrecklichen Erfahrungen mit der NS-Barbarei nicht mehr hintergehbaren rechtskulturellen Standards - unverzichtbar ist, geht doch der Sinn des in seiner Bedeutung als „Staatsfundamentalnorm" (H. Nawiasky) bzw. „Staatsfundamentierungsnorm" (H. Hofmann) zu Recht immer wieder hervorgehobenen Menschenwürdesatzes143 darin oder in sonstigen aus dem Verletzungstatbestand heraus gebildeten Fallgruppen nicht auf. Vielmehr ist es darüber hinausgehend die positive Dimension des in der Kantischen Traditionslinie die Würde des Menschen allererst begründenden und für die Neuzeit schlechthin konstitutiven Gedankens von der Autonomie des Individuums, 144 der dem Menschenwürdesatz als positive inhaltliche Vorgabe das Format einer staatsgrundsätzlichen Norm verleiht: An der Spitze der menschenrechtlich fundierten Verfassung steht damit das Axiom, daß der Mensch als Mensch mit dem Recht auf Selbstbestimmung ausgestattet, also von Rechts wegen sein eigener Herr sei. 145

143

Abstrakt umrissen in: Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2.Aufl. Einsiedeln/Köln 1948, 3Iff. (33); vgl. auch ders., Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart/Köln 1950, 122. Demgegenüber soll die vom BVerfG und Teilen der Lit. übernommene Bezeichnung als „oberstes" oder „tragendes Konstitutionsprinzip" (vgl. nur E6, 32 [36]; 30, 173 [193]; 32, 98 [108]; 45, 187 [227]; 50, 166 [175]; 72, 105 [115]; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn. 11 zu Art. 1 I) auf J. Wintrich zurückgehen (vgl. Fn. 137); dazu und zu weiteren Charakterisierungen s. H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 106 f., der seinerseits die Menschenwürdegarantie als „Staatsfundamentierungsnorm" (aaO, 119) von der universellen Idee der Menschenwürde als einem moralischen Motiv für verfassungsrechtliche Regelungen unterscheidet, u. Stern, Staatsrecht III/l (Fn. 2), 22 ff. (bes. 23,28). 144 Dazu eingehend Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, Stuttgart 1977, bes. 99 ff. zur „Inthronisation des autonomen Individuums"; ders., Demokratiebegründung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität, in: J. Schwartländer (Hg.), Menschenrechte und Demokratie, Kehl a. Rhein 1981, 99 ff. (100). Zur Autonomie als zentralem Begriff der Begründung der Würde bei Kant s. Geddert-Steinacher (Fn. 93), 31 ff. (bes. 32 f., 57 f., 86 f., 91 f.); ausführlich Lorz(Fn. 138), bes. 114 ff., 119 ff., u. pass. 145 Kielmansegg, Demokratiebegründung (Fn. 144), aaO. Zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und Menschenwürde s. auch Werner Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, Frankfurt a.M. 1968, bes. 29 ff.; ders., Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: Handbuch des Verfassungsrechts, hg. v. Ernst Benda/dems./HansJochen Vogel, 2. Aufl. Berlin/New York 1994, § 12, 427ff., bes. Rn. lOOff. (106): „Garantie der Menschenwürde heißt darum Gewährleistung der Autonomie der Person". Ulrich Klug, Autonomie, Anarchie und Kontrolle, in: Rechtsstaat und Menschenwürde, FS f. Werner Maihofer, hg. v. Arthur Kaufmann/Ernst-Joachim Mestmäcker/Hans F. Zacher, Frankfurt/M. 1988, 235 ff., stellt einleitend fest, daß die „Annahme, daß Autonomie, das Selbstbestimmungsrecht des Menschen, zu den höchsten Rechtswerten im freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat zählt", nahezu unbestr. sei und sich aus Art. 1 und 2 GG herleiten lasse.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Die Menschenrechte, zu denen wir uns „darum", d.h. um der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde willen, in Art. 1 Abs. 2 GG bekennen, greifen die beiden genannten Aspekte der Menschenwürde - also sowohl Elemente der negativen, als auch der positiven inhaltlichen Bestimmung des Begriffs - auf und konkretisieren sie zu Rechten, die entweder stärker um den (aus der Sicht des Individuums) „passiven" Pol des Schutzes und der Sicherheit, der Bewahrung seiner körperlichen und seelisch-geistigen Integrität oder um den „aktiven" Pol der Freiheit des Menschen zentriert sind. Geht es um den Schutzaspekt, so setzen sie rechtsverbindliche Standards, die in negativer Form fixieren, in welcher Weise die öffentliche Gewalt mit dem Menschen unter keinen Umständen verfahren darf. Sie formen damit - da der direkte Zugriff auf Art. 1 Abs. 1 GG eine Ausnahme bleiben muß - den in der schutzbezogenen Anwendung der „Objekt-Formel" (nicht ihrer theoretischen Fundierung!) verkörperten Gedanken, der auf die Abwehr spezifischer Würdeverletzungen durch staatliches Handeln etwa bei Verhaftungen, im Strafprozeß oder im Strafvollzug zielt, in einzelnen Rechten näher aus. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß diese Rechte aus konkreten Unrechtserfahrungen heraus formuliert wurden und daher in erster Linie gegen einen Mißbrauch der Staatsgewalt schützen sollen. Damit soll keineswegs bestritten werden, daß ihre Verletzung in der Regel mit einer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts einhergehen wird - die Objekt-Formel selbst ist ja letztlich nur eine negative Fassung des AutonomieGedankens, gewissermaßen ihr Spiegelbild - aber diese Rechte ließen sich, wie ein Blick auf ihre historischen Ursprünge lehrt, aufgrund ihres primär defensiven Charakters auch formulieren, ohne daß der Grundsatz der Selbstbestimmung des Menschen notwendigerweise zugleich zum Prinzip der Konstitution erhoben werden müßte. Die um den „passiven" Pol des Schutzes kreisenden Rechte vom Habeas-Corpus-Typ haben durch die „Objekt-Formel" also eine neue, ja, spezifisch neuzeitliche Einkleidung erhalten; typusprägend ist jedoch weniger der in dieser Formel in negativer Wendung enthaltene Autonomie-Gedanke als vielmehr der auf historisch-konkrete Unrechtserfahrungen reagierende Schutzcharakter. Neben den schon aufgeführten Beispielen lassen sich hier etwa der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) oder der Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit unter dem Blickwinkel der Freiheitsentziehung konkretisierende Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG nennen. Anderes, wie beispielsweise das Verbot von Sklaverei oder Leibeigenschaft, erscheint uns so selbstverständlich, daß es im Grundgesetz nicht mehr ausdrücklich formuliert wird, wohl aber auf völkerrechtlicher Ebene (so unter anderem in Art. 8 IPbürgR). 146

146

Vgl. Fn. 110; ebenso schon Art. 4 der - allerdings nicht rechtsverbindlichen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 (Fn. 108). Speziell zum

I. Menschen- und Bürgerrechte

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Soweit die Menschenrechte in dieser Form auf elementare Verletzungserlebnisse reagieren und Schutz gegen einen Mißbrauch der Staatsgewalt bieten, zielen sie auf den Gegenbegriff des „ Unrechts" und bilden, staatsrechtlich gewendet, das unverbrüchliche Fundament einer rechtsstaatlichen Ordnung. Andererseits schützen die Menschenrechte - der positiven inhaltlichen Vorgabe des Menschenwürdebegriffs folgend - aber auch ganz direkt die Freiheit des Menschen, lassen sich somit im Sinne der von H. Hofmann herausgearbeiteten Dichotomie auf den Gegenbegriff der „Heteronomie " 1 4 7 hin bündeln. Gerade diese den bahnbrechenden Gedanken der Autonomie, der Freiheit des Menschen, für einzelne Bereiche positiv umsetzenden und konkretisierenden Rechte sind es, die als „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" (Art. 1 Abs. 2 GG) dem zu errichtenden Staatswesen eine positive Dimension eröffnen, es auf die Freiheit des Menschen als Staatszweck hin orientieren. 148

Schutz vor Sklaverei und Sklavenhandel s. das Übereinkommen betreffend die Sklaverei vom 25.9.1926 (LNTS Bd. 60, 253; RGBl. II, 1929, 64), geändert durch Protokoll vom 7.12.1953 (UNTS Bd. 182, 51; BGBl. II, 1972, 1070) sowie das Zusatzübereinkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7.9.1956 (UNTS Bd. 266, 40; BGBl. II, 1958, 205). Zu völkerrechtlichen Folterverboten s. die Nachw. bei Frankenberg (Fn. 133), 85, Fn. 16. Was das Grundgesetz anbelangt, so lassen sich die Verbote von Sklaverei und Leibeigenschaft ebenso wie das schon erwähnte Folterverbot unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG entnehmen, s. dazu und zu dem Versuch, die als Eingriff in die Menschenwürde anerkannten Fallgruppen verschiedenen Bereichen spezifischer Gefährdungen zuzuordnen Pieroth/Schlink (Fn. 5), Rn. 361. 147 Siehe H. Hofmann, Autonomieansprüche (Fn. 132), 5Iff. (59f.); ders., Rechtsstaat (Fn. 1), 19. Meist klingt diese Unterscheidung in der menschenrechtlichen Literatur nur undeutlich an, s. etwa Frankenberg (Fn. 133), 82 u. 84 f., der einerseits „die Freiheit der Individuen" als das „ursprünglich bestimmende Motiv der Menschenrechte" anführt, die „die Gegenwart der autonomen Person in der allseitig gesicherten Entfaltung von Subjektivität (versprechen)", andererseits aber schreibt: „Die Ursprungsidee der Menschenrechte zielt (...) darauf ab, jedes Individuum vor unmenschlichen und grausamen staatlichen Behandlungen in Schutz zu nehmen", und den Schutz vor Folter als Prototyp eines „Rechtes aller Menschen in allen Situationen" im Sinne Cranstons (Fn. 7) benennt. 148 Unser Staatswesen kann sich nicht nur negativ, d.h. in Abgrenzung zu einem „Unrechtsstaat" definieren, sondern legitimiert sich insbesondere positiv ütyer seine Ziele. In diesem Sinne schreibt auch H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 107, bezogen auf die Menschenwürde als „Staatsfundamentierungsnorm" (aaO, 115 ff., 119) sie lasse sich „schwerlich auf das Verbot von Folter, Minderheitenverfolgung, Menschenversuchen (...) u.s.w. beschränken. (...) der Sinn bundesrepublikanischer Staatlichkeit geht darin nicht auf. Die Frage nach der Rechtfertigung des Staates - und damit verbunden nach dem Telos dieser Staatlichkeit - wurde aber in der Tat erst nach der Indienstnahme des Staates für mörderische Ziele, der „Auflösung der Rechtsstaatlichkeit im Säurebad der Ideologien" (C. Link) wieder als drängend empfunden, was sich u.a. in den frühen

6 0 1 .

Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Kann die grundlegende Freiheitsbestimmung des Menschen sich aber nur im Staat verwirklichen, so handelt es sich bei diesen beiden mehr oder minder deutlich voneinander unterscheidbaren Kristallisationspunkten des Würdeversprechens und der „darum" anerkannten Menschenrechte letztlich doch nur um zwei Seiten derselben Medaille: Der mit der Garantie der Menschenwürde und der Positivierung von Menschenrechten gewährleistete Schutz der körperlichen und geistig-seelischen Integrität des Menschen und seiner personalen Identität ist notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Realisierung des ebenfalls dort angelegten bzw. axiomatisch vorausgesetzten und im folgenden durch einzelne Rechte für je verschiedene Bereiche konkretisierten Freiheitsaspekts. Der passiven Seite des Schutzes, die bestimmte Modalitäten des Behandelt-werdens seitens des Staates ausschließt, korrespondiert eine aktive Seite, die unmittelbar auf die Möglichkeiten eigenen selbstbestimmten Handels des einzelnen - im Rahmen der gleichen Freiheit aller anderen - zielt, den Staat aber nach dem heutigen Stand auch verpflichtet, nötigenfalls die Voraussetzungen für den Gebrauch individueller Freiheit allererst zu schaffen und dann fortdauernd zu sichern. Diese Orientierung auf die positive Dimension des Autonomieprinzips schließt, nebenbei bemerkt, natürlich auch die Aktivbürgerrechte ein: Spricht man in diesem Zusammenhang von Menschenrechten, so sind die Rechte des Menschen als (Staats-)Bürger gemeint. Ganz in diesem Sinne erkennt auch Art. 25 des Menschenrechtspaktes der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) von 1966 jedem „Staatsbürger" (und nicht etwa jedem Menschen) politische Mitwirkungsrechte, das Wahlrecht und das Recht des gleichen Zugangs zu öffentlichen Ämtern zu. Dem universalistischen Anspruch des Rechtsstaates entsprechend sind die erstgenannten, auf elementare Unrechtserfahrungen des Menschen antwortenden Rechte - einschließlich des in Art. 1 Abs. 1 GG enthaltenen „Elementargrundrechts" (Isensee) - nach unserem Verständnis universell und absolut, d.h. es wäre völlig undenkbar, in diesem Bereich eine Beschränkung auf Deutsche vorzunehmen; und tatsächlich geschieht das ja auch nicht. 149 Ganz abgesehen davon, daß dies rechtskulturell einem (erneuten) Rückfall in die Barbarei gleich käme, folgt es verfassungsrechtlich schon daraus, daß in dem Umfang, in dem der Schutzbereich dieser Rechte sich mit dem des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG deckt, die dort garantierte (und durch Art. 79 Abs. 3 GG zusätzlich abgesicherte) „Unantastbarkeit" der Landesverfassungen widerspiegelt; dazu eingehend Christoph Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, in: VVDStRL 48 (1990), 7 ff. (bes. 12 f.; 18 f., 42 ff. m.w.N). 149 So stellt z.B. Isensee, Ausländer (Fn. 14), 77, bezogen auf das in der Menschenwürde enthaltene „Elementargrundrecht" des „Schutz(es) der körperlichen, geistigen und sittlichen Person" fest, daß dies „unantastbar auch dem Ausländer zusteht". Allgemein zum Universalitätsanspruch des Rechtsstaates H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1).

I. Menschen- und Bürgerrechte

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Würde des Menschen dies verbieten würde. 150 Denn die absolute Geltung beanspruchende Unantastbarkeit im Sinne des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG bezieht sich ja gerade auf die Ergebnisse einer negativen Bestimmung des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs; in den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar4, so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen". 151 Nur insofern kann der Verbotssatz des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG die ihm zugedachte Funktion erfüllen, den rechtskulturell erreichten Standard zu sichern bzw. eine unüberschreitbare „Tabugrenze" zu markieren. Diese Funktion heben insbesondere Pieroth und Schlink zu recht hervor und umschreiben sie mit den Worten, daß unsere Gesellschaft sich eben darin einig sei, „daß gewisse Weisen des Umgangs der öffentlichen Gewalt mit dem Menschen schlechterdings unerträglich sind". 152 Diese Formulierung fangt im Grunde genommen die als Würdeverletzungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG qualifizierten Fallgruppen 153 sehr viel besser ein als die mit dem Namen Dürigs verbundene sog. „Objekt-Formel". Das mag daran liegen, daß die „Objekt-Formel" in das Bezugsfeld des Kantischen Freiheitsethos und für Kant zentralen Begriffs der Autonomie eingebettet ist, während bei einer Definition der Menschenwürde aus dem Verletzungstatbestand heraus zur Sicherung des rechtskulturell erreichten Standards daneben oder dahinter ganz und gar „unkantisch" auch auf historisch-konkrete Erfahrungen elementaren Unrechts zugegriffen wird - ein Vorgang, der sich als solcher auch nicht auf eine abstrakte Formel bringen lassen dürfte. Wenn die „ObjektFormel" dennoch häufig zu passen scheint (ohne doch immer den Kern der Sache zu treffen), so liegt das wohl teils an ihrer Unbestimmtheit, teils daran, daß in Fällen schreienden Unrechts regelmäßig zugleich das Selbstbestimmungsrecht des Menschen mit Füßen getreten wird. Dennoch läuft die mit dem Versuch, theoretisch alles auf eine einzige „Formel" zu bringen, verbundene Ausblendung aller über den Autonomiegedanken hinausgehenden Aspekte auf eine Verkürzung des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs hinaus, die auch den in Rechtsprechung und Schrifttum gebildeten Fallgruppen letztlich nicht in vollem Umfang gerecht wird. 1 5 4 150

Vgl. Isensee, aaO. Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde s. etwa GeddertSteinacher (Fn. 93), 79 ff. m.w.N.; Maihofer, Rechtsstaat (Fn. 145), 17 ff. 151 Vgl. dazu BVerfGE 1, 97 (104). 152 Vgl. Pieroth/Schlink (Fn. 5), Rn. 358. 153 Und nur um solche verpönten staatlichen Handlungsweisen kann es gehen, denn das mit Art. 1 Abs. 1 GG an die Spitze der Verfassung gesetzte Axiom, daß der Mensch als Mensch mit dem Recht auf Selbstbestimmung ausgestattet sei, ist als solches empirisch gar nicht verletzbar; dazu H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 107 f., Fn. 17. 154 In diese Richtung zielte bereits die Kritik Peter Lerches, der damals Dürig vorwarf, er reduziere den Würdebegriff auf ein Mindestmaß an „Freiheit"; vgl. Übermaß

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Soweit es hingegen nicht um den durch die Menschenwürdegarantie als „Tabu-Grenze" allen Menschen unabhängig von der Staatsangehörigkeit unverbrüchlich gewährleisteten Schutz, sondern um die positive inhaltliche Vorgabe des Würdebegriffs als Direktive für sämtliche Verfassungsbereiche, insbesondere auch die Grundrechte, geht, wäre der in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG gebrauchte Begriff der Unantastbarkeit sicherlich fehl am Platz: Die grundlegende Freiheitsbestimmung des Menschen ist nicht über eine statisch verstandene Sicherung im Sinne des Verbotssatzes des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG einzulösen, sondern bedarf der weiteren Entfaltung und Konkretisierung oder auch positiven Unterstützung durch staatliches Handeln, das erst die Voraussetzungen des Grundrechtsgebrauchs schafft. Im Blick auf den Zusammenhang zwischen Menschenwürde, Autonomie, Personalität und Sozialität des Menschen, der positivrechtlich in den Freiheitsrechten in einer je nach deren historischer Genese und den bereichsspezifischen Besonderheiten ganz unterschiedlichen Weise ausgeformt worden ist, zeigt schon die für den (einfachen bzw. verfassungsändernden) Gesetzgeber bestehende Notwendigkeit, Grundrechte mit normgeprägtem Schutzbereich wie etwa Art. 14 GG einfachgesetzlich näher auszugestalten, daß die positive inhaltliche Vorgabe des Würdebegriffs nicht unantastbar und absolut sein kann. Vielmehr fungiert sie innerhalb eines gewissen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums als Leitmotiv, enthebt den Gesetzgeber aber nicht von der Aufgabe, dem Grundrechtsgebrauch unter Berücksichtigung kollidierender öffentlicher oder privater Güter Schranken zu ziehen, und nimmt ihm auch nicht die Möglichkeit, gegebenenfalls sogar ein Grundrecht neu zu fassen. Darüber hinaus leitet dieser positive Gehalt im Sinne der oft beschworenen „Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde" aber auch die Auslegung bzw. Fortbildung von Grundrechten an. 155 Schutzbereichserweiternd wirkt die Menschenwürde als Prinzip der Grundrechtsinterpretation danach vor allem dann, wenn neue, von den Grundrechten bis dato noch nicht erfaßte Gefährdungen der Eigenständigkeit und Autonomie des Menschen auftreten wie und Verfassungsrecht, Köln u.a.O., 1961, 2. Aufl. 1999, 244, Fn.340. Denn ebensowenig wie die philosophisch sehr alte Idee der Menschenwürde mit logischer Konsequenz in den liberalen Freiheitsentwurf einmündet, dieser vielmehr unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart in der westlichen Welt ihre geschichtliche Konsequenz ist (Isensee,Wahrheit [Fn. 35], bes. 66 f.), kann der verfassungsrechtliche Würdebegriff selbst unter den heutigen Bedingungen und trotz der weitgehenden KantRezeption allein aus der Perspektive der gleichen rechtlichen Freiheit des Menschen verstanden werden. 155 Zur Ausstrahlungswirkung Lecheler, Menschenwürde (Fn. 18), 78; ähnlich Isensee, Ausländer (Fn. 14), 77 („Direktive"); s. allgemein auch Reinhold Zippelius (Drittbearb., 57. Lfg., Dez. 1989), in: Dolzer, Rudolf/Vogel, Klaus (Hg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1: Einleitung - Art. 5, Heidelberg, Stand: 94. Lfg., Nov. 2000, Rn. 13 f., 19 ff. zu Art. 1 I und II.

I. Menschen- und Bürgerrechte dies etwa bezüglich des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes im Zuge der Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechniken (Stichwort: informationelle Selbstbestimmung) der Fall war. 156 Demzufolge ist auch hinsichtlich des Meinungsstreits, 157 ob die Uneinschränkbarkeit der Menschenwürde im Sinne eines Verbots jeglicher Abwägung mit anderen Rechtsgütern zu verstehen sei oder aber auch hier eine Differenzierung zwischen Grundrechtstatbestand, -schranken und SchrankenSchranken feststellbar und sie somit prinzipiell einer Abwägung zugänglich sei, 158 zwischen der negativen Definition der Menschenwürde aus dem Verletzungstatbestand heraus und ihrer auf den Gegenbegriff der „Heteronomie" bezogenen bzw. am Autonomiegedanken orientierten positiven Dimension zu differenzieren: Während sie in ihrer auf den Gegenbegriff des „Unrechts" bezogenen Funktion als Tabugrenze in der Tat jede Abwägung verbietet, ist sie in ihrer positiven Dimension einer Abwägung durchaus zugänglich. Dieser Befund läßt sich auch in den Begriffen der von Alexy vertretenen Prinzipientheorie ausdrücken. Alexy unterscheidet zwischen einer Menschenwürde-Regel und einem Menschenwürde-Prinzip und stellt fest, daß nicht das Prinzip, sondern nur die Regel „absolut" sei. Daher müsse einerseits in die Grundrechtsnorm der Menschenwürde keine Schrankenklausel eingefügt werden, andererseits könne aber dennoch eine Abwägung zwischen dem Prinzip der Menschenwürde und anderen Verfassungsprinzipien stattfinden. 159 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß negative und positive Bestimmung des Würdebegriffs sich nicht nur hinsichtlich der Definitionsstrategie, sondern auch bezüglich der materiellen Leitbegriffe - einerseits Abwehr von

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Eine eingehende Analyse der Auswirkungen der interpretatorischen Verknüpfung eines speziellen Grundrechts mit der Menschenwürde in der Rspr. des BVerfG liefert Geddert-Steinacher (Fn. 93), 136 ff. 157 Siehe für einen Überblick über den Streitstand Geddert-Steinacher (Fn. 93), 81 ff. 158 So etwa Kloepfer, Grundrechtstatbestand (Fn. 140), 416 ff., bes. 419 zur Kategorie der Angemessenheit, mit der Gedankengut des Übermaßverbots an Art. 1 I GG herangeführt werde. 159 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1986, 3. Aufl. 1996, insbes. 97 mit Fn. 69. Diese Zweigleisigkeit zeigt sich im übrigen auch in der Rspr. des BVerfG: Teils verwendet es einen engen, absoluten Würdebegriff (in der Diktion Alexys enthält die Definition des Verletzungstatbestandes hier bereits die Vorrangentscheidung zugunsten der Menschenwürde), teils geht es von einem weiten Würdebegriff aus, der auf einer weiteren Prüfungsstufe im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt wird (dazu insbes. Kloepfer, aaO, m.w.N.). Für eine Rechtsprechungsanalyse s. auch Geddert-Steinacher (Fn.93), 1. u. 3. Kap., bes. 51 ff., 59, 83 ff., 92, die die Verwendung des weiten Würdebegriffs allerdings für unvereinbar mit dem Absolutheitsanspruch der Menschenwürde hält.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Verletzungen durch staatliche Handlungsweisen, die historisch als elementares Unrecht erfahren wurden (oder sich prospektiv so darstellen), andererseits das Prinzip individueller Autonomie, der Entfaltung der Personalität des Menschen durch eigenes selbstbestimmtes Handeln - unterscheiden. Weitere Unterschiede zeigen sich in der Funktion als Tabugrenze bzw. Direktive sowie der rechtlichen Gestalt als eigenes Elementargrundrecht bzw. als Prinzip der Grundrechtsinterpretation. Ungeachtet des Ergänzungsverhältnisses, in dem beides zueinander und dem in der Würde verkörperten Eigenwert des Menschen steht, geht es also nicht nur um die Frage, wie man sich dem Begriff der Würde nähert; vielmehr bestehen inhaltliche Differenzen: Die sogenannte „Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde" hat einen völlig anderen Kristallisationspunkt als die Definition der Würde aus dem Verletzungstatbestand heraus. Wie sollte beispielsweise auch das Verbot von Menschenversuchen oder allgemein die Vorstellung darüber, wie der Staat mit dem Menschen keinesfalls verfahren darf, auf die Auslegung anderer Grundrechte „ausstrahlen" können? Folgerichtig wird das Verbot der menschenunwürdigen Behandlung direkt in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG abgesichert, während die Essenz dessen, was als Ausfluß einer positiven Vorstellung von Würde im Zusammenspiel mit Autonomie, Personalität und Sozialität des Menschen in den einzelnen Grundrechten Niederschlag gefunden hat, erst am Ende des Grundrechtskatalogs von der Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG erfaßt wird. Dort taucht dann im übrigen auch der Begriff der Unantastbarkeit, und zwar als äußerste Grenze gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit, 160 in anderer sprachlicher Fassung („In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden") wieder auf. 161 Dabei kann zunächst offen bleiben, ob der auch vom Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang thematisierte letzte „unantastbare Kernbereich menschlicher Freiheit" 162 absolut 160

Vgl. BVerfGE 31, 58 (69): „denn die mit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG normierte äußerste Grenze betrifft die Fälle, in denen der Gesetzgeber zur Einschränkung eines Grundrechts ermächtigt ist". Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn. 81 zu Art. 1 II, spricht von der „Wesensgehaltssperre"; s. auch Geddert-Steinacher (Fn. 93), 188 f. (gestuftes System der Kernbereichssicherung gegenüber dem einfachen Gesetzgeber über Art. 19 II, gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber durch Art. 79 III i.V. m. Art. 1 u. 20). 161 Den Begriff des „Antastens" verwendet das Grundgesetz nur in in dieser negativen Form eines Verbots und auch nur in Art. 1 Abs. 1 S. 1 und begrifflich analog in Art. 19 Abs.2; s. dazu Pieroth/Schlink (Fn.5), Rn.223, u. Geddert-Steinacher (Fn.93), 81, 179; vgl. auch Dürig, Menschenwürde (Fn.20), bes. 121: „gesetzestechnische Schlußklammer zu Art. 1 I und II". 162 Vgl. BVerfGE 6, 32 (41), wo das Gericht feststellt, daß dem einzelnen „eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten

I. Menschen- und Bürgerrechte zu bestimmen ist oder es, wie beispielsweise Häberle meint, schlicht um jenen Bereich geht, „von dem ab es fraglos keine legitimen grundrechtsbegrenzenden gleich- oder höherwertigen Rechtsgüter mehr gibt". Ebenso kann dahinstehen, ob Art. 19 Abs. 2 GG nun konstitutiv oder bloß deklaratorisch wirkt, indem er sonstige, in der Verfassung schon zum Ausdruck gekommene Prinzipien nur noch einmal zusammenfaßt und auf eine „Formel" bringt. 163

(2) Insbesondere: Würdenorm und Deutschenrechte Auf dieser Basis läßt sich nun besser einordnen, was die besondere Problematik der Deutschengrundrechte vor dem Hintergrund der Menschenwürdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG ausmacht: Obgleich die in Art. 8, 9 Abs. 1,11 und 12 Abs. 1 GG garantierten Freiheiten von vornherein in einem Bezug zur Menschenwürde stehen, da sie in den Zusammenhang von Würde, Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung - einzeln oder in Gruppenform - eingebettet sind, bietet dieser Menschenwürdebezug als solcher zunächst einmal noch keinen konkreten Anknüpfungspunkt für einen Grundrechtsschutz von Ausländern bei Freiheitsbetätigungen im sachlichen Schutzbereich der Deutschengrundrechte. 164 Dies mag angesichts des Umstandes, daß die Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG doch alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes einschließt, ein gewisses Unbehagen bzw. das unterschwellige Gefühl einer Unstimmigkeit auslösen, doch ist da einerseits der eindeutige Wortlaut der Deutschengrundrechte, andererseits die mit der Metapher von einer Interpretation der Grundrechte im „Lichte der Menschenwürde" ganz gut wiedergegebene, eher diffuse Wirkung der Würdenorm in ihrer positiven Dimension. Anders als bei der negativ ansetzenden Definition der Menschenwürde aus dem Verletzungstatbestand heraus beansprucht der Menschenwürdesatz hier gerade keine „absolute" öffentlichen Gewalt entzogen ist"; s. auch E 6, 389 (433); E 7, 198 (220 f.); E 8, 274 (328 f.); E 10, 55 (59) u. E34, 238 (245) („absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung"). 163 Dazu Peter Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, Karlsruhe 1962, 58 ff. (64), der die Frage „absolute" oder „relative" Wesensgehalttheorie ohnehin für eine Scheinalternative hält; zur nur deklaratorischen Bedeutung des Art. 19 II, die aber in Zeiten, in denen es an einer differenzierten Grundrechtsinterpretation fehle, eine konstitutive werden könne, aaO, bes. 234 f. 164 Isensee, Ausländer (Fn. 14), 77, führt zur Begründung an, daß die Besonderheiten der konkreten Verfassungsbereiche nicht durch einen undifferenzierten Rückgriff auf das Prinzip der Menschenwürde durchbrochen werden dürften. Es könne nicht jede Ausprägung der Menschenwürde mit der Menschenwürde selbst identifiziert werden. Die jeweilige positivrechtliche lex und die menschenrechtliche ratio legis seien auseinanderzuhalten. 5 Siehr

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Geltung, sondern wirkt lediglich als Direktive, verstärkt im Rahmen der Grundrechtsinterpretation jene Aspekte, die in einer besonderen Nähe zur Menschenwürde stehen, ohne damit aber etwa die Möglichkeit von Freiheitsbeschränkungen generell auszuschließen. Abgesehen von der schon angesprochenen Möglichkeit der Schutzbereichserweiterung eines Grundrechts wird der mehr oder minder starke Menschenwürde· und Persönlichkeitsbezug vielmehr vor allem dann, wenn es um die Verhältnismäßigkeit einer Freiheitsbeschränkung geht, eine Rolle spielen, indem er insbesondere im Rahmen der auf der dritten Prüfungsstufe durchzuführenden Abwägung (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) die Gewichtung der jeweils einschlägigen privaten und öffentlichen Güter und Belange beeinflussen wird. 1 6 5 Dies gilt zumindest dann, wenn man unter „Freiheit" nicht ausschließlich „Staatsfreiheit" versteht 166 - was mangels inhaltlicher Kriterien jedes Gewichten unmöglich macht - sondern sich mit dem Bundesverfassungsgericht darum bemüht, das Schutzgut des jeweiligen Spezialgrundrechts positiv zu umreißen, also Sinn und Gehalt der geschützten Freiheit zu bestimmen und so für die Überprüfung einschränkender Gesetze einen inhaltlichen Maßstab zu gewinnen. Deutlich wird das am Beispiel des Deutschengrundrechts der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Wie oben ausgeführt wurde, ist diese von Anfang an als Garantie selbstverantwortlicher Existenzgestaltung und der gerade über den Beruf zu realisierenden Persönlichkeitsentfaltung in eine besondere Nähe zur Menschenwürde gerückt worden. Dem suchte das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner im Apothekenurteil entwickelten Stufenlehre bezogen auf Regelungen der Berufsausübung, subjektive Zulassungsvoraussetzungen und objektive Zulassungsschranken als drei Stufen zunehmender Eingriffsintensität durch steigende Rechtfertigungsanforderungen differenziert Rechnung zu tra-

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Krit. gegenüber einer solchen Abwägung Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 1976. Auch wenn man ihm jedoch darin recht gibt, daß die Entscheidungen des BVerfG sich größtenteils als bloße Anwendung der Gebote der Eignung und Erforderlichkeit verstehen lassen (so bezogen auf Art. 12 GG, aaO, 48 ff., bes. auch 54 f., 59 ff.), und in der präziseren Herausarbeitung der Zweck-Mittel-Relation sicherlich ein Rationalitätsgewinn liegt, ist zu bezweifeln, daß eine Gewichtung der beteiligten Güter und Belange vermieden werden kann - sie wird zumindest in die Maßstäbe der Eignung und Erforderlichkeit einfließen; s. dazu auch Pietzcker (Fn. 95), 552. 166 Wie Pietzcker, aaO, 551 f., treffend feststellt, läßt sich der Wert der Staatsfreiheit nicht gewichten, ist immer gleich groß; und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als solcher ist, wenn er von Sinn und Gehalt der in dem jeweiligen Grundrecht geschützten Freiheit abgelöst wird, ebenfalls leer, enthält aus sich selbst heraus also keinerlei Kriterien für eine Abwägung.

I. Menschen- und Bürgerrechte gen. 167 Die Stufenlehre ist also das Ergebnis einer strikten und zugleich differenzierten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Übermaßverbot) im Blick auf die vom Gemeinwohl her gebotenen Eingriffe in die Berufsfreiheit. 168 Dabei gewinnt die Prüfiingsabfolge Ziel und Richtung aus der Bestimmung des Schutzgutes als „Entfaltungsfreiheit im Beruf 4 : Je stärker ein Gesetz die personale Entfaltung beeinträchtigt - und dies kann von Stufe zu Stufe typischerweise vorausgesetzt werden - desto höhere Anforderungen an Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne werden gestellt. Gleichwohl sind derartige Beschränkungen sogar auf der Stufe der dem Einfluß des einzelnen „schlechthin entzogenen" objektiven Berufszulassungsbedingungen nicht etwa schon auf Grund des engen Zusammenhanges, in dem Art. 12 Abs. 1 GG mit den allgemeinen Gewährleistungen von Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und freier Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) steht, 169 ausgeschlossen. Ein - freilich stark verengter - Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bleibt selbst auf dieser Stufe noch bestehen. Mit anderen Worten: Selbst auf der Stufe, auf der sich der Menschenwürdebezug des Art. 12 Abs. 1 GG am stärksten verdichtet hat, ist dieser keineswegs „unantastbar" im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG. Daher könnte ein Ausländer (aus einem Nicht-EG-Staat) einer berufsbeschränkenden Regelung für Nichtdeutsche auch nicht etwa wegen der besonderen Bedeutung „von Arbeit als ,Beruf ", der „für alle gleichen Wert und gleiche Würde" haben soll, 170 den Einwand der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) entgegenhalten. Vor diesem Hintergrund fragt sich, welche Bedeutung der Menschenwürdebezug der Berufsfreiheit für diesen Ausländer dann überhaupt haben kann. Zwar reagiert die im Hinblick auf das Grundrecht der Berufsfreiheit entwickelte Stufenlehre, wie oben dargelegt, auf die Spannungslage, die sich aus der von der Regelung der Berufsausübung zur Berufswahl regelmäßig wachsenden personalen Bedeutung und Nähe zur Menschenwürde ergibt, doch kann der Ausländer oder Staatenlose, der nicht Träger dieses Grundrechts ist, dies nicht geltend machen. Der Menschenwürdebezug, der gemäß Art. 1 Abs. 1 GG „an sich" alle Menschen meint und insofern gleiche Berücksichtigung aller verlangt, läßt sich aus dem Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG, das mit seinem Deutschenvorbehalt gerade eine Privilegierung der Deutschen ermöglichen soll, eben nicht isolieren. 167 BVerfGE 7, 377 ff.; s. dazu die Analyse bei Schlink, Abwägung (Fn. 165), 48 ff.; vgl. auch Pietzcker, aaO; allgemein zum Menschenwürdebezug der Berufsfreiheit oben bei Fn. 95 ff. 168 BVerfGE 13, 97 (104) und - der Sache nach - BVerfG 7, 377 (404 f.); s. aber auch BVerfGE 78, 179 ff. (193) m.w.N.; vgl. dazu auch Häberle, Wesensgehaltgarantie (Fn. 163), 67 ff. (68 f.). 169 Vgl. statt vieler Scholz, in: Maunz/Dürig, Rn. 9 zu Art. 12. 170 Vgl. BVerfGE 7, 377 (397); E 50, 290 (362).

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Beides läuft zunächst einmal beziehungslos nebeneinander her: Zum einen fehlt es aus der Perspektive der Würdenorm an einem Bezugspunkt, der es erlauben würde, die beiden einander widersprechenden Vorgaben - und damit letztlich die Situation von Deutschen und Nichtdeutschen - zueinander in Relation zu setzen. Zum anderen fehlt es bezogen auf den Menschenwürdegehalt einzelner Deutschengrundrechte aber auch an einer definitiven Festsetzung, wie sie der Verbotssatz des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG für die aus dem Verletzungstatbestand gewonnenen Fallgruppen mit dem Verdikt der fraglos tatsächlich alle Menschen einschließenden Unantastbarkeit der Würde aufstellt. Ein Teil der Literatur behilft sich nun dadurch, daß sie letztlich auf jenen auch über die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG geschützten und analog Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG für nicht antastbar erklärten Minimalgehalt der Berufsfreiheit zugreift. Namentlich Dürig spricht vom „Menschenrechtsgehalt" der einzelnen Grundrechte - unter anderem der Freizügigkeit und der Berufsfreiheit - der gleichzeitig umschreibe, was als „Minimalgehalt" zum „Wesensgehalt" als inhaltlicher Absicherung der Menschenwürde gehöre. 171 Er betrachtet die Wesensgehaltgarantie also auch als Grenze der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bezüglich der Deutschenvorbehalte: Da der Menschenrechtsgehalt der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG entspringe, die Grundrechtsinhaberschaft somit „Ausfluß des Menschseins und nicht der Staatsangehörigkeit" sei, zwinge das Grundgesetz positivrechtlich dazu, daß die Grundrechtsanwendung auch bei auf Deutsche beschränkten Grundrechten nicht nach der Staatsangehörigkeit fragen dürfe, wenn dadurch der „Menschenrechtsgehalt = Wesensgehalt" verletzt würde. 172 Nun besteht jedoch hinsichtlich der Interpretation und Bedeutung der Wesensgehaltgarantie im Verfassungsgefüge, wie schon angedeutet wurde, nach wie vor tiefgreifender dogmatischer Dissens. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob der Wesensgehalt als absolute Größe oder relativ zu bestimmen ist, ob er dem Verhältnismäßigkeitsprinzip noch etwas hinzufugt oder nicht, ob die Wesensgehaltgarantie bloß objektiv auf eine Existenzsicherung der grundrechtlichen Normierungen für das soziale Leben insgesamt abziele oder sich auf individuelle Rechtspositionen beziehe, also subjektiv zu verstehen sei - und nur dann könnte sie ja im Sinne Dürigs für die Deutschenrechte von Bedeutung

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Dürig, Menschenwürde (Fn.20), bes. 136, 156, s. auch 140, 142, 145; vgl. auch ders., in: Maunz/Dürig (Fn.95), Rn.81 u. 85 zu Art. 1 II; Rn.66 zu Art. 2 I; Rn. 119 zu Art. 11 ; ders., Freizügigkeit (Fn. 77), 523. 172 Dürig, aaO, bes. auch in: Maunz/Dürig, Rn. 85 zu Art. 1 II; krit. GeddertSteinacher (Fn. 93), 182. 173 Nachdrücklich für eine subjektive Deutung Ludwig Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 II GG, Berlin 1983, 86 ff., bes. 148-154;

I. Menschen- und Bürgerrechte Ohne diesen (sich eben nur bei einer bestimmten Lesart mit der Problematik der Deutschengrundrechte überlappenden) Grundsatzstreit um Art. 19 Abs. 2 GG überhaupt zu thematisieren, bezieht sich daher ein anderer Teil der Literatur ganz direkt auf den „Menschenwürdekern" der Berufsfreiheit bzw. der übrigen Deutschengrundrechte. Einig ist man sich jedenfalls darin, daß spätestens an diesem Punkt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auf eine Grenze stoße, sich also jeder unabhängig von der Staatsangehörigkeit auf diesen Kernbestand berufen könne. 174 Was man sich darunter inhaltlich bei aller Vagheit des Begriffs in etwa vorzustellen hat, wurde oben bereits erläutert: Bezogen auf Art. 12 Abs. 1 GG wird dieser Kernbestand beispielsweise von H.-P. Schneider als „Recht zur Arbeit" so definiert, daß niemand vom Staat daran gehindert werden dürfe, sich durch eigene Arbeit seine Existenzgrundlage zu schaffen. 175 An diesem Punkt kreuzt sich also jener oben geschilderte aktuelle Zugang zum menschenrechtlichen Gehalt der Deutschengrundrechte zwangsläufig mit der Bestimmung ihres „Würdekerns", da in beiden Fällen - entweder direkt oder im Sinne einer Mittlerrolle - beim verfassungsrechtlichen Würdebegriff angesetzt wird, so daß hinsichtlich der Früchte dieser Bemühungen, wie sich u.a. bei Dürig zeigt, oft wahlweise von einem „Menschenrechts"- oder „Menschenwürdegehalt" oder „-kern" die Rede ist. Wird die Problematik der Deutschenrechte jedoch nur vor dem Hintergrund der Menschenwürdenorm dargestellt, so bleibt sie zwangsläufig hochabstrakt, in ihren Umrissen vage und ohne Tiefenschärfe. Von diesem Standpunkt aus lassen sich allenfalls Grenzfälle ausmachen, nicht aber bestimmen, wo innerhalb des dadurch gezogenen äußeren Rahmens die Schwierigkeiten im Umgang mit ebenso Alexy (Fn. 159), 268 m.w.N. zur Rspr.; a.A. Sigurd Hendrichs, in: v. Münch, GGK I, Rn.23 (1. Aufl.) bzw. Rn.25 (2. u. 3. Aufl.) zu Art. 19. Für einen allgem. Überblick s. Lorz (Fn. 138), 262 f. m.w.N.; Pieroth/Schlink (Fn.5), Rn.298ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, Rn. 1 ff. zu Art. 19 II., der selbst die „relative" Theorie vertritt (aaO, Rn. 16 ff.); ebenso BGHSt 4, 375 (377). Häberle, Wesensgehaltgarantie (Fn. 163), bes. 58 ff. (64), bezeichnet beides als „Scheinalternative", da dem Anliegen der „absoluten" Theorie (wie sie u.a. Hendrichs, aaO, vertritt) auch bei einer Güterabwägung Rechnung getragen werde; ähnlich Alexy (Fn. 159), 268 ff., bes. 271 f., der den Streit auf der Basis der Prinzipientheorie als entschärft betrachtet. Geddert-Steinacher (Fn.93), 179 ff., unterscheidet nach Theorien, die von einer Identität von Wesensgehalt und Menschenwürde ausgehen (so Dürig), und solchen, die eine Komplementarität annehmen und dies durch unterschiedliche Begriffspaare (relativ/absolut; Typisch-Verschiedenartiges/Umspannend-Allgemeines etc.) zu erfassen suchen, verneint selbst jedoch sowohl Identität als auch Komplementarität (aaO, 189). Eberhard Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, Tübingen 1976, 103 ff., weist insbes. auf die Probleme hin, die sich für einen negativen Freiheitsbegriff bei der Bestimmung des Wesensgehaltes ergeben. 174 Dazu im einzelnen im 2. Teil unter I. 1. 175 H.-P. Schneider (Fn. 82), 15; für Einzelheiten s. oben bei Fn. 97.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

den Deutschenrechten liegen - allein in dem Umstand, daß das Menschenwürdeprinzip (in seiner weiten, positiven Dimension) überhaupt berührt ist, können sie in Anbetracht des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums noch nicht begründet sein. Sie treten dagegen plastischer hervor, wenn die Konzeption der Freiheits- und Gleichheitsrechte im Grundgesetz und die vom Gesetzgeber bei der Beschränkung des Grundrechtsgebrauchs zu beachtenden Prinzipien näher beleuchtet werden.

(3) Die neuzeitliche Wende im Freiheitsbegriff Die sich aus dem Axiom der Selbstbestimmung des einzelnen ableitenden Freiheitspostulate finden ihren verfassungsrechtlichen Niederschlag zum einen in jenen historisch gewachsenen Individualfreiheitsrechten, die geschichtlich aus besonderen Gefahrdungslagen heraus als spezifische, einem ganz bestimmten Schutzbereich zugewandte Sicherungen entstanden sind, 176 zum anderen aber auch darin, daß in einer allgemeineren und umfassenderen Form versucht wird, das „Verfassungsprinzip der Freiheit" 177 dogmatisch fruchtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund ist auch die weite Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG zu sehen, den das Bundesverfassungsgericht, gefolgt von der übrigen Rechtsprechung und vom überwiegenden Schrifttum, bekanntlich als grundrechtliche Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit versteht. 178 176

Ulrich Scheuner, Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinie und Rahmen der Staatstätigkeit, DÖV 1971, 505 ff, 509; ders., Pressefreiheit (Fn. 126), 41 f., 45 ff., 50 und 94 Ls. 8, allerdings stets in Auseinandersetzung mit der von ihm abgelehnten Konzeption des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeiner Handlungsfreiheit; s. dazu auch Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, 2. Aufl., Berlin 1990, 40 ff., 87 ff. 177 Dazu Grabitz (Fn. 173), insbes. 235 ff., 243 ff.; ders., Freiheit als Verfassungsprinzip, in: Rechtstheorie 1977, 1 ff.; H. Hofmann, Das Verfassungsprinzip der Freiheit, in: Recht und Rechtsbesinnung, Gedächtnisschrift f. Günther Küchenhoff (1907-1983), hg. v. Manfred Just u.a., Berlin 1987, 231 ff.; Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie (Fn. 145); Rn.2ff. (4), 10 ff., 36 ff., 48 ff., 99 ff. und pass. 178 Seit dem Elfes-Urteil (E6, 32ff. [36ff.]) st. Rspr.; vgl. nur BVerfGE 80, 137 (152ff.) unter Verweis auf E74, 129 (151); E75, 108 (154f.); E54, 143 (146); dazu statt vieler Pieroth/Schlink (Fn. 5), Rn. 368 ff. m.w.N. Krit. Scheuner, Grundrechte im Sozialstaat (Fn. 176), aaO, der meint, die Vorstellung eines allgemeinen Freiheitsrechts sei als Grundrecht fehlgreifend, da sie die speziellen Freiheitsrechte nicht aus ihrem Antwortcharakter auf besondere historische Freiheitsgefährdungen heraus begreife, sondern aus einem allgemeinen Freiheitsrecht deduziere; ders., Pressefreiheit (Fn. 126), 37 ff. (mit Fn. 110 f.), 40 ff., 50 f. Demgegenüber legt Alexy (Fn. 159), 336 ff., bes. 340 f., überzeugend dar, daß hier keineswegs eine deduktive Beziehung besteht. Die speziellen Freiheitsrechte enthalten vielmehr zusätzliche Festsetzungen, die das Ergebnis von

I. Menschen- und Bürgerrechte

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Dabei reichen die Wurzeln bei einigen der gegenständlich begrenzten, auf bestimmte Lebensbereiche bezogenen Freiheitsrechte weiter zurück als die sehr viel abstraktere und unmittelbarer mit dem Gedanken der Autonomie des Individuums verknüpfte Idee eines allgemeinen Freiheitsrechtes. Als Beispiel sei die in Art. 4 Abs. 1 GG als Jedermanngrundrecht verankerte Gewissensfreiheit genannt, die ihren Ursprung in den konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts findet. Ausdrücklich erscheint sie erstmals in der Utrechter Union von 1579 - allerdings nur objektivrechtlich als Institut der öffentlichen Ordnung der Niederlande - und später auch im Westfälischen Frieden von 1648. 179 Die Frage, ob hier neben der Bemessung landesherrlicher Herrschaftsrechte und dem Gedanken der Toleranz, der Sicherung des Nebeneinanders zweier religiöser Bekenntnisse, auch die libertas conscientiae als Recht des einzelnen bereits in begrenztem Umfang geschützt ist, wird unterschiedlich gesehen: Während manche erste Ansätze dafür sogar schon im Augsburger Religionsfrieden von 1555 oder in der „Statenversammlung von Dordrecht" (15.7.1572) 180 erkennen wollen, meinen andere, daß dort, wie auch

Abwägungen und damit von - insbesondere auch auf historischen Erfahrungen basierenden - Wertungen sind, die in der Rechtsanwendung auch zum Tragen kommen. 179 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, jetzt auch in: ders., Staat (Fn. 104), 200 ff., 204 m.w.N. zur Gewissensfreiheit in der Utrechter Union und im Westfälischen Frieden s. ebd. Fn.9; zur Friedensordnung von 1648 s. auch die umfangund kenntnisreiche Studie von Martin Heckel, Parität, in: Zeitschrift der SavignyStiftung f. Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 49, 80. Bd. (1963), 261 ff., bes. 330 ff. 180 In diesem Sinne Wolfgang Fikentscher, der die „Statenversammlung von Dordrecht" als den „erste(n) Fall in verfassunggebender Versammlung beschlossener Grundrechte" sieht und hier ausdrücklich das „Grundrecht auf Religionsfreiheit" nennt (Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, Tübingen 1977, 468, Fn. 157, 540). Tatsächlich hatte Wilhelm v. Oranien zusätzlich zu den Verbriefungen von „Volks- und Statensouveränität", Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag den „Staten" - gewissermaßen als inhaltliches Ziel der Revolution - vortragen lassen, daß Freiheit von Religion gehalten werden soll, „und daß jedermann die seinige in der Öffentlichkeit, in der Kirche oder in einer Kapelle - (seil, dies) nach Maßgabe obrigkeitlichen Gutdünkens - frei ausüben soll, ohne daß (seil.: jedoch) jemand dabei gewaltsame Unterdrückung leiden darf (Abdr. des Textes bei Fikentscher, aaO, 541 f., dt. Übers., ebd., Fn.383). Allerdings folgt eine Art Gesetzesvorbehalt: „es sei denn, daß die Staten der Niederlande anderes beschließen". Fikentscher räumt ein, daß sich Wilhelm schon ein Jahr später einem auf dieser Grundlage ergangenen Statenbeschluß beugen mußte, der die Bevorrechtigung des calvinistischen Bekenntnisses einführte und den anderen, insbes. dem katholischen und lutherischen Bekenntnis, nur noch gewisse Schutzpositionen zubilligte, betont aber, daß der Geist von Dordrecht im Sinne religiöser Toleranz fortgewirkt habe (aaO, 540, 542, Fn.383). - Das ist sicher richtig, zweifelhaft erscheint allein, ob sich im Jahr 1572 bereits von einem subjektiven Recht des einzelnen sprechen

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion später im Westfälischen Frieden, nur die Freiheit der Entscheidung der Reichsstände gewährt worden sei. Auch wenn dort der Bekenntnisstand auf der Grundlage des sogenannten Normaljahres 1624 verfassungsmäßig stabilisiert wurde, sei darin noch keine Vorform individueller Religionsfreiheit zu sehen, da es sich dabei nicht um irgendwelche Untertanenrechte handele, sondern allein um die Bemessung landesherrlicher Herrschaftsrechte. 181 Tatsächlich gewährte der Westfälische Friede zwar das Recht der (einfachen) Hausandacht (devotio domestica simplex im Gegensatz zur devotio domestica qualificata) gemäß dem eigenen Bekenntnis. So bestimmte § 34 Art. V IPO: Ferner ist beschlossen worden, daß jene der Augsburgischen Konfession anhangenden Untertanen von Katholiken, sowie auch die katholischen Untertanen von Ständen Augsburgischer Konfession, die zu keiner Zeit des Jahres 1624 ihren Glauben öffentlich oder auch privat üben durften, und auch die, welche nach der Verkündigung des Friedens inskünftig eine andere Religion bekennen oder annehmen werden als ihr Landesherr, nachsichtig geduldet und nicht gehindert werden sollen, sich mit freiem Gewissen zu Hause ihrer Andacht ohne Nachforschung oder Beunruhigung privat zu widmen".182 Dieses Recht stand jedoch im Belieben des Landesherrn, da er die Anhänger der abweichenden Konfession gem. §36 Art. V IPO („Wenn aber ein Untertan [...] aus freien Stücken auswandern will oder vom Landesherrn [auszuwandern] geheißen wird") 1 8 3 auch zur Auswanderung zwingen konnte. Zu dieser Zeit existierte somit lediglich das Auswanderungsrecht um der Religionsausübung willen, das ius emigrandi, das vor Zwangsbekehrung schützte, als Grundrecht. 184 Der Streit um die historische Verortung der erstmaligen individualrechtlichen Garantie der Gewissensfreiheit ist damit also noch nicht beigelegt. G. Jellinek, läßt oder ob in Dordrecht nicht vielmehr die gleichberechtigte Religionsausübung unterschiedlicher Bekenntnisse als objektivrechtliche Schutzposition verbrieft wurde. 181 Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl. Stuttgart 1972, 30 ff. (32); s. auch Ulrich Scheuner, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, DÖV 1967, 585 (589). 182 Textabdr. in: Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648. Quellen zur Neueren Geschichte, hg. v. Historischen Seminar der Univ. Bern, H. 12/13, Bern 1949, bearb. v. Konrad Müller, 125. 183 AaO, 126 f. 184 Peter Landau, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und die Religionsfreiheit, JZ 1995, 909ff. (911). Heckel (Fn. 179), 350, weist daraufhin, daß das beneficium emigrandi als Recht der Freizügigkeit aus konfessionellem Grunde - die Ursprungsgarantie der Gewissens- und Glaubensfreiheit - 1555 wie auch in der erweiterten Form von 1648 nur den beiden großen Konfessionen in strenger paritätischer Beschränkung eingeräumt gewesen sei.

I. Menschen- und Bürgerrechte dem die Konzessionen des Osnabrücker Friedens ebenfalls als zu dürftig erscheinen, sieht den entscheidenden Durchbruch zum Individualrecht in der seit etwa Mitte des 17. Jahrhunderts in mehreren anglo-amerikanischen Kolonien zu beobachtenden rechtlichen Anerkennung der religiösen Freiheit. 185 Demgegenüber meint beispielsweise Scheuner, von der libertas conscientiae als Recht des einzelnen könne erst seit dem späten 17. Jahrhundert, in Deutschland sogar erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede sein. 186 Dies bedarf hier keiner Vertiefung, denn trotz aller Unsicherheiten über Geburtsort und -stunde der individualrechtlichen Ausformung der Gewissensfreiheit ist festzuhalten, daß sie spätestens seit diesem Zeitpunkt als Abwehrrecht des Individuums gegen unmittelbaren Glaubens- und Gewissenszwang existiert. Ursprünglich gegen den landesherrlichen Religionsbann und das landesherrliche jus reformandi gerichtet, denen gegenüber sie einen staatsfreien Raum individueller Freiheit rechtlich ausgrenzt, kann sie somit als erstes Grundrecht im präzisen Sinn eines säkularen individuellen Freiheitsrechts bezeichnet werden. 187 Zwar mögen die vor-individuellen Wurzeln einzelner anderer Grundrechte oder grundrechtsähnlicher Rechte noch weiter zurückreichen als die der Religionsund Gewissensfreiheit, bei Art. 104 GG gar bis zum Schutz vor ungerechtfertigten Verfolgungen und Verhaftungen durch den schon erwähnten berühmten Art. 39 der Magna Charta Libertatum von 1215. 188 Der entscheidende Schritt von einer objektiv-rechtlichen Schutzgesetzgebung für einen nach bestimmten Kriterien definierten Kreis von Untertanen zu einer ständische Unterschiede durch den unmittelbaren Zugriff auf das Verhältnis Individuum-Staat überwindenden subjektivrechtlichen Rechtsstellung des einzelnen wird jedoch erst mit 185

Jellinek (Fn.48), 46f., hebt als Meilenstein in dieser Entwicklung insbesondere die von Karl II. 1663 den Kolonien Rhode Island und Providence Plantations verliehenen Charter hervor, nach der alle Personen für alle Zeiten volle Freiheit des Gewissens haben sollten, sofern sie sich nur friedlich verhalten und die Freiheit nicht zu Zügellosigkeit und Entweihung, noch zu Beleidigung und Störung anderer mißbrauchten (auszugweiser Abdruck des englischen Originaltextes, ebd., Fn. 112). 186 Vgl. Religionsfreiheit (Fn. 181), 589; s. dazu auch die interessante und differenzierte Darstellung bei Landau (Fn. 184), 909 ff., der im einzelnen darlegt, daß die individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit und die kirchliche Assoziationsfreiheit trotz des heute vorausgesetzten wesensnotwendigen Zusammenhangs ganz unterschiedliche Entwicklungslinien aufweisen. 187 Böckenförde, Gewissensfreiheit (Fn. 179), 204 f. mit Fn. 10; Carl Schmitt, Verfassungslehre, 6. Aufl. Berlin 1983 (unveränderter Nachdr. der l.Aufl. v. 1928), 158f.; s. auch Heckel (Fn. 179), 262, 326 f., 347, insbes. 350 f., der den Prozeß der Säkularisierung in diesem Zusammenhang allerdings kritisch bewertet. 188 Siehe dazu oben Fn.79 und Fn.67. Darauf, daß sich in der Magna Charta von 1215 auch bereits erste Ansätze einer Regelung der Freizügigkeit finden, wurde oben auf S. 32 ff. bereits hingewiesen.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion der Anerkennung der Gewissensfreiheit als Individualrecht vollzogen. 189 Damit kommt erstmalig die „prinzipielle, systematische Verordnung des Individuums und seiner Lebenszwecke vor dem Staat zum Ausdruck, wie sie für den modernen Rechts- und Verfassungsstaat grundlegend ist". 1 9 0 G. Jellineks These, daß mit der in Rhode Island und anderen nordamerikanischen Kolonien erfolgten rechtlichen Anerkennung der Gewissensfreiheit, die der Überzeugung entsprungen sei, „daß es ein Recht gebe, das dem Menschen anerschaffen, nicht dem Bürger verliehen sei, daß die Betätigung des Gewissens, die Äußerungen des religiösen Bewußtseins unantastbar dem Staate als Übungen eines höheren Rechts gegenüberstehen", auch der Gedanke eines allgemeinen, staatlich anzuerkennenden Menschenrechts geboren war, 1 9 1 scheint also nach wie vor Bestand zu haben. 192 Im Ansatz zeigt sich diese Geisteshaltung auch zuvor schon in jenen Verträgen, in denen die bei der Gründung der Kolonien zu beachtenden politischen und religiösen Prinzipien feierlich niedergelegt wurden - berühmt ist vor allem der „Mayflower Compact" der Pilgrimfathers von 1620. Blieb es im „Mayflower Compact" aber noch bei allgemein und unverbindlich gehaltenen Absichtserklärungen, 193 so wurde im 189

Hofmann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 14; Böckenforde, Gewissensfreiheit (Fn. 179), 204 f. mit Fn. 10. 190 Böckenförde, Gewissensfreiheit (Fn. 179), 204 f., Fn. 10; vgl. hierzu auch C. Schmitt (Fn. 187), 158 f. 191 Jellinek (Fn.48), 39 ff., 42 ff., insbes. 46 und 52, s. aber auch 124 (Antwort an Emile Boutmy). 192 So Hofinann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 13f., der betont, daß die Wissenschaft lediglich der weitergehenden These Jellineks, nach der der Religions- und Gewissensfreiheit „Modellfunktion" zukomme, sich die anderen Rechte also im Laufe der Zeit nach dem Vorbild dieses „Ur-Grundrechts" herausgebildet haben sollen (s. dazu auch oben S. 29), nicht gefolgt sei; denn in anderen Freiheitsrechten artikulierten sich eben auch andere (und zum Teil ältere) Erfahrungen von politischer Unterdrückung. Vgl. auch Böckenförde, Gewissensfreiheit (Fn. 179), 204 f., Fn. 10, der unter Verweis auf Schnur (Fn.48, Vorwort, S.X-XI) feststellt, daß in dieser Kontroverse die Frage nach dem Ursprung der Erklärung von 1789 und nach der Entstehung des Prinzips der modernen Freiheitsrechte und seiner ersten Konkretisierung nicht genügend unterschieden worden sei. Jellinek scheine Recht zu behalten, soweit er diese im Individualrecht der Gewissensfreiheit erblicke. Anders Kriele (Fn.76), 196 ff. (204), der nicht die Religionsfreiheit, sondern eher das Habeas-Corpus-Recht als „Ur-Grundrecht" sieht (dagegen H. Hofinann, aaO). 193 Der am 11. Nov. 1620 in Cape Cod unterzeichnete Text ist relativ kurz und beginnt wie folgt: „IN The Name of God, Amen. We, whose names are underwritten, (...) Having undertaken for the Glory of God, and Advancement of the Christian Faith, and the Honour of our King and Country, a Voyage to plant the first colony in the northern Parts of Virginia; Do by these Presents, solemnly and mutually in the Presence of God and one another, covenant and combine ourselves together into a civil Body Politick, for

I. Menschen- und Bürgerrechte „Plantation Agreement at Providence" von 1640 unter Führung von Roger Williams, der mit Nachdruck für eine völlige Trennung von Kirche und Staat und für volle Gewissensfreiheit eintrat - nicht nur für Christen, sondern auch für Juden, Türken und Atheisten, die die gleichen politischen Rechte im Staate wie die Gläubigen haben sollten - bereits die konkrete Übereinkunft niedergelegt, „to hould forth liberty of Conscience". Williams bezeichnete dies zudem bereits ausdrücklich als Recht aller Menschen in allen Völkern und Ländern. 194 Daß die Religionsfreiheit als vorstaatliches Menschenrecht verstanden wurde, wird insbesondere auch in dem neben der Virginia Bill of Rights als „milestone of freedom" 195 bezeichneten Virginia Statute of Religious Liberty von 1785 deutlich. Besonders aufschlußreich ist die letzte Passage:

III. And though we well know that this Assembly, elected by the people for the ordinary purposes of legislation only, have no power to restrain the acts of succeeding Assemblies, constituted with power equal to our own, and that therefore to declare this Act to be irrevocable would be of no effect in law; yet as we arefree to declare, and do declare, that the rights hereby asserted are of the natural rights of mankind and that if any Act shall hereafter be passed to repeal the present, or to narrow its operation, such Act will be an infringement of natural right} 96 Bemerkenswert ist, daß hier nicht von den Rechten der in Virginia lebenden Siedler, sondern von den „natürlichen Rechten der Menschheit" die Rede ist. Wenn Fikentscher die immerhin im Ansatz in Dordrecht (1572) und Utrecht

our better Ordering and Preservation, and Furtherance of the Ends aforesaid", Textabdr. und weitere Nachweise bei Henry Steele Commager (ed.), Documents of American History, sixth edition, New York 1958, 15 f. 194 Mit dieser für die damalige Zeit sehr weitgehenden Forderung nach wirklich umfassender Religions- und Gewissensfreiheit, die Williams in 12 Leitsätzen seinem 1644 in London erschienen Buch „The Bloudy tenent of Persecution, for cause of Conscience" (1 f.) voranstellt, nimmt er als Vorkämpfer dieses Menschenrechts im 17. Jh. eine herausragende Stellung ein; dazu eingehend Jellinek (Fn. 48), 43 ff, s. auch die Nachw. bei Commager (Fn. 193), 24, Abdr. des Plantation Agreement vom 27.8.1640 ebd. („liberty of Conscience" unter II. a.E., S. 25). 195 S. E. Morison (ed.), Sources and Documents illustrating the American Revolution 1764-1788 and the formation of the Federal Constitution, second edition, Oxford 1929, Introduction, xli. 196 Hervorhebungen von der Verf.; Abdruck des Textes dieses sehr ausführlich und auch etwas umständlich formulierten „Act for establishing Religious Freedom" vom Oktober 1785 bei Morison (Fn. 195), 206 ff. (208). Dieser bekräftigt und konkretisiert, was wenige Jahre zuvor bereits in dürren Worten unter Art. 16 der Virginia Bill of Rights (1776) niedergelegt worden war: „and therefore all men are equally entitled to the free exercise of religion, according to the dictates of conscience" (Textabdruck ebd., 149 ff. [151]).

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion (1579) objektiv-rechtlich geschützte Religionsfreiheit 197 noch als eine „Gewährung der Bürgerfreiheiten (...) in bewußter Fortsetzung und Verbürgerlichung' feudalistischer Privilegienvorstellungen" umschreibt, 198 so wird der Gedankenkreis einer allmählichen Ausweitung und Verallgemeinerung von partikulären Privilegien mit dieser „menschenrechtlichen Fassung" der Religionsfreiheit endgültig gesprengt. Schutzgesetzgebung zugunsten eines mehr oder weniger großen Kreises von Untertanen ist, wie H. Hofmann zutreffend feststellt, eben nicht gleichbedeutend mit der Anerkennung prinzipieller Freiheiten: „Menschenrechte entstehen - in einem qualitativen Sprung - erst dort, wo individuelle Rechtsgarantien mit dem Prinzip gleicher Freiheit aller sich kreuzen". 199

(a)

Perspektivenwechsel: Herrschaftsverbandes

Von der (Binnen-)Perspektive des zu der des autonomen Individuums

Das revolutionäre Potential liegt im Perspektivenwechsel, genauer: dem Aufbrechen der Binnenperspektive des bestehenden Herrschaftsverbandes. Jede quantitative Erweiterung von zunächst als Privilegien zugestandenen Rechtsgarantien war bis dahin in dieser Perspektive gefangen und durch sie begrenzt. Dies gilt selbst dann noch, wenn der Begriff des „Privilegs" durch die Aufhebung der begriffsimmanten Gruppendifferenzen in letzter Konsequenz überwunden und die gewährten Freiheiten ohne Unterschied auf alle Untertanen erstreckt werden. Denn der gedankliche Ansatz feudalistischer Privilegienvorstellungen erlaubt es auch auf dieser radikalsten Stufe der Verallgemeinerung von (Sonder-)Rechten nicht, die Grenzen des bestehenden Herrschaftsverbandes mit seinen Gruppenbindungen, denen er auf das Engste verhaftet ist, in personeller, territorialer und insbesondere auch in ideeller Hinsicht zu überschreiten: Weder können außerhalb des Herrschaftsverbandes irgendwelche Rechte gewährt werden, noch kann umgekehrt gefragt werden, welche Rechte des Menschen ihm etwa gedanklich vorausliegen. Die Begünstigung des einzelnen erscheint in diesem Kontext noch nicht als subjektives Recht des Individuums, sondern als Reflex seiner Gruppenzugehörigkeit.

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Sie wurde hier noch nicht als subjektives Recht geschützt, denn die Vorstellung, bestimmte Rechte am Individuum anzuknüpfen, war dieser Zeit, die in Gruppenbindungen dachte, so daß der einzelne auch nur als Reflex seiner Gruppenzugehörigkeit begünstigt wurde, noch völlig fremd. 198 Fikentscher (Fn. 180), 544. Zur Statenversammlung in Dordrecht (1572) und zur Utrechter Union (1579) s. auch oben Fn. 180. 199 H. Hofmann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 14.

I. Menschen- und Bürgerrechte Insofern hat G. Jellinek Recht, 200 wenn er feststellt, daß eine „tiefe Kluft" zwischen den amerikanischen „bills of rights" und der englischen Traditionskette von Rechts- und Freiheitsverbürgungen besteht, die von der Bill of Rights von 1689 über die Habeas-Corpus-Akte von 1627 und die Petition of Right von 1628 bis zurück zu der bereits erwähnten Magna Charta Libertatum von 1215 201 reicht. Obwohl nicht nur die äußere Bezeichnung als „bills of rights" auf die englischen Quellen hindeutet, sondern die Amerikaner daraus sogar manche Sätze in ihre Rechteerklärungen übernommen haben, besteht doch ein wichtiger qualitativer Unterschied: Einer rückwärtsgewandten Festschreibung überlieferter „ererbter" Rechte und Freiheiten des englischen Volkes (eigentlich verschiedener Klassen bzw. Schichten) steht die berühmte Virginia Bill of Rights als zukunftsoffene Erklärung der natürlichen Rechte des Menschen sowie, daraus abgeleitet, der natürlichen Grundlagen eines jeden Gemeinwesens gegenüber. 202 Selbst Blackstone, der die alten partikulären Freiheiten in seinen „Commentaries on the laws of England" von 1765ff. bereits als „birthrights" aller Engländer postuliert, bleibt trotz seiner naturrechtlichen Grundanschauung noch der Binnenperspektive des bestehenden Staats Verbandes verhaftet, denn das berechtigte Individuum ist für ihn nicht der Mensch schlechthin, sondern der englische Untertan. 203 Mit dem revolutionären Umbruch auf dem Boden der sogenannten „neuen Welt" ist jedoch schlagartig eine neue Situation entstanden. Im Zuge der Herauslösung der nordamerikanischen Kolonien aus dem britischen Königreich gewinnt der bislang nur theoretisch, vornehmlich von der kritisch-analytischen Sozialphilosophie durchgespielte Perspektivenwechsel - genauer: das in der frühneuzeitlichen Lehre vom Naturzustand im Rahmen eines reinen Gedankenexperimentes vorgestellte Heraustreten „des Menschen" aus seinen Herkunftsbindungen 204 - für die amerikanischen Siedler plötzlich eine politischpraktische Bedeutung: Zum einen sollen ihre „bills of rights" den Abfall vom

200

Vgl. G. Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte (Fn.48), 31 ff. Dazu oben S. 32 ff. 202 Vgl. Jellinek, aaO. Im Hinblick auf die Magna Charta betont Kyriazis-Gouvelis (Fn. 67), 15 f., nachdrücklich, daß die Rückkehr zu den „guten alten Gesetzen", d.h. zum „Recht des Landes", das entscheidende Moment zum Verständnis ihrer historischen und theoretischen Grundlagen darstelle. Allgemein zu dieser Entwicklung H. Hofinann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 12f. 203 Dazu ausführlich Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 4. Neudruck der 3. Auflage (1914), bearb. von Walter Jellinek, Berlin 1922, 413 mit Fn.4; s. auch ders., Menschen- und Bürgerrechte (Fn.47), 37, sowie H. Hofinann, Autonomieansprüche (Fn. 132), 58 f. 204 Siehe dazu H. Hofinann, Zur Lehre vom Naturzustand (Fn. 86), 101 ff. 201

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Mutterland rechtfertigen. 205 Das kann, da sie die Bindungen an ihr Herkunftsland gerade abstreifen wollen, nicht mehr unter Berufung auf die Verletzung der alten verbrieften Rechte „aller Engländer", sondern nur auf der Grundlage der „angeborenen Rechte aller Menschen" geschehen, wie sie besonders prägnant in der oben schon einmal angesprochenen Sect. 1 der Virginia Bill of Rights von 1776 formuliert wurden: That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety. 206 Zum anderen sollen die Rechteerklärungen aber auch die Errichtung einer neuen (besseren!) Ordnung legitimieren, d.h. es ging im Gründungsakt noch nicht um die (erst innerhalb einer etablierten Herrschaftsordnung wirksam werdende) herrschaftsbegrenzende Funktion dieser Rechte, sondern - viel radikaler und grundsätzlicher - um ihre herrschaftsbegründende Funktion. Ausweislich der Präambel dient die Erklärung dieser Rechte „as the basis and foundation of government". Der oben beschriebene Prozeß einer aus dem Inneren der Herrschaftsordnung heraus erfolgenden schrittweisen Auferlegung von Bindungen gegenüber der öffentlichen Gewalt, der spiegelbildlich betrachtet die Gewährung bestimmter Rechte und Freiheiten an eine größer werdende Gruppe von Untertanen bedeutet, das Herrschaftsverhältnis als solches infolge der Begrenztheit dieser Binnenperspektive und der Tendenz, Bestehendes als selbstverständlich zu akzeptieren, jedoch nie zur Disposition zu stellen vermag, wird hier unvermittelt gekippt, „vom Kopf auf die Füße" gestellt: 207 Die Frage, die zu einem Leitmotiv der beiden großen Revolutionen der Neuzeit in Nordamerika und Frankreich wurde, ist die, wie Herrschaft überhaupt rechtmäßig begründet und ausgeübt werden kann, wenn von der in den Deklarationen verkündeten glei205

Kielmansegg, Demokratiebegründung (Fn. 144), 104; H. Hofinann, Rechtsstaat (Fn. 1), 17 f. 206 Vgl. auch oben S. 31 sowie den Quellennachweis in Fn. 63, 54. 207 Siehe dazu Ryffel (Fn. 34), 60 f.: „Die Menschenrechte sind Ausdruck der Freisetzung des Menschen aus den bisherigen vorgegebenen Ordnungen. Sie spezifizieren die umfassende gleiche Entfaltungschance, die nach dem Übergang von vorgegebener zu aufgegebener Normativität allen Menschen grundsätzlich zukommt. (...) Bei aufgegebener Normativität kann keine staatliche Instanz ein originäres Recht geltend machen. Alle staatliche Autorität muß sich letztlich aufgrund der Menschenrechte legitimieren". Zur emanzipatorischen Bedeutung der Menschenrechte, die lediglich die „vernünftigen", d.h. die „freien Abhängigkeiten", gelten lassen wollen, s. auch Schwartländer, Menschenrechte (Fn. 34), 86.

I. Menschen- und Bürgerrechte chen Freiheit aller und natürlichen, vorstaatlichen Rechten des Menschen auszugehen ist. Die Antwort, die bis heute die Legitimität von Staatlichkeit im demokratischen Verfassungsstaat bestimmt, ist damit bereits vorgegeben: Zweck des Staates ist die Gewährleistung der Menschenrechte, wie die Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts einmütig feststellen. So heißt es in der epochemachenden „Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789: 2. Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescribles de l'homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté, et la résistance à l'oppression.208 Herrschaftsbegründung aus der Idee der Menschenrechte ist damit schon vom Ansatz her nur als Begründung begrenzter und zweckgebundener Herrschaft möglich. 209 Umgekehrt ist jede daran orientierte kritische Überprüfung der Rechtmäßigkeit tatsächlich ausgeübter staatlicher Herrschaft damit aber auch auf die Perspektive des einzelnen Menschen festgelegt. Die insbesondere mit dem Ende des zweiten Weltkrieges aus naheliegenden Gründen wieder drängend gewordene Frage nach der Rechtfertigung des Staates, und damit auch nach dem Telos der Staatlichkeit, 210 läßt sich in dieser fundamentalen Form offenbar nur aus der Außenperspektive stellen, d.h. aus der bewußt eingenommenen gedanklichen Distanz zu den lebensweltlichen Besonderheiten eines konkreten Gemeinwesens. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist dabei - und dies wird bezüglich der Deutschenvorbehalte im Auge zu behalten sein - stets der einzelne Mensch und seine Rechte. Nicht nur, weil dem Staat im Hinblick auf die Sicherung dieser Rechte bewußt nur eine dienende Funktion zugewiesen wird, wie sie besonders klar in der Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs zu Art. 1 Abs. 1 GG zum Ausdruck kam: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", 2 1 1 also aus inhaltlichen Gründen, sondern auch als Konsequenz des methodologischen Vorgehens bzw. der eingenommenen Perspektive: Die Gruppenbindungen eines Volkes existieren außerhalb der bestehenden Herrschaftsverhältnisse noch nicht. So bewegt sich auch der oben angesprochene Einfluß John Lockes auf die amerikanische Verfassunggebung 212 nicht nur auf der inhaltlichen Ebene. Wenn die zitierten Eingangsworte der Virginia Bill of Rights erkennbar an das von 208

Abdruck des Textes u.a. bei Berlia (Fn. 17), 1 ff. (2). Kielmansegg, Demokratiebegründung (Fn. 144), insbes. 105, 108. 210 Siehe oben S. 59 mit Fn. 148 (auch zum Staatszweck der Freiheitsgewährleistung). 211 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, hg. v. Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, München 1948, 61. 212 Siehe auch oben S. 37 f. mit Fn. 86. 209

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Locke in seiner Theorie zum Naturzustand entwickelte normative Modell vorstaatlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte anknüpfen oder wenn es in der Präambel der Massachusetts Declaration of Rights von 1780 heißt: The body-politic is formed by a voluntary association of individuals: It is a social compact, by which the whole people covenants with each citizen, and each citizen with the whole people, that all shall be governed by certain laws for the common good (...),213 dann übernehmen die Verfasser dieser Deklarationen damit nicht nur bestimmte inhaltliche Vorstellungen, sondern machen sich gleichzeitig, ohne dies notwendigerweise zu reflektieren, auch den strengen methodischen Individualismus der dem Wissenschaftsideal jener Zeit entspringenden frühneuzeitlichen Lehre vom Naturzustand zu eigen. Ausgehend vom Individuum als kleinster Einheit und autonomen Produzenten seiner (Geschichts-)Welt werden danach im Sinne einer „Mechanik der Vergesellschaftung" in Auseinandersetzung mit konkreten sozialen und politischen Problemen more geometrico Herrschaftsverhältnisse konstruiert. 214 Dieser von den inhaltlichen Positionen ablösbare methodische Ausgangspunkt ist insofern wichtig, als eine more geometrico betriebene Wissenschaft vom Menschen nicht nur zwangsläufig universalistisch ist - und damit auch den Universalismus der in geschichtlichen Umbruchsituationen als Kampfinstrumente eingesetzten Menschenrechtserklärungen mit trägt 215 - sondern dieser methodische Individualismus sich auch dort noch zu behaupten vermag, wo der politisch-kämpferische Charakter bestimmter inhaltlicher Positionen sich längst überholt hat, diese sich, wie etwa bezüglich der dem Eigentum zugemessenen Bedeutung, 216 im Laufe der Zeit gewandelt oder doch von den ursprünglichen Begründungsmustern gelöst haben. So mag man heute bezüglich der Tragfähigkeit naturrechtlicher Begründungen geteilter Auffassung sein oder sogar die Relevanz derartiger Erörterungen grundsätzlich bezweifeln: Schon ein Blick auf Art. 1 GG stellt jedoch klar, daß der einzelne Mensch und die Sicherung seiner Rechte noch immer (oder besser: wieder) Ausgangspunkt aller staats- und verfassungsrechtlichen Überlegungen ist. Die Vorstellung von der Würde des Menschen und seinem daraus entspringenden Selbstbestimmungsrecht, von der gleichen Freiheit aller, die hinter der verfassungsgesetzlichen Normierung des

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Abdruck des Textes bei Schwartz (Fn. 52), 339. Dazu eingehend H. Hofmann, Zur Lehre vom Naturzustand (Fn. 86), 101 ff. 215 Ders., Rechtsstaat (Fn. 1), 12 ff., insbes. 13, 18; zu den als „Kampfinstrumente in einer Phase geschichtlichen Umbruchs" eingesetzten großen Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts s. auch Kielmansegg, Demokratiebegründung (Fn. 144), 101 ff., insbes. 103 f. 216 Dazu oben bei Fn. 84 ff. 214

I. Menschen- und Bürgerrechte

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hier im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 zu betrachtenden Art. 1 Abs. 1 GG steht, wurde also von der Kontroverse um unterschiedliche Begründungsversuche abgekoppelt und hat sich ihr gegenüber in Form eines nach dem Selbstverständnis des demokratischen Verfassungsstaates westlicher Prägung unverzichtbaren Axioms freiheitlicher Verfassunggebung verselbständigt. 217 Der mit dem Gedankengut der Aufklärung tradierte methodische Individualismus dürfte diesen Entwicklungsprozeß zumindest unterstützt und stabilisiert haben, indem er gedanklich beim einzelnen ansetzt und damit - völlig unabhängig von der inhaltlichen Auseinandersetzung um die Herleitung von Menschenwürde und Menschenrechten - die Behandlung aller bei der Ausarbeitung der Staatsverfassung auftauchenden Fragestellungen strikt auf die Perspektive des autonomen Individuums ausrichtet. Sie prägt nicht nur den Menschenwürdesatz (Art. 1 Abs. 1 GG) als „oberstes Konstitutionsprinzip" 218 unserer Verfassung sowie die nachfolgenden Grundrechte, sondern hat auch Konsequenzen für eine an den Menschenrechten orientierte Demokratiebegründung: Sind diese als „Proklamationen der Autonomie in die Geschichte eingetreten", so bedeutet das Bekenntnis zu Menschenrechten als „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" (Art. 1 Abs. 2 GG), daß , jede politische Ordnung dem Postulat der individualrechtlich verwurzelten Autonomie zu unterstellen" ist. 2 1 9 Nur der einzelne kann somit Träger jener Rechte sein, die das Gemeinwesen konstituieren. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie sich dies mit dem Prinzip der Volkssouveränität verträgt, mit jener Vorstellung vom Kollektiv „Volk" als Träger des Herrschafts- oder Selbstbestimmungsrechts, wie sie etwa in Art. 20 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Und weiter: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt". Hier kommt neben dem Herrschaftszweck der Gewährleistung der Menschenrechte die zweite notwendige Bedingung rechtmäßiger Herrschaft ins Spiel: Ausgehend von der Prämisse gleicher Freiheit der Menschen kann sich Herrschaft über sie nur aus ihrer Zustimmung rechtfertigen, wie 217

Zum axiomatischen Charakter der Menschenrechte allgemein Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, dt.u.d.T. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 5. Aufl. München/Zürich 1996, 603; speziell zum axiomatischen Charakter der „Grundwahrheiten" der amerikanischen Revolution, die kaum weniger absolut als Offenbarungswahrheiten der Religion oder Grundaxiome der Mathematik seien, s. dies., Revolution (Fn. 84), 248 ff. Dies zeigt sich besonders deutlich in Jeffersons berühmter Formulierung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „We hold these truths to be self-evident , that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain inalienable rights" (Hervorhebung durch die Verf.). 218 Siehe oben Fn. 143 m.w.N. 219 H. Hofmann, Autonomieansprüche (Fn. 132), 59. 6 Siehr

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 ausdrücklich feststellt. Dort heißt es: We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain inalienable rights; that among these are life, liberty, and the pursuit of happiness. That, to secure these rights, governments are instituted among men, deriving their just powers from the consent of the governed; that, whenever any form of government becomes destructive of these ends, it is the right of the people to alter or to abolish it, and to institute a new government.220 Dieses Recht der Regierten auf eine Regierung ihrer Wahl leitet sich also letztlich gleichfalls aus dem Gedanken der ursprünglichen Autonomie aller Menschen ab, und eben darin wird die spezifisch neuzeitliche Verknüpfung von Menschenrechtsidee und Volkssouveränität gesehen,221 wie sie in den Menschenrechtserklärungen der französischen und der amerikanischen Revolution erstmals Gestalt gewann. In der Virginia Bill of Rights von 1776 wird der Begriff der Volkssouveränität zwar nicht ausdrücklich genannt, aber im Anschluß an die Erklärung der natürlichen Rechte des Menschen in See. 2 taucht die alte Denkfigur vom Volk als dem ursprünglichen Träger aller Herrschaftsgewalt auf: „That all power is vested in, and consequently derived from, the people". In der französischen Déclaration von 1789 heißt es hingegen unmittelbar nach der Aufzählung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte ganz explizit: „3. Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individue ne peut exercer d'autorité qui n'en émane expressément" und unter Titre III, Art. I e r der Verfassung von 1791: „La Souveraineté est une, indivisible, inaliéable et imprescriptible. Elle apartient à la Nation". Schließlich wird in Art. 23 der der französischen Verfassung von 1793 vorangestellten Rechteerklärung dann sogar zur „Klarstellung" des - bis heute umstrittenen - Verhältnisses zwischen Volkssouveränität und Menschenrechtsschutz erklärt: „cette garantie repose sur la souveraineté nationale". 222 Doch trotz des gemeinsamen Wurzelgrundes im Prinzip individueller Selbstbestimmung bleibt nicht nur die Frage, wie sich diese beiden Bedingungen rechtmäßiger Herrschaft zueinander verhalten, klärungsbedürftig; 223 auch der 220

Abdruck des Textes u.a. bei Smith/Spaeth (Fn. 54), 26. Siehe dazu Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), 106, bes. 115 ff. u. pass.; ders., Demokratiebegründung (Fn. 144), 101 ff. 222 Die zitierte Textstelle der Virginia Bill of Rights ist u.a. bei Smith/Spaeth (Fn. 54), 23, abgedruckt; ein Abdruck der zitierten franz. Textstellen findet sich bei Berlia (Fn.17), 2, 6, 64. 223 Hierzu grundlegend Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144); s. auch ders., Demokratiebegründung (Fn. 144), insbes. 101 ff. J. Habermas diagnostiziert in diesem Punkt bei Kant wie bei Rousseau eine uneingestandene Konkurrenzbeziehung (vgl. Faktizität [Fn. 8], bes. 111, 123 ff, 129 ff.). Zur Fragwürdigkeit der Verschmelzung von 221

I. Menschen- und Bürgerrechte Wechsel der Perspektive vom „autonomen Individuum" zum Kollektiv des „Volkes" bzw. der „souveränen Nation" läßt sich nicht bruchlos vermitteln. 224 Als kleinster gemeinsamer Nenner scheint sich zunächst die Formel Rousseaus anzubieten, der bekanntlich in dem berühmten 6. Kapitel des Contrat Social, Buch I, auf die Fragestellung: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor" seinen Entwurf eines „Gesellschaftsvertrages" wie folgt formulierte: „Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf 4 . 2 2 5 Die Individuen vereinigen sich also zur souveränen Nation, sie kollektivieren ihre Autonomie. Doch die Rechnung geht nicht auf, da kollektive Entscheidungsgewalt nicht als die Summe individueller Autonomien begriffen werden kann. 226 Der im Perspektivenwechsel vom „einzelnen" zum „Volk" liegende Bruch zeigt sich gerade auch im Blick auf die Deutschenrechte, denn nicht alle, die hier leben und sich auf ihre in Art. 1 Abs. 1 GG prinzipiell anerkannte individuMenschenrechten und Volkssouveränität in den franz. Revolutionsverfassungen schon H. Arendt, Herrschaft (Fn.217), 603 ff. An der franz. Konzeption der Volkssouveränität kritisiert sie, daß diese nach Sieyès das Volk nicht nur als Quelle aller legitimen Macht, sondern den Willen der Nation zugleich als Quelle der Gesetze begreife und damit (anders als die Amerikaner) über das Gesetz stelle (Revolution [Fn. 84], 203 ff, 211 ff., 236 ff). Hier stellt sich in der Tat die Frage, wie unter dieser Voraussetzung die Menschenrechte - und d.h. insbesondere: die Rechte von Minderheiten - zu schützen sind; a.A. Ingeborg Maus, Die aktuelle Verfassungsdiskussion und der Verfassungstypus der Volkssouveränität, in: Jürgen Gebhardt/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Demokratie, Verfassung und Nation: Die politische Integration moderner Gesellschaften, BadenBaden 1994, 139 ff., bes. 145 ff. 224 Siehe die scharfsinnige Analyse bei Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), insbes. 242 ff. Frankenberg (Fn. 133), 82 f., 85, 95, sieht in der Betonung der Souveränität des „Volkes" bzw. der „Nation" (anstelle der des Staates), also eines Kollektivs, als dessen Mitglied das ursprünglich souverän gesollte Individuum „eingedacht" werde, einen Versuch, der mit der Zwillingsgeburt der Aufklärung - Menschenrechte und Nationalstaat - entstandenen paradoxen Verklammerung von universalistischen Menschenrechten und nationalstaatlicher Souveränität zu entrinnen - allerdings um den „Preis einer kollektivistischen Umdeutung des menschlichen Individualismus". 225 Neu übersetzt und hg. v. Hans Brockard in Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker, Stuttgart 1979, 17 ff. 226 So Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), 243, der darauf hinweist, daß Rousseaus Denkfigur des Souveräns insofern nicht das leistet, was sie leisten soll. Siehe dazu und zu dem weiteren Problem, wer dieses „wir" definiert und wodurch, auch H. Hofmann, Autonomieansprüche (Fn. 132), 66.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion eile Autonomie berufen können, sind auch Mitglieder des zum Volk zusammengeschlossenen Kollektivs. Kann das Recht des einzelnen auf Herrschaftsteilhabe, auf Mitbestimmung als Teilaspekt des Selbstbestimmungsrechts, aber nur in kollektiver Form wahrgenommen werden, so entsteht - durch den Übergang zu Kollektivbezeichnungen zunächst verdeckt - eine Spannungslage. Thematisiert wurde dieses Problem bei uns bekanntermaßen insbesondere im Rahmen der Diskussion um ein Kommunalwahlrecht für Ausländer. Abgesehen von der dabei im Vordergrund stehenden und ausgiebig behandelten Frage, ob sich der Ausschluß vom Wahlrecht im Ergebnis rechtfertigen läßt bzw. das geltende Verfassungsrecht ihn unter Umständen sogar erzwingt, 227 interessiert im Blick auf die Deutschenrechte allgemein insbesondere auch die Vorfrage, wie sich das (Deutsche) Volk definiert, wer nach welchen Kriterien als „Mitglied" aufgenommen wird und damit auch die Bürgerrechte erwirbt. Denn danach entscheidet sich nicht nur, wer das Wahlrecht gem. Art. 38 GG ausüben darf oder Anspruch auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern nach Art. 33 Abs. 2 GG hat - der dafür angeführte innere Zusammenhang zwischen diesen Mitwirkungs- und Teilhaberechten und der Zugehörigkeit zu der jeweiligen staatlichen Gemeinschaft erscheint ja immerhin ungeachtet der oben angedeuteten Spannungslage zunächst einmal plausibel 228 - sondern auch, wer Träger der Deutschengrundrechte (Art. 8, 9 Abs. 1, 11 und 12 Abs. 1 GG) ist. Bei diesen handelt es sich jedoch - und das läßt das Problem noch einmal in ganz anderem Licht erscheinen - um aus der Perspektive des autonomen Individuums formulierte Grundrechte, die unter Betonung ihrer staatsgerichteten Abwehrfünktion auch als klassische Freiheitsrechte 229 bezeichnet werden. 227

Sie war nach einer Flut von Publikationen u.a. ja auch schon Gegenstand zweier Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, umfangreich dokumentiert bei Isensee/Schmidt-Jortzig (Hg.), vgl. Fn. 12. 228 Vgl. zu dem Bedingungszusammenhang zwischen dem Zugang zu den Herrschaftsbefugnissen einer Gruppe und der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Quaritsch, Staatsangehörigkeit (Fn. 12), insbes. 7. - Die entscheidende Frage ist allerdings die, nach welchen Kriterien Zugehörigkeit definiert wird. In der Pennsylvania Declaration of Rights von 1776 und anderen einzelstaatlichen Rechteerklärungen (vgl. unten Fn. 243 für Delaware), die noch keine formalisierte Staatsangehörigkeit kennen, definierte man dies so: „VII. That all elections ought to be free; and that all men having a sufficient evident common interest with, and attachement to the community, have a right to elect officers, or to be elected into office" (Textabdruck bei Schwartz [Fn. 52], 266). Die dafür im „Plan or Frame of Government" festgelegten Anforderungen waren noch sehr niedrig: 21 Jahre, einjähriger Aufenthalt, Zahlung von Steuern. 229 So im Blick auf die Versammlungsfreiheit, die zunächst als „klassisches" Freiheitsrecht im Sinne eines negativen Statusrechtes zu verstehen sei, nachdrücklich Kloepfer, Versammlungsfreiheit (Fn. 101), Rn. 5, vgl. auch oben Fn. 104; a.A. Fritz Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, in: Der Staat 10 (1971), 53 ff. (55 ff.). Allgemein zum Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte, auf dem

I. Menschen- und Bürgerrechte Der durch die Deutschenvorbehalte dieser Rechte des negativen grundrechtlichen Status erzwungene Wechsel der Perspektive vom Individuum zum Volk kann, anders als bei den staatsbürgerlichen Rechten des „status activus", auch nicht auf einen inneren Zusammenhang zwischen der Ausübung dieser Rechte und der Zugehörigkeit zum „Deutschen Volk" zurückgeführt werden. Denn bei den Grundrechten in ihrer Funktion als staatsgerichtete individuelle Abwehransprüche, im Anschluß an Georg Jellinek auch als „status negativus" 230 bezeichnet, geht es - so erfahren wir zumindest in allen Grundrechts-Lehrbüchern allein um das Verhältnis Individuum-Staat. Diese perspektivische Ausrichtung auf den einzelnen Menschen ist, wie schon dargelegt, für das gesamte westliche Menschenrechtsdenken prägend, 231 dessen revolutionäre Absicht es gerade war, Maß zu nehmen „am Menschen als solchen". 232 Sehr deutlich wird dies beispielsweise in einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Geltung der Grundrechte für juristische Personen des öffentlichen Rechts, 233 wo das Gericht ausführt, daß das Wesen der Grundrechte im Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen gegen Eingriffe staatlicher Gewalt bestehe. Damit sei insistiert werden dürfe, ohne daß die Probleme der Erhaltung von Freiheit im sozialen Rechtsstaat verkürzt würden, Bernhard Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfünktion, in: EuGRZ 1984, 457 ff. (insbes. 467 f.); eingehend Gertrude Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, Baden-Baden 1988, 69 ff; s auch Johannes Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, Berlin 1993. 230 Er unterscheidet die klassischen Grundrechtsfunktionen im Verhältnis zwischen Individuum und Staat als passiven, negativen, positiven und aktiven Status; vgl. System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, 2. Aufl. Tübingen 1905, 85 ff, 94 ff. Siehe dazu die krit. Würdigung bei Alexy (Fn. 159), 229 ff, insbes. 243 ff. Interessanterweise wird terminologisch selbst vom Standpunkt eines ganz anders gearteten Grundrechtsverständnisses aus, wie etwa der von Häberle vertretenen institutionellen Grundrechtstheorie, an Jellineks Statuslehre angeknüpft. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang seine Feststellung, diese Lehre müsse heute „von ihrem spät-absolutistischen Kopf auf demokratische Füße" gestellt werden. Danach wäre der Grundstatus der status activus, der durch den status negativus, den status positivus und den status passivus abgestützt und ergänzt würde (Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 [1972], 80 f.). 231 Sie wird auch allgemein akzeptiert, ihre Eindimensionalität jedoch gelegentlich kritisiert. So unternimmt es Niklas Luhmann in seiner auf der Grundlage der soziologischen Systemtheorie entwickelten Grundrechtskonzeption, die vereinfachenden Dichotomien Individuum/Staat bzw. Gesellschaft/Staat durch ein komplexeres, an der Wirklichkeit moderner Sozialordnungen orientiertes Beziehungsgefüge zu ersetzen, indem er etwa den Begriff des Staates durch den des politischen Systems substituiert und die Schutzrichtung der Grundrechte nicht einlinig vom Individuum her interpretiert, sondern funktionsspezifischen Kommunikationssphären zuordnet (Grundrechte als Institutionen. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, 14ff., 37, 136ff., 189). 232 Vgl. Frankenberg (Fn. 133), 82. 233 E21, 362.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion unvereinbar, den Staat selbst zum Nutznießer der Grundrechte zu machen. Der Staat könne nicht gleichzeitig Adressat und Berechtigter der Grundrechte sein. Das gelte auch, wenn er sich zur Erfüllung seiner Aufgaben eines selbständigen Rechtsgebildes bediene. Denn es handle sich insoweit „vom Menschen und Bürger her gesehen" jeweils nur um eine besondere Erscheinungsform der einheitlichen Staatsgewalt. Die Regelung von Kompetenzkonflikten im weiteren Sinne sei nicht Gegenstand der Grundrechte, weil der „unmittelbare Bezug zum Menschen" fehle. Sodann betont das Gericht, daß auch im Blick auf das durch die Grundrechte als objektive Normen statuierte Wertsystem nichts anderes gelte, denn dieses Wertsystem sei auf die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und ihre Würde bezogen. Wie aber läßt sich dieser theoretische Ausgangspunkt mit den Deutschenvorbehalten in Einklang bringen, also mit der bei den oben genannten Freiheitsrechten bestehenden Möglichkeit, aufgrund der Nicht-Zugehörigkeit zum Deutschen Volk die entsprechende Freiheitsbetätigung bei Ausländern stärker zu beschränken als bei Deutschen? Diese Problematik bei den die „Freiheit des einzelnen vom Staat" gewährleistenden klassischen Abwehrrechten, die aufgrund des Diskussionsschwerpunktes im Bereich der die Freiheitsausübung „im und für den Staat" aktualisierenden Staatsbürgerrechte meist übersehen wird, gewinnt an Tiefenschärfe, wenn das Prinzip der gleichen rechtlichen Freiheit im Verfassungsstaat und, damit zusammenhängend, die bei der Beschränkung der einzelnen Freiheitsrechte geltenden Prinzipien näher unter die Lupe genommen werden.

(b)

Von den alten partikulären Freiheiten zur gleichen Freiheit des Menschen

Ist von der „klassischen" Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat die Rede, so lassen die in diesem Zusammenhang gebrauchten Wendungen auf den ersten Blick noch keinen Unterschied zu den alten partikulären Freiheiten und ständestaatlichen Privilegien erkennen. 234 So heißt es etwa, um das schon dargestellte Beispiel der Gewissensfreiheit noch einmal aufzugreifen, mit diesem Abwehrrecht des Individuums gegen unmittelbaren Glaubens- und Bekenntniszwang werde ein „bestimmter Freiheitsbereich (...) rechtlich ausgegrenzt". 235 Die historische Kontinuität, in der dieses Recht

234 235

Hierzu und zum folgenden H. Hofmann, Verfassungsprinzip (Fn. 177), 239 f. Böckenförde, Gewissensfreiheit (Fn. 179), 204, 211.

I. Menschen- und Bürgerrechte steht, 236 scheint sich in terminologischen Anklängen an die vor-individuellen Wurzeln einer zunächst rein objektiv-rechtlich als partikuläres Freiheitsrecht gewährten Gewissensfreiheit 237 abzubilden. Doch die Abbildung ist hinsichtlich der Freiheitsvorstellung genau „spiegelverkehrt". Sie reflektiert eine Entwicklung, die mit dem oben geschilderten Durchbruch der Gewissensfreiheit zum staatsgerichteten individuellen Freiheitsrecht 238 eingeleitet wurde und sich darin fortsetzte, daß „das in ihr liegende Prinzip (...) mit Recht als Grundlage der modernen individuellen Freiheitsrechte, ja des modernen Freiheitsgedankens überhaupt" (Böckenforde) 239 angesehen wird. Gedacht ist dabei an das Freiheitsprinzip des liberalen Rechtsstaates, das angesichts der in verschiedenen historisch-politischen Situationen zu Tage tretenden spezifischen Freiheitsgefahrdungen nicht nur zu immer neuen Aktualisierungen in den Freiheitsrechten drängt, sondern vor allem - und das erst bewirkt den radikalen Wandel - eine grundsätzliche Freiheitsvermutung zugunsten des einzelnen 240 beinhaltet. Vor einem liberal-rechtsstaatlichen Hintergrund wird die feudalistischständestaatliche Vorstellung von „Freiheiten" als partikulärer, dem Herrscher abgetrotzter Privilegien auf diese Weise um 180 Grad gedreht und gleichzeitig in Ablösung traditioneller Gruppenbindungen strikt auf das Verhältnis Individuum-Staat ausgerichtet. Fortan gilt: Nicht die Ausübung von Freiheitsrechten ist begründungs-, sondern die Beschränkung des individuellen Freiheitsgebrauchs durch die staatliche Gewalt ist rechtfertigungsbedürftig. Das Verhältnis von „Freiheit" und „Freiheitsbeschränkung" einschließlich der „Beweislastverteilung" hat sich damit umgekehrt. 241 Carl Schmitt prägte in diesem Zusammenhang den Ausdruck des rechtsstaatlichen „Verteilungsprinzips". Danach wird „die Freiheitssphäre des Einzelnen (...) als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist". 2 4 2 Diese Denkfigur ist zu Recht unter dem Gesichtspunkt kritisiert worden, daß grundrechtliche Freiheit hier ausschließlich in der Gewährleistung einer „privaten, eben ,staatsfreien' Sphäre" zu bestehen scheint, obwohl sie doch einem 236

Die daraus erwachsende „historisch-verfassungsrechtliche (...) Sinngebung" als Ausgangspunkt der Grundrechtsinterpretation betont insbes. Scheuner, Religionsfreiheit (Fn. 181), 586; zustimmend Böckenförde, aaO, 203 mit Fn. 7. 237 Siehe oben S. 71 ff. Diese vor-individuellen Wurzeln werden insbes. bei Scheuner, aaO, 589 und pass., hervorgehoben. 238 Siehe oben S. 73 f. 239 Böckenförde, Gewissensfreiheit (Fn. 179), 203, zum folgenden auch 215 ff. 240 Vgl. hierzu BVerfGE 6, 32 (42); E13, 97 (105); E 17, 306 (313 f.); E32, 54 (72). 241 Siehe dazu auch H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1), 14 f. 242 Verfassungslehre (Fn. 187), 126, fast wortgleich 158, s. auch 164 ff.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion gemeinsamen westeuropäisch-nordamerikanischen Wurzelgrund entstammt, der einen spezifisch politischen Freiheitsbegriff im Sinne einer „durch freiheitliche Gesetze des Gemeinwesens gestiftete(n) und gewährleistete(n) Freiheit" (Grabitz) 2 4 3 formte. - Ein Einwand, der sich, wenn man an den engen Zusammenhang zwischen Gesetz und Freiheit bei Kant denkt, 244 auch nicht etwa einfach mit dem Argument entkräften läßt, dies entspreche zwar der amerikanischen und französischen Tradition, nicht aber deutschen Vorstellungen. Zumindest vor dem Hintergrund der heutigen freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes wäre es in der Tat verfehlt, den liberalen gegen den demokratischen Freiheitsbegriff auszuspielen. Denn die Grundrechte verleihen nicht nur als subjektive Rechte einen individuellen Abwehranspruch gegen staatliche Eingriffe, sondern bilden dem Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG entsprechend auch die Grundlage und das Herzstück einer dem Staatszweck der Freiheit verpflichteten staatlichen Ordnung. 245 Die Freiheitlichkeit des auf dieser Basis errichteten Gemeinwesens läßt sich nicht auf einen „außerstaatlichen" (angeblich unpolitischen) Bereich der „Gesellschaft" reduzieren. Der Notwendigkeit objektiv freiheitssichernder Momente einerseits, dem Gedanken der Freiheit durch Teilhabe andererseits, trägt die heutige Diskussion um weitere, über die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte hinausgreifende Grundrechtsfunktionen und Dimensionen ihrer Wirkung Rechnung - beispielhaft seien nur die institutionelle Grundrechtstheorie und (unter dem Aspekt politischer bzw. sozialer Teilhabe im Sinne realer Freiheit) die demokratie-funktionale und die sozial-

243 Freiheit und Verfassungsrecht (Fn. 173), 144 f. und pass. Der insbesondere von Rousseau entwickelte politische Freiheitsbegriff, der Freiheit durch Teilhabe an der Gesetzgebung definiert, findet sich u.a. auch in der Rechteerklärung Delawares von 1776 wieder: „Sect. 6. That the right in the people to participate in the Legislature, is the foundation of liberty and of all free government, and for this end all elections ought to be free and frequent, and every freeman, having sufficient evidence of permanent common interest with, and attachment to the community, hath a right to suffrage" (Textabdruck bei Schwartz [Fn. 52], 277). 244 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre. Einleitung in die Rechtslehre, § B., in: Kant Werke, hg. von Weischedel (Fn. 138), Bd. 7, 337: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann". Zum Gesetzesbegriff bei Kant s. H. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, jetzt in: Verfassungsrechtliche Perspektiven (Fn.3), 260ff., 272ff., bes. 275ff. Zu der Frage, inwieweit das Denken Kants in direkter oder modifizierter Form Niederschlag im Grundgesetz findet, s. Lorz (Fn. 138). 245 Vgl. oben S.59 mit Fn. 148. Siehe dazu auch Stern, Menschenrechte (Fn.23), Rn. 31 ff; zum Beziehungsgeflecht zwischen verfassungsrechtlichem Demokratiebegriff und Grundrechten Gunnar Folke Schuppert, Grundrechte und Demokratie, in: EuGRZ 1985, 525 ff. (bes. 526).

I. Menschen- und Bürgerrechte staatliche Grundrechtstheorie genannt, die sich um die theoretische Aufarbeitung derartiger Überlegungen bemühen.246 Wenn vorliegend dennoch nur vom liberalen grundrechtlichen Prinzip rechtlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit des Individuums und der Bewehrung grundrechtlicher Freiheiten durch die staatsgerichtete Abwehrfunktion der Grundrechte die Rede ist, so soll damit weder behauptet werden, daß dies das einzige grundrechtliche Prinzip sei, noch daß die Funktion der Grundrechte oder der Begriff grundrechtlicher Freiheit damit erschöpfend umschrieben werde. Es geht hier allein darum, eine Folie zu finden, vor der sich die Problematik der Deutschenvorbehalte in aller Schärfe darstellen läßt. Das erfordert vor allem, daß jene Faktoren, die den Blick auf das Problem verstellen, zunächst ausgeblendet werden (was nicht ausschließt, daß sie dann auf einer späteren Stufe der Problembearbeitung einbezogen werden können). Die von der liberalen Grundrechtstheorie in den Mittelpunkt gerückte „klassische" Funktion der Freiheitsrechte - also auch der Art. 8, 9, 11 und 12 GG - als Eingriffsabwehrrechte ist dafür aus drei Gründen am Besten geeignet: Erstens ist hervorzuheben, daß dank des ausgeprägt individualistischen Grundzuges der liberalen Grundrechtstheorie die Frage der Zugehörigkeit zum Staatsvolk (die sich bei einem demokratie-funktionalen Ansatz zumindest mittelbar stellt) ausgeklammert bleibt. Gleichzeitig ermöglicht es die Ausrichtung auf die subjektiv-rechtliche Qualität der Grundrechte als individueller Abwehransprüche aber auch, die diesbezüglich durch die Deutschenvorbehalte gegebene Differenzierung einzufangen, während alle auf die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte zielenden Grundrechtstheorien gegenüber Differenzierungen hinsichtlich der subjektiv-rechtlichen Berechtigung naturgemäß blind sind und somit die besondere Problematik der Deutschenvorbehalte nicht abbilden können. Dies gilt gleichermaßen für die sogenannte Werttheorie, 247 die die Grundrechte als „objektive Wertordnung" charakterisiert, wie auch für die in246

Böckenförde, Grundrechtstheorie (vgl. Fn. 104), 119 ff, unterscheidet insgesamt fünf Grundrechtstheorien, neben den drei hier genannten die liberale (bürgerlichrechtsstaatliche) und die Werttheorie (zu weiteren Einteilungen s. die Nachw. bei Alexy [Fn. 159], 510, Fn. 136). B. steht dem bekanntlich kritisch gegenüber, sieht insbes. in der Entfaltung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen die Gefahr einer Entwicklung „vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" (vgl. ders., Grundrechtsdogmatik [Fn.20], 7 ff., 62). Ausgehend von einer Analyse der rechtlichen Folgen der unterschiedlichen Grundrechtstheorien für die Grundrechtsinterpretation und der aus dem Verfassungstext und seiner Entstehungsgeschichte zu entnehmenden normativen Grundintention des Grundrechtsteils tritt er selbst für eine durch den Sozialstaatsauftrag modifizierte liberale Grundrechtstheorie ein. 247 BVerfGE 39, 1 (41); ähnlich E49, 89 (141 f.); zur Kritik Böckenfördes an dieser „Werttheorie", wie er sie nennt, s. Grundrechtstheorie (Fn. 104), 129 ff.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

stitutionelle Grundrechtstheorie, die auf die Realisierung des institutionellobjektiven Sinns der Freiheitsgewährleistung in realen Ordnungen, Einrichtungen, gestalteten Rechts- und Lebensverhältnissen abstellt. Zweitens fordern Grundrechte in ihrer Funktion als Abwehrrechte 248 strukturell lediglich ein staatliches Unterlassen ein, gewähren also negatorische Ansprüche, die anders als soziale Leistungs- oder Teilhabeansprüche nicht durch den Verweis auf faktische Gegebenheiten relativierbar sind. Mit Aufgabe der Unbedingtheit des grundrechtlichen Anspruchs könnten demgegenüber „Störfaktoren" Einfluß gewinnen; so wäre bei Leistungs- oder Teilhabeansprüchen zu berücksichtigen, daß für Verteilungsfragen und Zugangschancen mittelbar die Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft eine Rolle spielen kann. Drittens ist die oft als die „primäre" bezeichnete abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte im Gegensatz zu vielen anderen Fragen in diesem Bereich als solche unstreitig. Denn ungeachtet der Kontroverse um neuere grundrechtstheoretische Entwicklungen besteht zumindest dahingehend Konsens, daß das liberale Prinzip gleicher rechtlicher Freiheit und der Abwehrcharakter der Grundrechte dadurch zwar ergänzt oder modifiziert worden ist - was je nach grundrechtstheoretischem Standort kritisiert oder in unterschiedlicher Ausgestaltung befürwortet wird - aber gewiß nicht aufgehoben wurde. 249 248

Zur Ambivalenz dieses Begriffs, der einerseits als grundrechtstheoretischer Gesamtbegriff verstanden wird, andererseits im Hinblick auf seine Strukturmerkmale aber auch „rechtstechnisch-konstruktiv" aufgefaßt werden kann, s. Schlink, Freiheit (Fn. 229), 459 ff, 462 ff. (468), und Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd.III/1 (Fn.2), 558 ff., 620 ff. 249 Dies gilt trotz des von Joachim Burmeister schon 1971 diagnostizierten fortschreitenden „Entliberalisierungsprozesses" (Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz für Staatsfunktionen, Frankfurt/M. 1971, 16 f.) und der in den folgenden Jahren verstärkt geführten Diskussion, ob „Freiheit" weiterhin im liberalen Sinn negativ zu bestimmen sei oder ein „Wechsel im Paradigma der Freiheit" erfolgen müsse (Dieter Suhr, Freiheit durch Geselligkeit, in: EuGRZ 1984, 529 ff. [532]). Inzwischen zeigt sich eher eine gegenläufige Tendenz der „Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion" (vgl. Fn.229). Die Frage ist daher weder, ob das Freiheitsprinzip des liberalen Rechtsstaates im Grundgesetz Niederschlag gefunden hat, noch ob die Grundrechte als Abwehrrechte zu verstehen sind, sondern wie das Verhältnis zu anderen grundrechtlichen Prinzipien und Grundrechtsfunktionen zu bestimmen ist, was also die „richtige" (verfassungsgemäße) Grundrechtstheorie ist; hierzu ausführlich Böckenförde (vgl. Fn.246) und Alexy ([Fn. 159], insbes. 510 ff.): B. kritisiert, daß das BVerfG sich wechselnd auf verschiedene Grundrechtstheorien als Ausgangspunkt seiner Interpretation stütze, ohne daß dabei ein System erkennbar wäre (aaO, 119 ff, 140 f.). Demgegenüber meint Α., es könne zwar kein Zweifel daran bestehen, daß die Prinzipien der rechtlichen Freiheit und der rechtlichen Gleichheit der Verfassung zugrundeliegen, wohl aber sei zu bezweifeln, daß dies die einzigen grundrechtlichen Prinzipien seien. Allerdings lasse sich in Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Frei-

I. Menschen- und Bürgerrechte

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Und soweit es allein um den Wirkungsradius dieses grundrechtlichen Prinzips geht (und nicht um die Behauptung seiner ausschließlichen Geltung), weist C. Schmitts Formulierung des sogenannten rechtsstaatlichen „Verteilungsprinzips" auf einen nach wie vor gültigen und gerade auch für die Deutschenvorbehalte der Art. 8, 9, 11 und 12 GG wesentlichen Gesichtspunkt hin: Gilt die Freiheit des einzelnen als „prinzipiell unbegrenzt", die Befugnis des Staates zu Freiheitsbeschränkungen jedoch als „prinzipiell begrenzt", so bedeutet das zunächst einmal, daß grundrechtlich abgesicherte Freiheit mehr ist als die Summe der Einzelfreiheitsrechte - ein Gedanke, der sich heute auf rechtsdogmatischer Ebene in der Interpretation des Jedermanngrundrechts des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeiner Handlungsfreiheit bzw. als Auffanggrundrecht im Verhältnis zu den Spezialfreiheitsrechten wiederfindet. 250 Wenn dem so ist, folgt daraus weiterhin, daß bei den einzelnen Freiheitsrechten, soweit sie von ihrer negativen Seite betrachtet werden, paradoxerweise gar nicht so sehr die Freiheitsgarantie als solche im Vordergrund steht, sondern eher die differenzierten Eingriffsmöglichkeiten, die sich aus der Festlegung von Grundrechtsschranken und der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfimg erfolgten Ausdifferenzierung durch die verfassungsgerichtliche Judikatur ergeben. Mit anderen Worten: Im Gegensatz zu feudalen Privilegien und ständestaatlichen Freiheiten werden dem einzelnen im modernen Verfassungsstaat durch die Grundrechte nicht ganz bestimmte Freiheiten staatlicherseits gewährt; vielmehr werden in der Verfassung ausgehend von der größtmöglichen gleichen Freiheit aller nach Lebensbereichen abgestufte Notwendigkeiten von Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsgestaltungen normiert 251 und durch die Verfassungsgerichtsbarkeit (z.B. im Apothekenurteil) näher konkretisiert.

heitsvermutung des BVerfG (vgl. Fn. 240) ein prima facie-Vorrang, also eine Argumentationslast zugunsten dieser Prinzipien dartun (aaO, 510 ff., 514 ff., 517 ff.). 250 Zum Rückgriff auf das Freiheitsprinzip des liberalen Rechtsstaates als Antwort auf die elementaren Freiheitsverletzungen der NS-Zeit, der Bekräftigung des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips im Grundgesetz und dazu, daß man dementsprechend im Parlamentarischen Rat die Einzelfreiheitsrechte betont als leges speciales zu dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 verstanden habe, s. Böckenförde, Gewissensfreiheit (Fn. 179), 216 ff. m.w.N. 251 H . Hofinann, Autonomieansprüche (Fn. 132), 60; ders., Verfassungsprinzip (Fn. 177), 239 f.; s. auch Roman Schnur, Pressefreiheit (Mitbericht), in: VVDStRL 22 (1965), 101 ff. (103): „So ergibt sich der Umfang des Freiheitsrechts nur aus den Schranken, nicht aus einer als vorgegeben angenommenen Substanz des Grundrechts", sowie Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (Fn. 173), 52: „Freiheitsdogmatik ist danach notwendig Schrankendogmatik" (wobei er sich wiederholt gegen ein ausschließlich negatives Verständnis grundrechtlicher Freiheit wendet, s. nur aaO, 243); ders., Verfassungsprinzip (Fn. 177), 14 ff. zur Judikatur des BVerfG.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Diese Überlegungen werfen auch ein neues Licht auf die Freiheitsrechte der Art. 8, 9, 11 und 12 GG und lassen erst deutlich werden, worin das eigentliche Dilemma ihrer Deutschenvorbehalte liegt: Wird Freiheit verfassungsrechtlich als jedem Menschen in gleicher Weise zustehend vorausgesetzt - nicht etwa partikulär durch die Gewährung von Einzelrechten zugeteilt - so ist die ungleiche Verteilung von Freiheiten auf verschiedene Gruppen von Gewaltunterworfenen, bzw. noch präziser formuliert, die hinsichtlich einer bestimmten Gruppe gegebene Möglichkeit einer stärkeren - und insofern ungleichen - Freiheitsbeschränkung problematisch. Mit dem verfassungstheoretischen Axiom gleicher Freiheit aller, das seine Wirkung im Bereich negativer grundrechtlicher Freiheit nur als strikt zu beachtende Grundlage der gesamten Schrankensystematik entfalten kann, 252 ist das schlicht nicht zu vereinbaren, wie man es auch dreht und wendet. Das ist indes erst die eine Seite der Medaille. Die andere, aus der staatlichen Perspektive betrachtete Seite wird in der kritischen Feststellung Hans Kelsens schlaglichtartig beleuchtet: Und als völlig selbstverständlich gilt jene Privilegierung, die das Institut der Staatsbürgerschaft begründet, weil man dieses (...) für eine dem Staat begriffswesentliche Einrichtung hält.253

252

Siehe dazu schon Art. 4 der der französischen Verfassung von 1791 vorangestellten Menschenrechtserklärung: „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi, Γ exercice des droits naturels de chaque homme n'a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent êtres déterminées que par la Loi" (Textabdruck bei Berlia [Fn. 17], 2). 253 Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929, 17 (Hervorhebung im Original). Diese Feststellung Kelsens steht im Kontext einer Beschreibung des Wandels vom Idealbegriff zum Realbegriff der Demokratie, in der er auf die Differenz zwischen dem Volk als Objekt und dem Volk als Subjekt der Herrschaft eingeht. Daß nicht alle, die als Norm- und Herrschaftsunterworfene zum Volke gehören, auch am Prozeß der Normerzeugung als notwendiger Form der Herrschaftsausübung beteiligt seien, verstehe sich schon so sehr von selbst, daß den demokratischen Ideologen meist gar nicht bewußt sei, welche Kluft sie verhüllen, wenn sie das „Volk" in dem einen mit dem „Volk" in dem anderen Sinne identifizierten. Abgesehen von gewissen natürlichen Schranken, die für die Ausdehnung des „Volkes" im aktiven (keineswegs aber im passiven) Sinne existierten, wie Alter und Gesundheit, hindere selbst der Ausschluß von Sklaven oder der Frauen von den politischen Rechten nicht daran, eine Staatsform als Demokratie zu bezeichnen. K. kommt dann zur Staatsbürgerschaft und stellt im obigen Zusammenhang fest: „(...) ein Irrtum, der gerade aus der zuletzt bezeichneten Tendenz der Einschränkung der politischen Rechte entspringt".

I. Menschen- und Bürgerrechte b) Exkurs: Nationaler Rechtsstaat gegen menschenrechtlichen Universalismus (1) Die deutsche Grundrechtsentwicklung bis 1949 (a)

Der Streit um die Deutschenvorbehalte unter der Weimarer Reichsverfassung

Nun ist es allerdings unter bestimmten Prämissen möglich, die oben geschilderte Spannungslage aufzulösen. Dies erhellt sich schon aus dem Umstand, daß C. Schmitt jenen Kernsatz der bürgerlich-liberalen Staats- und Grundrechtstheorie von der „prinzipiell unbegrenzt(en)" Freiheit des einzelnen in seiner „Verfassungslehre" von 1928 vor dem Hintergrund der Weimarer Reichsverfassung formulierte, die den Grundrechtskatalog in ihrem zweiten Hauptteil bezeichnenderweise unter dem Titel „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" niedergelegt hatte. Und diese nationale Eingrenzung der Grundrechtsberechtigung wurde bei den meisten Individualgrundrechten noch zusätzlich durch ihre Textfassung unterstrichen: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich" (Art. 109 Abs. 1) oder „Jeder Deutsche hat das Recht, (...) seine Meinung frei zu äußern" (Art. 118 Abs. 1), lauteten etwa zwei jener Grundrechte, die nach Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG, wie wir heute meinen, „selbstverständlich" als Jedermanngrundrechte gelten. Der wohl überwiegende Teil der Weimarer Staatsrechtslehre hingegen sah offenbar kein Problem darin, die über eine demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung konstituierte Freiheitlichkeit des Gemeinwesens mit der Beschränkung der Grundrechtsberechtigung auf „Deutsche" in Einklang zu bringen. Es gab jedoch auch eine starke Gegenbewegung unter Führung von Gerhard Anschütz, die sich über den restriktiven Verfassungstext hinwegsetzte und diejenigen Grundrechte, deren Ausübung nicht von der deutschen Staatsangehörigkeit abhänge - also beispielsweise die Meinungsfreiheit im Gegensatz zum Wahlrecht - als „Menschenrechte" interpretierte. 254 Ein Teil der von Anschütz 254

Die Verfassung des Deutschen Reichs, Nachdr. der 14. Aufl. von 1933, Darmstadt 1960, 510 ff. m.w.N. zum Streitstand; a.A. z.B. Fritz Stier-Somlo, Art. 109. Gleichheit vor dem Gesetz, in: Hans Carl Nipperdey (Hg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd.I, Berlin 1929, Neudr. 1975, 158 (160 ff.); Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, ebd., Iff. (25f.). Anschütz, aaO, insbes. 512 mit Fn. 1, 519, betont jedoch (ohne dies näher zu begründen), daß bestimmte Grundrechtseinschränkungen, die bei Deutschen ein verfassungänderndes Reichsgesetz erfordern würden, bei Ausländern durch einfaches Gesetz zugelassen werden könnten, so daß der Meinungsstreit sich in der Rechtspraxis häufig nicht auswirke. Mit den von ihm genannten Bsp. aus den

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion dafür vorgetragenen Argumente ist nur aus dem inzwischen überholten Grundrechtsverständnis der Weimarer Republik heraus verständlich und kann hier dahinstehen.255 Auch für die Deutschenvorbehalte des Grundgesetzes interessant ist aber die folgende These: (...) die Grundrechte sind in ihrer Eigenschaft als subjektive öffentliche Rechte nicht Ausfluß der Staatsangehörigkeit, sondern der Persönlichkeit und regeln als objektive Rechtsnormen nicht das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern, sondern das Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Die Grundrechte sind, trotz ihrer Bezeichnung als Rechte „der Deutschen" nicht nationalistisch, sondern individualistisch gedacht.256 Die Begriffe „nationalistisch" und „individualistisch" können allerdings nur unter der Voraussetzung als begrifflicher Gegensatz gedacht werden, daß das „Individuum" in universalistisch-aufklärerischer Wendung mit „dem Menschen" ineinsgesetzt wird. 2 5 7 Daß dieses begriffliche Vorverständnis keineswegs zwin-

Bereichen der Gewerbefreiheit, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit und der Freizügigkeit kommt er (abgesehen von der dubiosen Kategorie fehlender „Polizeifestigkeit"; dazu insbes. aaO, 519) dem entgegenstehenden Text der WRV zum Trotz der heutigen Rechtslage (Deutschenvorbehalte bei den Art. 8, 9, 11 und 12 GG), einschließlich des von der h.M. eingeschlagenen Weges über das „Auffanggrundrecht" des Art. 2 Abs. 1 GG, im Ergebnis bereits erstaunlich nahe. Siehe zum Streit über die Deutschenvorbehalte unter der Weimarer Verfassung auch Quaritsch, Ausländer (Fn.9), Rn. 90 f. 255 Dies gilt etwa für seine Befürchtung, bei einer Anwendung der Deutschenvorbehalte sei „der deutsche Staat nur für die Inländer ein Rechtsstaat, für die Ausländer dagegen ein Staat der Willkürherrschaft, »Polizeistaat4 "(aaO, 511), die sich daraus speiste, daß der Anspruchsinhalt der Freiheitsrechte sich nach damaligem Verständnis weitgehend mit dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung deckte. Das erklärt sich daraus, daß die Grundrechte vielfach als bloße „Programmsätze" betrachtet wurden, ihnen also - anders als heute (vgl. Art. 1 III GG) - keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung für die staatliche Gewalt, und insbesondere auch die Gesetzgebung, zukam. Wo jedoch Grundrechte letztlich nur „nach Maßgabe" des Gesetzes gelten, werden sie zu, wie Anschütz, aaO, es nennt, „Hervorhebungen einzelner Anwendungsfälle des allgemeinen Anspruchs auf Unterlassung ungesetzlicher Handhabung der öffentlichen Gewalt" bzw. einer „kasuistisch gefaßte(n) Darlegung jenes allgemeinen formalen Prinzips". Im Hinblick auf die Deutschenvorbehalte der Grundrechte galt es nach seiner Auffassung daher, der Gefahr zu wehren, der Vorbehalt könne u.a. auch die Anwendung dieses formalen Grundsatzes auf Ausländer ausschließen. 256 AaO, 513. 257 Der Gegenbegriff zu „nationalistisch" wäre demnach „universalistisch", während der zu „individualistisch" - wie Stier-Somlo (Fn.254), 161, zutreffend feststellt - an sich „kollektivistisch" wäre. Wenn Anschütz statt dessen „individualistisch" wählt, so greift er auf ein allgemein konsentiertes Merkmal der Freiheitsrechte zurück, unterfüttert es aber mit einem nicht ebenso allgemein akzeptierten Vorverständnis.

I. Menschen- und Bürgerrechte gend ist, illustriert die bis heute nachwirkende Statustheorie Georg Jellineks: Wenn Jellinek dort, aufgegliedert in vier unterschiedliche „Statusverhältnisse", eine „das Individuum qualifizierende Beziehung zum Staate" umschreibt, 258 so wird schon bei seiner vielzitierten Erläuterung des status negativus sehr rasch deutlich, daß er dabei ganz selbstverständlich von dem Individuum in seiner Eigenschaft als Staatsmitglied ausgeht: Dem Staatsmitgliede kommt daher ein Status zu, in dem er Herr ist, eine staatsfreie, das Imperium verneinende Sphäre. Es ist die individuelle Freiheitssphäre des negativen Status, des status libertatis, in welcher die streng individuellen Zwecke durch die freie Tat des Individuums ihre Befriedigung finden. 259 Das schließt es zwar grundsätzlich nicht aus, die Freiheitsrechte aller Gewaltunterworfenen, also auch der Ausländer, als Ausdruck des negativen Status zu begreifen, doch ist damit schon eine jener Prämissen angesprochen, die den Blick auf die oben beschriebene Spannungslage eher verstellen: In dem Umstand, daß Jellinek die rechtliche Gesamtposition des Individuums im Staat, die dann in ihrer formalen Struktur als Grundlage der Einteilung von Grundrechten dient, unter Rückbezug auf die Stellung des einzelnen als Staatsglied definiert, offenbart sich die für die spätkonstitutionelle Staatsauffassung charakteristische logische Präexistenz des Staates, an den die Rechtsordnung erst Schranken anlegt. Dieses staatszentrierte Denken hat einen nachhaltig-prägenden Einfluß auf die Weimarer Lehre und erklärt, warum die Deutschenvorbehalte von so vielen als völlig unproblematisch empfunden wurden. Ist ein vorgegebener Staat - und damit auch das Staatsvolk als konstituierendes Moment seiner Staatlichkeit - der Ausgangspunkt aller Überlegungen, so formuliert die aus dieser Perspektive gestellte Frage nach den Rechten des einzelnen zunächst nur die Frage nach den Rechten jener Individuen, die in ihrer Gesamtheit das Staatsvolk bilden, also der Staatsangehörigen oder „Staatsmitglieder", wie Jellinek es ausdrückt. Für den die Grundrechte gewährleistenden, rechtsstaatlich verfaßten Staat bedeutet dies, daß er in erster Linie die Grundrechte der Deutschen verbürgt, sich als „nationalen Rechtsstaat" begreift. Fritz Stier-Somlo fragt daher in der Auseinandersetzung mit Anschütz auch ganz offensiv: Aber sind denn nicht die Grundrechte ausdrücklich als Sonderrechte der Staatsangehörigen geschaffen? Wie käme eine deutsche Reichsverfassung dazu - ganz abgesehen von der Überschrift „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" - in ihrem Zweiten Hauptteil Rechte der Ausländer zu schaffen und zu verkünden?260

258 259 260

Vgl. System (Fn.230), 83 ff. System (Fn.230), 87. Stier-Somlo, Gleichheit (Fn. 254), 162, Fn. 8.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Zur Begründung legt er sein Staats- und Grundrechtsverständnis explizit dar: „Die Reichsbürgerschaft, zu der der Ausländer nicht gehört, ist, wo von Deutschen die Rede ist, bevorrechtigt, da sie die Staatsgenossenschaft bildet". StierSomlo betont gleichzeitig, daß Fremde in den Kulturländern natürlich nicht rechtlos seien, und auch Grundrechte, wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 135 WRV), „ausnahmsweise" für alle gemeint sein könnten. 261 Der Sinn eines Grundrechtskataloges bestehe jedoch darin, „ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem" zu normieren, „und er normiert es als nationales, als das System gerade der Deutschen (...)". 262 In der Absicht, „dem alten Gedanken des auf Gleichheit gegründeten Rechtsstaates den Gedanken vom nationalen Volksstaate der Gegenwart hinzuzufügen", habe man versucht, die Grundrechte zu einem „deutsch-republikanischen Staatsgrundbekenntnis" auszugestalten, d.h. es sollte „ein Bekenntnis zum wahren Charakter und eigensten Wesen des deutschen Volkes als Grundrecht abgelegt werden". 263 Wird die Bedeutung der Grundrechte in dieser Form umrissen, so folgt daraus in der Tat, daß Grundrechtsschutz für Ausländer hier nur Ausnahmecharakter haben kann. 264 Es treten aber noch zwei weitere Faktoren hinzu, die die Deutschenvorbehalte damals für viele als selbstverständlich erscheinen ließen.

(b)

Die Vorgeschichte

Zunächst sind in diesem Zusammenhang die Besonderheiten der deutschen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts zu nennen. Wäh261

Ders., aaO, 160, 162, 164. Ders., aaO, 171 f. Das Zitat lautet weiter: „das allgemeinere Werte national positiviert, eben dadurch den Angehörigen dieser Staatsnation etwas gibt, einen materialen Status, durch den sie sachlich ein Volk, untereinander und im Gegensatz gegen andere sein sollen". Dieser Gedanke birgt ein Paradoxon, wenn jene „allgemeineren Werte" universalistischer Natur sind, ihrem Anspruch nach also die ganze Weite der Menschheit umspannen, sich nun aber eine partikulare Gemeinschaft in Gründungsabsicht darauf beruft, die diesen Gründungsakt doch notwendigerweise nur in Abgrenzung gegen andere vollziehen kann; darauf wird unten noch zurückzukommen sein. 263 Ders., aaO, 166 f. Friedrich Naumann habe seine auf einen staatsbürgerlichen Volkskatechismus gerichteten Vorstellungen zwar nicht in der von ihm vorgeschlagenen Form durchsetzen können, doch sei zumindest in Hinblick auf die Verkündung eines ethischsozialen Schutzes - er nennt in Fn. 18 als Bsp. Schutz der Ehe, der Familie, der Jugend, des Alters, der Mutterschaft etc. - teilweise ein Bekenntnis im obigen Sinne abgelegt worden. 264 Eine Gleichstellung der Ausländer könne insoweit lediglich durch Sonderrecht, z.B. durch Staatsvertrag, erreicht werden. „Die Fälle, in denen der Ausländer ein Grundrecht nicht genießt (...) sind daher nicht Ausnahmen, sondern Regelfälle"; vgl. StierSomlo, Gleichheit (Fn.254), 161, s. auch 164, 172. 262

I. Menschen- und Bürgerrechte rend in Amerika und Frankreich am Ausgang des 18. Jahrhunderts zwei große demokratische Revolutionen stattfinden, die die alten politischen und sozialen Strukturen vom Boden der Menschenrechte aus theoretisch und praktisch bekämpfen und ihre revolutionären Proklamationen angeborener Rechte zugleich zukunfitsgerichtet als „basis and foundation of government" 265 begreifen, wird die in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende konstitutionelle und soziale Bewegung durch eine monarchische Reform von oben initiiert und kanalisiert. 266 Die in den ersten Konstitutionen enthaltenen Grundrechtsbestimmungen sind denn auch nicht als Menschenrechtserklärungen konzipiert, die die Staats- und Gesellschaftsordnung auf eine neue Grundlage stellen. 267 In dem Bestreben, derartigen Umwälzungen vorzubauen, zielen sie eher auf eine vorsichtige, „defensive" Modernisierung, vermeiden insbesondere auch den nach den Exzessen der Pariser Schreckensherrschaft mit gewalttätigem Umsturz und Terror assoziierten Begriff der „Menschenrechte". 268 Auch wenn von der Französischen Revolution Impulse auf Deutschland ausgehen,269 orientiert sich der deutsche Frühkonstitutionalismus nicht an der Déclaration von 1789, sondern an der von Ludwig XVIII. einseitig eingesetzten Charte Constitutionelle Française von 1814. Diese enthält als Versuch des restaurierten bourbonischen Königtums, das monarchische Prinzip unter Anpassung an die veränderte soziale Wirklichkeit neu zu fundieren, keine Bezugnahme auf vorstaatliche Rechte mehr, sondern nur noch „droits de Français" (Art. 1-12) als staatlich gesetztes Recht. 270 In demselben Geiste ist auch Art. 18 der Bundesakte vom 8.6.1815 verfaßt: Hinsichtlich der dort enthaltenen Zusicherung von Rechten für die Untertanen der deutschen Bundesstaaten stellt die Begriffswahl ebenfalls klar, daß diese Rechte als jeweils nur den eigenen Landeskindern staatlicherseits verliehene gelten, nicht etwa als vorstaatliche Menschenrechte lediglich anerkannt werden sollen. 271 In den Verfassungen der deutschen Bundesstaaten wird dementsprechend, sofern sie überhaupt Individualrechte aufnehmen, überwiegend der Begriff der „Untertanenrechte" übernommen. Ist gelegentlich von Rechten oder 265

Vgl. oben S. 78. Siehe dazu E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Ein Überblick, in: Jus 1971, 560 ff. (563 ff., bes. 565); jetzt auch in: ders. (Hg.), Recht, Staat, Freiheit, 2. Aufl. Frankfurt a.M.1992, 244 ff. 267 Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (Fn.173), 159. 268 H. Hofinann, Die Grundrechte 1789-1949-1989, in: Verfassungsrechtliche Perspektiven (Fn.3), 23ff. (26 m.w.N.); ders., Rechtsstaat (Fn. 1), 224; Kleinheyer (Fn. 1), 1071. 269 Böckenförde, Verfassungsprobleme (Fn.266), 561; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (Fn.173), 159. 270 Hofinann, Grundrechte (Fn.268), aaO; Kleinheyer (Fn. 1), 1070. Die französische Charte ist abgedruckt bei Berlia (Fn. 17), 168 ff. 271 Vgl. Kleinheyer, aaO. 266

7 Siehr

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Rechtsverhältnissen der „Staatsbürger" die Rede, so haben diese nichts mehr mit jenen revolutionär-abstrakten „Bürgerrechten" der Déclaration von 1789 gemein, sondern setzen stets das eingangs des betreffenden Katalogs geregelte Indigenat voraus. 272 Andere Verfassungen gewähren die jeweiligen Rechte ausdrücklich den „Landesangehörigen" bzw. betiteln ihren Rechtekatalog in expliziter Bezeichnung der Rechtsträger „Staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener" oder „Rechte (...) der Hessen".273 Weder in den gemäß Art. 13 der Bundesakte, der landständische Verfassungen für alle Bundesstaaten angeordnet hatte, geschaffenen Konstitutionen noch in den Verfassungen der zweiten Konstitutionalisierungswelle nach der Pariser Juli-Revolution von 1830 finden sich noch Formulierungen, die das menschenrechtlich-universalistische Gedankengut der Revolutionszeit aufnehmen. 274 Auch die Stellung der Untertanenrechte in den Verfassungen läßt nicht den Schluß zu, daß sich auf ihnen das Staatswesen aufbaue: Nirgends stehen sie an der Spitze, häufig tauchen sie erst in späteren Abschnitten auf, in Sachsen-Weimar sogar erst im Anhang. 275 Damit ist nicht nur der für das amerikanische und westeuropäische Grundrechtsverständnis unlösbare Zusammenhang zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit aufgehoben, sondern diesen vom Monarchen - selbstverständlich nur den eigenen Untertanen - gewährten Rechten fehlt auch das Pathos und die innere Formkraft selbst erkämpfter und zur Grundlage der neuen politischen und sozialen Ordnung erklärter Menschenrechte. 276 Eine gewisse Renaissance erlebte der Begriff der „Menschenrechte" in den Verhandlungen des Frankfurter Paulskirchenparlaments. Neben den häufig 272

Kleinheyer, aaO, 1071 f. Baden 22.8.1818; Großherzogtum Hessen 17.12.1820. Die Kurhessen geben dem entsprechenden Abschnitt ihrer Verfassung (5.1.1831) demgegenüber ebenso wie die Sachsen (4.9.1831) die Überschrift „Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Untertanen"; zu dieser Betonung der Pflichtenseite H. Hofmann, Grundrechte (Fn. 268), 26 f. Zu den übrigen Verfassungen vgl. im einzelnen Kleinheyer, aaO, 1070 f.; s. auch Stern, Menschenrechte (Fn.23), Rn.23. 274 Es wird nicht nur jede ausdrückliche Berufung auf „Menschenrechte", sondern auch jeder Anklang an einen vorstaatlichen Charakter dieser Rechte vermieden: Die Untertanenrechte werden erst durch die Verfassung „gewährt" oder „zugesichert". Bringen in einigen Verfassungen Begriffe wie „aufrecht erhalten", „sichern" oder „bewahren" eine Bindung des Verfassunggebers zum Ausdruck, so ist dabei nur an das alte Recht, die „Rechte und Freiheiten" (so Hannover, Deklaration vom 11.5.1832) des dualistischen Ständestaates, nicht etwa an vorstaatliche Rechte gedacht; s. dazu im einzelnen Kleinheyer, aaO, 1071 f. 275 Zu den Einzelheiten s. Kleinheyer, aaO, 1072. 276 Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Der Staat, Bd. 18 (1979) 321 ff., 323; s. auch Böckenförde, Verfassungsprobleme (Fn.266), 565. 273

I. Menschen- und Bürgerrechte verwandten Bezeichnungen „Volksfreiheit", „Volksrechte" und „Freiheitsrechte" 2 7 7 beruft man sich in der Debatte, auch unter Bezugnahme auf die amerikanischen und die erste französische Rechteerklärung, unter anderem auf „unveräußerliche" oder „allgemeine Menschenrechte" bzw. „Rechte der Menschen und Bürger". 278 Der Mehrheitsauffassung erschien diese Begrifflichkeit jedoch als zu abstrakt und doktrinär; sie setzte dem abstrakten Rationalismus, Mechanismus und Individualismus der Französischen Revolution ein an den Kategorien eines politischen Organismus oder einer gestuften Genossenschaft, also ein eher historisch und ganzheitlich orientiertes Denken entgegen.279 Schließlich erhielt der Grundrechtskatalog auf Antrag Uhlands die Überschrift „Grundrechte des deutschen Volkes" und wurde so auch im Dezember 1848 von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beschlossen und im Reichsgesetzblatt bekanntgemacht.280 Den Terminus „Grundrechte" hat es in positiven Verfassungstexten des 19. Jahrhunderts als solchen bis dahin nicht gegeben,281 doch ist die dahinterstehende Rechtsidee nicht neu: In subjektiv-rechtlicher Einkleidung weisen die „Grundrechte" auf die am Ausgang des 16. Jahrhunderts gemeinsam mit den Begriffen „Souveränität" und „Staatsräson" aufgekommene Bezeichnung „Grundgesetze" (leges fundamentales) zurück, die jene über die Person des Monarchen hinausgreifenden Rechtsgrundlagen einer Herrschaft benennen, die von diesem nicht einseitig geändert werden 277

Von „alten Rechten und Freiheiten des Volkes" und „Volksfreiheit" ist bei Jucho in: ders. (Fn. 78), Einf. zur 1. Lfg., III., V., die Rede; aus den in der 1. Lfg. abgedr. Stellungnahmen im Vorparlament s. nur Biedermann: „Rechte des Volkes, eine Art Magna Charta für das deutsche Volk", ebd., 130; ähnlich Leue, ebd., 133; Jaup: „allgemeine Volksrechte", ebd., 134, 143; zustimmend Blum, ebd., 145; Welcker: „einzelne Freiheitsrechte", ebd:, 138. 278 Für eine Bezugnahme auf die amerikanischen und die erste französische Rechteerklärung s. Mohl und Leue im Vorparlament, in: Jucho (Fn.78), 1. Lfg., 145 f., 147; von „Menschenrechten" sprechen in unterschiedlichen Formulierungen u.a. Struve: „die (...) unveräußerlichen Menschenrechte", ebd., 7; Mohl: Erklärung der „allgemeinen Menschen- und Volksrechte", ebd., 146; Leue: „die Rechte der Menschen und Bürger" als wichtigste und heiligste Frage, ebd., 147; vgl. auch das Offenburger Programm der südwestdeutschen Demokraten vom 10.9.1847, Art. 1: „Wir verlangen, daß sich unsere Staatsregierung lossage von den Karlsbader Beschlüssen (...) Diese Beschlüsse verletzen gleichmäßig unsere unveräußerlichen Menschenrechte, wie die deutsche Bundesakte und unsere Landesverfassung" (abgedruckt in: Ernst Rudolf Huber [Hg.], Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, 261). 279 Siehe dazu die Nachweise bei H. Hofmann, Grundrechte (268), 27, Fn. 13 ff. 280 Gesetz betr. die Grundrechte des deutschen Volkes, in Kraft getreten am 27.12.1848 (RGBl. 49); für Nachweise zur 48er Revolution s. Böckenförde, Verfassungsprobleme (Fn. 266), 563, Fn. 19; speziell zu den Frankfurter Grundrechten bei Wahl (Fn. 276), 340, Fn.72. 281 Wahl (Fn. 276), 323.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

können. 282 Diese Wortwahl ist insofern geschickt, als sie einerseits etymologisch durch den Anklang an die leges fundamentales an die Höherrangigkeit und Unverbrüchlichkeit der als „Grundrechte" niedergelegten Rechte appelliert, 283 andererseits die Frage einer vorstaatlichen Legitimation offenläßt, 284 indem sie, ohne den vorstaatlichen Charakter damit zu verneinen, nur etwas über die innerstaatliche Funktion dieser Rechte aussagt.285 Das erklärt die schnelle Akzeptanz des bis dahin nicht gebräuchlichen Begriffs der „Grundrechte". 286 Gleichzeitig spiegelt die Berufung des „deutschen Volkes" in der Überschrift des Grundrechtskatalogs und die Einleitung vieler Grundrechte („Jeder Deutsche" 287 ) die für das deutsche Streben nach einem organischen Ausgleich zwischen Königtum und Volksfreiheit charakteristische Einheit von nationaler und konstitutioneller politischer Bewegung wider, 288 die im Rahmen eines monarchisch-liberalen Konstitutionalismus die Geltungskraft der Grundrechte und den Gedanken der Volkssouveränität gegenüber dem monarchischen Faktor ver282

H. Hofinann, Grundrechte (Fn.268), 27 f.; ders., Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: Recht - Politik - Verfassung (Fn.86), 261 ff. (275 ff.); Kleinheyer (Fn. 1), 1047 ff., 1054 ff., 1076, 1078. 283 Zur herausgehobenen Stellung der als dauerhaft, unverbrüchlich und vorrangig gegenüber anderem Recht geltenden Grundgesetze s. Hofinann, Staatsgrundgesetz, aaO, 277; dazu, daß in den „Grundrechten" die in allen Bundesstaaten üblich gebliebene Verfassungsbezeichnung „Grundgesetz" anklingt, Kleinheyer (Fn. 1), 1078. 284 Stern, Menschenrechte (Fn.23), Rn.25, weist hier einerseits auf die zahlreichen Deutschen vorbehalte, andererseits auf §130 RV hin, der eine Aufhebung oder Beschränkung der dem deutschen Volk gewährleisteten Rechte durch (Verfassungs-)Gesetze der Einzelstaaten ausschließt, und spricht insoweit von einer „Mittellage zwischen vorstaatlichen Menschenrechten und einfachen positiven Rechten". 285 Anders bei Welcker und der Linken im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung, die sich ausdrücklich auf vorstaatliche Menschenrechte bezogen, s. Kleinheyer (Fn. 1), 1077 f. m.w.N. in Fn. 182. 286 Kleinheyer, aaO, 1076, der daraufhinweist, daß zuvor lediglich Mittermaier, der spätere Präsident des Vorparlaments, 1824 in Bezug auf die den Bürgern in den Bundesstaaten zugesicherten Rechte, die ihnen wegen der Verankerung in Art. 18 Bundesakte auch nicht entzogen werden könnten, von „Grundrechten" sprach. 287 Allerdings waren keineswegs alle Grundrechte zusätzlich in ihrer Textfassung mit einem Deutschen vorbehält versehen. Eine Aufzählung der Einzelbestimmungen ohne Deutschenvorbehalt findet sich bei Sachs, Ausländergrundrechte (Fn.2), 386, Fn. 11. An der Grundtendenz, die durch das Ziel der Herstellung nationaler Einheit bestimmt wird, ändert das jedoch nichts. 288 Böckenförde, Verfassungsprobleme (Fn.266), 563; ausführlich ders., Die Einheit von nationaler und konstitutioneller politischer Bewegung im deutschen Frühliberalismus, in: ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918), Köln 1972, 27 ff.

I. Menschen- und Bürgerrechte

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stärkt 289 und zugleich in Abgrenzung gegenüber allen universell-abstrakten Prinzipien sehr pointiert die neuen Grundsätze eines nationalen Rechtsverständnisses formuliert. 290 Nach dem Scheitern der Revolution hob die Bundesversammlung des wieder belebten Deutschen Bundes die „sogenannten Grundrechte", wie es im Beschluß hieß, förmlich auf. 291 Preußen hatte zuvor bereits in seiner oktroyierten Verfassung vom 5.12.1848/31.1.1850 unter Titel II „Von den Rechten der Preußen" den terminologischen Rückzug zum Vormärz angetreten. 292 Die Verfassungen des Norddeutschen Bundes von 1867 und des Deutschen Reiches von 1871 verzichten dann bekanntlich ganz auf einen Grundrechtskatalog. Man hielt dies im Hinblick auf die einzelstaatlichen Grundrechtsverbürgungen für nicht so dringend, wollte das Verfassungswerk nicht durch weitere Grundrechtsverhandlungen verzögern 293 und baute im übrigen auf eine „zeitgemäße" einfachgesetzliche Umsetzung und Ausgestaltung dessen, was sonst Inhalt von Grundrechtsgewährleistungen wäre. 294 In der Vorstellung, es komme allein auf die positivrechtliche Regelung bestimmter Inhalte durch die einfache Bundes- und spätere Reichsgesetzgebung an (dergegenüber die Grundrechte in ihrer Abstraktheit ja sogar defizitär erscheinen müssen!), wird das Gegenbild zu den menschenrechtlichen Proklamationen der Revolutionszeit, aber auch zum heutigen Grundrechtsverständnis sichtbar: Weit davon entfernt, natürliche Menschenrechte als das dem Staat vorgegebene „higher law" zu begreifen und den Grundrechten eine - erst ihre Dynamik und Ausstrahlungswirkung erzeugende grundlegende Funktion für die gesamte Staatsordnung zuzuerkennen, 295 beschäftigt sich die damalige juristische Literatur unter dem Blickwinkel eines fortschreitenden Ausbaus der Verwaltungsrechtspflege vor allem mit der rechtsdogmatischen Einordnung positi vierter Grundrechte als objektive Rechtssätze 289

Wahl (Fn. 276), 340 mit Fn. 73. Hofmann, Grundrechte (Fn. 268), 28. 291 Vgl. Bundesbeschluß vom 23.8.1851, abgedruckt bei R. Huber (Fn.278), Bd. 2, 1964, Nr. 2, 2. 292 Zu diesem Rechtekatalog s. Pieroth/Schlink (Fn.5), Rn.31. Bzgl. der Rechte der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 4 S. 1) und der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 27) wird hier übrigens ebenso ausdrücklich auf „Preußen" Bezug genommen wie in der Weimarer Reichsverfassung auf „Deutsche" (vgl. dazu oben S. 93). 293 Siehe hierzu Kleinheyer (Fn. 1), 1080 (m.w.N. in Fn. 196); Wahl (Fn.276), 341. 294 Stern, Menschenrechte (Fn.23), Rn.26. Er sieht in der einfachgesetzlichen Regelung der grundrechtlichen Materien eine teilweise Kompensation der Ablehnung verfassungsrechtlicher Grundrechte; krit. Wahl (Fn. 276), 341 mit Fn. 78 f. 295 Wahl, aaO, 347, der in Fn. 100 auch die Gegenauffassung Jellineks zitiert: „Der Staat findet den Grund seiner Rechte und Pflichten in sich selbst". Zu den Unterschieden zwischen demokratischer und konstitutioneller Grundrechtstheorie eingehend Grabitz, Freiheit (Fn.173), §§ 14 u.15, S. 139ff., 158 ff. 290

1 0 1 .

Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

oder subjektive öffentliche Rechte. 296 Und selbst wenn sie als subjektive öffentliche Rechte interpretiert wurden, sollten diese dank einer positivistisch verkürzten Sichtweise im Ergebnis nur den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung akzentuieren, 297 so daß die einzelnen Grundrechte letztlich funktionslos bleiben und leer laufen. 298 Vor dem Hintergrund dieser verfassungsgeschichtlichen Entwicklung, die selbst auf ihrem geistigen Höhepunkt im Jahre 1848, als sie Anschluß an die Grundrechtsentwicklung der westlichen Welt suchte, in besonderer Weise durch das Streben nach nationaler Einheit geprägt war, 299 können die Deutschenvorbehalte der Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung kaum verwundern. Sicherlich war diese Verfassung „ein bemerkenswerter Versuch zeitgemäßer Fortschreibung des Grundrechtskatalogs" von 1848, der unter dem Eindruck der sog. sozialen Frage, eingebettet in die neue Ordnung der demokratischen und sozialen Republik, zusätzlich eine soziale und ökonomische Dimension gewinnt. 3 0 0 Doch dies geschah eben - daher auch die überwiegende Akzeptanz der Deutschenvorbehalte im Schrifttum - in bewußter Anknüpfung an die 48er Tradition eines sich in Abgrenzung gegenüber jedem abstrakten menschen296

Als „objektive, abstrakte Rechtssätze über die Ausübung der Staatsgewalt" werden sie etwa bei Carl Friedrich v. Gerber (Über öffentliche Rechte, Tübingen 1852, unveränd. Nachdr. Tübingen 1913, 65) charakterisiert; s. auch Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Tübingen 1876, 149: Die „sogenannten Freiheitsrechte oder Grundrechte (...) sind überhaupt keine Rechte im subjectiven Sinne. (...) [Sie] sind Normen für die Staatsgewalt, welche dieselbe sich selbst gibt, sie bilden Schranken für die Machtbefugnisse der Behörden (...) aber sie begründen nicht subjective Rechte der Staatsbürger. Sie sind keine Rechte, denn sie haben kein Object" (Hervorhebung durch Sperrung im Original; wortgleich, aber mit veränderter Orthographie 5. Aufl. Tübingen 1911, 150 f.). Für die Gegenansicht s. Otto v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, in: Jahrbuch f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, hg. v. Gustav Schmoller, 7. Jg. (1883), 1 ff. (36ff.); Jellinek, System (Fn.230), 86 u. pass.; ausführlich auch Ottmar Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, Berlin/Stuttgart/Leipzig 1914, insbes. 61 ff. 297 Vgl. dazu Fn.255; s. auch Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (Fn. 173), insbes.13, 178. 298 Wahl (Fn. 276), 329 f.; Grabitz, ebd., und 124. 299 Dazu, daß man sich vom Grundrechtskatalog eine Unterstützung des Strebens nach nationaler Einheit erhoffte, Kleinheyer (Fn. 1), 1075. 300 Pieroth/Schlink (Fn.5), Rn.36ff. (37 f.). Die neue soziale Dimension der Grundrechte klingt in den ersten drei Abschnitten („Die Einzelperson" [Art. 109 ff.], „Das Gemeinschaftsleben" [Art. 119 ff.] und „Religion und Religionsgesellschaften" [Art. 135 ff.]) nur vereinzelt an, tritt jedoch im vierten („Bildung und Schule" [Art. 142 ff.]) und noch mehr im fünften Abschnitt der WRV („Das Wirtschaftsleben" [Art. 151 ff.]) deutlich zutage.

I. Menschen- und Bürgerrechte

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rechtlichen Universalismus nach französischem Vorbild 3 0 1 betont national definierenden Rechtsstaates. Der universell-abstrakte Begriff „des Menschen" taucht folglich nur einmal, und zwar in der Form „menschenwürdig" in der Einleitung des Abschnittes über das Wirtschaftsleben (Art. 151 Abs. 1 S. 1 WRV) auf, 302 während die nationale Komponente schon in der Überschrift des 2. Hauptteils, zusätzlich aber auch bei den meisten Individualgrundrechten in der Umschreibung des Grundrechtsträgers als ,jeder/alle Deutsche(n)" zutage tritt. 3 0 3

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Weitere Faktoren

Neben den Besonderheiten der deutschen Grundrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert, die eine Tradition einzelstaatlicher bzw. nationaler Vorbehalte begründet (wobei diese wiederum in ihrer Wechselbezüglichkeit zu dem oben als eigenständiger Faktor für die Art der Problemwahrnehmung aufgeführten staatszentrierten Denken zu sehen ist 3 0 4 ), trägt noch ein weiteres Moment dazu bei, daß die Deutschenvorbehalte überwiegend als „unproblematisch" empfunden wurden: Es sind dies die mittelbaren Auswirkungen der damals noch umstrittenen Frage, ob die Freiheitsrechte im Verfassungsstaat Ausdruck eines allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat seien. 305 So erklärt etwa Stier-Somlo nachdrücklich, er könne den von Thoma wieder aufgenommenen Gedanken Georg Jellineks von einem „allgemeinen Persönlichkeits301 Zum philosophisch-abstrakten Charakter der Déclaration von 1789 s. schon Boutmy (Fn. 59), 88f.: „Alle Deklarationen der Vereinigten Staaten sind in der Weise verfaßt, daß man sich vor Gericht auf sie berufen kann. (...) Für die Franzosen ist die Deklaration nur ein oratorisches Meisterstück, die Artikel stehen da in abstrakter Reinheit, allein im Glänze ihrer Majestät und der Herrschaft der Wahrheit über die Menschen. Kein Gericht kann sie als Rechtsmittel verwenden oder sie zur Urteilsbegründung heranziehen. Zur Belehrung der ganzen Welt schreiben die Franzosen". Dazu auch Stern, Menschenrechte (Fn.23), Rn. 19; eingehender zum Universalismus der Rechteerklärungen H. Hofmann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 16 f.; ders., Rechtsstaat (Fn. 1), 13, 18. 302 Darauf weist auch H. Hofmann, Grundrechte (Fn.268), 29, hin. Art. 151 Abs. 1 S. 1 lautet: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdgen Daseins für alle entsprechen". 303 Vgl. oben S.93. 304 Vgl. dazu oben S.95. Darüber hinausgehend sei hinsichtlich der grundrechtstheoretischen Implikationen der konstitutionell-monarchischen Verfassungstheorie auf die ausführliche Darstellung bei Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (Fn. 173), §15, insbes. 168 ff., 173 f., 177 f., verwiesen. 305 Siehe dazu heute BVerfGE 19, 342 (348 f.).

1 0 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion recht auf Freiheit von ungesetzlicher Einschränkung seines Subjektes im Gebrauche seiner natürlichen Kräfte und seiner privaten Rechte von Seiten der öffentlichen Gewalt" nicht billigen. 306 Es gebe keine allgemeine Freiheit jenseits der in den deutschen Grundrechten niedergelegten einzelnen Freiheitsrechte. Ein zwar nicht ausdrücklich ausgesprochenes, aber im Verfassungsstaat doch implizit gesetztes allgemeines Freiheitsrecht könne nicht als Grundrecht anerkannt werden, da es nicht als solches bestehe, „sondern allenfalls als abstrakte begriffliche Ableitung aus einer Synthese der, Freiheitsrechte beinhaltenden Grundrechte vorstellbar ist". 3 0 7 Nun lassen sich aber Freiheiten naturgemäß viel leichter in ungleicher Weise auf verschiedene Gruppen - die eigenen Staatsangehörigen hier, auf der Basis von Staatsverträgen in unterschiedlicher Form berechtigte Gruppen von Ausländern dort - verteilen, wenn man nicht von einem im Verfassungsstaat für alle einheitlich geltenden Prinzip der Freiheit 308 ausgeht, denn vor einem solchen Hintergrund entsteht bei jeder ungleichen Freiheitsbeschränkung ein Rechtfertigungsdruck. Wer hingegen allein die staatsbürgerliche Gleichheit für maßgeblich hält (und sogar der Gleichheitssatz war in Art. 109 S. 1 WRV als Deutschenrecht formuliert!), mag Ausländer auf Grund entsprechender völkerrechtlicher Verpflichtungen oder auch des eigenen Selbstverständnisses als Kulturstaat hinsichtlich des durch die Deutschenrechte gewährleisteten Schutzes punktuell gleichstellen - ein darüber hinausgehender Rechtfertigungsdruck entsteht dann jedoch nicht. 306

Stier-Somlo (Fn. 254), 168. Dabei geht es, wie das Zitat zeigt, sogar nur um Freiheit im Sinne der Abwesenheit von gesetzwidrigem Zwang (zu diesem Freiheitsverständnis Jellineks s. auch ders., System [Fn.230], 103f.). Anders als bei der heutigen Interpretation des Art. 2 Abs. 1 als allgemeiner Handlungsfreiheit wird also nicht jede staatliche Beeinträchtigung erfaßt, da dies erst vor dem Hintergrund der von gesetzgeberischer Umsetzung und Ausgestaltung unabhängigen, unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte für die Staatsgewalt, die nach Art. 1 Abs. 3 GG heute insbes. auch den Gesetzgeber binden, möglich ist (vgl. schon Fn. 255). 307 Stier-Somlo (Fn.254), 168 f. 308 Zum Verfassungsprinzip der Freiheit und seiner Verwirklichung im Grundgesetz s. oben Fn. 177. Schon Jellinek, System (Fn.230), 103f., sieht die Freiheitsrechte als Ausdruck eines einheitlichen Prinzips, aber eben nur der Freiheit von gesetzwidrigem Zwang (vgl. oben Fn. 306). Ohne unmittelbare Grundrechtsbindung - hier an den als Menschenrecht positivierten Gleichheitssatz - kommt das Problem ungleicher Freiheitsbeschränkung jedoch allenfalls dann in den Blick, wenn man das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes miteinbezieht. C. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 187), 151, hat den generellen Charakter der Rechtsnorm im Anschluß an Rudolf Gneist als den „archimedischen Punkt des Rechtsstaates" bezeichnet. Dennoch bleibt die Problemwahrnehmung, soweit es um Deutschenvorbehalte geht, unscharf; dies folgt schon aus den hier mitgedachten immanenten Grenzen des national fundierten Rechtsstaates, der, wie Schmitt, aaO, auf S. 154 erklärt, auf der Freiheit und der Gleichheit der Staatsbürger beruhe.

I. Menschen- und Bürgerrechte

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Es gibt jedoch noch eine andere, sehr einflußreiche Variante des staatszentrierten Denkens, die den Menschenrechten einen von der Frage völkerrechtlicher Verpflichtungen, die erst durch die Staatengemeinschaft, also von außen, an den Staat herangetragen werden, unabhängigen Platz zuweist. Es wurde oben schon angedeutet, daß in der literarischen Behandlung der Freiheitsrechte im Spätkonstitutionalismus die Frage naturrechtlicher Legitimation gegenüber der positivistischen Begründung zurücktritt, doch wird dabei nicht selten eine Freiheitssphäre des einzelnen als mit dem Wesen des Staates oder des Menschen notwendig verbunden betrachtet. 309 Hier sei nochmals an Georg Jellinek erinnert, in dessen Statuslehre die Freiheitsrechte dem status negativus vel libertatis zugeordnet sind. Wenn Jellinek bei der Umschreibung dieses Status beim „Staatsmitglied" ansetzt, so deshalb, weil er den Staat als gegeben voraussetzt, den einzelnen somit von vornherein innerhalb des Staates und in seiner Relation zum Staat betrachtet. Das bedeutet nicht, daß die Staatsangehörigkeit damit zum „Tatbestandsmerkmal" für die Ausübung der Rechte des status negativus würde. Ganz im Gegenteil - Jellineks in dem obigen Zitat 3 1 0 deutlich werdende Vorstellung, Freiheit bestehe in der Ausgrenzung einer „staatsfreie(n), das Imperium verneinende(n) Sphäre", sei folglich selbst rechtlich nicht normiert, verträgt sich ganz und gar nicht mit „Tatbestandsmerkmalen" bezogen auf einen Status, den er auch als einen Zustand „natürlicher Freiheit" 311 bezeichnet. Dort lassen sich auch die „klassischen Menschenrechte" verorten, die nach der Statustheorie schon auf Grund ihrer formalen Struktur als Ausdruck des negativen Status erscheinen, und mit deren Entstehung sich Jellinek an anderer Stelle eingehend auseinandergesetzt hat. 312 Im Hinblick auf die Freiheitsrechte der Weimarer Reichsverfassung war es wiederum Carl Schmitt, der später unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den status negativus im Sinne der Jellinek'schen Lehre daraus die Konsequenzen zog: Die „Freiheitsrechte des einzelnen Menschen, und zwar des isoliert gedachten oder des mit anderen einzelnen Menschen in Beziehung tretenden Individuums erklärt er und meint die Art. 114 (Freiheit der Person), Art. 115 (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 117 (Briefgeheimnis), Art. 118 (Mei309

Siehe dazu die Nachweise bei Kleinheyer (Fn. 1), 1080, Fn. 199. Vgl. oben S. 95. 311 Vgl. System (Fn.230), 95. Die Kennzeichnung der Freiheit als „natürliche (Handlungs-)Freiheit" ist im spätkonstitutionellen Staatsrecht durchaus verbreitet, vgl. etwa Gerhard Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preussischem Staatsrecht, 2. Aufl. Tübingen/Leipzig 1901, 163; Laband, Staatsrecht I (Fn.296), 1. Aufl.: 149; 5. Aufl.: 151; Bühler (Fn.296), 75, 146f. 312 Siehe dazu oben S.74 (zur Kontroverse mit E. Boutmy auch vorher schon S.29ff). 310

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nungsfreiheit), Art. 123 (Versammlungsfreiheit) und Art. 124 (Vereinsfreiheit), könnten überhaupt nur „wegen ihres erstens individualistischen und zweitens gleichzeitig negativen Charakters (...) MenschenxzohXt sein, d.h. nicht nur den Staatsbürgern, sondern unterschiedlos allen Menschen, also auch Ausländern zustehen",313 eine Feststellung, auf die sich auch Anschütz bei seiner die Geltung der Deutschenvorbehalte beschränkenden Interpretation dieser Rechte beruft. 314 Bemerkenswert ist insbesondere, daß mit den beiden letztgenannten Freiheitsrechten ja auch zwei der heutigen Deutschengrundrechte, niedergelegt in Art. 8 und 9 GG, angesprochen sind. Damit bestätigen sich die oben schon dargelegten Zweifel: 315 Anders als bei den politischen Mitwirkungsrechten des status activus, die nach Jellineks Statuslehre zwar ebenfalls einem bestimmten Status des Individuums zuzuordnen sind, sich aber als die „Freiheit zum Staat" gewährleistende Rechte doch immerhin auf die staatliche Gemeinschaft beziehen und insofern als Rechte des einzelnen als „Staatsmitglied" verstanden werden können, sind die die „Freiheit vom Staat" sichernden Individualrechte des negativen Status ihrer Konzeption nach nicht mit nationalen Vorbehalten in Einklang zu bringen. Wenn C. Schmitt an anderer Stelle ergänzend ausführt, daß die rechtliche Bedeutung der verfassungsrechtlichen Anerkennung und „Erklärung" der liberalen Menschenrechte in der Anerkennung des sog. rechtsstaatlichen „Verteilungsprinzips" liege, 316 so folgt daraus, daß auch die Geltung dieses Prinzips nicht an der Staatsangehörigkeit anknüpft. Im Gegensatz zu Stier-Somlo 317 ist C. Schmitt somit der Auffassung, daß der bürgerliche Rechtsstaat „die prinzipielle Unbegrenztheit der menschlichen Freiheit" (im Singular formuliert!) vor-

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C. Schmitt, Die Grundrechte und Grundpflichten des deutschen Volkes, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Bd., Tübingen 1932, 572 ff., 590 f. (Sperrung im Original); ders., Verfassungslehre (Fn. 187), 164: „Grundrechte im eigentlichen Sinne sind also nur die liberalen Menschenrechte der Einzelperson. Die rechtliche Bedeutung ihrer Anerkennung und ,Erklärung4 liegt darin", daß dies die „Anerkennung des fundamentalen Verteilungsprinzips des bürgerlichen Rechtsstaates bedeutet: eine prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre des Einzelnen und eine prinzipiell begrenzte, meßbare und kontrollierbare Eingriffsmöglichkeit des Staates. Daraus, daß es sich um vorstaatliche Menschenrechte handelt, folgt weiter, daß diese echten Grundrechte für jeden Menschen ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit gelten". 314 Anschütz (Fn. 254), 513. 3,5 Vgl. oben S.85f. 316 Siehe oben Fn. 313; zum rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip auch oben S. 87 f. 3,7 Vgl. oben S. 103 f.

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aussetze, während „die staatliche Beschränkung als Ausnahme erscheint". 318 Dabei hebt er gleichzeitig hervor, daß Inhalt und Umfang der Freiheit sich nicht aus dem Gesetz ergeben dürfen: „Eine Freiheit ,nach Maßgabe der Gesetze4 ist überhaupt keine Freiheit im liberalen Sinne". 319 Die von C. Schmitt angenommene allgemeine Geltung dieses Freiheitsprinzips bewirkt, wenn man diesen Gedanken konsequent weiterentwickelt, 320 durchaus einen Unterschied in der Bewertung der Deutschenvorbehalte der Weimarer Reichsverfassung. Nur durch die Folie der Statuslehre betrachtet, wären die Deutschenvorbehalte der oben genannten Individualfreiheitsrechte schlicht eine systemwidrige Beschränkung. Was von der metarechtlichen Ebene dieser Theorie her gesehen aber als „Falschbezeichnung" erscheinen mag, löst noch keine verfassungsrechtliche Spannungslage aus. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Geltung des Freiheitsprinzips läßt sich jedoch insofern von einem Spannungsverhältnis sprechen, als ein durch die Verfassung selbst anerkanntes und für alle Menschen ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit geltendes Prinzip bezüglich der Rechte einer bestimmten Gruppe von Menschen wieder zurückgenommen wird. Damit entsteht der oben schon angesprochene Rechtfertigungsdruck. Allerdings kommt den von C. Schmitt als „Grundrechte im eigentlichen Sinne" bezeichneten liberalen Menschenrechten in seiner Verfassungslehre in doppelter Hinsicht nur eine beschränkte Bedeutung zu: Erstens ergibt sich eine seinem theoretischen Ansatz immanente Begrenzung daraus, daß diese Rechte nur solange als „echte Grundrechte" betrachtet werden, als sie ganz in der privaten, also „staatsfreien" Sphäre verbleiben. Infolgedessen betont Schmitt, daß die „Rechte des Einzelnen in Verbindung mit anderen Einzelnen", zu denen er neben der Meinungsfreiheit insbesondere auch die Versammlungs-, Vereins- und Vereinigungsfreiheit zählt, leicht ihren unpolitischen und damit gleichzeitig auch ihren „individualistisch-menschlichen Charakter" verlieren könnten, den sie eben nur insoweit besitzen, als die freie Konkurrenz und die freie Diskussion der Einzelnen im unpolitischen Zustand des bloß Gesellschaftlichen anerkannt werden sollen. Führe jedoch z.B. die Vereinigungsfreiheit zu Koalitionen, so sei der Punkt des Politischen erreicht und diese Rechte hörten auf, Freiheitsrechte im Sinne des liberalen Rechtsstaates zu

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Verfassungslehre (Fn. 187), 164, 166. Grundrechte (Fn.313), 592, weiter heißt es dort: „Der Vorbehalt des Gesetzes ist daher niemals der Vorbehalt einer Maß- oder Inhaltsangabe, sondern immer nur der Vorbehalt einer Ausnahme, und zwar einer Ausnahme, die als solche prinzipiell begrenzt, berechenbar und nachprüfbar sein muß"; s. auch ders., Verfassungslehre (Fn. 187), 166. 320 Es geht hier also nicht mehr um die Wiedergabe seiner Äußerungen, sondern es wird ein Gedanke „zu Ende gedacht", den Schmitt so nicht formuliert hat. 319

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sein. Sie könnten dann auch nicht mehr dem Verteilungsprinzip entsprechen, da sie nicht in der Sphäre des Privaten verbleiben, sondern soziale Betätigungen enthalten, woraus sich die Notwendigkeit einer Regelung und Normierung ergebe. 321 Auf die berechtigte Kritik an diesem sehr engen Grundrechtsverständnis und darauf, daß heute weitere Dimensionen der Grundrechte, und das heißt zugleich: des verfassungsrechtlichen Freiheitsbegriffs, anerkannt sind, wurde oben bereits hingewiesen.322 Um so mehr sollte es jedoch nachdenklich stimmen, daß sich selbst auf dem Boden eines aus heutiger Sicht verkürzten Grundrechtsverständnisses die Deutschenvorbehalte der Rechte des status negativus als problematisch darstellen. Immerhin hat unsere Grundrechtsliteratur nicht nur die Jellinek'sehe Terminologie übernommen; auch die auf dem negativen Freiheitsbegriff basierende Funktion der Grundrechte als staatsgerichteter Abwehrrechte des Individuums erfahrt durch die Entfaltung weiterer Grundrechtsdimensionen, wie oben schon dargelegt, zwar eine notwendige Ergänzung, bleibt als solche aber unangetastet.323 Das heißt jedoch zugleich: In der diesbezüglichen Kontinuität der Grundrechtslehre liegt auch ein mitererbtes ungelöstes Problem verborgen, die Frage nämlich, wie sich die Konzeption der Individualrechte des negativen (grundrechtlichen) Status mit nationalen Vorbehalten vereinbaren läßt. Zweitens ist die Bedeutung der „vorstaatliche(n) Menschenrechte" 324 bei Schmitt aber auch deshalb eingeschränkt, weil er nur eine sehr begrenzte Anzahl von Rechten als solche qualifiziert, während alle anderen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen „grundsätzlich nur deutschen Staatsbürgern zugute kommen dürften". 325 Dabei fallt besonders ins Auge, daß er selbst die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 109 WRV) zu den demokratischen Staatsbürgerrechten zählt, die „naturgemäß nicht für Fremde" gelten. 326 Einmal abgesehen von den auch hier die Begründung tragenden Besonderheiten der Schmitt'sehen Lehre, 327 auf die in diesem Zusammenhang nicht näher einzuge321

Verfassungslehre (Fn. 187), 165 f. Er hebt demgegenüber die Absolutheit des Schutzes der „echten" Grundrechte hervor, die gerade nicht „nach Maßgabe der Gesetze" gewährleistet werden; vgl. oben Fn. 319. 322 Vgl. oben S.87f.; zu den Dimensionen des verfassungsrechtlichen Freiheitsbegriffs s. auch Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (Fn. 173), 243 ff. 323 Vgl. oben S. 84 mit Fn. 229 f. und S. 90 mit Fn. 249. 324 Verfassungslehre (Fn. 187), 164. 325 Vgl. Grundrechte (Fn. 313), 591, Fn. 71. Er fügt hinzu, eine ganz andere Frage sei es, ob der Ausländer deshalb im Ergebnis frei und gleich sei, weil die einfachen Gesetze keinen Unterschied machen. 326 Verfassungslehre (Fn. 187), 169. 327 So fährt er aaO fort: „(...), weil sonst die politische Gemeinschaft und Einheit aufhört und die wesentliche Voraussetzung der politischen Existenz, die Möglichkeit der

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hen ist, ist dabei natürlich stets zu bedenken, daß Schmitt vor dem Hintergrund der Weimarer Reichsverfassung schreibt, die ja tatsächlich sogar den Gleichheitssatz nicht als Menschen-, sondern nur als Deutschenrecht niedergelegt hatte. Dennoch spricht Schmitt an anderer Stelle eher beiläufig vom „Grundrecht der allgemeinen Menschenfreiheit und -gleichheit", und weiter heißt es dort: „Im systematischen Zusammenhang steht das Gleichheitsrecht neben dem Freiheitsrecht des einzelnen Individuums und bedeutet das Recht auf freie Gleichheit und gleiche Freiheit". Und dann der Zusatz, aus dem sich ergibt, warum dies doch nur für Deutsche gelten kann: „(...) d.h. Verbot jeder Privilegierung Λ328 Da sowohl die Staatsbürgerrechte als auch die (von Schmitt für die „echten" Grundrechte offenbar nicht akzeptierten) Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte selbstverständlich als Privilegierung der Deutschen im Verhältnis zu Ausländern gedacht sind, 329 kann ein offener Konflikt nur dadurch vermieden werden, daß das Gleichheitsrecht selbst als „Staatsbürgerrecht" aufgefaßt wird. Anders als die „echten" Grundrechte „bewegen (diese) sich innerhalb des Staates und betreffen nur ein bestimmtes, zugemessenes Maß der Beteiligung am staatlichen Leben". 330 Das „Grundrecht der allgemeinen Menschenfreiheit und -gleichheit" befindet sich somit, soweit es Ausländer betrifft, scheinbar im Spagat zwischen staatsfreier, privater Sphäre des als Menschenrecht auch für Ausländer geltenden Freiheitsrechts und dem (obgleich an sich auch „Menschenrecht") nicht für sie geltenden, da innerhalb des Staates anzusiedelnden Staatsbürgerrecht der Gleichheit. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß schon im Hinblick auf den von Schmitt selbst angesprochenen systematischen Zusammenhang zwischen Freiheits- und Gleichheitsrecht die Trennlinie nicht zwischen beiden verlaufen kann. Wenn die Freiheit in Form einer privaten, staatsfreien Sphäre für alle Menschen anerkannt wird, so wird im selben Atemzug auch ihre darauf bezogene (formale) Gleichheit anerkannt, wie sich insbesondere in der Schrankenbestimmung zeigt: Die gleiche Freiheit aller wurde schon in Art. 4 der französischen Déclaration von 1789 als die einzige legitime Schranke der natürlichen Freiheit jedermanns bezeichnet.331 Was hier wiederkehrt, ist eher die bereits für die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert konstatierte Entkoppelung des für

Unterscheidung von Freund und Feind, entfallt". Für eine eingehende Auseinandersetzung mit Carl Schmitt s. H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 3. Aufl., Berlin 1995. 328 Vgl. Grundrechte (Fn. 313), 591, 593 (Hervorhebung durch die Verf.). 329 Vgl. dazu oben auf S. 92 das Zitat von Kelsen. 330 C. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 187), 168 f. (Hervorhebung im Original). 331 Vgl. oben S. 92 mit Fn. 252; so auch H. Hofmann, Grundrechte (Fn. 268), 33.

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das amerikanische und westeuropäische Grundrechtsverständnis unlösbaren Zusammenhangs von bürgerlicher und politischer Freiheit, 332 zu der sich dann der Gedanke der Gleichheit jeweils akzessorisch zu verhalten scheint. Der Vorstellung von Menschenrechten als „basis and foundation of government" steht die Feststellung Schmitts gegenüber: „Die Freiheit konstituiert nichts". 333 Denn der Staat selbst, der durch ein System von Garantien der bürgerlichen Freiheit kontrolliert werden soll, wird in diesem System vorausgesetzt, wobei unter „Staat" ein bestimmter Status eines Volkes, und zwar der Status politischer Einheit zu verstehen sei. 334 Deutlicher kann man den Unterschied zum Konzept der „free association of Citizens" bzw. der „association politique", wie es in den einzelstaatlichen amerikanischen, aber auch der französischen Menschenrechtserklärung zum Ausdruck kommt, 335 kaum formulieren. Während sich die politische Einheit in der „civil society" über das gemeinsame Bekenntnis zur Verfassung, als deren tragende Konstitutionsprinzipien die Menschenrechte gesehen werden, erst herstellt, ist sie dort vor jeder Verfassunggebung und damit unabhängig von dieser existent. In der Tat konstituieren die Menschenrechte in diesem Modell nichts, sondern grenzen etwas aus - eine private, „staatsfireie" Sphäre eben, in der die „allgemeine Menschenfreiheit" und die auf sie bezogene „allgemeine Menschengleichheit" ihren Raum findet. 336 Innerhalb des demokratischen Staatswesens gehören hingegen nur die Staatsangehörigen zur Gemeinschaft der Freien und Gleichen. C. Schmitt definiert den Begriff der Gleichheit in diesem Zusammenhang wie folgt: Der demokratische Begriff der Gleichheit ist ein politischer Begriff und nimmt, wie jeder echte politische Begriff, auf die Möglichkeit der Unterscheidung Bezug. Die politische Demokratie kann daher nicht auf der Unterschiedslosigkeit aller Menschen beruhen, sondern nur auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, wobei diese 332

Vgl. oben S.98. Vgl. Verfassungslehre (Fn. 187), 200 (Wiedergabe eines von ihm als „treffend" bezeichneten Mazzini-Zitats). 334 Ebd., 200 ff., insbes. 200, 205. 335 Siehe dazu insbesondere die auch als „compendium of the earlier state Declarations of Rights" (Schwartz [Fn. 52], 338) bezeichnete Rechteerklärung von Massachusetts (1780), in deren Präambel es heißt: „The body-politic is formed by a voluntary association of individuals" (zu den folgenden Sätzen s. oben S. 80, zu den geistigen Anleihen bei John Locke auch Fn. 86); zum Begriff der „association politique" in Art. 2 S. 1 der Déclaration von 1789 s. oben S. 79. 336 Zur Differenzierung zwischen der „allgemeinen Menschengleichheit", die weder einen Staat, noch eine Staatsform, noch eine Regierungsform begründen könne, da sie als allen Menschen von selbst gemeinsame Gleichheit eine unpolitische Gleichheit wäre, weil ihr das Korrelat einer möglichen Ungleichheit fehle, und dem politischen Begriff der demokratischen Gleichheit, s. Verfassungslehre (Fn. 187), 226 ff. 333

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Zugehörigkeit zu einem Volk durch sehr verschiedene Momente (Vorstellungen gemeinsamer Rasse, Glauben, gemeinsames Schicksal und Tradition) bestimmt sein kann. Die Gleichheit, die zum Wesen der Demokratie gehört, richtet sich deshalb nur nach innen und nicht nach außen: innerhalb eines demokratischen Staatswesens sind alle Staatsangehörigen gleich.337 Die Bemerkung zur „Zugehörigkeit zu einem Volk" zeigt erneut, daß die politische Einheit nach dieser Auffassung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit oder als „Kulturnation" vor der Verfassung gegeben ist, nicht durch diese gestiftet wird. Darauf wird später zurückzukommen sein. Was hier interessiert, ist auch nicht die eher banale Erkenntnis, daß nur die Staatsangehörigen speziell in den Genuß der staatsbürgerlichen Gleichheit kommen - weltweit wird die Ausübung der Staatsbürgerrechte im engeren Sinne, insbesondere des Wahlrechts, von der Zugehörigkeit zum Staatsvolk abhängig gemacht - sondern, daß die Merkmale, die innerhalb des Staates die Gruppe der „Gleichen" verbinden und damit nach außen die „Möglichkeit der Unterscheidung" eröffnen, eben jene sind, auf der auch die politische Einheit beruht. Das heißt aber: Die Kriterien, an denen der politische Begriff der „demokratische(n) Gleichheit", wie C. Schmitt sie nennt, sich festmacht, haben an der logischen Präexistenz des Staates vor der Verfassung teil. Damit besteht aus dieser Sicht letztlich auch ein Vorrang dieser spezielleren Form der Gleichheit vor der erst durch die rechtsstaatliche Verfassung anerkannten „allgemeinen Menschengleichheit", der es rechtfertigt, den Gleichheitssatz in Art. 109 WRV als Deutschenrecht niederzulegen bzw. diesen Vorbehalt (im Gegensatz zu den Deutschenvorbehalten der Freiheitsrechte) zu akzeptieren. - Immerhin wäre im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Anerkennung der von C. Schmitt als „Menschenrechte" bezeichneten Freiheitsrechte ja auch der umgekehrte Weg gangbar gewesen: Da diese, wie schon erwähnt, mit dem Gleichheitsaspekt untrennbar verwoben sind, hätte auch Art. 109 WRV als „Menschenrecht" qualifiziert werden können und die die Gleichheit im politischen Bereich der Staatsbürgerrechte auf die staatsbürgerliche Gleichheit verengenden Deutschenvorbehalte als „Ausnahmen". Das Regel-AusnahmeVerhältnis wird in der staatszentrierten Perspektive C. Schmitts jedoch in der Weise festgelegt, daß Ausgangspunkt der Betrachtung die staatsbürgerliche Gleichheit ist. Und nur wenn das so ist, läßt sich das Bild eines spannungsfreien, statischen Nebeneinanders von privater Sphäre und politischem Bereich zeichnen, nicht hingegen, wenn Menschenrechte als konstituierendes Element der staatlichen Ordnung begriffen werden. Zwei Punkte sind jedoch nochmals hervorzuheben: Zum einen entsteht innerhalb der privaten, staatsfreien Sphäre im Hinblick auf die den Freiheitsrech337

Verfassungslehre (Fn. 187), 227 (Hervorhebung im Original).

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ten des negativen Status beigefügten nationalen Vorbehalte ebenfalls eine verfassungsrechtliche Spannungslage, wenn man den von C. Schmitt formulierten Gedanken, daß die Verfassung mit den liberalen Menschenrechten zugleich das für alle Menschen geltende allgemeine Prinzip der Freiheit anerkennt, zu Ende denkt. 338 Und zum anderen schreibt C. Schmitt vor dem Hintergrund der Weimarer Reichsverfassung, die sich in wesentlichen Punkten von dem Grundgesetz unterscheidet. Damit stellt sich die spannende Frage, was sich durch das Grundgesetz im Hinblick auf das Problem der Deutschenrechte geändert hat.

(2) 1949 und 1789 - Rückblick und Aufbruch in der deutschen Verfassunggebung Um es kurz zu rekapitulieren: Als Faktoren, die die Deutschenvorbehalte der Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung als unproblematisch, ja selbstverständlich, erscheinen ließen, wurden im wesentlichen benannt: Erstens eine im 19. Jahrhundert in bewußter Abkehr vom menschenrechtlichen Universalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts begründete Tradition einzelstaatlicher bzw. nationaler Vorbehalte der Freiheitsrechte als Bekenntnis zum „nationalen Rechtsstaat"; zweitens eine staatszentrierte Sichtweise, die die Menschenrechte nicht als konstitutives Element der staatlichen Ordnung begreift; drittens die allerdings bereits umstrittene - Auffassung, daß die Grundrechte als punktuelle Gewährleistungen, nicht als Ausdruck eines allgemeinen Freiheitsanspruchs des Individuums gegen den Staat zu verstehen seien. Ein Blick auf die Art. 1, 2 und 3 GG reicht bereits aus, um festzustellen, daß das Grundgesetz insoweit revolutionäre Neuerungen enthält. Nach der leidvollen Wiederholung jener von der französischen Menschenrechtserklärung zu ihrem Ausgangspunkt bestimmten und eingangs der Präambel niedergelegten Erfahrung, daß alles öffentliche Unglück aus der Mißachtung der Menschenrechte erwachse, 339 stellen die „Väter" (und „Mütter") des Grundgesetzes den Satz von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen und die entsprechende Achtungs- und Schutzpflicht des Staates an die Spitze der Verfassung, unterstreichen die Bedeutung dieser Verfassungsgarantie zudem nochmals dadurch, daß sie sie in die „Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG aufnehmen. 338

Vgl. oben S. 105 ff. (107). Es heißt dort: „Les Représentants du Peuple Français, (...) considérant que l'ignorance, l'oubli ou le mépris des droits de l'homme, sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des gouvernements, ont résolu d'exposer, dans une déclaration solennelle, des droits naturels, inaliénable et sacrés de l'homme, afin que cette déclaration, constamment présente à tous les membres du corps social, leur rappelle sans cesse leurs droits et leurs devoirs" (Textabdruck bei Berlia [Fn. 17], 1). 339

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Damit ist bereits im ersten Satz des Art. 1 Abs. 1 GG eine Grundentscheidung gefallen, die diese Verfassung von all ihren Vorläufern in Deutschland unterscheidet 340 und gleichzeitig den oben genannten drei Faktoren den Boden entzieht. Das bestätigt sich in den nachfolgenden Bestimmungen: dem (im Kern in der verfassungsrechtlichen Anerkennung der Würde bereits enthaltenen) Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft in Abs. 2, der konsequenten Absicherung und innerstaatlichen Umsetzung dieser Staatszweckbestimmung durch die in Abs. 3 statuierte umfassende Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte und, wenn Freiheit und Gleichheit als Konkretisierungen der Menschenwürde betrachtet werden, 341 ebenso folgerichtig: der menschenrechtlichen Fassung der Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Deutlicher hätte der Verfassungstext kaum zum Ausdruck bringen können, daß das Grundgesetz angesichts der grauenvollen Verbrechen der NS-Zeit im Ringen um die Neukonstituierung bundesdeutscher Staatlichkeit hinter die eigene nationale Tradition auf die Prinzipien von 1789 zurückgreift. 342 Werden jedoch jene menschenrechtlich-universalistischen Prinzipien in die Verfassung inkorporiert, so entfällt damit zum ersten bereits die Möglichkeit, von einer von vornherein gegebenen immanenten Begrenzung der Grundrechtsgewährleistungen auf Deutsche auszugehen - letztlich eine Konsequenz jener Fundamentalentscheidung des Grundgesetzes, die Würde „des Menschen" (und nicht „des Deutschen") zum archimedischen Punkt des Verfassungswerkes zu bestimmen.

340

Stern bemerkt zutreffend, daß „in der Anerkennung der Menschenwürde eine der bedeutsamsten Neuerungen dieser Verfassung gegenüber allen ihren Vorläufern in Deutschland zu sehen" ist (Menschenrechte [Fn. 23], Rn. 6). 341 Einerseits sind Freiheit und Gleichheit Voraussetzungen der Würde, andererseits wird damit ein bestimmter Teilaspekt der Würde weiter ausgeformt, stellen Freiheit und Gleichheit also Konkretisierungen der Menschenwürde dar, s. dazu statt vieler Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (Fn.173), 202, 242, und Maihofer, Prinzipien (Fn. 145), Rn. 99 ff. und pass. 342 Vgl. dazu auch oben S. 19 f. Zum Rückgriff auf die Prinzipien von 1789 s. Hofmann, Grundrechte (Fn. 268), 29 ff., 39 ff. Zur Funktion und Stoßrichtung der menschenrechtlichen Argumentation im Zuge der amerikanischen und der französischen Revolution ders., Rechtsstaat (Fn. 1), 17 f. Ging die Argumentation bei den Amerikanern in die „Weite der Welt", bei den Franzosen eher in die „Tiefe der Geschichte", so trifft im Hinblick auf das Grundgesetz beides zu: In dem Bemühen um eine deutliche Distanzierung von der jüngeren deutschen Geschichte strebt dieses mit dem Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten auch eine Reintegration in die Völkergemeinschaft an, wie insbesondere die Präambel des Grundgesetzes zeigt: „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". 8 Siehr

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Zum zweiten heißt das, wie die etwas naiv anmutende Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG im Herrenchiemseer Entwurf noch explizit darlegt, 343 daß Ausgangspunkt aller Überlegungen stets der einzelne Mensch und seine Rechte, nicht etwa ein vorausgesetzter Staat ist. Der bis dahin in Deutschland ausgeprägt staatsorientierten Sichtweise wird das Bekenntnis zu den Menschenrechten und ihrer konstitutiven Bedeutung für jede menschliche Gemeinschaft offensiv entgegengesetzt. Werden die Menschenrechte jedoch als Grundlage der staatlichen Ordnung gesehen, so lassen sie sich nicht auf das Reservat einer privaten, „staatsfreien" Sphäre begrenzen. Eine strikte Trennung zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit ist dann nicht mehr möglich, auch wenn das selbstverständlich eine differenzierende Betrachtung, insbesondere hinsichtlich der die Deutschenvorbehalte rechtfertigenden Gründe, keineswegs ausschließt. Nur: auch wenn der beispielsweise bezüglich des Wahlrechts in höchstrichterlichen Entscheidungen ebenso wie in zahlreichen Abhandlungen aufgezeigte Zusammenhang zwischen Demokratieprinzip, der Ausübung dieses Rechts und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk durchaus einleuchtend sein mag, bleibt die Frage, wer aufgrund welcher Kriterien zum Staatsvolk gehört. Ist die Würde „des Menschen" einmal verfassungsrechtlich anerkannt, so kann im Hinblick auf den in der demokratischen Mitbestimmung enthaltenen Aspekt der Selbstbestimmung nicht auf vor jeder Verfassunggebung mit der logischen Präexistenz des Staates schon mitgelieferte und nicht mehr hinterfragbare Antworten verwiesen werden. - Auch wenn die Verfassung diese Kriterien nicht ausschließlich selbst hervorbringen kann, müssen sie doch vor ihr Bestand haben. Zum dritten ergeben sich aus dem in der Menschenwürde angelegten Autonomiegedanken aber auch Folgerungen für den oben dargestellten Meinungsstreit: Gewinnt der Grundsatz der Selbstbestimmung des Menschen im Grundgesetz die Qualität eines Konstitutionsprinzips der Verfassungsordnung, so liegt darin bereits zugleich die verfassungsrechtliche Anerkennung eines allgemeinen Freiheitsrechts begründet. 344 Diese Vorstellung tritt wiederum in den ersten, noch weniger differenzierten Formulierungsversuchen des Herrenchiemseer Entwurfs zu Art. 2 Abs. 1 GG besonders deutlich zutage: „Alle Menschen sind frei" heißt es dort schlicht, und in Abs. 2: „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen 343

Siehe dazu oben S. 79. Siehe zu diesem Streit unter der WRV oben S. 103 ff.; bezogen auf das GG s. Grabitz, Freiheit (Fn. 173), 250 ff. Allgemein zum Zusammenhang von Würde und Freiheit auch Dürig, Menschenwürde (Fn.20), 125; Stern, Menschenwürde (Fn.91), 632 f. Hier besteht ein Bedingungszusammenhang, der allerdings nicht im Sinne einer einfachen Ableitung des Prinzips negativer Freiheit und damit des allgemeinen Freiheitsrechts aus der Menschenwürdenorm zu verstehen ist, dazu eingehend Alexy (Fn. 159), 323 ff., 339 f. 344

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nicht schadet".345 Anklänge an die Déclaration von 1789 sind hier unverkennbar, 346 und klar kristallisiert sich die schon bei Kant und Fichte behandelte Konsequenz des Autonomieprinzips heraus. So heißt es in Kants Metaphysik der Sitten (Rechtslehre) von 1797 im Blick auf die Déclaration: Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht". Sie bestehe in der die „angeborne Gleichheit einschließenden „Qualität des Menschen, sein eigener Herr" zu sein, bedeutet also die nach einem allgemeinen Gesetz miteinander verträgliche Autonomie aller. 347 Demgemäß wird Art. 2 Abs. 1 GG, wie oben schon erwähnt, heute von der Rechtsprechung und dem überwiegenden Schrifttum auch als „allgemeine Handlungsfreiheit" interpretiert. 348 Das mindert die Bedeutung der Einzelfreiheitsrechte nicht, die nach dem lex specialis-Grundsatz ohnehin regelmäßig vor der allgemeinen Handlungsfreiheit geprüft werden (und in ihrer konkreten, durch ihre historische Genese geprägten Ausformung natürlich auch nicht aus dieser deduzierbar sind 349 ), es bedeutet aber, daß grundrechtliche Freiheit in der Summe punktueller Gewährleistungen nicht aufgeht. Grundrechtsdogmatisch folgt daraus die Konstruktion des Art. 2 Abs. 1 GG als „Auffanggrundrecht", das stets dann eingreifen soll, wenn kein spezielles Grundrecht einschlägig ist, im übrigen aber hinter diesem als subsidiär zurücktritt. Darauf - einschließlich der daran geübten Kritik - wird bei der Erörterung des dogmatischen Umgangs mit den Deutschengrundrechten zurückzukommen sein. Hier ist zunächst nur festzuhalten, daß mit der verfassungsrechtlichen Anerkennung eines allgemeinen Freiheitsrechts des einzelnen und der darauf bezogenen Gleichheit der Menschen bei jeder ungleichen Freiheitsbeschränkung - und eben diese Möglichkeit eröffnen die Deutschenvorbehalte - ein Rechtfertigungsdruck ent350 steht. Mit anderen Worten: Die Inkorporation menschenrechtlich-universalistischer Prinzipien in das Grundgesetz läßt eben jene Prämissen entfallen (oder sorgt, wo sie umstritten waren, für eine Klarstellung), die einen Großteil 345

Siehe Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (Fn. 211), 62. Vgl. Fn. 252, zur späteren verkürzten Version auch Fn. 62. 347 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 244), Einleitung der Rechtslehre, B., S.345 (Hervorhebung im Original). Hierzu H. Hofmann, Autonomieansprüche (Fn. 132), 60; ders., Verfassungsprinzip (Fn. 177), 239; ders., Rechtsstaat (Fn. 1), 14; zum Menschenrecht auf Freiheit und Gleichheit und dazu, daß Autonomie auch das eigentliche Fundament der Gleichheit bildet, Schild (Fn.34), 39ff., insbes. 44 ff.; zu alledem eingehend auch Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie (Fn. 145), bes. Rn.48ff., 99 ff. 348 Vgl. dazu und zum folgenden oben S. 70 mit Fn. 178 und S. 91 mit Fn. 250. 349 Siehe dazu oben bes. Fn. 178. 350 Vgl. dazu oben S. 92, 104, 107. 346

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der Weimarer Staatsrechtslehre dazu bewogen hatte, nationale Vorbehalte der Grundrechte für völlig unproblematisch oder gar selbstverständlich zu halten. Wie Isensee zu recht feststellt, geht die Grundrechtsdogmatik heute den Weg „vom menschenrechtlichen Universalismus zur nationalen Besonderheit - in umgekehrter Richtung wie die Weimarer Lehre. Die Individualrechte des Fremden leben nunmehr nicht von der Gnade einer Analogie zu den Deutschenrechten; vielmehr muß sich jedes Staatsbürgerprivileg vor dem Gebot der Rechtsgleichheit rechtfertigen". 351

c) Fazit: Konsequenzen für die Beurteilung der Deutschenvorbehalte des Grundgesetzes Zusammenfassend ist zunächst nochmals hervorzuheben, daß im Rahmen dieser Untersuchung von der Menschenwürde stets als an die Spitze des Grundgesetzes gestellte Verfassungsnorm, also nicht als meta-rechtliche, philosophisch oder theologisch begründete Kategorie die Rede ist. Gleiches gilt für das allgemeine Freiheitsrecht und das allgemeine Recht auf Gleichheit. Mit Art. 2 Abs. 1 GG, für den es, wie der Herrenchiemseer Entwurf in seinem darstellenden Teil betont, ebenso wie für Art. 1 GG in der Weimarer Reichsverfassung kein Vorbild gab, 352 und mit der menschenrechtlichen Fassung des dort noch als Deutschenrecht niedergelegten Gleichheitssatzes „sind zwei der umstrittensten Gegenstände der politischen Philosophie unmittelbar zu Objekten positiver Rechte geworden". 353 Damit erübrigt sich bei der Beurteilung der Deutschenrechte des Grundgesetzes einerseits jeder Rückgriff auf überpositive Menschenrechte, andererseits läßt sich die These von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- (hier im Sinne von Jedermann-) und Deutschenrechten aber auch dann nicht aufrechterhalten, wenn allein das positive Verfassungsgesetz, die dort normierten Grundrechte und Verfassungsprinzipien, betrachtet werden. 354 Denn auch wenn die Deutschenvorbehalte selbstverständlich „als Ausdruck verfassungsgeberischer Dezision zu respektieren" sind, 355 löst die Zurücknahme der in den ersten drei Grundgesetzartikeln in menschenrechtlicher Fassung - und auch dies ist als „Ausdruck verfassungsgeberischer Dezision" zu würdigen - niedergelegten Verfassungsprinzipien eine verfassungsrechtliche Spannungslage aus.

351

Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer (Fn. 14), 74. Vgl. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (Fn. 211), 21. 353 Alexy (Fn. 159), 309. 354 Vgl. oben S.53. 355 So Sachs, Ausländergrundrechte (Fn. 2), 386, gegen den Einwand, es fehle ihnen jede Planmäßigkeit und gesetzgeberische Absicht (Anschütz) oder es handele sich gar um verfassungswidriges Verfassungsrecht. 352

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Gelegentlich stößt man zwar auf die Behauptung, daß das Prinzip gleicher Freiheit aller nach Art. 3 Abs. 1 GG und der Gegenseitigkeitsgrundsatz des Art. 2 Abs. 1 GG „in diesem Zusammenhang nicht menschheitlich-universalistisch" zu verstehen seien, sondern sich „auf den status activus der im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebenden Menschen, die im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG eine Einheit als Staatsvolk bilden", beziehen sollen. 356 Diese Argumentation wäre jedoch nur vertretbar, wenn der Gleichheitssatz ebenso wie in Art. 109 WRV auch im Grundgesetz als Deutschenrecht niederlegt und damit die „staatsbürgerliche Gleichheit" zum Ausgangspunkt bestimmt worden wäre, 3 5 7 dergegenüber jede Bezugnahme auf die „allgemeine Menschengleichheit" als Erweiterung erscheinen müßte. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Art. 3 Abs. 1 GG ist seinem eindeutigen Wortlaut nach menschenrechtlich gefaßt, so daß jede auf die verfassungsrechtliche Normierung nationaler Vorbehalte gestützte Zurücknahme eines „an sich" für alle Menschen geltenden Prinzips eine Spannungslage auslösen muß. - Und keine aus der Kollision gegenläufiger Verfassungsprinzipien erwachsende Spannungslage läßt sich einfach über die Behauptung lösen, daß das gegenläufige Verfassungsprinzip nicht gelte. 358 Die rechtsdogmatischen Bemühungen um eine Harmonisierung knüpfen daher auch regelmäßig entweder an Art. 1 Abs. 1 (gelegentlich i.V.m. Art. 19 Abs. 2), Art. 2 Abs. 1 oder Art. 3 Abs. 1 GG an und versuchen teils, über diese Grundrechte oder auch über die Deutschengrundrechte direkt den Menschenwürdegehalt des jeweiligen Deutschengrundrechts zur Geltung zu bringen, teils den Grundrechtsschutz von Ausländern in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen über die „Auffangfunktion" des Art. 2 Abs. 1 GG einzulösen. Darauf soll im rechtsdogmatischen Teil dieser Arbeit im einzelnen eingegangen werden. 359 Schon nach dem Ergebnis der bisherigen Untersuchung steht jedoch fest, daß ein Umgang mit den Deutschengrundrechten, der auf der Grundlage der (unausgesprochenen) These von einem „spannungsfreien Nebeneinander" jeden Harmonisierungsversuch für überflüssig hält und darin lediglich die Gefahr sieht, daß die durch den Verfassunggeber festgesetzten Deutschenvorbehalte unterlaufen werden, 360 nicht überzeugen kann.

356

Jörg Hofinann (Fn. 100), 37 f. Dazu oben S. 108 ff. (111). 358 Zum Unterschied zwischen Prinzipienkollisionen und Regelkonflikten s. Alexy (Fn. 159), 77 ff. 359 Siehe unten im 2. Teil. 360 Vgl. für die ältere Lit. die umfangreichen Nachw. bei Dolde (Fn. 10), 45 f., Fn. 1; s. im übrigen auch die Nachw. bei Sachs, Ausländergrundrechte (Fn.2), 388, Fn.41 i.V.m. Fn.25. 357

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Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Als Zielvorgabe für die Überlegungen zur rechtsdogmatischen Behandlung der Deutschengrundrechte ist damit festzuhalten, daß die bestmögliche Harmonisierung dieser verfassungsrechtlichen Spannungslage anzustreben ist, wobei das allerdings voraussetzt, daß man auch das hinter den Deutschenvorbehalten stehende, im Verhältnis zur menschenrechtlich-universalistischen Fundierung der Verfassung ja offenbar gegenläufige Verfassungsprinzip richtig einzuordnen vermag.

6. Zwischenergebnisse - und neue Fragen Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß sich Menschen- und Bürgerrechte (im Sinne von Rechten, die allen Menschen und solchen, die nur den Staatsbürgern zustehen) nicht spannungsfrei in eine individualistisch-universell gedachte Ordnung integrieren lassen. Speziell für die ganz bewußt unter Rückgriff auf die Prinzipien von 1789 auf menschenrechtliche Grundsätze gebaute Verfassungsordnung des Grundgesetzes wurde nachgewiesen, daß dies nicht nur dann gilt, wenn die nationalen Vorbehalte der Deutschenrechte an überpositiven Menschenrechten gemessen werden, sondern auch dann, wenn ein verfassungsimmanenter Ansatz gewählt wird. Die Vorstellung, den überpositiven Menschenrechten komme neben den positivierten Grundrechten noch eine eigene Bedeutung zu, wird in der (heute seltener vertretenen) These von einem „doppelten Geltungsbegriff 4 - einem naturrechtlichen und einem positivrechtlichen - verarbeitet, der durch „ein und denselben Rechtssatz in identischer Zeit erfüllt sein könne". 361 Diese ließe sich neben der These von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschenund Deutschenrechten jedoch nur dann aufrechterhalten, wenn ein menschenrechtlicher Gehalt der Deutschenrechte eindeutig auszuschließen wäre. Scheitert ein positiver Nachweis am Fehlen eines allgemein konsentierten „Katalogs" überpositiver Menschenrechte, so ist der in diesem Zusammenhang allein maßgebliche negative Nachweis, daß es sich bei den Deutschengrundrechten um „neue" Grundrechte handelt, die in keinem Bezug zur Idee überpositiver Menschenrechte stehen, ebenfalls unmöglich: Teils wurden die heutigen Deutschengrundrechte, wie etwa die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, in den großen Verfassungsdokumenten der Neuzeit als Menschenrechte niedergelegt, teils in ihrem Kerngehalt literarisch als Menschenrechte behandelt. Zudem führt neben der ideengeschichtlichen Verbindungslinie eine zweite über den Menschenwürdegehalt dieser Rechte zur Idee überpositiver Menschenrechte zurück. Und schließlich wäre auch noch die Indizwirkung der völkervertraglichen Verankerung dieser Rechte als „Menschenrechte" zu bedenken.

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So die Beschreibung dieser These bei Denninger (Fn. 8), 227.

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Letztlich kommt es darauf aber nicht an, so daß die Frage eines (durch schwerwiegende Erkenntnisprobleme belasteten) Rückgriffs auf „überpositive Menschenrechte" keiner weiteren Erörterung bedarf. Denn das Problem der Deutschenrechte ist kein Problem, das sich nur für Anhänger von Naturrechtslehren stellt. Vor dem Hintergrund der Inkorporation menschenrechtlich-universalistischer Prinzipien in das Grundgesetz kommt eine allein auf der Grundlage des positiven Verfassungsrechts vorgenommene Beurteilung zu keinem anderen Ergebnis, d.h. ein verfassungsimmanenter Ansatz führt ebenfalls zur Bejahung einer durch die nationalen Vorbehalte der Deutschenrechte ausgelösten Spannungslage. Dies folgt in einem allgemeinen Sinne bereits daraus, daß diese Vorbehalte bei Nichtdeutschen die Möglichkeit der stärkeren Beschränkung oder Versagung der jeweils geschützten Freiheitsbetätigung eröffnen und, soweit sie reichen, das durch die Menschenwürde als Verfassungsnorm für alle Menschen gleichermaßen anerkannte Autonomieprinzip zurückdrängen. Damit stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Deutschenvorbehalte, und zwar nicht nur im Blick auf die Vorbehalte der Freiheitsrechte, sondern angesichts der staatskonstitutiven Bedeutung des Menschenwürdesatzes auch bezogen auf die der Staatsbürgerrechte (im engeren Sinne), denn auch im Gedanken der Teilhabe am Staat und der Mitbestimmung ist der Aspekt der Selbstbestimmung enthalten.362 Nur sind die den Ausschluß Nichtdeutscher von den Staatsbürgerrechten rechtfertigenden Gründe andere als bei den Deutschengrundrechten. Dies ist teils durch die strukturellen Unterschiede zwischen beiden Kategorien von Rechten vorgegeben, teils resultiert es aus der Einbettung in jeweils andere Verfassungsprinzipien: Während die (Deutschen-)Grundrechte in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte durch rein negatorische Ansprüche gesichert sind und ihre Trägerschaft folglich strukturell an keine weiteren Voraussetzungen anknüpft, werden die auf aktive Mitwirkung gerichteten Staatsbürgerrechte von der - untechnisch gesprochen „Mitgliedschaft" abhängig gemacht. Der Zugang zu den „Herrschaftsbefugnissen einer Gruppe" setzt die „Zugehörigkeit zu dieser Gruppe" voraus; 363 fehlt sie, so fuhrt das zum Ausschluß von den Mitwirkungsrechten. Demgegenüber folgt daraus für die Deutschengrundrechte nur die Möglichkeit einer stärkeren Beschränkung der jeweiligen Freiheitsbetätigung. Grundlage der Schrankensystematik der Abwehrrechte ist - hier in negativer Wendung - das Prinzip gleicher Freiheit aller; Bezugsrahmen des Wahlrechts als das in diesem Kontext hauptsächlich diskutierte Staatsbürgerrecht das Demokratieprinzip. Ersteres schließt, wie die menschenrechtliche Fassung der Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG 362

Auch das Bekenntnis zu Menschenrechten als „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" in Art. 1 Abs. 2 GG spricht im übrigen gegen eine strikte Trennung von bürgerlicher und politischer Freiheit. 363 Quaritsch, Staatsangehörigkeit (Fn. 12), insbes. 7.

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belegt, Nichtdeutsche grundsätzlich ein, letzteres schließt sie nach der herrschenden Auslegung des Begriffs „Staatsvolk" aus. Die Rechtfertigung der Deutschenvorbehalte der Staatsbürgerrechte scheint also leichter zu fallen als bei den Abwehrrechten. Das heißt aber lediglich, daß das prinzipiell auch fur Nichtdeutsche anerkannte Recht der Selbstbestimmung im Bereich politischer Mitbestimmung durch das - über den Gedanken der Volkssouveränität auf das „Staatsvolk" rückbezogene - Demokratieprinzip 364 überlagert wird. Daß es nicht aufgehoben ist, und die im Hinblick auf den Menschenwürdesatz auch nicht auflösbare Spannungslage unterschwellig fortbesteht, zeigt sich spätestens dann, wenn man den Ausschluß der Ausländer und Staatenlosen vom Wahlrecht auf der Zeitschiene betrachtet: Ist man bei Menschen, die für eine kürzere Zeitspanne in der Bundesrepublik leben, bereit ihn zu akzeptieren, so löst der Ausschluß vom Wahlrecht mit der sich möglicherweise gar über mehrere Generationen erstreckenden Fortdauer ihres Aufenthaltes im Lande zu Recht wachsendes Unbehagen aus. Immerhin wurde dereinst mit dem Ruf „No taxation without representation" (Boston Tea Party, 1773) eine Revolution eingeleitet, und wir nehmen für uns in Anspruch, die damals errungenen menschenrechtlichen Prinzipien in unserer Verfassungsordnung umgesetzt zu haben. Michael Walzer formuliert das sich allen Demokratien westlicher Prägung hinsichtlich ihrer „Gastarbeiter" stellende Grundproblem sehr deutlich: Die Selbstbestimmungsprozesse, vermittels deren ein demokratischer Staat sein Binnenleben gestaltet und organisiert, müssen alle Männer und Frauen, die auf seinem Territorium wohnhaft sind, mit ihrer Arbeit zum Fortkommen der lokalen Wirtschaft beitragen und der gleichen Lokalgesetzgebung unterstehen, gleichermaßen einbegreifen. Das heißt, daß Zweitzulassungen (= Einbürgerungen), indem sie Erstzulassungen (= Einwanderungen) voraussetzen, zwar gewissen Zeit- und Qualifikationsbeschränkungen unterliegen können, keinesfalls aber jenem obersten Zwang zur Abgeschlossenheit. Wenn der Weg zur Zweitzulassung versperrt ist, zerfällt die politische Gemeinschaft in eine Welt von Mitgliedern und Fremdlingen, (...) in der die Fremdlinge den Mitgliedern Untertan sind. Letztere mögen zwar untereinander gleich sein, aber es ist nicht ihre Gleichheit, die den Charakter des Staates bestimmt, in dem sie leben, sondern ihre tyrannische Herrschaft. Politische Gerechtigkeit läßt dauerhaftes Ausländertum nicht zu. 365 364 Fraglich ist allerdings, ob das Demokratieprinzip notwendigerweise mit dem Gedanken der Volkssouveränität bzw. dem Nationalstaatsprinzip zu verknüpfen ist. Zwingend ist die für uns seit Ende des 18. Jh. so selbstverständliche Koppelung dieser drei Prinzipien keineswegs; vgl. dazu Albert Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip des Grundgesetzes, in: DÖV 1988, 437 ff. (438, Fn.9). 365 Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, New York 1983; dt.u.d.T.: Sphären der Gerechtigkeit: ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/New York 1994, 104.

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Was hier jenseits des viel diskutierten Zusammenhangs zwischen Wahlrecht, Demokratieprinzip und Staatsvolk366 in den Blick kommt, ist die im folgenden Abschnitt näher zu beleuchtende Vorfrage, wer überhaupt zum „Staatsvolk" gehört und nach welchen Kriterien sich die Zugehörigkeit bzw. der nachträgliche Erwerb der „Mitgliedschaft" bestimmt. Die Kriterien, die bezogen auf den einzelnen Zugehörigkeit definieren und die zugleich im Blick auf das Ganze als jene Faktoren gelten, die die Einheit „des Volkes" stiften, werden auf staatlichpolitischer Ebene üblicherweise durch das jeweilige Konzept der Nation vermittelt. Dieses beeinflußt dann mittelbar auch die rechtstechnische Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts (einschließlich der Erwerbstatbestände) bzw. bestimmt im Blick auf die Sonderregelung des Grundgesetzes, wer (auch ohne bereits die Staatsangehörigkeit zu besitzen) als „Deutscher" im Sinne des Art. 116 GG in den Genuß der Deutschenrechte kommt. Jedes Konzept der Nation bildet, indem es Zugehörigkeit und damit als Kehrseite zwangsläufig Ausschlüsse definiert, einen polaren Gegensatz zu einem perspektivisch und seinem Selbstverständnis nach die ganze Weite der Menschheit umspannenden menschenrechtlichen Universalismus. Soweit also beides in der Verfassung Niederschlag findet, ist eine verfassungsrechtliche Spannungslage unausweichlich. Walzer macht aber zu Recht darauf aufmerksam, daß diese sich in der Dimension des Zeitablaufs betrachtet verstärkt. Das heißt, auch ein zunächst gerechtfertigter Ausschluß wird, je länger er währt, desto problematischer, die dadurch erzeugten Widersprüche verschärfen sich. Was Walzer allgemein als ein Problem „politischer Gerechtigkeit" begreift, berührt bezogen auf das Grundgesetz zudem auch rechtsstaatliche Grundbegriffe wie etwa den Gedanken der Allgemeinheit des Gesetzes.367 Mag dieser innerhalb einer hochdifferenzierten Gesellschaft, die notgedrungen ebenso hochdifferenzierte gesetzliche Regelungen produziert, im allgemeinen, also für die große Gruppe derjenigen, die sich als Staatsbürger auf dem Boden staatsbürgerlicher Gleichheit bewegen, ohne praktische Relevanz sein, so zeigt sich doch gerade im Negativbild, d.h. im Falle der „Nichtgeltung", die im „Normalfall" gar nicht mehr wahrgenommene Bedeutung: 368 Soweit der unter Ausschluß der

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Diese Fragen erneut aufzurollen, erscheint angesichts der Flut der dazu bereits erschienenen Publikationen nicht unbedingt erforderlich; insoweit sei daher nur auf die oben in Fn. 12 angegebene Lit. verwiesen. 367 Siehe hierzu H. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes (Fn. 244). 368 Das gleiche gilt für das Prinzip der gleichen Freiheit: Es ist selbstverständlich die allgemein akzeptierte Grundlage der Schrankensystematik, besitzt im „Normalfall" aber keine praktische Bedeutung, da es für eine für erforderlich gehaltene Differenzierung keinen Maßstab abgibt. Erst an den Rändern der Auflösung, an den Punkten, wo es in Frage gestellt wird, erwacht es zu neuem Leben und gewinnt Relevanz; so im Fall der

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Ausländer gewählte Gesetzgeber Gesetze im Regelungsbereich der Deutschengrundrechte (Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 GG) erläßt, kommt diesen - und das ist ja auch die Intention der Vorbehalte - gerade keine allgemeine Geltung zu. Das Problem beschränkt sich somit nicht auf den Ausschluß vom Wahlrecht samt der darin liegenden „Freiheit durch Teilhabe am Staat" und dem in der Möglichkeit der Mitbestimmung enthaltenen Aspekt der Selbstbestimmung. Die Ausländer. sind, soweit die Deutschenvorbehalte reichen, sogar schlechter gestellt als die ebensfalls vom Wahlrecht ausgeschlossenen, aber gleichwohl „als Glieder des gemeinen Wesens" selbstverständlich von der allgemeinen Geltung der Gesetze profitierenden „Schutzgenossen" bei Kant. 3 6 9 Betrifft all dies über einen längeren Zeitraum eine - sofern die „Erstzulassung" weiterhin erfolgt 370 - stetig wachsende Zahl von Menschen, ist das Konzept der Nation aber nicht elastisch genug, um die zunehmende Spannung kontinuierlich abzubauen und einen Ausgleich zwischen den beiden Polen zu

Deutschengrundrechte, wo die „gleiche Freiheit aller" zur gleichen Freiheit der Deutschen wird. 369 Krit. zu einer Behandlung der Ausländer als bloße „Schutzgenossen" (auch bei vorhandener „Selbständigkeit als Bürger") Maihofer, Prinzipien (Fn. 145), Rn. 57, Fn. 68. Tatsächlich ist ihre Position jedoch sogar schwächer: Der Unterschied ist, daß auch der „Schutzgenosse", obgleich zur (Mit-)Gesetzgebung nicht fähig, als konstitutiver „Teil des gemeinen Wesens" gilt und der Staatsgewalt deswegen aufgegeben ist, seine individuelle Freiheit und Gleichheit zu achten; vgl. Kant, Über den Gemeinspruch, Werke (Fn. 138), Bd.9, 125ff. (150f.); hierzu auch Grawert, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, in: Der Staat 23 (1984), 179. 370 Walzers Argument lautet, daß „Zweitzulassungen", womit er Einbürgerungen meint, „Erstzulassungen", d.h. die (legale) Einwanderung voraussetzen, der Staat aufgrund der „Erstzulassung" also in der Pflicht sei, zumindest auf Dauer und unter bestimmten Voraussetzungen auch die „Zweitzulassung" vorzunehmen. Daraus folgt umgekehrt aber auch, daß es zumindest theoretisch die Alternative gäbe, schon die „Erstzulassung" zu verweigern, um sich diesen Konsequenzen zu entziehen. Damit ließe sich das Problem jedoch allenfalls etwas entschärfen und nicht dauerhaft lösen: Selbstverständlich ist eine Steuerung und auch zeitweilige Drosselung des Zustroms von Ausländern möglich und wird im Bedarfsfall ja auch weltweit praktiziert. Eine völlige Abschottung nach außen wäre aber angesichts der vielzitierten „Globalisierung" weder realisierbar noch entspräche es einem weltoffenen republikanischen Selbstverständnis oder auch nur den Anforderungen des Völkerrechts: L'Institut de droit international stellte bereits in seinem am 9.9.1892 angenommenen Regelwerk (Art. 6) fest, daß „l'entrée libre des étrangers sur le territoire d'un État civilisé ne peut être prohibée, d'une manière générale et permanente, qu'à raison de l'intérêt public et de motifs extrêmement graves" und weiter: „un État peut, à titre exceptionnel, n'admettre des étrangers que temporairement et sous défense pour eux de se domicilier dans le territoire"; s. dazu Charles de Boeck, L'expulsion et les difficultés internationales qu'en soulève la pratique, in: Recueil des Cours 18 (1927 III), 443 ff. (451).

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bewirken, so besteht die Gefahr, daß die Spannungslage in einen starren, unversöhnlichen Antagonismus umschlägt, der auf Dauer die innere Glaubwürdigkeit der menschenrechtlichen Prinzipien aushöhlen und damit an der Legitimationsgrundlage und dem rechtsstaatlichen Fundament der Verfassung zehren könnte. Der Staat des Grundgesetzes als eine auf menschenrechtliche Grundsätze gebaute Verfassungsordnung muß sich daher der Frage stellen, was sein Staatsvolk bzw. die staatstragende Nation eint, wer dazugehört und damit auch Träger der Deutschenrechte ist. Und insbesondere müssen auch die Ergebnisse einer Überprüfung anhand der selbst gesetzten Maßstäbe standhalten, es kann also nicht einfach auf vorgegebene Antworten eines präexistenten Staates verwiesen werden. Als Vorfrage betrifft dies natürlich sämtliche Deutschenvorbehalte, auch die der Abwehrrechte. Im übrigen ist die Situation hier aber insofern eine andere, als sich auch die Frage nach ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung noch krasser stellt und schwerer zu beantworten ist. Diese Vorbehalte können nicht als durch das Demokratieprinzip zumindest vorläufig gerechtfertigt gelten, das seit der Französischen Revolution in den europäischen Staaten mit dem Prinzip der Volkssouveränität 371 gekoppelt und daher nach herrschender Ansicht nur auf das „Staatsvolk" zu beziehen ist. Im Gegenteil: Als Rechte des status negativus, die die Freiheit des Individuums „vom Staat" durch rein negatorische Ansprüche sichern, sind die Freiheitsrechte schon ihrer Struktur nach kaum mit nationalen Vorbehalten in Einklang zu bringen, so daß Teile der Weimarer Staatsrechtslehre trotz des entgegenstehenden Wortlauts der Weimarer Reichsverfassung insoweit bereits von „Menschenrechten" sprachen. Mit Anerkennung des (einheitlichen) Freiheitsprinzips des liberalen Rechtsstaates, in der Formulierung C. Schmitts: des rechtsstaatlichen „Verteilungsprinzips", verschärft sich das Problem und gewinnt - wenngleich auf einer höheren Abstraktionsstufe eine noch grundsätzlichere Bedeutung: Sind nicht nur diese oder jene Einzelfreiheiten gewährleistet, die sich nach Manier feudalistischer Privilegien auf eigene Staatsangehörige und Ausländer in ungleicher Weise verteilen ließen, sondern ist darüber hinausgehend die prinzipiell unbegrenzte gleiche Freiheit des einzelnen das Prinzip der Konstitution, so löst jede ungleiche Freiheitsbeschränkung einen Rechtfertigungsdruck aus. Versuchte der wohl überwiegende Teil des Schrifttums unter der Weimarer Reichsverfassung noch, diesen Konsequenzen im allgemeinen, dem Streit um die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte im besonderen durch die Beschwörung eines in bewußter Abgrenzung zu den Prinzipien von 1789 betont natio371

Bleckmann, Nationalstaatsprinzip (Fn. 364), 438 mit Fn. 9, spricht von drei Prinzipien: dem Demokratieprinzip, dem Souveränitäts- und dem Nationalstaatsprinzip, die auch im Rahmen des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG voneinander getrennt werden sollten.

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nalen Verständnisses des Rechtsstaates zu begegnen, so ist dem durch die nach den Erfahrungen des Dritten Reiches bewußt menschenrechtlich-universalistische Fundierung des Grundgesetzes der Boden entzogen: Sie sprengt jede immanente Begrenzung der Freiheitsgewährleistungen auf „Deutsche" schon begrifflich auf, da sich von Menschenrechten eben überhaupt erst dann sprechen läßt, wenn „individuelle Rechtsgarantien mit der gleichen Freiheit aller sich kreuzen". 372 Vor dem Hintergrund der insoweit eindeutigen Textfassung der Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG erweisen sich nun aber die nationalen Vorbehalte der Freiheitsrechte als Problem. Ein Spannungsverhältnis besteht hier - ebenso wie bei den Deutschenvorbehalten der Staatsbürgerrechte i.e.S. - zunächst im Hinblick auf den Menschenwürdesatz, wobei es wiederum allein um den positiven, auf den Autonomiegedanken gerichteten Aspekt dieses Begriffs gehen kann, denn die negative, auf den Gegenbegriff des „Unrechts" abzielende Begriffsdefinition markiert einen nach unserem Selbstverständnis nicht hintergehbaren rechtskulturellen Standard, der im Sinne des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG „unantastbar" ist. Soweit es um Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG als „Tabu-Grenze" geht, gilt das selbstverständlich für Deutsche und Ausländer gleichermaßen. Nur das Autonomieprinzip kann im Einzelfall durch andere Verfassungsprinzipien zurückgedrängt werden. Da dieses aber in vielfältiger Hinsicht einer staatlichen Gestaltung zugänglich ist, bzw. sie sogar erfordert, folglich gerade nicht „unantastbar" ist oder sein kann, ist mit der Feststellung, daß dieser Grundsatz berührt ist, noch nicht viel gewonnen. Erst auf der darunter liegenden Konkretisierungsstufe wird deutlich, worin die eigentliche Problematik der Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte liegt: Die Deutschenvorbehalte eröffnen bezogen auf den Regelungsbereich der Deutschengrundrechte, also der Art. 8, 9 Abs. 1,11 und 12 Abs. 1 GG, die Möglichkeit einer stärken und insofern ungleichen Freiheitsbeschränkung gegenüber allen, die nicht „Deutsche" im Sinne des Art. 116 GG sind. Von dieser Möglichkeit muß natürlich nicht Gebrauch gemacht werden, wie die weitgehende, auch Art. 11 EMRK berücksichtigende, einfachgesetzliche Gleichstellung der Ausländer im Vereins- und Versammlungsgesetz zeigt. 373 Soweit es jedoch geschieht, wird damit das der gesamten Schrankensystematik der Freiheitsrechte zugrundeliegende - hier in negativer Wendung gerade auf die Beschränkungsmöglichkeit bezogene - Prinzip der gleichen rechtlichen Freiheit durchbrochen bzw. tritt hinter jenem sich in den nationalen Vorbehalten manifestierenden gegenläufigen Prinzip zurück. Eine dauerhafte Auflösung dieser Spannungslage wäre nur möglich, wenn man davon ausgehen könnte, daß das Grundgesetz von 372

Vgl. oben S. 76 mit Fn. 199. Siehe dazu auch Quaritsch, Ausländer (Fn. 9), Rn. 94; Zuleeg, Grundrechte (Fn. 113), 345. 373

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vornherein nur die staatsbürgerliche Gleichheit bzw. die Gleichheit der Deutschen gewährleisten wollte. Doch steht dieser Annahme der eindeutige Verfassungstext entgegen.374 Sowohl das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, für das es in der Weimarer Reichsverfassung kein Vorbild gab, als auch der in seinem unstreitigen Kerngehalt jedenfalls die Gleichheit in der rechtlichen Freiheit (Rechtsgleichheit) garantierende Art. 3 Abs. 1 GG sind bewußt als Menschenrechte niederlegt worden. Damit kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß sich das Prinzip der gleichen Freiheit aller „an sich" auf alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes bezieht und es wird, abgesehen von den Deutschenrechten, ja auch so angewandt. Wird aber das Prinzip der gleichen rechtlichen Freiheit aller, aus welchen Gründen auch immer, überspielt, so entstehen daraus Probleme - solche grundsätzlicher Natur und solche rechtsdogmatischer Art. Die ersteren können hier nur kurz angedeutet werden: Wurde nach dem Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie von der „Gerechtigkeit" zur „Freiheit" 375 die Gerechtigkeit als eine Funktion der Freiheit betrachtet, also angenommen, daß bei Sicherung der größtmöglichen gleichen Freiheit aller im Gefolge der Freiheit auch Gerechtigkeit herrschen werde, so muß sich die Gerechtigkeitsfrage in dem Augenblick in voller Schärfe neu stellen, in dem das Prinzip der gleichen Freiheit aller nicht zum Zuge kommt, die Gerechtigkeit damit aus ihrer funktionellen Einheit mit der Freiheit gelöst wird. Walzers These, daß dauerhaftes Ausländertum das Prinzip der politischen Gerechtigkeit verletze, erhält unter diesem Aspekt neue Nahrung. Im Hinblick auf den rechtsdogmatischen Umgang mit den Deutschenvorbehalten der Freiheitsrechte stellt sich eine ganz andere Frage, und zwar die, welches Prinzip eigentlich hinter den in der Verfassung verankerten nationalen Vorbehalten steht und es rechtfertigt, das Prinzip der gleichen Freiheit aller in bestimmten Fällen zurücktreten zu lassen. Wie oben bereits erwähnt, setzen die Bemühungen um eine Harmonisierung der durch die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte ausgelösten Spannungslage zumeist bei den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes an, um auf diese Weise entweder den „Menschenwürdekern" des jeweiligen Deutschengrundrechts zur Geltung zu bringen oder sich die sog. „Auffangfunktion" des Art. 2 Abs. 1 GG für Freiheitsbetätigungen von Ausländern in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen zunutze zu machen. 374

Trotz des entgegenstehenden Wortlautes der WRV stößt man aufgrund des systematischen Zusammenhangs zwischen Freiheit und Gleichheit dort schon auf dieses Problem, s. oben bes. S. 108 ff. 375 Hierzu H. Hofmann, Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit, Veröffentlichung der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Bd. 64, München 1997, zum Paradigmen Wechsel bes. auch 36, 48 ff.

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Bevor diese unterschiedlichen Ansätze im einzelnen dargestellt werden, soll versucht werden, auch die „andere Hälfte des Problems" angemessen zu erfassen. Das in den nationalen Vorbehalten der Deutschengrundrechte zum Ausdruck kommende und im Verhältnis zu den menschenrechtlichen Prinzipien des Grundgesetzes „gegenläufige" Prinzip, das im Hinblick auf die damit offensichtlich bezweckte Privilegierung 376 der eigenen Staatsangehörigen bzw. der „Deutschen" im Sinne des Art. 116 GG auch als „Nationalstaatsprinzip" bezeichnet werden könnte, 377 ist also genauer unter die Lupe zu nehmen: Sowohl Gründe und Hintergründe der (weltweit praktizierten) staatsbürgerlichen Privilegierung als auch ihre konkrete Ausgestaltung im Grundgesetz gilt es näher zu beleuchten. Außerdem soll aber auch der oben schon mehrfach angesprochenen Frage nachgegangen werden, wer speziell unter der Geltung des Grundgesetzes Deutscher ist oder werden kann, auf welchem Konzept der Nation die national motivierten Ein- und Ausschlüsse also beruhen, und wie sich dies mit der menschenrechtlich-universalistischen Fundierung des Grundgesetzes verträgt.

II. Nation und Nationalstaat in staats- und verfassungsrechtlicher Perspektive: Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz Während die den Neubeginn bundesrepublikanischer Staatlichkeit tragende „menschenrechtlich-universalistische Wende" des Grundgesetzes sehr bewußt und - nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, das so unendliches Leid über andere Völker gebracht hatte - vor den prüfenden Augen der Völkergemeinschaft auch bekenntnishaft-demonstrativ vollzogen wurde, 378 zählte die Fortgeltung des in den nationalen Vorbehalten der Deutschenrechte zum Ausdruck kommenden „Nationalstaatsprinzips" zu jenen schon axiomatischen Charakter tragenden Selbstverständlichkeiten, von denen man stillschweigend ausgeht, ohne sie weiter zu hinterfragen oder darum viel Aufhebens zu machen.

1. Zum Begriff des Nationalstaatsprinzips Die Vieldeutigkeit des schillernden und ideologisch aufgeladenen Begriffs des Nationalstaates samt seiner begrifflichen Konnotationen (Nation, Nationalismus) verlangt hier allerdings nach einer Präzisierung: Im Sinne eines auf die Zwecke dieser Untersuchung zugeschnittenen „minimalistischen" Begriffsver376

Eine Privilegierung, die für so selbstverständlich gehalten wird, daß man sie gar nicht mehr reflektiert, wie schon Kelsen zutreffend anmerkte; s. oben S. 92. 377 So auch die Bezeichnung bei Bleckmann, Nationalstaatsprinzip (Fn. 364). 378 Dies zeigt sich besonders deutlich im ersten Satz der Präambel und in Art. 1 II GG.

II. Nation und Nationalstaat

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ständnisses ist damit lediglich die sich auch im Verfassungstext niederschlagende Vorstellung gemeint, daß der den Gegenstand der Verfassung bildende Staat als Staat einer ganz bestimmten, sich gegen andere abgrenzenden Nation zu verstehen sei, als Staat des ihn konstituierenden, begrenzten Staatsvolkes also, 379 und sich daraus legitimiert, daß er die Interessen dieses Volkes vertritt, von dem er nach dem korrelierenden Grundsatz der Volkssouveränität auch seine Staatsgewalt ableitet. Dabei bleibt die Frage nach dem jeweiligen Konzept der Nation und den Mustern nationaler Identitätsbildung zunächst ebenso ausgeklammert wie die nach der heutigen Erscheinungsform „des Nationalstaates" oder nach Art, Qualität und Wertigkeit nationaler Interessen. Doch nur auf der Grundlage dieser (vorläufig) ganz formal-abstrakten Begriffsbestimmung läßt sich überhaupt von einem im Rahmen staats- und verfassungsrechtlicher Fragestellungen operationalisierbaren Verfassungsprinzip 380 sprechen, das sich auf einer Ebene mit anderen Verfassungsprinzipien bewegt und zu diesen, aber auch zu bestimmten Rechtsinstituten wie etwa dem der Staatsangehörigkeit, in Relation gesetzt werden kann. Gebraucht man den Begriff des Prinzips nicht nur allgemein als Synonym für Grundsatz, sondern versteht unter „Prinzipien Normen (...), die gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird", definiert sie also als „ Optimierungsgebote", m so kann der Prinzipiencharakter nur für den zweiten Teil der obigen inhaltlichen Umschreibung des Nationalstaatsprinzips bejaht werden: Daß der Staat eine ganz bestimmte, von anderen unterscheidbare Nation, ein begrenztes Volk repräsentiert, ist lediglich Voraussetzung für das Gebot, das Wohl dieser Nation bzw. dieses (Staats-)Volkes382 als Ganzes, aber auch seiner einzelnen Mitglieder, zu optimieren. Diese Vorgabe gewinnt natürlich erst in den Einzelbestimmungen des Verfassungstextes konkrete Gestalt und füllt sich mit Leben, kann in dieser Form dann auch Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Im übrigen ist sie auch nur unter der Bedingung zu realisieren, daß die Zugehörigkeit zu Staat und Nation klar definiert, d.h. der Status der „Mitgliedschaft"

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Die semantischen Felder von „Nation", „Volk" und „Staatsvolk" decken sich nicht. Wie ein Blick auf Art. 116 GG zeigt, ist das „Staatsvolk" als Summe der Staatsangehörigen kleiner als die „Nation" als Summe der „Deutschen" i.S.d. Art. 116 GG. Für die Begriffsbestimmung des Nationalstaatsprinzips spielt das jedoch keine Rolle, hier ist vom Normalfall, also von der mit dem „Staatsvolk" identischen „Staatsnation" auszugehen. 380 Im weiteren Verlauf der Arbeit soll dies einer differenzierteren Betrachtung unterzogen werden, doch wird sich dann zeigen, daß sich unter dieser Voraussetzung kaum noch von einem „einheitlichen" Prinzip sprechen läßt. 381 Alexy (Fn. 159), 75 f. 382 Siehe dazu Fn. 379.

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eindeutig festgelegt ist. Es muß erkennbar sein, wer zu jener mitgliedschaftlichen Verbindung gehört, deren Wohl es zu optimieren gilt, und wer nicht. Es bedarf also einer klaren Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern. Mit anderen Worten: Prinzipiell entscheidet die Mitgliedschaft darüber, 383 wer durch das nationalstaatliche Optimierungsgebot objektiv begünstigt und wer subjektiv mit bestimmten „Mitgliedschaftsrechten" ausgestattet ist, wobei allerdings zwischen dem Mitgliedstatus selbst und den inhaltlichen Positionen zu differenzieren ist. Im folgenden soll daher in einem ersten Schritt die Kategorie der Zugehörigkeit zum Staat im Sinne einer mitgliedschaftlichen Verbindung als präjudizielle Bedingung des Nationalstaatsprinzips näher beleuchtet werden, um dann in einem zweiten Schritt zu untersuchen, in welcher Form sich dieses Prinzip im Grundgesetz niederschlägt.

2. Zugehörigkeit zu Staat und Nation: Der Verfassungstext im Spannungsfeld von Staatswerdung und politischer Philosophie Im Grundgesetz findet sich eine ganze Reihe von Bestimmungen, die sich entweder unter Verwendung der Kollektivbezeichnung auf das „Deutsche Volk" bzw. das „Volk" beziehen oder als Individualrechte einen Deutschenvorbehalt enthalten, den Träger dieser Rechte also national umschreiben: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet" (Art. 11 Abs. 1), „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden" (Art. 16 Abs. 2) oder „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte" (Art. 33 Abs. 2). Der Kreis der danach als „Deutsche" subjektiv Berechtigten wird dann in Art. 116 Abs. 1 GG wie folgt definiert: Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.384 383

Dazu im folgenden unter II. 2. a) und b). Abs. 2 formuliert in dem Bemühen, denjenigen, die unter der NS-Willkürherrschafi am stärksten leiden mußten, die deutsche Staatsangehörigkeit nicht ungefragt aufzudrängen, vorsichtig: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben". 384

II. Nation und Nationalstaat

129

Gleich in zwei Begriffen taucht hier der Gedanke der mitgliedschaftlichen Verbindung auf: Zum einen ist von der deutschen Staatsangehörigkeit, zum anderen von der deutschen Volkszugehörigkeit die Rede.

a) Staatsangehörigkeit

als Mitgliedschaft

im Staatsverband

Das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit ist Folge und Ausdruck des Umstandes, daß der moderne Staat nicht nur als Territorialstaat seinen Herrschaftsraum nach außen territorial abschließt und im Inneren die Territorialhoheit gegenüber allen Personen ausübt, die sich im Staatsgebiet aufhalten, sondern als dauerhafter Personenverband zugleich mitgliedschaftlich organisiert ist. In ihr spiegelt sich, um eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen, die „Grundbeziehung der mitgliedschaftlichen Verbindung und rechtlichen Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft" wider. 385 Dabei besteht zwischen diesen beiden Strukturmerkmalen des modernen Staates durchaus ein Zusammenhang - wie die Entstehung der Staatsangehörigkeit überhaupt auf das Engste mit dem neuzeitlichen Prozeß der Staatswerdung verwoben ist 3 8 6 und dabei von der inneren und äußeren Seite des ungleichmäßig verlaufenden, evolutionären Vorgangs der Staatsbildung je eigene Impulse empfangt. Daß die Staatsangehörigkeit als „ein formell definierter, nach außen hin begrenzter Mitgliedstatus" unter anderem eine Frucht der Dynamik zwischenstaatlicher Beziehungen innerhalb eines Systems gleichrangiger, sich gegeneinander abgrenzender Territorialstaaten ist, die sich mit dem Problem unerwünschter Einwanderung konfrontiert sahen, hat unlängst Rogers Brubaker nochmals hervorgehoben: Bereits die mit der Territorialisierung von Herrschaft verbundene staatliche Kontrolle des Zugangs zum Staatsgebiet setzt, wie er es als Soziologe ausdrückt, „Mitgliedschaft" bzw. dem juristischen Sprachgebrauch folgend die Definition der Staatsangehörigkeit im Sinne der Zuordnung einer Person zu einem bestimmten Staat voraus. 387 Es bedarf einer Unterscheidung zwischen denjenigen, die freien Zugang zum Staatsgebiet haben - und damit auch zu den dortigen Lebenschancen in Gestalt öffentlicher Grundgüter sowie eines aussichtsreichen Arbeitsmarktes - und denjenigen, die ihn nicht haben. Das staatliche Interesse daran, den Personenfluß über die Staatsgrenzen kontrollieren zu können, verstärkt sich naturgemäß angesichts großer, meist durch Armut und Not ausgelöster Migrationsbewegungen.

385

BVerfG 37, 217 (241). Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, Berlin 1973, insbes. 128 f., 193, 214. 387 Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg 1994, 48 ff., 95 ff., 101. 386

9 Siehr

130

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

So gab auch in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert das Problem der „wandernden Armen" den Staaten des Deutschen Bundes erstmals Veranlassung, allgemeine, völkerrechtserhebliche Angehörigkeitskriterien zu entwickeln. Anfängliche Versuche der souveränen deutschen Kleinstaaten - nach 1815 immerhin 39 an der Zahl 3 8 8 mit entsprechend kurzen Wegen von einer Staatsgrenze zur anderen - die Bürde staatlicher Armenfürsorge durch Ausweisung abzuwälzen, konnten nur zu Lasten des angrenzenden Staates gehen, in dessen Gebiet die betreffende Person ausgewiesen wurde. Dem aus dieser Situation erwachsenden Regelungsdruck wurde zunächst in bi- und später in multilateralen Abkommen Rechnung getragen, die festlegten, daß anderen Staaten nur ihre eigenen Angehörigen zugewiesen werden dürfen, diese aber auch zu deren Aufnahme verpflichtet sind. Zudem suchte man dort den Begriff des Staatsangehörigen durch einheitliche Merkmale zu definieren. Er hält damit erstmals Einzug in die Vertragssprache und findet sich in seiner spezifischen, zunächst funktional auf den zwischenstaatlichen Bereich beschränkten Bedeutung neben den bis dahin gebräuchlichen Begriffen „Einheimischer", „Einwohner", „Bürger", hauptsächlich aber „Untert(h)an". 389 So wie einst die Stadt war nun also der Staat gezwungen, zu bestimmen, wer „seine" Armen sind. 390 Ein schönes Beispiel für diese Bemühungen liefert die schon 1816 zwischen den süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg (mit Beitrittseinladung an andere Staaten) getroffene Übereinkunft „wegen wechselseitiger Uebernahme der Vaganten und anderer Ausgewiesenen", die die genannten, zur Bewältigung des Problems erforderlichen Schritte mit bemerkenswerter Klarheit vollzieht: § 1. Die kontrahirenden hohen Souverains verbinden Sich, Niemand aus Ihrem in eines Mitkontrahenten StaatsGebiet auszuweisen, der nicht ein Angehöriger des Staats ist, dem er zugewiesen wird, und darinn sein Heimwesen zu suchen hat, oder wenigstens durch das Gebiet desselben, als ein Angehöriger eines rückwärts liegenden Staats nothwendig den Weg nehmen muss.

388

Genauer: 35 Fürsten und 4 freie Reichsstädte traten dem auf dem Wiener Kongreß gegründeten Deutschen Bund bei. 389 Grawert, Staat (Fn. 386), 135 f. 390 Ders., aaO, 134; s. auch Brubaker (Fn. 387), 100. Einerseits ist dies Ausdruck des inneren Verstaatlichungsprozesses, in dessen Verlauf dem Staat die Letztverantwortung für die Armenfürsorge zuwächst und im ALR sogar ausdrücklich festgeschrieben wird, vgl. II. Teil, 19. Titel, § 1.: „Dem Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch von anderen Privatpersonen, welche nach besonderen Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können" (Das Allgemeine Preußische Landrecht und die Gesetze und Verordnungen für den preußischen Staat aus der Zeit vor 1806, Düsseldorf 1879); andererseits zwingt die grenzüberschreitende Mobilität der Armen dazu, die Angehörigkeit zunächst im Außenverhältnis auf einen einheitlichen Begriff zu bringen.

II. Nation und Nationalstaat

131

§ 2. Als StaatsAngehörige, deren Uebernahme von Seiten der Contrahenten wechselseitig nicht versagt werden kann, sind anzusehen: (...).391 Es folgt eine Aufzählung der für die Staatsangehörigkeit maßgeblichen Prinzipien, wobei diese zugleich mit Blick auf Kollisionsfälle rangmäßig abgeschichtet und in detailliertere Regelungen umgesetzt werden. Aufgeführt werden Abstammung, ausdrückliche Aufnahme als „Unterthan", aber auch die zufällige Geburt im Staatsgebiet durch heimatlose Eltern, solange diese Personen nicht in nähere Verbindung mit einem anderen Staat getreten sind. Letzteres soll (abgesehen von der Naturalisation) etwa dann der Fall sein, wenn sie sich „daselbst mit obrigkeitlicher Bewilligung verheirathet, oder darinn mit Connvenienz der Obrigkeit Zehen Jahre lang gewohnt, oder wenigstens als selbständig ein Gewerbe getrieben haben". Bekanntlich hat die geschilderte Motivlage, aus der heraus sich der Begriff der Staatsangehörigkeit im zwischenstaatlichen Umfeld entwickelt hat, bis heute nicht an Aktualität verloren; Migrationsbewegungen haben auf Grund der Globalisierung ganz im Gegenteil eine neue Dimension erreicht. Es gehört zu den in die menschenrechtlich-universalistische Fundierung westlicher Demokratien eingelassenen Paradoxien, daß gerade sie es sind, die als wohlhabende Staaten ein fundamentales Interesse am „Prinzip der territorialen Schließung" (Brubaker) 3 9 2 haben und, soweit sie davon Gebrauch machen, natürlich nicht den „Menschen als solchen" 393 in den Blick nehmen (können), sondern an die Staatsangehörigkeit anknüpfen. Brubaker greift in diesem Zusammenhang terminologisch auf die von Max Weber eingeführte Unterscheidung zwischen „offenen" und „geschlossenen" sozialen Beziehungen zurück. Eine soziale 391

Übereinkunft vom 7.3.1816, in: Großherzoglich-Badisches Regierungsblatt v. 19.11.1816, 139 ff.; s. auch die (abgesehen von ganz geringfügigen orthographischen Abweichungen) wortwörtlich gleiche Übereinkunft vom 6.5.1818 zwischen den Höfen zu München, Stuttgart, Carlsruhe und Darmstadt, der „auf desfallige Einladung hinsichtlich des Herzogthums Nassau gegen das Großherzogthum Hessen" ersteres am 18.5.1818 „beygetreten" ist, abgedr. in: George Frédéric de Martens, Nouveau Recueil de traités d'alliance, de paix, de trêve depuis 1808 jusqu'à présent, Tome 1-4, Göttingen 1817-20, continué par Charles de Martens, Supplément au recueil des principaux traités; Tome 5 ff., hier: Tome 5, S.276ff., Nr. 32 (unter 1. die Bekanntmachung des Beitritts mit ergänzenden Bestimmungen, unter 2. [S. 277 ff.] die Übereinkunft selbst), Göttingen 1824. 392 Brubaker (Fn. 387), insbes. 49. 393 H. Arendt, Herrschaft (Fn.217), 601 ff., insbes. 601-604, 619f., merkt kritisch an, daß der von allen Autoritäten gelöste und aus allen Bindungen herausgelöste „Mensch als solcher" zwar mit den Menschenrechtserklärungen der beiden großen Revolutionen der Neuzeit zur einzigen Autorität in allen Fragen von Recht und Unrecht geworden sei, daß die Welt jedoch, wenn er sich ihr in Gestalt eines Heimat- und Staatenlosen präsentiere, vor ihm nicht die geringste Ehrfurcht empfinde, er aufgrund der abstrakten Nacktheit seines „Nichts-als-Menschseins" vielmehr völlig rechtlos gestellt sei.

132

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Beziehung soll nach Weber „nach außen ,offen' heißen, wenn und soweit die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welches sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist. Dagegen nach außen geschlossen' dann, insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen". 394 Im Anschluß daran bezeichnet Brubaker die Staatsangehörigkeit als „ein mächtiges Instrument sozialer Schließung", das nach innen einschließend, nach außen, d.h. gegenüber Nichtmitgliedern, jedoch ausschließend wirke, und den Nationalstaat als „Architekt(en) und Garant(en) einer Reihe typischer Formen der Schließung", zu denen er unter anderem auch die Territorialgrenze zählt. 395

(1) Das Problem: Mitgliedschaft und Menschenrechte Doch zeigt sich im Prinzip der „territorialen Schließung" gegenüber „Nichtmitgliedern" nur eine Facette einer grundlegenden paradoxalen Spannung, die aus der Zwillingsexistenz von Menschenrechten und Nationalstaat erwächst: 396 Per definitionem setzen sich Menschenrechte als unveräußerliche, dem bloßen Menschsein entspringende Rechte „of all people at all times and in all situations" (Cranston) 397 nicht nur über biologische, soziale oder kulturelle Unterschiede, über Privilegien jedweder Art und allgemein über alle aus Herkunftsbindungen folgenden Besonderheiten hinweg, sondern in gleicher Weise über die rechtliche Differenzierung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern und

394

In: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Marianne Weber, Tübingen 1922, 5. rev. Aufl., bearb. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, Kap. I., § 10, S. 23 ff. Dabei können Offenheit oder Geschlossenheit traditionell (z.B. Familie), affektuell (z.B. persönliche Gefühlsbeziehungen), wertrational (z.B. Glaubensgemeinschaften) oder zweckrational (z.B. ökonomische Verbände) bedingt sein. Auch das Maß und die Mittel der Regulierung und Schließung nach außen können sehr verschieden sein, d.h. die Übergänge sind fließend. Als Motive der Schließung benennt Max Weber a) Hochhaltung von Qualität, b) Knappwerden der Chancen im Verhältnis zum (Konsum-)Bedarf („Nahrungsspielraum"), c) Knappwerden der Erwerbschancen („Erwerbsspielraum"), wobei a) zumeist mit b) oder c) kombiniert sei. 395 Brubaker (Fn. 387), 45 ff. (47), 48 ff. Abgesehen von der Territorialgrenze handelt es sich dabei um innerstaatliche Vorgänge bzw. spezielle Rechte und Pflichten der Staatsangehörigen (u.a. allgemeines Wahlrecht, Zugang zum öffentlichen Dienst oder Wehrpflicht), auf die später zurückzukommen sein wird. 396 Zu den daraus entstehenden „moderne(n) Paradoxien" s. die eingehende, scharfsinnige und überzeugende Analyse bei Frankenberg (Fn. 133). 397 Vgl. oben Fn. 7.

II. Nation und Nationalstaat

133

ihrer Idee nach damit auch über nationalstaatliche Grenzen. 398 Gleichzeitig wird dieser im Wortsinne „grenzüberschreitende" Universalismus aber theoretisch wie praktisch zurückgenommen, sobald die nationalstaatliche Souveränität berührt ist. Das heißt, die in der Logik des menschenrechtlichen Ansatzes liegende Relativierung auch der durch die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem bestimmten Staatsverband gegebenen Differenz wird „systematisch eben dort blockiert, wo partikulare (nationale) Interessen im Namen der Personal- oder Gebietshoheit auftreten" (Frankenberg). 399

(a)

Staatsangehörigkeit

und Schutz der Menschenrechte

Zur leidvollen Erfahrung wird dies insbesondere für Bürgerkriegsflüchtlinge und andere Gruppen von Heimat- und Staatenlosen, die nicht nur im Rahmen eines Gedankenexperiments, in dem der „Mensch überhaupt" 400 zum Maßstab der rechten staatlichen Ordnung wird, aus dem Bezugsfeld des Staates, in dem sie leben, herausgelöst werden, sondern deren reale Lebensbedingungen sie in erschreckender Weise auf das isolierte, sich außerhalb aller Gemeinschaftsbindungen angesiedelte nackte Menschsein zurückwerfen, da sie keiner politischen Gemeinschaft zugehörig sind, von keiner Regierung repräsentiert werden und sich daher auch nur auf die aus dem bloßen Menschsein folgenden Rechte berufen können. Was im „Niemandsland" 401 der Flüchtlinge zur bitteren Gewißheit 398

Dazu Frankenberg (Fn. 133), insbes. 83. Ders., aaO, 95, sowie zum folgenden insbes. 89 ff. Er greift hier u.a. die menschenrechtskritischen Implikationen der Position H. Arendts auf und spitzt sie bezogen auf die paradoxale Spannung von Menschenrechten und staatlicher Souveränität weiter zu. Dazu aus völkerrechtlicher Perspektive Jost Delbrück, Menschenrechte im Schnittpunkt zwischen universalem Schutzanspruch und staatlicher Souveränität, in: German Yearbook of International Law 22 (1979), 384ff., bes. 387ff.; vgl. aber auch Erhard Denninger, Menschenrechte zwischen Universalitätsanspruch und staatlicher Souveränität, in: ders. u.a. (Hg.), Kritik und Vertrauen, FS für Peter Schneider zum 70. Geburtstag, Frankfurt 1990, 45 ff. 400 H. Arendt, Herrschaft (Fn. 217), 604. 401 Dies., aaO, 563; insgesamt liefert sie im 9. Abschnitt (559ff., 564ff., 601 ff.) ausgehend von der europäischen Entwicklung eine sehr plastische und historisch fundierte Analyse der Situation von nationalen Minderheiten, Flüchtlingen, Heimat- und Staatenlosen seit dem 1. Weltkrieg, die - auch wenn man ihr nicht in jedem Punkt folgen will - gleichermaßen aufschlußreich und beeindruckend ist. Daß ihre Ausführungen fast 50 Jahre später leider nichts von ihrer Aktualität verloren haben, zeigt das traurige Bsp. der Palästinenser, die von Okt. 1995 bis April 1997 im „Niemandsland" zwischen der ägyptischen und libyschen Grenze bei Salloum festsaßen. Ein Begriff, der bei Hannah Arendt noch als Chiffre für die Situation der Entrechteten steht, wird hier zugleich zur Umschreibung ihrer realen Situation: Der (durch den Entzug der Arbeitsgenehmigungen 399

134

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

wird, ist letztlich nur Ausdruck der paradoxalen Grundkonstellation, daß der Schutz der Menschenrechte notwendigerweise ihrem potentiellen Gegner, dem Staat, anvertraut werden muß 4 0 2 und der Staatsangehörigkeit damit nicht zuletzt auch für den Schutz der Menschenrechte eine Schlüsselfunktion zukommt: Ohne staatlichen Schutz, ohne Zugehörigkeit zu einer wie auch immer gearteten politischen Gemeinschaft erweisen sich diese Rechte, die ihrer Idee nach doch jedem Menschen unabhängig von seinem politischen Status allein kraft seines Menschseins zukommen sollen, als praktisch wertlos. Ihr absoluter Geltungsanspruch bricht sich an einer Realität, die die Einbettung des einzelnen in ein (national)staatliches Beziehungssystem verlangt, das ihn allererst in den Stand setzt, Rechte zu haben. Ohne den staatlichen Widerpart, der als Adressat der menschenrechtlichen Ansprüche eines bestimmten Individuums nur partikular bestimmt und in die Pflicht genommen werden kann, laufen die universell konzipierten Menschenrechte paradoxerweise faktisch leer. Angesichts des „neuen Übels" des 20. Jahrhunderts, in dem immer größer werdende Menschengruppen als Flüchtlinge, Heimat- und Staatenlose aus dem staatlichen Bezugsrahmen ihrer alten Heimat herausgeschleudert wurden, stellt Hannah Arendt die provozierende These auf, daß es in Wahrheit nur ein einziges fundamentales Recht des Menschen gebe: eben dieses „Recht, Rechte zu haben", das derjenige verliere, der keiner politischen Gemeinschaft mehr angehöre. Demgegenüber seien jene sogenannten „unveränderlichen" Menschenrechte „eigentlich doch nur Staatsbürgerrechte", die sich nach historischen und anderen Umständen ändern und von der stillschweigenden Garantie, die die Mitglieder eines Gemeinwesens einander geben, abhängen. Rein als Mensch habe der einzelne nur ein einziges Recht, das über alle seine verschiedenartigen Rechte als Staatsbürger hinausgehe, nämlich „das Recht, niemals seiner Staatsbürgerschaft beraubt zu werden, das Recht, niemals ausgeschlossen zu werden von den Rechten, die sein Gemeinwesen garantiert", denn einzig „der Verlust der politischen Gemeinschaft ist es, der den Menschen aus der Menschheit herausschleudern kann". 403 Von der Existenz dieses Rechts hätten die Verfasser der Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts noch nichts

untermauerten) Aufforderung Khadhafis folgend, verließen sie Libyen, um in ihre „Heimat" zu reisen, wurden aber von den ägyptischen Behörden an der Einreise gehindert. Netanjahu wolle nicht noch mehr Palästinenser in den besetzten Gebieten und Arafat „könne nichts machen", so lautete die Botschaft an jene Menschen, die unter primitivsten Bedingungen im Nirgendwo dahinvegetieren mußten; s. dazu Heiko Flottau, Ausgesetzt in derNiemandswüste, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 17, 22.1.1997, S.3. 402 Frankenberg (Fn. 133), 82; s. dazu auch Denninger, Universalitätsanspruch (Fn. 399), 51 f. 403 H. Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4/1949, 754 ff. (761,766, 768, 770).

II. Nation und Nationalstaat

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geahnt; auch wir wüßten ja erst darum, seit Millionen von Menschen aufgetaucht seien, die es „verloren" hätten. 404 Offensichtlich ist es eine Sache, die Frage nach dem Telos der Staatlichkeit zu stellen, die mit der Déclaration von 1789 ihre klassische, bis heute gültige Antwort im Menschenrechtsschutz fand, 405 eine ganz andere, nach den Bedingungen zu fragen, unter denen der in der Gewährleistung der Menschenrechte liegende Zweck des Staates in unserer heutigen, in mehr als 160 (National-) Staaten aufgeteilten Welt zu realisieren ist, und insbesondere auch danach, wer dann unter welchen Voraussetzungen in den Genuß dieser Rechte kommt. Diese beiden Fragen liegen auf völlig verschiedenen Ebenen: Die eine wird aus der Binnenperspektive einer gegebenen politischen Gemeinschaft heraus gestellt und steht für das Ringen um den Maßstab ihrer rechten Ordnung, dessen Universalisierbarkeit dann zum Prüfstein seiner Tauglichkeit wird. Die andere setzt bei den faktischen Gegebenheiten der heutigen Staatenwelt an, nimmt die gegenläufigen Interessen der Staaten und die den Handlungsspielraum einschränkenden Rahmenbedingungen unserer „einen", scheinbar kleiner gewordenen Welt in den Blick und untersucht die Frage nach dem (effektiven) Schutz der Menschenrechte in ihrer Abhängigkeit von den realen Bedingungen staatlichen Handelns. Von der empirisch belegten Erkenntnis, daß die staatliche Gewährleistung bestimmter Rechte gegenüber einem bestimmten Individuum regelmäßig dessen Mitgliedschaft in diesem konkreten Staatsverband voraussetzt, es aber Millionen von Menschen gibt, die als (de facto) Staatenlose völlig rechtlos gestellt sind, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, die Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen als solche - als Bedingung der Möglichkeit des Rechts, Rechte zu haben - zum einzigen Menschenrecht zu erklären.

(b)

Prämissen des politischen Denkens der Moderne

Das heißt allerdings nicht, daß man künftig alle Menschenrechtskataloge (deren „Vorteile" H. Arendt auch keineswegs in Abrede stellt) 406 auf dieses 404

Zu alledem eingehend H. Arendt, aaO, bes. 759 ff. (761, 766, 768, 770); s. auch dies., Herrschaft (Fn. 217), 607-617, insbes. 611 ff. (614, 616 f.). Ihre Zweifel daran, ob es überhaupt so etwas wie „unabdingbare Menschenrechte" gebe, d.h. Rechte, die unabhängig von jedem besonderen politischen Status sind und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen (vgl. Herrschaft, 607; Menschenrecht, 756), spiegeln sich auch in ihrem Sprachgebrauch wider, wenn sie statt von einer „Verletzung" von Rechten von deren „Verlust" spricht. 405 „Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescribles de l'homme", hieß es in Art. 2 S. 1 der Déclaration; s. dazu oben S. 79, Textabdruck bei Berlia (Fn. 17), 1 ff. 406 Menschenrecht (Fn. 403), 769.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

„einzige" Recht zusammenstreichen könnte oder sollte. H. Arendts Kritik macht vielmehr deutlich, daß der Schutz der Menschenrechte, wie ihn Art. 2 S. 1 der Déclaration von 1789 einfordert, von ganz bestimmten, zumeist nicht weiter reflektierten Prämissen abhängig ist. Diese sind, wie noch zu zeigen sein wird, von einem allein an der Idee der Menschenrechte orientierten Ansatz her nicht recht faßbar; doch muß man sie sich bewußt machen, um die Widersprüchlichkeiten, die „Bürgerrechte" im Sinne unseres heutigen Sprachgebrauchs - also auch unsere Deutschenrechte - in menschenrechtlich fundierte Verfassungen tragen, entwirren zu können. Zum einen ist die verfassungsrechtliche Gewährleistung von Menschenrechten in einen bestimmten Funktionszusammenhang eingebettet, in dem sie durch das von H. Arendt aus einer völlig anderen Perspektive 407 formulierte Menschenrecht auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen nicht zu ersetzen wären. Zum anderen sind damit aber notwendigerweise auch Grenzen des dadurch erreichbaren Menschenrechtsschutzes vorgegeben: Art. 2 S. 1 der Déclaration von 1789 formuliert das Leitmotiv der gesamten späteren verfassungsstaatlichen Entwicklung, indem er zukunftsgewandt und zugleich typusprägend das Programm „der" freiheitlichen Verfassung verheißt - flankiert von Art. 16, der apodiktisch feststellt: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution". 408 Seit im Lichte der Aufklärung das autonome Individuum die Bühne der politischen Philosophie betreten hat, nach der Idee der Menschenrechte der „Mensch als solcher" alleiniger Maßstab für Recht und Unrecht 409 ist, läßt sich die Frage nach den Bedingungen, unter denen eine staatliche Ordnung als rechtmäßig gelten kann, wie oben dargelegt, nur noch aus der Perspektive des einzelnen Menschen stellen und im Blick auf dessen Rechte beantworten. 410

407

Sie hat dieses Recht eben gerade nicht aus der „Binnenperspektive" des Staates (von dem ebenso wie von dem Menschen stets nur im Singular die Rede ist!) formuliert, sondern im Blick auf die gesamte Staatenwelt. Sie stellt selbst fest, daß sich auch dieses Menschenrecht gleich allen anderen nur durch gegenseitige Vereinbarung und Garantie realisieren könne, daß es aber als Recht des Menschen auf Staatsbürgerschaft die Rechte des Staatsbürgers transzendiere und somit das einzige Recht sei, das von einer Gemeinschaft der Nationen, und nur von ihr, garantiert werden könne (vgl. Menschenrecht, aaO, 770). Dementsprechend taucht es als allgemeines Menschenrecht auch nur in Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 auf, während die nationalen Verfassungen, soweit sie es ausdrücklich formulieren, es natürlich nur ihren eigenen Staatsbürgern gewährleisten (vgl. Art. 16 Abs. 1 GG). 408 Textabdruck bei Berlia (Fn. 17), 1 ff. (3). 409 Vgl. dazu H. Arendt, Herrschaft (Fn. 217), 601 ff. 410 Vgl. dazu oben insbesondere S. 79 f. und pass.

II. Nation und Nationalstaat

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Die weitere Argumentation bewegt sich dann in den durch diesen Ansatz vorgegebenen Bahnen: Aus der menschenrechtlichen Begründung staatlicher Herrschaft folgt zwangsläufig, daß sie dem selbstgesetzten Anspruch gemäß in ihrer Ausübung den menschenrechtlichen Postulaten unterworfen, und damit nur als zweckgebundene, begrenzte Herrschaft denkbar ist. Menschenrechte als Quelle der Legitimation mutieren im Inneren der - gewaltenteilig aufzubauenden - Staatsordnung zu individuellen Besitztiteln, die das Verhältnis des einzelnen im Staat und zu den staatlichen Kontroll- und Zugriffsansprüchen bestimmen. 411 Es wurde bereits erwähnt, daß sie sich auch in dieser abwehrrechtlichen Komponente nicht erschöpfen, ihre fortwirkende konstitutive Bedeutung im Staat, nicht zuletzt vermittels der verfassungskräftigen Anerkennung des Autonomieprinzips, vielmehr auch den Gedanken politischer Mitwirkung und Teilhabe trägt. 412 Doch gleich in welcher Funktion die Menschenrechte in ihrem Verhältnis zur staatlichen Ordnung auch angesprochen werden: Von „dem" Menschen bzw. „der" politischen Gemeinschaft ist dabei nur abstrakt und stets im verallgemeinernden Singular die Rede. Schon dieser Sprachgebrauch signalisiert, daß es von einem menschenrechtlichen Denkansatz her gar nicht möglich ist, Zugehörigkeit zu einem ganz bestimmten, begrenzten, sich durch partikulare sprachliche, kulturelle und sonstige Eigenheiten von anderen abgrenzenden Staatsvolk zu definieren. Dies folgt nicht nur aus der perspektivischen Ausrichtung auf den Einzelmenschen, sondern liegt auch in der Konsequenz des universalistischen Geltungsanspruchs und der dadurch bedingten inhaltlichen Abstraktion von allen Unterschieden zwischen den Menschen - auch vonjenen, die nach Maßgabe staatlicher Festsetzung für die Staatsangehörigkeit konstitutiv sein sollen. Menschenrechtliche Argumentationsmuster problematisieren die Frage der Zugehörigkeit daher in der Regel erst gar nicht, sondern setzen sie stillschweigend voraus. Das gilt, um nur wenige Beispiele herauszugreifen, für Ludger Kühnhardts Feststellung, daß Menschenrechte nicht aus dem Staatswesen hinausführen, sondern die autonome Stellung des Einzelmenschen im Rahmen „seiner" Staatsordnung bestimmen sollen, 413 ebenso wie schon für Rousseaus Entwurf eines Gesellschaftsvertrages 414 oder für Kant: Wenn er - anders als Hannah Arendt - „Freiheit" als „dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht" begreift, 415 so unterstellt er gleichfalls die Zugehörigkeit zum Staat, wenn schon nicht als stimmberechtigter 411

Vgl. dazu u.a. Ludger Kühnhardt, Menschenrechte, politisches Denken und politische Systeme, in: ARSP 1988, Beiheft Nr. 33, 69 ff. (71). 4,2 Vgl. oben insbes. S. 57 ff. (60), 81 ff., 87 f. 413 Kühnhardt (Fn.411),71. 414 Siehe dazu schon oben S. 83. 415 Vgl. oben S. 115 mit Fn.347.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Bürger, so doch jedenfalls als „Schutzgenosse". Blickt er über „den" Staat hinaus, so betont er, welch erhabene Idee es doch sei, sich als Staatsbürger zugleich als ein Glied der Weltbürgergesellschaft 416 zu verstehen. Der „Weltbürger" löst den „Staatsbürger" bei Kant also keineswegs ab, zumal er in seiner Schrift „Zum Ewigen Frieden" von 1795 einen aus dem Zusammenschmelzen der Staaten entstehenden Weltstaat als „seelenlose(n) Despotism" verwirft und statt dessen für einen weltweiten Bund freiheitlicher Republiken plädiert, 417 welchen - so die naheliegende Annahme - je eigene Staatsbürger und nicht lediglich „Weltbürger" zuzuordnen sein dürften. Immerhin rückt in dieser Friedensschrift der Pluralismus der Staaten und Völker dieser Erde in das Zentrum der Betrachtungen. Dies unterscheidet sie zunächst von der langen Reihe von Abhandlungen unterschiedlicher Autoren, die ganz im Sinne der zitierten Bemerkung Kühnhardts zwar die Menschenrechte als einzig legitimen Maßstab für Recht und Unrecht begreifen, sich dabei aber allein auf den inneren Aufbau der staatlichen Ordnung konzentrieren, Kant selbst mit eingeschlossen, der die Frage nach dem „Rechten", das bei ihm in der Freiheitsverträglichkeit sein Maß findet, sonst ebenfalls in diesem Bezugsrahmen formuliert. Aber in der Friedensschrift geht es ihm ja gerade darum, die Bedingungen der Möglichkeit einer dauerhaften Friedensordnung zwischen den Staaten zu skizzieren. Hier wäre vielleicht eher zu erwarten, daß als Kehrseite 416

Vgl. heute etwa Ryffel (Fn. 34), 60, der feststellt, daß das Prinzip der Menschenrechte sei, „daß jeder Mensch als gleichberechtigtes Glied der Menschheitsgesellschaft im Ganzen, sogar über die Staatsgrenzen hinweg, anzuerkennen sei". 417 Kant, Zum Ewigen Frieden, in: Kant Werke, hg. v. Weischedel (Fn. 138), Bd. 9, 191 ff. (208 ff). Kant gießt seinen philosophischen Entwurf einer politischen Struktur, die mit innerer Notwendigkeit einen dauerhaften Frieden zwischen den Völkern garantieren solle, bekanntlich in die damals übliche Form eines völkerrechtlichen Friedensvertrages. Nach sechs „Präliminarartikeln", die Maßnahmen der vorläufigen Friedenssicherung enthalten (kein geheimer Vorbehalt beim Friedensschluß, Verbot von stehenden Heeren etc.), folgen drei auf den dauerhaften Frieden gerichtete „Definitivartikel" und schließlich noch zwei „Zusätze". Nachdem im ersten Definitivartikel eine freiheitliche republikanische Verfassung eines jeden Staates gefordert wird, zielt der zweite Definitivartikel auf einen „Föderalism freier Staaten". Allerdings sieht Kant den Völkerbund, wie er am Ende dieses Artikels ausführt, nur als „negatives Surrogat" der nicht einlösbaren positiven Idee einer „Weltrepublik". Wie er aber im ersten Zusatz („Von der Garantie des ewigen Friedens") unter 2. darlegt, ist die durch die „Natur", die hier die Rolle der „Garantiemacht" übernimmt, mittels der Verschiedenheit von Sprachen und Religionen bewirkte Trennung der verschiedenen Völker und also auch Absonderung der Staaten nach der Vernunftidee allemal besser als eine aus der Zusammenschmelzung unabhängiger Staaten entstehende und schließlich die ganze Welt beherrschende „Universalmonarchie (...); weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt" (aaO, 225).

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der dank der Vielgestaltigkeit der Staatenwelt ebenso vielgestaltigen Zugehörigkeitsbeziehungen, die stets eigene Staatsbürger ein- und die anderer Staaten ausschließen, auch die Figur des „Fremden" in den Blick kommt. Doch der „Fremdling" taucht nur ganz am Rande und nur „besuchsweise" auf; sein Archetyp ist der Kaufmann. Denn der im ersten Definitivartikel erhobenen Forderung nach einer republikanischen Verfassung eines jeden Staates, also des Staatsaufbaus nach dem Prinzip der gleichen Freiheit aller - vornehmlich durch Errichtung eines repräsentativen Systems gleicher Selbstbestimmung mittels einer einzigen gemeinsamen und vom Gesetzesvollzug getrennten Gesetzgebung - liegt nicht nur die Prämisse zugrunde, daß jeder Mensch einem der so verfaßten Staaten als Staatsbürger zugehörig sei. 418 Kant geht zudem auch von der „Absonderung" der Völker aus und macht dafür deren unterschiedliche Natur, die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen verantwortlich. 419 Demgemäß versteht er unter dem von ihm im dritten Definitivartikel geforderten „Weltbürgerrecht" nur das „Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden". Mit „Hospitalität" bezeichnet er in diesem Zusammenhang ausdrücklich ein bloßes „Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden zu müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere". 420 Er leitet daraus aber kein „Gastrecht' ab - schon gar kein 418

Kant nähert sich dieser Frage nicht so, wie wir heute das rechtstatsächliche Problem der Staatenlosigkeit sehen, die von den Betroffenen im Hinblick auf die negativen Konsequenzen (Einbuße von staatlichem Schutz) keineswegs gewollt, somit regelmäßig keine Frage der freien Wahl ist, sondern unter dem theoretischen Gesichtspunkt der Pflicht eines jeden Menschen, den Naturzustand zu verlassen und in den bürgerlichgesetzlichen Zustand zu treten. In diesem Sinne formuliert er in einer Anmerkung zu seiner These, daß der Friedenszustand erst gestiftet werden müsse, am Beginn des 2. Abschnitts (vor den Definitivartikeln): „Das Postulat also, was allen folgenden Artikeln zum Grunde liegt, ist: Alle Menschen (...) müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören" (aaO, 203). 419 Siehe Fn.417. 420 AaO, 214 (Hervorhebung im Original). Das bedeutet zugleich, daß ein Fremder abgewiesen werden kann, allerdings nur, „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann". Umgekehrt fällt auch Kants Kritik an der Kolonisierung für seine Zeit überraschend deutlich aus, wenn er etwa das „inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils" rügt: „die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (...) beweisen, (gehe) bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts"

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dauerhaftes. Und ebenso liegt der Status des „Gastarbeiters" außerhalb seiner Vorstellungswelt. „Gastarbeiter" in unserem heutigen Sinne, d.h. Menschen, die nicht nur besuchsweise im Lande sind, sondern über einen längeren Zeitraum, wenn nicht sogar über mehrere Generationen, dort leben und arbeiten, ohne doch - die Deutschen vorbehalte zeigen es - in gleicher Weise wie jeder andere an der Gesetzgebung mitzuwirken oder doch wenigstens an der Schutzwirkung der Gesetze gleichberechtigt zu partizipieren, 421 kann es bei Kant nicht geben, da für ihn (ebenso wie für Rousseau) schon die reale Ausschließung eines einzigen die Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes aufhebt, dies folglich seiner Vorstellung vom freiheitlichen „Republikanism" zuwiderliefe. 422 Die These von der Separation der Völker und Staaten taucht aber nicht etwa nur in jenem Traktat von 1795 auf (in dem Kant immerhin einen Begründungsversuch liefert!), sondern bildet als zumeist stillschweigend gesetzte Prämisse den gemeinsamen Ausgangspunkt der gesamten Tradition des politischen Denkens der Moderne von Hobbes, Locke und Rousseau über Kant bis zur Gegenwart. 423 Die Figur des „Fremden" tritt dahinter zurück, verblaßt, wird nicht jedenfalls nicht als Problem - wahrgenommen. So spricht Locke im Second Treatise zwar davon, daß Fremde dadurch, daß sie ihr Leben lang unter einer anderen Regierung leben, deren Privilegien und Schutz genießen und sich umgekehrt auch wie jeder andere Bewohner der staatlichen Verwaltung unterwerfen müssen, noch lange nicht zu Untertanen oder Gliedern jenes Staatswesens werden, aber mit einer ganz anderen Stoßrichtung: Nichts kann einen Menschen dazu [d.h. zum Glied eines Staates] machen als sein tatsächlicher Eintritt durch positive Verpflichtung und ausdrückliches Versprechen und Vertrag. Dies ist, was ich über den Anfang der politischen Gesellschaften und jene Zustimmung denke, die irgend jemanden zum Glied irgendeines Staates macht.424

(aaO, 214 f.). Erstaunlichen Weitblick beweist er schließlich auch am Ende des dritten Definitivartikels, indem er das Erfordernis des „Weltbürgerrechts" damit begründet, daß die Gemeinschaft unter den Völkern der Erde so weit gekommen sei, daß „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird" (aaO, 216). 421 Diese Formulierung schließt sogar diejenigen ein, die Kant als bloße „Schutzgenossen" bzw. als „passive Staatsbürger" definiert, während zur Mitwirkung an der Gesetzgebung nur die Vollbürger berechtigt sind. Nicht stimmberechtigte „Schutzgenossen" sind nach Kant Frauen und Kinder, aber auch diejenigen Männer, die die Voraussetzung der „bürgerlichen Selbständigkeit" nicht erfüllen (wobei insbes. seine „haarspalterische" Differenzierung zwischen Friseur und Perückenmacher stets süffisante Kommentare provoziert hat); vgl. hierzu vor allem Kant, Über den Gemeinspruch (Fn. 369), bes. 150 f. mit Anm.; dazu statt vieler krit. Lorz (Fn. 138), 162 ff. 422 Siehe dazu H. Hofmann, Allgemeinheit des Gesetzes (Fn. 244), 272 ff. 423 Siehe dazu Koller (Fn. 6), 64 ff., insbes. auch Fn. 33 m.w.N. 424 Second Treatise (Fn. 84), 8. Kap. (Die Entstehung politischer Gesellschaften), § 122.

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Es geht also nicht um den Ausschlußcharakter einer politischen Gesellschaft gegenüber „Fremden", sondern ganz im Gegenteil darum, deren Vereinnahmung wider Willen abzuwehren, also um die natürliche Freiheit eines jeden Menschen, aus der er nicht ohne seine Einwilligung verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden kann. Wer jedoch in eine politische Gesellschaft eintreten möchte, kann dies durch ausdrückliche Erklärung seiner Zustimmung tun. 425 Er hat sich damit dann allerdings auch unwiderruflich verpflichtet. 426 Es kann folglich nicht jedermann zu jedem beliebigen Zeitpunkt nach eigenem Gutdünken „seinem" Staat den Rücken kehren; schon deshalb wird die Annahme der Existenz separater, voneinander unabhängiger Gesellschaften dadurch nicht erschüttert. Träfen die von Kant in der Friedensschrift genannten Bedingungen zu, wäre unsere Welt also eine Welt, in der freiheitlich verfaßte Staaten friedlich koexistieren, in der die Mobilität der jeweils einem dieser Staaten als Bürger zugehörigen Menschen im wesentlichen auf die Pflege der Handelsbeziehungen, sonstige Kooperationsaufgaben und besuchsweise zwischenstaatliche Kontakte beschränkt ist, so ließen sich zum ersten die Menschen- und Bürgerrechte tatsächlich, wie eingangs geschildert, als Einheit oder zumindest als Komplementärverhältnis auffassen: 427 Die Rechte des Menschen „als Mensch" und die Rechte des Menschen „als Bürger" - zwar nicht in einem (Welt-)Staat, 428 doch jeweils in seinem Staat. Diese von unserem heutigen Sprachgebrauch abweichende Sichtweise beruht also gleichfalls auf der stillschweigend gesetzten Prämisse, daß alle Menschen Staatsbürger irgendeines politischen Körpers sind

425

Vgl. ebenda, §§95 ff., insbesondere §119: „Niemand wird daran zweifeln, daß die ausdrückliche Zustimmung irgendeines Menschen, der in eine Gesellschaft eintritt, ihn zum vollwertigen Glied jener Gesellschaft macht". 426 Ebenda, § 121: Anders als bei einer stillschweigenden, am Besitz anknüpfenden Zustimmung, bei der es einem freistehe, den Besitz aufzugeben und fortzugehen, habe man sich mit der ausdrücklichen Erklärung der Zustimmung, einem Staatswesen anzugehören, „auf ewig und unwiderruflich verpflichtet, sein Untertan zu sein und unabänderlich zu bleiben", könne daher nicht mehr in die Freiheit des Naturzustandes zurückkehren, es sei denn, die Regierung würde durch irgendein Unglück aufgelöst oder ein öffentlicher Beschluß höbe die Mitgliedschaft auf. 427 Vgl. oben S. 13 f. Etwas anders Koller (Fn.6), 65, der meint, daß unter der Voraussetzung der Existenz lauter selbständiger, voneinander unabhängiger Gesellschaften, zwischen denen wenig Kontakte bestehen, die herkömmliche Differenzierung zwischen Menschen- und Bürgerrechten plausibel wäre. Richtig ist, daß sie dann jedenfalls völlig unproblematisch wäre: Selbst wenn der Begriff „Bürger" nicht den Menschen im status civilis bezeichnet, sondern den Bürger Frankreichs, wirft das kein Problem auf, wenn man davon ausgehen kann, daß keine „Fremden" (dauerhaft) im Lande sind. 428 Bei Kant einer „Weltrepublik", vgl. Fn. 417.

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und daher auch alle in den Genuß dieser Rechte kommen, die nur durch je eigene republikanische Verfassungen garantiert werden. Zum zweiten verlöre unter diesen Voraussetzungen aber auch die nach außen gerichtete Ausschlußfunktion der Staatsangehörigkeit ihre Bedeutung: Wenn Frieden und Freiheit - man müßte ergänzen: und annähernd gleiche Lebenschancen - überall auf der Welt gesichert wären, gäbe es keinen Grund mehr, seinen Staat auf Dauer zu verlassen. Umgekehrt hätte auch kein Staat mehr Interesse an einer „Zugangskontrolle", die auf der formalen Zuordnungsfunktion der Staatsangehörigkeit aufbaut. (Geschäfts-)Reisende oder auch Einzelpersonen, die sich aus freien Stücken - nicht durch Armut, Not, Krieg und politische Verfolgung getrieben, also nicht als „Hilfsbedürftige" - entscheiden, „(Mit-)Glied" eines bestimmten Staates zu werden, stellen kein Problem dar. In diesen Fällen könnte man daher auch im Sinne Lockes allein auf die freie „Zustimmung" des einzelnen abstellen. Unter diesen Bedingungen käme es somit nicht so sehr auf die nach außen gerichtete, formale Abgrenzungsleistung der Staatsangehörigkeit an als vielmehr auf die sich im Inneren der Staatsordnung entfaltende Rechtsposition des Staatsbürgers, die jeder in seinem Staat innehätte, vielleicht mit Variationen im Detail, doch dem gleichen Grundmuster der Freiheitssicherung folgend - und auch nur davon ist in dieser Tradition politischen Denkens die Rede.

(c)

Konsequenzen und völkerrechtliche

Lösungs ans ätze

Wie wir alle wissen, ist die Welt, in der wir leben, eine ganz andere. Und auch Kant hat ja keineswegs behauptet, er beschreibe die Welt, wie sie ist, sondern er hat es unternommen, die Bedingungen der Möglichkeit einer dauerhaften Friedensordnung unter den Staaten zu skizzieren. Bedingungen, denen wir uns, wenn man an Völkerbund und UNO denkt, in den mehr als 200 Jahren, die seit der Abfassung dieses „philosophischen Entwurfs" vergangen sind, in mancher Hinsicht angenähert haben, von denen wir aber größtenteils weiter denn je entfernt zu sein scheinen: Die endlos langen Flüchtlingstrecks, die vielen Asylsuchenden, die Bilder von Hungersnöten und Elend weisen überdeutlich darauf hin, daß Frieden, Freiheit und allgemeine Lebenschancen in unserer Staatenwelt auf sehr unterschiedlichem Niveau gesichert werden bis hin zu jenen Ländern, in denen ganz im Gegenteil (Bürger-)Krieg, nackter Terror, bittere Armut und Not herrschen. Wer darunter zu leiden hat und die Kraft und die Mittel besitzt, sein Land zu verlassen, der tut es. Diese Menschen kommen nicht „besuchsweise", sondern sie suchen eine neue Heimat; sie kommen nicht vereinzelt, sondern in großen Scharen. Haben Migrationsbewegungen im zwischenstaatlichen Umfeld dereinst zur Entwicklung der Staatsangehörigkeit als einem formell defi-

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nierten, nach außen hin begrenzten Mitgliedstatus beigetragen, so verschafft ihr die Ausweitung und Globalisierung der Flüchtlingsströme eine neue Aktualität: Die Kategorie der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat, die unter der Prämisse der „Separation der Völker" noch vernachlässigt werden kann, wird im „Jahrhundert der Flüchtlinge" zur alles entscheidenden Frage: An diesem Punkt bricht sich die menschenrechtliche Idee an nationalstaatlich geprägten Lebensformen, die immer größere Menschengruppen ausschließen und in ein „Niemandsland" verbannen. 429 Hannah Arendt hat den Finger auf die Wunde gelegt, indem sie die abstrakte Figur jenes nach der Idee der Menschenrechte mit unveräußerlichen Rechten ausgestatteten „Mensch[en] überhaupt" mit der konkreten politischen Realität der Heimat- und Staatenlosen kontrastiert, mit ihrer aus dem Verlust der Zugehörigkeit zu einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft entspringenden Rechtlosigkeit, die viel tiefer greift als die Mißachtung einzelner Menschenrechte: Der Verlust der Menschenrechte findet nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verloren geht, sondern nur wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind. Etwas viel Grundlegenderes als die in der Staatsbürgerschaft gesicherte Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz also steht auf dem Spiel, wenn die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist, nicht mehr selbstverständlich und die Nichtzugehörigkeit zu ihr nicht mehr eine Sache der Wahl ist (...).430 H. Arendts Kritik schmälert in keiner Weise die Bedeutung der Menschenrechte im und für den Verfassungsstaat, aber sie legt offen, daß die Zielsetzung, die sowohl die großen Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts als auch die heutige Positivierung von Menschenrechten in den Verfassungsurkunden trägt, nämlich die Rechte des Menschen innerhalb einer gegebenen Gemeinschaft sicherzustellen, zugleich funktionelle Grenzen des dadurch erreichten Menschenrechtschutzes markiert: Wer außerhalb der „gegebenen Gemeinschaft" steht, entbehrt nach diesem „klassischen Modell" jeden Schutzes.431 Anders formuliert: Die die freien Demokratien kennzeichnende 429

Ein „Niemandsland", „in dem es weder Recht noch Gesetz noch irgendeine Form geregelten menschlichen Zusammenlebens" gibt, H. Arendt, Herrschaft (Fn. 217), 563. 430 AaO, 559 ff. (613); dies., Menschenrecht (Fn.403), 759 ff. 431 Immerhin sind die völkerrechtlichen Bemühungen um den Schutz der Menschenrechte, die die Defizite des „klassischen Modells" zumindest teilweise kompensieren, weiter vorangeschritten. Die Staatengemeinschaft hat sich jener Menschen, die mangels (wirksamer) Staatsangehörigkeit keinen diplomatischen Schutz genießen, durchaus angenommen. So soll der durch Generalversammlungsresolution 428 (V) v. 14.12.1950 institutionalisierte United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) sowohl

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rechtliche Anerkennung der Menschenrechte in ihrer staatskonstitutiven Bedeutung hat die Verrechtlichung der Menschenrechtsidee bis zu einem gewissen Grade vorangetrieben, ohne doch alle Menschen einzuschließen, die des Schutzes bedürfen. Menschenrechtlich fundierte Verfassungen regeln innerhalb ihres räumlichen Geltungsbereichs, also innerhalb des staatlichen Territoriums, die staatliche Ordnung, greifen aber rechtlich nicht über diese hinaus, indem sie etwa allen Menschen unabhängig von deren Staatsangehörigkeit freien Zugang zum Territorium gewähren. Kurz: Das nationalstaatlich motivierte „Prinzip der territorialen Schließung", wie Brubaker es nennt, 432 wird dadurch keineswegs außer Kraft gesetzt. Sicherlich steht ein „Menschenrechtsstaat" moralisch in der Pflicht, in Not geratenen Menschen, die Zuflucht suchen, diese, wenn irgend möglich, auch zu gewähren. Aber ob dies „möglich" ist, ist zunächst einmal eine (rechts-)politische Frage, bei deren Entscheidung auch nationalstaatliche Gegengründe Berücksichtigung finden. Menschenrechtliche Ansprüche oder auch menschenrechtlich motivierte Regelungen ohne Anspruchscharakter werden daraus nur unter der Voraussetzung, daß Rechtsnormen geschaffen oder zwischenstaatliche Vereinbarungen getroffen werden, in denen niedergelegt wird, daß bei Vorliegen bestimmter tatbestandlicher Voraussetzungen beispielsweise Asyl gewährt wird oder aus humanitären Gründen Bürgerkriegsflüchtlinge für einen bestimmten Zeitraum aufgenommen werden sollen. 433 Kann also nicht an den einheitlichen Mitgliedstatus der Staatsangehörigkeit angeknüpft werden, so bedarf es differenzierter rechtlicher Festsetzungen für jeweils unterschiedliche

für den internationalen Schutz der Flüchtlinge sorgen als auch nach dauerhaften Lösungen für das Flüchtlingsproblem suchen. Er kann diesen Schutz allerdings - und hier zeigen sich wieder die durch die staatliche Souveränität gesetzten Grenzen - nur in einem Aufenthaltsstaat ausüben, der dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge v. 28.7.1951 (sog. Genfer Flüchtlingskonvention) beigetreten ist (BGBl. 1953 II, 559; internat. Quelle: UNTS Bd. 189, 150). Es wurde in seiner Anwendung erweitert durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.1.1967 (BGBl. 1969 II, 1293; internat. Quelle: UNTS Bd. 606, 267), das in Art. II auch die Pflicht zur Zusammenarbeit mit dem Amt des Hohen Flüchtlingskommissars enthält; s. zu alledem Gilbert-Hanno Gornig, Art. 22: Flüchtlinge, UNHCR, in: Rüdiger Wolfrum (Hg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl. München 1991, 156 ff., bes. Rn.9ff, 11 ff. m.w.N. 432 Vgl. oben S. 131. 433 So etwa im Fall der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina im Jahr 1992: Hier beschloß die Bundesrepublik im Einvernehmen mit Österreich und Italien angesichts der vor den Kriegsereignissen fliehenden und in Zügen an den Grenzübergängen ausharrenden Flüchtlinge als Sofortmaßnahme, daß jeder der drei Staaten ein Drittel der Flüchtlinge und die Bundesrepublik sofort bis zu 5000 Personen aufnimmt; vgl. dazu die den entsprechenden Beschluß der Innenministerkonferenz umsetzende Weisung der Hansestadt Hamburg v. 27.7.1992, abgedr. in: InfAuslR 10/1992, 318f.

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Gruppen von Anspruchsberechtigten bzw. objektivrechtlich Begünstigten, die das Beispiel des Asylrechts hat es gezeigt - unter dem Druck der großen Zahl auch geändert und restriktiver gefaßt werden können. 434 Abgesehen von dem heute in Art. 16 a GG niedergelegten Asylrecht (das aber zumindest durch zwischenstaatliche Vereinbarungen flankiert wird) 4 3 5 sind derartige Regelungen zumeist Gegenstand völkerrechtlicher oder auch supranationaler Vereinbarungen im Rahmen der Europäischen Union; 4 3 6 dies schon deshalb, weil sich die

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Siehe dazu die umfassende Untersuchung von Andreas Zimmermann, Das neue Grundrecht auf Asyl. Verfassungs- und völkerrechtliche Grenzen und Voraussetzungen, Berlin/Heidelberg u.a.O. 1994; s. auch die Beiträge in: Klaus Barwig/Gisbert Brinkmann/Bertold Huber u.a. (Hg.), Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes, BadenBaden 1994. H. Arendt, Herrschaft (Fn.217), 583 ff., 608 f., stellte schon 1951 ganz allgemein fest, daß das seit der Antike in zivilisierten Ländern gewährte, einst als „heilig" geltende Asylrecht noch bis zum Beginn unseres Jahrhunderts leidlich funktioniert habe, jedoch zusammengebrochen sei, als statt einzelner verfolgter Individuen ganze Volkssplitter über die Grenzen kamen. 435 So nahm die Bundesrepublik z.B. unmittelbar nach dem Asylkompromiß v. 6.12.1992 Gespräche mit der Republik Polen auf und unterzeichnete am 7.5.1993 das Abkommen über die Zusammenarbeit hinsichtlich der Auswirkungen von Wanderbewegungen (abgedr. bei Barwig [Fn. 434] im Anhang). Zu den älteren bi- oder multilateralen sog. „Schubabkommen" sowie zu dem den neuen Art. 16 a GG flankierenden Konzept der sicheren Drittstaaten, das sich darauf stützt, daß diese ihrerseits die Gewähr für die Einhaltung des Non-Refoulement-Gebotes der Genfer Flüchtlingskonvention (Fn.431 u. 422) bieten, s. Zimmermann (Fn.434), 140 ff., 144, 154 ff. u. passim; ders., Das Konzept sicherer Herkunfis- und sicherer Drittstaaten im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention, in: Barwig (Fn. 434), 90 ff. 436 Auf europäischer Ebene wurden zunächst weitere multilaterale Abkommen zu Einzelfragen abgeschlossen: So enthalten das Dubliner Abkommen v. 15.6.1990 sowie das Schengen II Abkommen v. 19.6.1990 Regeln über die Bestimmung der Zuständigkeit der Signatarstaaten zur Behandlung von Asylbegehren und legen gegenseitige Unterrichtungs- und Informationspflichten fest. Schließlich erklärt der Vertrag von Maastricht v. 7.2.1992 (BGBl. 1992 II, 1253) i.d.F. v. 1.1.1995 die Asylpolitik in Art. Κ 1 Nr. 1 zu einer Angelegenheit „von gemeinsamen Interesse" zur Verwirklichung der Ziele der Union. Sie ist damit Teil der sog. „dritten Säule" dieses Vertrages, der die Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit und des Rechts betrifft. Sie soll zwar zunächst nur in Form der „intergouvermentalen Zusammenarbeit" erfolgen, doch eröffnet Art. Κ 9 ausdrücklich die Möglichkeit, den Bereich der Asylpolitik aus diesem Verfahren auszugliedern und in das Entscheidungs- und Rechtsetzungsverfahren der EG zu überführen und sieht in Art. Κ 3 auch gegenwärtig bereits eine Mitwirkung der Gemeinschaftsinstitutionen vor. Der Amsterdamer Vertrag, dem auch der Bundesrat im März 1998 einstimmig zustimmte, geht hier noch einen Schritt weiter. Doch hat die Bundesrepublik auf Betreiben Bayerns einen Vorbehalt beigefügt, der sicherstellt, daß die Asylund Einwanderungspolitik in nationalen Händen bleibt. Zum Schengener bzw. Dubliner System u. allgemein zu den Perspektiven für ein „europäisches Asylrecht" nach Maas10 Siehr

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Last, die die heutige Dimension des Flüchtlingsproblems auch den hilfswilligen Staaten aufbürdet, leichter gemeinsam im Rahmen gegenseitiger Verpflichtungen schultern läßt. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der „Globalisierung", der knappen staatlichen Kassen und der härter gewordenen innerstaatlichen Verteilungskämpfe erscheinen Interpretationen des Grundgesetzes, wie sie etwa in den 50er Jahren von Günter Dürig vorgenommen wurden, der glaubte, es ließe sich dem Leitstern der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG folgend - unmittelbar aus der Verfassung, und zwar aus Art. 11 GG, dem er ebenfalls Menschenrechtsqualität zusprach, ein sogar über das Asylrecht hinausgehendes Recht „des (wie ein Tier aus Angst fliehenden) Menschen" auf „Zuzug" herleiten, als völlig illusorisch. 437 Schon die mit der grundgesetzlichen Verankerung des Asylrechts ausnahmsweise gegebene verfassungskräftige Öffnung der innerstaatlichen Ordnung nach außen, die ja keineswegs allen in Not geratenen Menschen den Zugang zum staatlichen Territorium verschafft, sondern sich ausdrücklich (nur) auf politisch Verfolgte bezieht, ist - allerdings nicht ohne innere Brüche 438 - theoretisch wie auch praktisch immer stärker zurückgenommen worden. Das seiner Konzeption nach auf einzelne Individuen zugeschnittene Recht auf Asyl zeigt sich dem Massenansturm von Menschen, die vor politischer Verfolgung, aber auch vor Bürgerkriegen, Armut und Not fliehen, nicht gewachsen. Und je stärker der Druck auf die Staatsgrenzen der wohlhabenden freiheitlichen Demokratien wird, um so weniger ist man dort bereit, ein (gar noch über das Asylrecht hinausgehendes!) von der Staatsangehörigkeit abgelöstes „Recht auf Zuzug" im Sinne Dürigs zu akzeptieren, die verfassungsrechtli-

tricht s. Zimmermann, Asyl (Fn.434), 144 ff, 150 ff., 364 ff., sowie die Beiträge bei Barwig (Fn. 434), bes. Teil V (Teilabdr. der Verträge im Anhang). 437 Zur Position Dürigs s. oben S.45 mit Fn. 105. Zur Gegenposition (die i.d.R. am Asylrecht, nicht an Art. 11 GG anknüpft) statt vieler Stefan Langer, Asylrecht - ein strukturelles Problem der Staatengemeinschaft?, in: DÖV 1993, 273 ff. Zu den im Spannungsverhältnis von menschenrechtlichem Universalismus und nationalstaatlicher Souveränität liegenden Gründen, die einer radikal menschenrechtlichen Lesart des Rechtes auf Zuflucht - als Menschenrecht auf politische Gemeinschaft, hilfsweise auf Asyl theoretisch wie praktisch entgegenstehen, s. Frankenberg (Fn. 133), insbes. 89 ff. 438 H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 115 f., weist zutreffend daraufhin, daß insbesondere die Interpretation der Menschenwürde, soweit es um das Asylrecht geht, von den sonstigen Vorgaben abweicht. Langer, aaO, sieht diese inneren Brüche offenbar als Folge verfassungsrechtlicher „Hybris". Er kritisiert, daß die Verbindung des Asylrechts mit der Menschenwürdegarantie zwangsläufig zu einer Inkongruenz von verfassungsrechtlichen Verheißungen und staatlichen Handlungsmöglichkeiten führe und plädiert für eine Lösung auf internationaler Ebene, da der einzelne Staat mit derartigen Gewährleistungen überfordert sei.

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che Anerkennung der Bedeutung der Menschenrechte im und für den Staat insoweit also auch auf den Zugang zum Staat zu erstrecken. Ganz im Gegenteil: Auf völkerrechtlicher Ebene ist allgemein anerkannt, daß jeder Staat selbst bestimmen kann, unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer in sein Gebiet einreisen darf. 439 Dementsprechend korrespondiert dem in Art. 14 Abs. 1 der oben schon erwähnten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 440 niedergelegten echten Menschenrecht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen, auch keine allgemeine völkerrechtliche Pflicht der Staaten, Asyl zu gewähren. 441 Das exklusiv den Staatsangehörigen vorbehaltene Recht des freien Zugangs, das als solches menschenrechtlich nicht zu vermitteln ist, wird damit zum kaum passierbaren Nadelöhr der menschenrechtlichen Verheißungen des Verfassungsstaates. 442 Das Völkerrecht hat eben diesen Zusammenhang zwischen dem effektiven Schutz der Menschenrechte und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat im Auge, wenn ausgerechnet in Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte - also inmitten jener elementaren Rechte des Menschen, die auf Abwehr der das Individuum bedrohenden Staatsgewalt ausgerichtet sind, staatlichen Kontroll- und Zugriffsansprüchen Grenzen setzen - ein Anspruch eines jeden Menschen auf Staatsangehörigkeit formuliert und bestimmt wird, daß diese weder willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden darf, die Staatsangehörigkeit zu wechseln. Auch wenn dieser Erklärung keine Rechtsverbindlichkeit zukommt, verdeutlicht sie doch, daß die Staatsangehörigkeit aus völkerrechtlicher Sicht nicht nur im Blick auf ihre völkerrechtserhebliche Zuordnungswirkung als wünschenswert gilt, sondern ihre besondere Bedeutung gerade auch im Bereich des Schutzes der Menschenrechte gesehen wird.

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Verdross/Simma (Fn. 110), § 1210. Vgl. oben S. 19 mit Fn. 16. 441 Auch die Genfer Flüchtlingskonvention (Fn.431) enthält - so die überwiegende Auffassung - keine solche Verpflichtung, sondern sieht eine bestimmte Ausgestaltung für den Fall der Asylgewährung vor, verbietet etwa in Art. 33 Abs. 1 das „refoulement", d.h. Flüchtlinge über die Grenzen von Gebieten aus- oder zurückzuweisen, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht wäre; s. dazu Zimmermann, Drittstaaten (Fn. 435), 101 ; ausführlich ders., Asyl (Fn.434), 39 ff. (bes. 50 ff.), u. Verdross/Simma (Fn.l 10), § 1210 m.w.N. 442 Und eben weil das so ist, soll der Hohe Kommissar (vgl. Fn.431) den Schutz der Flüchtlinge nach Kap. II., Ziff. 8. d) der Satzung, die sein Amt regelt, u.a. wahrnehmen, „indem er sich dafür einsetzt, daß Flüchtlingen, auch den Kategorien, die am stärksten verelendet sind, der Zutritt zu einem Staatsgebiet gewährt wird". Er setzt sich also im Rahmen einer humanitären Aktion, die bei einem „Menschenrechtsstaat" auch Unterstützung finden müßte, dafür ein, könnte aber selbst gegenüber einem solchen Staat keine entsprechende (Völker- oder verfassungsrechtliche) Rechtspfììcht geltend machen. 440

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Aus der Erkenntnis heraus, daß der Staat nur seinen eigenen Angehörigen den vollen Schutz von Menschenrechten und Menschenwürde gewährt, der den diplomatischen und konsularischen Schutz im Ausland ebenso einschließt wie den freien Zugang zum staatlichen Territorium und innerhalb der staatlichen Ordnung neben dem im „Menschenrechtsstaat" allen Menschen gewährten Schutz vor elementarem Unrecht auch die Gewährleistung sämtlicher Freiheitsrechte sowie der staatsbürgerlichen Mitwirkungs- und Teilhaberechte umfaßt, 443 strebt das Völkerrecht in pragmatischer Annäherung an das Problem in zwischenstaatlichen Abkommen vorrangig stets die Staatsangehörigkeit als solche an: 4 4 4 Kann dem einzelnen dieser formal definierte einheitliche Mitgliedstatus vermittelt werden, erübrigen sich alle differenzierten Festsetzungen inhaltlicher Art, die doch nie mehr als eine zwangsläufig defizitäre Annäherung an die Vollrechtsstellung des Mitglieds sein können. 445 Während die Niederlegung des Rechts eines jeden Kindes, „eine Staatsangehörigkeit zu erwerben", in Art. 24 Abs. 3 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 446 in ihrer abstrakt-allgemeinen Fassung eher symbolisch-proklamativen als praktischen Wert besitzt, finden sich in den spe443

Vgl. zu dieser Differenzierung zwischen dem menschenrechtlichen Schutz vor elementarem Unrecht einerseits, der individuellen Autonomie bzw. der gleichen Freiheit aller andererseits, oben insbes. S. 54 ff, 59 ff. Die Ausgestaltung der Menschenrechte einschließlich der politischen Rechte ist im einzelnen natürlich eine Frage des innerstaatlichen Rechts, doch auch das Völkerrecht selbst erkennt ausdrücklich an, daß bestimmte Rechte - ausdrücklich erwähnt werden in Art. 25 IPbürgR (Fn. 110) die Teilnahme an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, das Wahlrecht und der gleiche Zugang zu öffentlichen Ämtern - den Staatsbürgern vorbehalten sind. Da diese Rechte aber in einem Menschenrechtspakt niedergelegt wurden, kommt auch aus völkerrechtlicher Perspektive der volle Genuß aller Menschenrechte offenbar nur den Staatsbürgern zu. 444 In diesem Zusammenhang sei nochmals an H. Arendt (Menschenrecht [Fn.403], insbes. 768, 770) erinnert, nach deren Ansicht das Recht auf Staatsbürgerschaft ja tatsächlich das einzige Menschemecht ist, das aber nur von der Gemeinschaft der Nationen garantiert werden könne. 445 Gemeint ist hier der logische Vorrang im Sinne einer umfassenden Problemlösung. Tatsächlich stellt die Einbürgerung i.d.R. den letzten Schritt im Rahmen eines allmählichen Integrationsprozesses dar. Doch solange diese nicht möglich ist, wird das Völkerrecht immer bestrebt sein, den Status des Staatenlosen oder des Flüchtlings soweit als irgend möglich dem des Staatsangehörigen anzugleichen, und umgekehrt gilt dann auch, daß in dem Maße, in dem dies gelingt, die Staatsangehörigkeit an Bedeutung verliert. Dennoch ist in absehbarer Zeit kaum zu erwarten, daß beides zur Deckung gelangt; gemessen an der Vollrechtsstellung des Mitglieds bleibt der (nur) menschenrechtliche Status also defizitäres, zu alledem im einzelnen Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn. 369), 181 f., 184 ff., 191 f. 446 Vgl. dazu Fn. 110.

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zielleren Fragen gewidmeten Abkommen sehr viel konkretere Bestimmungen. Sowohl in §34 der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.7.1951 447 als auch in §32 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28.9.1954 448 verpflichten sich die vertragsschließenden Staaten, die Eingliederung und Einbürgerung der Flüchtlinge bzw. Staatenlosen soweit wie möglich zu erleichtern, insbesondere Einbürgerungsverfahren zu beschleunigen und die Kosten dieses Verfahrens soweit wie möglich herabzusetzen. Noch weiter geht die UN-Konvention zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 30.8.1961: 449 Nach Art. 1 Abs. 1 dieses Abkommens verleiht jeder Vertragsstaat einer in seinem Hoheitsgebiet geborenen Person, die sonst staatenlos wäre, seine Staatsangehörigkeit, wobei er dies gem. Abs. 2 nur von den dort aufgelisteten, fest umrissenen Voraussetzungen abhängig machen kann. Umgekehrt darf gemäß Art. 8 Abs. 1 auch kein Vertragsstaat einer Person seine Staatsangehörigkeit entziehen, wenn sie dadurch staatenlos wird, 4 5 0 und Art. 9 verbietet ihre Entziehung aus rassischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen. Schließlich gilt nach Art. 2 ein Findelkind bis zum Beweis des Gegenteils als im Hoheitsgebiet geboren und von Eltern abstammend, die die Staatsangehörigkeit dieses Staates besitzen, d.h. die menschenrechtliche Annahme, daß der Mensch mit bestimmten unveräußerlichen Rechten geboren sei, wird hier auf die Staatsangehörigkeit als faktische Voraussetzung für den Schutz dieser Rechte erstreckt. - Bezeichnenderweise hatte das Naziregime eben diesen menschenrechtlichen Grundsatz in einem Gesetzesentwurf des Jahres 1938 genau und bewußt in sein Gegenteil verkehrt: Findelkinder sollten ausdrücklich als staatenlos gelten, bis „eine Prüfung ihrer rassischen Einordnung möglich ist". 4 5 1 Anders gewendet: Hier galt der Mensch als von Natur aus rechtlos, nämlich staatenlos, und war damit von Geburt an den (nach rassischen Gesichtspunkten getroffenen) Entscheidungen des Regimes ausgeliefert.

447

Vgl. Fn.431. BGBl. II (1976), 473; internat. Quelle: UNTS Bd. 360, 117. 449 BGBl. 11(1977), 598. 450 Für deutsche Staatsangehörige folgt das bereits unmittelbar aus Art. 16 I GG. Anders als diese sehr strikt gefaßte Verfassungsbestimmung erlaubt die auf den Konsens möglichst vieler Vertragsstaaten angewiesene UN-Konvention gem. Art. 8 II u. III abweichend von Art. 81 den Entzug der Staatsangehörigkeit bei einem mehr als siebenjährigen Auslandsaufenthalt einer eingebürgerten Person oder im Fall des Treuebruchs. 451 Siehe dazu im einzelnen H. Arendt, Herrschaft (Fn.217), 598 f., Fn.40, auch zur Problematik der durch die Nürnberger Gesetze eingeführten diskriminierenden Unterscheidung zwischen der Staatsangehörigkeit als bloßem Passivstatus und der Reichsbürgerschaft der allein aktivberechtigten Staatsangehörigen „deutschen oder artverwandten Blutes"; s. hierzu Brubaker (Fn.387), insbes. 216 ff. (218); Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: HdbStR I (Fn. 140), § 14, 663 ff., Rn. 34. 448

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion (2) Staatsangehörigkeit als am modernen Staat orientierte Ausformung eines Mitgliedstatus

Der Umstand, daß Staaten sich in menschenrechtlichen Abkommen verpflichten, die Einbürgerung von Flüchtlingen oder staatenlosen Personen soweit als möglich zu erleichtern und sich darüber hinaus sogar verbindlich festlegen, unter bestimmten Voraussetzungen ihre Staatsangehörigkeit zu verleihen, ist insofern bemerkenswert, als es sich dabei um eine der Bastionen staatlicher Souveränität handelt. Selbst heute, da das Bild des relativ autarken, impermeablen Nationalstaates längst dem einer integrationsoffenen, in supranationale Funktionseinheiten eingebundenen Staatlichkeit gewichen ist, gilt noch immer, daß der Staat doch jedenfalls in keiner Domäne souveräner ist, als wenn es um „Naturalisation, Nationalität und Ausweisung" geht. 452 Grundsätzlich überläßt es das Völkerrecht den einzelnen Staaten, Regelungen über den Erwerb ihrer Staatsangehörigkeit zu treffen. Dies ist insofern auch folgerichtig, als die souveränen Staaten zwar Völkerrechtssubjekte, also Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten und zugleich in ihrem Zusammenwirken die wichtigsten Erzeuger des positiven Völkerrechts, sind, ihm dabei jedoch als reales Substrat vorausliegen: Die Völkerrechtsordnung kann „den Staat", auf den sie sich bezieht, für ihre Zwecke nur begrifflich definieren, ihn aber nicht selbst hervorbringen. Die im Zusammenhang mit der Anerkennung neuer Staaten 4 5 3 praktische Relevanz gewinnende Frage nach dem Staatsbegriff wurde völkergewohnheitsrechtlich stets dahingehend beantwortet, 454 daß ein Staat im

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So Lawrence Preuss, La Dénationalisation imposée pour des Motifs Politiques, in: Revue Internationale Française du Droit des Gens, 1937, Tome IV., 10 ff; speziell zur Ausweisung s. auch de Boeck, L'expulsion (Fn. 370), insbes. 454 f., 456, der anschaulich schildert, wie das Institut de droit international seit seiner Sitzungsperiode in Lausanne im Jahre 1888 beharrlich darum gekämpfi hat, ausgehend von der prinzipiellen Anerkennung der Souveränität der Staaten in dieser Frage ihre Handhabung doch bestimmten völkerrechtlichen Regeln zu unterwerfen. Vor allen inhaltlichen Überlegungen (s. dazu aaO, 451) stand die sich später bei der Menschenrechtsfrage wiederholende Debatte, ob dies überhaupt ein völkerrechtliches Problem und nicht vielmehr eine Frage der inneren Souveränität der Staaten sei. 453 Dazu eingehend mit zahlreichen Bsp. und umfangreichen weiteren Nachweisen Jochen Abr. Frowein, Die Entwicklung der Anerkennung von Staaten und Regierungen im Völkerrecht, in: Der Staat 11 (1972), 145 ff. 454 Zumindest setzte sich diese (dem jeweiligen Mutterland verständlicherweise mißliebige) Sichtweise im Ergebnis durch, wie sich paradigmatisch im Notenwechsel bezogen auf die Anerkennung der Vereinigten Staaten zeigt; s. dazu „Différends survenus en 1778, entre la Grande-Bretagne et la France, au sujet de la reconnaissance de l'indépendence des colonies anglo-americaines", abgedr. bei Le baron Charles de Martens,

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Sinne des Völkerrechts dann vorliege, wenn sich ein auf einem bestimmten Gebiet seßhaftes Volk unter einer selbst gesetzten, von keinem anderen Staate abgeleiteten, effektiv wirksamen und dauerhaften Ordnung organisiert hat. Die Parallele zur Begriffsbestimmung des Staates nach der sogenannten DreiElemente-Lehre Georg Jellineks455 tritt noch klarer hervor, wenn man ergänzend die Definition in Art. 1 der Panamerikanischen Konvention vom 26.12.1933 über die Rechte und Pflichten der Staaten heranzieht: „The state as a person of international law should possess the following qualifications: (a) a permanent population; (b) a defined territory; (c) government; and (d) capacity to enter into relations with other states".456 Diese Übereinstimmung ist keineswegs zufallig, sondern beruht darauf, daß die formale Struktur der Drei-Elemente-Lehre es erlaubt, unter Abstraktion von allen lebensweltlichen Besonderheiten, aber auch von den normativen Vorgaben der jeweiligen Verfassung, einen universalen und damit die völkerrechtliche Einbindung aller Staaten dieser Erde ermöglichenden Begriff „des Staates" zu entwerfen. Erst der „Passepartout-Charakter" dieses auf das Modell des modernen Staates zugeschnittenen völkerrechtlichen Staatsbegriffs schafft die Voraussetzung dafür, daß das Völkerrecht seine befriedende und disziplinierende Kraft über alle verfassungsrechtlichen Unterschiede und politischen Gegensätze hinweg zu entfalten vermag. 457 Dieser Blick auf den völkerrechtlichen Staatsbegriff erhellt, warum das Völkerrecht die Regelung der Staatsangehörigkeit grundsätzlich den einzelnen Staaten überläßt, und warum deren Souveränität auf diesem Felde selbst unter heutigen Bedingungen ungebrochen ist: In ihrer Summe bilden die Staatsangehörigen das „Staatsvolk" im Rechtssinne als nach der obigen Definition konstitutives Element des „Staates", der nur als solcher Anknüpfungspunkt völkerrechtlicher Rechte und Pflichten ist. Über die Bestimmungen zur Staats-

Nouvelles causes célèbres du droit des gens, tome premier, Leipzig/Paris 1843, 370 ff., insbes. 391, 395 ff. 455 Vgl. Allgemeine Staatslehre (Fn. 203), allgemein zur Entwicklung des („sozialen" und Juristischen") Staatsbegriffs, aaO, 174 ff., speziell zur Drei-Elemente-Lehre, aaO, 394 ff. 456 Abgedr. in: American Journal of International Law (AJIL) 28 (1934), Supplement, 75. Auch die Mandatskommission des Völkerbundes hat sich dieser Frage gewidmet; im übrigen wird der Staatsbegriff im universalen Völkervertragsrecht - einschließlich der UN-Charta - nicht definiert, was angesichts der breiten gewohnheitsrechtlichen Akzeptanz jedoch kein Manko darstellt. Die inhaltlich ebenfalls an der „Drei-Elemente-Lehre" orientierte Erklärung der Bundesrepublik zur Anerkennung neuer Staaten aus dem Jahre 1975 ist abgedr. in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 35 (1975), 777. 457 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HdbStR I (Fn. 140), § 13, 591 ff., Rn.29, s. in diesem Zusammenhang auch Rn. 28 ff., 40 ff.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

angehörigkeit definiert der Staat also sein eigenes personales Substrat. Völkerrechtserheblich ist aber nicht nur diese konstitutive Wirkung, sondern auch die fur die Erfüllung der Ordnungsfunktion 458 des Völkerrechts grundlegende Zuordnung von Person und Staat. Nach innen gewendet bringt die Staatsangehörigkeit die „Grundbeziehung der mitgliedschaftlichen Verbindung" zum Ausdruck, 459 von „außen" betrachtet dient sie als Basis der völkerrechtlichen Abgrenzung der Personalhoheit. Wer allein den letztgenannten Aspekt betont, kann Staatsangehörige sogar als diejenigen Menschen definieren, „die der Personalhoheit derselben Staatsgewalt unterstehen". Damit ist eine bestimmte Form der Herrschaftsgewalt angesprochen, und zwar die rechtliche Befugnis, die ihr unterstehenden Personen kraft hoheitlicher Überlegenheit einseitig zu berechtigen und zu verpflichten. 460 Die staatliche Befugnis zur Regelung der Staatsangehörigkeit ist, so gesehen, zum einen Ausfluß staatlicher Souveränität, zum anderen stellt ihr Regelungsgegenstand, das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit, als Grundlage der staatdar. Ersteres lichen Personalhoheit aber auch selbst einen Souveränitätsfaktor zeigt sich in dem sehr weit gesteckten Gestaltungsspielraum der Staaten, die selbst festlegen, inwieweit der Erwerb ihrer Staatsangehörigkeit dem ius sanguinis, dem ius territorii bzw. Modifikationen dieser Prinzipien folgen soll, an welche Umstände sie dabei also im einzelnen anknüpfen wollen. Völkerrechtlich zulässig ist alles, was auf eine gewisse Nähe und Effektivität der Beziehung zwischen dem Staat und seinen Angehörigen schließen läßt, wie dies, abgesehen von der Abstammung von einem Staatsangehörigen und der Geburt im Staatsgebiet, etwa für den dauernden inländischen Wohnsitz oder die Verehelichung mit einem Staatsangehörigen, nicht aber für den bloßen Besitz von Grundstükken anerkannt ist. Insgesamt sollten die gewählten Kriterien dem Bild der Staatsangehörigkeit entsprechen, das der Internationale Gerichtshof (IGH) im Nottebohm Case wie folgt nachzeichnete: (...) nationality is a legal bond having as its basis a social fact of attachement, a genuine connection of existence, interests and sentiments, together with the existence of reciprocal rights and duties. It may be said to constitute the juridical expression of the fact that the individual upon whom it is conferred (...) is in fact more closely connected with the population of the State conferring nationality than with that of any other State. Conferred by a State, it only entitles that State to exercise protection

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Hierzu Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn. 369), insbes. 180, 185 f. So die oben zitierte Entscheidung des BVerfG E 37, 217 (239 ff. [241]). 460 E.-W. Böckenförde, Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit, in: Hans Β ari on / ders. / Ernst Forsthoff/Werner Weber (Hg.), Epirrhosis. Festgabe f. Carl Schmitt zum 80. Geburtstag, Bd. II, Berlin 1968, 423 ff. (431) m.w.N. (auch zu den genannten Definitionsversuchen in der Literatur). 459

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vis-à-vis another State, if it constitutes a translation into juridical terms of the individual's connection with the State which has made him its national. Diplomatic protection and protection by means of international juridical proceedings constitute measures for the defence of the rights of the State.461 In den letzten Sätzen deutet sich bereits an, inwiefern die Staatsangehörigkeit auch selbst als „Souveränitätsfaktor" in das Völkerrecht eingeht: Das Schutzrecht des Angehörigen erscheint aus der Perspektive der zwischenstaatlichen Ordnung als Schutzkompetenz des Staates, Streitigkeiten über Rechtspositionen der Angehörigen werden (einmal abgesehen von der Ausnahme einer Individualbeschwerde, wie sie die Europäische Menschenrechtskonvention zur Durchsetzung der dort normierten völkerrechtlichen Individualrechte vorsieht) 462 ebenso wie Treuekonflikte des Angehörigen im Fall der Mehrfachangehörigkeit als Konflikte um völkerrechtliche Ansprüche der souveränen Staaten untereinander ausgetragen. 463 Die Staatsangehörigkeit definiert unter dem Gesichtspunkt der Personalhoheit des Heimatstaates, der der Angehörige ja nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland untersteht, also staatliche Herrschaftssphären und Kollisionsgrenzen. 464 Diese in doppelter Hinsicht enge Verzahnung von Staatsangehörigkeit und staatlicher Souveränität läßt die Versuche, Staaten im Rahmen menschenrechtlicher Abkommen zur Verleihung ihrer Staatsangehörigkeit zu verpflichten, zumindest auf den ersten Blick als erstaunlich erscheinen. - Scheitert die 461

Liechtenstein v. Guatemala, ICJ Reports 1955, 4 ff. Friedrich Nottebohm, ehemals Deutscher, der von 1905 bis 1943 in Guatemala gelebt und dort beträchtlichen Grundbesitz erworben hat, wird 1939 kurz nach Kriegsausbruch von Liechtenstein, ohne dort einen Wohnsitz begründet zu haben, formal gesetzmäßig eingebürgert. Obgleich er dadurch die deutsche Staatsangehörigkeit verliert, behandelt ihn Guatemala als feindlichen Ausländer. Den Schutzanspruch Liechtensteins weist der IGH in seinem Urteil v. 6.4.1955 mit 11 zu 3 Stimmen u.a. mit der Begründung zurück, daß eine Naturalisierung völkerrechtlich nur dann wirksam sei, wenn sie den oben zitierten Voraussetzungen entspreche. Das Urteil ist vielfach kritisiert worden, insbes. unter dem Gesichtspunkt, daß Nottebohm, der seine frühere deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatte, dann im konkreten Fall von keinem Staat völkerrechtlich geschützt werden konnte; so schon Paul Guggenheim in seiner dissenting opinion, ICJ Reports 1955, 50 ff.; ferner Josef L. Kunz, The Nottebohm Judgement, American Journal of International Law (AJIL) 54 (1960), 536 ff. Der in dieser Entscheidung statuierte Grundsatz der notwendigen Effektivität der Staatsangehörigkeit hat sich in der völkerrechtlichen Judikatur jedoch zumindest für die Lösung von Konflikten bei mehrfacher Staatsangehörigkeit durchgesetzt; vgl. dazu m.w.N. Verdross/Simma (Fn. 110), § 1194. 462 Zur EMRK s. oben S.46 mit Fn. 112. Siehe zum Rechtsschutzsystem der EMRK auch Bleckmann, Grundrechte (Fn. 15, 4. Aufl.), § 3 Rn. 33 ff. 463 Grawert, Staat (Fn. 386), 248. 464 Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn. 369), 185.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Durchsetzung der Menschenrechte sonst nicht oft genug gerade an staatlichen Souveränitätsansprüchen? Das ist richtig und erfaßt das Problem doch nur vordergründig: Begriffe wie innere und äußere Souveränität, Personal- und Territorialhoheit und eben auch der der Staatsangehörigkeit, sie alle kreisen um das, was wir seit Fichte und Hegel mit dem Begriff des modernen Staates zu belegen gewohnt sind. Er steht für das heute weltweit anerkannte Modell politischer Herrschaft. 465 Staats- und Völkerrechtslehre beziehen sich gleichermaßen auf den Typus des modernen Staates, dessen geschichtliches Erscheinungsbild dann in den dürren Begrifflichkeiten der Drei-Elemente-Lehre auf ein Minimum juristisch operationalisierbarer, formal definierter Merkmale reduziert wird. 4 6 6 In dieser Formalität liegt immer dann eine Stärke, wenn es auf eine Ein- und Abgrenzung von Herrschaftssphären oder der Gesamtheit der Staatsangehörigen als Staatsvolk im Rechtssinne ankommt, aber auch dann, wenn es die für das Völkerrecht oft maßgebliche Effizienz von Herrschaft zu beurteilen gilt. Demgegenüber läßt sich die Frage nach deren Legitimität auf der Grundlage eines verfassungsneutralen Staatsbegriffs, der dafür keinen Maßstab bereit hält, natürlich ebensowenig beantworten wie die nach den Prinzipien und Faktoren der Integration, der Metamorphose der vielen zum „Volk". Doch gerade weil dieser Staatsbegriff von den konkreten Besonderheiten der jeweiligen Verfassung ebenso abstrahiert wie von der Verschiedenartigkeit der Kulturen und Lebensverhältnisse und allein auf die wenigen allgemeinen, wiederkehrenden Strukturmerkmale zurückgreift, ist er als begrifflicher Baustein der „one world" des Völkerrechts tauglich. Während eine rein innerstaatliche Betrachtungsweise stets mit dem Problem zu kämpfen hat, daß die typusprägenden Merkmale „des Staates" weitestgehend durch die jeweilige Erscheinungsform des konkreten Verfassungsstaates überlagert werden, zeigt sich aus der globalen Perspektive des Völkerrechts mit aller Klarheit, daß „der Staat" in dieser idealtypischen Skizze genauso universal, abstrakt, formal und unteilbar erscheint wie die Idee der menschenrechtlichen Freiheit, in der er seine geschichtliche Antithese findet. 467 Und so wenig es, wie oben dargelegt, vom menschenrechtlichen Standpunkt her möglich ist, Zugehörigkeit zum Staat zu definieren - in den klassischen Menschenrechtserklärungen ist im übrigen auch gar nicht von „Staat", sondern von „association of individuals" bzw. „association politique", von „société" oder von „government" die Rede 468 - so wenig definiert der Staat die Staatsangehörigkeit nach menschenrechtlichen Gesichtspunkten. 465

Isensee, Staat (Fn. 457), Rn. 41, sowie zum folgenden passim. Auch das BVerfG knüpfte in seinen Entscheidungen zur Staatlichkeit Deutschlands an der Drei-Elemente-Lehre an, vgl. E2, 266 (277); E3, 58 (88f.); E36, 1 (16f.). 467 Isensee, Staat (Fn.457), Rn. 100. 468 Vgl. z.B. oben S.79 u. 136: „association politique" und „société" in der Déclaration des droits de Phomme et du citoyen von 1789; oben S. 80: „association of indivi466

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Vielmehr konzipiert er die Angehörigkeitsregeln, ob sie nun den originären Erwerb der Staatsangehörigkeit oder die Einbürgerung betreffen, allein seinem eigenem Bauplan entsprechend. Denn der moderne Staat und das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit stehen in einem engen und wechselbezüglichen Verhältnis: Einerseits konzentriert die Staatsangehörigkeit die bis dato bestehende Vielfalt der vor-, inner- und außerstaatlichen Angehörigkeitsbeziehungen normativ auf den Staat hin. Dabei ist der Staatsangehörige im Außenverhältnis schneller auf einen einheitlichen Begriff gebracht als im Innenverhältnis: Die im genetischen Programm des modernen Staates angelegte Angehörigkeitskonzentration läßt sich innerstaatlich nur in schrittweiser Ablösung der alten ständischen Ordnung in einem langwierigen Prozeß der Immediatisierung umsetzen, in dessen Verlauf die Individuen aus dem komplexen Geflecht tradierter korporativer und ständischer Bindungen herausgelöst und in ein einheitliches und unmittelbares Verhältnis zum Staat gesetzt werden. 469 In diesem Sinne ist die Staatsangehörigkeit Ausdruck erfolgreich abgeschlossener Staatswerdung. Andererseits ist sie in ihren wesentlichen Grundzügen umgekehrt aber auch durch die institutionellen Bedingungen der Staatlichkeit geprägt: Das Staatsangehörigkeitsverhältnis ist „grundsätzlich durch Personalität, Beständigkeit, Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit gekennzeichnet" und entspricht insofern der Institution „Staat" (Grawert). 470 Auch der Umstand, daß Staaten mit sehr unterschiedlichen Staats- und Regierungsformen teilweise dieselben oder doch sehr ähnliche Angehörigkeitsbegriffe und -regeln zugrunde legen können, 471 ist nur daraus zu erklären, daß ein verfassungsneutraler Staatsbegriff die Eckpunkte, namentlich die der Stabilität, Beständigkeit und Exklusivität, vorgibt, zwischen denen die Grundlinien des Staatsangehörigkeitsrechts verlaufen. Sofern nur annäherungsweise diese Zielvorgaben erreicht werden, spielt es aus der globalen Perspektive des modernen Staates betrachtet keine Rolle, ob die Regelung der Staatsangehörigkeit wie in Deutschland vornehmlich dem ius-sanguinis-Prinzip folgt oder ob wie in den

duals" in der Präambel der Massachusetts Declaration of Rights von 1780; oben S. 82 u. 97: „government" in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und in der Präambel der Virginia Bill of Rights von 1776. 469 Zu alledem ausführlich, tiefgründig und sehr aufschlußreich Grawert, Staat (Fn.386), passim. 470 Staatsangehörigkeit (Fn.369), 183, auch 195; ders., Staatsvolk (Fn.451), Rn.33, wo er das Merkmal „umfassend" hinzufügt; vgl. auch Böckenforde, Staatsangehörigkeit (Fn. 460), 431. 471 Dies zeigte sich etwa früher im Verhältnis von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Dazu allgemein, insbesondere aber auch zur deutschen Staatsangehörigkeit in der ehemaligen DDR, Burkhardt Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, Berlin 1995, 93 ff., 180 ff., u. passim.

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Einwanderungsländern Lateinamerikas traditionell das ius-soli-Prinzip vorherrscht. Es besteht also durchaus Raum fur unterschiedliche traditionelle und rechtskulturelle Prägungen 472 oder rechtspolitische Standpunkte zur Frage der Einwanderung. Allerdings gilt dies nur innerhalb bestimmter Grenzen. Beispielsweise erscheint eine „Kinderstaatsangehörigkeit für Ausländer", die bei uns vor einigen Jahren unter der Bezeichnung „Schnupper-Staatsangehörigkeit" diskutiert wurde, 473 unter dem Gesichtspunkt, daß die Staatsangehörigkeit ihrem Wesen nach auf Dauer angelegt und insofern bedingungs- und befristungsfeindlich ist, während sie hier nach Art einer „shopping period" für einen bestimmten Zeitraum „testweise" angeboten wird, als systemfremd. Auch das am 1.1.2000 in Kraft getretene „Optionsmodell" ist unter diesem Aspekt nicht unproblematisch, da es zwischen dem Eintritt der Volljährigkeit und dem 23. Lebensjahr von dem Deutschen, der zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt, eine Entscheidung für die eine oder andere Staatsangehörigkeit verlangt, die, sofern sie zugunsten der ausländischen Staatsangehörigkeit ausfällt, den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nach sich zieht (vgl. §29 Abs. 2 StAG). Auch § 29 StAG kalkuliert somit ein, daß der Status als Staatsangehörige(r) möglicherweise „nur auf Zeit" verliehen worden ist. Umgekehrt läßt sich der gordische Knoten aber auch nicht einfach durch Aufrechterhaltung der doppelten Staatsangehörigkeit durchschlagen, denn diese läßt sich wiederum nicht mit dem Anspruch der Staatsangehörigkeit auf Ausschließlichkeit vereinbaren.

472 Die gelegentlich vertretene Auffassung, daß das ius-sanguinis-Prinzip dem Gesichtspunkt der Bindung an den Staat und damit der Dauerhaftigkeit besser gerecht werde als das des ius soli, überzeugt insofern nicht, als letzteres natürlich von der Regelvermutung ausgeht, daß die im Kulturraum geborenen Menschen auch dort sozialisiert werden und so eine dauerhafte Bindung zu ihrem Geburtsland entwickeln. - Umgekehrt könnte man bei Kindern von „Auslandsdeutschen" ebenso an der Intensität der Bindung zum Land der Vorväter zweifeln. Bei beiden Prinzipien können die im Einzelfall auftauchenden Zweifel also die Plausibilität der Regelvermutung nicht erschüttern. Im übrigen finden sich in der Praxis ohnehin häufig Kombinationen beider Prinzipien (so u.a. auch in Frankreich), und auch dort, wo nur das ius soli gilt, läßt sich natürlich leicht der Ausschluß des Erwerbs der Staatsangehörigkeit bei einer „Zufallsgeburt" im Lande regeln. 473 Sehr krit. zu diesem in dem Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP vom Nov. 1994 als Kompromiß anvisierten, aber niemals realisierten Modell Albrecht Funk, Wer ist Deutscher, wer ist Deutsche?, in: Leviathan 1995, 307 ff. (317), der dies als „grotesken Zwitter" bezeichnet, den ersten Schritt weg vom reinen ius sanguinis aber positiv bewertet; vgl. dazu auch Walter Lesch, Staatsbürgerschaft und Einwanderungspolitik. Eine politische Philosophie des Fremden, in: ARSP Beiheft 62, Stuttgart 1995, 101 ff. (103) mit Fn.6.

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Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß oben lediglich in groben, holzschnittartigen Zügen ein Grundmuster nachgezogen wurde, das in zweifacher Hinsicht der Modifikation bedarf: Zum einen ist die Vorstellung, daß die Staatsangehörigkeit „als unteilbar, unbeschränkbar, einmalig und in toto ausschließlich zu gelten habe" 474 ein Spiegelbild der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Konzeption staatlicher Souveränität. So wie deren Züge sich im Laufe dieses Jahrhunderts gewandelt haben, erfordern auch im Hinblick auf die angehörigkeitsrechtliche Zuordnung des Individuums zum Staat neue Konstellationen möglicherweise funktional äquivalente Lösungen. Als Beispiel sei die „Unionsbürgerschaft" genannt, die der Staatsangehörigkeit, ohne sie zu ersetzen, innerhalb der Europäischen Union zur Seite tritt. 4 7 5 Das gehäufte Auftreten von doppelten (seltener vielfachen) Staatsangehörigkeiten ist ebenfalls kein Zufall, sondern Folge zunehmender Mobilität rund um den Erdball. Selbst wenn die Maxime, Mehrfachangehörigkeiten angesichts der damit verbundenen potentiellen Häufung von Konflikten - Paradebeispiel ist stets die Wehrpflicht - möglichst zu vermeiden, prinzipiell befolgt werden sollte, 476 muß dies nicht ausnahmslos gelten. Eine doppelte Staatsangehörigkeit kann auch treffender Ausdruck einer Lebenssituation sein, die sich tatsächlich zwischen zwei Staaten bewegt; und die damit verbundenen Probleme sind im Rahmen bi- oder multilateraler Abkommen durchaus lösbar. 477 Daß dies letztlich eine Frage des politi474

Grawert, Staat (Fn. 386), 244. Zur prinzipiellen Möglichkeit funktional äquivalenter Lösungen bereits Grawert, Staat (Fn. 386), 243 f.; zur Unionsbürgerschaft s. Stephan Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, in: Der Staat 1993, 245 ff. 476 Zu den Gründen s. Hans v. Mangoldt, Öffentlich-rechtliche und völkerrechtliche Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit aus deutscher Sicht, in: JZ 1993, 965 ff. Die Bundesrepublik hat sich dazu in dem „Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht" aus dem Jahre 1963 - im Verhältnis zu den anderen Vertragsstaaten - ausdrücklich verpflichtet; dazu Ziemske (Fn.471), 40 ff, 62 ff.; pointierter Manfred Zuleeg, Doppelte Staatsangehörigkeit - ein gangbarer Weg? Rechtliche und politische Hemmnisse - Völkerrechtliche Aspekte, in: Klaus Barwig/Klaus Lörcher/Christoph Schuhmacher (Hg.), Aufenthalt-Niederlassung-Einbürgerung, Baden-Baden 1987, 255 ff. (259 ff.). 477 Zur doppelten Staatsangehörigkeit s. statt vieler die Beiträge in: Barwig (Hg.), Einbürgerung (Fn. 476), Teil IV: Doppelstaatsangehörigkeit mit aktivem und ruhendem Teil - eine Perspektive?, 221 ff.; zur Gegenauffassung Ziemske (Fn. 471), 36, 52, 132 ff., 277 ff. u. pass.; Markus Lang, Grundkonzeption und Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, Frankfurt/Main 1990, bes. 284 ff., 300 (304). Im März 1998 wurde eine Gesetzesvorlage zur doppelten Staatsangehörigkeit, die der von SPD-regierten Ländern dominierte Bundesrat eingebracht hatte, im Bundestag abgelehnt (s. unten Fn. 801). Mittlerweile ist das sog. „Optionsmodell", das eine bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres zeitlich befristete doppelte Staatsangehörigkeit toleriert, Gesetz geworden; vgl. §§4 III, 29 StAG (urspr. RuStAG v. 22.7.1913, RGBl. I, 583, in der im 475

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sehen Willens ist, zeigt sich schon darin, daß die doppelte Staatsangehörigkeit zumeist nur im Zusammenhang mit einer Einbürgerung in Deutschland problematisiert und darauf beharrt wird, daß am Erfordernis der Aufgabe der alten Staatsangehörigkeit in jedem Fall festzuhalten sei, während der über das iussanguinis-Prinzip vermittelte Erwerb einer doppelten Staatsangehörigkeit bei Auslandsdeutschen, die in einem Land leben, in dem das ius-soli-Prinzip gilt, gemeinhin für unbedenklich gehalten wird. Doch sieht der durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999 neu eingefügte § 4 Abs. 4 StAG - insoweit konsequent - nun erstmals eine Einschränkung des Abstammungserwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit für im Ausland geborene Kinder von selbst im Ausland geborenen deutschen Eltern vor. Abgesehen von Modifikationen, die auf das veränderte Erscheinungsbild des Staates zurückzuführen sind, ergeben sich weitere Modifikationen des durch die Institution „Staat" vorgezeichneten Grundmusters der Staatsangehörigkeit naturgemäß aus der konkreten verfassungsrechtlichen und politischen Binnenordnung des jeweiligen Staates. So entspricht es dem Wesen der Republik, den Zugang zur „Staatsgenossenschaft" und von dieser zur Staatsbürgerschaft offen zu halten. 478 Insbesondere in der Frühphase der Französischen Revolution, die durch einen ostentativen Kosmopolitismus gekennzeichnet ist, finden sich Beispiele für eine Praxis, die diesen Gedanken nahezu kompromißlos umsetzt 479 (und sich eben deshalb auch nicht auf Dauer etablieren konnte). Mit anderen Worten: Die (aktive) Staatsbürgerschaft basiert zwar grundsätzlich auf der Zugehörigkeit zum Staat, doch wenn potentiell jeder Mensch als stimmberechtigter „Bürger" betrachtet wird, hat das Rückwirkungen auf die relative Offenheit oder Geschlossenheit des Staates als Mitgliederverband. Auch wenn, grob gesagt, die „Mitgliedschaftsrechte" im einzelnen durch die Verfassung ausgeformt werden, während der „Mitglieds-tato" als solcher im wesentlichen durch die institutionellen Bedingungen der Staatlichkeit vorgegeben ist, stehen beide nicht beziehungslos nebeneinander: Die „Mitgliedschaft" ist nicht nur Voraussetzung für die Inanspruchnahme der „Mitgliedschaftsrechte", sondern die Angehörigkeitsregeln selbst erhalten im Hinblick auf die Zwecke der Staatsmitgliedschaft auch ihren spezifischen Zuschnitt. Demgemäß stellt sich auch das BundesverBGB1. III, Gliederungsnr. 102-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zul. geänd. durch Art. 1 des Ges. zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999, BGBl. I, 1618, das nun auch den alten Namen „RuStAG" durch „StAG" ersetzt). 478 Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn.369), 178 (unter Bezugnahme auf das an Sieyès und die Vorgänge im revolutionären Frankreich angelehnte Konzept Kants); im Sinne einer rechtspolitischen Forderung Dieter Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen. Die Alternative der offenen Republik, Freiburg/Basel/Wien 1993. Allgemein zur Idee der modernen Republik s. Maihofer, Prinzipien (Fn. 145), bes. Rn. 48 ff. 479 Brubaker (Fn. 387), insbes. 73 ff.

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fassungsgericht gegen die verbreitete Ansicht, daß die Entscheidung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit im freien Belieben der Staatsorgane stehe und betont, daß es nicht ausreiche, „die Regeln darüber lediglich sach- und systemgerecht auszugestalten. Vielmehr müssen die entsprechenden Gesetze die Grundentscheidungen der Verfassung, wie sie vor allem in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, beachten und ihrerseits zu deren Verwirklichung beitragen". 480 Soweit das allein am Staat orientierte Grundmuster der Staatsangehörigkeit in diesem Sinne korrigiert und ausdifferenziert wird, ist auch dies Ausdruck der im Verfassungsstaat angestrebten Aufhebung und Überwindung des antithetischen Verhältnisses von „Staat" und „Menschenrechtsidee". 481 Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich jedoch mit einem Problem, das signalisiert, daß das verfassungsstaatliche Streben nach einer Synthese nicht immer spannungsfrei gelingt: Bestimmte Rechte sind auch im Verfassungsstaat allein den Staatsangehörigen bzw. nach dem Grundgesetz den Deutschen vorbehalten oder können auf Grund nationaler Vorbehalte abweichend vom verfassungskräftig anerkannten menschenrechtlichen Prinzip gleicher Freiheit bei denjenigen, die rechtlich nicht zum Staatsverband gehören, sehr viel leichter eingeschränkt werden als bei Deutschen. Eine Problemabschichtung hinsichtlich der Deutschenrechte läßt sich nur erreichen, wenn vom „Produkt" der Bemühungen um eine Synthese, dem Verfassungsstaat, auf die beiden in diesem Kontext entscheidenden, gleichermaßen in ihm „aufgehobenen" Prinzipien der (oben ausfuhrlich behandelten) menschenrechtlichen Freiheit einerseits und der Staatsmitgliedschaft andererseits zurückgegangen wird. Dabei interessieren zunächst nur die durch den verfassungsneutralen Staatsbegriff vorgegebenen Grundstrukturen der Staatsmitgliedschaft, 482 um zu klären, ob und inwieweit die 480

BVerfGE 37, 217 (239) im Zusammenhang mit §4 I RuStAG a.F. Dazu allgemein Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn. 369), 192, 195. 481 Siehe dazu Isensee, Staat (Fn.457), Rn. 100: „Die geschichtliche Antithese zum formalen Machtsystem des modernen Staates ist die Idee der menschenrechtlichen Freiheit (...) Der Verfassungsstaat strebt die Synthese beider an, dadurch, daß er die Freiheit als ,vorstaatliche4, unverfügbare Vorgabe, ihre Wahrung und ihren Schutz als das UmWillen der Staatsgewalt und ihre Gewährleistung als deren Aufgabe erkennt", sowie Rn. 121 ff. ausführlich zum Verfassungsstaat. 482 Aus diesem Grunde sind auch die normativen Kriterien, die die Zugehörigkeit zum Nationalstaat nach Brubaker aufweisen sollte, für den vorliegenden Teil der Arbeit nicht brauchbar: Sie sollte nach seiner Ansicht „einheitlich, heilig, national, demokratisch, einzig sein und soziale Konsequenzen haben" (Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und Deutschland, in: Der Staat 1989, 1, 3 ff.). Diese Kriterien schließen „Verfassung" und „Nation" als Bezugsgrößen bereits ein und verstellen insofern den Blick dafür, welcher Teil der „Deutschen"-Vorbehalte sich völlig unabhängig von der konkreten Verfassung allein auf die Zugehörigkeit zum „Staat" bzw. auf die Staatsmitgliedschaft zurückführen läßt.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Problematik der Deutschenrechte in diesem Bereich wurzelt. Erst im Anschluß daran soll in einem weiteren Schritt untersucht werden, welche Variationen dieses Grundmusters der hochdifferenzierte Verfassungsstaat erzeugt.

(3) Zum materialen Gehalt der Staatsangehörigkeit als Mitgliedschaft im modernen Staat Der Grundgedanke der „Mitgliedschaft" ist simpel: Aufgrund seiner besonderen Stellung als Mitglied ist der einzelne Träger von Rechten und Pflichten, von denen Nichtmitglieder ausgeschlossen bzw. ausgenommen sind. Die Staatsangehörigkeit ist bislang nur unter dem Aspekt der Zuordnung von Person und Staat, nämlich der staats- wie auch völkerrechtlich relevanten rechtlichen Zugehörigkeit des einzelnen zu einem konkreten Staatsverband betrachtet worden. Fraglich ist, ob sie damit schon hinreichend umschrieben ist, ob die Staatsangehörigkeit als „Staatsmitgliedschaft" also nur ein „formell definierter, nach außen hin begrenzter Mitgliedstatus" 483 ist, während die daran anknüpfenden „Mitgliedschaftsrechte", gebündelt unter dem Etikett der Staatsbürgerschaft, allein eine Frage der verfassungsrechtlichen Binnenordnung sind. - Natürlich ist die Anerkennung und Garantie der Menschenrechte, die Ausformung der „Mitgliedschaftsrechte", neben der Aufgabe der Staatsorganisation die wesentliche Funktion der Verfassung, auf deren Grundlage sich die Staatsbürgerschaft allererst konstituiert. Darum geht es also nicht. Die Frage zielt vielmehr gerade umgekehrt darauf, ob es auch Rechts- und Pflichtenpositionen gibt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Staatsangehörigkeit als solcher stehen, die somit - unabhängig von der konkreten Verfassung - der rechtlichen Zugehörigkeit des Individuums zum Staat entspringen.

(a)

Mitgliedschaftliche Rechtspositionen aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis

zum Staat

Bekanntlich kreist ein alter Streit darum, ob die Staatsangehörigkeit ihrem Wesen nach ein rechtlicher Status, eine rechtliche Eigenschaft oder ein Rechtsverhältnis (rechtlich geregeltes Lebensverhältnis) sei, ob von Rechtspositionen abstrahiert werden müsse oder ob sie mit gewissen Gehalten angereichert sei. Tatsächlich scheinen die unterschiedlichen Definitionsansätze jedoch nur verschiedene Facetten der Staatsangehörigkeit, die im Staats-, Völker- und Internationalen Privatrecht unterschiedlichen Funktionen gerecht werden muß, zu beleuchten. Insofern bietet es sich an, nach einer Definition zu suchen, die diese 483

Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387), 56, 68 f., 71, 93 (101) und pass.

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Aspekte kombiniert. Eine solche Definition liefert Makarov; danach ist die Staatsangehörigkeit ein „Rechtsverhältnis zwischen dem Staat und seinen Angehörigen", bei dessen Regelung „die Eigenschaft der Person als Subjekt dieses Rechtsverhältnisses einen rechtlichen Status dieser Person bildet". 484 Dies ist keine schlichte Addition sämtlicher Merkmale; vielmehr geht Makarov von der Überlegung aus, daß die Staatsangehörigkeit ein Rechtsverhältnis ist, bei dem jedoch die Besonderheit besteht, daß die Eigenschaft des Individuums als Subjekt dieses Rechtsverhältnisses erst durch den Staat selbst festgelegt werden muß. Es entsteht also nicht wie andere Rechtsverhältnisse durch soziale Lebensvorgänge (Elternschaft) oder wie ein vertraglich begründetes Rechtsverhältnis (die Eheschließung einbegriffen) dadurch, daß von beiden Seiten auf Gleichordnungsebene aufeinander bezogene Willenserklärungen abgegeben werden, sondern es ist durch einen - einseitig festgelegten - rechtlichen Status bedingt. 485 Daß der erste Teil der Streitfrage somit am Treffendsten im Sinne eines „sowohl/als auch" zu beantworten ist, dürfte heute ganz überwiegend akzeptiert sein, 486 während die Frage, ob das Staatsangehörigkeitsverhältnis auch einen sachlichen Gehalt aufweist, offenbar nach wie vor offen ist: Teils wird die Staatsangehörigkeit unter Abstraktion von allen konkreten Rechtspositionen nur formal bestimmt, 487 teils wird diese Verwendung als „leerer Kopplungsbegriff 4 kritisiert und darauf hingewiesen, daß sie mit bestimmten materialen Rechtspositionen verbunden sei. 488 484

Alexander N. Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl. Stuttgart 1962, 28 m.u.w.N. zum alten Streit um die Rechtsnatur der Staatsangehörigkeit. 485 AaO, 19 ff; insoweit zustimmend Böckenforde, Staatsangehörigkeit (Fn.460), 430. 486 Siehe statt vieler Grawert, Staatsvolk (Fn.451), 33, der aber darauf hinweist, daß sich im Ergebnis ohnehin kaum Unterschiede zeigen. 487 So etwa Makarov, Allgemeine Lehren (Fn.484), 28 ff. (30 f.): „Welche Rechte und welche Pflichten den Staatsangehörigkeitsstatus zur Voraussetzung haben, ist für den Begriff der Staatsangehörigkeit irrelevant"; Hans v. Mangoldt, in: Alexander N. Makarov/ders., Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Bd. 1, Kommentar, 3. neubearb. Aufl. Frankfurt/Main, Losebl.-Ausgabe, Stand: Lfg. 12/August 1998, Einl. I, Rn.4, bezeichnet die Staatsangehörigkeit als „Bereitschaftsstatus"; s. auch Gerhard-René de Groot, Staatsangehörigkeit im Wandel, Köln u.a.O. 1989, 10, 13, 17 u. pass. 488 So z.B. nachdrücklich Hans Ulrich Jessurun d'Oliveira, Tendenzen im Staatsangehörigkeitsrecht (zugleich eine Rezension von de Groot [Fn.487]), in: ZAR 1990, 114 ff. (116 ff.). Für eine nicht nur formale, sondern auch sachlich-inhaltliche Bestimmung der Staatsangehörigkeit auch Böckenförde, Staatsangehörigkeit (Fn.460), 431 ff.; Grawert, Staat (Fn.386), 102 f. Dabei geht es aber stets nur um einen bestimmten materialen Kerngehalt, nicht etwa um eine erschöpfende Bestimmung des „Inhalt(s) der Mitgliedschaft am Staate", die nach G. Jellinek, System (Fn.230), 117, oft versucht und stets mißlungen ist, da sie eine „Rundreise durch das ganze Staatsrecht voraussetzen" würde. 11 Siehr

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Makarov etwa begründet seine Auffassung von dem „abstrakten Charakter des Staatsangehörigkeitsstatus" damit, daß rechtsvergleichend zwar gewisse Recht und Pflichten wiederkehrend feststellbar seien, es jedoch verfehlt sei, sie als zum „Wesen der Staatsangehörigkeit gehörend zu betrachten", da jedes neue Gesetz „eine Änderung des Inhalts der an die Staatsangehörigkeit geknüpften Rechte und Pflichten mit sich bringen" könne. Dem hält Grawert jedoch zu Recht entgegen, daß sich immer dann, wenn sich wie beispielsweise bei Mehrfachangehörigkeiten die Frage stelle, was die Staatsangehörigkeit eigentlich ausmache, zeige, daß sie keineswegs nur als Zurechnungspunkt anderwärts statuierter beliebiger Rechte und Pflichten fungiere, sondern zu allgemeinen typischen Rechtspositionen führe. 489 Hinsichtlich solcher (noch näher zu bestimmenden) materialen Minimalpositionen der Angehörigen dürfte es aber auch zweifelhaft erscheinen, ob sie im Wege einer Gesetzesänderung gänzlich ausgeschlossen werden könnten. Bemerkenswerterweise findet sich eine entsprechende Zweigleisigkeit in der Betrachtung bereits bei Laband, also zu einer Zeit, in der eine rein formale, allein an der Ordnungsfunktion der Staatsangehörigkeit orientierte Sichtweise vorherrschte. Für ihn ist die Staatsangehörigkeit einerseits ein „Zustand", ein persönlicher Status „wie Stand, Alter, Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer Kirchengenossenschaft u.s.w.; sie besteht in der Untertanenschaft zu einer bestimmten Staatsgewalt". Andererseits begründe dieser Zustand aber insofern Pflichten und Rechte, als er Voraussetzung derselben sei. In diesem Sinne spricht er vom „Inhalt der Reichs- und Staatsangehörigkeit", umschreibt bestimmte Pflichten und Rechte, welche „in jedem Staate den Staatsangehörigen obliegen" bzw. zustehen.490 Nun mag es im Regelfall ja auch müßig erscheinen, „rein staatsbezogene" und „staatsbürgerliche" Rechte und Pflichten, die doch insgesamt das Rechtsverhältnis der Staatsangehörigkeit ausmachen, auseinander zu dividieren, aber im Hinblick auf die für „völlig selbstverständlich" gehaltene Privilegierung, die das „Institut der Staatsbürgerschaft " (gemeint ist die Staatsangehörigkeit) begründet, die man „für eine dem Staat begriffswesentliche Einrichtung" hält, 491 489

Grawert, Staat (Fn.386), 102 f.; s. auch ders., Staatsangehörigkeit (Fn.369), 191, wo er sich ebenfalls gegen eine auf das äußere Ordnungsproblem bezogene Formalisierung der Staatsangehörigkeit unter Ausklammerung der mitgliedschaftlichen Elemente wendet: Damit werde das Konzept aufgegeben, dem einzelnen eine Rechtsstellung im Staat und durch diesen gegenüber anderen Staaten zu sichern, solange die Menschenrechtsentwicklung dies noch nicht überflüssig gemacht habe. 490 Vgl. Laband, Staatsrecht I (Fn.296), 140, zu den Pflichten und Rechten (Man beachte die Reihenfolge!) im einzelnen 140ff., 150 ff. 491 Zu diesem Kelsen-Zitat s. oben S. 92 mit Fn. 253. Daß er hier nicht die Aktivbürgerschaft, sondern die Staatsangehörigkeit meint, zeigt sich mit aller Deutlichkeit in der

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könnte dies Rückschlüsse auf die die Privilegierung tragenden Gründe zulassen. Auch in diesem Zusammenhang hilft ein Blick auf den am formalen, verfassungsneutralen Staatsbegriff orientierten Angehörigkeitsbegriff des Völkerrechts weiter: Er ist zwar abstrakt gefaßt, jedoch auf bestimmte materiale Rechtspositionen hin angelegt. Das Völkerrecht rechnet nämlich schon um seiner eigenen Funktionsfähigkeit und der notwendigen Stabilität der Verhaltenserwartungen willen nicht mit einem Rechtsinstitut, das Anknüpfungspunkt beliebiger Rechte und Pflichten ist, sondern geht von einem gewissen substantiellen Kerngehalt des Angehörigkeitsverhältnisses aus. 492 Dies folgt im Ansatz bereits aus den Ausführungen des Internationalen Gerichtshofs im schon erwähnten Nottebohm Case.493 Danach wird der Staatsangehörigkeit die völkerrechtliche Anerkennung verweigert, wenn sie nicht als rechtliches Band („legal bond") zwischen dem Staat und seinem Angehörigen Ausdruck einer aufgrund bestimmter Integrationsfaktoren nachvollziehbaren näheren tatsächlichen Beziehung („genuine connection") und mit wechselseitigen Rechten und Pflichten („reciprocal rights and duties") verbunden ist. Die auf einen ganz bestimmten sachlichen Gehalt dieser wechselseitigen Rechte und Pflichten zwischen Staat und Individuum ausgerichtete Erwartungshaltung der Staaten spiegelt sich auf zwischenstaatlicher Ebene in den an die Staatsangehörigkeit anknüpfenden völkerrechtlichen Rechten und Pflichten der Staaten wider: Was dort im Verhältnis zu anderen Staaten an Rechten geltend gemacht und an Pflichten eingefordert werden kann, setzt ein Angehörigkeitsverhältnis voraus, daß in seinem Kern durch Schutz, Gehorsam und Treue bestimmt wird. Das Schutzrecht des Staates umfaßt zum einen das auch im Nottebohm-Case klagweise geltend gemachte Recht des diplomatischen und konsularischen Schutzes eigener Angehöriger im Ausland, das schon vor seiner Kodifikation in den Wiener Konventionen über die diplomatischen bzw. konsularischen Bezie-

nachfolgenden Feststellung, daß selbst „politische Rechte durchaus nicht an die Staatsbürgerschaft gebunden werden müssen" (aaO, 17 f.). Wie auch im Begriff der „Einbürgerung" anklingt, werden „Staatsbürgerschaft" und „Staatsangehörigkeit" häufig synonym verwandt. Das erklärt sich daraus, daß es ftir die moderne Staatsangehörigkeit ja gerade kennzeichnend ist, daß sie als umfassendes, einheitliches Rechtsverhältnis zum Staat dem Angehörigen sämtliche Rechte verschafft oder dies zumindest ihrer Konzeption nach tun sollte, im demokratischen Rechtsstaat neben den bürgerlichen Freiheiten also auch die politischen Rechte. Bei der diskriminierenden Differenzierung zwischen „Reichsbürgern" und bloßen „Staatsangehörigen" im Dritten Reich (s. Fn. 451 ) hat man allerdings auch diese Regel bewußt durchbrochen. 492 Siehe dazu Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn. 369), 187. 493 Vgl. oben S.152f.

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hungen vom 18.4.1961 bzw. 24.4.1963 494 kraft völkergewohnheitsrechtlicher Geltung Bestandteil des universellen Völkerrechts war. 495 Der Heimatstaat verhilft seinen Angehörigen auf diese Weise zur Durchsetzung von Rechten, die diese aufgrund der Rechtsordnung des Aufenthaltsstaates oder des Völkerrechts besitzen, und kann die Interessen seiner Angehörigen zu diesem Zweck auch als eigenes Recht durch Anrufung internationaler Gerichte geltend machen. Zum anderen kann der Heimatstaat auch eine Wiedergutmachung von Schäden fordern, die er selbst in der Person seines Angehörigen durch dessen völkerrechtswidrige Behandlung im Aufenthaltsstaat erlitten hat. Umgekehrt schlägt sich der Schutzaspekt aber auch in völkerrechtlichen Pflichten des Heimatstaates nieder: Er muß seine Angehörigen nach allgemeinem Völkerrecht zurück- und aufnehmen, wenn sie anderwärts ausgewiesen werden. 496 Als spezielle Vertragspflicht ist dies etwa im Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 niedergelegt, der in Art. 8 (b) bestimmt, daß die Vertragsstaaten verpflichtet sind, jeden ihrer Staatsangehörigen zu übernehmen, die von anderen Vertragsstaaten bei Hilfsbedürftigkeit zulässigerweise rückgeschafft werden. 497 Und da nach allgemeinem Völkerrecht kein Staat verpflichtet ist, fremde Staatsangehörige aufzunehmen, darf auch kein Staat seine eigenen Angehörigen in fremde Staaten abschieben.498 Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls vom 16.9.1963 4 " zur Europäischen Menschenrechtskonvention bestätigt und entfaltet diesen Grundsatz, indem er als Individualrecht verbürgt, daß (1) niemand aus dem Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch Einzel- oder Kollektivmaßnahmen ausgewiesen werden darf, und (2) niemandem das Recht entzogen werden darf, in das Hoheitsgebiet des Staates einzureisen, dessen Staatsangehöriger er ist. Eine vergleichbare vertragliche Verbürgung findet sich in Art. 12 Abs. 4 des weltweit geltenden Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR), der etwas weicher formuliert: 494

BGBl. 1964 II, 958; internat. Quelle: UNTS Vol. 500, 95 (in Kraft getreten am 24.4.1964; heute mehr als 174 Vertragsparteien); bzw. BGBl. 1969 II, 1587 (in Kraft getreten am 19.3.1967; heute mehr als 144 Vertragsparteien). 495 Zum Schutzrecht des Heimatstaates in seinen verschiedenen Ausprägungen mit umfangreichen weiteren Nachw. Verdross/Simma (Fn. 110), §§ 1226 ff, zu der (sich für die Bundesrepublik zuletzt in der Albanien-Krise stellenden) Frage, ob dies auch das Recht des Heimatstaates umfasse, seine Angehörigen auf ausländischem Gebiet mit Waffengewalt zu schützen, s. §§473, 1338. 496 Siehe dazu schon de Boeck, L'expulsion (Fn. 370), 452. 497 BGBl. 1956 II, 564. 498 De Boeck (Fn. 370), 447 f., 456. 499 BGBl. 1968 II, 423. Es gilt für Belgien, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Irland, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Zypern, Griechenland, Schweiz, Türkei, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland.

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„Niemand darf willkürlich das Recht entzogen werden, in sein eigenes Land einzureisen". Daneben enthalten die menschenrechtlichen Abkommen - gemeint sind neben dem IPbürgR insbesondere jene, die die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen betreffen - auch Bestimmungen, die die Ausweisung von Ausländern an bestimmte Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen knüpfen. 500 Diese völkervertraglichen Regelungen erinnern in nahezu frappierender Weise an die 1816 zwischen den süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg (und in der Folgezeit auch zwischen weiteren deutschen Kleinstaaten) getroffene Übereinkunft „wegen wechselseitiger Uebernahme der Vaganten und anderer Ausgewiesenen".501 Und es mutet wie eine leise Ironie der Geschichte an, daß sich dank der „Globalisierung" des Flüchtlingsproblems heute inhaltlich vergleichbare Bestimmungen - zum Teil dann allerdings immerhin in Gestalt individualrechtlicher Verbürgungen - in regionalen wie in universell gültigen Abkommen wiederfinden, die den internationalen Schutz der Menschenrechte betreffen. Hier liegt auch der Schlüssel dafür, daß Staaten sich trotz des dargestellten engen Zusammenhangs zwischen den institutionellen Bedingungen der Staatlichkeit samt der Souveränitätsfrage einerseits und der Staatsangehörigkeit andererseits in diesen Abkommen bereit finden, ihre Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzungen de jure oder als Flüchtlinge de facto Staatenlose zu verleihen: Staatenlosigkeit bildet eben nicht nur aus der Sicht der Betroffenen ein gravierendes Problem und ist nicht nur im menschenrechtlichen Kontext von Bedeutung, sondern stellt gleichzeitig einen Störfaktor im zwischenstaatlichen Verkehr der Staaten dar. Die Ausweisungsmöglichkeiten und Aufhahmepflichten sind wechselseitig aufeinander bezogen und funktionieren - wie man schon Anfang des letzten Jahrhunderts erkannte - nur unter der Bedingung, daß jede Person eindeutig einem bestimmten Staat als dessen Angehöriger zugeordnet werden kann. Läßt man menschenrechtliche Erwägungen einmal beiseite, so ist es wohl zutreffend, daß „der Staat" Personen, die nicht seine Angehörigen sind, überhaupt nur einreisen läßt, weil er notfalls die Möglichkeit hat, sie aus500

Art. 13 IPbürgR (Fn. 110) lautet: „Ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhält, kann aus diesem nur auf Grund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden, und es ist ihm, sofern nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit entgegenstehen, Gelegenheit zu geben, die gegen seine Ausweisung sprechenden Gründe vorzubringen und diese Entscheidung durch die zuständige Behörde oder durch eine oder mehrere von dieser Behörde besonders bestimmte Personen nachprüfen und sich dabei vertreten zu lassen". Siehe auch Art. 32 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II, 560; s. auch oben Fn. 431) und Art. 31 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28.9.1954 (BGBl. 1976 II, 474). 501 Vgl. oben S.130f.

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zuweisen und abzuschieben502 - und eben dies ist im Falle der Flüchtlinge und Staatenlosen auf legalem Wege faktisch ausgeschlossen. Angesichts der von Hannah Arendt plastisch (wenn auch überzogen) geschilderten Gefahren illegaler Praktiken und der damit verbundenen negativen Auswirkungen, 503 die die Beziehungen der Staaten untereinander nachhaltig belasten könnten, ist es auch unabhängig von menschenrechtlichen Gesichtspunkten - klüger, das Problem der Staatenlosigkeit offensiv anzugehen und gemeinsam zu lösen, indem sich jeder verpflichtet, sonst staatenlosen Personen bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen seine Staatsangehörigkeit zu verleihen. 504 Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, daß Staaten, die sich im Rahmen derartiger Abkommen binden, dies (auch) aus einer menschenrechtliche Motivation heraus tun. Diese mag für die Ratifikation des jeweiligen Abkommens sogar ausschlaggebend sein, zumal sich die Vertragsstaaten ja stets mit dem „free-rider"-Problem konfrontiert sehen, und sich, wenn ihnen der Schutz der Menschenrechte kein besonderes Anliegen wäre, ebenso verhalten könnten. Gleichzeitig steht jedoch außer Frage, daß diese spezifisch staatliche Interessen berücksichtigenden Gründe, die gleichfalls für eine Ratifikation derartiger Abkommen sprechen, deren Durchsetzungschancen erheblich verbessern dürften. Doch zurück zu jenen, die den Status des Angehörigen bereits besitzen. Sie sind im Ausland durch die rechtliche Zugehörigkeit zu ihrem Heimatstaat insofern privilegiert, als sie unter seinem besonderen Schutz stehen. Zugleich sind sie auch dort seiner Personalhoheit unterworfen, sind ihm also gehorsamspflichtig. Diese Gehorsamspflicht aktualisiert sich in Ge- und Verboten des Heimatstaates, die allerdings nur völkerrechtskonform sind, sofern sie die Rechtsordnung des Aufenthaltsstaates respektieren, und nicht zuletzt auch im Rückrufrecht des Heimatstaates. Dieser kann seine Angehörigen auch aus dem Ausland zum Wehrdienst einberufen, ohne daß der Aufenthaltsstaat die fremden Staatsangehörigen daran hindern dürfte, dem Folge zu leisten - und schon gar 502

Siehe dazu de Boeck, L'expulsion (Fn. 370), 448, 456. Herrschaft (Fn. 217), bes. 592 ff. 504 Der Umstand, daß das Grundmuster der staatlich festgesetzten Angehörigkeitsregeln sich nicht an den Menschenrechten orientiert, hindert den Staat selbstverständlich keineswegs daran, sein weites Ermessen hinsichtlich der Frage, wem er seine Staatsangehörigkeit verleihen will, auch unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten einzuschränken: Ebenso wie ausländische Fußballspieler - so etwa im Falle Sean Dundees - „schnell und unbürokratisch" eingebürgert werden können, sofern das im nationalen Interesse liegt, ist dies natürlich auch bezogen auf Flüchtlinge und Staatenlose möglich. Eine menschenrechtlich fundierte Verfassung legt eine entsprechende Entscheidung immerhin nahe. (Jedenfalls sollten ihre Vorgaben und ihre integrative Kraft gegenüber dem Fußballspiel als herausgehobenem Faktor nationaler Integration nicht zurückstehen!) 503

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nicht darf er sie zu seinem eigenen Militärdienst verpflichten. Denn ein Angehöriger, der einem anderen Staat Dienste leistet, verletzt seine Treuepflicht gegenüber dem Heimatstaat und selbst das oben erwähnte Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit sieht in Art. 8 Abs. 3 a) i) ausdrücklich vor, daß die Vertragsstaaten sich für diesen Fall die Möglichkeit vorbehalten können, den betreffenden Personen ihre Staatsangehörigkeit ihrem innerstaatlichen Recht gemäß zu entziehen.505 Insbesondere der Militärdienst, der im Ernstfall sogar das Opfer des Lebens fordern kann, ist nicht nur ein Anwendungsfall gesteigerten Gehorsams, sondern appelliert zugleich an die Treuepflicht des Staatsangehörigen; 506 und dies wird im Verhältnis der Staaten untereinander auch respektiert. Es steht zu erwarten, daß sich die Trias von Schutz, Gehorsam und Treue in der innerstaatlichen Rechtsordnung wiederfindet und sich dort in besonderen Rechtspositionen, aber auch besonderen Pflichten der Staatsangehörigen ausformt, daß sie also etwas mit dem „dem Staat als solchen" eingestifteten Zweck zu tun hat. Und in der Tat ist bekanntlich für Thomas Hobbes, den großen Theoretiker des neuzeitlichen Staates, der Zweck allen Gehorsams Schutz. Dies hat zur Konsequenz, daß die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän überhaupt nur so lange besteht, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann und nicht länger. 507 Schutz- und Gehorsamspflichten als Gegenstand des 505

Vgl. dazu oben Fn.450. Hierzu und zum folgenden Böckenförde, Staatsangehörigkeit (Fn.460), 431 ff; anders Grawert, Staat (Fn.386), 102ff. (106f.), der die Militärpflicht im Territorialstaat vornehmlich als Anwendungsgebiet des Gehorsams sieht, während die Treue als tragender Grund zurücktrete. Dabei wird aber wohl übersehen, daß die Gehorsamspflicht für eigene Angehörige und für die sich im Staatsgebiet aufhaltenden Ausländer gleichermaßen gilt und sich allein auf die Befolgung der Gesetze bezieht, während die in der älteren deutschen Literatur so emphatisch betonte „Pflicht, im Kriegsfalle das Vaterland mit Leib und Leben zu schützen" (vgl. Philipp Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 1. Aufl. Berlin/Leipzig 1880, 272 ff. [280]) substantieller Natur ist: Sie basiert gerade auf der besonderen Nähebeziehung - nur der eigene Angehörige ist seinem Staat in besonderer Weise zur Treue verpflichtet - und besitzt eine ethische Dimension. Erst vor diesem Hintergrund ist es möglich, ein Opfer zu fordern, das bei weitem das übersteigt, was der Staat qua Gebietshoheit auch von jedem Ausländer im Lande an „Gehorsam" verlangen dürfte. P. Zorn (aaO, 276 f.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß daher auch „der ,Verrath' von Ausländern (...) ein principiell anderes Delict als der Verrath von Staatsangehörigen an der dem Vaterland schuldigen Treue" sei; eingehend dazu auch Laband, Staatsrecht I (Fn.296), 5. Aufl., 140 ff. (zum Bsp. des Hoch- und Landesverrats s. 143 ff.). 507 Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme And Power of a Commonwealth Ecclesiasticall And Civil, ed. Michael Oakeshott, Oxford 1957, Part 2, Chap. 21, p. 144: „The obligation of subjects to the sovereign is understood to last as long, and no longer, than the power lasteth, by which he is able to protect them. (...) The end of obedience is 506

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den Staat legitimierenden Herrschaftsvertrages obliegen zwar jeweils nur einem Teil der beiden Vertragsparteien, bedingen sich aber wechselseitig, und für die auf dieser Grundlage entstehende Rechtsbeziehung zwischen „sovereign" und „subject" ist „the mutual relation between protection and obedience" nach Hobbes konstitutiv. Dies gilt, ungeachtet aller staatlichen Zwecksetzungen im einzelnen, auch heute noch. 508 Die staatsrechtliche Literatur greift, sofern sie die Staatsangehörigkeit nicht ausschließlich formal bestimmt, sondern ihr einen substantiellen Gehalt zuschreibt, nach wie vor auf die klassische Trias von Schutz, Gehorsam und Treue zurück: „Die Reichsangehörigen haben gegen das Reich dieselben Pflichten, welche in jedem Staate den Staatsangehörigen obliegen, nämlich zum verfassungsmäßigen Gehorsam und zur Treue" heißt es in Paul Labands „Staatsrecht des Deutschen Reiches" von 1876, und weiter: Als Inhalt des Staatsbürgerrechts sei anzuerkennen „der Anspruch des einzelnen Staatsbürgers auf die Erfüllung der Aufgaben, welche der Staat seinen Angehörigen gegenüber übernommen hat". Insbesondere stehe ihm ein Anspruch auf „Schutz im Auslande und Schutz im Inlande" zu, wobei letzteres auch ein „Wohnrecht" im Staat umfassen soll. 5 0 9 protection". Allgemein zum heutigen Streit um Hobbes s. H. Hofmann, Bemerkungen zur Hobbes-Interpretation, in: Recht - Politik - Verfassung (Fn. 86), 58 ff. 508 Hobbes Lehre vom Herrschaftsvertrag trachtet bekanntlich ebenso wie die nachfolgenden Theorien vom Gesellschafts- und Staatsvertrag danach, die einseitige souveräne Staatsgewalt an die grundlegenden Staatszwecke rückzubinden und darüber zu legitimieren, setzt also beim modernen Staat an. Die Trias von Schutz, Gehorsam und Treue als solche ist allerdings keine „Erfindung" des modernen Staates, sondern zählt zu den fast archetypischen Konstanten einer Herrschaftsbeziehung, ohne daß deshalb eine inhaltliche Übereinstimmung gegeben wäre. Der zu landesherrlichen Zeiten geschuldete Schutz und Gehorsam ist natürlich, wie Grawert, Staat (Fn.386), 102ff. (103), zutreffend feststellt, nicht mit der Position des heutigen Staatsangehörigen zu vergleichen, auch wenn sie mit denselben Begriffspaaren umschrieben wird. Es muß daher stets versucht werden, die zeitgebundene Bedeutung dieser klassischen Trias aus der konkreten Verfassungssituation heraus zu ermitteln. 509 Laband, Staatsrecht I (Fn.296), l.Aufl.: 137, 150ff. (vgl. auch 152, Fn. 1 zum Wohnrecht), 5. Aufl., 140, 152 ff. (bes. auch 154, Fn. 1); s. auch Fn.488. Auch bei P. Zorn gehört die Pflicht des Staates, seinen Angehörigen „Schutz und Rechtssicherheit nach Maßgabe der Gesetze zu gewähren" ebenso zum „Rechtsinhalt der Staatsangehörigkeit" wie deren Pflicht zu Gehorsam und Treue (vgl. Staatsrecht [Fn. 506], 252 ff. [272 ff]). Andere zeitgenössische Autoren betonen hingegen allein die Pflichtenseite, vgl. etwa Max v. Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 1. Bd., München 1884, 558: „Der rechtliche Inhalt der Staatsangehörigkeit ist durch den Begriff selbst gegeben. Die Staatsangehörigkeit ist Unterthänigkeit unter die Staatsgewalt. (...) Aus ihr ergibt sich die Verpflichtung zum Gehorsam gegen die Staatsgewalt", wobei dies die Treuepflicht mit einschließen soll. Etwas anders Conrad Bornhak, Preußisches Staatsrecht, 1. Bd.,

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Nun ist es aus der heutigen verfassungsstaatlichen Perspektive heraus natürlich kaum möglich, modernen Staat und Verfassungsstaat trennscharf gegeneinander abzugrenzen. Zum einen sind die Übergänge bezogen auf den Gegenstand des staatlichen Schutzes fließend - von der nackten Existenzsicherung, dem Schutz von Leben und Gesundheit über einen etwas höheren Standard von Sicherheit, Frieden und (guter) Ordnung, der im Zusammenhang mit dem Gewaltmonopol zu sehenden Justizgewähr, dem Schutz des Eigentums bis hin zum Schutz der Freiheit. Zum anderen lassen sich im Verfassungsstaat auch jene Grundgüter, deren Schutz wie bei Leben und Gesundheit unter dem Gesichtspunkt der Existenzsicherung (anders als der verfassungsabhängige Aktivbürgerstatus) „dem Staat" zugeschlagen werden könnten, nicht mehr „verfassungsneutral" betrachten: Die allgemeine Schutzpflicht des Staates wandelt sich auf der Grundlage von Individualgrundrechten wie Art. 2 Abs. 2 GG in eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht, die dann auch nicht mehr ausschließlich gegenüber den Staatsangehörigen besteht, sondern, da sie als objektive Schutzpflicht aus einem sog. Jedermanngrundrecht abgeleitet wird, dem Staat gegenüber allen Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes obliegt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Menschenrechtsidee und souveräne Staatsgewalt im Rahmen einer gelungenen verfassungsstaatlichen Synthese zusammenfinden, indem der Schutz elementarer Rechte des Menschen der staatlichen Gewalt zur Pflicht wird doch es hilft im Hinblick auf das Problem der Deutschenvorbehalte nicht weiter. Es kann infolgedessen nur umgekehrt bei den Deutschenrechten angesetzt und gefragt werden, inwieweit deren Vorbehalte in einem Zusammenhang mit der angehörigkeitsrechtlichen Grundbeziehung von Schutz und Gehorsam stehen bzw. im Zusammenhang mit jenen Aufgaben, die der Staat seinen Angehörigen gegenüber übernommen hat. Dabei ist klar, daß, wenn es um dieses „verfassungsneutrale" Grundverhältnis geht, nur die Deutschengrundrechte gemeint sein können, die demokratischen Mitwirkungs- und Teilhaberechte also ausgeklammert werden müssen. Zudem ist unter dem Gesichtspunkt der Privilegierung der Staatsangehörigen nur das von Bedeutung, was der Staat leistet, also seine Schutzpflicht, die ganz Freiburg i. Br. 1888, 238 ff., insbes. 240, für den die Gehorsamspflicht das Wesen der Staatsangehörigkeit bezeichnet, der eine besondere Treuepflicht aber ablehnt, da „Treue" ein ethischer, kein juristischer Begriff sei. Diese Aufspaltung ist wenig überzeugend, denn die Treuepflicht steht eben nicht nur hinter bestimmten rechtlichen Pflichten (Wehrpflicht etc.), sondern sie gilt - anders als die Gehorsamspflicht - auch nur für die eigenen Staatsangehörigen (vgl. Fn. 506) und für diese, wie schon Laband (aaO, 140) zur Begründung ihrer Selbständigkeit anführt, auch im Ausland. Sie scheint also doch etwas mit dem „Wesen der Staatsangehörigkeit" zu tun zu haben, doch vermochte der von Bornhak vertretene formale staatsrechtliche Positivismus dies nicht zu erfassen. Zur neueren Lit. s. Fn. 488.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

allgemein die Gewährleistung und Verteidigung des Lebens und der Rechte gegen jedwede Art von Angriffen oder Beeinträchtigungen umfaßt 510 und den Angehörigen im weitesten Sinne zur Teilhabe an den „Wohltaten des staatlichen Gemeinwesens" berechtigt, 511 während die Gehorsams- und Treuepflicht des Angehörigen allenfalls unter dem (später zu behandelnden) Aspekt einer möglichen Rechtfertigung seiner Privilegierung eine Rolle spielen könnte.

(b)

Die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte

im Parlamentarischen Rat

Tatsächlich wird man bei den Deutschengrundrechten schnell fundig: Besonders deutlich zeigt sich die Absicht des Staates, seiner Pflicht zur „protection" gegenüber seinen Angehörigen nachzukommen, bei dem als Deutschenrecht ausgestalteten Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Sie fällt in den Bereich des Schutzes auf dem Gebiet der „oeconomia", wie man ihn im Sinne staatlicher Fürsorge durch eine wirtschaftlich notdürftige Lebenssicherung einerseits (Christoph Besold), 512 der aktiven Förderung der wirtschaftlichen Aktivitäten der Untertanen und der Erhaltung ihrer ökonomischen Existenzgrundlage andererseits (Samuel v. Pufendorf) 513 schon im 17. Jahrhundert seitens des Staates einzufordern begann. Dabei war im damaligen Kontext al510

Grawert, Staat (Fn. 386), 111. Laband, Staatsrecht I (Fn. 296), 5. Aufl., 153, wo er mit Genugtuung feststellt, daß Jellinek, System (Fn.230), 119, Fn. 1, zwar noch dagegen polemisiere, dann aber auf S. 132 doch anerkenne, daß dem Individuum Ansprüche zustehen „auf Versorgung und Förderung aller seiner mit Hilfe staatlicher Tat zu erfüllenden Interessen, insoweit das Gemeininteresse es gestattet. In dieser Formel kann der wesentliche Inhalt der Mitgliedschaft am modernen Staate zusammengefasst werden", wie es dort weiter heißt. 512 Vgl. Christoph Besold, Synopsis politicae doctrinae. Editio sexta Amsterdam 1648. Lib. II, Chapt. V i l i (De cura corporum subditorum), 251 ff. 513 Samuel v. Pufendorf hebt hervor, daß die Stärke des Staates auf der Tüchtigkeit und dem Wohlstand der Bürger beruhe, der Herrscher daher, soweit er könne, dafür sorgen müsse, daß das Vermögen der Bürger wachse. Das Mittel zu diesem Ziel sei, die Bürger zu veranlassen, aus Land und Wasser möglichst reiche Erträge zu gewinnen und ihren Fleiß aufzuwenden für alles, was bei ihnen selbst erzeugt wird, und all das, was sie selbst leicht erarbeiten können, nicht von anderen zu kaufen. Er spricht sodann ausdrücklich die Förderung des Handwerks und die Pflege von Handel und Schiffahrt an (De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo, zuerst Lund 1673, dt. u.d.T. Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. u. übersetzt v. Klaus Luig, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, 2. Buch, Kap. 11, § 11). - Vor jeder aktiven staatlichen Förderung auf dem Gebiet der „ oeconomia " steht allerdings das Gebot, den Bürgern keine unverhältnismäßig großen finanziellen Lasten aufzuerlegen oder gar Geld abzupressen (und ihnen dadurch die ökonomische Basis zu nehmen), vgl. ebd. Kap. 8, § 6 u. Kap. 11, § 10. 511

II. Nation und Nationalstaat

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lerdings nur an eine zugunsten der Gesamtheit der Untertanen bestehende objektive Schutzpflicht gedacht, während dies heute in einen individuellen Anspruch auf „Versorgung und Förderung" umgemünzt wird. 5 1 4 Auf dieser Linie liegt es, wenn ein einflußreiches Mitglied des Parlamentarischen Rates, nämlich Hermann v. Mangoldt, der als Vorsitzender des Grundsatzausschusses den dort erarbeiteten Entwurf für die Grundrechte maßgeblich prägte, zudem auch Mitglied des wichtigen Hauptausschusses, des Rechtspflege- und (in den letzten Wochen) des Redaktionsausschusses war, 515 die Deutschen vorbehalte der Freiheitsrechte, und insbesondere den des Art. 12 Abs. 1 GG, später mit den Worten erläutert: „Außer den spezifisch staatsbürgerlichen Rechten' sind als ,Rechte der Deutschen' auch die Rechte ausgestaltet worden, aus deren Ausdehnung auf Ausländer sich (...) Gefahren für eine ordnungsgemäße Versorgung der Inländer mit Arbeit und Brot ergeben hätte(n). (...) Schon mit Rücksicht auf die Schwierigkeit, ja vielleicht Unmöglichkeit, der großen Zahl der auf einem erheblich verkleinerten Staatsgebiet zusammengedrängten Deutschen ein auskömmliches Leben zu garantieren, konnte hier der Ausbau zu vollen Menschenrechten nicht vorgenommen werden". 516 Der die Privilegierung der Deutschen im Hinblick auf die Berufsfreiheit tragende Gedanke ist danach der, daß der Staat primär gegenüber seinen Staatsangehörigen in der Pflicht ist, ihnen „ein auskömmliches Leben zu garantieren", und zwar indem er ihnen - nunmehr durch die verfassungsrechtliche Garantie eines entsprechenden subjektiv-öffentlichen Rechts - die Möglichkeit einer eigenen Existenzsicherung verschafft. 517 Das hinter den Grundrechten und ihren Schrankenbestimmungen stehende menschenrechtliche Prinzip der gleichen Freiheit aller stößt bei der Berufsfreiheit also auf einen nationalen Vorbehalt, der durch die dem (verfassungsneutralen) Grundverhältnis entspringende Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Angehörigen getragen wird. 5,4

Vgl. dazu Fn. 511; s auch Grawert, Staat (Fn. 386), 112 m.w.N. Er hat diese Tätigkeit im Parlamentarischen Rat „als Krönung seiner Lebensarbeit als Hochschullehrer für öffentliches Recht empfunden"; s. dazu Christian Starck, Hermann von Mangoldt (1895-1953). Mitglied des Parlamentarischen Rates und Kommentator des Grundgesetzes, in: AöR 121 (1996), 438 ff. (441). 516 Hermann v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, Berlin/Frankfurt a.M. 1953, S.39, Vorbemerkungen 8. Zum sozio-ökonomischen Status der „Fremden" im Herrenchiemseer Entwurf, der noch alle Grundrechte bis auf das Wahlrecht als Menschenrechte formulierte (vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearb. v. Peter Bucher, Boppard a. Rhein 1981, 214 ff.), und anschließend im Parlamentarischen Rat s. Uwe Berlit, Das Grundgesetz und die »Fremden«. Bürger, Volk und Nation bei der Entstehung des Grundgesetzes, in: KJ 1/1994, 77 ff. (84 f.). 517 So ausdrücklich Quaritsch, Ausländer (Fn. 9), Rn. 105. 515

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Dies erschien den Mitgliedern des Grundsatzausschusses offenbar so selbstverständlich, daß sie die Frage, ob die Berufsfreiheit als Jedermann- oder als Deutschengrundrecht ausgestaltet werden sollte, im Ausschuß selbst nicht einmal diskutierten 518 - daher die nachträgliche Stellungnahme seines Vorsitzenden. Immerhin hatte der Herrenchiemseer Entwurf die Berufsfreiheit noch als Jedermanngrundrecht formuliert, auf das Grundrecht der Freizügigkeit, das nach der deutschen Verfassungstradition in einem besonderen Näheverhältnis zur Berufsfreiheit steht, 519 allerdings ganz verzichten wollen, weil man glaubte, daß „die gegenwärtigen Zustände der Durchführung unüberwindbare Hindernisse bereiten". 520 Auch im Parlamentarischen Rat wurde in der ersten Phase bei der Abgrenzung des Grundrechtsstoffes noch erörtert, inwieweit es angesichts der zum damaligen Zeitpunkt herrschenden Notlage tunlich oder vertretbar sei, gewisse überkommene Grundrechtsbestimmungen in den Katalog aufzunehmen. Es wurde auch der Standpunkt vertreten, daß es vermieden werden solle, Grundrechte wie die Freizügigkeit und die freie Wahl des Arbeitsplatzes in die Verfassung aufzunehmen, wenn infolge des wirtschaftlichen Ausnahmezustandes auf lange Zeit mit weitgehenden Einschränkungen zu rechnen sei. 521 Im weiteren Verlauf der Beratungen lieferte ein Unterausschuß (Redaktionskomitee) des Grundsatzausschusses dann einen Formulierungsvorschlag, der sich im Ansatz an die entsprechenden Bestimmungen der Paulskirchenverfassung und der Weimarer Reichsverfassung anlehnte522 und Freizügigkeit und Berufsfreiheit in einen einheitlichen Artikel (damals Art. 5) aufnehmen wollte. Dieser Entwurf kreiste jedoch nicht um die Frage „Jedermann- oder Deutschengrund-

518

Vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 133-138. Siehe dazu Rüdiger Breuer, Freiheit des Berufs, in: HdbStR VI, § 147, 877 ff., Rn. 1 ff., bes. 1 f., 4 u. 9. 520 Vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 128 m.w.N. 521 So der Abgeordnete Zinn (SPD) in der dritten Sitzung des Grundsatzausschusses (21.9.1948); vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16)( 44; s. dazu auch ders., 128. 522 Die Paulskirchenverfassung erkannte jedem Deutschen das Recht zu, „an jedem Ort des Reichsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, Liegenschaften jeder Art zu erwerben und darüber zu verfügen, jeden Nahrungszweig zu betreiben, das Gemeindebürgerrecht zu gewinnen" (§ 133 Abs. 1). Diese Garantie der „wirtschaftlichen Freizügigkeit" wurde im Rahmen der „Kulturgrundrechte" durch § 158 ergänzt, wonach es jedem freistehen sollte, „seinen Beruf frei zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will" (Frankfurter Reichsverfassung v. 28.3.1849, RGBl., 16. Stück, 24.4.1849, 101 [129]). Nach Art. 111 WRV hatte jeder das Recht, „sich an beliebigem Orte des Reichs aufzuhalten und niederzulassen, Grundstücke zu erwerben und jeden Nahrungszweig zu betreiben". Wie Anschütz, Verfassung (Fn.254), Art. 111, 539, Anm. 1, zutreffend feststellte, war von dieser Garantie der (wirtschaftlichen) Freizügigkeit auch die Freiheit der Berufswahl umfaßt; dazu auch Breuer (Fn. 519), Rn. 4. 519

II. Nation und Nationalstaat

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recht", sondern vielmehr darum, ob Grundrechtsträger alle „Deutschen" oder nur „Bundesangehörige" sein sollten. 523 An diesem Diskussionsschwerpunkt änderte sich auch nichts, als sich der Grundsatzausschuß, einem Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses folgend, 524 in seiner 23. Sitzung am 19.11.1948 entschloß, die Freizügigkeit von der Berufsfreiheit abzukoppeln und die beiden Materien getrennt in zwei Artikeln (Endf. Art. 11 und 12 GG) zu behandeln.525 Der Allgemeine Redaktionsausschuß hatte gleichzeitig empfohlen, beide Grundrechte als Deutschenrechte zu fassen, den Begriff des „Bundesangehörigen" also durch den des „Deutschen" zu ersetzen, doch wurde die entsprechende Änderung in beiden Fällen letztlich erst nach zahlreichen weiteren Sitzungen während der zweiten Lesung des Hauptausschusses (44. Sitzung vom 19.1.1949) vorgenommen. 526 Ausführlich erörtert wurde sie nur in Bezug auf die Freizügigkeit. Hier erläuterte v. Mangoldt zunächst, daß der Unterausschuß des Grundsatzausschusses sich nicht dem Vorschlag eines SPD-Abgeordneten angeschlossen habe, das Recht der Freizügigkeit „allen Deutschen" zu garantieren, „weil wir damit Pflichten übernehmen würden, die zu erfüllen wir außerstande sind. Wir würden damit den 16 Millionen Deutschen östlich unserer Grenzen die Möglichkeit geben, ohne weiteres von dem Recht der Freizügigkeit und der freien Wahl des Aufenthalts und Wohnsitzes im Bundesgebiet Gebrauch zu machen. Wir sind dabei von der Möglichkeit ausgegangen, daß Flüchtlinge auf Grund Landesrechts innerhalb

523

Er lautete: „(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Jeder Bundesangehörige hat das Recht, an jedem Ort des Bundesgebiets seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen sowie seinen Beruf und Arbeitsplatz frei zu wählen. / Dem Gesetz bleibt es vorbehalten, die Berufsausübung [dort versehentlich „Berufsbildung"] zu regeln"; vgl. dazu: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 5: Ausschuß für Grundsatzfragen, Teilbd. I u. II, bearb. v. Eberhard Pikart/ Wolfram Werner, Boppard a. Rhein 1993, hier: 5/1, 88 mit Fn.3, 89 ff.; s. auch JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 128, 133, zur Diskussion selbst 128 ff. Berlit (Fn.516), 84, sieht in der engen Verknüpfung von Freizügigkeit und Arbeits- und Berufsfreiheit zu Beginn der Beratungen im Parlamentarischen Rat den Schlüssel für die Begrenzung der für eine Marktgesellschafl zentralen Chancen des Zugangs zum Arbeitsmarkt auf die Deutschen. 524 Vom 16.11.1948, Drs. 282, vgl. Parlamentarischer Rat. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Entwürfe). Formulierungen der Fachausschüsse, des Allgemeinen Redaktionsausschusses, des Hauptausschusses und des Plenums Bonn 1948/49, Bonn 1949, 17 f.; s. auch JöR, n.F, Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 128, 135. 525 Vgl. dazu: Der Parlamentarische Rat (Fn.523), Bd.5/II, 613; sowie JöR, n.F, Bd. 1, 1951 (Fn. 16), aaO. 526 JöR n.F, Bd. 1, 1951 (Fn. 16), aaO, 130 f., 137.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

von drei Monaten das Wahlrecht haben, also Staatsbürger werden und so als Bundesangehörige gelten". 527 Von Mangoldt hat seinen Standpunkt später im Grundsatzausschuß (32. Sitzung) sowie im Hauptausschuß wiederholt bekräftigt und sich erneut gegen den Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses gewandt, die Freizügigkeit „allen Deutschen" zu garantieren, da es praktisch unmöglich sei, jedem Angehörigen der östlichen Länder das Recht zu geben, „an jedem Ort der Bundesrepublik Wohnsitz zu nehmen". Man könne es nur, wenn sie Bundesangehörige würden, und diese Fassung der Freizügigkeit solle auch keineswegs ausschließen, daß „die Vertriebenen und Flüchtlinge nun auf unserer Seite Unterkunft und ein Heim finden". Nur im Hinblick auf die rechtliche Gestaltung werde es schwierig sein, „einen so allgemeinen Satz zu finden, daß es ermöglicht wird, diese Verhältnisse mit unmittelbar bindender Kraft zu regeln". 528 Dagegen wandte der Vorsitzende des Hauptausschusses Schmid ein, daß diese Gründe vom administrativen Standpunkt aus ohne Frage „höchst beherzigenswert" seien, aber mit der Beschränkung dieses Rechts auf Bundesangehörige doch eine Zäsur zwischen den Deutschen, die im Osten leben, und den Deutschen, die im Westen leben, geschaffen werde, die verfassungsrechtliche Festigkeit bekomme. 529 Schließlich wurde auf den Änderungsantrag der SPD-Fraktion hin „alle Bundesangehörigen" durch „alle Deutschen" ersetzt; die gleiche Änderung nahm man in derselben Sitzung auf Antrag eines CDU-Abgeordneten ohne weitere Diskussion auch bezüglich der Berufsfreiheit vor. 5 3 0 Man hat sich im Parlamentarischen Rat also mit einer gewissen Kraftanstrengung bei den Grundrechten der Freizügigkeit und der Berufsfreiheit von einem „Bundesangehörigen-" zu einem „Deutschenvorbehalt" hochgehangelt. Davon, diese Grundrechte in der Diktion v. Mangoldts zu „vollen Menschenrechten" auszubauen, war in diesem Gremium aber mit keinem Satz die Rede. Bezüglich der Versammlungsfreiheit, die der Herrenchiemseer Entwurf ebenfalls als Jedermanngrundrecht ausgestalten wollte, hat man diese Frage im Grundsatzausschuß auf einen entsprechenden Vorschlag der KPD-Fraktion hin zumindest erörtert, im Ergebnis aber abgelehnt. Dabei wurde betont, daß dies nicht bedeute, daß Ausländer keine Versammlungsfreiheit haben sollten, son527

Vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 129. Vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 129 f. 529 Vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 130 f. Es heißt dort weiter: „Wir gehen bei unserem Werk doch davon aus, daß das, was wir hier schaffen, (...) nicht ein separater Weststaat ist, sondern nur eine Form, in der sich das deutsche Volk organisiert, wo man ihm die Möglichkeit, sich zu organisieren, gegeben hat, daß aber die deutsche Republik nach wie vor auf ihrem Gebiet besteht, daß also hüben wie drüben des Eisernen Vorhangs Deutsche sind (...)". 530 Vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 137. 528

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dem daß man sie hier nur „administrativ oder sonstwie" leichter einschränken könne. 531 Die Notwendigkeit weitergehender Beschränkungsmöglichkeiten als bei Deutschen wird weder im Ausschuß noch bei den abschließenden Lesungen im Plenum in irgendeiner Weise begründet, 532 sondern stillschweigend vorausgesetzt. Da allgemeine Gesichtspunkte wie etwa der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowohl in Bezug auf Deutsche als auch im Hinblick auf Ausländer eine Rolle spielen können, sind sie nicht geeignet, eine Differenzierung zwischen diesen Personengruppen zu rechtfertigen. Das spricht dafür, daß man für eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit spezielle ausländerrechtliche Gründe, wie sie heute in § 37 AuslG für eine mögliche Beschränkung oder Untersagung der politischen Betätigung von Ausländern angeführt werden, vor Augen gehabt hat. So mag es sein, daß man fürchtete, sich die innenpolitischen Konflikte der jeweiligen Heimatstaaten „ins Land zu holen" und gegebenenfalls nicht in hinreichendem Maße eingreifen zu können, wenn man dies etwa unter dem Gesichtspunkt der Pflege der auswärtigen Beziehungen - für erforderlich halten sollte. Motiv für den Deutschenvorbehalt bei der Versammlungsfreiheit wären demnach spezifisch staatliche Interessen, die jedoch (ähnlich der heutigen einfachgesetzlichen Regelung in §37 Nr. 2 AuslG, der außenpolitische Interessen und völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland benennt) weniger nach innen auf den Schutz der eigenen Angehörigen als vielmehr nach außen auf die Beziehungen zu anderen Staaten zielen und dabei an der rechtlichen Zugehörigkeit des Ausländers zu seinem Heimatstaat anknüpfen. Im Ergebnis führt der Umstand, daß bei Ausländern besondere Gründe für eine Freiheitsbeschränkung denkbar sein könnten, die bei Deutschen entfallen, natürlich ebenso zur Privilegierung der Deutschen wie Gründe, die sich direkt auf die angehörigkeitsrechtliche Beziehung der Deutschen zu „ihrem" Staat zurückführen lassen. Aber auch solche Gründe lassen sich benennen, und zwar sowohl für die Versammlungs- wie auch die Vereinigungsfreiheit: Bekanntlich werden diese beiden Grundrechte auch als „demokratie-fünktionale" Rechte bezeichnet, und die hinsichtlich des „demokratie-funktionalen" Aspekts erfolgende Privilegierung der Deutschen wurzelt nach herrschender Lesart unmittelbar in deren Zugehörigkeit zum Staatsvolk als Träger der - demokratisch legitimierten - Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 GG). Allerdings dürfte dieser Grund für eine verfassungsrechtliche Besserstellung der Deutschen kaum noch dem „ver531

Der bei der 25. Sitzung des Grundsatzausschusses diskutierte Vorschlag der KPDFraktion lautete: „Alle Menschen haben das Recht, sich überall ohne Anmeldung und ohne besondere Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln"; vgl. JöR, n.F, Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 114. 532 Bei den abschließenden Lesungen im Plenum wurde die Versammlungsfreiheit überhaupt nicht mehr erörtert; vgl. JöR, n. F, Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 116.

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fassungsneutralen Grundverhältnis" zuzuschreiben sein, so daß alle weiteren damit zusammenhängenden Fragen (einschließlich gewisser Zweifel an seiner Stichhaltigkeit) zunächst noch zurückgestellt werden sollen. Bleiben noch die für den Deutschenvorbehalt der Vereinigungsfreiheit im Parlamentarischen Rat angeführten Gründe nachzutragen: Zum einen wurde in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß diese Fassung der Bundesrepublik die Möglichkeit eröffne, durch Staatsverträge mit ausländischen Staaten auf Gegenseitigkeit den Deutschen im Ausland die „Vereinsfreiheit" zu sichern. Das heißt, hier wird der Gedanke des Schutzes der eigenen Angehörigen nicht wie bei der Berufsfreiheit schon durch den Deutschenvorbehalt selbst realisiert, sondern mittelbar auf der Basis der Reziprozität angestrebt (was im übrigen gleichermaßen für die Versammlungsfreiheit gilt, auch wenn sich dort keine ausdrückliche Erwähnung dieses Arguments findet). Zum anderen wurde auch auf das Vorbild ausländischer Verfassungen - namentlich der belgischen hingewiesen.533 Tatsächlich läßt sich generell feststellen, daß nicht nur bezüglich der Vereinigungsfreiheit, sondern auch hinsichtlich der Aufenthaltserlaubnis und des Zugangs zum Erwerbsleben die Rechtspositionen von Ausländern, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates besitzen, innerhalb der Staaten der Europäischen Union nahezu durchgängig in vergleichbarer Weise ausgestaltet sind. 534 Insgesamt ist die Ausbeute an Argumenten, die hinsichtlich der Deutschenvorbehalte bei der Erörterung der einzelnen Grundrechte ausgetauscht wurden, recht mager. Hier bestätigt sich, was oben bereits vermutet wurde: Im Gegensatz zu der ganz bewußt und vor den Augen der Weltöffentlichkeit bekenntnishafit-demonstrativ vollzogenen „menschenrechtlich-universalistischen Wende" des Grundgesetzes wurden die den einzelnen Grundrechten beigefügten nationalen Vorbehalte kaum reflektiert. 535 Einerseits empfand man sie, wie auch der Hinweis auf die belgische Verfassung im Parlamentarischen Rat zeigt, im Vergleich zur Praxis in anderen westlichen Demokratien als keineswegs unge533 Der Herrenchiemseer Entwurf hatte auch die Vereinsfreiheit als Jedermanngrundrecht ausgestalten wollen, doch der Grundsatzausschuß billigte während seiner 6. Sitzung am 5.10.1948 die von einem Unterausschuß (Redaktionskomitee) vorgeschlagene Fassung als Deutschenrecht; vgl. JöR, n.F. Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 116 f. Der Abgeordnete v. Mangoldt (CDU) und der Abgeordnete Zinn (SPD) verwiesen zur Begründung neben dem Reziprozitäts-Argument und dem Verweis auf ausländische Verfassungen auch auf Art. 124 WRV. 534 Vgl. dazu Jochen Abr. Frowein / Torsten Stein, Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht, Bd. 1 u. 2, Berlin/Heidelberg/New York u.a.O. 1987; s. insbes. die vergleichenden Berichte in Bd. 2, 1853-1971; so - bezugnehmend auf diesen Bericht - auch Quaritsch, Ausländer (Fn. 9), Rn. 106. 535 Siehe oben S. 126.

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wohnlich. Andererseits waren nationale Vorbehalte im Grundgesetz (anders als in der Weimarer Reichsverfassung) auch nicht mehr die Regel, sondern ohnehin nur noch eine auf ganz bestimmte Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte beschränkte Ausnahmeerscheinung. Soweit sich aber überhaupt Äußerungen zu den Deutschenvorbehalten finden, treten drei Punkte deutlich zu Tage: Erstens, um noch einmal im Anschluß an Kelsen eine Selbstverständlichkeit auszusprechen: 536 Die Deutschenvorbehalte der Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 11 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG sind Ausdruck einer bewußten und gewollten Privilegierung der Deutschen im Verhältnis zu den Angehörigen anderer Staaten. Zweitens, da die genannten Grundrechte als sogenannte „klassische" Freiheitsrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion bestimmte Freiheitsbetätigungen des einzelnen schützen und dadurch, wie oft plakativ formuliert wird, seine Freiheit „vom Staat" sichern sollen, hat diese Besserstellung der eigenen Angehörigen (anders als bei dem viel diskutierten Wahlrecht) nichts mit „Demokratie" und der Zugehörigkeit zum „demos" zu tun, sondern entspringt dem verfassungsneutralen angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zum Staat und aktualisiert hier vornehmlich seine Schutzpflicht. Dabei ist dieser staatliche Schutz - obgleich es um Vorbehalte zu Freiheitsrechten geht - nicht primär auf den Schutz bestimmter Freiheitsbetätigungen ausgerichtet, sondern zielt in einem existentiellen Sinne auf die Sicherung von Lebenschancen der Deutschen im Inland und ihrer Rechte im Ausland: So ging es den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates bei der Berufsfreiheit, wie v. Mangoldt später erläutert, darum, in Zeiten wirtschaftlicher Not zunächst einmal den Deutschen „ein auskömmliches Leben" zu sichern. Bezüglich der Freizügigkeit spielen ganz ähnliche Erwägungen eine Rolle. Viele Städte lagen nach den Luftangriffen der letzten Kriegsmonate noch in Schutt und Asche, Wohnraum war in der Nachkriegszeit also ein knappes Gut; und man glaubte, daß der Staat in erster Linie gegenüber seinen eigenen Angehörigen in der Pflicht sei, sie mit Wohnraum zu versorgen, 537 man zumindest nur ihnen eine freie Wahl des Wohnortes gewährleisten könne. Im Hinblick auf die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit kommt (sofern man den demokratiefunktionalen Aspekt ausklammert) der Gedanke des Schutzes der eigenen Angehörigen mittelbar auf der Basis der Reziprozität zum Tragen. Im übrigen werden hier wohl auch spezielle ausländerrechtliche Gründe eine Rolle gespielt haben, die an der rechtlichen Zugehörigkeit des Ausländers zu seinem Staat anknüpfen und im Einzelfall eine Freiheitsbeschränkung ihm gegenüber recht536

Vgl. dazu das Kelsen-Zitat oben auf S. 92. Neben dem Recht des Angehörigen auf Schutz seitens des Staates wird das „Wohnrecht" in der Literatur gelegentlich auch gesondert aufgeführt; s. die Nachw. bei Makarov, Allgemeine Lehren (Fn. 484), S. 29, Fn. 85, 86. 537

12 Siehr

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fertigen könnten, die bei Deutschen jedenfalls aus diesem Grunde nicht denkbar wäre. Das heißt, die Deutschenvorbehalte der Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1,11 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG stehen - ungeachtet gewisser Unterschiede im einzelnen allesamt im Bezugs- und Kraftfeld des verfassungsneutralen Begriffs des Staates und des im Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit verkörperten Prinzips der Staatsmitgliedschaft. Dabei formen sie den Schutzaspekt als völkerrechtlich vorausgesetzten, aber innerstaatlich umzusetzenden substantiellen Kerngehalt des Angehörigkeitsverhältnisses bezogen auf bestimmte grundrechtlich geschützte Lebensbereiche für die Mitglieder des Staatsverbandes - also die Deutschen - näher aus oder akzentuieren vereinzelt auch nur spezifisch staatliche (z.B. außenpolitische) Interessen, die gegenüber „Nichtmitgliedern" geltend gemacht werden können. Drittens fällt auf, daß die Argumentationsmuster im Parlamentarischen Rat bei der Erörterung der Deutschenvorbehalte ganz andere sind, als wenn die Positivierung der Idee der menschenrechtlichen Freiheit und Gleichheit zur Sprache kommt. Ausgangspunkt aller Erwägungen sind dann im Gegensatz zu der (stets im Singular formulierten) menschenrechtlichen Abstraktion „des Menschen überhaupt" ganz konkret die Deutschen (oder gar nur die Bundesangehörigen); es wird nicht länger vor dem Hintergrund menschenrechtlicher Gleichheit, sondern gerade aus der Differenz heraus argumentiert. Der Universalismus der Menschenrechte, ihre Maßstabsfunktion und Legitimationswirkung wird durch die Bezugnahme auf die partikulare staatliche Gemeinschaft, ihre Besonderheiten und die Legitimation aus dem Prinzip der Mitgliedschaft abgelöst. Danach ist vornehmlich das Wohl der Mitglieder zu fördern, was selbstverständlich den Schutzgedanken mitumfaßt. Schon aus dieser Zielvorgabe folgt, daß die Argumentation in diesem Zusammenhang nicht an einer Idee, sondern an den Realitäten gegebener Lebensumstände und faktischer Möglichkeiten orientiert ist. Demgemäß sind Sprache und Sichtweise bei dieser Debatte, wie sich im Parlamentarischen Rat deutlich gezeigt hat, eher soziologisch gefärbt: Bezugspunkt ist nicht länger die philosophisch-abstrakte Idee der Freiheit, auch nicht die doch immerhin schon konkreter gefaßten Grundrechte der Berufsfreiheit und der Freizügigkeit, sondern der für die Erfüllung existentieller Bedürfnisse sowie die weitere Lebensgestaltung entscheidende Arbeits- und Wohnungsmarkt. Arbeitsplätze und Wohnraum werden aus dieser Perspektive als knappe Güter betrachtet, staatliche Schutzpflichten im Hinblick auf reale Möglichkeiten ausgelotet. Den beschränkten staatlichen Ressourcen auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite eine begrenzte, in Relation zum angehörigkeitsrechtlichen Näheverhältnis gesehene staatliche Verantwortung. Die Vorstellung, daß die Verantwortung des Staates sich im Hinblick auf das wachsende Näheverhältnis steigere, zeigt sich besonders deutlich an der Argumentation v. Mangoldts zum

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Vorbehalt des Freizügigkeitsrechts: Er, dem sicher niemand unterstellen wird, daß er die deutsche Einheit nicht gewollt habe, sieht den Staat in Notzeiten in erster Linie gegenüber den Bundesangehörigen in der Pflicht. Bezogen auf die Deutschen östlich der Grenze ist die Mitgliedschaft zunächst einmal nur eine potentielle, das mitgliedschaftliche Näheverhältnis und die daraus erwachsende staatliche Schutzpflicht also abgeschwächt. Und im Blick auf Nichtmitglieder gilt, daß ein Ausbau der Deutschengrundrechte zu „vollen Menschenrecht(en)" (v. Mangoldt) 538 nur unter der Voraussetzung möglich wäre, daß der Staat in der Lage ist, seine vorrangig gegenüber den eigenen Angehörigen bestehende Schutzpflicht voll und ganz zu erfüllen. Für sich genommen, d.h. in den Kategorien der Mitgliedschaft gedacht, ist das ein in sich schlüssiges Konzept: Die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte beruhen auf einer besonderen Schutz- und Fürsorgepflicht des Staates ab, gegenüber seinen Angehörigen und grenzen damit Mitgliedschaftspositionen deren materialer Gehalt sich aus den tieferen Schichten des verfassungsneutralen Grundverhältnisses zwischen Individuum und der Institution „Staat" speist. Dabei basiert der (aktive und passive Mitglieder umfassende) Mitgliedstatus des „Deutschen" allein auf der formal definierten Zugehörigkeit zum Staatsvolk, während die „Aktivierung" der Mitgliedschaft (etwa bei Auslandsdeutschen mit einer weiteren Staatsangehörigkeit) und die tatsächliche Inanspruchnahme der Mitgliedschaftsrechte darüber hinaus auch „Nähe" im Sinne einer effektiven Beziehung voraussetzt. Und zu diesen Mitgliedschaftsrechten zählen eben nicht nur die demokratischen „Aktivbürgerrechte" des Verfassungsstaates, sondern auch die Deutschengrundrechte der Art. 8, 9 Abs. 1,11 und 12 Abs. 1 GG, die in Erfüllung der „Aufgaben, welche der Staat seinen Angehörigen gegenüber übernommen hat" (Laband) mitgliedschaftliche Rechtspositionen abstecken und innerstaatlich gemäß der dem Prinzip der Mitgliedschaft immanenten Verteilungsregel: „Vorrang der Mitglieder vor Nichtmitgliedern" zuteilen. Doch es fragt sich in der Tat, wie dies mit der im Parlamentarischen Rat so emphatisch vertretenen Menschenrechtsdoktrin zu vereinbaren ist, die sich zumindest ihrem eigenen Anspruch nach - den dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis entspringenden Rechtspositionen kaum generell nachordnen läßt. Als abstraktes Problem wurde das schwierige Verhältnis von Mitgliedschaft und Menschenrechten oben schon angesprochen. Nunmehr geht es aber ganz konkret darum, wie es bei der Verfassunggebung bezogen auf die im Schnittpunkt beider Prinzipien stehenden Deutschenrechte umgesetzt wurde. Zum einen ist somit in Ergänzung zur Darstellung der Argumentation hinsichtlich der Deutschenvorbehalte im Parlamentarischen Rat, der unausgesprochen eine bestimmte Auffassung vom Prinzip der Staatsmitgliedschaft zu Grunde 538

Vgl. dazu oben S. 171 mit Fn. 516.

180

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

liegt, nachzutragen, welche fur die Deutschenrechte relevanten menschenrechtlichen Vorstellungen dort geäußert wurden. Zum anderen zielt die Frage aber auch ganz allgemein darauf, was Staatsbürgerschaft als Mitgliedschaft im menschenrechtlich fundierten demokratischen Rechtsstaat überhaupt bedeutet, inwieweit die im Verfassungsstaat angestrebte Synthese des Staates mit der Idee menschenrechtlicher Freiheit und Gleichheit gelingt, und ob das Prinzip der Staatsmitgliedschaft dadurch eine Modifikation erfährt.

b) Staatsbürgerschaft

als Mitgliedschaft

im demokratischen Rechtsstaat

(1) Mitgliedschaft und Menschenrechtsidee im Verfassungsstaat Vom „Staatsbürger" kann überhaupt nur im Rechtsstaat die Rede sein, denn „Unerthanen hat jeder Staat; allein Staatsbürger nur ein Rechtsstaat".539 Diese in der Periode des deutschen Vormärz kämpferisch aufgestellte und 1846 - also fast schon am Vorabend der Revolution - erneut bekräftigte These Robert v. Mohls trifft auch heute noch zu, auch wenn sie inzwischen eine ganz andere Stoßrichtung erhalten und auch der Begriff des Rechtsstaates sich gewandelt 539 Robert v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 1. Bd. (Das Verfassungsrecht), 2. Aufl. Tübingen 1846, 316; vgl. aber auch ders., Encyklopädie der Staatswissenschaften, Tübingen 1859, § 16. („6. Bürger und Unterthan"), 113 ff. (114): „Unterthan ist der Staatsgenosse insofern er zu gehorchen und zu den Gesammtlasten beizutragen hat. Als Bürger aber ist er zu bezeichnen, insoferne er die Förderung seiner Zwecke vom Staate zu verlangen befugt ist; mit besonderem Nachdruck aber ist er so genannt, wo und soweit er an der Leitung des Staates selbst, zur Vergewisserung dieser seiner Ansprüche, gesetzlichen Antheil nimmt" (s. ebd., 116 ff, zu den „Berechtigungen des Staatsbürgers als solcher" u. 324 ff. zum Rechtsstaat). Für eine eingehende begriffsund bedeutungsgeschichtliche Analyse von „Bürger" und „Untertan" s. Paul Ludwig Weinacht, „Staatsbürger". Zur Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs, in: Der Staat, 8. Bd. (1969), 41 ff, bes. 44 ff., 54 f. Er beleuchtet das ursprünglich dichtliegenden Wortfeld, in dem „Staatsbürger" sich herausbildet, aber auch die im Zuge der revolutionären und später der konstitutionellen Bewegung einsetzende begriffliche Polarisierung zwischen dem für Freiheit und Würde stehenden „(Staatsbürger" und dem verfemten Wort „Untertan", für die das berühmte Wieland-Zitat von 1794 steht: „Das Wort fängt unvermerkt an, unter die übelklingenden und unanständigen gerechnet zu werden". Siehe ferner Michael Stolleis, Untertan - Bürger - Staatsbürger, Bemerkungen zur juristischen Terminologie im späten 18. Jahrhundert, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, 65 ff., sowie Manfred Riedel, Art. Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Brunner u.a. (Hg.) (Fn. 1), Bd. 1, Nachdruck der 4. Aufl. Stuttgart 1992, 672 ff. (678 ff., 689 ff., 702 ff. und pass.); aus anderer Perspektive Grawert, Staat (Fn.386), 114ff., 124ff., 156ff. (bes. 164f.) und pass.

II. Nation und Nationalstaat

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hat. Dessen Entwicklung soll hier nicht nachgezeichnet,540 sondern nur ein einzelner Aspekt herausgegriffen werden, und zwar der der Menschenrechte: Wurde damals aus den oben genannten Gründen schon der Terminus überwiegend gemieden,541 so zählt die Gewährleistung und institutionelle Sicherung der Menschenrechte heute bekanntlich zu den konstitutiven Merkmalen des materiellen Rechtsstaatsbegriffs. So gesehen, fließen im Institut der Staatsbürgerschaft Mitgliedschaft und staatliche Gewährleistung der Menschenrechte zusammen. In der Konsequenz dieser Verbindung liegt aber nicht nur, daß die den Staatsbürgern gewährleisteten Rechte in ihrem Kern durchaus Menschenrechte sein können, sondern auch umgekehrt, daß Nichtmitglieder vom Genuß dieser Rechte ausgeschlossen sind, obgleich die Idee der Menschenrechte sie doch „an sich" zur Teilhabe berechtigt. Den Widerspruch, den die Verbindung dieser beiden Prinzipien im Blick auf Nichtmitglieder unvermeidlich produziert, hat man im Parlamentarischen Rat indes trotz des entschiedenen Bekenntnisses zu gleichen, unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, als deren Niederschrift man die Grundrechte sah, 542 noch nicht erkannt. Sicherlich ist dabei zu berücksichtigen, daß man das große Werk der Verfassunggebung, das zwar nur als „Provisorium" gedacht war, sich nun aber schon seit mehr als einem halben Jahrhundert als tragfähig und erfolgreich erweist, unter erheblichem Zeitdruck bewältigen mußte, folglich nicht alle Grundsatzfragen auf mögliche Untiefen und Widersprüchlichkeiten hin ausloten konnte. Dieses Schicksal teilt das Grundgesetz im übrigen mit den menschenrechtlichen Proklamationen der großen Revolutionen der Neuzeit, die ihren Verfassern auch keine Zeit ließen, die dort niedergelegten menschenrechtlichen Grundsätze konsequent zu Ende zu denken: Man verkündete in Nordamerika in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 feierlich „that all men are created equal", dachte dabei der Prägung der Bostoner Ostküstenelite entsprechend aber doch nur an die sog. „Wasps", also die weißen amerikanischen Protestanten angelsächsischer Herkunft (und männlichen Geschlechts). Man legte in Frankreich in der epochemachenden Déclaration von 1789, wie man ohne jeden Anflug von Bescheidenheit glaubte, für „alle Zeiten und alle Völker" menschenrechtliche Prinzipien nieder und hatte doch selbst im Blick auf das eigene Volk nur eine bestimmte soziale Schicht und wiederum nur den männlichen Teil der Bevölkerung vor Augen.

540

Siehe dazu eingehend H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1). Anders wiederum R. v. Mohl, der in der Paulskirche von „Menschen- oder Volksrechte(n)" sprach, vgl. oben Fn. 278. 542 Vgl. JöR, n.F, Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 42 f, 48 ff. (auch zur Diskussion um das Naturrecht), hier insbes. 52 f. 541

182

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Mit anderen Worten: Es besteht immer eine gewisse Neigung, Widersprüchlichkeiten, soweit irgend möglich, nicht auf- sondern zuzudecken. Und sofern tatsächlich realisiert wird, daß das Bekenntnis zu bestimmten Prinzipien mit gewissen zeitgenössischen Vorstellungen unvereinbar ist, heißt das noch lange nicht, daß man auch gewillt wäre, daraus irgendwelche politisch-praktischen Konsequenzen zu ziehen. So stellten schon die römischen Juristen bei der Rezeption der Lehre der Stoa, dergemäß nach dem Recht der Natur alle Menschen frei geboren werden und gleichwertig sind, fest, daß die Sklaverei dann „eigentlich" gegen die Natur sei, 543 ohne sie deshalb nun etwa abzuschaffen. Derartige Widersprüche läßt man lieber auf sich beruhen und bestraft, wie das traurige Beispiel der Olympe de Gouges zeigt, im Zweifel eher diejenigen, die allzu hartnäckig darauf hinweisen: Als die politisch und sozial engagierte französische Schriftstellerin erkannte, daß zwar Menschenrechte proklamiert, aber Männerrechte gemeint waren, verfaßte sie 1791 eine „Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne" und legte sie dem Nationalkonvent vor, trat zudem auch für die Abschaffung der mit menschenrechtlichen Prinzipien ebenfalls schwerlich zu vereinbarenden Sklaverei sowie der Todesstrafe ein - mit der Folge, daß sie 1793 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Sind die Abwehrmechanismen gegenüber den in bestimmten Prinzipien stekkenden Konsequenzen schon so stark, wenn sie schlicht machtvollen Interessen zuwiderlaufen, so ist die Bereitschaft, eine (stets negativ bewertete) Unstimmigkeit im Verhältnis zur Menschenrechtsidee überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, vielleicht sogar noch geringer, wenn es nicht einfach um sich wandelnde gesellschaftliche Anschauungen geht, sondern wie bei dem Prinzip der Staatsmitgliedschaft um Vorstellungen mit höherem theoretischen Anspruch, die in sich konsistent sind und eine eigene Legitimation besitzen. Doch ändert dies nichts daran, daß der abstrakte Universalismus der Menschenrechte über alle zeitgebundenen Verkürzungen hinausdrängt, und sich jedenfalls westliche Demokratien, die sich auf die Legitimationskraft der Menschenrechtsidee berufen, auch mit den skizzierten Widersprüchlichkeiten auseinandersetzen müssen, um die daraus erwachsenden Probleme meistern und die innere Glaubwürdigkeit des menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaates bewahren zu können.

(a)

Die Argumentation im Parlamentarischen Rat

Im Blick auf die Sitzungsprotokolle des Parlamentarischen Rates wird deutlich, daß auch der konkrete Diskussionsverlauf dazu beigetragen hat, daß die Mitglieder dieses Gremiums nicht zwangsläufig auf das (bezogen auf Auslän543

Dazu H. Hofmann, Menschenrechtserklärungen (Fn. 3), 5.

II. Nation und Nationalstaat

183

der) antinomische Verhältnis dieser beiden Prinzipien stoßen mußten. Die „staatsbezogene" Argumentation, die um die Oeutschenvorbehalte kreist, bleibt von der auf die jeweiligen Deutschengrundrechte bezogenen menschenrechtlichen Argumentation strikt getrennt. Die Diskussion wird nicht nur an verschiedenen Sitzungstagen geführt, sondern sie bewegt sich dann auch auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die inhaltlich nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden. Insofern zeichnet sich diese Debatte durch eine gewisse „Janusköpfigkeit" aus: Sie zeigt jenen Menschen, die den formellen Mitgliedstatus nicht besitzen, zwei völlig unterschiedliche Gesichter, indem sie sich an zwei Prinzipien orientiert, die zwar im Institut der Staatsbürgerschaft zur Deckung kommen, im Blick auf „Nichtmitglieder" aber gegenläufige Konsequenzen einfordern. Repräsentativ dafür ist der Standpunkt v. Mangoldts, der in seiner einflußreichen Stellung als Vorsitzender des Grundsatzausschusses zwar einerseits nachdrücklich für die Deutschen- (bzw. Bundesangehörigen-)vorbehalte eintritt, 544 sich andererseits aber auch als kompromißloser Verfechter der Menschenrechtsidee erweist, die er ganz im Sinne der naturrechtlichen Tradition versteht und gegen jede Relativierung verteidigt. 545 Dies gilt auch, soweit die Diskussion dieser Fragen (un)mittelbar die Deutschengrundrechte betrifft, deren Vorbehalte er dabei allerdings nicht bedenkt. So bezeichnet er etwa die Freizügigkeit als Bestandteil des „minimum Standard of free society", der für alle gleich gelten müsse. 546 Diese Bemerkung fällt im Rahmen der Diskussion des Gleichheitssatzes, in der v. Mangoldt auf den Gedanken der gleichen Behandlung aller Menschen im amerikanischen Recht durch Gewährleistung eines „minimum Standard" aufmerksam macht, zu dem er neben der Freizügigkeit die persönliche Freiheit, den Schutz des Lebens und die Unverletzlichkeit der Wohnung zählen will. Er spricht auch das Problem an, daß unter bestimmten Umständen, beispielsweise bei Verschiedenheiten des Berufs, eine differenzierende Behandlung seitens des Gesetzgebers erforderlich sein könne. Man erzielt im Ausschuß schließlich dahingehend Konsens, daß in den Grundrechten der „minimum standard of free society" liege und insoweit jede differenzierende Behandlung, auch seitens des Gesetzgebers, unzulässig sei. Weder v. Mangoldt noch die übrigen Ausschußmitglieder kommen jedoch auf den Gedanken, die Deutschenvorbehalte der Grundrechte der Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie der Freizügigkeit und der Berufsfreiheit in diesem 544

Siehe oben S. 173 f. Vgl. zu dem explizit naturrechtlichen Ansatz v. Mangoldts seine Stellungnahmen im Grundsatzausschuß, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 523), Bd. 5/1, bes. 64, 66, 68 und passim. 546 26. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 30.11.1948, vgl. JöR, n.F, Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 68. 545

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Zusammenhang auch nur zu thematisieren. Sie diskutieren also die Möglichkeit differenzierender Regelungen im Rahmen der Berufsfreiheit, sprechen die viel grundsätzlichere Differenzierung zwischen Deutschen und Ausländern, auf der der Deutschenvorbehalt dieses Grundrechts basiert, aber selbst bei der Erörterung des Gleichheitssatzes gar nicht erst an, obwohl im gleichen Atemzug von einem in den Grundrechten liegenden und für alle Menschen gleich geltenden „ minimum Standard" die Rede ist. Dementsprechend lautet der Formulierungsvorschlag schlicht: 547 (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muß Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln. Jedoch dürfen die Grundrechte nicht angetastet werden. Das ist wohlgemerkt der Vorschlag v. Mangoldts, mit dem er sich gegenüber dem - im Gegensatz zur Vorbehalts-Diskussion diesmal restriktiveren - Entwurf des Allgemeinen Redaktionsausschusses durchsetzt, der dem Vorbild des Art. 109 WRV entsprechend die Formulierung „(1) Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich" vorgeschlagen hatte. 548 In diesem Fall beharrt der Ausschuß auf seiner Fassung, insbesondere mit dem Argument, daß der Ausländer dem Inländer verfassungsrechtlich nicht gleich gestellt werden könne, z.B. nicht hinsichtlich Wahlen, Versammlungsfreiheit und Grunderwerbsfreiheit. Die Rechtsgleichheit für „alle Menschen" sei allenfalls in einer Satzung der Vereinten Nationen angebracht. 549 V. Mangoldt hält dem in der zweiten Lesung des Hauptausschusses entgegen, daß der Gleichheitssatz, obwohl dem Wortlaut nach auf Deutsche beschränkt, bereits unter der Weimarer Reichsverfassung genauso auf Ausländer Anwendung gefunden habe. 550 Soweit das wie bei Wahlen, der Versammlungsfreiheit etc. nicht gelte, habe man in den betreffenden Artikeln des Grundgesetzes die notwendige Einschränkung ja bereits vorgenommen. 551

(b)

Das Problem: Mitgliedschaftliche

und menschenrechtliche Gleichheit

Bedauerlicherweise wird die Diskussion eben dort, wo sie den neuralgischen Punkt der Verbindung von Mitgliedschaft und Menschenrechten im Verfassungsstaat berührt, abrupt abgebrochen - und dieser neuralgische Punkt wird in 547

Vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 68. Vgl. JöR, aaO. 549 JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 71. 550 Diese Behauptung ist in dieser Pauschalität nicht haltbar: Der Gleichheitssatz war in der Weimarer Republik - wie oben schon erwähnt - außerordentlich umstritten, s. dazu nur die umfangreichen Nachw. bei Anschütz, Verfassung (Fn.254), Art. 109, S. 521 f., vor Anm. 1. 551 42. Sitzung v. 18.1.1949; vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 71. 548

II. Nation und Nationalstaat

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der Tat durch den Gleichheitssatz markiert. 552 Das in der Verknüpfung von Mitgliedschaft und Menschenrechten liegende Problem läßt sich im Blick auf den Gleichheitssatz präzisieren: Es geht im Kern um das Verhältnis von allgemeiner Menschengleichheit und staatsbürgerlicher (d.h. „mitgliedschaftlicher") Gleichheit, und das Dilemma besteht darin, daß beide nicht zur Deckung gelangen. Im Parlamentarischen Rat wurde im Ringen um die Frage, ob der Gleichheitssatz als Menschen- oder als Deutschenrecht niedergelegt werden sollte, von den opponierenden Lagern jeweils eine Seite des Konflikts schlaglichtartig beleuchtet, und beide konnten in gewisser Weise für sich beanspruchen, im Recht zu sein. - Nur die Kluft, die sich dazwischen unausweichlich auftut, da man sich dem Problem weder durch die Entscheidung für den einen noch für den anderen Standpunkt entziehen kann, blieb im Dunkeln. Der Einwand des Allgemeinen Redaktionsausschusses ist insofern berechtigt, als er darauf aufmerksam macht, daß an der Staatsangehörigkeit anknüpfende Differenzierungen gleich welcher Art mit der verfassungskräftigen Anerkennung des Gleichheitssatzes als Menschenrecht „an sich" nicht zu vereinbaren sind. Selbst wenn man den Gleichheitssatz - fernab der heutigen Debatte um sog. umgekehrte Diskriminierungen zur Überwindung realer Ungleichheiten - ganz formal anwendet und sich allein auf die Rechtsgleichheit als seine unstreitige Kernaussage bezieht, gerät man in Schwierigkeiten: Im Hinblick auf den durch die Staatsangehörigkeit gegebenen Statusunterschied ist Rechtsgleichheit von vornherein nicht gegeben, und jede an der Staatsangehörigkeit anknüpfende Differenzierung stellt dementsprechend eine Durchbrechung des Gleichheitssatzes dar, wenn man davon ausgeht, daß er die Rechtsgleichheit aller Menschen verbürge. Das wird vielleicht noch deutlicher, wenn man sich fragt, aus welchem Grund und mit welcher Zielrichtung diese Differenzierung denn vorgenommen wird: Niemand käme auf den Gedanken zu behaupten, sie diene dazu, das im Gleichheitssatz steckende Gerechtigkeitspostulat im Hinblick auf alle Menschen zu verwirklichen, folge also aus dem Gebot „Verschiedenes nach seiner Eigenart" zu behandeln, um gerade dadurch den Anforderungen des Gleichheitssatzes Rechnung zu tragen, 553 so wie dies beispielsweise mit der nach dem Einkommen diffe552

Siehe in diesem Zusammenhang auch Isensee, Ausländer (Fn. 14), 54, der feststellt, daß die Komplexität der Verfassungsfragen des Ausländers sich auf eine einzige Frage zurückführen lasse: die Verfassungsfrage der Gleichheit; ähnlich Stern, Staatsrecht III/l (Fn.2), 1030 f. mit umfangr. w.N, der ebenfalls daraufhinweist, daß der in enger Verbindung mit Menschenwürde und Personalität stehende allgemeine Gleichheitssatz in das Zentrum der Differenzierung zwischen Deutschen und Ausländern führe. 553 Diese Vorstellung klingt auch im Parlamentarischen Rat an. So empfiehlt z.B. Thoma in seiner kritischen Würdigung der Formulierung des Gleichheitssatzes im Grundsatzausschuß einen besonderen Satz einzufügen, wonach es Pflicht der Gesetzge-

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

renzierten Festsetzung der Steuerschuld angestrebt wird. 5 5 4 Vielmehr ist es die auf der Sonderstellung als Staatsmitglied basierende Privilegierung der Staatsbürger, die diese Differenzierung trägt. Der als Menschenrecht formulierte Gleichheitssatz wird dadurch folglich nicht verwirklicht, sondern durchbrochen. Eine ganz andere Frage ist es, ob und unter welchen Umständen dies möglicherweise gerechtfertigt sein könnte. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Hier interessiert jedoch zunächst, ob daraus auch die vom Allgemeinen Redaktionsausschuß angeratene Konsequenz zu ziehen ist. Unausgesprochen geht der Ausschuß ja wohl von der zutreffenden Überlegung aus, daß wir nicht in einem „menschenrechtlichen Utopia" leben, der Konflikt daher nicht in dem Sinne auflösbar ist, daß wir künftig darauf verzichten, in bestimmten Bereichen nach der Staatsangehörigkeit zu differenzieren - ein Verzicht, der im übrigen einem Abschied vom Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit gleich käme. Somit ist der Vorschlag, den Gleichheitssatz dann eben wie in Art. 109 WRV als Deutschenrecht niederzulegen und einen die Rechtsgleichheit aller Menschen verbürgenden menschenrechtlichen Gleichheitssatz dem die einzelnen Staatsbürgerrechte transzendierenden Recht der Völkergemeinschaft zu überlassen, 555 auf den ersten Blick naheliegend. Und nachdem der Ausschuß sich damals nicht durchgesetzt hat, müßte man demzufolge heute über eine entsprechende Grundgesetzänderung nachdenken. Doch wäre dies im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG überhaupt möglich? Wie verhält es sich mit dem Zusammenhang zwischen der in der „Ewigkeitsklausel" geschützten Menschenwürde und den Prinzipien der menschenrechtlichen Freiheit und Gleichheit? Abgesehen davon muß auch bezweifelt werden, daß sich das Problem auf diese Weise lösen ließe. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich, daß die Entgegnung v. Mangoldts ebenfalls ihre Berechtigung hat: Wie oben im einzelnen dargelegt worden ist, 5 5 6 waren die Versuche, das spannungsreiche Verhältnis zwischen Mitgliedschaft und Menschenrechten durch ein bewußtes Bekenntnis zum „nationalen Rechtsstaat" zu entschärfen, bereits unter der Weimarer Verfassung heftigen Anfechtungen ausgesetzt; und dies trotz des Umstandes, daß der Grundrechtskatalog dort unter dem Titel „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" firmierte und die meisten Einzelfreiheitsrechte ebenso wie der Gleichheitsatz zusätzlich

bung sei, „im Dienste der Gerechtigkeit" und des Gemeinwohls Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln; vgl. JöR, n.F., Bd. 1, 1951 (Fn. 16), 67 f.; Der Parlamentarische Rat (Fn. 523), Bd. 5/1, 373. 554 Siehe dazu ausführlicher und mit weiteren Bsp. Stefan Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, in: JZ 1994, 541 ff, bes. 543 ff. Darauf wird unten im 2. Teil unter II. 3. zurückzukommen sein. 555 Vgl. dazu oben insbes. S. 134 ff. mit Fn. 407, 148 mit Fn.444. 556 Siehe oben S. 93 ff., zum Hintergrund auch S. 96 ff., 103 ff.

II. Nation und Nationalstaat

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noch durch Deutschenvorbehalte als „nationale" Rechte gekennzeichnet waren. Selbst vor der bewußt vollzogenen menschenrechtlich-universalistischen Wende des Grundgesetzes erwies es sich bereits als schwierig, die nationalen Vorbehalte der Freiheitsrechte mit herrschenden grundrechtsdogmatischen Vorstellungen, wie sie etwa in der Jellinek'schen Statuslehre zum Ausdruck kommen, in Einklang zu bringen, da die die Freiheit des Individuums „vom Staat" sichernden rein negatorischen Ansprüche schon ihrer Struktur nach kaum mit nationalen Vorbehalten zu vereinbaren sind. Wird dann jedoch in einem weiteren Schritt die Freiheit des Menschen als das Prinzip der Konstitution akzeptiert, so zieht das, wie oben dargelegt, aufgrund des engen systematischen Zusammenhangs, in dem Freiheit und Gleichheit zueinander stehen, in der Konsequenz die Anerkennung auch des Gleichheitssatzes als allgemeines Menschenrecht zwangsläufig nach sich, da die darauf bezogene rechtliche Gleichheit stets mitgedacht werden muß. Es kommt auch nicht darauf an, ob das Prinzip der gleichen Freiheit aller, das insbesondere auch Dreh- und Angelpunkt der gesamten Schrankensystematik ist, stärker unter dem Aspekt der Freiheit oder stärker unter dem Aspekt der (darauf bezogenen) Gleichheit betrachtet wird. Was aus der Sicht des einen eine ungleiche Fre/Aeztebeschränkung darstellt, ist aus der Sicht des anderen eine (allerdings dem Gleichheitssztz widersprechende) Privilegierung, und doch sind es nur zwei Seiten derselben Medaille, für die man keine unterschiedlichen Durchmesser festlegen kann: Freiheit und Gleichheit gehören hier zusammen. Bezeichnet man den Gleichheitssatz dennoch als Staatsbürgerrecht, so erscheint dies als ein etwas hilfloser Versuch, das Problem zu kaschieren - aus der Welt geschafft wird es dadurch nicht. Während sich diese Erkenntnisse in der Weimarer Republik noch gegen den Wortlaut der Verfassung durchsetzen mußten, war nach den Erfahrungen des Dritten Reiches allen Bestrebungen, das Spannungsverhältnis von Mitgliedschaft und Menschenrechten einseitig im Sinne der Mitgliedschaft nach dem Muster des „nationalen Rechtsstaates" aufzulösen, der Boden weggebrochen. Vor dem Hintergrund der danach einsetzenden Rückbesinnung auf die überpositiven Menschenrechte war es nicht mehr haltbar, die Grundrechte von vornherein als nationale (Mitgliedschafts-)Rechte auszugestalten: Indem der Menschenwürdesatz in Art. 1 Abs. 1 GG an die Spitze der Verfassung gestellt und in Abs. 2 das Bekenntnis zu den Menschenrechten niedergelegt wurde, als deren Positivierung man die nachfolgenden Grundrechte ansah, war im Grunde bereits entschieden, daß nicht nur das (neu eingeführte) allgemeine Freiheitsrecht, sondern auch der allgemeine Gleichheitssatz eine menschenrechtliche Fassung erhalten würde. V. Mangoldts Standpunkt mußte sich also letztlich durchsetzen: Er lag ganz auf der Linie der übrigen im Parlamentarischen Rat für das neue Verfassungswerk getroffenen normativen Grundentscheidungen, bei denen man einerseits bestrebt war, Lehren aus der jüngsten Vergangenheit zu ziehen und

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

zugleich Anschluß an die westlichen Demokratien zu finden, bei denen andererseits aber auch der allgemein-europäische Zeitgeist, die Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit, eine wichtige Rolle spielte. Es bleibt jedoch die Frage, warum v. Mangoldt den berechtigten Einwand des Allgemeinen Redaktionsausschusses so achtlos mit dem Hinweis beiseite schob, daß man bei den Artikeln des Grundgesetzes, bei denen der Gleichheitssatz nicht genauso auf Ausländer Anwendung finden könne, die „notwendige Einschränkung" ja bereits vorgenommen habe. Er scheint nicht nach vollziehen zu können, aus welchem Grund der Ausschuß die Diskrepanz, die auftritt, wenn zunächst die Gleichheit aller Menschen verfassungsrechtlich festgeschrieben, dann jedoch bei bestimmten Grundrechtsartikeln nur noch die staatsbürgerliche Gleichheit gewährleistet wird, als so problematisch empfand. Der Zeitdruck allein erklärt das mangelnde Problembewußtsein nicht hinreichend. 557 Die Gründe dafür liegen wohl tiefer und weisen auf die obige Analyse zurück: V. Mangoldt argumentiert in diesem Zusammenhang rein menschenrechtlich und bezieht sich dabei auch ausdrücklich auf die zu neuem Leben erwachte Naturrechtslehre, 558 d.h. er bedient sich nicht nur der entsprechenden Terminologie, sondern bewegt sich insbesondere auch in den damit vorstrukturierten gedanklichen Bahnen. Das beschriebene Problem - und das wäre ein erster Erklärungsansatz 559 - existiert in dieser Vorstellungswelt jedoch nicht. Aus der menschenrechtlichen Perspektive stehen „Mensch" und „Bürger" eben nicht für unterschiedliche Kreise von Rechtsträgern, sondern für „den Menschen" im status naturalis und im status civilis. Die Figur des „Fremden", der zwar als Mensch in den Genuß der allgemeinen Menschengleichheit kommt, aber eben nicht „Bürger" ist und daher von der staatsbürgerlichen Gleichheit ausgeschlossen bleibt, ist auf der Grundlage der Prämissen der politischen Philosophie nicht denkbar. Um die Gründe dafür kurz zu rekapitulieren: Zunächst einmal ist von „der" politischen Gemeinschaft ebenso wie von „dem" Menschen ohnehin zumeist nur 557 Natürlich spielt er eine Rolle: V. Mangoldt selbst stellt bei der Erörterung des Gleichheitssatzes abschließend fest: „Wir müßten eigentlich über so einen Satz tagelang sprechen. Wir müßten immer wieder an neuen Beispielen überprüfen, ob es geht. Das können wir nicht, weil wir in Zeitdruck sind. Ich glaube, wir lassen es"; vgl. Der Parlamentarische Rat (Fn. 523), Bd. 5/II, 754. 558 Vgl. Der Parlamentarische Rat (Fn. 523), Bd. 5/1, bes. 64, 66, 68 und passim. 559 Damit soll selbstverständlich nicht behauptet werden, daß v. Mangoldt - der hier nicht um seiner selbst willen so ausführlich behandelt wird, sondern als Repräsentant eines bestimmten Denkens im Parlamentarischen Rat - sich dort mit den entsprechenden Vordenkern bewußt auseinandergesetzt habe. Die Aussage ist vielmehr die, daß man mit der Wahl eines bestimmten Ansatzes in der Regel auch, ohne dies überhaupt zu reflektieren, die entsprechenden Prämissen mitübernimmt.

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im Singular die Rede, denn es wird „more geometrico" an der idealen Lösung bezogen auf die Organisation der Freiheit im Staat gebastelt, nicht - oder doch erst in zweiter Linie - an die Verfassungsprobleme konkreter Staaten gedacht. Diese mögen zwar vor dem geistigen Auge Modell gestanden haben; 560 in der Ausarbeitung der philosophischen Entwürfe treten ihre partikularen Eigenarten aber hinter allgemeingültigen Abstraktionen zurück. Und kommt die Vielfalt der Völker und Staaten tatsächlich einmal in den Blick, so gelten zwei Prämissen: Zum ersten wird grundsätzlich die Separation der Völker unterstellt, zum zweiten vorausgesetzt (und dies ist zugleich die Bedingung für die Geltung der „Separationsthese"), daß jeder Mensch Bürger irgendeines Staates mit republikanischer Verfassung sei, dort also auch in den Genuß seiner Menschen- und Bürgerrechte komme. Und wenn dann doch einmal ein „Fremdling" auftaucht, ist es ein Kaufmann, der nach Abschluß seiner Handelsgeschäfte in seine Heimat zurückkehrt. 561 Oder es geht nur um einzelne Menschen, bei denen es im Rahmen der hypothetischen Konstruktion - natürlich nicht etwa einer historischen Untersuchung - der Entstehung politischer Gesellschaften durchaus plausibel erscheint, den Eintritt in die politische Gesellschaft im Sinne Lockes von der ausdrücklichen Zustimmung des einzelnen abhängig zu machen. 562 Demzufolge kann es unter Geltung dieser Prämissen den dauerhaft im Lande lebenden und dennoch als „Nichtbürger" diskriminierten „Fremden" in der Tat nicht geben. Der Befund läßt sich aber auch positiv formulieren, und damit wird den oben schon gezogenen Schlußfolgerungen 563 eine weitere hinzugefügt: Träfen diese Prämissen zu, so ließen sich zum ersten, wie oben festgestellt, Menschen- und Bürgerrechte wirklich als harmonische Einheit bzw. als Komplementärverhältnis beschreiben, da jeder einzelne als Mensch und Bürger in den Genuß dieser Rechte käme. Zum zweiten verlöre die Staatsangehörigkeit ihre nach außen gerichtete Ausschlußfunktion. Und zum dritten - und das ist der in diesem Zusammenhang entscheidende Punkt - gäbe es einerseits das oben geschilderte Gleichheitsproblem nicht, andererseits könnte die Staatsbürgerschaft die ihr im Verfassungsstaat zugeschriebene Funktion in vollem Umfang erfüllen. Was das bedeutet, läßt sich erst ermessen, wenn man sich bewußt macht, daß die „Staats560

Rousseau orientierte sich bei seinen Arbeiten lange an seiner Heimatrepublik Genf Dementsprechend zeichnete er nicht nur seinen „Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes" (1755), sondern auch spätere Arbeiten voller Stolz mit „Bürger von Genf 4, bis seine Schriften („Emile", „Contrat social", beide 1762) von der staatlichen Zensur, vom Erzbischof in Paris und wenig später auch in Genf verboten wurden. 561 Vgl. oben im Text vor Fn. 418. 562 Dazu oben bei Fn.424ff. 563 Siehe oben S. 141 f.

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Bürgerschaft" zwei bislang als konträr dargestellte theoretische Ansätze zu integrieren vermag: Sie nimmt das Erbe des politischen Denkens der Moderne, soweit es, wie namentlich der Kontraktualismus, bei „dem Menschen" und seinen Rechten ansetzt, ebenso in sich auf wie die Lehren der Staatstheoretiker und Staatsrechtler, die ausgehend vom Begriff „des Staates" die Stellung des „Staatsgliedes" in den Blick nehmen. Unter dem gemeinsamen Dach der Staatsbürgerschaft lassen sich die teilweise so unterschiedlichen Vorgaben gleichermaßen als Bausteine in das Gebäude des Verfassungsstaates einfügen, und soweit der Verfassungsstaat die im Staat lebenden Menschen darunter zu sammeln vermag, erreicht er das Ziel der von ihm angestrebten Synthese von „Staat" und „Menschenrechtsidee". Der Verfassungsstaat ist von diesem Ziel her konzipiert, das er nur über die Integrationskraft der Staatsbürgerschaft erreichen kann. Idealiter müßten seine Gewaltunterworfenen also allesamt „Staatsbürger" sein. Die große Mehrheit die sich heute allerdings einer beachtlichen Minderheit gegenüber sieht - der im Staat lebenden Menschen ist ja auch tatsächlich Bürger dieses Staates. Doch das Modell des Verfassungsstaates ist in diesem Punkt nicht auf ein Verhältnis von „Mehrheit" und „Minderheit" zugeschnitten. Es legt allein den „Regelfall" zugrunde, so als gäbe es gar keine „Ausnahmen", als seien alle Menschen im Staat auch Staatsbürger. Denkbar wäre dies, wie oben gezeigt wurde, aber nur unter der Voraussetzung der „Separation der Völker". Die theoretische Konzeption unseres heutigen, sich aus der Menschenrechtsidee legitimierenden Verfassungsstaates beruht insoweit auf eben jener zumeist stillschweigend gesetzten Prämisse, die den gemeinsamen Ausgangspunkt der gesamten Tradition des politischen Denkens der Moderne von Hobbes, Locke und Rousseau über Kant bis zur Gegenwart bildet. 564 Dabei kann dahinstehen, ob dies eine unmittelbare Folge der Inkorporation dieses Gedankengutes ist, ob es in erster Linie der (natürlich damit zusammenhängenden) Aufgabenstellung des Verfassungsstaates zuzuschreiben ist oder eher dem Umstand, daß ein „Modell" im allgemeinen das Ergebnis einer Typisierung ist, die nur den „Regelfall" berücksichtigen kann. Wer von vornherein vom Staat her denkt, wie es namentlich für den staatsrechtlichen Positivismus des Spätkonstitutionalismus kennzeichnend ist, der hat es hier sehr viel leichter als die oben genannten Vertreter der politischen Philosophie, denn dem staatszentrierten Ansatz ist die „Separationsthese" gewissermaßen immanent. Sie muß also nicht erst (stillschweigend) als zusätzliche Bedingung ins Spiel gebracht werden, lim das Funktionieren des „Modells" zu sichern. Wird der Staat als vorgegeben betrachtet, so verengt sich der Blick von vornherein auf das Staatsvolk, d.h. die Menschen, deren verfassungsrechtliche 564

Vgl. dazu oben S. 140.

II. Nation und Nationalstaat

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Stellung im Staat umschrieben wird, sind die „Staatsglieder". Daran ändert sich auch nichts, wenn im Fortschreiten vom „Staat" zum „Verfassungsstaat" die Menschenrechtsidee Berücksichtigung findet, jedenfalls dann nicht, wenn ihre staatskonstitutive Bedeutung ausgeklammert wird und die Menschenrechte allein unter dem Aspekt der Ausgrenzung einer privaten Freiheitssphäre im Staat gesehen werden. 565 Vor diesem Hintergrund klärt sich auch so mancher scheinbare Widerspruch auf: So wurde oben festgestellt, 566 daß G. Jellinek in seiner Statuslehre den status negativus einerseits als einen Zustand „natürlicher Freiheit" 567 umschreibt, in welchem die „streng individuellen Zwecke durch die freie Tat des Individuums ihre Befriedigung finden" 568 und damit sachlich eine „staatsfreie" Sphäre ausgrenzt, in der die Freiheitsbetätigungen des einzelnen durch die klassischen Menschenrechte geschützt sind. 569 Andererseits setzt er aber als selbstverständlich voraus, daß das dadurch berechtigte Individuum „Staatsmitglied" 5 7 0 sei, da er den einzelnen im Rahmen seiner Staatslehre, und speziell in seiner Statustheorie, von vornherein innerhalb des Staates und in seiner Relation zum Staat betrachtet. Doch unter der Prämisse der „Separationsthese" entsteht dadurch kein Widerspruch: Das durch die Menschenrechte berechtigte Individuum ist zugleich stets Staatsmitglied. Und wo die Idee der Menschenrechte sich mit dem Prinzip der Staatsmitgliedschaft verbindet, verliert die Frage, ob das eine oder das andere ursprünglich Ausgangspunkt der Betrachtung war, naturgemäß an Bedeutung. Wichtiger ist noch, daß unter dieser Prämisse weder aus vertragstheoretischer noch aus verfassungsrechtlicher Perspektive ein Gleichheitsproblem auftreten würde: Die Gleichheit des Menschen als Mensch im status naturalis käme mit der Gleichheit des Menschen als Bürger im status civilis zur Deckung. Verfassungsrechtlich läßt sich die „allgemeine Menschengleichheit" zwar dem status negativus und die „staatsbürgerliche Gleichheit" dem status activus zuordnen, aber es gäbe keine Diskrepanz zwischen unterschiedlich großen Kreisen von Rechtsträgern. Und insbesondere wäre ausge565

Über diese selektive Aufnahme der Menschenrechtsidee fand auch der Teil der Weimarer Staatsrechtslehre, der dem Gedanken menschenrechtlicher Freiheit und Gleichheit Rechnung zu tragen suchte, nicht hinaus. Aber die Autoren bezogen sich natürlich auch auf einen Verfassungstext, der zahlreiche nationale Beschränkungen aufwies und - anders als das Grundgesetz - kein Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" enthielt. 566 Vgl. oben insbesondere S. 95 f., 105. 567 Vgl. System (Fn.230), 95. 568 System (Fn.230), 87. 569 Mit deren Entstehung er sich in seiner berühmten Abhandlung so eingehend auseinandergesetzt hat; vgl. oben Fn. 48. 570 Ebenda.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

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schlossen, daß im status negativus, wo doch „an sich" der allgemeine Gleichheitssatz gelten müßte, partiell nur die die kleinere Gruppe der Staatsbürger einschließende staatsbürgerliche Gleichheit gilt. Tatsächlich existiert diese Diskrepanz jedoch, und zwar exakt in dem Umfang, in dem sich die genannte Prämisse als unzutreffend erweist. Es gilt also auch umgekehrt: Gleichheitsprobleme sind ein Indikator dafür, daß die im Verfassungsstaat angestrebte Synthese von „Staat" und „Menschenrechtsidee" auf Schwierigkeiten stößt. Sie kann nur über die Staatsbürgerschaft als Mitgliedschaft im demokratischen Rechtsstaat in vollem Umfang gelingen. Außerhalb der Staatsbürgerschaft treten die Prinzipien der Staatsmitgliedschaft und der verfassungsrechtlich verbürgten menschenrechtlichen Freiheit und Gleichheit aller auseinander, löst sich die mitgliedschaftliche 571 von der menschenrechtlichen Gleichheit ab und findet innerhalb derselben verfassungsrechtlichen Binnenordnung auf einen kleineren Kreis von Rechtsträgern Anwendung. Diese Diskrepanz und die dadurch entstehenden Widersprüche bedenkt G. Jellinek bei seinen Ausführungen zum status negativus ebensowenig wie später v. Mangoldt bei der Erörterung der Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte im Parlamentarischen Rat. Doch beide übersehen damit nur ein Problem, das es „eigentlich" auch gar nicht geben dürfte - weder nach der Menschenrechtsdoktrin noch nach dem Leitbild des Verfassungsstaates. Im Schatten der Staatsbürgerschaft wird es um so weniger bemerkt, als diese in der Integration menschenrechtlicher und staatlicher Belange in der Tat Erstaunliches leistet.

(2) Zur Integrationsleistung der Staatsbürgerschaft Die Integrationsleistung der Staatsbürgerschaft bedarf im Hinblick auf die Idee der Menschenrechte wohl kaum noch der Erörterung. Wie oben ausgeführt wurde, bestimmen diese seit den menschenrechtlichen Proklamationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Legitimität von Staatlichkeit im demokratischen Verfassungsstaat; der Zweck des Staates wird seitdem in der Gewährleistung der Menschenrechte gesehen. Die Staatsbürgerschaft bindet diesen Gedanken insofern ein, als sie den Staatsbürger zum Vollrechtsinhaber aller staatlich gewährleisteten Rechte erklärt. Das umfaßt die „klassischen" Freiheitsrechte ebenso wie die demokratischen Mitwirkungs- und Teilhaberechte oder 571

Man könnte ebenso von der „staatsbürgerlichen" Gleichheit sprechen. Dabei ist jedoch im Auge zu behalten, daß sie nicht allein für die staatsbürgerlichen Rechte des status activus den Maßstab vorgibt, sondern auch für die Freiheitsrechte, die Deutschenvorbehalte aufweisen. Um diesen Unterschied stärker hervorzuheben, wurde hier der Begriff der „mitgliedschaftlichen" Gleichheit dem der „staatsbürglichen Gleichheit" vorgezogen.

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sonstige rechtliche Verbürgungen. Der Staat übernimmt dabei als „Wächter der Menschenrechte" die Garantenrolle. Seine Staatsgewalt ist nicht nur menschenrechtlich gebunden und begrenzt, sondern er ist auch positiv auf den Schutz dieser Rechte verpflichtet. Dies bezieht sich innerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung - abgesehen von jenen Rechten, die einen nationalen Vorbehalt aufweisen - natürlich auf alle Menschen. Aber nur der Staatsbürger hat als „Staatsmitglied" die Gewähr dafür, daß ihm der staatliche Schutz prinzipiell auch im Ausland zuteil wird, er jederzeit in das Staatsgebiet einreisen und dort bleiben kann, und er in gleicher Weise wie jeder andere Bürger in den Genuß sämtlicher verfassungsrechtlich garantierter Rechte kommt. Für ihn sind diese Rechte stets zugleich Mitgliedschaftsrechte. Und wer „Mitglied" des Staatsverbandes ist und als solches die „Mitgliedschaftsrechte" in Anspruch nehmen kann, wird durch die Staatsangehörigkeit festgelegt. Über die Staatsangehörigkeit definiert also nicht nur der Staat sein personales Substrat, sein Staatsvolk als Summe der - seiner Personalhoheit unterliegenden - Staatsangehörigen, sondern auch der Verfassungsstaat den Mitgliedstatus seiner Staatsbürger, die in ihrer Gesamtheit als „Volk" die Ausübung aller Staatsgewalt demokratisch legitimieren (Art. 20 Abs. 2 GG). Die sogenannten „drei Elemente" des formalen Staatsbegriffs - Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet - werden im Verfassungsstaat somit allesamt in unterschiedlicher Weise im Dienste der Menschenrechte funktionalisiert und kommen im Institut der Staatsbürgerschaft auf einen gemeinsamen Nenner. Hinsichtlich der ersten beiden Elemente wurde dies bereits erläutert, doch gilt es auch für das Staatsgebiet als Basis des räumlichen Geltungsbereichs der Verfassung, wie nicht zuletzt auch eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht, das im Grundlagenvertragsurteil insoweit vom „Schutzbereich der Bundesrepublik und ihrer Verfassung" sprach. 572 Doch wäre es verfehlt zu glauben, in der Staatsbürgerschaft verbinde sich lediglich ein „formaler" Beitrag des Staates, der mit der Staatsangehörigkeit einen einheitlichen Mitgliedstatus bereitstellt, mit inhaltlichen Vorgaben der Menschenrechtsidee, die sich in bestimmten Mitgliedschaftsrechten niederschlagen. Auch die Staatsangehörigkeit selbst ist, wie oben festgestellt wurde, 573 nicht nur ein „Status", sondern zugleich auch ein „Rechtsverhältnis" und entwickelt als solches seine eigene Dynamik. Einerseits ergeben sich, wie speziell in Bezug auf die Deutschenvorbehalte der Grundrechte der Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG deutlich geworden ist, aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zwischen Individuum und Staat unter dem Aspekt der besonderen Schutz- und Fürsorgepflicht des Staates und dem korre572 573

BVerfGE 36, 1 (31). Siehe oben im Text bei Fn. 485.

13 Siehr

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

spondierenden Anspruch seiner Angehörigen bestimmte inhaltliche Rechtspositionen, die sich selbständig neben dem menschenrechtlichen Freiheitsgedanken als Gehalt jener Mitgliedschaftsrechte nachweisen lassen.574 Andererseits trägt das Prinzip der Staatsmitgliedschaft, wie im folgenden zu zeigen sein wird, im Verfassungsstaat aber auch den staatsbürgerlichen Anspruch auf Mitwirkung und Teilhabe mit. Das heißt, die politischen Partizipationsrechte sind nicht allein Ausfluß des Autonomieprinzips bzw. des dadurch neu fundierten Prinzips der Volkssouveränität, auch wenn an diese Begründungslinie (zu Recht) stets zuerst gedacht wird.

(a)

Der Staatsbürger und das Autonomieprinzip

Das Autonomieprinzip schlägt in der berühmten „Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 die Brücke zwischen Menschenrechtsidee und Volkssouveränität, verknüpft die alte Denkfigur, daß alle Herrschaftsgewalt bei der Gesamtheit liege (oder doch ursprünglich gelegen habe) mit der neuzeitlichen Prämisse, daß jeder Mensch mit dem Recht auf Selbstbestimmung ausgestattet sei, und stellt sie so auf eine neue Grundlage. 575 In der Hand des nunmehr die politische Bühne betretenden und sie fortan beherrschenden „autonomen Individuums" 576 erweist sich eine alte Denkfigur als neuartige Waffe: Speziell im Kampf gegen das ancien régime artikuliert sich in der durch die rationalistische Naturrechtsphilosophie neu gefaßten Volkssouveränitätsdoktrin jetzt die Forderung des Bürgertums nach politischer Gleichberechtigung und gleichen Aufstiegschancen, sein Protest gegen ständische Gesellschaftshierarchie und Privilegien des Adels. Wie v. Kielmansegg zutreffend feststellt, erklärt sich die Verschwisterung von Menschenrechtsidee und dem Prinzip der Volkssouveränität historisch daraus, daß beide gleichermaßen in einer Phase des geschichtlichen Umbruchs als Kampfinstrumente demselben Ziel dienten, die revolutionäre Zerstörung einer alten Ordnung und die Begründung einer neuen zu rechtfertigen. 577

574

Allerdings gilt dies unter dem Grundgesetz im Sinne eines Regel-AusnahmeVerhältnisses: Die meisten Grundrechte sind der menschenrechtlichen Freiheitsidee folgend als Jedermannrechte ausgestaltet, und nur vier Grundrechte tragen neben der Freiheitsidee in Gestalt von Deutschenvorbehalten, wie die obige Analyse ergeben hat, einem besonderen angehörigkeitsrechtlichen Schutz- und Fürsorgeanspruch Rechnung. 575 Siehe dazu oben S.81ff. 576 Zur „Inthronisation des autonomen Individuums" sowie zur Volkssouveränitätsdoktrin eingehend Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), 99 ff. und passim. 577 Kielmansegg, Demokratiebegründung (Fn. 144), 103; ähnlich H. Hofmann, Menschenrechtserklärungen (Fn.3), 15 f.

II. Nation und Nationalstaat

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Alle Staatsgewalt muß sich seitdem aus der Zustimmung der Regierten legitimieren. Hieraus leiten sich, je nach historischem Kontext in unterschiedlichen Schattierungen, Forderungen auf Herrschaftsteilhabe und -kontrolle ab, namentlich das Recht der Regierten auf eine Regierung ihrer Wahl, auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern und auf Mitwirkung an der Gesetzgebung. Zugleich soll durch die Zustimmung der Regierten - und damit schließt sich der Kreis - aber auch der Schutz der Menschenrechte gesichert werden, wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 explizit feststellt. 578 Während die Amerikaner den Akzent dann jedoch stärker auf die Bindung aller drei Gewalten (also auch der Gesetzgebung) durch die Menschenrechte setzen, im Hinblick auf die angestrebte Sicherung individueller Freiräume und die Gefahren des Amtsmißbrauchs 579 den Gedanken der Kontrolle im Sinne der „checks and balances" ausbauen und nachdrücklich das unveräußerliche Recht betonen, gegebenenfalls ein neues „government" einzusetzen,580 rücken die Franzosen das Gesetz und die Teilhabe am Gesetzgebungsverfahren - ganz im Geiste Rousseaus - in den Mittelpunkt: „La Loi est l'expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont droit de concourir personnellement, ou par leurs représentants à sa formation" (Art. 6 der Déclaration). 581 Dem liegt die Vorstellung

578 Nach den berühmten Einleitungssätzen (s. oben S. 82) heißt es dort: „to secure these rights, governments are instituted among men, deriving their just powers from the consent of the governed; (...) whenever any form of government becomes destructive of these ends, it is the right of the people to alter or to abolish it, and to institute a new government". 579 Die Virginia Bill of Rights wendet sich nicht nur gegen die Erblichkeit öffentlicher Ämter (Sect. 4), sondern will der Gefahr des Amtsmißbrauchs auch dadurch begegnen, daß die Mitglieder der Legislative und Exekutive nach Ablauf festgesetzter Zeitperioden in das Privatleben zurückkehren, um die Last, unter der das Volk lebt, selbst zu fühlen und daran teilzuhaben (Sect. 5); Abdruck des Textes bei Smith/Spaeth (Fn. 54), 23 ff. 580 Vgl. Fn. 578 sowie Sect. 3 der Virginia Bill: „That government is, or ought to be instituted for the common benefit (...); of all the various modes and forms of government, that is best which is capable of producing the greatest degree of happiness and safety, and is most effectually secured against the danger of maladministration; and that when any government shall be found inadequate or contrary to these purposes, a majority of the community hath an indubitable, inalienable, and indefeasible right to reform, alter, or abolish it, in such manner as shall be judged most conducive to the public weal". 581 Auch die amerikanischen bills of rights gewährleisten natürlich das Wahlrecht und sichern die Stellung der Legislative im Verfassungsgefüge, doch das Gesetz selbst hat als Ausdruck der volonté générale bei den Franzosen einen völlig anderen Stellenwert, ihr Freiheitsverständnis ist ein anderes; dazu und zu den unterschiedlichen Konzepten der Gewaltenteilung, bei denen ein eher „out-put"- orientiertes, auf die Sicherung individueller Freiräume bedachtes amerikanisches Modell einem eher „in-put"-orientierten französischen Modell gegenübersteht, ausführlich H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1 ), 20 ff, bes. 22-24.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

zugrunde, daß der Schutz der Menschenrechte bei einer Gesetzgebung durch den allgemeinen Willen, an dessen Bildung alle Bürger mitgewirkt haben, am Besten gewährleistet sei, 582 denn (nur) sich selbst könne niemand Unrecht tun. Dieser Gedanke taucht wenig später bei Kant wieder auf, verselbständigt sich und wird zum bestimmenden Merkmal seines republikanischen Staatsbürgerbegriffs, bei dem er sogar explizit auf die durch Sieyès, den großen Theoretiker der Französischen Revolution, geprägten Begrifflichkeiten rekurriert: „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d.i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, 583 bourgois)". 584 Der Staatsbürger als „Mitgesetzgeber", eingebettet in den so erkennbar vom Autonomieprinzip durchstimmten Gedankengang, daß wenn alle über alle beschließen, doch ein jeder über sich selbst beschließe, trat damit auf die Bühne des politischen Denkens und wurde auch zum Träger der übrigen politischen („staatsbürgerlichen") Rechte. 585 Aber im Vordergrund stand das Kriterium „Stimmrecht in der Gesetzgebung", das nach der revolutionären auch von der konstitutionellen Bewegung aufgegriffen wurde. 586 Es erscheint dann so auch in Campes Wörterbuch 582

Gleichzeitig wird damit deutlich, was die französischen Revolutionäre unter Souveränität der Nation, unter Volksherrschaft, verstehen. Dennoch sind dadurch mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet; s. dazu oben S. 81 f. und Fn.223; a.A. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und Demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt/Main 1992, bes. 203 ff., die das Konzept demokratischer Volkssouveränität gegen den Vorwurf, es sei mit einer pluralistischen Gesellschaft inkompatibel, engagiert verteidigt. 583 Zur dt. Übersetzung der französischen Begrifflichkeit mit „Stadt"- und „Staatsbürger" s. die Diskussion nach Hans-Peter Schneider, Der Bürger zwischen Stadt und Staat im 19. Jahrhundert, in: Der Staat, Beih. 8, Res publica, Bürgerschaft in Stadt und Staat, Berlin 1988, 143 ff. (165 f.), und Riedel (Fn. 539), 701 f. 584 Über den Gemeinspruch (Fn.369), 151; vgl. auch ders., Metaphysik (Fn.244). Das Öffentliche Recht. Erster Abschnitt. Das Staatsrecht, §46 (S.432): „Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus". 585 Die politischen Partizipationsrechte wurden in der Französischen Revolution zwar als rechtlicher Ausdruck der Volkssouveränität verstanden, nach den Erfahrungen mit der Jakobinischen Schreckensherrschaft war dieser Begriff in Deutschland jedoch ebenso verpönt wie der der Menschenrechte und in bestimmten Kreisen auch der ebenfalls als „Jakobinerfloskel" gebrandmarkte „Staatsbürger" (Weinacht [Fn. 539], 55 m.w.N.). Die konstitutionelle Bewegung formulierte ihre Forderungen nach „staatsbürgerlichen Rechten" meist in vorsichtiger Abgrenzung gegenüber den revolutionären Begrifflichkeiten, die im dt. Schrifttum noch lange als negativ besetzte Kampfbegriffe vornehmlich der Diffamierung des politischen Gegners dienten; vgl. etwa Bornhak (Fn. 509), 242 f. mit Fn. 7 (gegen v. Rönne). 586 Weinacht (Fn. 539), 54. Hier wirkt sich dann allerdings auch die „kupierte Emanzipation" (Grawert) des so definierten „Staatsbürgers" aus, für den Kant das Kriterium der wirtschaftlichen „Selbständigkeit" aufgestellt hat (zur Kritik s. auch oben Fn.421),

II. Nation und Nationalstaat

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der deutschen Sprache von 1810, allerdings nur als zweiter Teil der Definition, in der hinter der jüngeren, an den französischen „citoyen" angelehnten Bedeutung auch eine ältere deutsche aufscheint: „Der Staatsbürger: der Bürger eines Staates, ein Mitglied der Gesellschaft, welche man Staat nennt; besonders ein solches, welches das Stimmrecht in der Gesetzgebung für den Staat hat". 587

(b)

Staatsmitgliedschaft

und staatsbürgerliche

Mitgliedschaftsrechte

Der „Sta(a)tsBürger", der aufgrund seines freien und vernünftigen Eintritts in die bürgerliche Gesellschaft bei prinzipiell gleichen Rechten Anspruch auf gleichen Schutz und gleiche Pflichten wie alle übrigen Staatsgenossen hat, existierte, wie zuerst Weinacht in seiner begriffsgeschichtlichen Studie nachgewiesen hat, im deutschen juristischen und politischen Schrifttum bereits vor der Inthronisation des „citoyen" durch die Französische Revolution. 588 Der Gedanke der förmlichen Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung war diesem Begriff des Staatsbürgers zwar noch fremd und erschien unter den Rahmenbedingungen des aufgeklärten Absolutismus auch nicht akzeptabel. Immerhin besaß er aber einen - prinzipiell ausbaufähigen - „moralischen, quasikonstitutionellen Anspruch" an die Regierung, nur solche Gesetze zu machen, die neben dem ursprünglichen Sozialkontrakt bestehen können, insbesondere auch die Lasten in allgemeiner, angemessener Weise zu verteilen. 589 Und wenn und der damit letztlich auf einer sehr schmalen politisch-sozialen Basis agiert. Ab 1815 zunehmend entpolitisiert und verinnerlicht, bewegt er sich innerhalb der eng gezogenen, in den Details der Wahlgesetze normative Qualität gewinnenden Schranken der Verfassungsbewegung; hierzu Grawert, Staat (Fn.386), 165 ff. (166); Stolleis (Fn.539), 75 ff., 81, 85; auch Riedel (Fn. 539), 712, 714 ff. 587 Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, Vierter Theil, Braunschweig 1810, 567 (u.a. auch bei Weinacht [Fn.539], 54, und Riedel [Fn.539], 691, Fn. 87 zit.). 588 Weinacht (Fn. 539), 44 ff. (52); m.w.N. Stolleis (Fn. 539), 70 ff. (mit einem weiteren Beleg aus dem Jahr 1770 in Fn. 52, wo allerdings die rousseausche Differenz von citoyen und bourgeois aufgegriffen wird, von der Weinacht den vorrevolutionären deutschen Sprachgebrauch gerade abzugrenzen sucht.) 589 Weinacht, aaO, 51 (auch 53), der hier auch einen Beleg dafür liefert, daß dieser Staatsbürgerbegriff schon eine egalitäre Komponente - mit einer deutlichen Spitze nach „oben" - aufweist und den Juristen v. Großing mit dem mutigen Satz aus dem Jahre 1784 zitiert: „Jeder Fürst ist ein Staatsbürger, wie der geringste Bettler, weil jeder Staat bloß im gemeinschaftlichen Willen derjenigen besteht, durch deren Vereinigung der Staat entstanden ist". Er zeigt aber auch, daß die Figur des gleichverpflichteten Staatsbürgers von deutschen Autoren wie Schlözer nicht als Kind der Revolution gesehen wurde, sondern gerade umgekehrt allen revolutionären Bestrebungen vorbeugen sollte: „alle StatsBürger, der Professor, der GutsBesitzer, wie der Bauer, müßten gleiche Lasten

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der „Bürger" dann in Heinrich Gottfried Scheidemantels dreibändigem Werk „Das Staatsrecht nach der Vernunft und den Sitten der vornehmsten Völker betrachtet" (1770-1773) als „Teilhaber unsers Staatskörpers" (§117) bezeichnet oder auch umgekehrt festgestellt wird, „Bürger" sei nur derjenige, der „die Rechte eines Mitglieds einer Staatsverfassung" (§114 a.E.) habe, so ist damit bei aller Ablehnung politischer Partizipation doch deutlich, daß ihm ein rechtlich gesicherter Platz im „Staatskörper", eine verfassungsrechtliche Position in Anerkennung wechselseitiger Rechte und Verbindlichkeiten zugewiesen wird. 5 9 0 Stolleis stellt in diesem Zusammenhang treffend fest, daß Scheidemantel seinen Bürger genau zwischen Hobbes und Rousseau piaziere. In dieser Rechtsstellung des „Bürgers" verbinde sich die faktische Mitwirkungschance als „aufgeklärter Patriot" mit der rechtlichen Absicherung wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten, Entschädigungsgarantien bei Aufopferung für das gemeine Wohl und (landesverfassungsrechtlich unterschiedlich ausgestalteter) politischer Mitwirkung über das Medium der Stände.591 Dieser Kreis von Bürgerrechten und -pflichten wird gegebenenfalls noch aufgrund der Zugehörigkeit zu einer privaten „societas" auf städtischer Ebene durch die Rechte und Pflichten des Stadtbürgers ergänzt. So differenziert auch Scheidemantel zwischen dem „Bürger" in allgemeiner Bedeutung als „ein Mitglied des Staats (civis)" und der besonderen Bedeutung, nach der „Bürger ein in die Rolle einer Stadtgemeinde eingezeichnetes Mitglied (ist), welches die Vorteile der Städtischen Verfassung genießt. In dieser Bedeutung wird der Bürger von Adel und Bauernstand unterschieden und kommt her von dem Wort: Burg (...) so hieß ehedem ein aus mehreren Häusern bestehender und mit einer Mauer umgebener Ort, daß man sich darinnen wider einen feindlichen Ueberfall verbergen konnte. Burg war eben so viel als eine Stadt". 592 Kurz: Der städtische tragen, weil sie gleichen Schutz genössen: man predige, sage ich, alles das laut, und sei vor keiner Revolution bange". 590 Bd. 3, Jena 1773, S. 184 (§ 117), S. 180 (§ 114). Die Ablehnung von Partizipation wird in seiner Stellungnahme zu Rousseau (aaO, S. 180, §115) deutlich, wo er u.a. erklärt, es sei „nicht nötig, daß, um Bürger zu seyn, man sich auch mit Regierungssachen beschäftigen müsse". Umgekehrt erklärt er kurz darauf aber auch: „Man kann unmöglich sagen: der Untertan hat Verbindlichkeiten, ohne daß ihm zugleich Rechte zukommen solten (...) beides ist unzertrennlich und wer dem Untertan Verbindlichkeiten beilegt, der muß ihm auch notwendig Rechte zugestehen" (S. 185, § 118); s. zu Scheidemantels Position auch Stolleis (Fn. 539), 68-71. 591 Stolleis, aaO, 70 f. 592 Art. Bürger, in: ders. (Hg.), Repertorium des Teutschen Staats- und Lehnsrechts. Ehemals von einer Gesellschaft ungenannter Gelehrter mit einer Vorrede des Herrn Bruders herausgegeben, nunmehro aber mit Zusäzzen und neuen Artikeln weit über die Hälfte vermehrt und durchaus verbeßert v. Heinrich Godfried Scheidemantel. Erster Teil Α - E. Leipzig 1782, S. 439, § 1 (Erklärung) und §2 (Engere Bedeutung). In §3 (noch

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und der ständische Begriff des „Bürgers", die sich inhaltlich weitgehend dekken, laufen neben dem naturrechtlichen und staatsrechtlichen „Bürger" her. 593 Diese unterschiedlichen Bedeutungsvarianten des Bürgerbegriffs schlagen sich dann auch im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 nieder. Der ständische Bürgerbegriff wird in § 1 II 8 ALR aufgegriffen und auf die gesamtstaatliche Ebene projiziert: „Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauernstande gerechnet werden können; und auch nachher keinem dieser Stände einverleibt sind", heißt es dort. 594 Sofort im Anschluß wird auf den „Stadtbürger" Bezug genommen: „Ein Bürger im eigentlichen Verstände wird derjenige genannt, welcher in einer Stadt seinen Wohnsitz aufgeschlagen, und daselbst das Bürgerrecht gewonnen hat" (§ 2 I I 8). Der „Staatsbürger" taucht hingegen nur einmal an entlegener Stelle auf - das ist, nachdem das Revolutionsjahr 1789 passiert wurde, sicher kein Zufall - aber immerhin wird der einzelne auf staatsrechtlicher Ebene wiederholt als „Mitglied" des Staates (§§22, 73 Einl. ALR) angesprochen. 595 In eben diesem Sinne gebrauchten vor 1789 selbst konservative deutsche Autoren den Begriff des „Staatsbürgers". 596 Das S.439) führt er dann aus, daß der „Ursprung der Bürger in allgemeiner Bedeutung, (...) mit dem Ursprung des Staats einerlei (ist); denn sobald die bürgerliche Gesellschaft vorhanden ist, so bald müßten Bürger zugegen seyn. In besonderer Bedeutung aber ist der Bürger von der Erbauung der Städte herzuleiten". 593 Stolleis, aaO. 594 Riedel (Fn. 539), 703, ist zuzugeben, daß der nur negativ definierte Bürgerstand so verschiedene Gruppen von Staatsbewohnern erfaßt, daß sich auf dieser Ebene nicht mehr von einer festen „Standschaft" mit einer politischen und sozialen Dimension im Sinne der Ständelehre sprechen läßt. Der traditionelle ständische Bürgerbegriff wurde im ALR zwar noch für bestimmte Zwecke beibehalten, aber schon durch einen neuen, umfassenderen Begriff überlagert, der sich für künftige Entwicklungen offen hält und bereits auf die allgemeine Staatsangehörigkeit zubewegt: Werden die Privilegien des Adels oder die Rechtsunfähigkeit der Bauern aufgehoben, so fallen Adel und Bauernstand nach dieser Definition automatisch unter die allgemeine Rechtskategorie „Bürger"; s. Brubaker, Staats-Bürger (Fn.387), 90; grundlegend Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, 2. ber. Aufl. 1975, 52 ff., 78 ff., insbes. auch 87 ff. (88) u. Exkurs II: Zu den Begriffen des Einwohners, Mitglieds, Untertans und Staatsbürgers im ALR (660 ff.). 595 Grawert, Staat (Fn.386), 125, weist daraufhin, daß der Begriff „Staatsbürger" zwar nur im Einführungsedikt zum ALR für Südpreußen gebraucht wird, das ALR aber überall dort, wo das ebenfalls 1794 in Kraft getretene Westgalizische Gesetzbuch, der Vorreiter des ABGB, vom „Staatsbürger" spricht, den Terminus „Mitglieder des Staates" wählt, also nur eine Differenz im Ausdruck bestehe. 596 „Ein jedes Mitglied eines Staats heißt ein Staatsbürger" stellt z.B. G. F. Lamprecht, ein entschiedener Gegner Rousseaus, 1784 noch mit größter Selbstverständlich-

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heißt, das ALR nimmt das ältere deutsche Verständnis dieses Begriffs (der mit dem ersten Teil der von Campe gelieferten Begriffsdefinition übereinstimmt) inhaltlich in sich auf, steht insbesondere auch auf dem Boden der ihm zugrundeliegenden naturrechtlichen Vorstellungen, 597 vermeidet es aber im Hinblick auf die assoziative Verknüpfung mit dem französischen „citoyen" und die revolutionäre Sprengkraft der neuen republikanischen Lesart dieses Begriffs vom „Staatsbürger" zu sprechen. Gerade diese die deutsche Entwicklung dann durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch kennzeichnende bewußte Abgrenzung gegenüber dem menschenrechtlichen Gedankengut der Französischen Revolution erleichtert es allerdings auch zu zeigen, welchen eigenständigen Beitrag das Prinzip der „Staatsmitgliedschaft" (wohlgemerkt aus heutiger Perspektive, also im Gegensatz zur Menschenrechtsidee nicht von Anbeginn „absichtsvoll") langfristig in das „gemeinsame Projekt" der „Staats-Bürgerschaft" im Verfassungsstaat eingebracht hat. Es geht dabei um den allmählichen Prozeß, in dem sich zunächst in einem komplexen Wechselspiel die im ALR noch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte „Mitgliedschaft" nach und nach auf den Staat hin konzentriert und damit der Staatsbürgerschaft als Mitgliedschaft im demokratischen Rechtsstaat teils den Boden bereitet, teils aber auch inhaltliche Vorgaben beisteuert, die unter Geltung des Grundgesetzes im Zusammengehen mit der Menschenrechtsidee zur Entfaltung kommen. Diese Entwicklung, die sich - so die einhellige Feststellung in den einschlägigen Untersuchungen - eben nicht als lineare Abfolge vom mittelalterlichen „Stadtbürger" über den naturrechtlichen „Bürger und Untertan" zum „Staatsbürger" darstellen läßt, 598 kann hier natürlich nicht keit fest; Versuch eines vollständigen Systems der Staatslehre, Berlin 1784, §§ 133, 146 (zitiert nach Stolleis [Fn. 539], 71). 597 Ein gutes Bsp. dafür, wie das Naturrecht hier einerseits vom geltenden Recht abstrahiert, andererseits aber kritisch auf dieses zurückwirkt, nennt Stolleis (Fn. 539), 83, Fn. 176: In Schlözers Stats-Anzeigen (Bd. XII [1789], 86 ff.) findet sich eine Aufforderung C. v. Carmers, ein naturrechtliches Lehrbuch zum ALR zu schreiben, Darjes zugrundezulegen und die „darinn aufzustellenden Begriffe und Grundsätze hauptsächlich aus dem GesetzBuche selbst" zu abstrahieren. Dementsprechend verfaßte Chr. U. D. v. Eggers ein „Lehrbuch des Natur- und allgemeinen Privatrechts in vier Bänden" (Berlin 1797). 598 So ausdrücklich Stolleis unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Weinacht und Riedel (vgl. Fn.539), 65; zustimmend H.-P. Schneider (Fn.583), 156, 144, der hinzufügt, daß auch von einer gradlinigen Entwicklung vom „bourgeois" zum „citoyen" oder vom „ständisch-feudalen zum egalitär-liberalen Gemeinwesen" keine Rede sein könne. Diese Tendenzen seien zwar als Grundströmungen zweifellos vorhanden, im konkreten historischen Erscheinungsbild indes in vielfältiger Weise ineinander verschränkt, parallel verlaufend oder gelegentlich auch nur phasen- und zeitverschoben wahrnehmbar; zu alledem ausführlich die in Fn. 539 angegebene Literatur - in den Worten Schneiders

II. Nation und Nationalstaat

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im einzelnen nachgezeichnet werden; vielmehr sollen lediglich einige für das Prinzip der Staatsmitgliedschaft relevante Aspekte herausgegriffen werden. Die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit der Begrifflichkeit des ALR, die noch zwischen korporativer und individueller Freiheit, zwischen Stadt, Stand und Staat in der Schwebe bleibt, 599 ist Ausdruck eines historischen Umbruchprozesses: Sie markiert den Ausgangspunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf sich einerseits schrittweise die moderne Staatlichkeit ausbildet, die im Zuge der Intensivierung und Konzentration staatlicher Herrschaft und der Ausschaltung der weithin autonomen Zwischengewalten die ständischen und kooperativ-lokal vermittelten Mitgliedschaftsbeziehungen allmählich ablöst, von deren Eigentümlichkeiten abstrahiert 600 und sie durch eine einheitliche Mitgliedschaft im Staat ersetzt. Andererseits nimmt nun aber auch die Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft 601 und die politische Emanzipation des Bürgertums langsam Gestalt an, d.h. die dem Staat gegenüber geltend gemachten Forderungen nach Sicherung der „bürgerlichen" Freiheit und schließlich auch nach politischer Mitwirkung und Teilhabe zeichnen sich als zumindest potentieller Inhalt von „Mitgliedschaftsrechten" ab. Dabei enthalten die im ALR verwandten Begriffe noch nicht mehr als allererste Ansätze in dieser Richtung, akzentuieren jeweils unterschiedliche Komponenten dessen, was sich letztendlich in einem komplexen Geschehen zur umfassenden „Staatsmitgliedschaft" ausformt: Wenn dort auf der staatsrechtlichen Ebene neben den Bezeichnungen „Einwohner des Staates", „Landeseinwohner", „Unterthan", „Bürger des Staates" oder „Mitbürger" auch von „Mitgliedern des Staates" die Rede ist, 602 so ist damit, wie gesagt, nach dem vorrevolutionären deutschen Verständnis des „Staatsbürgers" im Kontext des

„wegweisende Arbeiten", die aber im Ergebnis „ein so buntes, facettenreiches, ja geradezu verwirrendes Bild [vermitteln], daß es außerordentlich schwer fällt, hier eindeutige Konturen zu erkennen" (aaO, 144), eine Wertung, die verdeutlicht, daß es kaum möglich ist, diese Entwicklung in wenigen Sätzen zu umreißen. 599 Zum ALR im einzelnen m.w.N. Koselleck (Fn.594), insbes. 52 ff., 70 ff., 87 ff, 116ff, 660ff; Stolleis (Fn.539), 72ff. (m.w.N. zur reichen Spezialliteratur in Fn.81); Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387), 87 ff.; Grawert, Staat (Fn. 386), 125 ff. 600 Zur modernen Staatsangehörigkeit als „Abstraktionsleistung", die im Anschluß an konkrete, inhaltlich benennbare Rechtsbeziehungen entstanden ist, Grawert, Staat (Fn. 386), 213, 128 u. passim. 601 Das heißt, die umfassende aristotelische „societas civilis" wandelt sich in eine gegen den Staat gesicherte „bürgerliche Gesellschaft"; Stolleis (Fn.539), 65; dazu auch Riedel (Fn.539), 672ff., 678. 602 Dazu eingehend Koselleck (Fn.594), 56ff., 87ff., insbes. 660ff.; s. zu dieser Begriffsvielfalt, die im Westgalizischen Gesetzbuch (vgl. Fn. 595) eine Parallele findet, auch Grawert, Staat (Fn. 386), 124ff.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion aufgeklärten Absolutismus noch kein förmlicher Mitwirkungsanspruch verbunden. Dieser „Staatsbürger" kann von den Mitgliedschaftsrechten des „Stadtbürgers" also nur träumen, der nach den Stadtrechten schon seit dem Mittelalter über eine Vielzahl von direkten Mitwirkungsmöglichkeiten von der Wahl des Magistrats über die Beteiligung am Stadtregiment bis hin zur örtlichen Jurisdiktion verfügte. 603 Gleichwohl läßt sich der Stadtbürger auch nicht als direkter Vorläufer unseres heutigen, sich gerade durch Mitwirkungs- und Teilhaberechte auszeichnenden („republikanischen") Staatsbürgers begreifen. Selbst wenn man außer acht läßt, daß die Städteprivilegien allenfalls in zweiter Linie unmittelbare Beziehungen zur Zentralgewalt regeln, 604 und nur die Ebene des Stadtrechts betrachtet, zeigt sich eine entscheidende Differenz: Es fehlt an der Gleichheit, dem konstitutiven Merkmal des „Staatsbürgers" als dem mit allen anderen gleichberechtigten Mitglied des modernen Staates. Noch weit bis in das 19. Jahrhundert hinein war der Erwerb des Bürgerrechts an die Ausübung eines städtischen Gewerbes oder städtischen Grundbesitz geknüpft. Das heißt, die Berufe des Bildungsbürgertums blieben ebenso ausgeschlossen wie die unselbständig Beschäftigten, innerhalb der städtischen Gemeinschaft existierten vielfältige Privilegien, Exemptionen und Rangunterschiede und einer gleichberechtigten Teilhabe an der öffentlichen Herrschaft standen Zunftwesen, Ämterordnung und Zensuswahlrecht entgegen. Auf der Grundlage der berühmten Stein'schen Städteordnung von 1808 wurde zwar erreicht, daß die Stadtbürger erstmals untereinander, also innerhalb des Bürgerstandes, gleichberechtigt waren, 605 603

H.-P. Schneider (Fn.583), 149, zur fortwirkenden Bedeutung der Stadt und ihrer Modellfunktion für den Staat des 19. Jh. vgl. auch aaO, 151, 155, 157; dazu allgemein H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 122 f.; vertiefend ders, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 3. Aufl. Berlin 1998, bes. § 14 II. (Stadt und Staat), 202 ff, 206 ff. 604 Die Richtung gegen Zwischengewalten ist zwar weithin kennzeichnend, die Regelung der unmittelbaren Beziehung zur Zentralgewalt tritt dabei jedoch in den Hintergrund (dazu Kleinheyer [Fn. 1], 1049 f. m.w.N.; speziell zum Städteprivileg in Art. 13 der Magna Charta s. Fn. 69). Ginge es allein um die vertikale Beziehung zur Zentralgewalt und die Frage der Immediatisierung, müßte der „Stadtbürger" also nur auf die staatliche Ebene gehoben werden, um zum „Staatsbürger" und konstitutiven Glied einer egalitären Staatsbürgergesellschaft zu werden, so wäre er wohl als dessen direkter Vorläufer zu bezeichnen. 605 Dazu im einzelnen Koselleck (Fn.594), 560 ff. (562): Der städtische Bürgerstand war ein „in sich gleichberechtigter Stand des Staates geworden. Zur Gleichheit der Bürgergemeinden trat die Gleichheit der Bürger selbst". § 16 des allgemeinen Gesetzes für alle Städte (Städteordnung) vom 19.11.1808 lautete: „In jeder Stadt gibt es künftig nur ein Bürgerrecht", d.h. die innerstädtischen Unterschiede zwischen Groß- und Kleinbürgern wurden aufgehoben.

II. Nation und Nationalstaat doch die ständische Gliederung als solche wurde beibehalten, die ständische Bürgergemeinde also keineswegs in die egalitäre Einwohnergemeinde überführt. 606 Erst durch die Revidierte Städteordnung von 1831 wurde jedem Bürger ohne Ansehen seines Standes das Bürgerrecht verliehen. Nur hat man die an einer Stelle eingerissene Barriere sogleich an anderer Stelle um so höher aufgetürmt: Der 1808 noch recht niedrig angesetzte Wahlzensus wurde beträchtlich angehoben. Auf dem Feld der „staatsbürgerlichen Gleichheit", ohne die sich der moderne Staatsbürger gar nicht denken läßt, hat nun wiederum der „Unterthan" 607 Pionierarbeit geleistet. Er ist ein Produkt des herrschaftlichen Strebens nach zentralistischer interner Souveränität, für die die in aller Schärfe vor allem von Jean Bodin entwickelte Souveränitätstheorie den Weg frei gab: Erst die Idee des von keinen äußeren oder inneren Mächten abhängigen und daher auch keine Zwischengewalten anerkennenden Staates erlaubt es, die innerstaatlichen Rechtsbeziehungen als unmittelbares Gewaltverhältnis zwischen Landesherrn und Untertan zu konstruieren, wobei die Untertanenstellung aus dem Unterworfensein unter die höchste Gewalt folgt. 608 Im Zuge der Territorialisierung der Herrschaft einerseits, der Beseitigung der intermediären Mächte auf staatlicher Ebene im Absolutismus andererseits, prägt sie sich zunächst als Gebietsuntertänigkeit aus. Das „Unterworfensein", das sich insbesondere in der für alle gleichen Bindung an das fürstliche Gesetz ausdrückt - das wiederum nach Bodin „nichts anderes (ist) (...) als der Befehl des Souveräns" 609 - wird also durch den Eintritt in den territorialen Herrschaftsbereich begründet und erstreckt sich damit prinzipiell auch auf Ausländer. 610 Die etappenweise Überführung der ständischen Ordnung 606

H.-P. Schneider (Fn.583), 148 ff. (insbes. 151 f.), der in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hinweist, daß man daher, wenn man von der „Freiheit und Gleichheit der Bürger" im 19. Jh. spricht, stets klären müsse, ob jene Begriffe in einem ständischfeudalen oder egalitär-liberalen Sinn gemeint seien. 607 Zu den Begriffen „Untert(h)an" und „Staatsbürger" im ALR s. Koselleck (Fn. 594), insbes. 56 ff., 660 ff.; s. im übrigen die Nachw. in Fn. 539. 608 Vgl. dazu Riedel (Fn.539), 679 ff, der hier u.a. darauf eingeht, wie sich die Anhänger des traditionell-aristotelischen Bürgerbegriffs, der die Ausschließung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen immer schon voraussetzte, mit der neuen Begriffsbestimmung des „Untertanen" auseinandersetzen. Speziell zur Bedeutung des allgemeinen und gleichen Untertanen Verbandes bei Kant, ebd., 695. 609 Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, 2 Bde. (übersetzt v. Bernd Wimmer), Hg. Peter Cornelius Mayer-Tasch, l.Bd. München 1981, Buch I, Kap.8, S.234; vgl. auch ebd., S. 222, u. Kap. 10, S. 293 f. 610 Demgemäß hatte auch Scheidemantel bei seiner Erläuterung des Bürgerbegriffs auf den wichtigen Unterschied zwischen Bürger (Mitglied des Staats, civis) und Untertan hingewiesen und ausgeführt, daß man Untertanen finde, die keine Bürger seien, „z.B. Fremde oder Knechte", aber auch „Bürger, die nicht Untertanen sind, z.B. der

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in einen einheitlichen Untertanenverband legt insofern das Fundament für die moderne Staatsbürgerschaft, 611 als sie exklusive, auf verschiedenen Ebenen angesiedelte Gruppenvorrechte durch eine unmittelbare, allgemeine, einheitliche und umfassende Beziehung des Individuums zum Staat ablöst und zugleich auf der horizontalen Ebene die Gleichstellung der Rechtsunterworfenen gegenüber der Staatsgewalt bewirkt. Die Gleichheit vor dem Gesetz wird im ALR zum Schlüsselbegriff, 612 aber sie wird hier aus ihrer einseitigen Fixierung auf das passive Prinzip der Rechtsunterworfenheit des isolierten Untertanen gelöst, erscheint als Bindeglied der „Mitglieder des Staates": „Die Gesetze des Staats verbinden alle Mitglieder desselben, ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts", heißt es in § 22 der Einleitung des ALR. Insofern trifft die Feststellung, daß das ALR das allgemeine gleiche Staatsbürgerrecht intendiert habe, 613 sicherlich zu. Auch wenn es die staatsbürgerliche Gesellschaft noch nicht selbst durchformt, 614 stellt es doch einen allgemeinen, alle Rechtsbeziehungen umfassenden rechtlichen Rahmen bereit, in dem die Rechtseinheit dann stufenweise realisiert werden kann. Im Zugriff des Staates auf ehedem städtische oder regionale Aufgaben wird so teils über die Gesetzgebung bereits ein „gesamtstaatliches Bürgerrecht" geschaffen. 615 Teils bleiben die Strukturen der ständischen Ordnung zwar vordergründig bestehen, aber das Gesetz wirkt durch sie hindurch, indem es Standesrechte zu begründungsbedürftigen und prinzipiell der Disposition des Gesetzgebers unterliegenden Privilegien werden läßt, 616 die bis dato autonomen

Monarch" (vgl. Repertorium [Fn. 592], 439, § 1). Ausfuhrlich zur Territorialuntertänigkeit Grawert, Staat (Fn. 386), 119 ff. u. passim. 611 Brubaker, Staats-Bürger (Fn.387), 82 ff. u. passim. 6.2 Kleinheyer (Fn. 1), 1063. 6.3 Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815-1848, in: Werner Conze (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, Stuttgart 1962, 3. Aufl. Stuttgart 1978, 79ff. (82); ders, Preußen (Fn.594), 52ff. (56); zustimmend Stolleis (Fn. 539), 74; s. auch Riedel (Fn. 539), 702, 705. 614 Grawert, Staat (Fn.386), insbes. 129f. 615 Koselleck, Preußen (Fn. 594), 562 ff.; zustimmend H.-P. Schneider (Fn. 583), 153, 157f, der das Beispiel der Gewerbereform aufgreift, die die Zulassung zu einem Gewerbe verstaatlichte und mit dem preußischen Gewerbepolizeigesetz von 1811 für einen begrenzten, aber wichtigen Bereich ein „gesamtstaatliches Bürgerrecht" erzwang. S. betont, daß die überwiegend im Wege der einfachen Gesetzgebung herbeigeführte Egalisierung der Lebensverhältnisse der eigentliche Motor einer sozialen und ökonomischen Herausbildung des Staatsbürgertums gewesen sei, zu dem erst in zweiter Linie die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte beigetragen habe. 616 Siehe dazu Kleinheyer (Fn. 1), 1063; Grawert, Staat (Fn. 386), 130.

II. Nation und Nationalstaat Stände als durch ihre Funktion bestimmte Körperschaften definiert, gesetzlich regelt und so in „staatliche Berufsstände" verwandelt. 617 In dieser Weise werden nicht nur die Stände und sonstigen Korporationen in die gesamtstaatliche Ordnung eingebunden, sondern auch deren Mitglieder erreicht. Anders als der über seine „Gesetzesunterworfenheit" definierte „Untertan" wird das in §§22 Einl. ALR angesprochene „Mitglied des Staates" als Adressat des personell-allgemeinen Gesetzes in den Staat integriert, 618 als konstitutiver Teil des Ganzen ernst genommen. Der Gedanke der Rechtsgleichheit beginnt hier über die passive Seite des von allen Untertanen gleichermaßen geschuldeten Gesetzesgehorsams hinauszuwachsen. Da der einzelne im ALR eben nicht nur aus seinem Pflichtenstatus heraus begriffen, sondern als Träger von Rechten und Pflichten, ständischen und staatlichen Ursprungs, angesprochen wird, 6 1 9 erfaßt die im Programm des staatlichen Gesetzes liegende Gleichstellung mit allen anderen „Mit-Gliedern des Staates" tendenziell bereits beide Komponenten mit Stoßrichtung gegen ständische Ungleichheiten: Gleichbehandlung ist zwar noch keine gesetzgeberische Pflicht, aber immerhin eine gesetzgeberische Möglichkeit. 620 Insofern reicht die integrative Kraft des Gesetzes sehr viel weiter als die tatsächliche Umsetzung des Programms der Egalisierung. Die im ALR in ersten Grundzügen angelegte „Staatsmitgliedschaft" empfängt von dem auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Bürgerbegriff demnach ebenso Impulse wie von den unterschiedlichen Angehörigkeitsbezeichnungen auf staatsrechtlicher Ebene. Zudem ist im Blick auf diese sich wechselseitig beeinflussenden und partiell überlagernden Bedeutungsschichten 6 2 1 zu berücksichtigen, daß hinter diesen Begrifflichkeiten auch naturrechtliche Denkmuster stehen. Carl Gottlieb Svarez (1746-1798), der eigentliche Verfasser des preußischen Gesetzbuches, hatte sich mit den natürlichen Rechten und Freiheiten der Bürger, mit der Frage des Staatszwecks und der naturrechtli617

Koselleck, Preußen (Fn.594), 70ff. (74); ders., Staat (Fn.613), 83: „Die Stände werden in rechtlicher Hinsicht zu staatlich genehmigten Berufs verbänden, deren Eigenständigkeit durch ihre Zuordnung zum Gesamtzweck mediatisiert wird"; im Anschluß daran Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387), 90 f. 618 Vgl. dazu Grawert, aaO. 619 Das spätere Begriffsverständnis, daß der Untertan einen „Pflichtenstatus", der Bürger hingegen einen „Rechtsstatus" besitzt, ist im ALR terminologisch noch nicht durchgehalten (Grawert, aaO, 125). Aber das ALR bezieht sich, auch wenn es die Begriffe „Bürger" oder „Einwohner" gebraucht, auf Rechte und Pflichten der so Bezeichneten, und das ist hier der entscheidende Punkt. 620 Kleinheyer (Fn. 1), 1063. 621 So für den Bürgerbegriff H.-P. Schneider (Fn.583), 145; ausführlich Koselleck, Preußen (vgl. Fn. 594), insbes. 56 ff, 660 ff.

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion chen Vertragslehre in seinen Kronprinzen-Vorträgen eingehender befaßt. Er vertritt hier eine fur den aufgeklärten Absolutismus typische Position: 622 Einerseits leitet Svarez die Pflichten und Rechte des Staatsoberhauptes aus dem „bürgerlichen Vertrag" und den „Zwecken der bürgerlichen Gesellschaft" ab und begrenzt sie dadurch, andererseits rechtfertigt er durch Geburt, Stand etc. begründete Unterschiede der Rechte und Pflichten der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als auf „positiven Gesetzen des Staats" beruhend. 623 Er kennt zwar „natürliche Rechte", die der Mensch nach dem Übertritt in die bürgerliche Gesellschaft behalte, 624 unterscheidet auch zwischen allgemeinen Rechten und Pflichten eines jeden Menschen und Mitgliedes der bürgerlichen Gesellschaft und besonderen Rechten und Pflichten der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, doch sind ihm politische Mitwirkungsrechte fremd. Dieser „gemischte Ansatz" schlägt sich auch im ALR nieder, so daß von Vertretern des Ende des folgenden Jahrhunderts vorherrschenden staatsrechtlichen Positivismus kritisch gewisse „Anklänge an den Vertragsstaat der Aufklärungsphilosophie" vermerkt werden. 625 Es ist somit festzuhalten, daß das „Mitglied des Staates" nicht nur auf der Gleichheit der Untertanen aufbauen kann, 626 die im Hinblick auf die potentielle Gleichheit im Rechtsstatus einen Zuwachs erfährt und ihm so schon eine aktivere Rolle zuweist; es hat nicht nur das Vorbild des traditionell zu echter politischer Mitwirkung berechtigten Stadtbürgers vor Augen, 627 sondern es trägt auch Züge des naturrechtlichen „civis" und des vorrevolutionären deutschen „StatsBürgers". Wenn das ALR „civis" vor allem mit „Mitglied des Staats" über-

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Vgl. dazu im einzelnen Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Hermann Conrad /Gerd Kleinheyer, Köln/Opladen 1960, 53 ff., 215 ff., 258 ff., 453 ff. (bes. 463 ff.), 580 ff., 603 ff. u. passim. 623 Ebd., bes. 258 ff. (261). 624 Ebd., 582 f. u. passim. 625 So Bornhak (Fn. 509), 243. Allgemein zum Einfluß von Svarez auf das ALR s. Koselleck, Preußen (vgl. Fn.594), 23-44 (bes. 26), 54 u. passim, sowie Kleinheyer, Grundrechte (Fn. 1), 1062 ff. 626 Bzw. der „Bürger", „Einwohner" etc., s. oben bei Fn. 602. Die Bezeichnung „Untertan und Bürger" wurde häufig parallel gebraucht und zeigt hier in erster Linie einen Wechsel der Perspektive an, s. Weinacht (Fn.539), 44ff. (45); Stolleis (Fn.539), 67 ff. (70), 85; zur späteren Polarisierung vgl. oben Fn. 539. 627 Die politische Bedeutung des „Stadtbürgers" schwindet zwar mit der Durchsetzung der inneren Souveränität des Staates, aber zugleich werden „die Gliederung in Korporationen und Assoziationen, die Wahlverfahren und nicht zuletzt die Rechtsstellung des Bürgers" für den nachabsolutistischen Staat des 19. Jh. geradezu zum Vorbild, so H.-P. Schneider (Fn. 583), 155, der hier von einer „gewissen ,Verstädterung' (Urbanisierung) des Staates" spricht.

II. Nation und Nationalstaat

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setzt, 628 ist damit zwar anders als in der aristotelisch-ciceronianischen Tradition nicht der politisch Mitentscheidende und Mitherrschende gemeint, und der „civis" der neuzeitlichen Sozialvertragslehre war politisch gesehen vielleicht wirklich zunächst nicht mehr als ein „papiernes Konstruktionselement im Kalkül der Legitimierung absolutistischer Herrschaft". 629 Dennoch wird damit eine wichtige und im Hinblick auf Mitwirkung und Teilhabe sogar jenseits vernunftrechtlicher Begründungsmuster prinzipiell trag- und ausbaufähige Vorstellung aufgenommen: Es ist der später neben den Vertragslehren auch von Vertretern der Lehre vom Staat als Organismus aufgegriffene Gedanke,630 daß „am Sein des Ganzen und dessen Bildung alle Glieder' in irgendeiner Weise aktiv teilhaben", 631 der einzelne also ein konstitutives Staatsglied sei und seine politische und rechtliche Bestimmung aus seiner Gliedstellung im „Staatskörper" heraus erfolgen müsse. Dieser Gedanke steht in einer langen Tradition, wie nicht zuletzt das Rousseau-Zitat aus dem berühmten 6. Kapitel des Contrat Social, Buch I , 6 3 2 verdeutlicht. Im Anschluß an die Formulierung „und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf 4 heißt es dort: Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch eben diesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluß aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft.

628 Stolleis (Fn. 539), 74 (oder mit „Einwohner"; vgl. Riedel [Fn.539], 691, Fn.87). „Civis" vornehmlich mit „Mitglied des Staates" zu übersetzen, liegt insofern nahe, als das aus der westlichen politischen Tradition erwachsende Naturrecht (Bodin, Grotius, Hobbes etc.) in Anknüpfung an den civis-Begriff des jus civile „aus dem civis das ,Glied einer weltlichen Gemeinschaft schlechthin4" gemacht hatte; Stolleis, aaO, 67. 629 Stolleis (Fn. 539), 84; dazu, daß auch Naturrecht und ständische Schichtung durchaus zu vereinbaren waren, solange der civis „eine politisch machtlose Kunstfigur im Rahmen des S ozi al Vertrages" blieb, die Pflichtenseite also nicht durch politische Rechte ergänzt wurde, ders, aaO, 67. 630 Vgl. statt vieler Gerber, Öffentliche Rechte (Fn.296), 29ff, 39ff, 53, 56, 62, 68, 71, 77 u. pass. Für eine knappe, gleichwohl anschauliche Gesamtdarstellung, die von Stahl bis zu Gierke reicht, s. Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1908 (speziell zu Gerber, 22 ff. [bes. 31]). Indem die spezifisch juristische Konstruktion der Staatsgewalt durch einen Vertrag aufgegeben und durch die Metapher des „Organismus" ersetzt wird, findet allerdings, wie Stolleis (Fn. 539), 82 f, zutreffend feststellt, der „Auszug der Philosophie aus dem Staatsrecht" statt. 631 So bezogen auf den Organismusgedanken Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, 148. 632 Neu übersetzt und hg. v. Brockard/Pietzcker (Fn. 225).

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Abgesehen davon, daß der einzelne jeweils als „konstitutives Staatsglied" betrachtet wird, sind die Ansätze der unterschiedlichen Spielarten der Lehre vom Staat als Organismus und der Vertragslehren zwar völlig konträr, denn es macht einen prinzipiellen Unterschied, ob im Rückgriff auf das Modell der antiken Polis von einem vorgegebenen Ganzen, das früher ist als seine Teile, ausgegangen wird, oder der Staat im Sinne der neuzeitlichen Vertragstheorien aus dem Vorgang seiner Entstehung erklärt und die einzelnen als daran aktiv beteiligt gedacht werden. Die um die Stellung des Bürgers im Staat kreisende Theoriebildung des späten 18. und des 19. Jahrhunderts bedient sich darüber hinaus auch ganz unterschiedlicher Denkfiguren, die von den verschiedenen Vertragskonstruktionen über den Bürger als „Aktionär" in der großen „Staatskompanie" (Justus Moser), 633 den „(Bürger-)Verein" (Carl Welcker), 634 das

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Im Rahmen einer organischen Geschichts- und Naturtheorie des Volkes, die den genossenschaftlich strukturierten altgermanischen Landeigentümerstaat zum Ausgangspunkt bestimmt, unterscheidet er zwischen denjenigen, die eine Land- oder später Geldaktie halten und dadurch auch politischen Einfluß gewinnen, und denjenigen, bei denen das nicht der Fall ist. Zu Mosers Theorie, die insbes. 1790-1795 lebhaft diskutiert wurde, Riedel (Fn.539), 687ff.; vgl. auch Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 2. Aufl., Berlin 1995, 23 ff. (37 f.), der betont, daß es nicht um eine patrimoniale Herleitung öffentlicher Rechte oder eine sachliche Gemeinsamkeit mit dem späteren Zensuswahlrecht gehe, sondern Moser von einem Ordnungsbild vor der Trennung von Staat und Gesellschaft her denke und dementsprechend einen vorliberalen Eigentumsbegriff zugrundelege. 634 Dabei fließen auch hier unterschiedliche Ansätze zusammen; s. dazu den Art. Stand; Unterschied der Stände, in: v. Carl v. Rotteck/Carl Welcker, Das StaatsLexikon, Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 12. Bd., Altona 1848, 407: Der freie, rechtliche Staat „ist ein freier Hilfsverein, ein freies und hilfreiches lebendiges oder organisches Gemeinwesen eines selbständigen Volkes für die gemeinschaftliche Verwirklichung der menschlichen Gesammtauf gäbe oder der menschlichen Kultur. Das hilfreiche Zusammenwirken aller Glieder des Vereins zur Gesammtaufgabe hat hier zu seiner Grundlage und Grundbedingung den Friedensverein oder das Recht (...)". Und weiter (408): „Jeder hat als menschliche Persönlichkeit, als freies Mitglied des Reiches der gesitteten Menschheit den gleich heiligen Selbstzweck und die Selbstgesetzgebung und gemäß derselben Pflicht und Recht, nach seiner freien sittlichen Ueberzeugung sein Leben, seine Theilnahme oder Nichttheilnahme, den Einund Austritt in bestimmte Lebensthätigkeiten und Staats- und Standespflichten zu bestimmen. Der Bürgerverein aber anerkennt und schützt dieses Menschenrecht. Jeder hat zugleich als freier Bürger oder als freies Mitglied des bürgerlichen Hilfs- und Kulturvereins das gleich heilige Recht der Gleichheit oder der gleichen Theilnahme an seiner höchsten Idee und Aufgabe, an den freien Bestrebungen und Vereinen für sie, wie an ihren allgemeinen Vortheilen und Lasten oder an dem allgemeinen Bürgerrecht oder der allgemeinen Bürgerpflicht (Kursivdruck i. Orig. gesperrt gedruckt).

II. Nation und Nationalstaat „Gesammtbürgschafits- und Volksverbands-Verhältnis" (Silvester Jordan), 635 d.h. eine gegenseitige, durch völlige rechtliche Gleichheit gekennzeichnete Beziehung, in welcher der einzelne auch „Bürger (cives - gleichsam Verbürgte)" heiße, bis hin zur „Genossenschaftslehre" reichen, wie sie etwa von Otto Bähr vertreten und insbesondere auch in dem berühmten vierbändigen Werk Otto v. Gierkes ausgearbeitet wird. 6 3 6 Gemeinsam ist ihnen aber die auch im Begriff des „Mitglieds" im ALR (im Gegensatz zum „Unterthan") angelegte Vorstellung, daß der einzelne in einem wechselseitigen Rechtsverhältnis zum Staat stehe und ihm als Staatsglied zudem (tendenziell) eine aktive, teilnehmende, relativ selbständige Rolle zukomme, 637 die dann unter den Gesichtspunkten des Vertrages, des Vereins, der Genossenschaft etc. jeweils unterschiedlich interpretiert wird. Allerdings sind diese Ansätze, soweit sie echte politische Mitwirkungsrechte begründen, vielfach zugleich bestrebt, die angebliche „Unmündigkeit" 638 weiter Bevölkerungsschichten darzulegen, um das Wahlrecht so im Ergebnis auf das Besitzbürgertum zu beschränken. Schon der von den unterschiedlichen Chiffren, die für die Mitgliedschaft im Staat angeboten werden, zu abstrahierende Grundgedanke, daß die Beziehung des einzelnen zum Staat im Sinne wechselseitiger Rechte und Pflichten aufzufassen sei, dem einzelnen im „Staatskörper" (Scheidemantel)639 folglich eine verfassungsrechtlich gesicherte Position zukomme, bietet ein gutes Fundament für die Staatsbürgerschaft als Mitgliedschaft im Verfassungsstaat. Auch das ALR weist nicht nur durch die Begriffswahl „Mitglied" und „Bürger" indirekt auf eine Rechtsstellung des einzelnen, ein zweiseitiges Rechtsverhältnis zwischen Individuum und Staat hin, sondern spricht dessen Rechte und Pflichten gegen die Bürger sogar ausdrücklich an: „Alle Rechte und Pflichten des Staats gegen seine Bürger (...) vereinigen sich in dem Oberhaupte desselben", heißt es etwa in § 1 II 13 ALR. 6 4 0 Zwar sind solche Bestimmungen, die nichts über den 635

Versuche (Fn. 4), 390. Und bei Daniel Georg v. Ekendahl, Allgemeine Staatslehre, 1. Teil, Neustadt an der Orla 1833, 108, heißt es: „Durch das Bürgerrecht wird der Mensch collectives Mitglied des Staates; aber erst wenn er die durch das Grundgesetz bestimmten Bedingungen erfüllt hat, wird er als solches betrachtet". 636 Otto Bähr, Der Rechtsstaat, Cassel/Göttingen 1864, bes. 18 ff. (II. Das öffentliche Recht und seine Grundlage, das Genossenschaftsrecht); Otto v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bd, Berlin 1868, 1873, 1881, 1913; ders, Labands Staatsrecht (Fn.296), insbes. 34ff. (36). 637 Vgl. Grawert, Staat (Fn. 386), 125. 638 Siehe dazu Grawert, aaO, 166 f. 639 Vgl. oben S. 198. 640 Zu den ursprünglich noch weitergehenden Formulierungen im Entwurf des ALR und des AGB, Kleinheyer (Fn. 1), 1061 f. 14 Siehr

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Inhalt des Rechtsverhältnisses aussagen, für sich genommen neutral, aber nicht ohne Grund verficht Robert v. Mohl später die Position, daß die Staatsangehörigkeit im Rechtsstaat überhaupt nur als Rechtsverhältnis ausgestaltet sein könne. 641 Wie man sich ein solches „zwischen den Unterthanen und dem Herrscher bestehende(s) Rechtsverhältnis" denken könne, hatte zuvor bereits Silvester Jordan in seinem Werk „Versuche über ein allgemeines Staatsrecht (...)" von 1828 beschrieben: zunächst einmal nur als ein „zweiseitiges". Das bedeutet, daß auch der „Staatsvertrag (...) ein zweiseitiger Vertrag (ist), in dem das Volk die Pflicht des gesezlichen Gehorsames gegen das Recht auf gesezliche Regierung, und der Herrscher die Pflicht der gesezliche Regierung gegen das Recht auf gesezlichen Gehorsam übernimmt". Dem entspricht ein Begriff des Staates, nach dem dieser als ein „unauflöslich bestehender rechtlicher Verein zur Begründung der Herrschaft des Rechtsgesezes mittels Anerkennung einer gemeinschaftlichen Obergewalt" zu verstehen ist. 642 Mit dieser Charakterisierung der Staatsangehörigkeit als „Rechtsverhältnis" wird nicht nur dem Macht- und Unterwerfungsverhältnis von Souverän und Untertan ein in der Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten rechtlich geordnetes Verhältnis entgegengesetzt und so der für den Rechtsstaat spezifischen Betonung des Rechtsgedankens Ausdruck verliehen, sondern darüber hinaus auch der Grund für eine bestimmte inhaltliche Auffassung vom Angehörigkeitsverhältnis gelegt: „Das Staatsbürgerrecht ist der Inbegriff derjenigen Rechte, welche dem Staatsbürger als solchem, also ohne besondere Erwerbung, dem Staate gegenüber zustehen, nämlich derjenigen Rechte, welche jedem Staatsgenossen schon wegen dieser rechtlichen Eigenschaft als Teilnehmer der Staatsgenossenschaft gebühren", heißt es bei v. Rönne. 643 Wenn nun tatsächlich staatsbürgerliche Rechte eingefordert und in Verfassungsurkunden aufgenommen werden, ist es auf dieser Basis ein leichtes, sie als Inhalt des Angehörigkeitsverhältnisses darzustellen, und zwar, das ist der springende Punkt: als notwendigen und nicht etwa nur im Rahmen eines Verfassungskompromisses ausgehandelten Inhalt dieses Rechtsverhältnisses. V. Rönnes Definition des „Staatsbürgerrechts" hat also einen der Berufung auf die Idee „ewiger, unverletzlicher und unveräußerlicher Menschenrechte" vergleichbaren Effekt: Sie erhöht und sichert die „Bestandskraft" jener Rechte, denn wenn diese dem 641 V. Mohl, Staatsrecht Württemberg (Fn. 539), 316, bes. 323 f.; vgl. auch ders., Encyklopädie (Fn.539), 113ff. („§ 16. 6. Bürger und Unterthan"), 223ff. („§31. d. Rechte und Pflichten der Unterthanen"), 324 ff., bes. 326 ff. („5. Der Rechtsstaat"). 642 Silvester Jordan, Versuche (Fn. 4), 1 f. u. pass, zum Staatsbegriff (Hervorhebung im Original, S. 1), ebd., 66 und 112 zum Rechtsverhältnis. 643 Ludwig v. Rönne, Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, l.Bd., 2. Abt., 3. Aufl. Leipzig 1870, 3. Abschnitt, l.Kap., 1. Titel, §86 II., S.3; dagegen Bornhak (Fn. 509), 243, Fn. 7.

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„Staatsbürger als solchem (...) ohne besondere Erwerbung (...) als Teilnehmer der Staatsgenossenschaft gebühren", können sie ihm auch mit keiner Begründung vorenthalten oder gar wieder entzogen werden. Die Annahme, daß die Staatsangehörigkeit (zumindest auch) als „Rechtsverhältnis" zu kennzeichnen und folglich mit bestimmten Rechten des Staatsbürgers verbunden sei, bildet den gemeinsamen Ausgangspunkt bei so unterschiedlichen Autoren wie Jordan, v. Mohl, Gierke 644 und Bähr 6 4 5 bis hin zu G. Jellinek und Laband. Die beiden Erstgenannten hatten ja sogar Gelegenheit, ihre Vorstellungen über dessen inhaltliche Ausgestaltung in den Prozeß einer Verfassunggebung einfließen zulassen: Jordan 646 war an der Ausarbeitung des Entwurfs der Kurhessische Verfassung vom 5.1.1831 beteiligt und steuerte insbesondere den Grundrechtskatalog, die Präambel (in der sich auch der intendierte Vertragscharakter der Verfassung andeutet) und einige Schlüsselparagraphen zur Staats- und Regierungsform bei, und v. Mohl wirkte, wie oben schon erwähnt, im Frankfurter Paulskirchenparlament mit. Unter dem Eindruck dieser Geschehnisse werden die Grundrechte nun tatsächlich häufiger als Inhalt des Angehörigkeitsverhältnisses ausgegeben.647 Dabei schließt

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V. Gierke, Labands Staatsrecht (Fn.296), 36ff. (zum Rechtsverhältnis der Staatsangehörigkeit); Genossenschaftsrecht I (Fn.636), 822 ff, insbes. 833 (zur „staatsbürgerlichen Genossenschaft, in welcher die sämmtlichen voll- und gleichberechtigten selbständigen Staatsbürger die Aktivgenossen sind"); allgemein zu seinem ausgeprägt rechtsstaatlichen Denken, das den Staat nicht über (so aber Bornhak [Fn. 509], 268), sondern voll und ganz „im Recht stehen" sieht, „indem sein Organismus selbst Recht ist", s. Genossenschaftsrecht I, 831, und Labands Staatsrecht, insbes. 5 und 76 f.; hierzu auch H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1), 6 f. 645 Bähr, Rechtsstaat (Fn.636), 18ff. (21, 26f, 32, 38), u. speziell zum Staat als der Juristisch entwickelte Begriff für die Genossenschaft der Nation" auch 45 ff. (47 ff). 646 Siehe dazu Hellmut Seier, Sylvester Jordan und die kurhessische Verfassung von 1831, Marburg 1981, 11 ff. (insbes. 16 ff.). 647 Dazu Grawert, Staat (Fn.386), 227 f.; skeptisch P. Zorn, der die Staatsangehörigkeit zwar durchaus als „das besondere Rechtsverhältnis der Staatsgewalt zu den sein Substrat bildenden Volksgenossen" begreift (Staatsrecht [Fn. 506], 252 f.), aber meint, daß man den Rechtsinhalt der Staatsangehörigkeit entweder auf den Schutzgedanken beschränken oder gleich die ganze Rechtsordnung mit einschließen müsse, soweit sie diesen Gedanken ausdifferenziere. Der zumeist gewählte „Mittelweg", nur die „sogenannten Grundrechte" als Inhalt des Staatsbürgerrechtes aufzuzählen, erscheint ihm (wohlgemerkt: vor dem Hintergrund des damaligen Grundrechtsverständnisses!) systematisch verfehlt. Gleichwohl glaubt er, daß dies unter einem anderem Gesichtspunkt zu rechtfertigen sei: Es werde so „ein Ueberblick gewonnen über den Culturgrad, den die betreffende Staats- und Rechtsordnung repräsentirt" (aaO, 272 ff. [275]) - ein interessanter Gedanke, wenn man an die heutige Charakterisierung der Grundrechte als Verbürgung eines „rechtsethischen Minimums" denkt.

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beispielsweise v. Mohl im Begriff der staatsbürgerlichen Rechte ausdrücklich auch die politischen Rechte ein. 6 4 8 Demgegenüber mag die Aufnahme von G. Jellinek und Laband in diese Ahnenreihe zunächst überraschen, da sie zumeist nur als Vertreter der sog. Statuslehre wahrgenommen werden. Doch ist für sie die Staatsangehörigkeit zugleich notwendigerweise mit bestimmten Rechten verbunden. So heißt es etwa in Jellineks „System der subjektiven öffentlichen Rechte": „Kraft der Gewährung positiver Ansprüche an den Staat wird die Mitgliedschaft am Staate von einem reinen Pflichtverhältnis zu einem doppelten, zugleich berechtigenden und verpflichtenden Zustande. Dieser Zustand ist es, der als Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft, Staatsbürgerrecht, nationalité bezeichnet wird". 6 4 9 Damit steht G. Jellinek im Gegensatz zu einer damals verbreiteten „staatszweckentleerten" Staatsauffassung, die dies für völlig unvereinbar mit der staatlichen Souveränität hält. 650 So ist etwa nach v. Gerber die „staatsrechtliche Stellung eines Unterthanen (...) die eines staatlich Beherrschten und mit diesem Begriffe vollständig bezeichnet". Mit dieser Begründung wendet sich v. Gerber insbesondere gegen den im Blick auf die „sogenannten Volksrechte" eingeführten Begriff des „Staatsbürgerthums". 651 Es geht diesen Autoren aber eben nicht nur um das „widersinnig-monströse Wort Staatsbürger 4" (Bornhak), 652 sondern vor allem um die inhaltliche Auffassung vom Angehörigkeitsverhältnis, 648

Zu v. Mohls Wirken in der Paulskirche vgl. oben Fn. 278; zu seiner Haltung gegenüber den politischen Rechten s. Encyklopädie (Fn.539), bes. 116, wo er ausdrücklich feststellt, daß es ein zu enges Verständnis der staatsbürgerlichen Rechte sei, wenn man darunter nur die negativen Freiheitsrechte und nicht auch die politischen Rechte fasse, die im „classischen Alterthume" doch als „Ansprüche auf Mitregierung (...) in erster Reihe" standen. 649 System (Fn.230), 116; vgl. auch ebd. 82ff., 116ff.; ders., Staatslehre (Fn.203), 418 ff. Hingegen ist Labands Position zwiespältig: Einerseits betrachtet er die Staatsangehörigkeit als gegenseitiges Rechtsverhältnis, was selbst v. Gierke bei aller Kritik lobend hervorhebt (Labands Staatsrecht [Fn.296], 34 ff. [36]), andererseits sieht er aber anders als G. Jellinek weder in den Grundrechten noch in den politischen Rechten subjektive Rechte. 650 Dazu Grawert, Staat (Fn. 386), 228 ff. Allgemein zur deutschen Staatslehre im 19. Jh. s. Ulrich Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festgabe f. Rudolf Smend z. 80. Geburtstag, Tübingen 1962, 225 (226 ff.). 651 Öffentliche Rechte (Fn. 296), 62 ff. (63 f.). An anderer Stelle führt Gerber aus, daß der Staatsbürger in einem „organischen Gewaltverhältnisse" zum Staat stehe, als dessen bloße „Reflexwirkungen" sich dessen „Gegenrechte an dem Subjekte der herrschenden Gewalt" erweisen; vgl. Grundzüge des Deutschen Staatsrechts, Neudruck der 3. Aufl. Leipzig 1880, Aalen 1969, 44-50 (insbes. 46f., Fn.2 u. 3 gegen Bährund v. Rönne). 652 Bornhak (Fn.509), 243.

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das auch bei v. Seydel und Stahl allein durch Untertänigkeit und ungemessenen Gehorsam gegenüber einem präexistenten Staat gekennzeichnet ist: „Die Staatsangehörigkeit ist Unterthänigkeit unter die Staatsgewalt. Nur diese Unterworfenheit und nichts Anderes ist demnach der Rechtsinhalt der Staatsangehörigkeit", stellt v. Seydel apodiktisch fest. Die „Rechte" der Staatsangehörigen seien „nur deren mittelbare Folge", gingen aber, anders als die Gehorsamspflicht, nicht daraus hervor und könnten daher bei einer „Erörterung des Inhaltes der Staatsangehörigkeit" keine Berücksichtigung finden. 653 Von dieser Position unterscheidet sich nicht nur der bereits zitierte G. Jellinek, sondern auch Laband, der den „Anspruch des einzelnen Staatsbürgers auf die Erfüllung der Aufgaben, welche der Staat seinen Angehörigen gegenüber übernommen hat" ausdrücklich als Inhalt des Staatsbürgerrechts anerkennt und in diesem Zusammenhang auch bestimmte einzelne Rechte des Staatsbürgers benennt. 654 Doch welche Rechte sind es nun, die dem „Staatsbürger als solchem, also ohne besondere Erwerbung" (v. Rönne) dem Staate gegenüber zustehen? Tatsächlich bestehen hier ebenso wie in der Frage der Begründung jener Rechte, bei der an der Idee von Staatsvertrag und „Volksverbands-Verhältnis" (Jordan) bzw. der Idee von „Menschen- und Volksrechten" (v. Mohl) 6 5 5 orientierte Vorstellungen mit genossenschaftsrechtlichen (v. Gierke) und staatspositivistischen Ansätzen (Laband) konkurrieren, zwischen den Verfechtern staatsbürgerlicher Rechte deutliche Differenzen. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Dreiteilung der staatsbürgerlichen Rechte, die v. Mohl in seiner „Encyklopädie der Staatswissenschaften" von 1859 vornimmt: Die Berechtigungen des Staatsbürgers als solcher zerfallen in drei Arten. Die eine begreift die Forderungen auf Erfüllung der allgemeinen Staatszwecke, und sie besteht theils in Ansprüchen, welche durch die positiven Gesetze des concreten Staates ausdrücklich anerkannt sind, theils aus bloßen Schlußfolgerungen, welche aus der Natur 653

V. Seydel (Fn. 509), 558, 569, 572. Friedrich Julius Stahl hebt zudem hervor, daß die Menschen sich im Staat finden, „bevor sie darüber nachdenken", er „weder durch den Willen der Einzelnen noch auch durch den Willen des Volkes als Ganzen (entstehe), weil er überhaupt nicht durch eine beabsichtigte That entsteht". Was zähle, sei seine bloße Existenz. Demgemäß sei auch der Gehorsam der Untertanen kein freiwilliger, von ihrer Zustimmung in einem Vereinigungs- und Unterwerfungsvertrag abhängiger, sondern ein „notwendiger", s. Die Philosophie des Rechts, 2. Bd, 5. Aufl. von 1878, unveränderte 6. Aufl. Darmstadt 1963, 171 ff. (bes. 171). Zur Stahlschen Formalisierung des Rechtsstaatsbegriffs s. H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1 ), 5 f. 654 Siehe oben Fn. 490 und Fn. 509. Kritisch dazu, daß Laband trotz „seiner konträren Grundposition" einen Katalog von Einzelrechten als Inhalt der Staatsangehörigkeit ausgebe, P. Zorn (Fn. 506), 274. 655 Siehe dazu oben Fn. 278. Nach dem Scheitern der Revolution äußert er sich allerdings deutlich vorsichtiger als in der Paulskirchenversammlung selbst; vgl. Encyklopädie (Fn. 539), 233 f.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion des Staates überhaupt und der betreffenden Staatsgattung insbesondere folgerichtig abgeleitet werden können. Eine zweite Art sind die negativen Freiheitsrechte des Einzelnen (...). Endlich bilden, aber allerdings nicht in allen Staatsarten, die Berechtigung zur Theilnahme an Regierungshandlungen, eine dritte Kategorie.656

Zu den staatsbürgerlichen Rechten zählen für ihn also zunächst jene Ansprüche, „welche der einzelne Unterthan schon als Theilnehmer an der Staatsverbindung für seine Person zu machen berechtigt ist", und dies ist neben dem Recht der „bleibenden Theilnahme am Staate", insbesondere das „Recht auf Gewährung der Vortheile, welche die betreffende Staats art jedem einzelnen Theilnehmer in Aussicht stellt". 657 Er erläutert weiter: „Die Gewährung ist also nicht eine Gnade, welche auch nach Belieben entzogen werden kann; sondern sie ist förmliche Rechtspflicht von Seiten des Staates und seines Oberhauptes, deren eigenes Vorhandensein durch diese Leistung bedingt ist. Bei einer nachweisbaren Unzulänglichkeit der Mittel muß wenigstens das Gesetz der Verhältnißmäßigkeit beobachtet werden. Vor allem ist also wenigstens das zur Erhaltung des Daseins Unentbehrliche zu leisten, namentlich der Rechtsschutz. Ueber das Weitere entscheidet die Wichtigkeit, diese nach dem Durchschnitte verständiger menschlicher Schätzung berechnet". Diese Umschreibung deckt sich mit dem Anspruch auf „Schutz im Auslande und Schutz im Inlande" bzw. auf „Versorgung und Förderung", den auch Laband als wesentlichen Inhalt der Mitgliedschaft am modernen Staat betrachtet, 6 5 8 und der, wie eine Analyse der Debatte im Parlamentarischen Rat gezeigt hat, auch die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte trägt. Diese älteste Schicht „staatsbürgerlicher Rechte" erwächst also unmittelbar aus dem Prinzip der Staatsmitgliedschaft und die Charakterisierung als „staatsbürgerliche Rechte" ist zugleich Ausdruck der Integrationsleistung der Staatsbürgerschaft. Allerdings werden sie heute im Gebäude des Verfassungsstaates mit seinen umfassenden rechtlichen Gewährleistungen nicht mehr als eigenständige Gruppe von Rechten wahrgenommen. Demgegenüber bestand nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49, zu einer Zeit also, als die verfassungsrechtliche Garantie von Grundrechten und politischen Rechten alles andere als selbstverständlich war, noch ein klares Bewußtsein dafür, daß es neben jenen umkämpften Rechten eine noch grundsätzlichere Form der Berechtigung des Staatsbürgers gegen den Staat gebe, die auch keineswegs dem damals verfemten menschenrechtli656

Encyklopädie (Fn. 539), § 16., 116. Hierzu und zum folg. aaO, 224, 226. Er faßt unter die staatsbürgerlichen Rechte auch die klassischen Freiheitsrechte („Recht der freien Gedankenäußerung", Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit etc.) sowie die Habeas-Corpus-Rechte, vgl. 227 f. Hinsichtlich der politischen Rechte verweist er hingegen auf die Unterschiede der „verschiedenen Gattungen und Arten von Staaten", vgl. 228. 658 Vgl. zu Laband oben Fn. 490, 509 und pass. 657

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chen Gedankengut zuzuschreiben sei, sondern „schon aus der Natur des Staates überhaupt" folge. Doch wie steht es nun um die staatsbürgerlichen Rechte im engeren Sinne: Sind sie nur als Folge der Anerkennung menschenrechtlicher Autonomieansprüche zu begreifen oder kann, wie oben behauptet, das Prinzip der Staats mitgliedschaft im Verfassungsstaat - jenseits vertragstheoretischer Konstruktionen - den staatsbürgerlichen Anspruch auf Mitwirkung und Teilhabe zumindest mit tragen? Im Hinblick auf die Frage, inwieweit sich der Gedanke der „Mitgliedschaft im Staat" in Richtung auf echte demokratische Mitwirkung und Teilhabe als ausbaufähig erweist, führt der Ansatz Labands nicht weiter, da sich in dessen Haltung gegenüber den politischen Rechten eine deutliche Distanz ausdrückt. Anders als Vertragstheoretiker wie Rousseau, die den einzelnen als mitwirkendes Subjekt bei der Staatsgründung durch Vertrag begreifen und folglich gar nicht anders als als „Mitgesetzgeber" denken können, geht er von einem vorgegebenen Staat aus und beschreibt die Mitgliedschaft am modernen Staat allein unter Bezugnahme auf den verfassungsneutralen Staatsbegriff. Zwar ergeben sich daraus für ihn nicht nur Schutzansprüche, sondern er sieht in der Staatsangehörigkeit auch „den Anspruch auf Antheilnahme an dem Verfassungsleben, der Willensthätigkeit des Staates, oder wie man im Anschluß an die französische Terminologie gewöhnlich sagt, die politischen Rechte" begründet. Doch folgt dies, wie er einschränkend feststellt, eben nicht schon aus dem „Begriff und Wesen des Staates selbst", sondern aus der „Verfassungsform des sogen, constitutionellen Staates, welche das deutsche Reich angenommen hat". 6 5 9 Doch stellt sich das bei v. Gierke schon anders dar. Auch seine Lehre setzt zwar bei dem bereits bestehenden „Rechtsverhältnis der Staatsangehörigkeit" an und bemüht sich um dessen Deutung, nicht um seine originäre Begründung. 660 Insbesondere wendet er sich scharf gegen den abstrakten menschenrechtlichen Universalismus der Französischen Revolution und alle „Dogmen des Rationalismus", 661 denen er ein geschichtlich-organisches Staatsverständnis entgegensetzt. 662 Auch der die „Existenz" des Staates „schaffende oder vernichtende 659

Laband, Staatsrecht I (Fn.296), 1. Aufl., 155. Vgl. Fn. 644; so auch Grawert, Staat (Fn. 386), 169 f. 661 Vgl. Labands Staatsrecht (Fn.296), 15, 33, 38. 662 AaO, 15, dort heißt es dann: „Seitdem der alte naturrechtliche Wahn des stets und überall sich selbst gleichen abstrakten Vernunftrechts überwunden ist, weiß Jedermann, daß das Recht so wenig wie etwa die Sprache ein rein logisches Erzeugnis ist. Was sich in ihm an nothwendigen und konstanten Gedankenelementen findet, ist nur ein für sich allein lebensunfähiger Bestandteil seines geistigen Gehalts. Die Mannichfaltigkeit und der Wechsel gehören zum Wesen des Rechtes, wie aller organischen und geschichtlichen Bildung: erst durch die schöpferische Thätigkeit einer konkreten geistigen Potenz empfängt es Leben und Individualität"; vgl. dazu auch 17, 35, u. passim. Die Überschät660

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Vorgang" ist danach ein „Lebensvorgang" und nicht mit der vernunftrechtlichen Kategorie des Vertragsschlusses zu fassen. 663 In dieser Frontstellung gegen die Französische Revolution weiß er sich mit dem mainstream deutschen Denkens im 19. Jahrhundert eins und steht ganz auf dem Boden der Organismuslehre, deren liberale Variante er vertritt. 664 Seine genossenschaftliche Sicht des Staates und der Staatsangehörigkeit liefert jedoch immerhin einen Ansatz, der sich zumindest auch - demokratisch interpretieren läßt: 665 Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist das „eigenthümliche Wesen der Staatsangehörigkeit als einer Mitgliedschaft im Gemeinwesen, als eines zum Rechtsverhältnisse ausgeprägten Zustandes von Gliedpersönlichkeit in der Gesamtpersönlichkeit". Bei Laband bemängelt er, daß dieser letzteres, obgleich er die Staatsangehörigkeit als gegenseitiges Rechtsverhältnis einstufe, nicht zum Ausdruck bringe. Er vindiziere den Staatsangehörigen „als Korrelat der Untertanenpflicht" zwar einen staatsbürgerlichen Anspruch auf Schutz etc. und „im konstitutionellen Staat überdies das freilich noch durch weitere Voraussetzungen bedingte Recht auf einen verfassungsmäßigen Antheil an der staatlichen Willensthätigkeit". Aber er konstruiere „die staatsbürgerlichen Rechte nach dem Schema von Ansprüchen, wie sie auch den Destinären einer Anstalt auf den Genuß der von ihr gebotenen Vortheile und vielleicht auch auf Theilnahme an der Verwaltung zustehen können, ohne den anstaltlichen Typus aufzugeben". 666 Dabei werde verkannt, daß der „Staat seinem Wesen nach auch Genossenschaft ist". Laband habe zwar „die Behandlung des Staates im Sinne der Sozietät" überwunden und eine „Denkform für das im Staate vorhandene Verhältnis von Ueber- und Unterordnung" gewonnen, verliere aber zugleich „den Gedanken des Gemeinschaftsverhältnisses, das vermöge der Zusammenordnung der Theile zum Ganzen den Staat durchdringt". 667

zung der „Logik" ist auch wesentlicher Teil seiner Kritik an Labands Methode, vgl. aaO, 6ff, insbes. 11, 14f., 18f.,24ff. 663 AaO, 57, auch 60. 664 Zum „organischen" Liberalismus (im Unterschied zum Liberalismus der Aufklärung) Böckenförde, Frühliberalismus (Fn.288), 3Iff. (33); ausführlich ders., Verfassungsgeschichtliche Forschung (Fn. 633), 147 ff, (dort auch eingehend zu v. Gierke und seinen Vordenkern G. L. v. Maurer, Waitz und Georg Beseler, v. Gierkes Lehrer, mit denen er das organische Entwicklungsdenken teilt). 665 So auch Grawert, Staat (Fn. 386), 170. 666 Labands Staatsrecht (Fn. 296), 36. Wenn er Laband zugleich wiederholt eine rein individualistische und insbesondere auch „atomistisch-mechanische" Konstruktion des Staates vorwirft (vgl. aaO, 32 f., auch 34 f.), so zeigt sich, daß auch diese Kritik nicht nur auf Laband, sondern auch auf den methodischen Individualismus der Aufklärung und den französischen „Anstaltsstaat" zielt. 667 AaO, 34.

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Was sich hier einerseits in Abgrenzung zu Laband, andererseits gegenüber dem Konzept einer „free association of individuals", wie es fast lehrbuchartig in der Präambel der Massachusetts Declaration of Rights von 1780 668 ausformuliert wurde, herausschält, ist die Vorstellung vom Staat, der als Ganzes früher ist als seine Teile - dies erinnert an die aristotelische Tradition - und sich dabei in der Zusammenordnung der Teile als Mitgliederverband gleichberechtigter Staatsgenossen darstellt. An diesem Punkt verliert sich die Parallele zum Aristotelismus auch schon, denn in v. Gierkes Perspektive ist die verfassungsrechtliche Stellung des einzelnen im Sinne eines staatsbürgerlich aktiven Gliedverhältnisses mit dem spezifisch neuzeitlichen Staatsbegriff verknüpft, der sein personelles Substrat korporationsrechtlich definiert. So behandelt er unter §61 des ersten Bandes seiner Genossenschaftlehre auch ganz explizit das „Verhältnis der modernen deutschen Staatsidee zur Genossenschaftsidee". 669 Unter zwei Aspekten birgt diese genossenschaftliche Deutung des Staatsangehörigkeitsverhältnisses ein Entwicklungspotential in Richtung auf die demokratische Staatsbürgerschaft: Zum ersten liegen echte politische Mitwirkungs- und Teilhaberechte durchaus in der Konsequenz jener verfassungsrechtlichen Gliedstellung als Staatsgenosse. Werden Freiheit und Gleichheit, aber auch die Mitgliedschaft im Staat selbst (wie schon zuvor bei Hegel), grundsätzlich korporativ vermittelt 670 und die einzelnen als konstitutive und gleichberechtigte Glieder der Korporation gedacht, so lassen sich daraus recht zwanglos Rechte auf Mitwirkung und Teilhabe ableiten. Mit anderen Worten: Sie entsprechen einer „staatsbürgerlichen Genossenschaft, in welcher die sämmtlichen voll- und gleichberechtigten selb-

668 „The body-politic is formed by a voluntary association of individuals: It is a social compact, by which the whole people covenants with each citizen, and each citizen with the whole people, that all shall be governed by certain laws for the common good"; Abdruck des Textes bei Schwartz (Fn. 52), 339, der diese Rechteerklärung auch als „compendium of the earlier state Declarations of Rights" bezeichnet (S. 338). Auch die französische Déclaration von 1789 verwendet in diesem Sinne die Begriffe der „association politique" (Art. 2) und der „Société" (Art. 16). 669 Vgl. Genossenschaftsrecht I (Fn. 636), 822 ff. 670 Vgl. etwa Labands Staatsrecht (Fn. 296), 39, wo er die „zwischen dem Einzelnen und dem Staat vermittelnden körperschaftlichen Verbände" anspricht; eingehender zu Gierke und seiner Stufenfolge der Consoziationen Böckenforde, Verfassungsrechtliche Forschung (Fn.633), 147 ff. (151 ff.). Auch bei Hegel ist die Mitgliedschaft des einzelnen im Staat für sich genommen abstrakt und kann nur über ständische Gliederungen begründet werden. Dies darf allerdings nicht über die im übrigen zwischen den beiden Autoren bestehenden tiefgreifenden Differenzen hinwegtäuschen: Während der eine als der große Theoretiker von Staat und Gesellschaft gilt, setzt der andere gedanklich vor dieser Trennung an (dazu B , aaO, 154 f.).

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

ständigen Staatsbürger die Aktivgenossen sind". 671 Schon schwieriger erscheint es, von einem genossenschaftlichen Ansatz her die Individualfreiheitsrechte zu begründen. Nach v. Gierke empfängt der einzelne Staatsbürger in den Grundrechten einen verfassungsmäßigen Anspruch darauf, daß ihn sein Staat „in bestimmten Beziehungen als freies Individuum und nicht als Glied" behandele. „Die Grundrechte enthalten eine konkrete und positivrechtliche Ausgestaltung des großen Gedankens, daß der Mensch nicht im Bürger aufgeht, daß der Staatsverband nur einen Theil der Persönlichkeit absorbiert, daß es ein auch für die höchste Allgemeinheit unantastbares Reich der Individualfreiheit gibt". Auch für v. Gierke bedeuten die Grundrechte also die Sicherung einer dem „gemeinheitlichen Nexus entzogene(n) Freiheitsphäre", die er mit seinem genossenschaftlichen Ansatz über die Feststellung zu vermitteln sucht, daß das „,Grundrecht 4 (...) in dem mit der Mitgliedschaft im Staate gleichzeitig gesetzten Rechte (steckt), vom Staate die Anerkennung des fraglichen Kreises von Handlungen als eines nichtstaatlichen Gebietes individueller Bethätigung und folglich die Unterlassung störender Eingriffe (...) zu fordern". 672 Geht es hingegen um die Freiheit als „Glied" des Staates, bedarf es dieses konstruktiven Umweges nicht; demokratische Mitwirkungs- und Teilhaberechte lassen sich ganz unmittelbar aus dem Anspruch „als (aktives) Glied" des Staates behandelt zu werden, herleiten. Und anders als bei Laband ist dies dann nicht etwa nur eine Frage der Jeweiligen Verfassungsform", sondern steckt im Ansatz bereits in der genossenschaftlichen Deutung des Staates selbst: Die von Gierke entwicklungsgeschichtlich entfaltete „moderne deutsche Staatsidee" ist von vornherein auf den (nationalen) Verfassungsstaat zugeschnitten.673 Während dieser erste Aspekt tendenziell den Gedanken demokratischer Teilhabe begünstigt, zielt der zweite auf den Kreis der Berechtigten: Wenn sich der Staat im staatsrechtlichen Sinn als „Mitgliederverband" versteht, so bestimmt er mit der Definition der Zugehörigkeit zugleich sein eigenes personelles Substrat. Anders als die exklusiven Mitgliedschaften im Ständestaat muß der auf den modernen Staat zugeschnittene Mitgliedstatus also generell-einschließend sein. Dies unterscheidet ihn noch nicht vom territorialstaatlichen Untertanenverband, der sogar noch einen Schritt weiter geht, indem er auch „zeitige Untertanen", 671 Vgl. Genossenschaftsrecht I (Fn.636), 822 ff. (833); vgl. auch Bähr (Fn.636), 21 u. 38 („lebendige Glieder eines größeren Ganzen", die zur „Mitwirkung" berufen seien). 672 AaO, 37; s. aber auch 38, wo er sich nachdrücklich gegen die „naturrechtliche Vorstellung der ewigen und überall gleichen Menschenrechte" wendet und erklärt: „Was es an Garantien der Individualfreiheit gegen die Korporationsgewalt bedarf, wird durch die staatliche Rechtsordnung und nur durch sie gewährt. Gerade darum haben die Grundrechte aber eine spezifisch staatsrechtliche Bedeutung (...)". 673 Siehe dazu Böckenförde, Verfassungsrechtliche Forschung (Fn. 633), 147 ff. (bes. 150, 156).

II. Nation und Nationalstaat

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also Ausländer, erfaßt. Doch die potentiell demokratische Wirkung der Genossenschaftslehre v. Gierkes knüpft gerade an der korporationsrechtlichen Bestimmung der Zugehörigkeit zum Staat an. Denn wenn die so allgemein definierte, jeden einzelnen als konstitutiven Teil des Staatsvolks ausweisende „Staatsmitgliedschaft" dann im oben dargelegten Sinne genossenschaftlich gedeutet wird, läßt sich demgegenüber die Begrenzung des Aktivbürgerstatus auf einen kleinen Kreis der durch Besitz etc. Privilegierten kaum noch rechtfertigen. 674 Insofern drängt nicht nur die Menschenrechtsidee über die zu dieser Zeit gemeinhin üblichen, sich insbesondere in den Wahlgesetzen niederschlagenden Beschränkungen hinaus, die Frauen, Juden und im Sinne der Besitzstandswahrung des aufstrebenden Bürgertums überhaupt alle ausschlossen, die die Hürde der Zensuswahl nicht nehmen konnten. V. Gierke hat diese in seiner Genossenschaftslehre steckenden Konsequenzen zwar nicht selbst formuliert, sondern sie dem historisch-politischen Kontext entsprechend zur konstitutionellen Monarchie, wie sie sich ihm präsentierte, hin abgebogen.675 Doch ändert dies nichts daran, daß sein Ansatz - analog der auf das Banner des „tiers état" geschriebenen und in der praktisch-politischen Umsetzung unter Führung der Großbourgeoisie ebenfalls perspektivisch verengten Menschenrechtsidee - über diese zeitgebundenen Einkleidungen hinausweist.676 Eine andere Frage ist natürlich die, ob das Bemühen, auch jenem sich von der Menschenrechtsidee der Aufklärung distanzierenden, sich am „Staat" emporrankenden deutschen Denken des 19. Jahrhundert einen eigenen inhaltlichen Beitrag zur heutigen demokratischen Staatsbürgerschaft abzugewinnen, nicht allenfalls noch für den in der Weimarer Republik propagierten „nationalen" Rechtsstaat von Belang war, zwischenzeitlich aber längst durch das menschenrechtliche Bekenntnis des Grundgesetzes überholt wurde. - Im Hinblick auf die Individualfreiheitsrechte ist diese Frage sicherlich zu bejahen, denn die meisten dieser Rechte sind eben nicht nur Mitgliedschaftsrechte, sondern stehen als Jedermannrechte allen Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu. Und soweit sie nationale Vorbehalte aufweisen, hilft v. Gierkes genossenschaftliche Interpretation der Staatsmitgliedschaft nicht weiter, da sie keinen Ansatzpunkt für eine Differenzierung zwischen einzelnen Freiheitsrechten bietet. Anders sieht es jedoch bei den staatsbürgerlichen Rechten im engeren Sinne aus, bei denen ungeachtet des dargestellten Zusammenhangs mit dem Autonomieprinzip auch unter Geltung des Grundgesetzes stets nur das „Staatsmitglied" 674

Ähnlich Grawert, Staat (Fn. 386), 170. Grawert, Staat (Fn. 386), 170. 676 So zutreffend Grawert, aaO; vgl. auch Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (Fn. 633), 147 ff, 150, 153 und passim. 675

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion berechtigt ist. Hier könnte v. Gierkes genossenschaftliche Interpretation der Staatsmitgliedschaft - oder noch grundsätzlicher: Der Umstand, daß er dieser ein so starkes Eigengewicht verleiht und sie dabei von vornherein auf den Verfassungsstaat bezieht - zumindest einen weiteren Denkanstoß liefern. Denn sie lenkt den Blick darauf, daß sich die demokratische Staatsbürgerschaft im menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaat nicht allein aus den Quellen universalistischer Prinzipien speist, sondern auch ein über die Menschenrechtsidee nicht zu erfassender positiver Beitrag des Prinzips der Staatsmitgliedschaft zu berücksichtigen ist, die Rechte des Staatsbürgers also auch durch seine Stellung als „Teilnehmer der Staatsgenossenschaft", wie v. Rönne formulierte, 677 mitbegründet werden. Immerhin liegt es auf dieser Linie, wenn heute das Bundesverfassungsgericht einer rein formalen, von allen konkreten Rechtspositionen abstrahierenden Bestimmung der Staatsangehörigkeit speziell im Kontext des Staats- und Verfassungsrechts 678 ein demokratisches Verständnis des Wesens der Staatsangehörigkeit entgegensetzt und feststellt: „Dieses Verständnis wird verfassungsrechtlich dadurch gekennzeichnet, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 GG), daß sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin vollzieht, und daß die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, die für jeden einzelnen mit dem Besitz der Staatsbürgerschaft verbunden sind, zugleich konstituierende Grundlagen des gesamten Staatswesens bilden". 679 Das Staatsangehörigkeitsverhältnis wird also auch durch die Mitgliedschaft im rechtsstaatlich-demokratischen Staatsverband bestimmt, denn der Staatsangehörige ist nicht nur der Personalhoheit seines Staates unterworfen, sondern bildet zuerst das Staatsvolk und die Staatsgewalt mit, 6 8 0 deren Ausübung unter Geltung des Grundgesetzes stets demokratischer Legitimation bedarf. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. Zunächst soll die Staatsbürgerschaft jedoch im Hinblick auf ihre statusrechtliche Seite komplettiert werden. Dies ist im übrigen auch der Punkt, an dem sich die Grenzen ihrer Integrationskraft im Verfassungsstaat zeigen.

677

Siehe oben im Text bei Fn. 643. Die Staatsangehörigkeit muß in den unterschiedlichen Rechtsgebieten ganz verschiedenen Funktionen gerecht werden, im Völkerrecht also einer anderen als im Staatsrecht. Allerdings stellt auch das Völkerrecht, das für seine Zwecke eines formalen Anknüpfungspunktes bedarf, wie in der Nottebohm-Entscheidung deutlich wurde, bestimmte Mindestanforderungen an die innerstaatliche Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit und kennt dementsprechend Mißbrauchsgrenzen (vgl. oben S. 152f.und passim). 679 Vgl. BVerfGE 37, 217 (239). 680 Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn.369), 194. 678

II. Nation und Nationalstaat

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(3) Grenzen der Integration (a) Vom Territorial-

zum Personenverband: Staatsangehöriger und Ausländer

Auch der spezifisch staatsrechtliche Aspekt der Ausformung des modernen Staates als Personenverband deutet sich im ALR bereits an. Dabei waren die Angehörigen im Außenverhältnis zu anderen Staaten als „Unterthanen S.M. des Königs von Preußen" sehr viel schneller auf einen einheitlichen, allein auf den Staat bezogenen Begriff gebracht als im Innenverhältnis, wo die Vielzahl der Angehörigkeitsbezeichnungen darauf hindeutet, daß der Prozeß der Ablösung ständischer und korporativer Mitgliedschaften und der Angehörigkeitskonzentration auf den Staat hin noch längst nicht abgeschlossen ist. 681 Wie in den unterschiedlichen Bezeichnungen auf staatsrechtlicher Ebene anklingt, erfolgt die Zuordnung zum Staat offenbar teils schon unter personal-gliedschaftlichen, teils noch unter territorialen Gesichtspunkten. Der Begriff des „Einwohners" kann daher auch den „Fremden" im Lande mitumfassen. 682 Er ist insofern Ausdruck der Territorialstaatlichkeit, die sich historisch als Grundzug des modernen Staates zuerst entwickelte und es ihm unter Rückgriff auf das Land als Angehörigkeitsrahmen erlaubte, seine Territorialhoheit auf alle dort ansässigen Personen zu erstrecken. 683 Die Verwendung der Begriffe „(Mit-)Bürger" oder auch „Mitglieder" des Staates deutet jedoch daraufhin, daß der preußische Staat nun auch beginnt, sich im staatsrechtlichen Sinn als Mitgliederverband zu verstehen. Allerdings weist das ALR insoweit noch einen Schönheitsfehler auf: Es fehlt an einer gesetzlichen Bestimmung des Mitgliedstatus. Wie Eduard Gans in seinen Beiträgen zur Revision der Preußischen Gesetzgebung (1830/32) kritisch anmerkt, ist „die sonderbare Anomalie" zu beobachten, „daß in unseren Gesetzen von einem Staatsbürgthum oder Indigenate gar nicht gehandelt wird, daß dieser Begriff vollkommen fehlt, und daß eigentlich jeder ein Preuße ist, den die Lust anwandelt, es zu seyn". 684 Dies mag zwar für einen menschenrechtlichuniversalistischen Ansatz, der, wie oben gezeigt, nicht in der Lage ist, Zugehö681

S. 201.

Grawert, Staat (Fn.386), 128 m.w.N. Zu den einzelnen Bezeichnungen s. oben

682 Koselleck, Preußen (Fn. 594), 660. Sie kamen im allgemeinen in den Genuß „aller Rechte der Einwohner, solange sie sich des Schutzes der Gesetze nicht unwürdig machen" (§41, Einl.); zweifelnd Grawert, Staat (Fn.386), 126f. 683 Die Niederlassung im Land stand zu Beginn des Prozesses der Staatswerdung im Zentrum der Betrachtungen; es galt der Satz: „domicilium facit subditum". Dazu eingehend Grawert, Staat (Fn.386), insbes. 78ff, auch 118; zustimmend Brubaker, StaatsBürger (Fn. 387), 102. 684 Beiträge zur Revision der Preußischen Gesetzgebung, Berlin 1830-1832, hg. v. Eduard Gans, 287 ff. (288).

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

rigkeit zu definieren, dem Durchschlagen des gordischen Knotens gleichkommen: Immerhin erweisen sich die Schwierigkeiten mit dem Konzept der Mitgliedschaft bei einer konsequent voluntaristischen Lesart als auflösbar, indem also allein auf die Zustimmung des potentiellen „Mitglieds" abgestellt wird. 6 8 5 Doch für den Staat, der sich seines personalen Substrats bewußt wird, ist dies nicht akzeptabel, denn er definiert die Angehörigkeitskriterien, legt den Mitgliedstatus einseitig fest. Das Versäumte wurde erst 1842 unter dem Druck zwischenstaatlicher Notwendigkeiten, die aus den Migrationsbewegungen der „wandernden Armen" resultierten, 686 im Sinne einer umfassenden Regelung mit dem Preußischen Untertanengesetz nachgeholt.687 Parallel zur Konstituierung des Staates als dauerhafter Personenverband nimmt aber auch die Figur des „Fremden" auf staatsrechtlicher Ebene erstmals deutlich Gestalt an, mutiert dort zum „Ausländer", dem notwendigen Pendant des modernen „Staatsangehörigen". In einer Ordnung vielfach geschichteter politischer und rechtlicher Zugehörigkeiten ist natürlich jeder insofern „Fremder", als er einem bestimmten Stand, einer anderen Korporation oder Region nicht zugehört. Der Status des nicht im Lande geborenen und dort nicht dauerhaft domizilierten „Fremden" ist somit nur ein Anknüpfungspunkt für eine Differenzierung unter vielen, die dem Betreffenden im übrigen auch keineswegs immer zum Nachteil gereichen muß. - Es sei denn, er zählte zu den „Schalcksnarren, Landfahrern, falschen Spielern, (...), Reimsprechern und anderm dergleichen Lottergesinde" (Badisches Landrecht, 1710), die man unter Androhung drakonischer Strafen fernzuhalten sucht, wobei das Auspeitschen (Frustigation) offenbar noch zu den im Normalfall praktizierten, gelinderen Mitteln gehört. 688 Doch läßt sich dieser Umgang mit „Nichtseßhaften" und „Habenichtsen", denen gegenüber sich ein tiefsitzendes Mißtrauen mit erschreckender Brutalität Bahn 685

Dazu oben S. 137, 140 f. Bei Locke heißt es im Second Treatise (Fn.84), 8. Kapitel (Die Entstehung politischer Gesellschaften), § 119: „Niemand wird daran zweifeln, daß die ausdrückliche Zustimmung irgendeines Menschen, der in eine Gesellschaft eintritt, ihn zum vollwertigen Glied jener Gesellschaft macht". 686 Siehe oben S. 129 ff. 687 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preußischer Unthertan, so wie über den Eintritt in fremde Staatsdienste (Nr. 2319) v. 31.12.1842 (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1843, Nr. 1 bis incl. 35, S. 15 ff.). Am selben Tage wird auch das Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen (Nr. 2317) und das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege (Nr. 2318) verabschiedet (ebd., S. 5 ff. u. 8 ff.). 688 Dazu knapp, aber sehr anschaulich mit Originalzitaten, die den Geist der damaligen Regelungen und Praktiken lebendig werden lassen, Michael Stolleis, Die Ausgrenzung des Fremden im frühmodernen Staat, in: MPG-Spiegel, 5/1993, 27 ff. (Auch die im folgenden zitierten, uns fremd erscheinenden sprachlichen Bezeichnungen entstammen diesem Text.)

II. Nation und Nationalstaat bricht, nicht verallgemeinern und in gleicher Weise auf alle „Frembden und Einkömelinge" erstrecken, also auch auf diejenigen, die begütert sind oder wenigstens als domizilierte Personen den Ordnungsanspruch des frühmodernen Staates nicht durch ihre Lebensweise bedrohen. Noch fehlt es, gemessen an unseren heutigen Vorstellungen, an einer klaren Unterscheidung zwischen „Untertanen" auf der einen, und „Außlendischen" auf der anderen Seite. Obgleich die Bedeutung der vielfältigen Mitgliedschaften im Zuge der schrittweisen Durchsetzung der inneren Souveränität weiter abnimmt und in ihrem komplexen Geflecht die Grundlinie Staat-Individuum allmählich immer stärker hervortritt, ändert sich daran solange nichts, wie der Staat seine Untertanen über den Eintritt in seinen territorialen Herrschaftsbereich bestimmt, die Einordnung des „Unterthansverhältnis(es)" 689 folglich eher unter dem Aspekt seiner zeitlichen Dauer vorgenommen wird, wie das (späte) Beispiel der fast lehrbuchartig verfaßten Altenburger Konstitution von 1831 anschaulich demonstriert: § 38 Alle unter dem Rechtsschutze der herzoglichen Staatsgewalt vereinigten Bewohner des Herzogthums Altenburg sind, vermöge einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Unterwerfung als Unterthanen (Staatsangehörige) anzusehen und stehen zur Staatsgewalt und dem Lande, entweder, als Landesunterthanen, in einem andauernden oder, als zeitige Unterthanen, in einem vorübergehenden Verhältnisse.690 Auch in dem sich noch vornehmlich als Territorialverband begreifenden Staat gilt zwar der im Land geborene, eingesessene „Landesunterthan" im Hinblick auf die Intensität und Dauer der Angehörigkeit als „eigentlicher Untertan" (proprie subditus), der „zeitliche Untertan" (subditus temporaris), jedenfalls bis zu seiner als dauerhaft anerkannten Niederlassung im Land, 691 nur als „sogenannter Untertan". Gleichwohl werden diese Angehörigengruppen über den damals gebräuchlichen weiten, nur in sich abgestuften Untertanen- bzw. Staats689 Jordan, Versuche (Fn.4), 390, stellt fest, daß dieses schon durch den bloßen Aufenthalt im Staate begründet werde. 690 Zitiert nach Grawert, Staat (Fn. 386), 119, der im Hinblick auf diese noch ganz in der Tradition des 16. bis 18. Jh. das Land als Angehörigkeitsrahmen zugrunde legende Definition feststellt, daß der Staat hier noch nicht zur Personalhoheit und zu einem eigenen personalen Substrat gefunden habe; s. hierzu und zum folgenden, aaO, 117 ff, 122 und passim. 691 In der gemeinrechtlichen Domizilslehre gilt die Niederlassung im Land (als Indiz der Unterwerfung) als hauptsächlicher Angehörigkeitsgrund. Sie kann mit einer ausdrücklichen Aufnahme verbunden sein, aber auch durch den Ablauf einer Ersitzungsfrist fingiert werden. Daneben kommt auch eine Einbürgerung in Betracht. Allerdings fehlt es im Reich vor 1800 (im Gegensatz zu Frankreich) an einer verbindlichen Auflistung generell-abstrakt formulierter Erwerbsgründe; s. dazu Grawert, aaO, 118 f.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

angehörigkeitsbegriff 692 verklammert. Dies rechtfertigt die Unterworfenheit aller unter das fürstliche Gesetz ebenso wie die prinzipielle Beteiligung aller an den Lasten des Staates,693 dessen Schutz sie genießen. Doch sobald sich der moderne Staat zum Mitgliederverband ausgeformt hat, unterscheidet er zwangsläufig - auch innerhalb seines Territoriums - trennscharf zwischen „Mitgliedern" und „Nichtmitgliedern", zwischen eigenen Staatsangehörigen und Ausländern, denn die Staatsangehörigkeit im modernen Sinne ist ein fortdauernder persönlicher Status, kein bloßer Reflex der Ansässigkeit auf einem bestimmten Gebiet. Zwar erstreckt der Staat seine territoriale Souveränität auf alle Personen im Staatsgebiet, aber nicht alle Gewaltunterworfenen sind zugleich Staatsangehörige, ebenso wie umgekehrt die die Personalität des Staatsangehörigkeitsverhältnisses voraussetzende Personalhoheit des Staates gebietsunabhängig ist. 694

(b) Der Verfassungsstaat

und das Prinzip der „ territorialen

Schließung "

Hier schließt sich der Kreis, und Brubakers Feststellung, daß die Staatsbürgerschaft als „mächtiges Instrument sozialer Schließung" fungiere, intern als allgemeiner Status einschließend, extern als nach außen hin begrenzter Status aber ausschließend wirke, kommt wieder in den Blick. 6 9 5 Hinsichtlich der Formen der „Schließung" gegenüber Nichtmitgliedern ist im menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaat danach zu differenzieren, ob sie im Sinne einer 692 Zu den weiteren Abstufungen in der Literatur des 17. u. 18. Jh. m.w.N. ders., aaO, 121; zusammenfassend zum „eigentlichen" Untertan, aaO, 117 ff., und allgemeiner 119 - 122, wobei Grawert betont, daß der weite, sich auf die Gebietsuntertänigkeit als maßgebende Angehörigkeitsart stützende Staatsangehörigkeits- und Untertanenbegriff nichts mit unserer modernen Staatsangehörigkeit zu tun hat, auch wenn einige Merkmale übereinstimmend auftreten. 693 Allerdings konnte nur der „zeitliche" Untertan das Land jederzeit - insbesondere auch im Kriegsfall - ohne landesherrliche Zustimmung verlassen. Da er nur zeitweilig dem Staat angehörte, hielt man eine Militärpflicht für nicht gerechtfertigt. Etwas anderes galt für die Stadtverhältnisse bei Zerstörung der Stadtmauern: In diesem Fall waren auch Fremde wehr-, wacht- und dienstpflichtig mit der Begründung, daß es dann auch um ihr Leben und ihre Güter gehe; s. dazu Grawert, aaO, 121 mit Fn. 32. 694 Vgl. oben vor Fn. 505. 695 Vgl. oben S. 131 f. Brubaker knüpft hier, wie schon erwähnt wurde, terminologisch an Max Weber und seine Unterscheidung zwischen „offenen" und „geschlossenen" sozialen Beziehungen an (vgl. oben bei Fn. 394). Dieser Sprachgebrauch, und insbesondere auch der Begriff der „Schließung", ist in der einschlägigen Literatur aufgegriffen worden, vgl. nicht nur Böckenförde in seiner Rezension dieses Buches, in: FAZ vom 11.4.1995, S.L 32, sondern auch Walter Pauly, Zu Grund und Grenzen der Legitimität von Nationalstaatlichkeit, in: KritV 1995, 42 (43 ff.).

II. Nation und Nationalstaat „territorialen Schließung" den Zugang zum Staatsgebiet betreffen oder aber und dies bereitet noch größere Schwierigkeiten - innerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung praktiziert werden. Soweit es um den Zugang zum Territorium geht, der sich einerseits für den Menschenrechtsschutz als essentiell erweisen kann, dessen Kontrolle andererseits aber auch im elementaren Interesse des Staates liegt, 696 wurde deutlich, daß ungeachtet etwaiger moralisch begründeter Aufhahmepflichten des „Menschenrechtsstaates" nur die eigenen Staatsangehörigen einen unbedingten Rechtsanspruch darauf besitzen, jederzeit einreisen zu dürfen. Begründet wurde dies damit, daß die Verfassung ihrem Anspruch nach die innere Ordnung des Staates normiert, ihr menschenrechtliches Bekenntnis daher in diesem Sinne und nicht etwa als eine in die Weite der Welt gerichtete Verheißung zu deuten ist. Somit wurde auch die „Verrechtlichung" der Menschenrechtsidee nur in diesem begrenzten Rahmen vorangetrieben: 697 Das vielleicht bezogen auf das Recht des freien Zugangs, das ja ganz im Wortsinne ein „Grenzfall" ist, formalistisch, wenn nicht in den Ohren von Armutsflüchtlingen sogar zynisch klingende Argument, daß der Geltungsbereich der Verfassung (und damit auch die daraus folgenden Verpflichtungen) eben grundsätzlich an der Staatsgrenze ende, wird durch den ultra posse-Grundsatz abgestützt, denn eine weitergehende, unbeschränkte, allen Menschen gegenüber bestehende Rechtspflichi zur Aufnahme wäre schlicht nicht erfüllbar. Dabei soll der von der Menschenrechtsidee ausgehende moralische Druck keinesfalls gering geschätzt werden. Sicherlich läßt sich aus der moralischen Kultur des demokratischen Rechtsstaates die Verpflichtung zu einer möglichst

696

Isensee macht die Unterscheidung zwischen der Zulassung zum Staatsgebiet, die verfassungsrechtlich nicht determiniert sei, da außerhalb des Asylrechts „kein Grundrecht auf Einreise" bestehe, und dem dadurch begründeten grundrechtlichen Status des Ausländers zum Gegenstand einer Zwei-Stufen-Lehre, vgl. Ausländer (Fn. 14), bes. 60 ff, 70 f, 76 ff, 81 ff, Ls. 3-6; kritisch gegenüber einer zu strikten Durchführung des Territorialitätsgrundsatzes Manfred Zuleeg, Freizügigkeit für Ausländer?, in: RdA 1975, 221 ff. (222). Tatsächlich macht auch Isensee in diesem Punkt in der Diskussion auf der Staatsrechtslehrertagung (aaO, bes. 122 ff, 125-131, 139 ff.) vorsichtige Zugeständnisse, soweit es um grundrechtsrelevante Gebietskontakte ohne einen vorangegangenen Zulassungsakt geht. 697 Dazu oben im Text vor Fn. 432. Bezogen auf das verfassungskräftig garantierte Asylrecht weist Dan Diner, Nationalstaat und Migration, in: Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern, hg. v. Friedrich Balke/Rebekka Habermas u.a., Frankfurt/M. 1993, 21 ff. (25), jedoch zu Recht daraufhin, daß dies kein Bürgerrecht, sondern ein echtes Menschenrecht sei, das sich an politisch Verfolgte außerhalb des Gemeinwesens der Deutschen richtet. 15 Siehr

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion weitgehenden Offenheit für Migranten ableiten. 698 Dies gilt natürlich insbesondere dann, wenn humanitäre Gründe für eine Aufnahme sprechen. Walter Lesch weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, daß schon das einfache Gedankenexperiment, das John Rawls für den vertragstheoretischen Urzustand unter dem „Schleier des Nichtwissens" vorgeschlagen hat, 699 zeigt, daß wir selbst unter der Voraussetzung, daß wir unsere eigene Position nicht kennen es also auch die des politisch Verfolgten, des Kriegs- oder Armutsflüchtlings sein könnte - ganz selbstverständlich erwarten würden, in einem demokratischen Staat Aufnahme, Schutz und menschenrechtliche Anerkennung zu finden. 700 Diese Menschen verlassen ihre Heimatländer wohl kaum ohne Not. Vielmehr erwachsen derartig einschneidende und mit vielen Unwägbarkeiten belastete Entscheidungen regelmäßig aus einem entsprechend großen Leidensdruck und verbinden sich mit der vagen Hoffnung, anderenorts bessere Lebenschancen vorzufinden. Eine allzu rigide, allein am nationalen Interesse ausgerichtete Politik, die diese Erwartungshaltung immer wieder enttäuscht, könnte auf Dauer an der moralischen Substanz des „Menschenrechtsstaates"' zehren. Liberale Staatsrechtslehrer des 19. Jahrhunderts, die das in dieser Form erst im 20. Jahrhundert aufgetretene Problem globaler Migrationsbewegungen und großer Flüchtlingsströme nicht kennen, antworten auf derartige Fragestellungen noch ganz unbefangen und konsequent universalistisch. So meinte etwa Robert v. Mohl, daß „die künstlich gezogenen Striche auf der Landkarte kein grundsätzliches Hindernis sein (könnten), die von dem Schöpfer der Weltordnung gestellte Aufgabe des Daseins zu erreichen". Daher müsse im Grundsatz gelten, „dass jedem menschlichen Individuum, als Regel, das Recht zusteht, an und für sich vernünftige also erlaubte Lebenszwecke überall zu verfolgen, wo er die geeigneten Mittel hierzu zu finden glaubt, zu dem Ende aber namentlich auch

698

So Walter Lesch (Fn.473), 106. Siehe dazu auch J. Habermas, Faktizität (Fn.8), 659; ders., Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: Charles Taylor (Hg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Princeton 1992 (dt. Leipzig 1993), 147 ff., bes. 186 f. Für eine explizite Berücksichtigung moralischer Argumente sprich: solcher, die auf Theorien der Gerechtigkeit basieren - plädieren John A. Scalan und O. T. Kent, The Force of Moral Arguments for a Just Immigration Policy in a Hobbesian Universe. The Contemporary American Example, in: Mark Gibney (Ed.), Open Borders? Closed Societies? The Ethical and Political Issues, New York/Westport, Ct./London 1988, 6Iff. Zur nationalstaatlichen Praxis, die sich durch wenig menschenfreundliche Selektionsmechanismen im Interesse des Aufnahmelandes auszeichnet, s. Diner (Fn. 697), bes. 29. 699 A Theorie of Justice, 1971, dtu.d.T. Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, 8. Aufl., Frankfurt/Main 1994, 159 ff. u. passim. 700 Lesch (Fn.473), 106.

II. Nation und Nationalstaat

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die Gebiete fremder Staaten zu betreten und sich die seinen Zwecken entsprechende Zeit hindurch daselbst aufzuhalten". 701 Doch wenn man nicht im Sinne eines „globalen Freizügigkeitsrechts" 702 die Berechtigung einer staatlichen Gemeinschaft zur territorialen Exklusion von Nichtmitgliedern grundsätzlich in Abrede stellen will, sondern den Verfassungsstaat, auch in seiner staatlichen Komponente, als Ausgangspunkt akzeptiert, kann es unter den heutigen Bedingungen nur darum gehen, gerechte Zugangskriterien zu finden, die sich zugleich mit den „special duties", jenen besonderen Pflichten, wie sie nur innerhalb einer sozialen Gruppe bestehen, gegenüber denjenigen vermitteln lassen, die bereits Staatsbürger sind und insofern auch berechtigte Ansprüche gegenüber ihrem Gemeinwesen erheben. Diese haben im übrigen, und das markiert den gravierendsten Unterschied zum Rawls'sehen Gedankenexperiment, allein über die Frage des Zugangs von Nichtmitgliedern und ihre spätere Mitgliedschaft zu entscheiden. Die Anwendbarkeit des Rawls'schen Gedankenexperiments, das voraussetzt, daß niemand seinen Platz innerhalb der Gesellschaft kennt, 703 stößt damit - im doppelten Sinn - auf Grenzen. Es läßt sich nur noch unter der Maßgabe durchführen, daß die Betroffenen zwar nicht mitentscheiden (im strikten Sinne ist das Verfahren damit schon nicht mehr durchführbar), die tatsächlich Entscheidenden aber nicht wissen, daß sie nicht betroffen sind. Dieses Auseinanderdriften von Entscheidungskompetenz und aktueller Betroffenheit, das sich, wenn überhaupt, nur noch in dieser Weise theoretisch überbrücken läßt, ist Ausdruck eines Para701 V. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, 1. Bd., Tübingen 1860, 627. In diesem Sinne zuvor bereits Silvester Jordan, der feststellte, „daß 1) die Erde, ihrer Sonderung in einzelne Staatsgebiete ungeachtet, ein Gemeingut des gesammten Menschengeschlechtes in ähnlicher Weise bleibe, wie ein Staatsgebiet durch dessen Vertheilung unter die einzelnen Staatsgenossen nicht aufhört, Gesammteigenthum des Volkes zu sein; daß daher 2) zu einer unbedingten Ausschließung der Fremden von dem Staatsgebiete schon aus diesem Grunde kein Volk berechtiget, die Zulassung der Fremden mithin als keine bloße Gunst zu betrachten sei, die man ganz beliebig abschlagen, gewähren und wieder zurücknehmen könnte"; Art. Gastrecht (Fremdenrecht), in: v. Rotteck/ Welcker (Hg.), Das Staats-Lexikon (Fn.634), Bd. 5, 2. Aufl., Altona 1847, 360 ff. (376). Ansätze in dieser Richtung (aber nur bezogen auf ein Besuchsrecht) finden sich zuvor schon in Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden" (Fn.417), vgl. oben S. 139 f. Siehe zu alledem Günter Frankenberg, Zur Alchimie von Recht und Fremdheit. Die Fremden als juridische Konstruktion, in: Balke u.a. (Hg.) (Fn. 697), 41 ff. (45 f.), der im Blick auf die heutige Zahl der Anhänger dieser Visionen kosmopolitischer Liberalität „Schwindsucht" diagnostiziert. 702 Zur Kritik s. Heinz Kleger, Transnationale Staatsbürgerschaft oder: Läßt sich Staatsbürgerschaft entnationalisieren?, in: ARSP 1995, Beiheft 62, 85 ff. (88 f.), und Pauly (Fn. 695), insbes. 44, 52 ff. sowie Fn. 36. 703 Rawls (Fn. 699), 160.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

doxons: Eine politische Gemeinschaft, die sich als solche versteht, muß sich gegenüber anderen abgrenzen, so wie auch umgekehrt gilt, daß sich jede Gruppe „durch ihre Grenzen (beschreiben läßt), das heißt über die Bedingungen, die ein Anwärter auf Gruppenmitgliedschaft zu erfüllen hat, um Aufnahme zu finden". 704 Sie muß vor diesem Hintergrund auf ihrer alleinigen Entscheidungskompetenz bei allen Entscheidungen über Zulassung oder Ausschluß bestehen. Doch kann sie sich, soweit sie ihre innere Ordnung auf universalistische Prinzipien gründet, auch nicht hinter dem formalen Argument der Staatsgrenze verschanzen und sich gegenüber dem Klopfen an der Tür taub stellen. Der von dem verfassungskräftigen Bekenntnis zu den Menschenrechten ausgehende moralische Druck reicht eben über den begrenzten räumlichen Geltungsbereich der Verfassung hinaus, ohne doch für die Betreffenden (abgesehen von Sonderfällen) einen Rechtsanspruch auf Zugang zum Territorium zu begründen. 705 Das hat zur Konsequenz, daß eine universalistische Diskurstheorie des Rechts und der Moral, wie sie in Deutschland insbesondere mit dem Namen von Jürgen Habermas verbunden ist, letztlich vor der Aporie steht, gerechte Kriterien für die Festlegung von Einwanderungskontigenten angeben zu müssen.706 An der obigen Feststellung, daß nur die Staatsbürger einen unbedingten Rechtsanspruch auf freie Einreise besitzen, ändert sich nach alledem nichts.

(c)

Formen der „Schließung" innerhalb des Verfassungsstaates

Bewegt man sich aber innerhalb der Verfassungsordnung, so stellt sich das Problem noch einmal ganz anders: Wie soll man nun auf der Grundlage einer Verfassung, die in den ersten drei Grundrechtsartikeln die menschenrechtlichen Kernstücke der Philosophie der Aufklärung als geltendes Verfassungsrecht positiviert hat, mit einer staatsangehörigkeitsrechtlichen Differenzierung umge704

Jeannette Schmid, Die Wahrnehmung des Anderen, in: Marie Theres Fögen (Hg.), Fremde der Gesellschaft. Historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Differenzierung von Normalität und Fremdheit, Frankfurt/Main 1991, 147 ff. (149). 705 Lesch (Fn. 473), 106; ebenso J. Habermas, Anerkennungskämpfe (Fn.698), 187; a.A. Zuleeg, Grundrechte (Fn. 113), 345; ders, Freizügigkeit (Fn.696), 222; dagegen Christian Tomuschat, Zur Reform des Ausländerrechts, in: NJW 1980, 1073 f. mit Fn. 11. Je weiter die europäische Integration voranschreitet, um so stärker verlagert sich die ganze Problematik natürlich auf die europäische Ebene. Zu der Notwendigkeit und den Bemühungen um eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik im Rahmen der EU s. die Beiträge in: Barwig (Hg.), Asyl (Fn. 434); s. auch Habermas, Faktizität (Fn. 8), 651 ff. (659), und speziell zur Frage der Harmonisierung des Asylrechts Zimmermann, Asyl (Fn. 434), 364 ff. 706 So die zutreffende Feststellung bei Lesch, aaO, im Blick auf den Beitrag von Habermas, Anerkennungskämpfe (Fn.698), 183.

II. Nation und Nationalstaat hen, an die, wie Brubaker es als Soziologe ausdrückt, eine ganze Reihe der für den Nationalstaat weltweit üblichen modernen Formen der „Schließung" anknüpfen, wie sie etwa im Hinblick auf das allgemeine Wahlrecht und den Zugang zum öffentlichen Dienst praktiziert werden? 707 Was für den „Staat als solchen" selbstverständlich, für den von der Menschenrechtsidee zum alleinigen Maßstab erkorenen „Menschen als solchen" hingegen eine nicht nachvollziehbare Differenzierung ist, wird für den um die Synthese von Staat und Menschenrechtsidee ringenden Verfassungsstaat zum Problem, genauer: erzeugt eine verfassungsrechtliche Spannungslage zwischen den positivrechtlichen Gewährleistungen menschenrechtlicher Freiheit und Gleichheit und ihrer punktuellen Zurücknahme als Ausdruck „nationaler Schließung". Das gilt nicht nur für die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte. Aufgrund des dargelegten Zusammenhangs zwischen dem im Menschenwürdesatz angelegten Prinzip individueller Autonomie - das Art. 1 Abs. 1 GG als „Staatsfundamental- oder auch Staatsfundamentierungsnorm" 708 nicht nur in seiner „privaten", sondern auch in seiner „öffentlichen" Gestalt umfaßt - gilt es vielmehr prinzipiell auch für die politischen Rechte, allen voran das staatsbürgerliche Recht zur Mitwirkung an der Gesetzgebung als Ausfluß „staatsbürgerlicher" Autonomie. Die verfassungsstaatlich angestrebte Synthese von Staat und Menschenrechtsidee kann eben tatsächlich nur unter dem Dach der Staatsbürgerschaft ganz gelingen, und ihre Grenzen sind die Grenzen des Mitgliedstatus, wie er im Staatsangehörigkeitsrecht im einzelnen ausgeformt ist. Den Status der Staatsbürgerschaft in einem Gemeinwesen hat H. Arendt als „große(n) Gleichmacher aller Unterschiede" 709 bezeichnet. Diese Kennzeichnung der Staatsbürgerschaft ist mit Blickrichtung auf den internen Prozeß der Entdifferenzierung, der rechtlichen Gleichstellung aller, die dem Staat zugehören, treffend, aber zugleich bringt sie eine neue Differenz hervor: Mit dem „Staatsbürger" wird auch der „Ausländer" im Sinne dessen, der diesen Status nicht besitzt, erfunden. 710 Die Konzeption des Verfassungsstaates geht von dem 707

Zu alledem eingehend Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387), insbes. 47, 52 ff. u. passim. Auf der Pflichtenseite ist insbesondere der allgemeine Militärdienst zu nennen. Schon Welcker (Fn. 634), 408, bezeichnet „das allgemeine patriotische Recht und die Pflicht, den Verein auf Leben und Tod zu vertheidigen, das Wehrrecht und die Wehrpflicht als „von der Idee des Bürgers unzertrennlich". 708 Vgl. dazu oben Fn. 143 m.w.N. 709 Hannah Arendt, Menschenrecht (Fn. 403), 765. 710 Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387), 75 ff. Die Abgrenzung zwischen Gruppenangehörigen und Fremden als solche ist natürlich nicht neu; vielmehr stellt sie, wie Quaritsch (Staatsangehörigkeit [Fn. 12], 5, 9, 15) zutreffend feststellt, eine „Jedermann-Erfahrung" und fundamentale Erkenntnis der Gruppenpsychologie dar (s. dazu aus juristischer, historischer, sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive die Beiträge in: M. T. Fögen (Hg.), Fremde der Gesellschaft [Fn. 704]). Allerdings fragt sich, ob dies im

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Normalfall aus, daß die im Staat lebenden Menschen auch seine Bürger seien. Unter dieser Prämisse kommen menschenrechtliche und staatsbürgerliche Gleichheit zur Deckung; doch wo sie entfällt, wo beides auseinander driftet, die angestrebte Synthese mißlingt, dort sitzt ein Stachel im Fleisch des Menschenrechtsstaates: „Zwischen dem Menschen und dem Bürger klafft eine Wunde: der Fremde" (Julia Kristeva). 711 Michael Walzer hat es auf den Punkt gebracht, warum keine Demokratie es sich auf Dauer leisten kann, sich damit abzufinden, daß „die politische Gemeinschaft in eine Welt von Mitgliedern und Fremdlingen" zerfällt, „in der die Fremdlinge den Mitgliedern Untertan sind". Es ist der mit der Zeit die innere Glaubwürdigkeit aushöhlende Widerspruch zwischen dem Postulat der Selbstbestimmung und praktizierter Fremdherrschaft, zwischen der Gleichheit der Staatsbürger untereinander und - so Walzer - ihrer „tyrannische(n) Herrschaft"; sein Fazit: „Politische Gerechtigkeit läßt dauerhaftes Ausländertum nicht zu". 7 1 2 Das lenkt das Augenmerk auf die Frage des Zugangs zur Staatsbürgerschaft, mit der sich Brubaker so eingehend auseinandergesetzt hat. Jeder Staat begrenzt den Zugang, erkennt seine Staatsangehörigkeit nur einem bestimmten Personenkreis bei Geburt zu und legt im Hinblick auf andere Personen bestimmte Kriterien fest, nach denen eine Einbürgerung erfolgen kann. 713 Sie tragen einerseits den oben dargestellten Grundstrukturen des modernen Staates Rechnung, der bei der Definition des Mitgliedstatus sicherzustellen sucht, daß die Angehörigkeitsbeziehung sich durch Dauerhaftigkeit und (idealiter auch) Ausschließlichkeit auszeichnet und im Sinne der Nottebohm-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs Ausdruck einer engen und effektiven Beziehung zwischen Staat und Individuum ist. 714 Andererseits zeigt sich aber, daß diese Rahmenbedingungen, die einem heute nahezu weltweit akzeptierten Modell „des Staates" entstammen,715 den Staaten bei der Ausgestaltung im einzelnen doch einen menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaat per se die Exklusion von Ausländem rechtfertigen kann, ob der Hinweis auf die „archetypische Figur" des Fremden, der „ursprünglich rechtlos" ist (Quaritsch, aaO, 15), hier überhaupt von Bedeutung sein kann. Den entgegengesetzten gedanklichen Ausgangspunkt markiert der Satz Niklas Luhmanns: „Da Personen als Menschen erkennbar sind, bedarf ihre Exklusion typisch einer Legitimation" (Inklusion und Exklusion, in: Helmut Berding [Fn. 8], 15 ff. [20]). Zur Kritik an Quaritsch s. Frankenberg, Fremdheit (Fn. 701), 41 u. passim. 711 Etrangers à nous-mêmes, dt.u.d.T. Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/Main 1990, 106 (s. auch 106 ff, 162 ff.). 712 Vgl. Walzer (Fn. 365), 104; s. für das komplette Zitat auch oben S. 120. 713 Brubaker, Staats-Bürger (Fn.387), 57 ff. u. passim. 714 Vgl. oben S. 152 f. u. passim. 715 Grawert, Staatsangehörigkeit (Fn.369), 183, 190-193, 195 u. pass, weist u.a. darauf hin, daß die inhaltliche Ausgestaltung der angehörigkeitsrechtlich veranlaßten Mitgliedschaft zwar staatsrechtlich und staatsideologisch determiniert sei, nicht aber die

II. Nation und Nationalstaat

1

beträchtlichen Spielraum lassen, und zwar nicht nur hinsichtlich der Frage, ob man sich nun stärker am ius-soli- oder am ius-sanguinis-Prinzip orientiert, sondern auch bezüglich des Grades an Offenheit bzw. Geschlossenheit der so definierten Angehörigkeitsbeziehung. Im Hinblick auf letzteres spielt sicherlich eine Rolle, ob Einwanderung aus der Sicht des jeweiligen Staates als erwünscht erscheint oder nicht. Vor allem kommt es aber darauf an (und das eine hängt mit dem anderen häufig zusammen), was für ein Konzept der Nation dem zugrunde liegt. 716 Es ist eben nicht nur so, daß „die dem Staate zugehörigen Menschen (...) in ihrer Gesamtheit das Staatsvolk (bilden)", 717 sondern umgekehrt wird die der definitorischen Umschreibung des Mitgliedstatus im Staatsangehörigkeitsrecht vorausliegende Frage, wer denn dem Staat zugehörig ist und künftig sein solle, auch maßgeblich dadurch beeinflußt, was die jeweilige Nation nach ihrem eigenen Selbstverständnis ausmachen soll: Was also verbindet die vielen einzelnen zum „Volk" und grenzt dieses zugleich gegenüber den vielen anderen Völkern ab, 7 1 8 und wie wird insbesondere auch das Verhältnis der Nation zu Staat und Verfassung bestimmt? Die Zugehörigkeit zu Staat und Nation verschränken sich auf diese Weise ineinander; dies soll im folgenden näher beleuchtet werden.

c) Zugehörigkeit zur Nation - in deutscher und in globaler Perspektive Das Schrifttum zum Thema „Nation" als hochkomplexer und zugleich interdisziplinärer Forschungsgegenstand füllt Bibliotheken. 719 Wollte man seine Regeln über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit (den „Mitgliedstatus" als solchen): Sie orientieren sich allein an den Grundstrukturen des modernen Staates und bleiben von den ideologischen Differenzen unterschiedlicher politischer Systeme daher weitgehend unberührt, wie u.a. das Festhalten am Abstammungsprinzip in den beiden deutschen Staaten bis zur Wiedervereinigung zeigte. 716 Dies ist auch der Ansatzpunkt der Untersuchung von Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387); grundsätzlich zustimmend Böckenforde, Rezension dieses Buches, in: FAZ vom 11.4.1995, S. L 32. 717 So schon die Definition bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Fn. 203), 406. 718 Dazu, daß - ungeachtet der inneren Organisation der Staatsgewalt - die angehörigkeitsrechtliche Definition der Mitgliedschaft (zusammen mit der territorialen Bestimmung des Staatsgebietes) der sozialen Abgrenzung des Staates dient, J. Habermas, Faktizität (Fn. 8), 638. 719 Für einen Überblick über die neuere Literatur s. den umfang- und kenntnisreichen Forschungsbericht von Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur (NPL). Berichte über das internationale Schrifttum, XL. Jahrgang, Heft 2/1995, 190-237, in dem u.a. zahllose Neuerscheinungen zu diesem Thema rezensiert werden.

232

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Dimensionen auch nur unter der Fragestellung dieser Arbeit wirklich ausleuchten, so müßte das notwendigerweise ihren Rahmen sprengen. Daher sollen hier dem Leitfaden der bisherigen Untersuchung folgend lediglich einige Aspekte herausgegriffen und Grundlinien nachgezogen werden, die das Muster der innerhalb des Staates praktizierten „nationalen Schließung" (einschließlich der Zugangsbegrenzung zur Staatsbürgerschaft) deutlicher hervortreten lassen und zugleich ihre Grenzen im Bezugs- und Kraftfeld von Staat, Nation und Verfassung aufzeigen. Ausgehend von der Überlegung, daß das Verhältnis, in das Staat, Nation und Verfassung zueinander gesetzt und wie sie inhaltlich aufeinander bezogen werden, sich in einem bestimmten Selbstverständnis der „Nation" widerspiegelt und damit auch die größere graduelle Offenheit oder Geschlossenheit des Zugangs zur Staatsbürgerschaft beeinflußt, soll in einem ersten Schritt versucht werden, eine an diesen Eckpunkten orientierte Positionsbestimmung des deutschen Konzeptes der Nation vorzunehmen. Diese Frage zielt auf spezifisch deutsche Eigenheiten, die insbesondere im Vergleich mit dem französischen Modell deutlich zu Tage treten, das nicht ohne Grund auch bei der vielbeachteten Untersuchung Brubakers als Folie dient. 720 In einem zweiten Schritt geht es dann jedoch in einer gemeineuropäischnordamerikanischen Perspektive um die Frage, nach welchen Kriterien menschenrechtlich fundierte westliche Demokratien - die sich doch alle in dem oben umschriebenen Sinn zugleich als „Nationalstaaten" begreifen, sich also auch daraus legitimieren, daß sie die Interessen eines begrenzten Staatsvolkes bzw. einer bestimmten „Nation" vertreten - „Zugehörigkeit" vergeben. Sie stehen alle gleichermaßen vor dem Dilemma, daß ihnen einerseits gegenüber denjenigen, die das „erste und wichtigste Gut", das jede politische Gemeinschaft zu vergeben hat, nämlich die „Mitgliedschaft" (Walzer), 721 bereits besitzen, sog. „special duties" 722 obliegen und die zur Erfüllung staatlicher Aufgaben zur Verfügung stehenden Ressourcen allemal begrenzt sind, andererseits dauerhaftes „Ausländertum" eines 720

Staats-Bürger (vgl. Fn. 387), mit dem Untertitel „Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich". 721 Vgl. dazu Walzer (Fn. 365), 2. Kapitel (Mitgliedschaft und Zugehörigkeit), 65 ff. 722 Siehe zu diesem in der Kommunitarismus-Debatte geprägten Begriff, der in der nun auch bei uns einsetzenden Diskussion übernommen worden ist (vgl. J. Habermas, Faktizität [Fn.8], 654 ff; Lesch [Fn.473], 106) die Erläuterung bei Robert E. Goodin, What is so Special about Our Fellow Countrymen?, in: Ethics, Vol. 98 (1988), 663: „There are some ,general duties' that we have toward other people, merely because they are people. Over and above those, there are also some ,special duties4 that we have toward particular individuals because they stand in some special relation to us. Among those are standardly supposed to be special duties toward our families, our friends, our pupils, our patients. Also among them are standardly supposed to be special duties toward our fellow countrymen". Das Gleiche gilt für den Staat im Hinblick auf die besondere Beziehung zu seinen Angehörigen.

II. Nation und Nationalstaat Teils der Bevölkerung im demokratischen Staat, sein nicht nur vorübergehender Ausschluß von der demokratischen Staatsbürgerschaft, mit der Zeit die demokratisch-menschenrechtliche Integrität des Gemeinwesen unterminiert. Walzer bringt dies in seinem oben schon mehrfach zitierten Werk sehr plastisch und pointiert zum Ausdruck. 723 Die dadurch in den Vereinigten Staaten und dann auch in Frankreich entfachte Diskussion muß auch bei uns (verstärkt) geführt werden, wobei dies im Rahmen dieser Untersuchung allerdings nur durch einen knappen Problemaufriß verdeutlicht werden kann.

(1) Das Konzept der Nation im Grundgesetz (a)

Typologie der Nation

Betrachtet man den Text des Art. 116 Abs. 1 GG, so stößt man dort im Hinblick auf die Frage, wer „Deutscher" im Sinne des Grundgesetzes ist, auf zwei unterschiedliche - und in gewisser Weise gegenläufige - Anknüpfungspunkte: Zum einen ist Deutscher, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, zum anderen, wer als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. In der einschlägigen Literatur wird zumeist sogleich auf den zweiten Teil der Bestimmung der Deutscheneigenschaft in Art. 116 Abs. 1 GG eingegangen und teils in kritischer Absicht, teils mit dem Ziel der Rechtfertigung des geltenden Staatsangehörigkeitsrechts, das das ius-sanguinis-Prinzip, also den Gedanken der Abstammung, in den Mittelpunkt rückt - ausgeführt, daß das deutsche Konzept der Nation das einer „Kulturnation" sei. Diese Begriffsprägung wird üblicherweise mit dem Namen Friedrich Meineckes verbunden, der dem Begriff der „Kulturnation" den der „Staatsnation" gegenübergestellt hat: Während Kulturnationen „vorzugsweise auf einem irgendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz" beruhten, gründeten sich die Staatsnationen „vorzugsweise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung". 724

723

Vgl. nur oben S. 120. Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 3. Aufl. München/Berlin 1915, 2 f. Meinecke ist allerdings nicht der Schöpfer dieses Begriffspaares, sondern hat ihm nur zu bleibender Popularität verholfen: Er selbst weist in Fn. 1 darauf hin, daß diese Einteilung, die er als einen „fruchtbaren Gedanken" bezeichnet, sich bei A. Kirchhoff (Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Nationalität [1905], 52 ff.) finde und im wesentlichen auch schon bei Fr. J. Neumann (Volk und Nation [1888], 132, 149). 724

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Jene Begriffsbildung zielt vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Entwicklungen in Frankreich und Deutschland auf zwei verschiedene Formen der Natiogenese, eine staats- und eine kulturzentrierte: 725 Während das nationale Denken in Frankreich an den Staat als die politisch geeinte Gemeinschaft anknüpfen konnte, die Natiogenese sich also von vornherein innerhalb des räumlichen und institutionellen Rahmens eines Staates und in Bezug auf diesen vollzog, existierte in Deutschland zunächst eine „Nation ohne Staat". 726 Dem entsprechen weitere, bis heute nachwirkende Differenzen im Konzept der Nation. So war der Begriff der Nation in Frankreich aufgrund der Rückkoppelung an den Staat als politisch geeinte Gemeinschaft von vornherein ein politischer, zumal auch umgekehrt gilt, daß der Staat von der zum Träger der Souveränität erhobenen Nation 7 2 7 her neu konstituiert wurde. In Deutschland hingegen, wo die Nation sich nicht am Staat emporranken konnte, bildete sich ein präpolitisches, ethnisch-kulturell orientiertes Konzept der Nation aus. Die „natürlichen", vorstaatlichen Gegebenheiten von Sprache, Abstammung und erlebter Geschichte bildeten hier den Kristallisationskern einer organisch gewachsenen volkshaften Zusammengehörigkeit, deren einigendes Band die gemeinsame Sprache ist. 728 In diesem Sinne spricht auch der schon erwähnte Friedrich Meinecke davon, daß die Nation wohl unbedingt ein „kernhaftes Element" aufweisen müsse, „das durch die Blutsverwandtschaft entstanden ist. Auf dieses gestützt, kann das erwachsen, was den Stammesverband erst zur Nation erhebt und ihn befähigt, auch fremde Elemente sich zu assimilieren: eine inhaltsreiche geistige Gemeinschaft und ein mehr oder minder helles Bewußtsein von ihr". Er benennt sodann

725

Siehe dazu Herfried Münkler, Die Nation als Modell politischer Ordnung. Vorüberlegungen zu einer wissenschaftssoziologisch-ideengeschichtlich fundierten Theorie der Nation, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, Heft 3/1994, 5. Jg, 367 ff. (374 f.). Allgemein zur Entwicklung des Nationsbegriffs s. auch Ulrich Scheuner, Nationalstaatsprinzp und Staatenordnung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, hg. v. Joseph Listi / Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, 101 ff. 726 Hierzu und zum folg. Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387), 24 ff. u. passim; ders, Einwanderung (Fn. 482), 14 ff; s. auch Böckenförde, Frühliberalismus (Fn. 288), 27 f. 727 „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation", heißt es in Art. 3 S. 1 der Déclaration und, da diese zwar ihrem Anspruch nach „ewige Wahrheiten" verkündet, aber nicht im juristischen Sinn Bestandteil der Verfassung, ihr vielmehr nach Art einer Präambel vorangestellt ist, wiederholt Art. I e r unter Titre III der Verfassung von 1791: „La Souveraineté est une, indivisible, inaliénable et imprescriptible. Elle apartient à la Nation (...)". 728 Vgl. Eugen Lemberg, Geschichte des Nationalismus in Europa, Stuttgart 1950, 165 ff, 207 ff. u. passim.

II. Nation und Nationalstaat „Gemeinsprache, gemeinsame Literatur und gemeinsame Religion" als wichtigste und wirksamste Kulturgüter. 729 Die für das deutsche Nationalbewußtsein so charakteristische Heraushebung von Sprache und Literatur gipfelte 1846 bei der Eröffnung der ersten Germanistenversammlung in der Sentenz von Jakob Grimm: „Ein Volk ist ein Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden", ein Satz, der allgemeine Zustimmung fand. 730 Nicht von ungefähr wurde diese Frage auch gerade in diesem Rahmen thematisiert: Das aufkeimende deutsche Nationalbewußtsein war in seinen ersten Anfängen das Ziehpflänzchen einer schmalen Schicht von Literaten und anderer Intellektueller gewesen,731 die im Rückzug auf die eigene Geschichte, Sprache und Kultur die Eigenart des deutschen Wesens zu ergründen suchten und sich dabei zunächst noch apolitisch, gewissermaßen kontrapunktisch zum zerfallenden alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, ein neues, vorerst „inneres Reich", wie Friedrich v. Schiller es 1801 formulierte, 732 erschufen. Zeitpunkt und historischer Kontext der deutschen Natiogenese drückten ihr ihren Stempel auf. Während es für die revolutionäre Geburt des französischen Nationalstaates kennzeichnend ist, daß die Nation in den abstrakten, rationalistischen und kosmopolitischen Begriffen des aufklärerischen Denkens des 18. Jahrhunderts umschrieben und die Ordnungsgehalte des republikanischen

729

Meinecke (Fn. 724), 1-3. Zitiert nach Böckenförde (Frühliberalismus [Fn. 288], 27), der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß staatenlose Nationen ihr selbständiges Dasein stets als linguistische Bewegungen begonnen haben. Umgekehrt legt Werner Conze seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung: »Deutschland« und »deutsche Nation« als historische Begriffe, in: Otto Büsch/James J. Sheehan (Hg.), Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, Berlin 1985, 21 ff. (28 f.), ein deutsches Nationalbewußtsein schon seit dem Bewußtmachen einer „teutiska lingua" und eines „regnum teutonicum" zu Grunde, wobei allerdings ab Mitte des 18. Jh. mit der im wesentlichen protestantisch-bildungsbürgerlichen deutschen Bewegung eine neue Stufe erreicht und das Phänomen auch erst ausgangs des 18. Jh. auf den Begriff gebracht worden sei. 731 Siehe dazu Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation, Frankfurt/M. 1993, insbes. 130 ff., 233; zur Entwicklung eines geistigen Nationalbewußtsein von Kloppstock und Lessing bis zu Herder, Schiller und Goethe s. auch Meinecke (Fn. 724), 28ff, und Conze, Deutschland (Fn. 730), bes. 29ff., der daraufhinweist, daß die »deutsche Bewegung« trotz dieser anfänglichen Beschränkung auf Literaten im 19. Jh. zunehmend die Nation im ganzen durchdrungen habe. 732 Zu der Idee eines „inneren Reiches", das den Deutschen, wie Schiller angesichts des Zusammenbruchs der alten Reichsordnung feststellte, nicht zu nehmen sei, da deutsche „Größe" und „Würde" eben nicht politisch begründet seien, s. Conze, Deutschland (Fn. 730), 29 f. 730

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Ordnungsparadigmas in die Nation 733 projiziert werden, ist der deutsche Nationbegriff maßgeblich dadurch geprägt, daß er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerade in der Ära der napoleonischen Herrschaft und der Befreiungskriege also in bewußter Frontstellung gegenüber französischer Fremdherrschaft und französischer Geisteshaltung - entwickelte und sich dabei vorwiegend in den gedanklichen Bahnen der deutschen Romantik bewegte. Hier ist auch der Grund dafür zu suchen, daß, selbst als die nationale Bewegung den Begriff der Nation schließlich ins Politische wendete und sich die politische Einheit auf ihre Fahnen schrieb, ein „organischer Liberalismus" (Böckenforde) bestimmend blieb, der dem abstrakten Rationalismus, Individualismus und Universalismus der französischen Déclaration ein an den Kategorien eines politischen Organismus oder einer gestuften Genossenschaft orientiertes, geschichtlich-ganzheitliches Denken entgegensetzte und einen „nationalen" - d.h. dem „deutschen Volkstum" gemäßen - Staat erstrebte. Johann Gottfried v. Herders Sprach- und Geschichtsphilosophie, seine Entdeckung des „Volksgeistes" im Sinne eines organischen Entwicklungsdenkens, in dem sich das Volkstum als Sozialindividualität ausprägt, erwiesen sich nicht nur in Deutschland, sondern auch bei der Identitätsfindung der slawischen Nationen als geschichtsmächtig. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an die unterschiedlichen Spielarten organischer Geschichts- und Staatstheorien von Justus Moser bis hin zu Otto v. Gierke erinnert: Nicht von ungefähr wurde „Freiheit" immer wieder im Rückgriff auf die Prinzipien einer „(alt)germanischen Freiheit" beschworen, 734 und die Grundrechte firmierten auch im Frankfurter Paulskirchenparlament vornehmlich unter Bezeichnungen wie „Volks-

733

Vgl. dazu Jürgen Gebhardt, Die Idee der Verfassung: Symbol und Instrument, in: Adolf Kimmel (Hg.), Verfassungen als Fundament und Instrument der Politik, BadenBaden 1995, 9 ff. (20), sowie Brubaker, Einwanderung (Fn.482), 14, der feststellt, daß die „französischen Konzeptionen der Nation und der Staatsbürgerschaft (...) den Stempel ihrer Entstehung in der Monarchie, ihrer revolutionären Geburt und republikanischen Apotheose (tragen)". 734 Zur „germanischen Freiheit", auf die sich u.a. Georg Beseler in der Paulskirche berief, s. Böckenförde, Frühliberalismus (Fn.288], 28 f.; ausführlich zu den unterschiedlichen Autoren ders. Verfassungsgeschichtliche Forschung (Fn. 633), 23, bes. 26 ff, 35 ff, 131 ff, 134 ff, 138 u. pass. Die Bevorzugung der Idee einer „geschichtlich erwachsenen Persönlichkeit der Nation" zeigt sich auch bei Meinecke (Fn. 724), 32, wenn er es mit dem rationalistisch-aufklärerischen Konzept kontrastiert, bei dem die Nation nichts anderes gewesen sei „als eine Unterabteilung der Menschheit, ein aus abstrakten Prinzipien gezimmerter Rahmen ohne individuellen Inhalt, und der jeweilige Mehrheitswille, der diesen Inhalt schaffen sollte, bedrohte gerade den echten geschichtlichen Inhalt der Nation".

II. Nation und Nationalstaat

7

freiheit", „Volksrechte" (oder eben „Grundrechte") - nur von einigen wenigen wurden sie als „Menschenrechte" eingefordert. 735 Sollen hingegen weniger die verschiedenen Formen der Natiogenese als vielmehr die innerhalb bestehender Nationalstaaten - und dazu hatte sich auch das in seiner Anfangsphase noch als „unvollendete(r)" oder „unvollkommene^)" Nationalstaat apostrophierte deutsche Kaiserreich von 1871 736 im Laufe der Zeit entwickelt - feststellbaren unterschiedlichen Konzepte der Nation beleuchtet werden, so ließe sich im Blick auf den zweiten Teil der Bestimmung der Deutscheneigenschaft in Art. 116 Abs. 1 GG, der auf die „deutsche Volkszugehörigkeit" und den Begriff des „Abkömmlings" Bezug nimmt, im Sinne der von M. Rainer Lepsius entwickelten Typologie auch von einer „Volksnation" sprechen. 737 Er bezeichnet damit einen Typ der Nation, der sich über die ethnische Abstammung einer Kollektivität von Menschen konstituiert und dabei, da sich die Bestimmung der Eigenschaften eines Volkes zumeist als sehr schwierig erweist (nur selten liegen etwa eindeutige rassische Merkmale vor), auch auf kulturelle Eigenschaften wie Sprache, Religion oder noch undeutlichere Kriterien wie das einer historischen Schicksalsgemeinschaft zurückgreift. Sein Fazit: „Die ethnische Homogenität einer ,Nation4 ist daher nichts Naturwüchsiges 4, sondern weitgehend das Produkt einer kulturell behaupteten Identität und einer politisch durchgesetzten Gleichheit 44 . 73 8 Das Verhältnis des Typus der „Volksnation44 zur Verfassung ist indifferent, insbesondere ergibt sich ihrer Begründung nach „keine Notwendigkeit, die politische Binnenordnung über gleiche Bürgerrechte und demokratische Teilhaberechte zu legitimieren 44.73 9 Anders die „Staatsbürgernation 44, ein Begriff, bei dem M. R. Lepsius bewußt vom üblichen Sprachgebrauch der „Staatsnation44 abweicht, um noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen, daß es dabei um mehr als die staatliche Verfaßtheit als solche geht, nämlich darum, daß diese Nation sich gerade „über die individuellen staatsbürgerlichen Gleichheitsrechte und die Verfahren der demokrati735

Siehe oben Fn.278 m.w.N. Eingehend zu diesem Problem Werner Conze, Nationsbildung durch Trennung. Deutsche und Polen im preußischen Osten, in: Otto Pflanze (Hg.), Innenpolitische Probleme des Bismarckreiches, München/Wien 1983, 95 ff., sowie Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, hg. und eingeleitet von HansUlrich Wehler, 2. Aufl. Göttingen 1992; auch in: Th. Schieder, Nationalismus und Nationalstaat, hg. v. Otto Dann/Hans-Ulrich Wehler, 2. Aufl. Göttingen 1992, 197 ff. 737 Vgl. M. Rainer Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 232 ff. (235 ff); auch in: Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen 1982, 12 ff. (15 ff.). 738 Lepsius, Nation, in: Interessen (Fn. 737), 235. 739 Lepsius, ebd., 236 f. 736

8

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

sehen Legitimation der Herrschaft durch die Staatsbürger (konstituiert)". Für ihre politische Binnenordnung sind die „Gewährleistung der individuellen Bürgerrechte und die verfassungsmäßig kontrollierte Legitimationsgabe für das Herrschaftssystem" folglich unverzichtbar, die Idee der „Staatsbürgernation" ist alles andere als „verfassungsneutral". Die Außenabgrenzung ergibt sich hier über den räumlichen Geltungsbereich der Verfassung, und zwar unabhängig davon, ob außerhalb der Staatsgrenzen Personengruppen leben, die ethnisch oder kulturell oder historisch eine Merkmalsgleichheit mit dem demokratisch verfaßten Staatsvolk aufweisen. 740 Eine solche Typologie kann (und will) nie mehr sein als der Versuch einer Annäherung: Schon Meinecke sah die Nation vornehmlich im Bewußtsein verankert und wies darauf hin, daß man Kultur- und Staatsnationen „nicht streng und säuberlich von einander unterscheiden könne". 741 Und M. R. Lepsius sieht die Nation von vornherein als „eine gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als eine Einheit bestimmt", wobei sich eben unterschiedliche Kriterien dafür angeben lassen, welcher Art diese Einheit sein soll. 742 Angesichts der Komplexität jener Ordnungsvorstellung und ihrer Wechselbeziehungen zu anderen Solidaritätsverbänden, die die Analyse erschwert, ist es sein Anliegen, die historisch sich wandelnden synkretistischen Ideen über die Nation und ihre soziale Geltung in konkreten Situationen analytisch aufzulösen. In diesem Sinne sind die genannten Typenbildungen in der Tat hilfreich, 743 wie im folgenden zu zeigen sein wird.

740

Lepsius, ebd., 242 f. Vgl. Meinecke (Fn.724), 2 ff. (4) mit Fn.5; s. dazu Pauly (Fn.695), 16, und Münkler (Fn. 725), 374 f. 742 Lepsius, Interessen (Fn. 737), 233. 743 Lepsius, ebd., 234. Er unterscheidet zu diesem Zweck vier verschiedene Typen, und zwar die Volksnation, die Kulturnation, die Klassennation und die Staatsbürgernation. Gerd Roellecke, Herrschaft und Nation, in: Giuseppe Orsi/Kurt Seelmann u.a. (Hg.), Nation, Nationalstaat, Nationalismus, Frankfurt/M. 1994, 17 ff. (23), merkt kritisch an, daß man diese Reihe beliebig fortsetzen könne: „Religionsnation (Islam), Familiennation (Clans)" u.s.w. - Das ist sicher richtig und insbesondere darf über derartige Typenbildungen auch nicht die von Roellecke im folg. behandelte Frage nach dem Sinn und der Funktion von Nation vernachlässigt werden, doch ändert dies umgekehrt auch nichts daran, daß eine Typologie, wie Lepsius sie entwirft, durchaus geeignet ist, dem Ziel seiner Untersuchung entsprechend zu einer Analyse der synkretistischen Ideen über die Nation beizutragen, wobei das besondere Interesse ausweislich des Titels der Abhandlung Deutschland gilt, so daß Typen wie „Religionsnation (Islam)" etc. wenig hilfreich wären. 741

II. Nation und Nationalstaat (b)

Kultur- und Volksnation

Es ist sicherlich kaum zu bestreiten, daß in den in Art. 116 Abs. 1 2. Alt. GG zur Begründung der Eigenschaft des Statusdeutschen genannten Tatbestandsmerkmalen der „deutsche(n) Volkszugehörigkeit" oder des „Abkömmling(s)" das Konzept einer „Kultur- oder Volksnation" anklingt. Daran orientiert sich auch die bisherige Interpretation: Die Tatbestandsmerkmale „Vertriebener" und „deutsche Volkszugehörigkeit" werden im Sinne von § 1 und § 6 des Bundesvertriebenengesetzes ausgelegt. Als deutscher Volkszugehöriger gilt danach, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird". 7 4 4 Es wird also auf die Zugehörigkeit zur Kulturgemeinschaft abgestellt, die allerdings durch objektivierbare Faktoren wie Abstammung, Sprachkenntnisse etc. abgestützt werden muß. 745 Der Einschluß von bis zu ihrer Aufnahme durch eine deutsche Behörde (die nach Art. 116 Abs. 1 2. Alt. GG Voraussetzung für den Erwerb der Eigenschaft als „Statusdeutscher" ist) außerhalb des Bundesgebietes - und damit außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Grundgesetzes - lebenden Flüchtlingen und Vertriebenen „deutscher Volkszugehörigkeit" auf Grund gemeinsamer ethnischer und kultureller Merkmale entspricht in geradezu klassischer Weise der Idee der „Kulturoder Volksnation". Bekanntlich gab es dafür auch ganz handfeste Gründe: Die Formulierung des Art. 116 Abs. 1 in seiner 2. Alt. GG beruht ja nicht etwa schlicht auf einer unreflektierten Übernahme eines tradierten Nationsbegriffs, sondern zielte auf die Integration von Millionen von Flüchtlingen nach Kriegsende, erwuchs also aus einer Verantwortung für die Kriegsfolgen, der im übrigen auch die Art. 74 Nr. 9 und 10 und die Art. 119-120 a GG Rechnung tragen. 746 Diese besondere Motivation wird schon darin deutlich, daß nach 1945 natürlich niemand mehr auf die Idee verfallen wäre, aufgrund der genannten Merkmale etwa auch die Österreicher einzubeziehen.747 Vielmehr wurde die demokratische Selbstlegitimation

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Bekanntmachung der Neufassung v. 3.9.1971, BGBl. I, 1565 ff. (1569); s. für Einzelheiten zum Erwerb der Eigenschaft als Statusdeutscher Grawert, Staatsvolk (Fn. 451), Rn. 29 f. m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 17.1.1991, in: NVwZ 1991, 661 (662), wonach Art. 116 I voraussetze, daß der Vertriebene noch im Zustand der Vertreibung nach Deutschland gelangt sei. 745 Allgemein zum Zusammenspiel subjektiver und objektiver Faktoren in der Nationsvorstellung s. Scheuner, Nationalstaatsprinzip (Fn. 725), 105 f. 746 Manfred Zuleeg, Die deutsche Nation im Spiegel des Rechts, in: DVB1. 1983, 486 ff. (491). 747 Dies gilt allerdings nur für das Konzept der Nation in der Perspektive des Parlamentarischen Rates. Von alliierter Seite wurde unmittelbar nach Kriegsende trotz der

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

wie auch die Außenabgrenzung über den räumlichen Geltungsbereich der neuen österreichischen Verfassung ganz selbstverständlich akzeptiert - trotz aller kulturellen Gemeinsamkeiten, insbesondere der gemeinsamen Sprache, der in einer „Kulturnation" doch eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Der springende Punkt ist hier der, daß diese selbstverständliche Akzeptanz der Selbstanerkennung der neuen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes homolog ist, d.h. die Unabhängigkeit und Selbständigkeit des österreichischen Staates legitimiert sich nach den gleichen Kriterien wie der Staat des Grundgesetzes.748

(c) Staatsbürgernation Bei der Auseinandersetzung mit Art. 116 Abs. 1 GG, die zumeist den Begriff der „deutschen Volkszugehörigkeit" in den Mittelpunkt rückt und zutreffend als Hinweis auf das Konzept einer „Kultur- oder Volksnation" deutet, wird allzu leicht übersehen, daß dies erst die Ergänzung und Modifikation der Bestimmung der Deutscheneigenschaft im ersten Teil des Art. 116 Abs. 1 GG darstellt, der ein anderer, zu dem bisher Gesagten gegenläufiger Ansatz zugrunde liegt: Der erste Satz enthält - so die vielleicht zunächst überraschende These Uwe Berlits - das Konzept einer Staatsbürgergesellschaft. 749 Denn danach ist jeder Staatsangehörige auch „Deutscher", und zwar völlig unabhängig davon, ob er türkischer, indischer oder jüdischer Herkunft ist. Und als deutscher Staatsbürger ist er selbstverständlich Vollrechtsinhaber sämtlicher Bürgerrechte, insbesondere also auch der politischen Rechte. Er ist damit in den Worten der einzelstaatlichen amerikanischen bills of rights Teil des sich im Prozeß der Verfassunggebung konstituierenden „body politic" oder der „civil society", des bürgerschaftlich verfaßten Volkes also. Damit ist nicht eine Kollektivperson „Volk" gemeint. Vielmehr heißt „bürgerschaftlich verfaßt", um die pointierte Formulierung Jürgen Gebhardts zu gebrauchen, nicht des Volkes als „Summe Verkündung der Wiederherstellung Österreichs in den Grenzen von 1937 in der Moskauer Deklaration erwogen, Österreich in eine größere staatliche Einheit zu integrieren. So erschien es im ersten von den Briten in die European Advisory Commision eingebrachten Entwurf zur Errichtung von Besatzungszonen noch als Teil der süddeutschen Besatzungszone. Wie Fritz Fellner zutreffend feststellt, war die heute so selbstverständliche Selbständigkeit und Souveränität Österreichs damals letztlich eine Frucht der „pragmatische(n) Nutzung von gegebenen machtpolitischen Möglichkeiten, (...) und nicht nationales Programm" (Das Problem der österreichischen Nation nach 1945, in: Büsch/Sheehan [Hg.] [Fn.730], 193 ff. [195]); s. dazu auch Georg Kotowski, Deutschland und Österreich nach 1945, ebd., 221 ff. 748 Vgl. dazu Lepsius, Nation, in: Interessen (Fn. 737), 242 f. 749 Vgl. Berlit (Fn.516), 79 f.

II. Nation und Nationalstaat

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aller Individuen", sondern des Volkes „als rechtlich verfaßte(r) politische(r) Körperschaft freier, gleicher und gemeinverständiger Bürger", welches sich selbst regiert. 750 Die Legitimität des nicht zuletzt auch aus aristotelischem Wurzelgrund erwachsenen Verfassungsstaates beruht, wie schon Dolf Sternberger hervorhob, „in Wahrheit nicht auf der Kollektivperson »Volk«, sondern auf der pluralischen Bürgerschaft, der »civitas« oder, mit dem noch deutlicheren Terminus des Marsilius von Padua zu reden, auf der »universitas civium«, der Gesamtheit oder Genossenschaft der Bürger". 751 In dieser strikt republikanischen Lesart setzt die Staatsbürgerschaft und die dadurch vermittelte Zugehörigkeit zum „Demos", dem „Volk" als Träger der politischen Herrschaftsrechte, keine Zugehörigkeit zum „Ethnos" voraus. 752 Die Gemeinschaft konstituiert sich insoweit nicht über ethnisch-kulturelle Gemeinsamkeiten, sie begreift sich nicht primär als „Abstammungsgemeinschaft", sondern eben als idealiter aus einer Vereinbarung freier und gleicher Individuen hervorgegangenen „Staatsbürgernation", die ihre Identität über die gemeinsame Praxis von Bürgerinnen und Bürgern findet, die ihre demokratischen Teilnahme- und Kommunikationsrechte aktiv wahrnehmen. 753 Die These, daß sich im Grundgesetz auch die Idee der „Staatsbürgernation" verkörpere, läßt sich noch durch weitere Argumente abstützen: Wenn es richtig ist, daß das Konzept der „Staatsbürgernation" - anders als das der „Volksnation" - bestimmte verfassungsrechtliche Konsequenzen einfordert, so dürfte umgekehrt die Errichtung einer demokratisch-republikanischen Ordnung auch gewisse Rückschlüsse auf das entsprechende Konzept der Nation zulassen. Es ist zuzugeben, daß allein der Wortlaut des Art. 116 Abs. 1, nach dem „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist (...), wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt", dafür - abgesehen von der angesprochenen Trennung von „Ethnos" und „Demos" - kaum etwas hergibt. Um so ertragreicher ist aber eine systema750

Gebhardt (Fn. 733), 22. Verfassungspatriotismus. Schriften X, hg. v. Peter Haungs/Klaus Landfried u.a., Frankfurt/M. 1990, 227; zustimmend Gebhardt (Fn.733), 22 f. Zum Sprachgebrauch der Rechteerklärungen des ausgehenden 18. Jhs. oben S.79f. So hieß es in der Massachusetts Declaration of Rights (1780): „The body-politic is formed by a voluntary association of individuals" (vgl. oben S. 80). Der Ausdruck „civil Body Politick" taucht zuvor schon im berühmten „Mayflower Compact" von 1620 auf, vgl. oben S.74 mit Fn. 193. Grundlegend zur Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung Görg Haverkate, Verfassungslehre, München 1992, (hier bes. auch 330 ff.). 752 Zu dieser Unterscheidung s. M. Rainer Lepsius, „Ethnos" oder „Demos". Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die Europäische Einigung, in: Interessen (Fn.737), 247 ff. (249). 753 Berlit (Fn. 516), 80; J. Habermas, Faktizität (Fn. 8), 636; s. auch Ulrich K. Preuß, Staatsbürgerschaft und Zivilgesellschaft, in: KJ (26) 1993, 332 ff. 751

16 Siehr

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

tische, teleologische und historische Auslegung. Und gerade wenn es um die so schwer greifbare Ordnungsvorstellung der „Nation" geht, die etwas darüber aussagen soll, welcher Art die Bindung innerhalb einer staatlich verfaßten Gemeinschaft ist bzw. welche kollektive Vorstellung darüber besteht, wie sich deren Einheit herstelle, wäre es auch illusorisch zu glauben, die Antwort stecke in einem einzigen Satz des Grundgesetzes, der zudem noch in den Übergangsund Schlußbestimmungen versteckt ist. Die der Verfassung zugrunde liegende Idee der Nation kann überhaupt nur im Blick auf ihr Gesamtkonzept einschließlich der in ihrem lebensweltlichen Hintergrund verankerten interpretativen Praxis und Verfassungssymbolik erschlossen werden. Betrachtet man unter dieser Fragestellung das Grundgesetz, so springt zunächst die Gewährleistung der Grundrechte gleich im ersten Abschnitt des Grundgesetzes und insbesondere auch der staatsbürgerlichen Rechte im engeren Sinne ins Auge, die im Zusammenspiel mit den Staatsstrukturbestimmungen des Art. 20 GG und dem Organisationsteil die demokratische Legitimation aller Herrschaftsausübung durch die Staatsbürger sicherstellen und damit die Vermutung nahelegen, daß die politische Gemeinschaft ihre Identität - zumindest auch - in dieser gemeinsamen demokratischen Praxis findet. Darüber hinaus zeigt sich insbesondere auch in der Interpretation der Fundamentalaussagen des Grundgesetzes, daß jedenfalls dann, wenn nicht gerade die Sonderprobleme des Art. 116 Abs. 1 2. Alt. GG, des Kommunalwahlrechts für Ausländer oder Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts zur Diskussion stehen, zumeist mit größter Selbstverständlichkeit die Idee der Staatsbürgernation zugrunde gelegt wird. Aufschlußreich für das Konzept der Nation ist vor allem, welche über die instrumentelle Seite jener Verfassungssätze hinausreichende symbolische Bedeutung ihnen beigemessen wird, denn gerade darin versinnbildlicht sich die „idée directrice des Gemeinwesens, welche diesem einen gemeinsamen identitätsstiftenden Sinn vermittelt" (Gebhardt). 754 Jedes Konzept der Nation bildet sich, wie H. Münkler zu Recht hervorhebt, 755 wesentlich im Medium des Kulturellen, da eben nur das präsent und einflußreich ist, was auch „narrativ vermittelt und rituell inszeniert" wird, d.h. nicht „das Erleben und Haben als solches, sondern erst das kollektive Gedächtnis konstituiert das Gemeinsame". In diesem Sinne erweisen sich Symbole und Narrationen als geschichtsmächtig, und dies gilt im besonderen Maße für die Gründungserzählungen: Mögen über weite Strecken auch in fast jeder europäischen Nation unterschiedliche Narrationen erprobt worden sein, so setzt sich aufgrund der 754 Dazu Gebhardt (Fn.733), 9 ff. (13), dessen Beitrag „Die Idee der Verfassung: Symbol und Instrument" eben diese auf den amerikanischen Verfassungstheoretiker Corwin zurückgehende Unterscheidung näher untersucht. 755 Münkler (Fn. 725), 374 f.

II. Nation und Nationalstaat „spezifischen Kombinierbarkeit mit historischen Ereignissen und der daraus erwachsenden nationspezifischen Sinn-Plausibilisierung" doch regelmäßig nur eine auf Dauer durch, die sich in ihrer folgenreichen Verbindung mit der Nation in einer bestimmten „Gründungserzählung", oder, um eine Verengung auf vertragstheoretische Konzeptionen zu vermeiden, vielleicht besser: in dem als sinnstiftend erlebten „Ursprungsmythos" bündeln läßt. Er bringt auf den Punkt, was sich in der jeweiligen Nation letztendlich durchgesetzt hat, eine eher politische oder eine eher kulturell-linguistische Deutung ihrer Ursprünge. Wenn es um die symbolische Bedeutung von Verfassungssätzen des Grundgesetzes, also die Artikulation der Ordnungs- und Sinngehalte der politischen Kultur in jenen Fundamentalaussagen der Verfassung geht, 756 die nach Erhard Denninger die Funktion der Verfassung als „Selbstzeugnis des sich verfassenden Volkes über die als solche erfahrenen fundamentalen Bedingungen der kollektiven Existenz" umschreiben, 757 so richtet sich der Blick natürlich sogleich auf den mit Art. 1 Abs. 1 GG an die Spitze des Grundgesetzes gestellten Menschenwürdesatz. Auch wenn bei seiner Interpretation manches im Dunkeln bleibt, zeigen schon die bekannten Charakterisierungen 758 als „Staatsfundamental-" oder „Staatsfundamentierungsnorm", als „tragendes Konstitutionsprinzip", „höchster Wert", 7 5 9 „unverfügbare(s) oberste(s) Prinzip der neuen Ordnung" 7 6 0 und Legitimationsgrundlage bundesrepublikanischer Staatsgewalt,761 daß hier, anders als seinerzeit bei der kulturell-linguistischen „deutschen Bewegung", nicht mehr in den Kategorien genetischer Modelle gedacht wird, nach denen das spezifisch „nationale" im prä-politischen Raum der nationalen Geschichte und Kultur auskristallisiert. Vielmehr steht ein politisches Konzept der 756

Hierzu Gebhardt (Fn.733), 9 ff. Er benennt dies als eine fünfte Verfassungsfunktion, die unaufhörlich Konfliktstoff biete, gleichwohl bei jeder modernen Verfassunggebung notwendigerweise zum Tragen komme. Im GG seien solche Fundamentalaussagen, die den staatsgründenden Basiskonsens konkretisieren, nicht nur in der Präambel, sondern auch in Art. 20 u. 281 und insbesondere auch in Art. 1 I und II zu finden; vgl. Sicherheit/Vielfalt/Solidarität: Ethisierung der Verfassung?, in: Ulrich K. Preuß (Hg.), Zum Begriff der Verfassung, Frankfurt/M. 1994, 95 ff. (98 ff.). 758 Siehe dazu oben Fn. 143 m.w.N. 759 BVerfGE 5, 85 (204); E 33, 23 (29): „oberster (Verfassungs)Wert"; BVerfGE 45, 187 (227); Ernst Benda, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, in: ders. u.a. (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts (Fn. 145), §6, 161 ff. (165), Rn.7: „höchster Rechtswert". 760 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. Heidelberg 1995, Rn. 116. 761 In diese Richtung gehen die Darlegungen A. Podlechs, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), 2. Aufl. Neuwied 1989, Art. 1 Abs. 1, Rn. 1, 12 ff, 68. 757

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Nation im Hintergrund: Die in den unterschiedlichen Bezeichnungen variierte Vorstellung der normativen Grundlegung dieses geschichtlich-konkreten Gemeinwesens,762 das sich über den Rückgriff auf das Prinzip der Menschenwürde und die darin wurzelnde Idee der Menschenrechte konstituiere, verweist inhaltlich auf aufklärerisch-universalistische Überzeugungen und der Form nach auf die Metapher eines „Staatsgründungsaktes". Dieser soll - gleich, ob er nun vertragstheoretisch gedeutet oder, wie bei Hasso Hofmann, in die geschichtlichkonkretere Tradition einer conjuratio, also des Bürgereides als Geltungsgrund von Verfassung und Recht der mittelalterlichen Stadt, gestellt wird 7 6 3 - doch in jedem Fall einen politischen Vorgang veranschaulichen. Auch wenn dies in fast allen erwähnten Charakterisierungen des Menschenwürdesatzes in irgendeiner Weise mitschwingt, bot sich gerade auch im Blick auf diese Staatsgründungsfunktion des Art. 1 GG bislang ein diffus-verschwommenes Bild, dem H. Hofmann nunmehr durch eine in sich konsistente Interpretation schärfere Konturen verliehen hat: Es geht dabei, wie er betont, um mehr und etwas anderes als „bloße Proklamation eines allgemeinen Prinzips oder Artikulation eines kollektiven Wertbewußtseins", nämlich um eine „Gemeinschaftsaktion (communion d'action), eine operation de fondation " im Sinne Maurice Haurious, kurz: um „Einigung des Willens in Gründungsabsicht". Die Menschenwürdegarantie artikuliert danach in ihrer Bedeutung als Staatsfundamentierungsnorm einen Gründungsvorgang, genauer: Die „in der Präambel als Subjekte des Verfassungswerkes auftretenden Teilhaber der verfassunggebenden Gewalt des Deutschen Volkes" gründen diesen Staat „um der Würde des Menschen willen auf die gegenseitige Anerkennung als prinzipiell in gleicher Weise freie und in gleicher Weise würdige Mitglieder des Gemeinwesens unbeschadet aller sonstigen Unterschiede. Würde ist in diesem Staatsgründungsakt etwas, was die Menschen einander zusprechen, sich als Rechtsgenossen versprechen. Im wechselseitigen Versprechen wird ein gemeinsamer Sinn festgestellt, der allen Beteiligten Maßstab sein soll". 7 6 4 Eine solche, die staatsstrukturelle Dimension der Würdegarantie erhellende Interpretation bietet Anknüpfungspunkte für einen diesen Gründungsvorgang stets aufs neue reproduzierenden 765 „Verfassungspatriotismus" als inneres Bin-

762 So mit Blick auf die Menschenwürde als oberstes Prinzip der neuen Ordnung ausdrücklich K. Hesse (Fn. 760), Rn. 116. 763 Vgl. Die versprochene Menschenwürde (Fn. 134), 122. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an Silvester Jordans Bürgerbegriff erinnert: Der „Bürger" als der „(verbürgte) Mensch"; s. oben S. 14 m.w.N. 764 Hofmann, Die versprochene Menschenwürde (Fn. 134), 117-119; zustimmend Gebhardt (Fn. 733), 13. 765 Zur Notwendigkeit solcher Wiederholung Hofinann, aaO, 118 mit Fn. 79.

II. Nation und Nationalstaat deglied einer Staatsbürgernation. Und tatsächlich wird dem Grundgesetz ja attestiert, daß sich auf seiner Grundlage ein beträchtliches Maß an „Verfassungspatriotismus" entwickelt habe. 766 Über lange Strecken hinweg hatten insbesondere die deutschen Intellektuellen vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Exzessen eines übersteigerten Nationalgefühls eher umgekehrt Schwierigkeiten mit einem sich an ethnisch-kulturellen Kriterien orientierenden Konzept der Nation. Wie B. Giesen konstatiert, sah man „allein in der Überwindung und Bewältigung der Vergangenheit, im Versuch, die Gegenwart vor der Vergangenheit zu retten, (...) eine Chance zur nationalen Identität. Damit war die Identität der Deutschen weitaus stärker als die ihrer westeuropäischen Nachbarn eine offene, an der Zukunft orientierte Identität, die nicht auf Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern auf der radikalen Diskontinuität des Neuanfangs beruhte". 767 Dieser Neuanfang vollzog sich, wie oben gezeigt wurde, als „rückwärtsgewandte Revolution", d.h. im bewußten Rückgriff auf die Prinzipien der großen revolutionären Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Dies konnte das Konzept der Nation nicht unberührt lassen: Ebenso wie der bis dahin national konzipierte deutsche Rechtsstaat durch die Menschheitsideale der Aufklärung neu fundiert wurde, so daß die Deutschengrundrechte - anders als in Weimar - heute die Ausnahme zum Regelfall der menschenrechtlichen Verbürgung darstellen, konstituierte sich das deutsche Volk auf der Grundlage des Grundgesetzes, namentlich der „Staatsfundamentierungsnorm" des Art. 1 Abs. 1 GG, nunmehr auch als Staatsbürgernation. Auch insofern schlug die 766

Vgl. dazu M. R. Lepsius, Ethnos (Fn.752), bes. 250 f. Allgemein zum „Verfassungspatriotismus", ein Begriff, der durch Dolf Stemberger geprägt wurde, s. ders, Verfassungspatriotismus (Fn.751), insbes. 13 ff, 17 ff, 32 ff.; dazu Emst Vollrath, Verfassungspatriotismus als politisches Konzept, in: Günter Birtsch / Meinhard Schröder (Hg.), Patriotismus in Deutschland, Trierer Beiträge XXII, Trier 1993, 29 ff.; J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: Faktizität (Fn.8), 632 ff. (bes. 642 f, 651 ff); bes. zu Habermas auch Marcel Kaufmann, Verfassungspatriotismus, substantielle Gleichheit und Demokratieprinzip, in: ARSP 1997, Beiheft 66, 40 ff. (42 f, 46 ff, 50 ff. u. pass.). Ablehnend auch gegenüber dem Konzept eines „gemässigten Patriotismus" (resp. „Verfassungspatriotismus") Simone Zurbuchen, Bedarf der liberale Staat des Patriotismus?, in: ARSP 1995, Beiheft 62, 115 ff. Speziell unter dem Blickwinkel der deutschen Vereinigung und der dadurch neu entfachten Diskussion um die gegenwärtige Rolle von Nation und Nationalstaat und die brisante Spannung zwischen Nationalismus und Universalismus s. auch die Beiträge in: Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen, hg. v. Petra Braitling/Walter Reese-Schäfer, Frankfurt/ Main 1991, bes. Heinz Kleger, Verfassungspatriotismus und Demokratie, ebd., 108 ff, und Wolfgang Kersting, Verfassungspatriotismus, kommunitäre Demokratie und die politische Vereinigung der Deutschen, ebd., 143 ff. 767 Die Intellektuellen und die Nation (Fn. 731), 236 ff. (237).

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion „rückwärtsgewandte Revolution" des bundesrepublikanischen Neuanfangs also den Bogen zurück zu den revolutionären Staatsgründungen (Vereinigte Staaten) bzw. der neuen, menschenrechtlichen Grundlegung eines vorhandenen Staates (Frankreich) im ausgehenden 18. Jahrhundert.

(d)

Hintergründe,

Gefahren und Chancen des konzeptionellen Dualismus

Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, wurde das alte, stärker ethnisch-kulturell orientierte Konzept der Nation im Grundgesetz durch das Bekenntnis zur „Staatsbürgernation" aber keineswegs vollständig abgelöst. Im Grundgesetz findet sich also beides, sowohl das Konzept der „Staatsbürgernation" als auch das der „Kultur- oder Volksnation". Wie ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen ist, bleibt zunächst in der Schwebe, wird im Parlamentarischen Rat offenbar auch gar nicht als Problem wahrgenommen, jedenfalls angesichts anderer drängender Fragen dort nicht erörtert. Das bedeutet, um den Konflikt auf einer anderen Ebene zu reformulieren, daß jenseits der in Art. 116 Abs. 1 1. Alt. GG im Grundsatz statuierten Trennung von „Ethnos" und „Demos" das Spannungsverhältnis zwischen dem ethnisch-kulturellen und dem politischen Volksbegriff ungelöst bleibt. Dies birgt einerseits ein Konfliktpotential, da diese beiden „Typen" der Nation von ihren je unterschiedlichen Ausgangspunkten und Zielvorgaben her notwendigerweise gegenläufige Anforderungen stellen und sich damit als inkompatibel erweisen. Das gilt sowohl hinsichtlich der angestrebten Ideale - möglichst weitgehende ethnisch-kulturelle Homogenität auf der einen, politische Partizipation auf der anderen Seite - als auch bezogen auf die hier besonders interessierenden Muster von In- und Exklusionen im Blick auf im Lande lebende Ausländer: Selbstredend ist eine Staatsbürgernation wesentlich offener als eine Nation, die sich - neben der Betonung sprachlichkultureller Elemente - vornehmlich als Abstammungsgemeinschaft begreift. Andererseits beinhaltet jener verfassungsrechtliche Dualismus im Konzept der Nation aber auch die Chance zukunftsoffener Gestaltung und des flexibleren Umgangs mit Problemen. Verfassungsrechtliche Spannungslagen lassen sich bekanntlich nicht dadurch lösen, daß man entweder den einen oder den anderen Pol einfach negiert, wohl aber kann in einer konkreten Situation der einen oder anderen Seite das stärkere Gewicht zukommen. Und in bestimmten Fällen läßt sich sogar nur im Rückgriff auf eines der beiden konkurrierenden Konzepte der Nation eine Lösung entwickeln, da sie auf ganz unterschiedliche Problemkonstellationen ansprechen. So gab es, wie schon angedeutet, im Parlamentarischen Rat noch handfeste Gründe dafür, auch am Konzept der Kultur- oder Volksnation festzuhalten, und zwar neben dem schon erwähnten Flüchtlingsproblem vor allem das in der da-

II. Nation und Nationalstaat

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maligen Präambel des Grundgesetzes, der das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich rechtliche und nicht nur politische Bedeutung zusprach, verankerte Wiedervereinigungsgebot. 768 Wie das Gericht insbesondere im Grundlagenvertragsurteil hervorhob, setzte das Grundgesetz die „Existenz Gesamtdeutschlands mit einem deutschen (Gesamt-)Staatsvolk" voraus, 769 so daß es sich beim Wiedervereinigungsanspruch um eine unverzichtbare Rechtsposition handelte. Sollte dieser Rechtsanspruch nicht irgendwann ins Leere laufen, so galt es vorerst die geistig-ideelle Verbindung aufrechtzuerhalten, bis die Zeit für eine praktisch-politische Lösung reif wäre. Auch wenn sich die Vereinigung selbst dann zu gegebener Zeit der Idee der Staatsbürgernation entsprechend „in freier Selbstbestimmung" vollziehen sollte, konnte diese an die Verfassung und ihren räumlichen Geltungsbereich gebundene Konzeption der Nation doch im Vorfeld jenes politischen Selbstbestimmungsaktes aus eigener Kraft keine über den räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes hinausgreifende Brücke zum anderen Teil Deutschlands schlagen.770 Hätte man sich also im Parlamentarischen Rat auf das Selbstverständnis einer Staatsbürgernation beschränkt, so wäre nicht zu erklären gewesen, warum im Verhältnis zur DDR der räumliche Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht als definitive Außenabgrenzung akzeptiert wurde, sondern nur von einer entsprechenden Beschränkung der Hoheitsgewalt die Rede war. Ebensowenig verständlich wäre, warum das Grundgesetz zunächst nur ein Provisorium sein sollte und jeder Flüchtling aus der DDR - anders als Ausländer - selbstverständlich sofort als Deutscher im Sinne des Grundgesetzes behandelt wurde. Sicherlich: Die Legitimation der DDR war der demokratischen Selbstlegitimation der Bundesrepublik gerade nicht homolog, aber das rechtfertigt umgekehrt noch nicht den (einem späteren Akt politischer Selbstbestimmung vorgreifenden) Ein768 Zum Wiedervereinigungsgebot vgl. BVerfGE 5, 85 (126 ff.); E12, 45 (51 f.); insbes. E36, 1 (bes. 17-19), (Grundlagenvertragsurteil), sowie E77, 137ff. (149ff). Zu den Motiven für ein Festhalten am Konzept der Kultur- oder Volksnation s. auch Funk (Fn.473), bes. 312, und zu den quantitativen Dimensionen des Integrationsproblems u.a. Berlit (Fn. 516), 78: 1946 lebten in den Westzonen 5,7 Mio Vertriebene (13,1 % der Bevölkerung), bis 1950 wuchs ihre Zahl auf 7,88 Mio (16,5 %) an. 769 BVerfGE 36, 1 (19). 770 Vgl. hierzu insbes. BVerfGE 77, 137 (150 f.): „Aus dem Wahrungsgebot folgt insbesondere die verfassungsrechtliche Pflicht, die Identität des deutschen Staatsvolkes zu erhalten. (...)/ Schon Art. 116 Abs. 1 Halbsatz 2 GG zeigt, daß das Grundgesetz von einer Regelungskompetenz über Fragen der deutschen Staatsangehörigkeit von Personen ausgeht, (...) - und damit auch über den räumlichen Anwendungsbereich des Grundgesetzes hinaus - gegeben ist. / Die im Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes enthaltene Wahrungspflicht gebietet es auch, die Einheit des deutschen Volkes als des Trägers des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts nach Möglichkeit zukunflsgerichtet auf Dauer zu bewahren".

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

schluß der dort lebenden Bevölkerung in das eigene Konzept der Nation. Dies war vielmehr nur auf der Basis des ethnisch-kulturell orientierten Begriffs der „deutschen Nation" als „einer im Bewußtsein der Bevölkerung vorhandenen Sprach- und Kultureinheit" möglich und in diesem Zusammenhang hat er als „Klammer für Gesamtdeutschland"771 sicherlich unschätzbare Dienste geleistet. Mehr als 50 Jahre nach Kriegsende und insbesondere auch nach der Wiedervereinigung sind die Probleme jetzt allerdings ganz andere, in gewisser Weise der damaligen Konstellation sogar diametral entgegengesetzt. Heute geht es vordringlich um die Problematik des Ausschlusses der (zum Teil in dritter Generation) im Lande - und damit innerhalb des räumlichen Geltungsbereichs der Verfassung - lebenden Ausländer von den demokratischen Teilhaberechten, aber auch um ihre dauerhafte Schlechterstellung hinsichtlich einiger Freiheitsrechte, namentlich der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Diese Fragen sind vor allem auch deshalb von drängender Aktualität, weil die Ausgrenzung dieser Menschen, wie schon dargelegt wurde, mit der Zeit die innere Glaubwürdigkeit einer menschenrechtlich-universalistisch fundierten demokratischen Ordnung untergräbt. Hier kann die verfassungsindifferente Idee der Kultur- oder Volksnation nicht weiterhelfen; vielmehr ist das Konzept der Staatsbürgernation gefordert, denn nur dieses Konzept reagiert überhaupt auf die Fragestellung. Mit anderen Worten: Der nach der Diagnose von M. R. Lepsius generell gegebene Synkretismus der sich wandelnden Ideen über Nation - und ganz speziell der im Grundgesetz angelegte Dualismus zwischen der Idee der Staatsbürgernation und der der Volksnation - birgt Gefahren in sich, scheint aber dank seiner changierenden Elemente auch eine besondere Problemlösungskapazität zu besitzen. Nutzbringend einsetzen läßt sich dies allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man die unterschiedlichen Fragestellungen säuberlich voneinander trennt. Wie gezeigt wurde, ging es bei den „Kriegsfolge-Problemen" im Kern darum, wie eine ideell-geistige Verbindung zu den außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs der Verfassung lebenden Deutschen aufrechterhalten werden könne, um einen späteren Akt politischer Selbstbestimmung zu ermöglichen. Eine Lösung des Problems auf der Grundlage der Idee der Staatsbürgernation schied von vornherein aus, da sich deren Außenabgrenzung, wie oben festge-

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BVerfG, 36, 1 (19), mit dem Zusatz, daß dies aber als „ein Synonym für das ,deutsche Staatsvolk4 verstanden" werden müsse. „Versteckte sich dagegen hinter dieser neuen Formel ,deutsche Nation' nur noch der Begriff einer im Bewußtsein der Bevölkerung vorhandenen Sprach- und Kultureinheit, dann wäre das rechtlich die Aufgabe einer unverzichtbaren Rechtsposition. Letzteres stünde im Widerspruch zum Gebot der Wiedervereinigung als Ziel, das von der Bundesregierung mit allen erlaubten Mitteln anzustreben ist".

II. Nation und Nationalstaat stellt, aus dem räumlichen Geltungsbereich der Verfassungsordnung ergibt. Der damit allein mögliche Rückgriff auf das ethnisch-kulturelle Konzept begegnete hier keinen Bedenken, weil es in diesem Kontext zum einen nicht aus-, sondern einschließend wirkte, zum anderen auch nur im Vorfeld politischer Selbstbestimmung wirksam werden, die spätere politische Entscheidung für die bundesrepublikanische Staatsbürgernation also keineswegs ersetzen sollte. Geht es hingegen um die Frage, unter welchen Voraussetzungen innerhalb des räumlichen Geltungsbereiches des Grundgesetzes lebende Menschen Mitglied der bundesrepublikanischen Staatsbürgernation werden und damit insbesondere auch die politischen Rechte wahrnehmen können, so wirkt die Berufung auf das ethnisch-kulturelle Konzept der Nation nicht nur ausschließend, sondern erweist sich auch insofern als sehr problematisch, als es als „prä-politisches" Konzept für die Diskussion dieser politischen Frage keinerlei Kriterien bereit hält, mit der zwangsläufigen Konsequenz, daß das - nicht begründungsfähige - Ergebnis keiner Überprüfung standhalten kann. Umgekehrt formuliert: Aus dem Synkretismus der Ideen über die „Nation" entstehen immer dann Probleme, wenn auf verschiedenen Ebenen angesiedelte Begriffe undifferenziert in eins gesetzt werden, der ethnisch-kulturell orientierte Volksbegriff also etwa unter Mißachtung der in der Demokratie (schon aus Gründen des Minderheitenschutzes) gebotenen Trennung von „Ethnos" und „Demos" 7 7 2 auf die politische Ebene gehoben und die demokratische Ordnung des Grundgesetzes zu einer auf der Idee der Volksnation basierenden reinen „Volksdemokratie" stilisiert wird. So hatten die Vertreter der Bundesregierung in den Verfahren zum Kommunalwahlrecht für Ausländer vor dem Bundesverfassungsgericht vorgetragen, daß das deutsche Volk als demokratischer Souverän eine durch gemeinsame Herkunft, Kultur und Geschichte geprägte unentrinnbare „Schicksalsgemeinschaft" sei, deren „Identität" als das „deutsche Volk" gewahrt bleiben müsse.773 Das deutsche Volk als „Demos" und als „Ethnos" werden dabei in eins gesetzt. Dies blockiert aufgrund der Starrheit eines angeblich vorgegebenen und daher unveränderlichen Konzepts nicht nur von vornherein jede praktische Lösung der schwierigen Frage nach dem Zugang zur Staatsbürgerschaft für im Lande lebende Ausländer (und wird sich im übrigen auch im Prozeß der europäischen Integration stets als Hemmschuh erwei772

Dazu eindringlich M. R. Lepsius, Ethnos (Fn. 752), 251 ff. Vgl. die ausführliche Dokumentation in: Isensee/Schmidt-Jortzig, Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht (Fn. 12), hier insbes. die Antragsschrift von Isensee vom 9.6.1989, 14ff. (bes. 15f., 19f. und passim). Diese Position kritisiert Brun-Otto Bryde, der in diesen Verfahren die Gegenseite vertrat (aaO, 57 ff, Stellungnahme des Landtags Schleswig-Holstein vom 8.8.1989), mit dem Begriff der „Volksdemokratie"; vgl. Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, Heft 3, 1994, 305 ff. 773

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion sen 774 ), sondern es läßt auch gänzlich unberücksichtigt, daß das republikanischdemokratische Verfassungsparadigma eben nicht bei einer vorfindlichen, präpolitischen Kollektivperson „Volk", sondern bei dem Menschen und Bürger ansetzt und von da aus zum Postulat der Selbstregierung des souveränen Volkes fortschreitet. 775 Was die Idee der Volkssouveränität im republikanischen Verständnis bedeutet und welches Menschenbild dem zugrunde liegt, zeigt sich bereits in schöner Deutlichkeit bei Alexis de Tocqueville in seinem berühmten Werk „Democracy in America": In the United States the sovereignty of the people is not an isolated doctrine, bearing no relation to the prevailing habits and ideas of the people; it may, on the contrary, be regarded as the last link of a chain of opinions which binds the whole AngloAmerican World. That Providence has given to every human being the degree of reason necessary to direct himself in the affairs that interest him exclusively is the grand maxim upon which civil and political society rests in the United States.776 Das Recht der Selbstregierung beruht hier auf dem Prinzip des selbstbestimmten Bürgers und die „sovereignty of the people" meint den sich selbst regierenden Bürgerverband, kein prä-politisches, sich über ethnisch-kulturelle Merkmale definierendes Volk (wobei es natürlich auch kein Zufall ist, daß gerade in dem Einwanderungsland Amerika, wo eine solche Möglichkeit praktisch auch gar nicht bestand, the „first new nation" aus der Taufe gehoben wurde). Das heißt, der Begriff des Volkes bzw. der der Nation ist von vornherein ein politischer - das ist bei den Amerikanern nicht anders als bei den Franzosen, unbeschadet aller sonstigen Differenzen - und der einzelne, dem als Mensch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zugesprochen wird, bleibt Ausgangspunkt aller Überlegungen. Genau dies ist der Anknüpfungspunkt für legitimatorische Fragen wie die nach der Bindungswirkung der Verfassung für künftige Generationen; nur in dieser zukunftsgerichteten Perspektive macht die der Staatsbürgernation imma-

774

Bryde, Volksdemokratie (Fn. 773), 307 ff, 320 f. u. pass. Eine treffende Analyse des Grundwiderspruchs zwischen der Demokratieprämisse, die vom einzelnen und seinem Recht, über sich selbst zu verfügen, ausgeht und der Denkfigur des kollektiven Souveräns, die zwar aus historischen Gründen in die demokratische Legitimitätsdoktrin hineingeraten sei, mit deren Hilfe die Bedingungen demokratischer Herrschaft aber nicht angemessen umschrieben werden könnten, da sie mit der individualistischen Demokratieprämisse unausweichlich in Konflikt gerate, findet sich bei Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), 242 ff. 776 Vol. I, Chapt. XIX, erstmals veröffentlicht 1835 u.d.T. De la démocratie en Amérique, engl. Fassung hg. u. mit einer Einfuhrung v. Thomas Bender, New York 1981, S. 277; s. dazu auch Gebhardt (Fn. 733), 23. 775

II. Nation und Nationalstaat

251

nente Idee von der Notwendigkeit einer Reproduzierbarkeit des Gründungsvorgangs Sinn: Verfassungsrechtliche Legitimität läßt sich eben nicht ein für allemal erzeugen und für neue Generationen, für ein sich in seiner Zusammensetzung allmählich veränderndes Volk „konservieren", das sich dann mit der Erinnerung an ein immer weiter in die Vergangenheit rückendes, schließlich sogar außerhalb des eigenen Erfahrungs- und Erlebnishorizontes der (jüngeren) Aktivbürger liegendes Ereignis bescheiden müßte. Und wenn dem so ist, wenn es sich unter legitimatorischen Aspekten nicht um einen einmaligen, längst abgeschlossenen Staatsgründungsakt der Altvordern handelt, mit dem die Jüngeren lediglich über das Abstammungsprinzip verbunden sind, sondern um einen im Verfassungsstaat stets aufs neue zu belebenden prozeßhaften Vorgang, bei dem es des „immer wieder zu aktualisierenden Bürgerwille(ns) zur Hervorbringung des Staates" (Denninger) bzw. des Volkes als „rechtlich verfaßte politische Körperschaft freier, gleicher und gemeinverständiger Bürger" (Gebhardt) bedarf, 777 so wird nicht nur der Konsens zum entscheidenden (nicht alleinigen) Faktor und Bindeglied; 778 vielmehr besteht prinzipiell auch die Möglichkeit, bei der Neukonstituierung des Volkes weitere Mitglieder aufzunehmen. Auf der Basis dieser Prämissen republikanisch-demokratischen Denkens stellt sich folglich die Frage, unter welchen Bedingungen diejenigen, die unter uns leben, ohne Bürger zu sein, es werden können, um ihr Selbstbestimmungsrecht auch durch Wahrnehmung der politischen Rechte ausüben zu können. Für uns bedeutet das ganz konkret, daß wir uns - wenn wir es mit dem republikanischen Neuanfang ernst meinen - der sowohl in den USA als auch in Frankreich geführten Debatte um die Zugangsbedingungen zur Staatsbürgerschaft heute nicht mehr mit dem Hinweis entziehen können, daß das Volk eben vor der Verfassung sei, der Verfassunggebung als handlungsfähige Einheit vorausliegen müsse, mit anderen Worten: Es bestehe gar kein Diskussionsbedarf, denn die Antwort liege in der rückschauenden Perpetuierung des Vorgefundenen, also des prä-politischen, ethnisch-kulturell orientierten Volksbegriffs, der allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen eine Einbürgerung erlaubt. Hier zeigt sich, was mit der Gefahr einer Vermengung verschiedener Ebenen

777 Denninger, Sicherheit (Fn. 757), 98, betont daher auch, daß der Verfassungsstaat nicht als Geschenk vom Himmel falle; zu Gebhardt s. oben S. 240 f. mit Fn. 750. Siehe zu alledem auch Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 117 ff. 778 Dies drückt sich auch in der berühmten Sentenz Ernest Renans von 1882 aus: „Une nation (...) suppose un passé; elle se résume pourtant dans le présent par un fait tangible: le consentement (...). L'existence d'une Nation est ( ... ) un plébiscite de tous les jours" (Qu'est-ce qu'une Nation? et autres essais politiques, Textes choisis et présentés par Joël Roman, o.O. 1992, 54 f.).

252

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

und der in je unterschiedlichem Kontext gebrauchten Begrifflichkeiten von Volk und Nation gemeint ist: Im Sinne eines soziologischen Befundes ist natürlich völlig unbestritten, daß das Volk vor der Verfassung ist, und im staats- und völkerrechtlichen Kontext, in dem aus den oben dargelegten Gründen zunächst mit einem verfassungsneutralen Staatsbegriff operiert werden muß, erweist es sich auch als notwendig, so anzusetzen. Denn nach der Drei-Elemente-Lehre gibt es ohne Volk keinen Staat, wohl aber kann sich ein existierender Staat (in der Demokratie durch die verfassunggebende Gewalt des Volkes) eine neue Verfassung geben. In dieser Perspektive liegt das Staatsvolk der Verfassunggebung also tatsächlich als handlungsfähige Einheit voraus. Es erscheint dann auch logisch, das rechtliche Kriterium für das Bestehen einer Staatsangehörigkeit, wie etwa Böckenförde es tut, im Bestehen des Staates selbst zu suchen. Demgegenüber ist das Staatsangehörigkeitsgesetz von diesem Standpunkt aus betrachtet „sekundär", 779 da es lediglich etwas Vorfindliches normativ abbildet. Doch schlägt Böckenförde in anderem Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt der Folgen Verantwortung für frühere politische Entscheidungen vor, jedenfalls für die „dritte Generation der hier durch unsere eigene Politik ansässig gewordenen Ausländer, womöglich auch für die zweite Generation, wenn sie kontinuierlich hier aufgewachsen ist, einen Einbürgerungsanspruch vorzusehen, und zwar ohne Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit"; 780 ein Vorschlag, dessen gesetzgeberische Umsetzung für die künftige Zusammensetzung des deutschen Staatsvolkes ja wohl konstitutiv wäre. Das heißt, dieser Stellungnahme liegt - zwangsläufig und folgerichtig - ein Perspektivenwechsel zwischen der Ebene des Staats- und des Verfassungsrechts zugrunde: Die statische, auf die normative Erfassung von Seinstatsachen ausgerichtete, eher „rückwärtsgewandte" Bestandsaufnahme des Staats- und Völkerrechts weicht einer zukunftsoffenen, legitimatorische Fragen in den Blick nehmenden, eher dynamischen Sichtweise des Verfassungsrechts, das in der Lage sein muß, auch auf neu auftretende Probleme der geschilderten Art angemessen zu reagieren. Und dies wäre ausgeschlossen, wenn eine strikte Bindung an Kriterien bestünde, die auf den vorgeblichen soziologischen Befund des deutschen Staatsvolkes zu Beginn des Jahrhunderts - zudem unter einer anderen Staatsform - abheben und diesen

779

Böckenförde, Staatsangehörigkeit (Fn.460), 430. Siehe seine Rezension v. Brubakers „Staats-Bürger", in: FAZ v. 11.4.1995, S.L 32. Es heißt dort zur Begründung weiter: „Gerade von unserem Nationalitätskonzept aus muß anerkannt werden, daß der Zwang zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit die Zumutung einer Lossagung und Treulosigkeit gegenüber der Herkunftsnation sowie das Zerreißen einer starken emotional-mentalen Bindung bedeutet". 780

II. Nation und Nationalstaat

253

mit dem Ziel der Erhaltung einer behaupteten ethnisch-kulturellen Homogenität fortschreiben. 781 Dem trägt das Grundgesetz Rechnung, indem es in Art. 73 Nr. 2 dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz fur die Staatsangehörigkeit „im Bunde" (ein heute bedeutungsloser Zusatz) verleiht, also die Möglichkeit einer Änderung des geltenden Staatsangehörigkeitsrechts - und damit auch der künftigen Zusammensetzung des deutschen Volkes - ausdrücklich vorsieht. Dementsprechend stellt auch das Bundesverfassungsgericht in seiner ein schleswigholsteinisches Gesetz betreffenden Entscheidung zum Kommunalwahlrecht für Ausländer von 1991 zwar einerseits fest, daß das Grundgesetz die Rolle des demokratischen Souveräns dem deutschen Volk vorbehalten habe, hebt aber andererseits hervor, daß es dem Gesetzgeber freistehe, den hier lebenden Ausländern den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit zu erleichtern. Es erteilt damit der Ansicht, daß das deutsche Volk in seiner Substanz nicht verändert werden dürfe, da es dann nicht mehr mit dem Staatsvolk des Grundgesetzes identisch sei, eine Absage. 782 Die für die Zusammensetzung des deutschen Volkes maßgeblichen Bestimmungen finden sich im übrigen auch gar nicht im Grundgesetz selbst. 783 Die Staatsangehörigkeit taucht zwar bei der Umschreibung der Deutscheneigenschaft in Art. 116 Abs. 1 GG als Tatbestandsmerkmal auf, doch wollte man, wie der Allgemeine Redaktionsausschuß 1948 erläuterte, „einer - z.B. aus politischen Gründen - erforderlich werdenden Neuregelung durch einfaches Gesetz" hier nicht vorgreifen. 784 Auf verfassungsrechtlicher Ebene sind somit lediglich die Leitbilder der Nation normativ verankert, und zwar sowohl das ethnisch-kulturelle Konzept der Nation als auch die Idee der Staatsbürgernation.

(e)

Das Staatsangehörigkeitsrecht

im Spiegel des Konzepts der Nation

Die Rechtspraxis war bislang - trotz gewisser gegenläufiger Reformtendenzen seit Beginn der 90er Jahre - noch weitgehend durch die Vorherrschaft des

781

Siehe dazu Lepsius, oben S. 237 f. Vgl. BVerfGE 83, 37 ff, einerseits 51, andererseits 52, insoweit gegen die Vertreter der Bundesregierung in diesem Verfahren (vgl. die Nachw. in Fn. 773) sowie gegen Quaritsch, Einbürgerungspolitik als Ausländerpolitik?, in: Der Staat, Bd. 27 (1988), 481 ff., bes. 496 f. 783 Zur Inkongruenz von formeller und materieller Verfassung, die sich u.a. darin zeigt, daß Elemente der materiellen Verfassung wie das Staatsangehörigkeitsrecht oder das Wahlrecht nicht kodifiziert sind, s. Isensee, Staat (Fn. 457), Rn. 140. 784 Zitiert nach Berlit (Fn. 516), 79. 782

254

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

ethnisch-kulturellen Konzepts der Nation geprägt 785 und vollzieht erst durch das Gesetz vom 15.7.1999 zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts eine vorsichtige Kurskorrektur. Im Kern geht unser heutiges Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) auf das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) von 1913 786 zurück, auf ein vorkonstitutionelles Gesetz aus dem späten Kaiserreich also. Dieses Gesetz basiert auf dem Prinzip des ius sanguinis und entspricht insoweit einer zur Zeit seiner Entstehung bereits fest etablierten Rechtstradition, d.h. in ihm verkörpert sich das ethnisch-kulturelle Nationalitätskonzept, wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland herausgebildet und dann auch in entsprechenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen Niederschlag gefunden hatte. Zwar wurde im Vorfeld der Verabschiedung des RuStAG und im Reichstag heftig darüber debattiert, ob nicht zumindest gewisse Elemente des ius soli eingeführt werden sollten, indem man bestimmten in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Personen einen Einbürgerungsanspruch einräumte. So meinte etwa Hans Ratjen in seiner schon 1908 publizierten Schrift „Deutsche, die nicht Deutsche sind. Der Kampf um die Reichsangehörigkeit", daß Deutschland mit seinem strikten Festhalten am reinen Abstammungsrecht eine „schwache Note im Weltkonzert" spiele, die „sich nicht einfügt in die der anderen (...)", und folgerte: „Es gilt, unserem Blutsrechte ein gesundes, eigennütziges Bodenrecht zu vermählen, es gilt dafür zu sorgen, daß die Geburt auf deutschem Boden nicht fürderhin belanglos bleibt". 787 Doch fanden entsprechende Änderungsanträge der Sozialdemokraten zum RuStAG später im Reichstag keine Mehrheit. 788 Wie schon Ratjen nach einer rechtsvergleichenden Betrachtung festgestellt hatte, unterschied sich die mit dem RuStAG dann ausdrücklich bekräftigte Einbürgerungspraxis in Deutschland von der der meisten anderen europäischen 785 Kritisch u.a. Lutz Hoffmann, Die unvollendete Republik, Köln 1990, 87 ff. und pass.; Oberndörfer (Fn. 478); Ulrich K. Preuß, Staatsbürgerschaft (Fn. 753), 233 ff. 786 RuStAG v. 22.7.1913 (RGBl. I, 583), in der im BGBl. III, Gliederungsnr. 102-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zul. geänd. durch Art. 1 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999 (BGBl. I, 1618), das nun auch den alten Namen „RuStAG" durch „StAG" ersetzt. Einzelne Artikel des Gesetzes traten bereits am Tag nach der Verkündung bzw. am 1.8.1999 in Kraft; im übrigen trat es am 1.1.2000 in Kraft. 787 Hamburg 1908, 47 ff. (50). 788 Dazu eingehend Berthold Huber, Die Beratung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 im Deutschen Reichstag, in: Barwig, Einbürgerung (Fn. 476), 181 ff. (188-204), der hier die einzelnen Redebeiträge der Abgeordneten im Wortlaut abdruckt, so daß sich die gesamte Argumentation nachvollziehen läßt. Brubaker, StaatsBürger (Fn. 387), 162 f., hebt hervor, daß diese sozialdemokratischen Änderungsanträge nicht etwa darauf zielten, in Deutschland geborenen Personen die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt zu verleihen, sondern lediglich einen Einbürgerungsanspruch einräumen wollten.

II. Nation und Nationalstaat

255

Staaten (und erst recht von der auf dem amerikanischen Kontinent), wobei diese Unterschiede im Vergleich mit dem Nachbarstaat Frankreich besonderes augenfällig sind. 789 Dort vertraute man auf das Assimilationspotential des Staates, insbesondere die Sozialisation durch die staatlichen Schulen und den Militärdienst, und hatte insofern keinerlei Probleme damit, Einwanderer der zweiten Generation als Staatsbürger zu definieren. 790 Dabei galt in Frankreich keineswegs ein reines ius soli nach amerikanischem Muster, sondern nur ein das ius sanguinis modifizierendes bedingtes ius soli. Aber jeder Versuch, auch nur unter prinzipieller Beibehaltung des Abstammungsprinzips einen vorsichtigen Schritt in diese Richtung zu unternehmen, stieß 1913 im Deutschen Reichstag auf hartnäckigen Widerstand. - Auf der Basis eines ethnischen Nationalitätskonzeptes ist eben kaum vorstellbar, wie jemand, der nicht von deutschen Eltern abstammt, Deutscher werden könne. Hier wirkten wohl zwei Momente nach, die in den oben skizzierten Rahmenbedingungen der deutschen Natiogenese wurzeln, und zwar einerseits der Umstand, daß diese sich gerade in Abgrenzung gegenüber dem menschenrechtlichen Universalismus der Franzosen vollzogen hatte, andererseits das Schicksal der „Nation ohne Staat". Wird die Nation wie bei den Franzosen von vornherein auf den Staat bezogen und als Produkt des Staates begriffen, 791 so kann derjeni789

Ratjen (Fn.787), 47 ff., bes. 51-58. Für eine ausführliche Dokumentation der franz. Gesetzgebung seit 1790 s. La nationalitéfrançaise. Textes et documents, Ministère de la Justice (éd.), Paris 1985, 9-123; s. auch die Beiträge in: Smäin Lacher (Hg.), Questions de nationalité. Histoire et enjeux d'un code, Paris 1987. Für eine Untersuchung der deutschen Konzeption auf rechtsvergleichender Grundlage unter Einbeziehung Frankreichs s. M. Lang (Fn.463); aus der älteren Lit. auch Peter Moosmayer, Der Gebietsgrundsatz im Staatsangehörigkeitsrecht (jus soli) unter besonderer Berücksichtigung der südamerikanischen Staaten, Frankfurt/M., Berlin 1963, bes. 41 ff. zum französischen und 47 ff. zum deutschen Rechtskreis. 790 Dies diente zwar auch dem Ziel der Rekrutierung von Soldaten; insgesamt greift dieser Erklärungsansatz aber zu kurz, wie Brubaker (Staats-Bürger [Fn. 387], 142 ff.) treffend feststellt. Siehe zu alledem seine eingehende und differenzierte Analyse (aaO, bes. Teil II., 107-231), bei der er diese Fragen vor der Folie ihrer unterschiedlichen Handhabung in Deutschland und Frankreich unter verschiedenen Aspekten beleuchtet, dabei u.a. auch auf gegenläufige Erscheinungen in Preußen und auf die Probleme eingeht, denen das französische Modell im Blick auf junge algerische Einwanderer begegnet. Siehe dazu auch Abdelmalek Sayad, Les immigrés algériens et la nationalité française, in: Lacher (Fn. 789), 127 ff.; Catherine Wihtol de Wenden, Citoyenneté, nationalité et immigration, Paris 1987; François Dubet, Integration, Assimilation, Partizipation. Die Krise des industriellen und republikanischen Modells in Frankreich, in: Balke u.a. (Hg.) (Fn. 697), 103 ff. 791 Brubaker bringt dies auf die griffige Formel: „Die Franzosen verstehen ihre Nation als das Produkt des Staates, die Deutschen sehen ihre Nation als Basis ihres Staates an" (Staats-Bürger [Fn. 387 ], 238).

2 5 6 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion ge, der in Frankreich (aber nicht schon qua Abstammung als Franzose) geboren ist, durch Sozialisation im Lande zum Franzosen werden. Definiert sich die Nation hingegen im Rückgriff auf ihre Geschichte und die Eigenart des deutschen Wesens, so rückt das die Verbindung zu den Vorvätern herstellende Abstammungsprinzip ganz in den Vordergrund, und dies unter zwei verschiedenen Aspekten: Zum einen wird dem universellen Anspruch der Menschenrechtsidee die partikulare Prägung der eigenen Herkunft entgegengesetzt (und die kann man eben nicht nachträglich erwerben), zum anderen scheidet in einer „Nation ohne Staat" dieser naturgemäß auch als Bezugsrahmen „nationaler Sozialisation" aus. Als Anknüpfungspunkt kommt wiederum nur die Familie in Betracht, was die Bedeutung der Blutsbande nochmals betont. In gewisser Weise gewinnt die Einbürgerung so den Charakter einer „Adoption", die stets einer genauen Einzelfallprüfung bedarf, auf die man zumindest nicht auf Grund irgendwelcher Umstände einen Anspruch hat. Hat sich eine solche Einstellung erst einmal verfestigt und Einfluß auf die Rechtspraxis gewonnen, so lebt sie fort, auch wenn die sie einst tragenden Gründe bereits (teilweise) entfallen sind. Als das RuStAG aus dem Jahre 1913 das RuStAG von 1870 ablöste, 792 war Deutschland längst ein Nationalstaat; dennoch hielt man an dem vorstaatlichen bzw. neben dem Staat herlaufenden Konzept der Nation ebenso fest wie am reinen ius sanguinis. Schließlich war die herausragende Bedeutung des Abstammungsprinzips nun schon seit längerem einfachgesetzlich anerkannt, und die Reichstagsmehrheit war nicht davon zu überzeugen, daß es plausible Gründe dafür gäbe, dessen ausschließende Wirkung durch eine Liberalisierung der Einbürgerungsregelungen abzuschwächen. Und da man 1913 noch weit davon entfernt war, sich als „Staatsbürgernation" zu begreifen, 793 schien dies schon gar nicht verfassungsrechtlich geboten. 792

Das „Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit" (RuStAG) vom 1.6.1870 wurde zunächst für den Norddeutschen Bund erlassen, dann aber durch § 2 des Gesetzes betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches v. 16.4.1871 und durch §9 des Gesetzes betreffend die Einführung norddeutscher Bundesgesetze in Bayern v. 22.4.1871 zum Reichsgesetz erhoben. Dabei ging das RuStAG davon aus, daß die Reichs- durch die Einzelstaatsangehörigkeit vermittelt wird; dazu sowie zum Inhalt dieses Gesetzes, aber auch der vorangegangenen Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts im 19. Jh. s. Moosmayer (Fn.789), 47-52, und Grawert, Staat (Fn. 386), 193 ff., 202 ff. 793 Wie M. R. Lepsius, Nation, in: Interessen (Fn.737), 244, darlegt, wurde der Nationalgedanke im Kaiserreich zur Rechtfertigung konservativer, nicht demokratiefördernder Interessen genutzt, und auch in der Weimarer Republik gelang noch keine klare Ausdifferenzierung des staatsbürgerlichen Aspektes. Erst die Bundesrepublik sah sich in einer Situation, in der die Legitimation des neuen Staates nur noch über die demokratischen Bürgerrechte und die freie Selbstbestimmung aus dem Prinzip der Volkssouveränität möglich war, erst jetzt einigten sich die politischen Eliten auf das Selbstverständnis

II. Nation und Nationalstaat

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Die Situation im Parlamentarischen Rat stellte sich paradoxerweise fast umgekehrt da: Man definierte sich nicht mehr nur als Kultur- oder Volksnation, sondern auch als Staatsbürgernation, hatte nunmehr aber wieder mit dem Problem der „geteilten Nation" zu kämpfen. Anders als 1913 gab es nach Kriegsende keine nichtdeutschen Einwanderer, wohl aber Deutsche außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung, die es einzubeziehen galt. In dieser Situation war es sicherlich nicht unklug, die Frage danach, inwieweit ein neues nationales Selbstverständnis sich in Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts niederschlagen sollte, der Zukunft und dem offenen politischen Prozeß zu überlassen. Zwischenzeitlich haben sich die Vorzeichen nochmals geändert: Die Wiedervereinigung ist geglückt, der Einwanderungsanteil in der Bevölkerung hingegen hoch, d.h. der Druck in Richtung auf eine einschneidende Reform, die das alte staatsangehörigkeitsrechtliche Gewand der neuen Gestalt einer Staatsbürgernation anpassen sollte, ist in den 90er Jahren weiter gewachsen. Nachdem verschiedene Reformbemühungen der vergangenen Jahre gescheitert waren, hat nun die rot-grüne Regierungskoalition unter Bundeskanzler Schröder am 15.7.1999 ein Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts verabschiedet. 794 Bevor kurz geschildert werden soll, was sich dadurch geändert hat, sei zur Vermeidung von Mißverständnissen auf Folgendes hingewiesen: Die Einzelheiten eines solchen Reformprojekts lassen sich weder aus verfassungsrechtlichen Vorgaben deduzieren noch sind sie überhaupt verfassungsrechtlich determiniert, und man sollte sich insoweit auch vor voreiligen Schlüssen hüten. So folgt beispielsweise aus der Feststellung, daß sich im Grundgesetz (auch) die Idee der Staatsbürgernation verkörpert, keineswegs automatisch der Abschied vom Prinzip des ius sanguinis. Dies nicht nur deshalb, weil das Abstammungsprinzip bekanntlich in Art. 116 Abs. 1 2. Hs. GG ebenfalls normativ Niederschlag gefunden hat („Abkömmling"), sondern auch, weil ius sanguinis und ius soli über weite Strecken funktional äquivalent und verfassungsrechtlich neutral sind. Wie oben gezeigt wurde, wird das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit ganz wesentlich von den Strukturmerkmalen des modernen Staates bestimmt, und in diesem Zusammenhang leisten beide Prinzipien gute Dienste. Sie als „Staatsbürgernation", dergegenüber Vorstellungen der Kultur- oder Volksnation nur komplementär und politisch nachrangig sind. 794 BGBl. 1999 I, 1618. Zur Notwendigkeit von Reformen s. statt vieler die Beiträge in: Barwig, Einbürgerung (Fn. 476). Wenn im Text von einem „hohen Einwanderungsanteil" die Rede ist, so soll damit lediglich ausgedrückt werden, daß diese Menschen sich ohne Rückkehrabsicht, also dauerhaft, in der Bundesrepublik niedergelassen haben. Die seit Jahren geführte Debatte, ob die Bundesrepublik ein „Einwanderungsland" ist oder nicht, scheint demgegenüber ein Streit um des Kaisers Bart zu sein, denn an dem Faktum der dauerhaften Niederlassung dieser Menschen in Deutschland kommt man völlig unabhängig davon, wie man dies bewertet - wohl kaum vorbei. 17 Siehr

2 5 8 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion erfüllen im Verhältnis Individuum - Staat die Funktion einer eindeutigen Zuordnung, rechtfertigen im Regelfall darüber hinaus aber auch den Schluß auf das Bestehen der vorausgesetzten engen und auf Dauer angelegten Verbindung zwischen dem Staat und seinen Angehörigen im Sinne einer „genuine connection of existence, interests and sentiments".795 Wechselt man von der Ebene des Staates zu der der Nation, so kann man die äquivalente Funktion beider Prinzipien auch in der Weise begründen, daß es sich nur um zwei unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine Regelvermutung „hinsichtlich der Wahrung einer gewissen kulturellen Identität" handele, die eben entweder mit dem ius soli bei der Geburt im Kulturraum ansetze und auf deren zivilisatorische Kraft vertraue oder mit dem ius sanguinis auf die familiale Sozialisation setze, letztlich aber in beiden Fällen gleichermaßen auf die Erhaltung eines bestimmten zivilisatorischen Standards abziele. 796 Nun mag man hier noch darüber streiten, welche Rolle dabei Differenzen im jeweiligen Konzept der Nation spielen und inwieweit dieses eher dem einen oder dem anderen dieser beiden Rechtsprinzipien verbunden ist oder nicht. Doch im Gegensatz zu der in dem schillernden Begriff der Nation angelegten Mehrdeutigkeit hängt der Erwerb der Staatsangehörigkeit davon ab, ob ein eindeutiger gesetzlicher Tatbestand erfüllt oder nicht erfüllt ist. Dabei zeigt sich, daß beide Prinzipien in der großen Mehrzahl der Fälle, in der die Kinder von Staatsangehörigen im Staatsgebiet geboren werden, im Ergebnis konvergieren. Zumindest soweit sich diese Prinzipien also als funktional äquivalent, in der Wirkung austauschbar und verfassungsrechtlich neutral erweisen, dürfte ein traditionell auf dem Prinzip des ius sanguinis beruhendes Staatsangehörigkeitsrecht für den um die Synthese von Staat und Menschenrechtsidee ringenden Verfassungsstaat völlig unproblematisch sein; und ohne Not wird man sich von gewachsenen Rechtstraditionen auch nicht lösen. 797

795

So die Ausführungen in der berühmten Nottebohm-Entscheidung, vgl. oben S. 152 f. 796 So Pauly (Fn.695), 46 f. 797 Wie Böckenförde in seiner Rezension von Brubakers „Staats-Bürger", in: FAZ v. 11.4.1995, S. L 32, feststellt, folgen gegenwärtig mindestens 44 Staaten - darunter auch mehrere westliche Demokratien - dem reinen ius sanguinis und weitere 30 Staaten einem eingeschränkten ius sanguinis. Er wendet sich nachdrücklich dagegen, ius sanguinis und Abstammungsprinzip insgesamt einem ethnisch-völkischen Nationbegriff zuzuordnen oder gar als Ausfluß eines Blut- und Bodendenkens zu sehen. Auch Funk (Fn.473), 310 f., weist darauf hin, daß allein aus der normativen Kontinuität des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts nach 1945 nicht darauf geschlossen werden könne, daß das Festhalten am ius sanguinis auf völkisch-rassischem Denken beruhe. Diesen Eindruck erwecken jedoch die Ausführungen von Oberndörfer (Fn. 478), 34 u. pass, der das Abstammungsprinzip in einen unmittelbaren Zusammenhang zu „völkischem Natio-

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Anders sieht es jedoch hinsichtlich eines wichtigen Teilbereichs, und zwar der im Lande geborenen und aufgewachsenen Kinder von Einwanderern aus. In diesem Punkt konnte ein den dauerhaften Ausschluß dieser Menschen begründendes reines ius sanguinis den heutigen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Aus der menschenrechtlich-universalistischen Fundierung der grundgesetzlichen Ordnung folgt eben auch, daß der Zugang zur Staatsbürgerschaft prinzipiell offen gehalten werden muß, d.h. der Kontinuitätsbruch von 1945, der in diesem Bereich offenbar über einen langen Zeitraum hinweg keinen spürbaren Mentalitätswandel bewirkt hatte, 798 sollte nun auch in einer durchgreifenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechts Niederschlag finden. Die Vorschläge reichten von einer über die bisherigen Maßnahmen 799 hinausgehenden weiteren Liberalisierung der Einbürgerungsbestimmungen bis dahin, in der Bundesrepublik geborenen Kindern von ebenfalls im Inland geborenen oder sich über einen längeren Zeitraum rechtmäßig hier aufhaltenden Ausländern die Staatsangehörigkeit bei Geburt zuzuerkennen, 800 wobei darüber gestritten wurde, ob eine dadurch bedingte doppelte Staatsangehörigkeit (auf Dauer) zu akzeptieren sei oder nicht. Nachdem die Bemühungen der alten Koalition von Union und FDP, deren Koalitionsvereinbarung von 1994 eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts anvisiert hatte, in der vergangenen Legislaturperiode ebenso scheiterten wie ein weitergehender Gesetzentwurf des von SPD-regierten Lännalismus" (einschließlich seiner „rassistischen Komponente") stellt. Hier ist aus juristischer Sicht eine differenzierte Betrachtung angebracht. 798 Dazu Lesch (Fn.473), 102f., der hier auf das ganze Sortiment von Bedingungen hinweist, die derjenige, der Deutscher werden will, im Regelfall erfüllen muß(te). Die zum 1.1.2000 in Kraft getretene Reform bringt gewisse Erleichterungen der Einbürgerung mit sich; so verkürzt sich u.a. die für einen Einbürgerungsanspruch vorausgesetzte Zeitspanne von 15 auf 8 Jahre. Allgemein zur Rechtslage vor dem 1.1.2000 s. Hans Dieter Rauscher, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht - Gesetzliche Grundlagen und Rechtsprechung zur Einbürgerung, in: Barwig, Einbürgerung (Fn.476), 129 ff, sowie die übrigen Beiträge ebd. 799 Bereits 1990 und 1993 wurden die Einbürgerungsvoraussetzungen etwas liberalisiert und die Verfahrenskosten erheblich herabgesetzt (vgl. §§ 85 f. AuslG a.F. zur Einbürgerung junger Ausländer und solcher, die seit 15 Jahren in Deutschland leben). Tatsächlich sind die Einbürgerungszahlen seitdem gestiegen; dazu Funk (Fn.473), 314. Allerdings ist Voraussetzung einer Einbürgerung - bis heute - regelmäßig die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit, was für viele das eigentliche Hindernis bildet (zu den Ausnahmen vgl. § 87 AuslG). 800 Siehe dazu den knappen Abriß bei Claus Leggewie, Vom Deutschen Reich zur Bundesrepublik - und nicht zurück, in: Balke u.a. (Hg.) (Fn.697), 3 ff. (19 f.), der u.a. auf repräsentative Meinungsumfragen hinweist, nach denen über 90 % der Befragten dafür sind, Kindern bei Geburt in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen, wenn schon ein Elternteil hier geboren ist.

2 6 0 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion dem dominierten Bundesrates zur doppelten Staatsangehörigkeit, 801 ist nuftmehr als parteiübergreifender Kompromißvorschlag das sogenannte „Optionsmodell" Gesetz geworden, das bei prinzipieller Beibehaltung des ius sanguinis gewisse Elemente des ius soli einführt. Es sieht vor, daß in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern mit Geburt deutsche Staatsangehörige werden, sofern ein Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt seit mindestens acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt (§4 Abs. 3 StAG). Im Falle einer doppelten Staatsangehörigkeit, die immer dann entsteht, wenn ein Kind bei Geburt nach § 4 Abs. 3 StAG die deutsche und zugleich nach dem Abstammungsprinzip die ausländische Staatsangehörigkeit seiner Eltern erwirbt, müssen die Betroffenen nach Erreichen der Volljährigkeit bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres für eine der beiden Staatsangehörigkeiten optieren (§29 Abs. 1 StAG). Erklären sie, daß sie die ausländische Staatsangehörigkeit beibehalten wollen, so zieht dies den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nach sich. Gleiches gilt, wenn sie bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres gar keine Erklärung abgeben (§29 Abs. 2 StAG). Entscheiden sich die Betroffenen für die deutsche Staatsangehörigkeit, so müssen sie die Aufgabe oder den Verlust der ausländischen Staatsangehörigkeit nachweisen (§ 29 Abs. 3 StAG). In Ausnahmefällen, d.h. wenn die Abgabe oder der Verlust der ausländischen Staatsangehörigkeit nicht möglich oder zumutbar ist oder bei einer Einbürgerung nach Maßgabe von §87 AuslG Mehrstaatigkeit hinzunehmen wäre oder hingenommen werden könnte, ist gemäß § 29 Abs. 4 eine Beibehaltungsgenehmigung zu erteilen. Ein erster wichtiger Schritt in Richtung auf ein Staatsbürgerkonzept, in dem sich die Bundesrepublik als Staatsbürgernation wiedererkennen kann, ist mit dieser Reform des Staatsangehörigkeitsrechts somit unternommen worden. Neben dem geschilderten „Optionsmodell" (einschließlich der in §40 b StAG enthaltenen Übergangsregelung für Kinder, die am 1.1.2000 das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten) beinhaltet sie unter anderem auch eine weitere Liberalisierung der Einbürgerungsbestimmungen (vgl. § 14 StAG, §85 AuslG n.F.) 801

Der Gesetzentwurf des Bundesrates, der am 27.3.1998 im Bundestag mit 338 Nein- zu 316 Ja-Stimmen bei drei Enthaltungen abgelehnt wurde, wollte doppelte Staatsangehörigkeiten unbefristet zulassen. Zudem forderte die SPD-Fraktion in einem ergänzenden Antrag, daß Kinder der dritten Ausländergeneration automatisch mit der Geburt Deutsche werden sollten und Kinder der zweiten Ausländergeneration einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung erhalten sollten. Da einige Unions-Abgeordnete, insbesondere aber ein Großteil der FDP-Fraktion den SPD-Positionen nahe standen, galt diese Abstimmung nach der Abstimmungsniederlage der Union beim sog. „Lauschangriff 4 als Zerreißprobe für die Koalition, vgl. dazu die Berichte in der Süddeutschen Zeitung vom 12.3.1998, S. 1, und vom 28/29.3.1998, S. 5.

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und eine Konkretisierung und maßvolle Erweiterung von Härtefallregelungen für die Hinnahme von Mehrstaatigkeit (§ 87 AuslG n.F.). Weitere Schritte werden nach einer Analyse und Diskussion der mit den neuen Regelungen gesammelten Erfahrungen sicherlich folgen. Allerdings sollte dies angesichts der besonderen Sensibilität der Materie nicht nach dem Prinzip des „try and error", sondern mit Umsicht und auf der Basis breiter Zustimmung geschehen. Ein planvolles Vorgehen setzt jedoch voraus, daß vorab in der umstrittenen Frage Konsens erzielt wird, was überhaupt konkret aus dem Selbstverständnis als „Staatsbürgernation" für die Definition der Zugangsbedingungen zur Staatsbürgerschaft folgt. Insbesondere stellt sich die Frage, welchen Grad an Offenheit dies eigentlich erfordert oder umgekehrt, inwieweit das Anliegen, die eigene Identität zu wahren, Ausschlüsse zu rechtfertigen vermag. Diese Kontroverse soll im folgenden kurz skizziert werden.

(2) Zugehörigkeit als primäres Gut und die Diskussion um gerechte Vergabekriterien (a)

Zugehörigkeit im Spannungsfeld von individueller und nationaler Selbstbestimmung

Um die Definition von Zugehörigkeit und damit zwangsläufig auch von Nicht-Zugehörigkeit kommt keine politische Gemeinschaft herum, da ohne sie weder Partizipation umfassend begründet noch Solidarität formell institutionalisiert werden kann. 802 Demnach hat jede Staatsnation - auch die Staatsbürgernation - insofern „Club-Charakter", 803 als nicht jeder ohne weiteres einen An-

802

Münkler (Fn. 725), 369; s. auch Habermas, Faktizität (Fn. 8), 167: „Das Recht auf gleiche Mitgliedschaftsrechte in einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen setzt ein in Raum und Zeit abgegrenztes Kollektiv voraus, mit dem sich die Angehörigen identifizieren und dem sie ihre Handlungen als Teile desselben Interaktionszusammenhangs zurechnen können". 803 Vgl. dazu Walzer (Fn.365), 65 ff., 70 ff., 76 ff. (Analogie zum Verein); ablehnend Bruce A. Ackerman, Social Justice in the Liberal State, New Haven/New York 1980, 88, 93, der diese Analogie für irreführend hält und hinzufügt: „The liberal state is not a private club; it is rather a public dialogue by which each person can gain social recognition of his standing as a free and rational beeing". Dabei bezieht er sich aber ausdrücklich auf den „idealen" liberalen Staat. Hier geht es jedoch zunächst nur darum, daß jede Staatsnation faktisch ein staatlicher Mitgliederverband ist und als solcher die Entscheidungskompetenz bezüglich der Aufnahme neuer Mitglieder besitzt, nicht um die Frage, in welchem Verfahren und nach welchen Prinzipien der liberale Staat bzw. eine „Staatsbürgernation" diese Fragen entscheiden muß, wenn er seinem selbstgesetzten Anspruch genügen will.

2 6 2 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion spruch daraufhat, Mitglied zu werden und die Mitgliedschaftsrechte auszuüben, wie es etwa dem oben beschriebenen strikt individualistischen Ansatz eines John Locke entspräche, der hier allein auf den Willen des einzelnen abstellt. 804 Vielmehr entscheidet auch nach dem Selbstverständnis einer Staatsbürgernation nur sie selbst über die Kriterien, nach denen neue Mitglieder als Bürger aufgenommen werden und damit an der gemeinschaftlichen Selbstregierung partizipieren sollen. Dies ist Ausdruck des Umstandes, daß die Idee der Staatsbürgernation zwar vom einzelnen und seinem Selbstbestimmungsrecht ausgeht, aber zugleich für eine bestimmte Ordnungsvorstellung innerhalb unserer real existierenden pluralen Staatenwelt steht. Sie muß folglich mit den Brüchen fertig werden, die sich daraus ergeben, daß die von der aufklärerischen politischen Philosophie stillschweigend gesetzten Prämissen heute weniger zutreffen denn je. Dies gilt, wie oben dargelegt, sowohl hinsichtlich der Prämisse einer grundsätzlichen „Separation der Völker" als auch bezüglich der dabei vorausgesetzten Vorstellung, daß jeder Mensch Bürger eines Staates sei, der ihm seine Menschen- und Bürgerrechte - und wie man hinzufügen müßte: eine Existenzgrundlage sowie äußeren und inneren Frieden im Staate - sichere. Unter Geltung dieser Prämissen wäre in der Tat kein größerer Andrang auf eine besondere politische Gemeinschaft zu erwarten, über deren konkrete Gestalt sich in jener dünnen Sphäre politischer Philosophie, in der die gesamte Staatenwelt aus den gleichen abstrakten Prinzipien gezimmert zu sein scheint, ohnehin keine Aussage treffen ließe. „Zugehörigkeit" wäre ein disponibles Gut, da sie unter diesen Voraussetzungen überall das gleiche verspricht. Und ihre Wahl könnte schon deshalb nur ein Akt individueller, nicht auch kollektiver Selbstbestimmung sein, da dieses „kollektive wir" des demokratischen Kontraktualismus in seiner Abstraktion von allen lebensweltlichen Besonderheiten gar keine eigene Identität 805 und das dadurch begründete Gemeinwesen keine vom Individuum gelöste Existenz besitzt - wird es doch allein aus dessen Perspektive heraus „more geometrico" konstruiert, daher auch ebenso wie das Individuum selbst stets nur im Singular angesprochen.

(b)

Zugehörigkeit als primäres Gut (Walzer)

Die individualistisch aufgeladene Idee der „Staatsbürgernation" steht mit dem Wegfall der von der aufklärerischen politischen Philosophie gesetzten Prämissen vor der Herausforderung, sich inmitten einer ebenso bunten und 804 805

Vgl. dazu oben S. 141 mit Fn. 425. Siehe hierzu bezogen auf Rousseau H. Hofmann, Autonomieansprüche (Fn. 132), 66.

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263

vielgestaltigen wie ungerechten, durch krasse Ungleichheiten und unterschiedlichste nationale Identitätsmuster geprägten Staatenvielfalt zu behaupten, in der allein die Zugehörigkeit zu einer konkreten politischen Gemeinschaft über allgemeine Lebenschancen, individuelle Freiheit und politische Partizipationsmöglichkeiten bestimmt und daher im Falle ihrer Attraktivität unter den Druck großer Migrationsbewegungen gerät. Die Mitgliedschaft als solche avanciert unter diesen Bedingungen, wie Michael Walzer zutreffend feststellt, zum ersten und wichtigsten Gut, das jede politische Gemeinschaft zu vergeben hat. 806 Theorien der Gerechtigkeit, wie sie seit der bahnbrechenden Arbeit John Rawls aus dem Jahre 1971 807 und in produktiver Auseinandersetzung mit seiner justice-as-fairness-Konzeption Konjunktur haben, müssen dieses primäre Gut in ihrem Ringen um ein Konzept von Gerechtigkeit, das das Ziel größtmöglicher Freiheit und Pluralität mit der Forderung nach Gleichheit vereinbar machen und gerechte Verteilungsgrundsätze für soziale Güter (einschließlich von Freiheit und Chancen) aufstellen will, berücksichtigen. Allerdings taucht in diesem Kontext dann noch einmal die schon überwunden geglaubte „Separationsthese" auf, und zwar sogar unter zwei unterschiedlichen Aspekten: Einerseits beschränkt sie, wie oben schon gezeigt wurde, den Anwendungsbereich des für liberale Theoretiker wie Rawls oder Ackerman so zentralen „Neutralitätsprinzips". 808 Andererseits setzt überhaupt jedes Konzept distributiver Gerechtigkeit prinzipiell eine „festumgrenzte Welt voraus, innerhalb deren Güter zur Verteilung gelangen" (Walzer). Nach Walzer ist diese festumgrenzte Welt für uns die politische Gemeinschaft, d.h. wenn „wir an distributive Gerechtigkeit denken, dann denken wir an 806

Walzer (Fn.365), 65. Vgl. auch Ackerman (Fn.803), 91 u. pass.: „(...) citizenship is the most important [fundamental] right in liberal theory". Nach H. Arendt ist dies auch das einzig wirkliche Menschenrecht: „Einzig der Verlust der politischen Gemeinschaft ist es, der den Menschen aus der Menschheit herausschleudern kann" (vgl. Menschenrecht [Fn.403], bes. 761, auch 766ff.; dies., Herrschaft [Fn.217], bes. 607ff., 612ff, 616ff.). 807 A Theory of Justice, 1971 ; vgl. auch oben S. 226 f. mit Fn. 699. 808 Wie oben auf S. 226 ff. gezeigt, könnte man den Rawls'schen „Schleier des Nichtwissens" auch auf den Bürgerstatus selbst beziehen, würde damit aber eine der von Rawls gesetzten Prämissen unterlaufen. Ackerman (Fn. 803), der das auf die wechselseitige Gleichachtung von Personen und ihre unterschiedlichen Konzeptionen des Guten bezogene Neutralitätsprinzip und den „Neutral dialogue" in das Zentrum seiner Theorie stellt, ist sich dieses Konfliktes wohl bewußt: „By its very terms, the Neutrality principle extends its protection only to ,citizens', leaving others at the mercy of a dialogue that is nasty, brutish, and short" (aaO, 69) und geht dem im folgenden (69-95) mit verschiedenen Gedankenexperimenten auf den Grund, die konsequenterweise in Form von Dialogen entwickelt werden (ab 89 ff. zwischen „Apollonian" und „Explorer", zwei Raumschiffahrern auf Entdeckungsreise, die u.a. auch zur der in Fn. 806 zitierten Erkenntnis gelangen).

2 6 4 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion unabhängige Staaten" und gehen daher von einer „festgefügten Gruppe mit einer festen Population aus, mit dem Effekt, daß wir die erste und wichtigste Verteilungsfrage, die Frage, wie diese Gruppe geartet, wie sie konstituiert ist", gar nicht stellen. 809 - Was er hier so treffend diagnostiziert ist nichts anderes als ein weiterer Anwendungsfall der „Separationsthese", die mit der Wiederbelebung der Gerechtigkeit als sozialem Ordnungsprinzip 810 offenbar keineswegs automatisch ad acta gelegt wird. Vielmehr gehen sowohl die klassischen wie die modernen Theoretiker der Freiheit, als auch die (den Freiheitsgrundsatz in eine umfassendere Theorie einbindenden) Theoretiker der Gerechtigkeit zunächst einmal von der Prämisse „festumgrenzter Welten" bzw. von unabhängig von einander existierenden, in sich geschlossenen politischen Gemeinschaften aus.

(c)

Das doppelte Dilemma der Zulassungsentscheidungen

Auch die politische Philosophie hat die aus dem Wegfall der Prämisse der „Separation der Völker" bzw. der Existenz „festumgrenzter Welten" entstehenden neuen Herausforderungen inzwischen aufgegriffen. Die Frage der Zulassung zu einer politischen Gemeinschaft bzw. nach den Kriterien für die Vergabe der Zugehörigkeit zu ihr wird heute insbesondere in den USA, aber auch in Frankreich und mittlerweile auch bei uns intensiv (und fächerübergreifend) diskutiert. 811 Zulassungsentscheidungen sind zum einen besonders schwierig, da mit der Öffnung nach außen nationale Interessen ins Spiel kommen, die innerhalb einer national geschlossenen Gruppe keine Rolle spielen. Zum anderen sind sie aber 809

Walzer (Fn.365), 65. Dazu H. Hofmann, Bilder des Friedens (Fn. 375), bes. 23 ff, 48 ff, 66, 74. 811 Für die Debatte in den USA s. Ackerman (Fn. 803), 69-95; Frederick G. Whelan, Citizenship and Freedom of Movement: An Open Admission Policy?, in: Gibney (Ed.) (Fn.698), 3ff, sowie weitere Beiträge in diesem Bd.; s. auch die in: Ethics, Vol. 98 (July 1988), abgedr. Beiträge des Symposiums on „Duties beyond Borders", insbes. Etienne Balibar, Propositions on Citizenship (aus dem Franz, übersetzt v. James Critchley), ebd, 723 ff; Hermann R. van Gunsteren, Admission on Citizenship, ebd, 731 ff; allgemeiner zu den Grund- und Vorfragen dieser Diskussion David Miller, The Ethical Significance of Nationality, ebd, 647 ff.; Goodin (Fn.722) u. weitere Beiträge ebd.; s. auch Will Kymlicka/Wayne Norman, Return of the Citizen: A Survey of Recent Work, in: Ethics, Vol. 104 (1994), 352 ff. Weitere Nachw. für die Diskussion in den USA und in England bei Frankenberg, Fremdheit (Fn.701), Fn. 30, für Frankreich bei Lesch (Fn.473), 104, Fn. 13. Zur deutschen Diskussion s. J. Habermas, Faktizität (Fn.8), 632ff, insbes. 651 ff.; ders, Anerkennungskämpfe (Fn.698), bes. 179ff; Lesch (Fn.473); Frankenberg, aaO; sowie weitere Beiträge in: Balke u.a. (Hg.), Schwierige Fremdheit (Fn. 697); s. auch Kleger, Staatsbürgerschaft (Fn. 702), und Pauly (Fn. 695). 810

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auch von besonderem Gewicht, da sie, wie Walzer zu Recht betont, alle anderen (Distributions-)Entscheidungen vorstrukturieren, indem sie festlegen, mit wem diese Entscheidungen künftig getroffen werden. Er sieht diese Zulassungsentscheidungen, bei denen Form und Gestalt der politischen Gemeinschaft zur Disposition stehen, daher geradezu als den „Kern, das Herzstück von gemeinschaftlicher Eigenständigkeit", auch wenn „die Selbstbestimmung in bezug auf Mitgliedschaft keine absolute, uneingeschränkte Selbstbestimmung" sei. 812 Mit anderen Worten: Da jede Aufstellung und Anwendung von In- und Exklusionsregeln geeignet ist, die Konsistenz des sozialen Verbandes zu verändern, liegt es nahe, „die Produktion dieser Regeln den Mitgliedern eines sozialen Verbandes als eigene Angelegenheit, als ihre Sache zuzuweisen" (Pauly). 813 Abgesehen davon konzedieren sogar diejenigen, die mit Nachdruck dafür eintreten, schon bei Zulassungsentscheidungen im Rahmen der Immigrationspolitik explizit moralische, auf Gerechtigkeitstheorien basierende Überlegungen zu berücksichtigen, „that the modern state is not a fundamentally altruistic institution" (Scalan/Kent). 814 Positiv gewendet: Auch ein menschenrechtlich fundierter Staat legitimiert sich, wie schon festgestellt wurde, als Nationalstaat regelmäßig zugleich daraus, daß er die Interessen eines ganz bestimmten Volkes, einer konkreten Nation unter den vielen anderen vertritt, mit denen er unter den Bedingungen der Globalisierung eben nicht nur kooperiert, sondern auch konkurriert. Zulassungsentscheidungen berühren zwangsläufig sowohl die aus nationalstaatlicher Perspektive wesentlichen nationalen Interessen als auch die jeder Definition von Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit vorausliegende Frage nach der (politischen) Identität der jeweiligen (Staatsbürger-)Nation. Das Dilemma, vor dem eine Staatsbürgernation bei dem Entwurf von In- und Exklusionsregeln steht, ist somit gleich ein doppeltes: Einerseits können nationale Interessen eine Exklusion fordern, während die ihrer universalistisch-abstrakten Fundierung entsprechend sehr offene Idee der Staatsbürgernation eine Inklusion verlangt, andererseits muß sie das Rätsel einer auf universelle Menschheitsideale gegründeten partikulären Identität des eigenen geschichtlich-konkreten Gemeinwesens lösen. In diesem Zusammenhang erweist es sich als hilfreich, in Anlehnung an Walzer zwischen „Erstzulassungen (= Einwanderungen)" und „Zweitzulassungen (= Einbürgerungen)" zu differenzieren: 815 Nationale Interessen werden in erster Linie nach außen - also bezogen auf die sogenannten „Erstzulassungen" - gel812 813 814 8,5

Vgl. Walzer (Fn. 365), 65 ff. (bes. 65 und 105 f.). Pauly (Fn. 695), 53. Scalan/Kent (Fn. 698), 61 f. Vgl. Walzer (Fn. 365), 104.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

tend gemacht, wenn im Widerstreit mit den zugunsten einer gerechten Einwanderungspolitik ins Feld geführten „moral considerations" 816 (soziale) Kosten der Immigration und Belastungsgrenzen (bei denen durchaus auch Überfremdungsängste und damit Identitätsfragen eine Rolle spielen) erörtert werden. Darüber hinaus tragen sie, wie oben am Beispiel der Deutschengrundrechte gezeigt werden konnte, als Ausnahme zur Regel der menschenrechtlichen Fassung der Grundrechte auch innerhalb einer menschenrechtlich-universalistisch fundierten Ordnung bestimmte, vornehmlich durch den Schutz der eigenen Staatsangehörigen motivierte nationale Vorbehalte, die gegenüber denjenigen, die den Bürgerstatus nicht besitzen, geltend gemacht werden können. Doch wenn es um die wirkliche Lösung der dadurch gegebenen verfassungsrechtlichen Spannungslage durch eine dauerhafte Integration dieser Menschen über das Institut der Staatsbürgerschaft, also in Walzers Terminologie um „Zweitzulassungen" geht, dann steht die nach innen gerichtete Frage nach der Identität des eigenen Gemeinwesens ganz im Vordergrund. Läßt sich jede Gruppe aus sozialpsychologischer Sicht durch ihre Grenzen beschreiben, d.h. über die „Aufnahmebedingungen", die ein Anwärter auf Gruppenmitgliedschaft zu erfüllen hat, 817 so muß sich auch eine politische Gemeinschaft, die ihre Kriterien für die Verleihung des Bürgerstatus überdenkt, zunächst der sie tragenden identitätsstiftenden Konstituanten vergewissern, um sie sodann in der Konzeption der „Aufnahmebedingungen" abbilden zu können. Während sich dies bezogen auf das verfassungsindifferente Leitbild einer Volksnation 818 als linearer Vorgang darstellen mag, ist es in einer Staatsbürgernation das Ergebnis eines mehrstufigen dialektischen Prozesses: Einerseits vollzieht sich schon die Identitätsbildung selbst dialektisch, wenn sich eine partikuläre und sich als solche gegenüber anderen abgrenzende staatliche Gemeinschaft gerade im Rekurs auf menschenrechtliche Prinzipien mit universellem Geltungsanspruch konstituiert. Andererseits ist aber auch zu bedenken, daß die „Aufnahmebedingungen" für die Staatsbürgerschaft, in denen die für wesentlich gehaltenen identitätsstiftenden Konstituanten schließlich Niederschlag finden, ihrerseits ungeachtet aller Bemühungen um eine Vermittlung mit der Partikularität des jeweiligen geschichtlich-konkreten Gemeinwesens im Ergebnis das Selbstverständnis einer „Staatsbürgernation" reflektieren müssen. Aus dem Satz, daß eine Gruppe sich über ihre Grenzen - sprich: Aufnahmebedingungen - beschreiben läßt, folgt natürlich auch umgekehrt, daß eine Gruppe, die ein bestimmtes Selbstbild hat, welches sich in ihren Aufnahmebedingungen nicht wiederfindet, diese gegebenenfalls korrigieren, zugleich aber auch das 8.6 8.7 818

So u.a. Scalan/Kent (Fn. 698), 61 ff. Siehe dazu Jeannette Schmid (vgl. oben S. 228 mit Fn. 704). Dazu oben S.237.

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entworfene Selbstbild hinsichtlich seiner Stimmigkeit und inneren Glaubwürdigkeit hinterfragen muß. Die Dialektik der Identitätsfindung setzt sich damit auf dieser Ebene fort. Die verfassungskräftig verankerte Idee der Staatsbürgernation füngiert nicht nur als Maßstab für eine verfassungsrechtliche Kontrolle der einfachgesetzlich ausgestalteten Zugangsbedingungen zur Staatsbürgerschaft, sondern letztere halten gleichzeitig der „Staatsbürgernation" einen Spiegel zur allfälligen Selbstkontrolle vor.

(d)

Gleichheit und Differenz, Identität und Anerkennung ein interdisziplinärer Diskurs

Wie kaum anders zu erwarten, ist diese gesamte Thematik, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln im Rahmen eines interdisziplinären Diskurses unter vielfältigen Aspekten beleuchtet wird, Gegenstand heftiger Kontroversen, die sich im Sinne einander teilweise schneidender Kreise überlappen: Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte, Universalismus-Kritik und die Diskussion um Pluralismus und Multikulturalismus, oder spiegelbildlich betrachtet: die Begründung von Homogenitätserfordernissen, um nur einiges zu nennen, laufen in der schwierigen Frage nach den Vergabekriterien bzw. Verteilungsregeln für die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft zusammen.819 - Ganz zu schweigen von dem aus anthropologischer, (ethno-)soziologischer oder sozialpsychologischer Sicht geführten Diskurs über das „Fremde" als einem notwendigen Gegenpol jeder Identitätsstiftung und Selbstvergewisserung, der, wie Dan Diner hervorhebt, überall dort seinen Ort findet, wo ein Kollektiv sich anschickt, über die Konstituanten seiner selbst zu befinden. 820

819 Vgl. die Nachw. in Fn. 811. Allgemein zur Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse s. statt vieler Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/Main 1993, mit Beiträgen von J. Rawls, Α. Gutmann, A. Maclntyre, C. Taylor, M. Walzer u.a. Einen guten Überblick verbunden mit einer treffenden Analyse bieten auch Wolfgang Kersting, Liberalismus und Kommunitarismus. Zu einer aktuellen Debatte, in: Information Philosophie Juli 1993, 4 ff.; sowie Will Kymlicka, Politische Philosophie heute. Eine Einführung (aus dem Engl. v. Hermann Vetter), Frankfurt/New York, bes. 169 ff. Für verschiedene Begründungsansätze zum Homogenitätserfordernis s. M. Kaufmann (Fn. 766), 43 ff, und für die Multikulturalismus-Debatte die Beiträge in: Taylor, Multikulturalismus (Fn. 698). 820 Diner, in: Balke u.a. (Hg.), (Fn.697), 21. Wie er hinzufügt, ist „das Fremde" insofern von kulturbegründender Wirkung und der Diskurs darüber von überzeitlicher Bedeutung; zugleich evoziere er aber paradoxerweise eine jeweils „zeithaftig gebundene, historische Aktualität der Krise des eigenen Selbstverständnisses", deren Ursachen er bezogen auf Deutschland und Europa in der gegenwärtigen Phase eines epochalen Umbruchs ausmacht; s. in diesem Zusammenhang auch Dieter Fuchs/Jürgen Gerhard/

2 6 8 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Sucht man hier nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner, so ließe sich mit Etienne Balibar der Kampf um den Zugang zur Staatsbürgerschaft wohl am treffendsten als Kampf um Gleichheit („struggle for citizenship as a struggle for equality") 821 charakterisieren. Hannah Arendt hat die Staatsbürgerschaft einst als die „große Gleichmacherin" und das mit der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft verbundene „Recht, Rechte zu haben", zugleich als das einzige wirkliche Menschenrecht bezeichnet.822 Und Walzer legt aus der internen Sicht des demokratischen Staates mit der Feststellung den Finger auf die Wunde, daß, wenn „der Weg zur Zweitzulassung versperrt ist, (...) die politische Gemeinschaft in eine Welt von Mitgliedern und Fremdlingen (zerfällt), (...) in der die Fremdlinge den Mitgliedern Untertan sind. Letztere mögen zwar untereinander gleich sein, aber es ist nicht ihre Gleichheit, die den Charakter des Staates bestimmt, in dem sie leben, sondern ihre tyrannische Herrschaft". 823 Zugang zur Staatsbürgerschaft zu erhalten bedeutet, eben jene Grenze zwischen „Fremdlingen" und „Mitgliedern", zwischen Ungleichen und den untereinander Gleichen passieren zu dürfen. Damit rührt die Zugangsfrage erneut an den neuralgischen Punkt der Verbindung von Mitgliedschaft und Menschenrechten im Verfassungsstaat: die Diskrepanz zwischen der verfassungsrechtlich positivierten allgemeinen Menschengleichheit und der ausschließlich den Staatsbürgern vorbehaltenen staatsbürgerlichen Gleichheit. Sie basiert auf dem jedem Konzept von Mitgliedschaft immanenten Gedanken der Differenz zu Nichtmitgliedern, ja, verlöre ohne die auf einer wie auch immer zu bestimmenden Differenz beruhenden Exklusionen wie jede Mitgliedschaft ihren Wert und zudem als Staatsbürgerschaft in einer Welt differierender Nationalismen ihre Funktion 824 - und sitzt Edeltraut Roller, Wir und die Anderen. Ethnozentrismus in den zwölf Ländern der europäischen Gemeinschaft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 Jg. 1993, 238 ff. 821 Vgl. Propositions on Citizenship (Fn. 811), 729, s. aber auch 723: Die Dimension der Gleichheit sei bei der Verfassung eines Staatsbürgerschaftskonzepts immer präsent. 822 Vgl. Herrschaft (Fn.217), insbes. 607ff, 612ff; dies. Menschenrecht (Fn.403), insbes. 761, 766 ff.; dazu oben S. 134 und passim. 823 Sphären der Gerechtigkeit: ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (Fn.365), 104; s. für das komplette Zitat sowie allgemein in diesem Zusammenhang oben S. 120. In Ackermans Sicht (Fn. 803) besteht die Ungleichheit insbesondere im (weittragenden) Ausschluß vom „Neutral dialogue", vgl. dazu oben Fn. 808. 824 Van Gunsteren (Fn. 811), 731, stellt hier ganz nüchtern fest: „The price for effective standing and equality among citizens apparently is inequality between citizens and noncitizens, between insiders and outsiders. When applied at the world level, citizenship loses its point or cutting edge". Armin Nassehi, Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit. Unschärfen im Diskurs um die „multikulturelle Gesellschaft", in: ders. (Hg.), Nation, Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Georg Weber z. 65. Geburtstag,

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doch als schmerzhafter Stachel im Fleisch des „Menschenrechtsstaates". 825 Dabei bearbeiten die Verfechter liberaler Gleichheit und Kommunitaristen den in diesem Gleichheitsproblem kulminierenden Grundwiderspruch, 826 der daraus entsteht, daß sich eine partikulare, nach außen mitgliedschaftlich abschließende Gemeinschaft auf nach außen offene menschenrechtlich-universelle Prinzipien gründet, nur aus je unterschiedlichen Perspektiven. Aber auch jenseits dieser speziellen und schwerpunktmäßig in den USA ausgetragenen Kontroverse kreist der gesamte Staatsbürgerschafts-Diskurs um die Fragen von Gleichheit und Differenz, Identität und Anerkennung. 827 Der Kampf um den Zugang zur Staatsbürgerschaft richtet sich als „struggel for equality" im wesentlichen auf die rechtliche Anerkennung als Gleiche innerhalb eines bestimmten Gemeinwesens verbunden mit der Zuerkennung aller Mitgliedschaftsrechte, was neben gleichen Freiheiten, Mitwirkungsrechten und gleichem Zugang zu öffentlichen Ämtern auch den Anspruch auf gleiche Berücksichtigung bei der Verteilung gesellschaftlicher Güter begründet. 828 Und Gleichheit (im Sinne voller rechtlicher Gleichstellung durch die Aufnahme als Staatsmitglied) ist beim Kampf um die Staatsbürgerschaft nicht nur das Ziel, sondern auch „Entscheidungsgrundlage": Die Entscheidung der Zugangsfrage hängt unter anderem von der kontrovers diskutierten Vorstellung ab, ob und gegebenenfalls hinsichtlich welcher Kriterien die Verleihung der Staatsbürgerschaft (substantielle) Gleichheit (resp. „Homogenität") voraussetzt, 829 oder umgekehrt, bezügKöln/Weimar/Wien 1997, 177 ff. (bes. 189, 192 ff), weist auf die Paradoxie hin, die daraus erwächst, daß Arbeits- und Lebensmärkte, auf denen unter den Bedingungen der Knappheit ein hoher Grad an Konkurrenz herrscht, zwar universalistisch organisiert sind, insbesondere prinzipiell formale Gleichheit gilt, sich Konkurrenzen dann aber an askriptiven Merkmalen entladen, indem der Konkurrent systemfremd als Person definiert wird, die einer fremden Kultur angehört. Das heißt, daß sowohl Gegner als auch Apologeten des homogenen Nationalstaates den Menschen gar nicht anders als durch die Brille der Zugehörigkeit wahrnehmen können. 825 Hierzu oben, bes. S. 230 mit Fn. 711. 826 Auf diesen Grundwiderspruch hat insbesondere H. Hofmann immer wieder hingewiesen, vgl. etwa Rechtsstaat (Fn. 1), 17; Autonomieansprüche (Fn. 132), 65 ff. 827 Vgl. dazu allgemein Seyla Benhabib, Demokratie und Differenz, in: Micha Brumlik (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1993, 97 ff. (101 ff., 104 f., 107); Charles Taylor, Die Politik der Anerkennung, in: ders. (Hg.), Multikulturalismus (Fn. 698), 13 ff., und - in Auseinandersetzung mit ihm - Habermas, Anerkennungskämpfe (Fn.698), ebd., 150 ff, zur Staatsbürgerschaft bes. 179 ff; allgemeiner Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt/Main 1994. 828 Den Hintergrund dieser Verteilungsprobleme spricht u.a. Nassehi (Fn. 824), bes. 192 f., an. 829 Für einen knappen Überblick zum Umgang mit dem Homogenitätserfordernis s. M. Kaufmann (Fn. 766). Vgl. auch Karl Albrecht Schachtschneider, der Homogenität als Voraussetzung einer diskurshaften Republik sieht (Res publica res populi. Grundlegung

2 7 0 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion lieh welcher Merkmale Differenz verfassungsrechtlich als unerheblich bzw. im pluralen Staat sogar als fruchtbar angesehen wird. Wenn die Konzeption von Kriterien für die Aufnahme in eine politische Gemeinschaft an das Bewußtsein über ihre identitätsbildenden Konstituanten anknüpft, so kann es kaum verwundern, daß die Dialektik der Identitätsbildung im menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaat erhebliche Schwierigkeiten aufwirft. In dem Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus spiegelt sich insofern auch das schon mehrfach erwähnte Paradoxon eines Staatsgründungsaktes wider, bei dem universelle - und doch nur durch Nationalstaaten zu realisierende - menschenrechtliche Prinzipien zu „einem Legitimationsfaktor und integrierenden Moment politischer Partikularität und je besonderer, geschichtlich konkreter politischer Identität werden, deren Ausschlüsse sie mit ihrem universalistischen Inhalt freilich zugleich selbst unterminieren". So die Charakterisierung bei H. Hofmann, der in diesem Zusammenhang darauf verweist, daß die universellen natürlichen Menschenrechte den mit ihrer Anerkennung in der Virginia Bill of Rights und in den übrigen einzelstaatlichen Rechteerklärungen erreichten historischen Durchbruch dem partikularistischen Sezessionskrieg der nordamerikanischen Siedler gegen das englische Mutterland verdanken. 830 Derartige Rechteerklärungen markieren also paradoxerweise nicht nur einen „weltoffenen Anfang, sondern zugleich auch ein Ende, einen Ab- und Ausschluß, indem sich mit ihnen und durch sie besondere Rechtsgemeinschaften unter den anderen und gegen andere konstituieren". 831 Daraus erklärt sich auch, warum selbst in einem menschenrechtlich fundierten Staat nicht jeder Mensch sofort einen Anspruch auf die Ausübung auch der Bürgerrechte hat - ein Punkt, auf den noch einmal zurückzukommen sein wird. Doch die Frage, unter welchen Voraussetzungen er in jenem fortlaufenden Prozeß der Erneuerung des „Gründungsversprechens" 832 künftig Aufnahme finden könnte, greift noch darüber hinaus. Sie zielt darauf, wie man sich die für die Identitätsstiftung im liberalen - und doch auch partikulären - Staat notwendige Vermittlung zwischen den beiden so konträren Polen einer weltbürgerlichoffenen, bei dem „Menschen als solchen" und seinen Rechten ansetzenden verfassungsrechtlichen Grundlegung und den lebensweltlichen Besonderheiten und gewachsenen nationalen Herkunftsbindungen einer geschichtlich-konkreten Gemeinschaft vorzustellen habe.

einer allgemeinen Republiklehre, Berlin 1994, 11. Teil, 1177 ff.); speziell zum Begriff der „substanziellen Homogenität" bei Carl Schmitt s. unten Fn. 863 m.w.N. 830 H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1), 16 f. 831 H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1), 16, sowie konkret bezogen auf den Menschenwürdesatz des Grundgesetzes ders., Menschenwürde (Fn. 134), 117. 832 Dazu oben im Text bei Fn. 763 und 764.

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Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte

Vertreter liberaler Theorien und Kommunitaristen unterscheiden sich im wesentlichen darin, welchen Pol in dem für jedes menschenrechtlich-universalistisch fundierte Gemeinwesen charakteristischen Spannungsfeld von Universalismus und Partikularität sie zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation bestimmen: Dem moralischen Rechtsuniversalismus der liberalen Theoretiker halten Kommunitaristen (die natürlich keine in sich geschlossene Gruppe bilden 833 ) das Ethos des Partikularen entgegen und argumentieren, daß auf den universalen Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit aufbauende liberale Gesellschaften nicht lebensfähig wären, es vielmehr der Loyalität und Solidarität der Staatsbürger bedürfe, die sie als „Tugend des Patriotismus" bezeichnen.834 Der Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen, der ebenso wie die sich paradigmatisch in Rawls „Schleier des Nichtwissens" verkörpernde liberale Moral der Unparteilichkeit und Neutralität in der Konsequenz des universalistischabstrakten Modells einer Vergesellschaftung auf der Basis maximaler rechtsgeschützter individueller Freiheit und wechselseitiger Anerkennung als Gleiche liegt, wird mit dem Begriff der Solidarität umgekehrt: Er knüpft an die unserer Alltagsmoral entsprechenden Vorstellung an, daß primären Beziehungen auch primäre Bedeutung zukommen sollte, „special duties" also gerade aus besonderen Nähebeziehungen erwachsen, was einen gewissermaßen konzentrischen Aufbau der sozialen Welt impliziert. 835 Auch die besonderen staatsbürgerlichen Loyalitäts- und Solidaritätspflichten, die Bürgertreue, auf die eine freie Gesellschaft angewiesen ist, kann, wie Kommunitaristen hervorheben, nur auf der besonderen Beziehung zu einem geschichtlich-konkreten politischen Gemeinwesen - mehr noch: einer „starke(n) Identifikation der Bürger mit dem Sinn

833 Vgl. dazu Wolfgang Kersting, Die Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse in der amerikanischen politischen Philosophie, in: Politisches Denken, Jahrb. 1991, hg. v. Volker Gerhardt u.a., Stuttgart 1992, 82 ff, bes. 86 ff, wo er u.a. erläutert, warum sich Kommunitaristen gerade gegen den universalistischen, weniger den individualistischen Liberalismus wenden und stark divergierende Positionen skizziert. 834 Vgl. die unterschiedlichen Positionen von Alasdair Maclntyre, Ist Patriotismus eine Tugend?, in: Honneth (Hg.), Kommunitarismus (Fn. 819), 84 ff, und Charles Taylor, Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, ebd, 103 ff. (bes. 123). Grundlegend zu alledem Donate Kluxen-Pyta, Nation und Ethos. Die Moral des Patriotismus, Freiburg/München 1991; zum Begriff der Tugend als „Liebe zur Republik" bei Montesquieu C. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 187), 220. 835 Vgl. hierzu Werner Schiffauer, Die civil society und der Fremde - Grenzmarkierungen in vier politischen Kulturen, in: Balke (Hg.), Fremdheit (Fn. 697), 185 ff.

2 7 2 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion eines gemeinsamen Gutes" 836 - beruhen und ist insofern auf das engste mit der partikularistischen Gemeinschaftsmoral verwoben. Die Kommunitaristen wollen das „autonomiestolze Individuum" aber nicht nur an die „Loyalitätsverpflichtung gegenüber der es schützenden und nährenden Gemeinschaft" erinnern, 837 betonen nicht nur die Bedeutung wertintegrativer Gemeinschaftszugehörigkeit und Gemeinschaftsbildung durch geteilte Wertüberzeugungen, soziale und kulturelle Praktiken, die zur Ausprägung eines „WirBewußtseins" führen, sondern gehen darüber hinaus ganz grundsätzlich von der Vorgängigkeit des Gesellschaftlichen und der sozialen Konstituiertheit des Menschen nach dem Muster des aristotelischen zoon politikon aus. Die Mitglieder einer Gemeinschaft sind danach in die bestehenden sozialen Praktiken eingebettet und können sich auch nicht jederzeit von ihnen unabhängig machen, oder andersherum: Die Werte dieser Gemeinschaft werden von ihnen nicht einfach bejaht, sondern definieren ihre Identität. 838 Kersting beschreibt die kommunitaristische Sicht der Identitätsbildung denn auch als „Zugehörigkeitshermeneutik und Selbstaneigung: ich entdecke mich als Mitglied der so und so bestimmten Gemeinschaft und habe teil an den für diese Gemeinschaft konstitutiven und bereits in mein Denken und Handeln eingedrungenen Überzeugungen und Praktiken, Werten und Zwecken und anerkenne sie als meine eigenen".839 Demgegenüber halten liberale Theoretiker an der These von der „Priorität des Selbst" fest, betonen also die Fähigkeit des Menschen, den Wert einer sozialen Praxis, in die er sich eingebunden findet und deren identitätsprägende Kraft sie keineswegs leugnen, in Frage zu stellen, sich von (gemeinsamen) Überzeugungen und Werten kritisch distanzieren und sie gegebenenfalls revidieren zu können. Soweit Kommunitaristen den von ihnen kritisierten normativen „individualistischen Atomismus" im Sinne einer liberalen Anthropologie

836

Das bezeichnet Taylor als „Patriotismus"; s. Debatte (Fn. 834), 119; vgl. auch aaO, 123, wo er dies dahingehend konkretisiert, daß „der Patriotismus mehr beinhaltet als konvergierende Moralprinzipien: er ist die gemeinsame Treue zu einer bestimmten historischen Gemeinschaft. Diese zu ehren und zu bewahren muß ein gemeinsames Ziel sein, und dies ist mehr als lediglich ein Konsens über die Herrschaft der Gerechtigkeit. Anders ausgedrückt, fordert der Patriotismus über konvergierende Werte hinaus eine Liebe des Besonderen". 837 Hierzu und zum folg. Kersting, Liberalismus und Kommunitarismus (Fn. 819), 12 u. passim. 838 Hierzu und zum folg. Kymlicka, Politische Philosophie (Fn.819), 176 ff. (182 ff.), in Auseinandersetzung mit der kommunitaristischen Position Sandels, vgl. auch 184 f. zur „social thesis" Charles Taylors. 839 Kersting, Liberalismus und Kommunitarismus (Fn. 819), 12, 14, (auch zum folg.).

II. Nation und Nationalstaat

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(um)deuten, weisen die Liberalen das als Mißverständnis zurück. 840 Auch sind ihnen die sozio-kulturellen Voraussetzungen einer funktionsfähigen Demokratie, die Bedeutung integrativer Gemeinschaftspraktiken, übergreifender geteilter Werte und was man sonst zum „Gemeinschaftskitt" zählen mag, wohl bewußt. Sie vertrauen dabei jedoch auf den natürlichen Drang der Menschen zur Vergesellschaftung, auf nichtstaatliche Prozesse und Vereinigungsformen, die Foren der bürgerlichen Gesellschaft, den pluralistischen „Markt der Kultur" und halten es für gefährlich - da freiheitsgefährdend - (ausgerechnet) den Staat vor den Karren wertintegrativer Gemeinschaftsbildung und der Ermittlung des „gemeinsamen Guten" zu spannen. Diesen Positionen entsprechen unterschiedliche Anforderungsprofile an den künftigen Mitbürger, die auf das engste mit der jeweiligen Sicht des Staates, seines Verhältnisses zur Gemeinschaft und der Art und Weise seiner Aufgabenerfüllung verbunden sind. Übereinstimmung kann hinsichtlich des Erfordernisses „allgemeiner staatsbürgerlicher Kompetenz" erzielt werden, 841 die sich aus Wesen und Zweckbestimmung des liberalen Staates selbst ableitet. Ein liberaler Theoretiker wie Bruce Ackerman formuliert das grundsätzliche Anliegen so: „We can make sense of citizenship only by rooting it in more fundamental ideas of political community". 842 Konkret heißt das für ihn: „Since, in a liberal state, the polity is constituted by the process of dialogic interchange, an individual who lacks dialogic competence fails to satisfy the necessary conditions for membership". Aus diesem Grunde seien auch Kinder nicht von Geburt an Staatsbürger (d. i. Aktivbürger), sondern erst dann, wenn sie diese Fähigkeiten erworben haben. 843 Er fügt noch einen „behavioral test" hinzu, 844 der im Prinzip 840

Zu diesem „produktiven Mißverständnis" (Kersting, aaO, 8) s. Taylor selbst (Debatte [Fn. 834], 123), der einen „Irrtum" einräumt; hierzu und zum folg. auch Kymlicka, Politische Philosophie (Fn. 819), 188-191. 841 Da die beiden Lager sich intern immer stärker ausdifferenzieren, zudem viele zu dieser Frage gar nicht Stellung nehmen, sind solche generalisierenden Feststellungen nur unter Vorbehalt zu treffen. Hier bezieht sie sich konkret auf die Auseinandersetzung von van Gunsteren (Fn. 811), 736 ff, mit Ackerman (Fn. 803). 842 Ackerman (Fn.803), 93. 843 AaO, 75. Dem hält Lesch (Fn. 473), 103 f, entgegen, daß ein Kriterium, das auch auf viele der „automatischen" Mitglieder nicht zutreffe, die aus Gründen von Krankheit, Behinderung o.ä. am öffentlichen Leben ihrer Gemeinschaft nicht teilnehmen können, problematisch sei. A , aaO, stellt aber zum einen klar, daß es hier um ein der Idee des liberalen Staates entsprechendes Staatsbürgerschaftskonzept und eine daran orientierte Entscheidung der Zugangsfrage geht, nicht etwa um den Entzug staatsbürgerlicher Rechte (aaO, 96). Zum anderen dürften auch die Anforderungen an die Fähigkeiten für einen solchen „dialogue of legitimacy" nicht überspannt werden (aaO, 75: „The minimal dialogue required for citizenship establishes a thin thread of mutual intelligibility among individuals [...]"). So prekär diese Fragen auch sind (und dies gilt auch für A.s Ausfüh18 Siehr

2 7 4 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion besagt, daß auch das tatsächliche Verhalten den Spielregeln des liberalen Staates entsprechen muß. Mehr kann seiner Ansicht nach vom künftigen Mitbürger nicht verlangt werden. Dies erscheint unter der liberalen Prämisse, daß der Staat sich gegenüber den unterschiedlichen Konzeptionen des Guten neutral zu verhalten hat, auch folgerichtig. Ganz anders eine kommunitaristische Sichtweise, die über die allgemeine staatsbürgerliche Kompetenz (a) hinausgehend verlangt: b. - The prospective citizen must be capable and willing to be a member of this particular historical community, its past and its future, its forms of life and institutions within which its members think and act. In a community that values autonomy and judgment of its members, this is obviously not a requirement of pure conformity. 845 Beide Standpunkte lassen im Blick auf die Zulassung zur Staatsbürgerschaft Fragen offen. Die konsequent von den universalistischen Prinzipien des liberalen Staates her argumentierende liberale Theorie hat - begreiflicherweise Probleme mit der Grenzziehung. Der durch das Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern dieser Erde Privilegierte kann dem Armen den Zugang nicht mit dem Argument verweigern, daß er eben auf der falschen Seite der Grenze geboren sei. Wenn man sich vom „idealen" liberalen Staat, der an sich jeden, der sich als Staatsbürger im Sinne von (a) qualifiziert, auch als solchen anerkennen müßte, 846 schon der zweitbesten, auf unsere reale Welt zugeschnittenen Lösung zuwendet, so gibt es nach Ackerman nur eine denkbare

rungen zu Behinderten, aaO, 79 f.), darf man nicht vergessen, daß es für die Aspiranten auf Staatsbürgerschaft um den Status insgesamt, also um „alles oder nichts" geht. Demgegenüber kann intern, wie uns das bei Kindern selbstverständlich ist, zwischen der Aktiv- und der Passivbürgerschaft differenziert werden. Zudem steht es uns in allen Zweifelsfällen frei, den Aktivbürgerstatus schon aus Gründen der eigenen Selbstachtung auf die Betreffenen zu erstrecken. Wie A. in diesem Zusammenhang zutreffend feststellt: „Citizenship is a matter of political, not biological, theory" (aaO, 80). 844 AaO, 81. Er richtet sich aber allein auf das äußere Verhalten und schließt eine Motivforschung aus, aaO, 83. 845 Van Gunsteren (Fn. 811), 736, lehnt sich unter a. stark an Ackerman an. Die unter b. Satz 1 formulierten kommunitaristischen Vorstellungen schwächt er in den folgenden Sätzen immer weiter ab: Er verlangt lediglich Kenntnisse der Sprache, Kultur und politischen Institutionen, was man (zumindest teilweise) an sich schon a. zuordnen könnte; von der kommunitaristischen Gemeinschafisorientiertheit und Identifikation mit ihr bleibt so wenig übrig. Er reagiert damit offenbar auf Probleme, die in seiner Position stecken - „autonomy and judgment" verlangen eben Kritikfähigkeit statt blinder Identifikation - ohne sie mit diesen widersprüchlichen Aussagen allerdings zu lösen. 846 Ackerman (Fn. 803), 88: „In ideal theory, all people who fulfill the dialogic and behavioral conditions have an unconditional right to demand recognition as full citizens of a liberal state".

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Rechtfertigung: „The only reason for restricting immigration is to protect the ongoing process of liberal conversation itself'. 8 4 7 Die Stabilitäts- und Reproduktionsbedingungen einer Ordnung sollen dem Aufnahmebegehren potentieller Mitglieder demnach eine legitime Grenze setzen. 848 Doch welche sind das? Die sozio-kulturellen Voraussetzungen für das Funktionieren des politischen Prozesses werden bei Ackerman nicht näher analysiert. Insofern bleibt auch völlig offen, wann eine Gefährdung der liberalen Gesellschaft droht, die Zugangsbegrenzungen rechtfertigen könnte oder wie dem begegnet werden könnte - ein unbefriedigendes Ergebnis in einer so wichtigen Frage. Sicher, der liberalen Erziehung wird sogar ein eigenes Kapitel gewidmet und ihre Bedeutung für den Erwerb der „allgemeinen staatsbürgerlichen Kompetenz" steht außer Zweifel. Aber universelles Staatsbürgertum allein schafft weder das „kollektive wir" einer sozial abgegrenzten politischen Gemeinschaft noch sichert es für sich genommen schon den Bestand der liberalen Gesellschaft. 849 - Sonst hätte im übrigen auch Ackerman keine Rechtfertigung dafür, gegenüber den als „universelle Staatsbürger" qualifizierten Personen im Blick auf das Gefährdungs-Argument Zugangsbeschränkungen zu verhängen. Offenbar muß es auch etwas geben, was den „universellen Staatsbürger" 850 (zugleich) zum Bürger eines ganz bestimmten historisch-konkreten politischen Gemeinwesens werden läßt und über die bloße Vertrautheit mit den politischen Institutionen 851 hinausgeht. Anders formuliert: Was hier auf der Strecke bleibt, ist die Frage nach der Vermittlung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, nach der eigenen Identität einer historisch-konkreten, wenn auch universalistisch fundierten politischen Gemeinschaft.

847 Ackerman (Fn. 803), 95. Er trennt nicht zwischen Erst- und Zweitzulassungen im obigen Sinne. Seiner Theorie würde es wohl entsprechen, daß die „Erstzulassungen (= Einwanderungen)" auf einer Prognose bezüglich (a) beruhen und die „Zweitzulassungen (= Einbürgerungen)" zu erfolgen haben, sobald feststeht, daß (a) zutrifft. 848 Pauly (Fn. 695), 53 (der hier aber „Grund und Grenzen der Legitimität von Nationalstaatlichkeit" in den Blick nimmt, also aus einer Ackerman diametral entgegengesetzten Position heraus argumentiert). 849 Sein einziges konkretes Beispiel, die Ausnutzung von Überfremdungsängsten durch faschistische Gruppen ([Fn.803], 94) belegt das. In diesem Punkt ist die kommunitaristische Kritik M. Sandels berechtigt: „(...) the liberal vision is parasitic on a notion of community it officially rejects" (zitiert nach van Gunsteren [Fn. 811], 738). 850 Kritisch Iris Marion Young, Das politische Gemeinwesen und die Gruppendifferenz. Eine Kritik am Ideal des universalen Staatsbürgerstatus (übers, v. Karin Wördemann-Winger), in: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.), Jenseits der Geschlechtermoral, dt. Frankfurt/Main 1993, 267 ff. 851 Diesen Punkt spricht Ackerman (Fn. 803), 94, im Zusammenhang mit Zugangsbegrenzungen an.

2 7 6 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Umgekehrt wird den Kommunitaristen das ungeklärte Verhältnis zwischen Staat und Gemeinschaft, zwischen politischen und sonstigen kollektiven Prozessen zum Verhängnis: Ab welchem Punkt schlägt Wertbewußtsein in ein Diktat der Gemeinschaftwerte um, wie steht es um den Schutz von Minderheiten und in welchem Ausmaß wird von den Neuankömmlingen reine „Assimilation" unter Aufgabe ihrer ursprünglichen kulturellen Identität erwartet? Anliegen vieler Kommunitaristen ist es gerade, kulturelle Pluralität zu sichern, die Vielfalt eingewurzelter Lebensformen gegenüber einem nivellierenden Universalismus zu schützen, kulturelle Sebstbestimmung zu gewährleisten. Doch die Immigranten konfrontieren sie mit einem der großen Schwachpunkte ihres Ansatzes, der durch die euphemistische Umschreibung unter b. (man müsse fähig und bereit sein, Teil dieser besonderen historischen Gemeinschaft, ihrer Vergangenheit und Zukunft zu sein) nur mühsam verdeckt wird: Die rückschauende Betrachtung von Traditionswelten und überlieferten Bräuchen, geteilten Werten und sozialintegrativen Praktiken läßt wenig Raum für „Zukunft", soweit sie Veränderung bedeutet, für „Neulinge", soweit sie nicht zu völliger Anpassung bereit sind, und überhaupt für Minoritäten jeder Art, wenn sie nicht innerhalb der Gemeinschaft bereits über ihre geschützte Nische verfügen. Während also Liberale oft Probleme haben, überhaupt eine Grenze zu ziehen, ziehen Kommunitaristen sie häufig zu eng. Natürlich haben sich Vertreter der beiden Lager längst um einen Brückenschlag zwischen den Extrempositionen bemüht. So können stärker kontextualistisch denkende Liberale und Kommunitaristen vom Schlage Charles Taylors, der einen „Patriotismus der Gerechtigkeit" propagiert, in unterschiedlichen Spielarten jener Haltung zusammenfinden, 852 die in Deutschland im Anschluß an die erfolgreiche Wortschöpfung Dolf Sternbergers zu Beginn der achtziger Jahre als „Verfassungspatriotismus" bezeichnet wird. 8 5 3

(f)

J. Habermas

Das sich jeder Staatsbürgernation stellende Vermittlungsproblem zwischen universellen Prinzipien und ihrer partikulären Verwirklichungsgemeinschaft wird vor allem auch in dem von Jürgen Habermas vertretenen diskurstheoretischen Ansatz offensiv angegangen. Dem kommunitaristischen Vorwurf liberaler Blindheit gegenüber Ansprüchen auf den Schutz kultureller Lebensformen und kollektiver Identitäten begegnet Habermas mit der Feststellung, daß ,jede 852 Taylor, Debatte (Fn. 834), bes. 123; sehr skeptisch zu der (von Taylor ausdrücklich bejahten) Frage der Vereinbarkeit eines solchen „gemässigten Patriotismus" mit der liberalen politischen Theorie Zurbuchen (Fn. 766), 116 ff. 853 Vgl. dazu oben die Nachw. in Fn. 766.

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Rechtsordnung auch Ausdruck einer partikularen Lebensform, nicht nur Spiegelung der universellen Gehalte der Grundrechte" ist. 854 Er betont, daß der Prozeß der Rechtsverwirklichung in Kontexte eingelassen ist, d.h. dieselben universellen Rechtsprinzipien werden vor dem Hintergrund je verschiedener nationaler Überlieferungen, historischer Umstände und durch Staatsbürger interpretiert, die innerhalb bestimmter kultureller Lebensformen sozialisiert worden sind und sie insofern verkörpern, als sie ihre Identität darin ausgebildet haben. Die Zusammensetzung einer Staatsnation zu einem gegebenen Zeitpunkt bestimme damit den Horizont, vor dem Staatsbürger ihre ethisch-politischen Selbstverständigungsdiskurse führen, sich darüber klar werden, wie sie sich „als Bürger einer bestimmten Republik, als Bewohner einer bestimmten Region, als Erben einer bestimmten Kultur verstehen wollen". 855 Der entscheidende Unterschied zwischen der Position von Habermas zu der Ackermans besteht also darin, daß bei Habermas die Staatsbürger sich zwar auf universalistische Prinzipien beziehen, aber doch Bürger einer ganz konkreten Republik sind, deren je eigene kollektive Identität sich aus der Kontextualität der gemeinsamen politischen Praxis ergibt, durch die sich eine Staatsbürgernation stets aufs neue hervorbringt. Daher kann Habermas - anders als Ackerman - die „allgemeine staatsbürgerliche Kompetenz" als Bedingung für eine Einbürgerung nicht ausreichen, sondern er meint, daß ein demokratischer Rechtsstaat von Immigranten eine Sozialisation bezogen auf die jeweils in spezifischer Weise ausgeprägte politische Kultur des Gemeinwesens fordern könne, um die Identität des politischen Gemeinwesens zu wahren, genauer: die „Zustimmung zu den Prinzipien der Verfassung innerhalb des Interpretationsspielraums, der durch das ethisch-politische Selbstverständnis der Bürger und die politische Kultur des Landes bestimmt ist (...)". Im Gegensatz zu Kommunitaristen trennt er jedoch strikt zwischen dem verrechtlichten partikularen Ethos der Staatsbürgernation auf der Ebene der politischen Integration einerseits und der Ebene der ethisch-kulturellen Integration der um ,je eigene Konzeptionen des Guten integrierten Gemeinschaften" andererseits, lehnt ein auf diese zweite Ebene bezogenes weitergehendes Verlangen nach einer die kollektive Identität der Herkunftskultur berührenden Assimilation ab. 856 854

Anerkennungskämpfe (Fn. 698), 167. AaO, 168 f. 856 Vgl. Habermas, Anerkennungskämpfe (Fn.698), 164ff. (zur „ethische(n) Imprägnierung des Rechtsstaates") sowie 171 ff. (bes. 175), 177 ff, 179 ff. (Immigration, Staatsbürgerschaft und nationale Identität), bes. 181-184; s. auch ders, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: Faktizität (Fn.8), 632 ff. (642 f.), 652 ff. (657-659). In diesem Punkt ähnlich Nassehi (Fn. 824), der ebenfalls für eine „Trennung von Nationalkultur und staatlicher Integrität" (202) und eine „endgültige (...) Säkularisierung des Staates" (200) plädiert. 855

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

(g) Kritik Habermas entzieht sich damit der oben an den beiden anderen Positionen geübten Kritik, zeigt, in welcher Richtung die Lösung für das sich in der civil society, die als Gesellschaftsform das Allgemeine betont, stets stellende Problem der Vermittlung mit dem Besonderen gesucht werden und wie dies in legitime Eintrittsbedingungen für Anwärter auf die Staatsbürgerschaft umgesetzt werden könnte. 857 Und doch bleiben auch hier in beide Richtungen Fragen offen: Bezogen auf die politische Implementation seiner Vorstellungen könnte es sich als problematisch erweisen, daß er für seinen Entwurf Maß am „idealen Bürger" nimmt, dem politisch interessierten, informierten, aktiven, loyalen, republikanisch denkenden und fühlenden „wahren Staatsbürger" also, der in der Praxis nicht allzu häufig anzutreffen ist. Dies hat zur Folge, daß ein bestimmtes, für den Erhalt der Institutionen der Freiheit erforderliches, aber, wie er selbst feststellt, rechtlich nicht erzwingbares Maß an Loyalität gegenüber dem eigenen Staat 858 im Falle der Immigranten zur Eintrittsbedingung und damit zur Pflicht werden könnte. 859 Das ist im Staat der Freiheit, der in diesem Punkt nur „einladen", nicht „zwingen" kann, auch jenseits der Frage, wie man dies überhaupt überprüft, sehr heikel. Allerdings handelt es sich dabei um ein Grundproblem, mit dem man nicht nur bei Habermas konfrontiert wird: Stets wird vom neuen Mitbürger Loyalität erwartet werden, ohne daß man sie als Rechtspflicht erzwingen könnte - jedenfalls dann nicht, wenn es um eine innere Haltung, nicht um äußeres Verhalten wie etwa die Unterlassung der Verletzung strafrechtlich sanktionierter Loyalitätspflichten (vgl. §§ 93 ff. StGB) geht. Der zweite Einwand bezieht sich auf die Position, die Habermas bezüglich der Frage der Einwanderung einnimmt. Habermas zieht aus der Entkoppelung der beiden Integrationsebenen den einleuchtenden Schluß, daß von den Immigranten ein Sich-Einlassen auf die für die Identität der Staatsbürgernation kon-

857

Allgemein zu dem Grundproblem der civil society, die den Fremden aufgrund ihrer Betonung des Allgemeinen zwar prinzipiell zum gesellschaftlichen Spiel zuläßt, von den damit verbundenen Zumutungen her aber auch die Gesellschaftsform ist, die ihn immer wieder ausschließt, sehr instruktiv Schiffauer (Fn. 835), 187 ff. Er untersucht sodann im Blick auf Frankreich, Großbritannien, die USA und Deutschland, welchen unterschiedlichen, in der politischen Kultur verankerten Leitideen folgend sie das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem jeweils lösen. 858 Anerkennungskämpfe (Fn. 698), 181 f. 859 Allgemein zum Problem des Patriotismus als Tugend und der Gefahr, ihn in eine Pflicht zu verkehren, Zurbuchen (Fn. 766), 119 ff, 124 ff.

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stitutive politische Kultur, 8 6 0 aber keine Anpassung an die im Lande dominierenden kulturellen Lebensformen erwartet werden dürfe. Er räumt aber zugleich ein, daß neu etablierte Lebensformen den Horizont ändern, in dem die gemeinsamen Verfassungsgrundsätze interpretiert werden: „Dann greift nämlich jener Mechanismus ein, dem zufolge sich mit einer veränderten Zusammensetzung der aktiven Staatsbürgerschaft auch der Kontext ändert, auf den sich das ethisch-politische Selbstverständnis der Nation im ganzen bezieht". 861 Dennoch lehnt er jede auf die Integrität der Lebensform einer bestimmten Gemeinschaft zielende normative Beschränkung des liberalen Rechts auf Einwanderung ab, soweit sie über rein funktionale Beschränkungen hinausgeht, die sich aus den Reproduktionsbedingungen des ökonomischen und gesellschaftlichen Systems ergeben. 862 Nun mag man noch darüber streiten, ob eine politische Gemeinschaft, die das Recht eines jeden einzelnen, über die Wahl seiner eigenen Lebensweise zu bestimmen, als Ausdruck von Selbstbestimmung akzeptiert und daher bei Immigranten keinen Assimilationsdruck ausübt, nicht auch ihrerseits das Recht hat, sich gegen die bei einer großen Einwanderungswelle befürchtete Umprägung der Lebensverhältnisse zu wehren, die die Ausbildung ihrer eigenen kollektiven kulturellen Identität bestimmt haben. Doch zumindest im Blick darauf, daß dies, wie Habermas selbst anerkennt, auch Rückwirkungen auf die die je besondere Identität verschiedener Staatsbürgernationen ausmachende politische Kultur hätte, kann seine Argumentation nicht überzeugen. Die Ausbildung von Identität setzt eine gewisse Fähigkeit zur Selbstbehauptung in Abgrenzung zu anderen voraus, so daß es widersprüchlich erscheinen muß, wenn einerseits der je eigenen Identität einer Staatsbürgernation eine besondere Bedeutung beigemessen, andererseits ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung im Sinne der Bewahrung (oder Sicherung einer nur evolutionären Änderung) dieser Identität über gewisse Zugangsbeschränkungen negiert wird. Hat man bezogen auf die Frage politischer Einheitsbildung eigentlich wirklich nur die Wahl zwischen einem statischen Konzept, das auf der Vorstellung beruht, daß das Volk der Verfassung als handlungsfähige politische Einheit

860

Wie wichtig dies tatsächlich ist, zeigt etwa ein Blick auf Rußland: Seit dem 12.12.1993 verfügt es über eine Verfassung, die die wesentlichen Elemente des westlichen Grundrechtsverständnisses explizit formuliert. Doch fehlt die politische Kultur, die einen Staat mit einer solchen Verfassung erst zum demokratischen Rechtsstaat werden läßt; vgl. dazu Karl Eckstein, Russlands steiniger Weg zum Rechtsstaat. Eine moderne Verfassung, aber kein Bewußtsein für Grundrechte, in: Neue Züricher Zeitung Nr. 37 v. 14./15.2.1998, S.83 (Staatspolitisches Forum). 861 Habermas, Anerkennungskämpfe (Fn.698), 184. 862 Habermas, Staatsbürgerschaft, in: Faktizität (Fn. 8), 658.

2 8 0 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion vorausliege und diese Einheit auf einer „substanziellen Homogenität" beruhe, 863 deren Bewahrung dann die unveränderte Fortschreibung der dafür für relevant gehaltenen Merkmale erfordere, auf der einen Seite und einem dynamisierten Konzept politischer Einheitsbildung über die gemeinsame Praxis von Bürgern, die ihre demokratischen Teilhabe- und Kommunikationsrechte aktiv ausüben, auf der anderen Seite, das in seiner Dynamisierung aber auch vor dem Kontext, in dem sich diese Praxis entfaltet, nicht halt macht? - Der Kontext ist es doch, der für die Verankerung der Idee der Staatsbürgernation in den partikulären Lebensformen steht, er verleiht dem Gesamtkonzept die nötige Stabilität. Er ist gewißlich nicht unveränderlich, jedoch zunächst einmal, da er aus geschichtlich kontingenten Zusammenhängen, kulturellen Überlieferungen und tradierten Lebensformen erwächst, vorgegeben und scheint insofern ein notwendiges Gegengewicht zu dem „dynamisch verstandenen Projekt der Herstellung einer Assoziation von Freien und Gleichen" 864 zu bilden. Dies klingt im übrigen schon in der berühmten - und meist verkürzt zitierten - Formel von Ernest Renan an: „Une nation (...) suppose un passé; elle se résume pourtant dans le présent par un fait tangible: le consentement (...). L'existence d'une Nation est ( ... ) un plébiscite de tous les jours". 8 6 5 Von der (gemeinsamen) Vergangenheit bzw. Geschichte einer Nation bliebe jedoch wenig übrig, wenn sich ihre Zusammensetzung nicht allmählich, sondern fast schlagartig völlig verändern würde. Möglicherweise hielte Habermas in einem solchen Fall eine Beschränkung der Einwanderung unter dem Gesichtspunkt des Erhaltes der Reproduktionsbe863 Diesen Begriff der Homogenität, der Gleichartigkeit, hat Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre (Fn. 187) und hier insbesondere in seiner Lehre von der Demokratie (§ 17, S.223 ff. [228]) entwickelt: „Die demokratische Gleichheit ist daher eine substanzielle Gleichheit.Weil alle Staatsbürger an dieser Substanz teilhaben, können sie als gleich behandelt werden, gleiches Wahl- und Stimmrecht haben usw.", heißt es dort, wobei er hinzufügt, daß allerdings die „Substanz der Gleichheit (...) in verschiedenen Demokratien und verschiedenen Zeitaltern verschieden sein" könne. Für eine eingehende Analyse des mehrdeutigen Begriffs der politischen Einheit des Volkes sowie der Homogenität bei Carl Schmitt s. H. Hofmann, Legitimität (Fn. 327), bes. 132 ff., 138 ff, 147 ff. u. pass. 864 Habermas, Staatsbürgerschaft, in: Faktizität (Fn. 8), 642. H. legt hier dar, daß die „universalistischen Grundsätze demokratischer Rechtsstaaten irgendeiner politischkulturellen Verankerung bedürfen. Die Verfassungsprinzipien können erst dann in den gesellschaftlichen Praktiken Gestalt annehmen und zur treibenden Kraft für das dynamisch verstandene Projekt der Assoziation von Freien und Gleichen werden, wenn sie im Kontext der Geschichte einer Nation von Bürgern so situiert werden, daß sie mit Motiven und Gesinnungen der Bürger eine Verbindung eingehen". Er betont also selbst die Bedeutung des „Kontext(es) der Geschichte einer Nation", zieht daraus nur nicht die Konsequenz, daß dieser auch schützenswert sei. 865 Qu'est-ce qu'une Nation? (Fn. 778), 54 f.

II. Nation und Nationalstaat

281

dingungen des Systems sogar für gerechtfertigt, da dann die von ihm für notwendig erachtete politisch-kulturelle Verankerung der universalistischen Verfassungsprinzipien gefährdet bzw. die politische Kultur zu starken zentrifugalen Kräften ausgesetzt wäre. - Bleibt wie schon bei Ackerman die Frage, warum dieses Problem nicht direkt angegangen werden kann und warum erst die „Gefahrenschwelle" überschritten werden muß. Die Antwort lautet wohl: weil hier nicht zwischen Einwanderung und Einbürgerung differenziert und zudem ausschließlich auf die Idee der Staatsbürgernation abgestellt wird. Aus verfassungsrechtlicher Sicht liegt darin ein Defizit dieser Theorien, zumindest wenn sie auf das Grundgesetz bezogen werden. Denn zum einen wurde oben festgestellt, daß das Grundgesetz sowohl das Konzept der „Volks- und Kulturnation" als auch das der „Staatsbürgernation" enthält (aber nicht beide für jede Fragestellung relevant sind, insbesondere das erstere nichts für die Verleihung der Staatsbürgerschaft im demokratischen Verfassungsstaat hergibt). Zum anderen stellt sich die Frage der Einwanderung aus verfassungsrechtlicher Perspektive ganz anders als die der Einbürgerung. Wie oben dargelegt wurde, hat kein Ausländer einen „Rechtsanspruch auf Einwanderung". Zwar spricht die Idee der Staatsbürgernation für eine möglichst liberale Einwanderungspolitik, doch können sich aus dem Selbstverständnis als eine durch gemeinsame Sprache und Geschichte geprägte „Kulturnation" Zuzugsbeschränkungen rechtfertigen, wenn der Kontext der politischen Einheitsbildung als Staatsbürgernation und damit deren politische Identität - sich anderenfalls zu abrupt ändern würde. Zu recht haben die Kommunitaristen zudem daran erinnert, daß die politische Gemeinschaft auch ein durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität gekennzeichneter besonderer Solidarverband unter anderen ist. Auch als solcher ist er innerhalb einer bestimmten Zeitspanne nicht in beliebigem Umfang erweiterbar. Dabei darf Bewahrung der Stabilität des politischen Systems allerdings nicht mit einer Abschottung nach außen und Verhinderung jeder Veränderung verwechselt werden; vielmehr geht es hier um die Stabilität eines dynamischen Systems im Sinne eines „Fließgleichgewichts": Einerseits gilt, daß für den Fall, daß sich in einer bestimmten Phase einmal mehrheitlich die Auffassung herausbilden sollte, daß die Staatsbürgernation die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit erreicht habe (was ein politisches Urteil, keine verfassungsrechtliche Erkenntnis ist), die Stabilität des politischen Systems nur durch ein Austarieren von „ E r s t und „Zweitzulassungen" mit der Konsequenz zeitweiliger Zuzugsbeschränkungen gesichert werden kann. Andererseits bedarf es jedoch eines Konzepts der Staatsbürgerschaft, das es erlaubt, dauerhaft im Lande lebenden Menschen innerhalb einer angemessenen Zeitspanne die Staatsbürgerschaft zu verleihen und so den mit Fortdauer ihres „Ausländertums" wachsenden Problemdruck im Sinne eines „Fließgleichgewichts" kontinuierlich wieder abzubauen.

2 8 2 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Wenn man so will, spielt hier im Hintergrund nach wie vor die Melodie der „Kulturnation" im Sinne Meineckes, aber sie gibt nicht den Ton an, bestimmt nicht, wer Staatsbürger werden kann, unter welchen Voraussetzungen also die oben angesprochenen legitimatorischen Probleme innerhalb des räumlichen Geltungsbereichs der Verfassung gelöst werden könnten. Vielmehr kann sie nur bei der Frage mitspielen, wieviele „Erstzulassungen" (Walzer) verkraftbar erscheinen, wenn die relative Stabilität des politisch-kulturellen Kontextes der gemeinsamen staatsbürgerlichen Praxis, aber auch die Struktur der sich dadurch stets aufs neue hervorbringenden Staatsbürgernation als eine durch gemeinsame Ideale geeinte Solidargemeinschaft bewahrt werden soll. Dieses Moment wäre dann neben wirtschaftlichen und sonstigen Faktoren bei Entscheidungen über die Einwanderungspolitik in Rechnung zu stellen, und zwar gerade auch deshalb, weil die Bundesrepublik als ein menschenrechtlich fundierter Verfassungsstaat, dessen „Staatsfundamentierungsnorm" (Art. 1 Abs. 1 GG) von der Fähigkeit und dem Recht eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung ausgeht und dessen „Bürger" nach dem von Tocqueville formulierten Menschenbild modelliert ist, 8 6 6 tatsächlich niemandem über einen längeren Zeitraum allein aufgrund seiner Abstammung von nichtdeutschen Eltern die Staatsbürgerschaft verweigern kann. Oder um es mit Walzer allgemeiner zu fassen: „Zweitzulassungen (= Einbürgerungen) [können], indem sie Erstzulassungen (= Einwanderungen) voraussetzen, zwar gewissen Zeit- und Qualifikationsbeschränkungen unterliegen (...), keinesfalls aber jenem obersten Zwang zur Abgeschlossenheit". 8 6 7 Die Einbürgerung ist nicht nur eine Frage der politischen Gerechtigkeit gegenüber den Betroffenen, sondern es geht auch um die Wirkungsbedingungen des Verfassungsstaates selbst: Da sein ehrgeiziges Projekt - die Synthese von Staat und Menschenrechtsidee - eben nur unter dem Dach der Staatsbürgerschaft wirklich gelingen kann, und der Verfassungsstaat von der Vorstellung her konzipiert ist, daß die in ihm dauerhaft lebenden Menschen auch seine Bürger seien, muß er zur Vermeidung innerer Brüche bestrebt sein, diese Voraussetzungen möglichst weitgehend zu sichern. Die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Leitbildes der Staatsbürgernation hingegen schlicht zu ignorieren, hieße die legitimatorischen Probleme dauerhaft zu zementieren, anstatt sie zu lösen, was im Endeffekt einen Stabilitätsverlust bewirken könnte. Diese Fragen, die um eine dauerhafte Lösung des Problems der Deutschenrechte kreisen, bedürften einer vertieften Erörterung, die jedoch an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Statt dessen soll der im „Interimszustand" zwischen „Erst"- und „Zweitzulassung" angesiedelten, ebenfalls schwierigen Frage nach 866 867

Siehe dafür das Zitat oben S. 250 mit Fn. 776. Walzer (Fn. 365), 104.

II. Nation und Nationalstaat

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dem rechtsdogmatischen Umgang mit den Deutschengrundrechten nachgegangen werden. Dazu bedarf es zunächst einer eingehenderen Untersuchung der Frage, in welcher Form das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz Niederschlag gefunden hat. Gleichzeitig schließt sich damit auch der Kreis der bisherigen Erörterungen: Nachdem das Verhältnis der Menschenrechtsidee zu Staat und Verfassung und das Verhältnis des Staates zu Nation und Verfassung näher beleuchtet wurden, geht es nun abschließend um das Verhältnis von Nation und Verfassung.

3. Die Beförderung des nationalen Wohls als Verfassungsprinzip Die zwischen den Deutschengrundrechten und den in den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes positivierten menschenrechtlichen Prinzipien bestehende Spannungslage wurde oben unter I. ausfuhrlich erörtert. Umgekehrt wurde auch deutlich, daß diese den Deutschen nicht etwa beliebige Rechtspositionen vorbehalten, sondern solche, die in einem inneren Zusammenhang mit dem Prinzip der Mitgliedschaft im modernen Staat stehen. Sie wurzeln letztlich im materialen Kerngehalt des Staatsangehörigkeitsverhältnisses und sind vornehmlich als Ausfluß der Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Angehörigen zu begreifen. 868 In Gestalt der Vorbehalte der Freiheitsrechte der Art. 8, 9, 11 und 12 GG (deren menschenrechtlicher Gehalt oben nachgewiesen wurde) 869 tritt der Legitimation des Staates aus der Idee der Menschenrechte also offenbar mit dem Nationalstaatsprinzip ein zweites legitimatorisches Prinzip zur Seite, das sich auf die Vorstellung stützt, daß der Staat als Staat einer ganz bestimmten, sich gegen andere abgrenzenden Nation zu verstehen sei, als Staat des ihn konstituierenden Staatsvolkes also, und sich somit (auch) daraus legitimiere, daß er die Interessen dieses konkreten Volkes vertritt bzw. sein Wohl zu fördern bestrebt ist. Diese beiden Prinzipien kommen bezogen auf Deutsche zur Deckung, treten jedoch bei Ausländern im Negativbereich der Deutschengrundrechte auseinander. Da nach dem für den Verfassungsstaat konstitutiven Freiheitsprinzip jede Freiheitsbeschränkung rechtfertigungsbedürftig ist, dürfte die sich im 2. Teil anschließende rechtsdogmatische Untersuchung vornehmlich um die Frage kreisen, unter welchen Voraussetzungen das Gebot, das Wohl der eigenen Nation zu fordern, die (ungleiche!) Freiheitsbeschränkung bei Ausländern im Bereich der Deutschengrundrechte rechtfertigen kann. Eine solche Operationalisierung des Nationalstaatsprinzips im Dienste der Grundrechtsdogmatik setzt jedoch voraus, daß vorab geklärt wird, in welcher Form es sich im Grundgesetz niedergeschlagen hat, ob es 868 869

Dazu oben unter II. 2. a) (3) (b). Siehe hierzu oben unter I. 3. c).

284

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

sich dabei um ein umfassenderes, einheitliches Verfassungsprinzip handelt und welchen Rechtscharakter es besitzt.

a) Das Nationalstaatsprinzip

im Grundgesetz

Albert Bleckmann hat sich in einem Aufsatz aus dem Jahre 1988 um den Nachweis bemüht, „daß das Grundgesetz in der Präambel, dann aber auch über die ganze Verfassung verstreut das Nationalstaatsprinzip als weitere Staatszielbestimmung verankert". 870 Er verweist hier zunächst darauf, daß die verfassunggebende Gewalt nach der Präambel nur bei dem Deutschen Volk liegt und dementsprechend auch nur Deutsche das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG besitzen. Angesichts des Umstandes, daß seit der Französischen Revolution von 1789 das Demokratieprinzip in allen europäischen Ländern mit dem Souveränitätsprinzip einerseits, dem Nationalstaatsprinzip andererseits gekoppelt ist, sieht er auch Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus") nicht nur als Ausdruck des Demokratie-, sondern auch des Nationalstaatsprinzips. Allerdings räumt er zugleich ein, daß die Verbindung von Demokratieund Nationalstaatsprinzip nicht zwingend sei, 871 ein Aspekt, der insbesondere auch für die europäische Einigung von großer Bedeutung ist; und tatsächlich nehmen Unionsbürger inzwischen ja auch längst an deutschen Kommunalwahlen teil (Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG). Bleckmann stützt seine These vor allem darauf, daß mehrere Bestimmungen im Grundgesetz „der historischen Entwicklung des Nationalstaatsprinzips entsprechend davon ausgehen, daß die Nation eine enge Solidargemeinschaft mit gegenseitigen Pflichten zwischen den Staatsangehörigen und der staatstragenden Nation begründet". 872 Er nennt hier an erster Stelle den nach Art. 56 GG vom Bundespräsidenten und nach 64 Abs. 2 GG auch vom Bundeskanzler und den Bundesministern zu leistenden Amtseid, mit dem diese schwören, ihre Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes (zu) widmen, seinen Nutzen (zu) mehren, Schaden von ihm (zu) wenden. Zudem wertet er den Umstand, daß nach Art. 54 GG der Bundespräsident Deutscher sein muß, als Ausdruck des in Art. 33 Abs. 2 GG normierten umfassenderen allgemeinen Prinzips, nach dem alle öffentlichen Ämter grundsätzlich nur von Deutschen besetzt werden können. So könnten nach der Tradition des deutschen Berufsbeamtentums (Art.33 Abs.2 i.V.m. Abs. 5 GG) grundsätzlich auch nur Deutsche Beamte werden, da die Ausrichtung der Beamten am Wohl des deutschen Volkes nur durch die besondere 870

Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz (Fn. 364 ). Bleckmann, Nationalstaatsprinzip (Fn 364), 438 mit Fn.9; dazu eingehend Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), zusammenfassend 245 ff. und passim. 872 Bleckmann, aaO, 440. 871

II. Nation und Nationalstaat

285

Loyalität gewährleistet erscheine, welche die Einbettung in die deutsche Nation sichere. 873 Ferner fuhrt Bleckmann als Beleg fur seine These die Deutschengrundrechte und hier vor allem Art. 12 Abs. 1 GG an, den er als Ausfluß gewisser aus der Staatsangehörigkeit erwachsender Fürsorgepflichten des Staates bzw. der im Nationsbegriff verankerten Solidarität sieht. Er erwähnt in diesem Zusammenhang dann auch einerseits das Recht auf diplomatischen Schutz, andererseits die besondere Pflichtenstellung der Deutschen, die sich in der in Art. 12 a GG implizit auf Deutsche beschränkten Wehrpflicht zeige. Zudem weist er auch auf die damalige Formulierung in der Präambel hin (das „deutsche Volk" von dem Willen beseelt, „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren"), aus der das Bundesverfassungsgericht seinerzeit in seiner Rechtsprechung zur Rechtslage Deutschlands ja ganz konkrete, auf die Wiederherstellung der nationalen Einheit zielende rechtliche Pflichten der Staatsorgane abgeleitet hatte. 874 Schließlich erwähnt er noch Art. 22 GG, der im Rückgriff auf die Farben der Märzrevolution von 1848 bestimmt, daß die Farben der Bundesflagge schwarz-rot-gold sind; ein Umstand, dem Bleckmann im Blick auf die Smend'sche Integrationslehre (namentlich hinsichtlich der Integrationskraft staatlicher Symbole) besondere Bedeutung beimißt, 875 und den er zugleich als Beleg dafür sieht, daß dem Grundgesetz auch ein kultureller Nationsbegriff zugrunde liege. 876 Auch ohne in eine Diskussion von (strittigen) Einzelfragen einzusteigen, wird man Bleckmann wohl darin zustimmen können, daß das Nationalstaatsprinzip in dem allgemeinen Sinne, in dem er es umschrieben hat, im Grundgesetz verankert ist, oder vielleicht besser: daß „das Grundgesetz in der Tradition der nationalstaatlichen Verfassungsentwicklung" steht (Manfred Zuleeg) 877 und 873

AaO, 439 f. So besonders im Grundlagenvertragsurteil BVerfGE 36, Iff. (bes. 17-19); vgl. dazu und zu weiteren Entscheidungen zum Wiedervereinigungsgebot oben Fn. 768. Heute heißt es entsprechend: „Die Deutschen in den Ländern [...] haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet". 875 Bleckmann, Nationalstaatsprinzip (Fn. 364), 441. Er bezieht sich hier bes. auf Rudolf Smend, Integrationslehre, Integration, in: ders. Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. Berlin 1968, 475 ff, 482ff. Dazu heute auch Eckart Klein, Staatssymbole, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HdbStR I (Fn. 140), § 17, 733 ff. 876 Dies wurde oben ja auch bestätigt. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß gerade die 48er Revolution nicht mehr für den unpolitischen kulturellen Nationsbegriff der deutschen Romantik, sondern für die Verbindung von nationaler (vornehmlich kulturell definierter) Einheit und politischer Freiheit, für den Höhepunkt der Nationalisierung der Verfassungsfrage steht; sehr instruktiv dazu Elisabeth Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815-1871, München 1992, bes. 17ff. 877 Zuleeg, Nation (Fn. 746), 487. 874

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

sich dies in einer ganzen Reihe von Verfassungsbestimmungen niederschlägt. Allerdings muß bezweifelt werden, daß es sich dabei um ein einheitliches Prinzip handelt, das in all seinen unterschiedlichen Facetten Ansatzpunkte für eine verfassungsrechtliche Binnen-Differenzierung zwischen In- und Ausländern bietet. 878 Um zunächst mit jenem Punkt zu beginnen, in dem Bleckmann beizupflichten ist: Richtig ist, daß Nation und Verfassung bereits in den allerersten Anfängen bzw. Vorläufern der nationalstaatlichen Verfassungsentwicklung in ein enges Verhältnis zueinander gesetzt wurden. Dies wird schlaglichtartig durch eine berühmte und häufiger zitierte Passage aus dem Werk Emer de Vattels über das „Völkerrecht oder die Grundsätze des Naturrechts" von 1758 beleuchtet: Das grundlegende Reglement (règlement fondamental), welches die Art und Weise der Ausübung der öffentlichen Gewalt bestimmt, bildet die Verfassung des Staates (la Constitution de l'Etat). In ihr zeigt sich die Form, unter der eine Nation in ihrer Eigenschaft als politischer Körper handelt, wie und durch wen das Volk regiert werden soll, welches die Rechte und Pflichten der Regierenden sind. Diese Verfassung ist im Grunde nichts anderes als die Aufstellung der Ordnung, nach der eine Nation sich vornimmt, gemeinschaftlich für die Erlangung der Vorteile arbeiten zu wollen, derentwegen die politische Gemeinschaft errichtet ist. 879 Kurz darauf stellt er dann sogar fest: „die Verfassung und die Grundgesetze sind der Plan der Nation für ihr Streben nach dem Glück". 8 8 0 Der Zusammenhang zwischen dem Begriff der Verfassung und der Beförderung des Wohls der Nation ist bei ihm also ein so unmittelbarer, daß man geneigt wäre, hier nicht von einem, sondern dem Prinzip der Verfassung zu sprechen. Und doch fehlt seinen Ausführungen zwangsläufig das Moment nationalstaatlicher In- bzw. Exklusion: Die Idee des Nationalstaates wurde eben erst gut 30 Jahre nach Erscheinen dieses berühmten Werkes durch die Französische Revolution neben der Menschenrechtsidee - aus der Taufe gehoben. 878 Das behauptet er so zwar auch nicht ausdrücklich, aber er legt diesen Schluß zumindest nahe, wenn er einerseits von der eindeutigen Verankerung von Menschenrechten im Grundgesetz spricht, dem andererseits aber jene Bestimmungen gegenüberstellt, die sich nur auf Deutsche beziehen und daraus Rechtsfolgen ableitet, die eine solche Differenzierung voraussetzen; vgl. Bleckmann, Nationalstaatsprinzip (Fn.364), 438 (Menschenrechte) und 442 f. (bestimmte Ausländerpolitik etc.). 879 Le Droit des Gens, ou Principes de la Loi Naturelle, 1758, Nachdr. Washington 1916 (dt. Übers, v. Wilhelm Euler, Tübingen 1959 - hier mit geringfügigen Abweichungen gegenüber dieser dt. Übersetzung zit., die jedoch dem franz. Originaltext noch näher kommen), Buch I, Kap. III. §27 (S.31 bzw. 40 f.) ; auch zit. bei H. Hofmann, Staatsgrundgesetz (Fn. 282), 278, sowie bei Isensee, Staat (Fn. 457), Rn. 139. 880 Ebd., Buch I, Kap. IV. § 46 (S. 44 bzw. 49).

II. Nation und Nationalstaat

287

Aber auch als der Nationalstaat dann im 19. Jahrhundert in Europa seinen Siegeszug feiert, sich in seinem Gefolge in der ersten Jahrhunderthälfte schrittweise das Institut der Staatsangehörigkeit als formaler Mitgliedstatus und Anknüpfungspunkt für eine klare Differenzierung zwischen In- und Ausländern herausbildet und deutsche Staatsrechtslehrer den allgemein gefaßten Grundgedanken Vattels schließlich in staatsgerichtete Ansprüche des einzelnen auf „Gewährung der Vortheile, welche die betreffende Staats art jedem einzelnen Theilnehmer in Aussicht stellt" (v. Mohl) 8 8 1 bzw. ein Recht des Staatsbürgers an den „Wohlthaten des staatlichen Gemeinwesens Theil zu nehmen" (Laband) 882 ummünzen, wird man sich fragen müssen, ob diese Formulierungen stets auf eine bewußte Exklusion der im Lande lebenden Ausländer zielen. - Es wäre immerhin auch denkbar, daß sie nur Ausdruck der für selbstverständlich gehaltenen Annahme sind, daß die in einem Staate lebenden Menschen im Regelfall auch seine Staatsbürger seien. Die Antwort lautet wohl: „Es kommt darauf an". Denn das, was Bleckmann zusammenfassend als „Nationalstaatsprinzip" bezeichnet, ist tatsächlich alles andere als ein einheitliches Prinzip. Wenn schon dem Begriff des Rechtsstaates bescheinigt wird, daß er „auf. ein mehr oder weniger umfangreiches Ensemble von Rechtsgrundsätzen ohne eindeutiges Zentrum und scharfe Grenzen" ziele, 8 8 3 so gilt das kaum weniger für das „Nationalstaatsprinzip", zumal Bleckmann darunter Rechtsgrundsätze, Leitbilder und Individualrechte subsumiert, die in unterschiedlichen Kontexten angesiedelt sind oder sogar aus ganz verschiedenen zeitlichen Epochen stammen. So ist beispielsweise das von ihm ins Feld geführte Prinzip des Amtes als institutioneller Ausdruck der Gemeinwohlidee und Gemeinwohlbindung im treuhänderischen, verantwortlichen und uneigennützigen Dienst für die Allgemeinheit altes republikanisches Erbe. 884 Der Verfassungsstaat übernimmt es (nicht anders als das Prinzip der Repräsentation 885) aus der republikanischen Tradition und macht es sich zu eigen: „Res publica res populi", 8 8 6 Ciceros Definition des

881

Encyklopädie der Staatswissenschaften (Fn. 539), 226; vgl. dazu schon oben bei Fn. 657 (in seiner Formulierung taucht sogar der von Vattel gebrauchte Begriff des „Vorteils" wieder auf!). 882 Laband, Staatsrecht I (Fn.296), 1. Aufl., 144; s. auch 5. Aufl., 153. 883 H. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1), 3. 884 Hierzu und zum folg, J. Isensee, Staat (Fn.457), Rn. 104 ff. (bes. 106 f.). 885 Grundlegend zu diesem Begriff und seiner geschichtlichen Entwicklung H. Hofmann, Repräsentation (Fn. 603). 886 Vgl. dazu Schachtschneider (Fn. 829), der unter diesem Titel eine umfangreiche allgemeine Republiklehre entwickelt hat. Begriffsgeschichtlich zur res publica eingehend Wolfgang Mager, Art. Republik, in: Brunner u.a (Hg.) (Fn. 1 ), Bd. 5, 1. Aufl. Stutt-

2 8 8 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion legitimen Staates ist es, die bis heute den amtsethischen Anspruch trägt, der in dem nach Art. 56 Abs. 1 GG vom Bundespräsidenten und nach 64 Abs. 2 GG auch vom Bundeskanzler und den Bundesministern zu leistenden Amtseid zum Ausdruck kommt, dem im übrigen aber auch die Beamten verpflichtet sind. Sie sind entgegen der herkömmlichen (obrigkeitsstaatlichen) Redeweise nicht nur oder in erster Linie „Staatsdiener"; 887 vielmehr sind sie vor allem Diener der Republik und damit des Volkes. Demgemäß heißt es in §35 Abs. 1 S. 1 BRRG auch ausdrücklich: „Der Beamte dient dem ganzen Volk, nicht einer Partei. Er hat seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen". Doch wer ist nun nach diesen Vorschriften das Bezugsobjekt, auf dessen Wohl es „Bedacht zu nehmen" gilt? Wenn aus systemtheoretischer Sicht ganz allgemein festgestellt wird, daß das politische System partikularistische Semantiken und die Fiktion eines abgegrenzten Kollektivs brauche, um angeben zu können, für wen es aktiv ist, und in diesem Kontext auch die politische Legitimationssemantik des Gemeinwohls zu verorten sei, dessen Bezugspunkt nun einmal nicht die ganze Welt sein könne, 888 so ist das sicher zutreffend: Das Versprechen, seine Kraft dem „Wohle des deutschen Volkes", zu widmen (Art. 56 Abs. 1 GG) bzw. auf das „Wohl der Allgemeinheit" (§35 Abs. 1 S. 1 BRRG) Bedacht zu nehmen hat, ist nicht in die Weite der Welt, sondern an das abgegrenzte Kollektiv der Regierten im Geltungsbereich des Grundgesetzes gerichtet. Doch ist kaum anzunehmen, daß dabei diejenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen, ausgeschlossen werden sollten. Dagegen spricht schon die republikanische Herkunft des Amtsprinzips, denn in der republikanischen Tradition schließt der Satz „res publica res populi" prinzipiell alle ein, die an der res publica (etwa auch durch Abgaben) partizipieren. Allerdings ist dies keineswegs als „Einbahnstraße" zu verstehen. Zwar stehen hier ganz im Sinne des Amtsprinzips die Pflichten der Amtswalter im Vordergrund, aber zugleich werden auch Pflichten der Bürger vorausgesetzt, die sich gart 1984, 549-651 ; skizzenhafter Josef Isensee, Republik - Sinnpotential eines Begriffs. Begriffsgeschichtliche Stichproben, in: JZ 1981, 1 ff, speziell zu Cicero 3 f. 887 Natürlich besteht, wie ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des preußischen Beamtentums lehrt, ein besonderes Näheverhältnis zum modernen Staat, was sich bis heute u.a. darin zeigt, daß der oben angesprochene Treueaspekt im Blick auf Beamte verfassungsrechtlich durch Art. 33 Abs. 4 GG („öffentlich-rechtliche[s] Dienst- und Treueverhältnis") besonders hervorgehoben wird. Doch kommt dort die republikanische Erneuerung und Einbindung dieser Vorstellungen sprachlich bislang nicht zum Ausdruck. 888 So Dirk Richter, Die zwei Seiten der Nation, in: Nassehi (Hg.) (Fn.824), 59 ff. (64); s. zu diesem und anderen Beiträgen in diesem Sammelband auch die Rezension von Lutz Hoffmann, in: ZAR 1998, 87 f.

II. Nation und Nationalstaat

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wiederum als deren „verfassungsrechtlich geforderte Pflichtbeiträge zum Gemeinwohl" (Volkmar Götz) 889 begreifen lassen. Hinter diesen sog. „Grundpflichten" der Bürger steht der alte Gedanke, daß derjenige, der den Schutz des Gemeinwesens in Anspruch nehme, auch an den Lasten seiner Organisation zu beteiligen sei. Er wird sowohl in Art. 13 (i.V.m. Art. 12 und 14) der französischen Déclaration 890 als auch in bestimmten einzelstaatlichen amerikanischen bills explizit zur Rechtfertigung insbesondere der Steuer- und Abgabenlast angeführt, und zwar besonders deutlich in der Delaware Declaration of Rights von 1776, wo es unter Sect. 10 heißt: That every member of society hath a right to be protected in the enjoyment of life, liberty and property, and therefore is bound to contribute his proportion towards the expense of that protection, and yield his personal service when necessary, or an equivalent thereto.891 Anders als die aus der angenommenen vorstaatlichen Natur des Menschen abgeleiteten Menschenrechte sind die Bürgerpflichten von vornherein an die Inanspruchnahme des Schutzes des status civilis gebunden, beziehen sich daher stets auf den Bürger des jeweiligen konkreten Gemeinwesens, nicht auf „den Menschen" im status naturalis. Wie H. Hofmann im einzelnen dargelegt hat, 892 sind die Grundpflichten daher einerseits stets Bürger- und keine Menschenpflichten, andererseits als Bürgerpflichten im ursprünglichen Sinne des Begriffs aber auch nicht an die Staatsangehörigkeit gebunden. Weder die elterliche Erziehungspflicht noch der Schulzwang, weder die Gehorsams- noch die Steuerpflicht gelten nur für die eigenen Staatsangehörigen. Die prinzipiell auf Deutsche im Sinne des Grundgesetzes beschränkte Wehrpflicht nimmt hier eine gewisse Sonderstellung ein (wobei sich das auch nicht aus Art. 12 a GG selbst, sondern erst aus §§ 1, 2 WPflG ergibt); und tatsächlich steht sie insbesondere in der französischen Tradition in einem engen historischen Zusammenhang zum 889

Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: VVDStRL 41 (1983), 7-41 (12); s. hierzu und zum folg. auch den Mitbericht von H. Hofinann zu diesem Beratungsgegenstand, ebd., 42-86; s. auch ders., Grundpflichten (Fn. 3), in: HdbStR V, § 114, jetzt auch in: Perspektiven (Fn. 3), 73 ff. 890 Nachdem in Art. 12 die Notwendigkeit einer zum Vorteil aller errichteten öffentlichen Gewalt angesprochen wird, heißt es dann in Art. 13: „Pour l'entretien de la force publique, et pour les dépenses d'administration, une contribution commune est indispensable: elle doit être également répartie entre tous les citoyens, en raison de leurs facultés". Art. 14 hat dann die Bürgerbeteiligung und Kontrolle hinsichtlich der Beiträge und Abgaben zum Gegenstand; Abdr. des Textes bei Berlia (Fn. 17), 2 f. 891 Abdr. des Textes bei Schwartz (Fn. 52), 276 (277). 892 H. Hofmann, Grundpflichten, in: Perspektiven (Fn.3), bes. 92-95. Siehe zur doppelten Bedeutung des Begriffspaares „Menschen- und Bürgerrechte" oben S. 1 f. und zur Frage der Rechtfertigung der Deutschenrechte unter dem Aspekt besonderer Grundpflichten der Deutschen unten 1. Teil III. 3. a) (2). 19 Siehr

2 9 0 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Nationalstaatsprinzip: Gelang es doch über die Idee der Nation in einem bis dahin noch nicht gekannten Maße, die Massen zu mobilisieren und Opferbereitschaft zu erzeugen - für die Franzosen mit ihrem menschenrechtlichen Impetus und ihrem politischen Verständnis der Nation allerdings nur ein Grund mehr, im Lande lebende Ausländer möglichst rasch einzubürgern. Auch bezogen auf Deutschland ist die Wehrpflicht im Kreise der Grundpflichten jedoch kaum mehr als die Ausnahme, die die oben genannte Regel bestätigt, nach der prinzipiell alle, die den Schutz des staatlichen Gemeinwesens genießen und an seinen „Wohlthaten" teilhaben, auch an seinen Lasten zu beteiligen sind. Umgekehrt folgt daraus, daß sowohl die republikanische Tradition des Amtsprinzips als auch die (abgesehen von der Wehrpflicht) ganz selbstverständlich praktizierte Heranziehung der ausländischen Mitbürger zu den „Pflichtbeiträge(n) zum Gemeinwohl" dafür spricht, daß sie nicht nur in der universalistischen Legitimationssemantik menschenrechtlicher Prinzipien, sondern auch in der partikularistischen Legitimationssemantik des Gemeinwohls nach dessen innerer Logik prinzipiell miteinbegriffen werden. Denn letztere schließt sich in ihrer Bezogenheit auf die res publica nur nach außen gegen andere Gemeinwesen ab. Nach alledem wäre die Bezugnahme auf das deutsche Volk in Art. 56 Abs. 1 GG nur in dem Sinne Ausdruck des Nationalstaatsprinzips, daß sich in ihr die für selbstverständlich gehaltene Annahme spiegelt, daß diejenigen, zu deren Wohle deutsche Staatsgewalt ausgeübt wird, im Regelfall der deutschen Staatsnation zugehörig seien, ohne doch diejenigen bewußt ausschließen zu wollen, auf die das nicht zutrifft. Anders formuliert: Die zwischen diesen beiden Gruppen bestehende Diskrepanz ist nicht etwa Gegenstand dieser Bestimmung, sondern wird von ihr gar nicht mitgedacht. Hier zeigt sich zweierlei: Zum ersten bestätigt sich ein weiteres Mal, daß die im Verfassungsstaat angestrebte Synthese von Staat und Menschenrechtsidee nur unter dem Dach der Staatsbürgerschaft wirklich gelingen kann. Insbesondere kann er die ihm angesichts der aus unterschiedlichen Epochen stammenden ideengeschichtlichen Stränge, Legitimationsmuster und Rechtsprinzipien abverlangte Integrationsleistung nur unter dieser Voraussetzung erbringen: Nur wenn seine „Bürger" (im weiteren, auf die res publica bezogenen Sinne) auch seine Staatsangehörigen und damit „Staatsbürger" sind, kommen die beiden in unterschiedlicher Weise mit weiteren Vorgaben befrachteten Bürgerbegriffe und damit auch menschenrechtliche und staatsbürgerliche Gleichheit zur Dekkung, kann der individualistische Denkansatz mit der Idee der Nation, das spezifisch neuzeitliche menschenrechtliche Denken mit altem republikanischem Erbe wie Gemeinwohlbindung, Amtsprinzip und Repräsentation vermittelt werden. Bislang schien es, als sei die Kluft zwischen „Mensch" und „Staatsbürger" nur aus der Perspektive menschenrechtlicher Prinzipien problematisch. Jetzt wird hingegen deutlich, daß auch das Vermächtnis der republikanischen

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Tradition sich nur unter der Prämisse bruchlos in den modernen Verfassungsstaat einfügen läßt, daß der (durch Inanspruchnahme ihrer „Wohltaten", aber auch durch eigene Abgaben etc.) an der res publica partizipierende „Bürger" auch „Staatsbürger" ist. 893 Für die folgenden Erörterungen noch wichtiger ist der zweite Punkt, die Erkenntnis nämlich, daß hinsichtlich der von Bleckmann als Beleg für die verfassungsrechtliche Verankerung des Nationalstaatsprinzips genannten Bestimmungen zwischen jenen zu differenzieren ist, die dessen Geltung voraussetzen, ohne daran die Rechtsfolge der Exklusion von ausländischen Mitbürgern zu knüpfen, die also das „Wohl des Volkes" im weiteren Sinne meinen, und jenen anderen, die ganz bewußt auf eine Privilegierung der Deutschen bzw. umgekehrt die Exklusion ausländischer Mitbürger zielen. In der menschenrechtlich-universalistisch fundierten Ordnung des Grundgesetzes steht zu erwarten, daß letzteres immer dann der Fall sein wird, wenn Individualrechte - ausnahmsweise - einen Deutschenvorbehalt aufweisen. Tatsächlich zeigt eine nähere Untersuchung, daß die Deutschenvorbehalte alle in irgendeiner Form Ausfluß des Nationalstaatsprinzips in dem umschriebenen engeren Sinne sind. Zugleich wird aber auch deutlich, daß sie durch ganz unterschiedliche Teilaspekte dieses synkretistischen Prinzips getragen werden, die dann jeweils im rechtsdogmatischen Umgang mit den verschiedenen (Gruppen von) Deutschenrechten maßgeblich sein werden. Während etwa das Widerstandsrecht der Deutschen (Art. 20 Abs. 4 GG), wie Bleckmann zutreffend bemerkt, einen Nexus zur verfassunggebenden Gewalt des Deutschen Volkes (vgl. Präambel) aufweist, also das bei (und seit) Vattel so betonte enge Verhältnis zwischen Nation und Verfassung akzentuiert, sind Art. 16 Abs. 1 und 2 GG (Verbot des Entzugs und Beschränkung des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit sowie Verbot der Auslieferung eines Deutschen) noch im verfassungsneutralen angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zwischen dem Staat und seinem Angehörigen verwurzelt. Sie stehen zwar in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Staatsmitgliedschaft bzw. sichern diese 893

Und fragt man sich, wie den Franzosen, die doch auch für das Nationalstaatsprinzip Pate standen, das Kunststück gelingen konnte, all dies zusammenzubringen, ohne daß die Spannungen sogleich deutlich zutage traten, so hat man den Schlüssel dafür wohl wiederum in dem insbesondere in der kosmopolitischen Anfangsphase der Revolution sehr offenen Verständnis der Nation zu suchen. Siehe dazu I. Maus, Demokratietheorie (Fn. 582), 205; auch Brubaker, Staats-Bürger (Fn. 387), 72 ff. u. pass. Zur Position des Ausländers und den Einbürgerungsvoraussetzungen in den verschiedenen Phasen der Revolution s. auch Jean Portemer, L'étranger dans le droit de la révolution française, in: Recueils de la Société Jean Bodin pour l'histoire comparative des Institutions, Bd. X (L'Étranger), Paris 1984, 533 ff., 542 ff.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

dem einzelnen dauerhaft zu, aber nur in einem mittelbaren Zusammenhang zur Menschenrechtsidee, die die Bedeutung der Staatsangehörigkeit für den Schutz der Menschenrechte konzeptionell infolge ihres Ansetzens beim „Menschen als solchen" gar nicht berücksichtigen kann, praktisch in einer Welt differierender Nationalismen aber in elementarer Weise darauf verwiesen bleibt. Art. 16 Abs. 1 und 2 GG fielen, wenn man sich denn um eine Kategorisierung bemühen wollte, somit in jene dritte Kategorie staatsbürgerlicher Rechte, die v. Mohl in seiner „Encyklopädie der Staatswissenschaften" von 1859 den Freiheitsrechten und den politischen Rechten zur Seite stellte: 894 Ansprüche, die „Forderungen auf Erfüllung der allgemeinen Staatszwecke" zum Gegenstand haben, die der einzelne also „schon als Theilnehmer an der Staatsverbindung für seine Person zu machen berechtigt" ist, worunter v. Mohl, wie oben erwähnt, insbesondere auch das Recht der „bleibenden Theilnahme am Staate" faßt, der „eine nothwendige Anstalt zur Erreichung des Lebenszweckes" sei und kein Recht habe, „Solche, welche auf rechtliche Weise Mitglieder des Staatsverbandes geworden sind, aus demselben zu verweisen". 895 Auch die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte entspringen, wie die Analyse der Debatte im Parlamentarischen Rat gezeigt hat, dem verfassungsneutralen angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zwischen dem Staat und seinem Angehörigen, und zwar sind sie vornehmlich Ausfluß der staatlichen Schutzpflicht, die sich dann im übrigen auch auf den nicht als „Grundrecht" positivierten, von Bleckmann angesprochenen diplomatischen Schutz erstreckt. 896 Bei den Art. 8 und 9 Abs. 1 GG spielen noch andere Motive wie etwa die Pflege der auswärtigen Beziehungen eine Rolle. Zudem steckt in den Deutschenvorbehalten dieser Grundrechte auch ein demokratie-funktionaler Aspekt, was allerdings nur unter der Voraussetzung plausibel erscheint, daß die, wie Bleckmann selbst einräumt, theoretisch keineswegs zwingende, sondern historisch bedingte Verknüpfung von Nationalstaats- und Demokratieprinzip weiterhin akzeptiert und aufrechterhalten wird. - Ist anerkannt, daß nur Deutsche die demokratischen Rechte ausüben dürfen, so läßt sich zumindest eher begründen, warum sie im Blick auf die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die kollektive Willensbildungsprozesse und Betätigungsformen schützen und daher im Rahmen des demokratischen Prozesses besonders bedeutsam sind, eine Privilegierung genießen. Ganz stichhaltig ist diese Argumentation allerdings schon deshalb nicht, weil sie zur Rechtfertigung der Exklusion von Ausländern nur einen ganz bestimm-

894 895 896

Encyklopädie (Fn. 539), § 16, 116; vgl. oben S. 213 f. für das komplette Zitat. Encyklopädie (Fn. 539), 224 f. Siehe dazu oben S. 148, 153, 163 f. und pass.

II. Nation und Nationalstaat

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ten Gesichtspunkt herausgreift, andere hingegen vernachlässigt. Zum einen schützen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit auch rein „private" Betätigungsformen, zum anderen muß gefragt werden, ob der Demokratiebegriff nicht zu sehr verengt wird, wenn er allein auf die staatliche Ebene bezogen wird. Und jenseits der Wahlen zu den Parlamenten auf Bundes- und Landesebene und nach überwiegender Auffassung auch zu den Gemeindevertretungen rechtfertigt die Feststellung, daß ein Ausländer nicht zum „Staatsvolk" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG gehöre, seinen Ausschluß gewißlich nicht, denn die betriebliche Mitbestimmung oder die Mitbestimmung im Rahmen der Sozialversicherungsträger definiert das stimmberechtigte Kollektiv nach ganz anderen Kriterien. Letztlich trägt der Gesetzgeber dem jedoch dadurch Rechnung, daß er die mit den Deutschenvorbehalten der Art. 8 Abs. 1 und 9 Abs. 1 GG gegebene verfassungsrechtliche Möglichkeit der Privilegierung der Deutschen kaum ausschöpft und einfachgesetzlich für eine weitgehende Gleichstellung von Deutschen und Ausländern gesorgt hat. Geht man von den unter dem demokratie-funktionalen Aspekt bereits in diese Richtung weisenden Freiheitsrechten der Art. 8 und 9 GG weiter zur Gruppe der staatsbürgerlichen Rechte im engeren Sinne, so verliert sich der zwischen den Deutschenvorbehalten und der verfassungsneutralen Grundessenz des Angehörigkeitsverhältnisses im modernen Staat bestehende Konnex sehr schnell: Art. 33 Abs. 4 und 5 GG knüpfen, da es um die Ausübung hoheitlicher Befugnisse geht, zwar noch an das namentlich in den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums" vorausgesetzte besondere Näheverhältnis der „Staatsdiener" zu ihrem Staat an, doch läßt sich schon im Hinblick auf die geforderte Verfassungstreue nicht mehr von einer Verfassungsneutralität dieser Deutschenvorbehalte sprechen. Sie sind vielmehr von vornherein auf den demokratischen Verfassungsstaat bezogen, der hier zugleich aus der Quelle der Idee der Nation als besonderer Solidargemeinschaft die von Bleckmann zu recht hervorgehobenen Solidaritäts- und Loyalitätspflichten zu schöpfen sucht. Der nach Art. 33 Abs. 2 GG jedem Deutschen nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung garantierte gleiche Zugang zu jedem öffentlichen Amte und speziell der Zugang zu politischen Ämtern (vgl. Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG) ist zudem ebenso wie das aktive und passive Wahlrecht (Art. 38 Abs. 2 GG) Frucht des aus dem Autonomieprinzip folgenden Rechts auf Selbstregierung bzw. Herrschaftsteilhabe, das jetzt jedoch innerhalb der auf der Basis der Verfassung eingerichteten Institutionen, Verfahren und Partizipationsrechte situiert und insofern in den Zusammenhang von Verfassung und verfassunggebender Gewalt des Volkes eingebunden ist. Er steht auch hinter den Deutschenvorbehalten dieser Rechte, ohne freilich die unterschwellig fortbestehende Spannung zum menschenrechtlichen Autonomieprinzip einerseits, zum weiten, auf die res publica bezogenen Bürgerbegriff andererseits aufheben zu können.

2 9 4 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion An diesem Punkt schneiden sich zwei unterschiedliche Entwicklungslinien bzw. Betrachtungsweisen: Diese Deutschenvorbehalte können nicht nur insofern als Konsequenz des Nationalstaatsprinzips verstanden werden, als sie auf der Linie liegen, die (in dieser Form speziell in Europa) zwischen Staatsnation und Verfassung gezogen wird, sondern lassen sich vom (Verfassungs-)Staat her betrachtet auch als Ausdruck eines „demokratischen" Verständnisses der Staatsmitgliedschaft als solcher deuten. Dies zeichnete sich, wie oben gezeigt wurde, im Sinne der aktiven, gleichberechtigten Gliedstellung des einzelnen im Staatsverband in ersten Ansätzen bereits im genossenschaftlichen Staatsbegriff v. Gierkes ab, 897 wobei dessen Lehre von den gestuften, ineinander geschichteten Konsoziationen auch die Aufnahme weiterer Mitglieder auf unter- (möglicherweise auch überstaatlicher Ebene nicht prinzipiell ausschlösse, selbst wenn der Prozeß der europäischen Integration weit jenseits der Vorstellungskraft dieses Autors gelegen haben dürfte. Doch wie man auch ansetzt, in beiden Fällen läßt sich hinsichtlich des dem Nationalstaatsprinzip als Zielvorgabe inhärenten Gebotes, das „Wohl der Nation" zu fordern, im Bereich der staatsbürgerlichen Rechte eine deutliche Akzentverschiebung feststellen: Das „Wohl der deutschen Nation" hat hier nichts mehr mit paternalistischer Fürsorge des Staates zu tun, 898 sondern ist dank verfassungskräftig verbriefter demokratischer Rechte Gegenstand eigener Aktivität und Entscheidung im Rahmen konkurrierender Gemeinwohlkonzeptionen, die im Urnengang ihre Mehrheitsfähigkeit unter Beweis stellen müssen. Anders als die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte wurzeln die Vorbehalte der staatsbürgerlichen Rechte nicht in den tieferen Schichten des verfassungsneutralen Grundverhältnisses zwischen dem modernen Staat und seinem Angehörigen, vielmehr sind sie von vornherein auf den Verfassungsstaat bezogen. Sie sind insoweit gerade umgekehrt Ausdruck der „Nationalisierung der Verfassungsfrage", 8 9 9 in deren Gefolge der demokratische Legitimationszusammenhang zwischen dem zum Träger aller Souveränität erhobenen Volk und der Ausübung der Staatsgewalt dann in Europa stets nationalstaatlich gedeutet wurde: „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorité qui n'en émane expressément", wie es in Art. 3 der wegweisenden Déclaration von 1789 hieß. 900

897

Dazu im einzelnen oben 216 ff, bes. 218-220. Ein Beispiel dafür ist der Deutschenvorbehalt der Berufsfreiheit; dazu oben unter II. 2. a) (3) (b). 899 Hierzu im Blick auf Deutschland Fehrenbach (Fn.876), 17 ff. Sehr instruktiv zur gesamteuropäischen Entwicklung auch Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, 2. Aufl. 1995, limitierte Sonderauflage 1999. 900 Vgl. für den Textabdr. Berlia (Fn. 17), 2. 898

II. Nation und Nationalstaat

295

Sicherlich: Aktivbürgerrechte wurden nie im Sinne der bekannten Definition der Menschenrechte von Maurice Cranston als „rights of all people at all times and in all situations" 901 verstanden. Staatsbürgerrechte sind in diesem allgemeinen Verständnis keine Menschenrechte. Obgleich sie im menschenrechtlichen Autonomieprinzip wurzeln, setzen sie immer eine besondere Verbundenheit mit einem ganz konkreten partikularen Gemeinwesen voraus. Wie Lüthy zu recht anmerkt, sollte dies insbesondere bei einer vertragstheoretischen Argumentation einleuchten: 902 Vertragspartner sind die an einem Vertrag Beteiligten und nicht „alle Menschen". Und das gilt nicht nur für reale Verträge, sondern muß auch für die Fiktion eines Vertrages als legitimatorische Idee gelten - jedenfalls solange sie nicht auf den einen „Weltstaat" bezogen wird. So stößt man erneut auf die Paradoxie, daß schon in der Idee einer auf universalistische Prinzipien rekurrierenden und doch zwangsläufig partikularen Staatsgründung die Notwendigkeit von Ausschlüssen begründet liegt: Gleiche Freiheit aller meint, wenn es um die Ausübung politischer Teilhaberechte geht, nicht alle Menschen dieser Erde, sondern alle Menschen, die dem jeweiligen politischen Gemeinwesen in besonderer Weise verbunden sind und insofern an ihm teilhaben. 903 Doch während sich die amerikanischen bills mit der Normierung dieses materiellen Aspekts begnügen - die Virginia Bill of Rights von 1776 etwa unter Sect. 6 feststellt, „that all men having sufficient evidence of permanent common interest with, and attachment to the community, have the right of suffrage" 904 und damit letztlich individualistischen Denkmustern verhaftet bleiben, schiebt sich bei den Franzosen mit dem auf einen voll ausgebildeten Staat bezogenen Begriff der „souveränen Nation" eine im Singular angesprochene kollektive Größe in den Vordergrund. Sie erbt von der Krone offenbar nicht nur die Souveränität, sondern auch die durch die Funktion eines Souveräns bedingte Subjektstellung, entfaltet auf den Fußstapfen der Rousseau'schen Lehre wandelnd als „sittliche Gesamtkörperschaft" ein Eigenleben als personales Subjekt mit

901

What are Human Rights? (Fn. 7), 21. Herbert Lüthy, Tugend und Menschenrechte. Zur Topologie politischer Begriffssysteme, in: Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 134. Zwei Antrittsvorlesungen, Basel/Stuttgart 1974, 25 ff. (38); zustimmend H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 117, Fn.72. 903 Da die Figur des Vertrages kein genetisches Erklärungsmodell, sondern nur eine Folie zur Beantwortung der Legitimitätsfrage darstellt, hilft sie nicht weiter, wenn es um die Frage geht, für wen das zutrifft. Abgesehen von wenigen historischen Beispielen wie etwa dem „Mayflower Compact" der „Pilgrimfathers" (vgl. oben S. 74 mit Fn. 193) liegt eben tatsächlich kein Vertrag vor, bei dem man nun ermitteln könnte, wer ihn selbst unterzeichnet hat oder doch als Rechtsnachfolger eines Vertragspartners in dessen Rechtsstellung eingerückt ist. 904 Für den Textabdr. s. Morison (ed.) (Fn. 195), 149 (150). 902

296

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

eigenem kollektiven und doch einheitlichen Willen, 9 0 5 wie es sich „the good people of Virginia" wohl nicht träumen ließen. Bei den Amerikanern ist der Geist der ursprünglich religiös motivierten, sich auf Gleichordnungsebene zusammenschließenden Siedlungsgemeinschaften, wie er auch im Begriff der „Community" anklingt, noch lebendig; „the people" bezeichnet folglich die an diesem Zusammenschluß beteiligten Menschen, ohne sich dann aber von ihnen durch Verwandlung in ein „Kollektivwesen", in dem der einzelne aufgeht, tendenziell wieder zu lösen. Kurz: Weder die mehrfach angesprochene „community" noch das nach Sect. 3 der Virginia Bill abwählbare „government" oder die Kollektivbezeichnung „the people" lassen sich mit dem französischen Verständnis von Staat und Nation auf einen Nenner bringen. 906 Auch wenn sich diese Unterschiede durch die weitere Entwicklung - angefangen vom Zusammenschluß zu den Vereinigten Staaten von Amerika über die weitere Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der amerikanischen Gesellschaft und institutionelle Verfestigung des „governments" bis zur förmlichen Ausbildung einer „US-citizenship" - teilweise relativiert haben, sind sie nie 905

Vgl. die Rousseau-Zitate oben auf S. 83 f. mit Fn.225 und auf S. 207. Sehr klar werden diese Zusammenhänge bei v. Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), bes. 148 ff. (150), dargestellt, der u.a. auch auf die Unerklärlichkeit dieses mystisch anmutenden Verwandlungsvorganges und die merkwürdige Spannung zum Prinzip individueller Autonomie hinweist. 906 Dabei kam den Differenzen zwischen dem französischen und dem amerikanischen Modell zunächst kaum praktische Relevanz zu, da die Hürden für die Ausübung der politischen Rechte (abgesehen von bestimmten, mit den erklärten Prinzipien unvereinbaren, aber damals für selbstverständlich gehaltenen Beschränkungen wie Zensus, Geschlecht, Selbständigkeit, Hautfarbe etc.), gleichermaßen niedrig angesetzt wurden. So heißt es in dem der Pennsylvania Declaration of Rights (1776) angefügten, von Benjamin Franklin unterzeichneten „Plan or Frame of Government" unter Sect. 6: „Every freemen of the full age of twenty-one years, having resided in this state for the space of one whole year next before the day of election for representatives, and paid public taxes during that time, shall enjoy the right of an elector (...)" (Textabdr. bei Schwartz [Fn. 52], 262 ff. [266]). Nachdem die franz. Verfassung von 1791 unter Titre II, Art. 2 die Eigenschaft als „citoyen Français" zwar recht großzügig bestimmt, gemäß Art. 3 im Fall eines von zwei ausländischen Elternteilen außerhalb Frankreichs geborenen Ausländers aber zumindest eine fünfjährige Ansässigkeit verlangt hatte, geht man im Acte Constitutionnel von 1793 noch einen Schritt weiter. Art. 4 (De l'état des Citoyens) lautet: „(...) - Tout étranger âgé de vingt et un ans accomplis, qui, domicilié en France depuis une année, - Y vit de son travail, - Ou acquiert une propriété, - Ou épouse une Française, - Ou adopte un enfant, - Ou nourrit un vieillard; - Tout étranger enfin, qui sera jugé par le corps législatif avoir bien mérité de l'humanité, - Est admis à l'exercice des droits de citoyen Français" (Textabdr. bei Berlia [Fn. 17], 65). Die Auswirkungen der Koppelung von Demokratie- und Nationalstaatsprinzip zeigen sich jedoch, sobald der Begriff der Nation weniger offen gefaßt wird.

II. Nation und Nationalstaat

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ganz eingeebnet worden. Bis heute liegt der Akzent bei der amerikanischen „citizenship" stärker auf der Bürgerstellung innerhalb einer „community", wird in den von der französischen Idee des Nationalstaates beeinflußten europäischen Staaten stärker die Zugehörigkeit zu einer als Einheit verstandenen, im Singular angesprochenen Kollektivgröße Staatsvolk bzw. -nation als Voraussetzung für die Ausübung politischer Rechte betont, so daß sich in diesem spezifischen Sinne nur für die europäischen Staaten von einer Koppelung des Demokratie· mit dem Nationalstaatsprinzip sprechen läßt. Dies zeigt sich jetzt im übrigen auch spiegelbildlich in der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften: Dort, wo sich der Nationalstaat schrittweise zurückzieht, das Nationalstaatsprinzip also zumindest graduell an Gewicht verliert und seine Wirksamkeit als „Blocker" des an sich beim autonomen Individuum ansetzenden Demokratieprinzips in Teilbereichen nachläßt, wurde der Weg für das kommunale Ausländerwahlrecht frei gemacht, greift oberhalb und unterhalb der staatlichen Ebene ein weiteres Demokratieverständnis Raum. Dabei wird immer wieder betont, daß die Unionsbürgerschaft zwar die staatliche Mediatisierung der Bürger gegenüber der Union auflockere, aber selbst keine „Staatsangehörigkeit sei. 907 Und das ist sie in der Tat nicht: Sie lebt viel stärker vom Geist einer (hier natürlich noch loseren) „community" als von der Vorstellung eines sich als Einheit verselbständigenden „europäischen Staatsvolkes".

b) Zum Rechtscharakter

des Nationalstaatsprinzips

Die Beobachtung, daß das Nationalstaatsprinzip in bestimmten Konstellationen zurücktreten kann und ihm offenbar im Hinblick auf Staatsangehörige der EG-Mitgliedstaaten generell ein wesentlich geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Ausländern - einmal abgesehen vom Kommunalwahlrecht dürfen diese beispielsweise auch in das Beamtenverhältnis berufen werden (vgl. §4 Abs. 1 Nr. 1 BRRG) 9 0 8 und können sich gegenüber den Deutschenvorbehalten der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) auf die im EG-Vertrag verankerte Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 48 ff.), die Niederlassungs- (Art. 52 ff.) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 59 ff.) berufen lenkt das Augenmerk noch einmal auf eine andere für den rechtsdogmatischen Umgang mit den Deutschengrundrechten wesentliche Frage, nämlich die nach seinem Rechtscharakter.

907

Hobe, Unionsbürgerschaft (Fn.475), 246 ff. (267). Es sei denn, die Aufgaben erfordern es, daß nur ein Deutscher im Sinne des Art. 116 GG in das Beamtenverhältnis berufen werden darf, vgl. §4 Abs.2 BRRG i.V.m. Art. 48 Abs. 4 EWG-Vertrag. 908

2 9 8 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion Vieles deutet darauf hin, daß es sich bei dem Nationalstaatsprinzip auch um ein Prinzip im rechtstechnischen Sinne, sprich: um ein sog. „ Optimierungsgebot" handelt. Bekanntlich ist nach Alexy, der sich diesen Fragen besonders intensiv gewidmet hat, jede Norm entweder eine Regel oder ein Prinzip, 909 wobei hier kein nur gradueller, sondern ein qualitativer Unterschied besteht: Während Prinzipien in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten (die durch gegenläufige Prinzipien und Regeln bestimmt werden) abhängt, können Regeln stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden. 910 Dementsprechend lassen sich Regelkonflikte entweder über Ausnahmeklauseln lösen oder dadurch, daß mindestens eine der Regeln für ungültig erklärt wird. Prinzipienkollisionen werden hingegen, kurz gesagt, im Rahmen von Abwägungen gelöst, d.h. sie spielen sich jenseits der Dimension der Geltung in der Dimension des Gewichts 911 ab. Wenn in einem konkreten Fall das Prinzip mit dem jeweils größeren Gewicht vorgeht, so wird das zurücktretende Prinzip weder für ungültig erklärt noch mit einer Ausnahmeklausel versehen, und unter anderen Umständen kann die Vorrangfrage genau umgekehrt zu lösen sein. 912 Überträgt man dies auf die Deutschenrechte des Grundgesetzes und betrachtet unter diesem Aspekt zunächst einmal die zwischen Art. 1 bis 20 GG auftauchenden Deutschenvorbehalte, so zeigt sich, daß die Charakterisierung des sich in den nationalen Vorbehalten der Freiheitsrechte verkörpernden Nationalstaatsprinzips als Optimierungsgebot, also als Prinzip im rechtstechnischen Sinne, sowohl der Grundkonzeption der Freiheitsrechte und des Schrankendenkens im allgemeinen als auch dem bisherigen rechtspraktischen Umgang mit den Deutschenrechten im besonderen tatsächlich am besten gerecht wird. Etwas anderes gilt nur für Art. 16 Abs. 1 und 2 und Art. 20 Abs. 4 GG: Hier handelt es sich offenkundig um definitive Festsetzungen, die Regelcharakter besitzen, denn das Verbot des Entzugs der deutschen Staatsangehörigkeit oder der Auslieferung läßt sich nicht in „unterschiedlichem Grade" realisieren, und das Widerstandsrecht steht oder fällt mit der Bejahung einer ganz bestimmten paradoxerweise: verfassungsrechtlich geregelten - verfassungsrechtlichen Aus-

909

Alexy (Fn. 159), 77. AaO, 76: „Wenn eine Regel gilt, dann ist es geboten, genau das zu tun, was sie verlangt, nicht mehr und nicht weniger. Regeln enthalten damit Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen" (Hervorhebung im Original). 911 Dazu schon Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Harvard University Press, Cambridge/Massachusetts, 1977/1978, 26 f. (dt.u.d.T. Bürgerrechte ernstgenommen, übers, v. Ursula Wolf, Frankfurt/Main 1990). 9,2 Alexy (Fn. 159), 77 ff. (79). 910

II. Nation und Nationalstaat

299

nahmesituation. Doch die den Freiheitsrechten der Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 GG bewußt beigefügten nationalen Vorbehalte lassen sich als Ausdruck des dem Nationalstaatsprinzip inhärenten und in unterschiedlichem Grade erfüllbaren Gebots verstehen, das Wohl der deutschen Nation zu optimieren (und zwar hier, wie schon dargelegt wurde, unter Ausschluß derjenigen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind), denn sie eröffnen lediglich die Möglichkeit der Privilegierung der Deutschen. Ob sie hingegen einfachgesetzlich umgesetzt bzw., sofern das Gesetz Ermessensspielräume eröffnet, ob davon in der Verwaltungspraxis Gebrauch gemacht wird, ist von weiteren rechtlichen und tatsächlichen Faktoren abhängig. Wird der nichtdeutsche Bevölkerungsteil mit den Deutschen im Blick auf eine Freiheitsbetätigung, die in den sachlichen Schutzbereich eines Deutschengrundrechts fällt, einfachgesetzlich bzw. in der Verwaltungspraxis gleichgestellt, so beruht das offensichtlich auf einer Abwägung der für eine Privilegierung der Deutschen sprechen Gründe mit Gegengründen. Dafür wäre kein Raum, wenn die Deutschenvorbehalte Regelcharakter besäßen, d.h. als definitive Festsetzungen des Inhalts zu verstehen wären, daß eine Freiheitsbetätigung im sachlichen Schutzbereich der genannten Grundrechte ausschließlich Deutschen möglich sein soll. Oder anders gewendet: Wären die Deutschenvorbehalte definitive Festsetzungen, so müßte jede Gleichstellung von Ausländern in diesem Bereich auf eine „Ausnahmeklausel" zurückgeführt werden, eine Betrachtungsweise, die nicht nur an der bisherigen Rechtspraxis vorbeigehen dürfte, sondern insbesondere auch in klarem Widerspruch zu dem für den modernen Verfassungsstaat charakteristischen Freiheitsdenken stünde: Ausgehend von dem „Verfassungsprinzip der Freiheit" werden Voraussetzungen der Freiheitsbeschränkung normiert, nicht umgekehrt. 913 Die Vorstellung ist dementsprechend nicht die, daß jede Freiheitsbetätigung eines Ausländers in dem fraglichen Bereich „Ausnahmecharakter" habe, sondern daß sie - und dies ist das unmittelbare Korrelat zu der positiv normierten Privilegierung der Deutschen - leichter als bei diesen einschränkbar sein solle. Zu den eine Freiheitsbeschränkung bei Deutschen rechtfertigenden Gründen können somit die oben bei der Analyse der Debatte im Parlamentarischen Rat bereits im einzelnen konkret benannten speziell nationalstaatlich motivierten Gründe hinzutreten. Beispielsweise können sich Berufszulassungsbeschränkungen in den Heilberufen dann nicht nur unter fachlichen Gesichtspunkten, die den Schutz der Volksgesundheit bezwecken, rechtfertigen, sondern auch dem Schutz der deutschen Heilpraktiker vor ausländischer Konkurrenz dienen. 914 Anknüpfungspunkt für die Geltendmachung dieser 913

Vgl. oben insbes. S. 87 ff., 91 f. In der bekannten Heilpraktiker-Entscheidung (E78, 179 ff.) gab das BVerfG der Verfassungsbeschwerde einer Schweizerin, die sich gegen eine Berufszugangsperre wehrte, zwar im wesentlichen statt; allerdings stützte es sich dabei auf einen Verstoß 914

300

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

vorwiegend die Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Angehörigen aktualisierenden Gründe ist folgerichtig allein die Nichtzugehörigkeit zu der staatstragenden Nation. Ob sich diese Gründe dann letztlich durchsetzen und ihnen im Rahmen einer differenzierenden, die Freiheitsbetätigung von Ausländern im Negativraum der Deutschengrundrechte stärker beschränkenden (oder im Einzelfall sogar ausschließenden) gesetzlichen Regelung Rechnung getragen wird oder nicht, ist von den konkreten Umständen des Einzelfalles in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht abhängig. Bleibt man beim Beispiel der Berufsfreiheit, so ist einerseits die Situation auf dem Arbeitsmarkt speziell bezogen auf das jeweilige Berufsfeld maßgeblich, andererseits sind aber auch gegenläufige Prinzipien und Regeln zu berücksichtigen. Die Frage ist demnach zum einen die, ob das Nationalstaatsprinzip das auf das Miteinander innerhalb des republikanischen Gemeinwesens bezogene und daher grundsätzlich alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes einschließende Prinzip der gleichen rechtlichen Freiheit 915 überspielen kann, ob also nach den Umständen des konkreten Falles eine ungleiche Freiheitsbeschränkung aus nationalstaatlich motivierten Gründen überhaupt gerechtfertigt erscheint. Wäre beispielsweise ein Konkurrenzschutz gar nicht erforderlich, da es in dem betreffenden Berufsfeld sogar noch an qualifizierten Kräften (etwa Computer-Spezialisten) fehlt, so wäre dies eindeutig zu verneinen. Zum anderen können die einer Privilegierung von Deutschen entgegenstehenden Gründe aber auch durch jene Prinzipien getragen sein, die die Öffnung des Grundgesetzes für die inter- und supranationale Zusammenarbeit zum Ausdruck bringen. Wurden Vorteile einer Privilegierung der eigenen Staatsangehörigen seit jeher gegen Argumente der Pflege der internationalen Beziehungen abgewogen und gegebenenfalls - in der Regel auf der Basis der Reziprozität eine einfachgesetzliche Gleichstellung von Ausländern einer bestimmten Nationalität mit den Inländern im Bereich bestimmter Bürgerrechte vorgenommen (sog. „national treatment"), so hat sich diese Tendenz im Zuge der Intensivierung der internationalen Kooperation und der ausgeprägten „Völkerrechtsfreundlichkeit" des Grundgesetzes noch verstärkt.

gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Vorbehalt des Gesetzes (Art. 2 I i.V.m. Art. 20 III GG) und hob gleichzeitig hervor, daß allein die Zugangssperre als solche nicht zu einer Verletzung des Art. 2 I führe, da sie mit Art. 12 I zu vereinbaren sei. Zuvor hatte bereits Zuleeg, Zur staatsrechtlichen Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: DÖV 1973, 361 ff. (368), betont, daß Art. 2 I im Unterschied zu Art. 12 I den Konkurrenzschutz nicht verbietet. 915 Vgl. dazu oben insbes. S. 87, 91 f., 109, 114 f., 124 f.

II. Nation und Nationalstaat

301

Einen qualitativen Sprung zeigt diese Entwicklung im Hinblick auf die europäische Integration: Was sich bezogen auf andere Ausländergruppen noch als Prinzipienkollision darstellt, bedarf bei Unionsbürgern längst keiner Abwägung im Einzelfall mehr, ist in vielen Bereichen (u.a. auch bei der Berufsfreiheit) im Sinne definitiver Festsetzungen916 bereits dauerhaft entschieden, und zwar zugunsten des Integrationsgedankens bzw. zu Lasten des Nationalstaatsprinzips. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. Schwieriger ist die Situation bei anderen Ausländern im Regelungsbereich der Deutschengrundrechte: Anders als bei Bürgern anderer EG-Mitgliedstaaten tritt das sich in den Deutschenvorbehalten dieser Rechte verkörpernde Nationalstaatsprinzip hier nicht in vollem Umfang zurück. Anders als bei den Staatsbürgerrechten im engeren Sinne setzt es sich aber auch nicht regelmäßig in vollem Umfang durch, ein Unterschied, der sich daraus erklärt, daß im Bereich der Freiheitsrechte eben die Freiheit des Menschen und die Rechtfertigungsbedürftigkeit jeder Freiheitsbeschränkung Ausgangspunkt der Betrachtungen ist, im Bereich der Staatsbürgerrechte jedoch die Mitgliedschaft im Staatsverband grundsätzlich als Vorbedingung für die Ausübung dieser Rechte akzeptiert ist. Mit anderen Worten: Das Prinzip der Selbstregierung über Wahlen, Abstimmungen und gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern ist - wiederum im Sinne einer definitiven Festsetzung, die keinen Raum für Abwägungen läßt - von vornherein mit dem Nationalstaatsprinzip gekoppelt; Ausnahmen werden in diesem Bereich durch „Ausnahmeklauseln" (vgl. §4 Abs. 3 S. 1 BRRG) festgelegt. 917 Im Ergebnis ist festzuhalten, daß unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten die eigentliche Herausforderung offenbar in der Behandlung der Deutschengrundrechte besteht, und zwar bezogen auf Ausländer, die keine Staatsangehörigen eines anderen EG-Mitgliedstaates sind. Diesen Fragen soll im 2. Teil nachgegangen werden. Zuvor sollen die bisherigen Überlegungen jedoch noch einmal verknüpft, die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen gezogen werden.

916

Dazu, daß aus Prinzipienkollisionen definitive Festsetzungen, also Regeln, entstehen können, s. Alexy (Fn. 159), 71 ff, bes. 83 f., auch 152 u. pass. 917 Danach können in Ausnahmefällen, in denen ein dringendes dienstliches Bedürfnis dafür besteht, abweichend von Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 auch Ausländer, die nicht Staatsangehörige eines anderen EG-Mitgliedstaates sind, Beamte werden; S.2 läßt für bestimmte Bereiche auch andere Gründe zu.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

III. Resümee: Das Nationalstaatsprinzip in einer menschenrechtlich-universalistisch fundierten Verfassung 1. Paradoxien der Zwillingsexistenz von Menschenrechtsidee und Nationalstaatsprinzip Die berühmte „Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 gibt Zeugnis von einer Zwillingsgeburt: Einerseits wird dort ausgehend von der Erfahrung, daß alles öffentliche Unglück von der Mißachtung der Menschenrechte herrühre („considérant que l'ignorance, l'oubli ou le mépris des droits de l'homme, sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des gouvernements") festgestellt, daß die Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden und es bleiben (Art. I e r ) und das Ziel jeder politischen Vereinigung die Erhaltung der natürlichen Menschenrechte sei (Art. 2), andererseits heißt es dann sofort im Anschluß in Art. 3: „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation (...)". Nicht nur die Menschenrechtsidee liegt also in der Wiege der Französischen Revolution, sondern auch ihr historischer Zwilling, die Nationalstaatsidee.918 Sowohl die französischen als auch die amerikanischen Revolutionäre können die revolutionäre Lösung aus den bisherigen Bindungen über die Idee der Menschenrechte nur rechtfertigen, indem sie sie zur Grundlage des neuen Gemeinwesens erklären. Schon in den Gründungsvorgang selbst sind somit, wie bereits mehrfach betont, Paradoxien eingelassen: Universelle Rechte werden zu einem integrierenden Moment je eigener politischer Partikularität, zur Legitimationsbasis eines sich durch die Bezugnahme auf die Idee der souveränen Nation gegen andere Nationen abgrenzenden bzw. sich als Volk eines konkreten Staates („the good people of Virginia") neben und gegen andere neu organisierenden politischen Gemeinwesens, dessen an der Zugehörigkeitsfrage orientierte Exklusionsmechanismen sie jedoch durch ihren universalistischen Inhalt wiederum unterlaufen. 919 - Und dieses Paradoxon, in dem der sich durch die feierliche Anerkennung und Positivierung der Menschenrechte als Verfassungsstaat etablierende Nationalstaat gefangen ist, bringt unweigerlich weitere Paradoxien hervor. In der Theorie konnte dem Problem zunächst dadurch die Spitze genommen werden, daß die Frage der Zugehörigkeit zu einem geschichtlich-konkreten politischen Gemeinwesen dank der perspektivischen Ausrichtung auf den aus allen historisch gewachsenen sozio-kulturellen und politischen Bindungen her9,8

Zu den aus dieser Zwillingsgeburt resultierenden Paradoxien s. insbes. Frankenberg, Menschenrechte (Fn. 133). 919 Vgl. Hofmann, Rechtsstaat (Fn. 1), 16 ff. (17).

III. Resümee

303

ausgetretenen einzelnen Menschen im politischen Denken der Moderne von Hobbes und Locke über Rousseau bis Kant entweder ausgeblendet wird oder, sofern die Pluralität der Völker wie in Kants Schrift „Zum ewigen Frieden" von 1795 doch einmal in den Blick kommt, menschenrechtliche Postulate mit der Prämisse der „Separation der Völker" verknüpft werden, basierend auf der Vorstellung, daß jeder in seinem Staat in den Genuß dieser Rechte komme. 920 Und in der politischen Praxis, in der eine selektive Realitätswahrnehmung auf Dauer kaum über sichtbare Widersprüche hinweg zu trösten vermag, konnte das Problem anfangs gerade umgekehrt dadurch entschärft werden, daß die Franzosen den (politisch definierten!) Begriff der „Nation" sehr offen faßten und (abgesehen von den seinerzeit üblichen Hürden wie Geschlecht, Zensus etc.) auch im Lande lebenden Ausländern den Zugang zum Aktivbürgerstatus offen hielten. 921 Auf diese Weise näherten sie sich der Vorstellung ihres Stammvaters Rousseau, wonach das autonome Individuum Teil der - ja gerade aus der Kollektivierung individueller Autonomie hervorgegangen - souveränen Nation ist, zumindest an. Zwar wird das Mysterium des Wandlungsprozesses zum „Kollektivwesen" der souveränen Nation dadurch nicht greifbarer; 922 doch wenigstens milderte dies den augenfälligen Widerspruch ab, der einem in Gestalt des „inländischen Ausländers", der zweifellos Mensch und doch nicht Mitglied der Nation ist, entgegentritt. Aber die französischen Revolutionäre gingen in ihrem kosmopolitischen Eifer sogar noch darüber hinaus: So ehrte die gesetzgebende Nationalversammlung per Dekret vom 26.8.1792 selbst auswärtige „Freunde der Revolution" wie Thomas Paine, Jeremy Bentham oder den deutschen Dichter Klopstock (im Blick auf die von ihm verfaßte Revolutionsode, von der er jedoch später Abstand nahm) durch die Verleihung des Titels eines „citoyen français". 923 Überspitzt formuliert sollten sich zu jener Zeit noch alle Menschen, die die in der Déclaration von 1789 verkündeten „ewigen Wahrheiten" teilten, auch als Teil der die Menschheitsideale vorantreibenden französischen Nation begreifen bzw. dort Aufnahme finden können. Schlägt das Pendel erst einmal so extrem in eine Richtung aus, so läßt die Gegenbewegung oft nicht lange auf sich warten: Die nationale Inklusion exter920

Siehe dazu im einzelnen oben unter II. 2. a) (1) (b), bes. S. 140 f. Für weitere Einzelheiten s. Portemer (Fn. 893), 535 ff, und für eine ausführliche Dokumentation der Gesetzeslage seit 1790 vgl. die vom Ministère de la Justice hgg. Textsammlung (Fn. 789), bes. 53 ff. 922 Dazu eingehend v. Kielmansegg, Volkssouveränität (Fn. 144), bes. 148 ff. (150). 923 Diese Ehre wurde 18 ausländischen Philosophen zuteil; zur Begründung hieß es in dem Décret u.a.: „Considérant que les hommes qui, par leurs écrits et par leur courage, ont servi la cause de la liberté et préparé Γ affranchisement des peuples, ne peuvent être regardés comme étrangers par une nation que ses lumières et son courage ont rendue libre"; Nachw. und Abdruck des Textes bei Portemer (Fn. 893), 542 f., Anm. 3. 921

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

ner „Freunde der Revolution" schlägt alsbald in die Exklusion interner (vermeintlicher oder wirklicher) Feinde um, die schließlich in „La grande Terreur" unter Robespierre gipfelt. Und der grenzüberschreitende Universalismus menschheitlicher Ideale, der seiner inneren Tendenz nach auf einen „Weltstaat" hinauszulaufen scheint (dem freilich schon Kant in seiner Friedensschrift eine Absage erteilte 924 ), provoziert aufgrund seiner revolutionären politischen Implikationen im labilen Gefüge der europäischen Mächte im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Koalitionskriege, die ihrerseits bei den Franzosen ein phasenweise sogar in einem xenophoben Nationalismus und entsprechenden Repressionen gegen Ausländer kulminierendes, 925 sich in jedem Fall aber ganz deutlich nach außen abgrenzendes Nationalbewußtsein wecken. Es artikuliert sich unter anderem in der 1792 als „Kriegslied der Rheinarmee" entstandenen, bei Einzug eines Marseiller Freiwilligenbataillons in Paris erstmals gesungenen Marseillaise und fördert eine die weitere Kriegsführung erst ermöglichende „levée en masse", indem es eine bis dahin undenkbare Opferbereitschaft für das eigene Vaterland („la patrie en danger") mobilisiert. Die Idee der Nation, die sich gerade noch - ungeachtet der eigentümlichen Spannung zum Prinzip individueller Autonomie - in einer relativen Nähe zur regulativen Idee von universellen Menschenrechten aufhielt, 926 wird so unversehens mit der partikulären Semantik der Liebe zum eigenen Vaterland verknüpft und auf diesen geschichtlich-konkreten Staat bezogen: Der Gedanke der Nationalstaatlichkeit inmitten einer Welt differierender Nationalismen nimmt Gestalt an. In der Folge wächst dem Institut der Staatsangehörigkeit, dessen Entwicklung von der Französischen Revolution ebenfalls entscheidende Impulse empfing, als formell definierter Mitgliedstatus und Anknüpfungspunkt der nationalstaatlichen In- und Exklusionsstrategien nach und nach die wesentliche Schlüsselposition zu. Das konturenlose „wir" der vertragstheoretischen Argumentation eines Jean-Jacques Rousseau (hinter der gleichwohl das Bild des 924

Siehe dazu oben im Text bei Fn. 417 sowie Fn. 417 selbst. Hierzu Vida Azimi, L'étranger sous la Révolution, in: La Révolution et l'ordre juridique privé: Rationalité ou scandale?, Tome II, Université D'Orléans 1988, 699 ff. (bes. 700 ff, 702 ff.); s. auch Portemer (Fn. 893), 533 (552), der jedoch die im Endeffekt für die Gleichstellung des Ausländers mit dem Franzosen und die institutionelle Verankerung dieser Gleichheit positiven Auswirkungen der Revolution betont. 926 Dazu Frankenberg, Menschenrechte (Fn. 133), 82 f, der in der Idee der Souveränität des Volkes bzw. der Nation, als deren Mitglied der einzelne „eingedacht" ist, einen Versuch der „Entparadoxierung" des Verhältnisses von Menschenrechten und Staatlichkeit sieht - allerdings um den Preis einer kollektivistischen Umdeutung des menschenrechtlichen Individualismus - und ihn mit einem zweiten „etatistischen Modell" kontrastiert, bei dem den Menschenrechten nur rhetorisch der Vorrang eingeräumt werde, tatsächlich aber der moderne Staat in Führung gehe und die „Zwangsvollstreckung des neuzeitlichen Geistes" (Isensee) übernehme. 925

III. Resümee

305

Stadtstaates Genf aufscheint, als dessen Bürger der Autor des „Gesellschaftsvertrages" zeichnet) wird solcherart in das real existierende „Pluriversum" der Staatenwelt zurückgeholt. Die schon in der Idee des menschenrechtlich fundierten Staates steckende Paradoxie, daß der Schutz der Menschenrechte dem sie potentiell bedrohenden Staat anvertraut werden muß, zeigt jetzt ihre Kehrseite: Menschenrechte sind in ihrer Verwirklichung notwendigerweise auf staatlichen Schutz angewiesen und das bedeutet konkret, daß universelle Rechte nur durch partikuläre politische Gemeinschaften garantiert werden können. Und die stellen, zumindest wenn es um grenzüberschreitende Sachverhalte wie das von H. Arendt so plastisch geschilderte Flüchtlingselend geht, unter den Bedingungen von Knappheit und weltweiter Konkurrenz um Arbeitsmärkte und Lebenschancen zunächst einmal die Zugehörigkeitsfrage. Entgegen der menschenrechtlichen Vorgabe, nach der legitimes staatliches Handeln Maß zu nehmen habe nur am „Menschen als solchen", erweist sich damit die Staatsangehörigkeit vielfach als Vorbedingung für das wirklich fundamentale Recht des Menschen: sein „Recht, Rechte zu haben" (H. Arendt), 927 bzw. korrekter (aber weniger plakativ): für die Realisierungschancen der Menschenrechte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn gegen einen menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaat von Menschen außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs seiner Verfassung - also etwa von (Armuts-/Bürgerkriegs-)Flüchtlingen oder Asylsuchenden928 - menschenrechtliche Schutzansprüche geltend gemacht werden, die zwar moralischen Druck, aber nicht aus sich heraus Rechtsansprüche erzeugen können. Innerhalb einer Verfassungsordnung, in der die Menschenrechtsidee - wie insbesondere auch im Grundgesetz - insoweit eine „Verrechtlichung" erfahren hat, als sie einerseits als legitimatorisches Prinzip dient, andererseits die Grundprinzipien menschenrechtlicher Freiheit und Gleichheit sowie deren Konkretisierungen in bestimmten Einzelrechten positiviert wurden, ist die Situation jedoch insofern eine andere, als sich hier tatsächlich jeder Mensch gleich welcher Staatsangehörigkeit - zumindest auf die bei uns grundrechtsdogmatisch als „Jedermannrechte" bezeichneten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte berufen kann. Gleichzeitig stellt sich vor diesem Hintergrund aber auch die Frage nach der Rechtfertigung der Differenzierung im Blick auf die Deutschenrechte ungleich schärfer. Unterscheidet man hinsichtlich der Menschenrechte zwischen jenen älteren vom Habeas-Corpus-Typ, die in Reaktion auf bestimmte elementare Unrechts927

H. Arendt, Herrschaft (Fn. 217), 614 u. pass. Nach Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 haben zwar alle Menschen das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen; doch steht dem, wie oben schon ausgeführt, nach ganz h.M. keine allgemeine völkerrechtliche Asylgewährungspflicht der Staaten gegenüber. 928

20 Siehr

3 0 6 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion erfahrungen (Folter, willkürliche Verhaftungen etc.) den Schutzaspekt akzentuieren, und jenen, die sich der aufklärerischen Leitidee individueller Autonomie folgend die Freiheit des Menschen auf das Banner geschrieben haben und diesen Gedanken unter unterschiedlichen Aspekten näher ausgestalten,929 so ist im Blick auf das Grundgesetz festzustellen, daß die erstgenannte Gruppe von Rechten angefangen von Art. 2 Abs. 2 S. 1 (bei Folter usw. i.V.m. Art. 1 Abs. 1) und S.2 bis hin zu den sogenannten Justizgrundrechten der Art. 101 bis 104 durchgängig als Jedermannrechte ausgestaltet sind. - Der Schutz vor staatlichem Unrecht ist in einem Rechtsstaat eben nicht disponibel, gilt absolut und das bedeutet insbesondere: unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Anders sieht es jedoch bei der zweiten Kategorie von Rechten aus: Bei den Individualfreiheitsrechten, die überwiegend eine menschenrechtliche Fassung erhalten haben, weisen die Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 GG einen Deutschenvorbehalt auf. Demgegenüber handelt es sich bei den Staatsbürgerrechten im engeren Sinne ausnahmslos um Deutschenrechte, d.h. nur Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG können Träger dieser Rechte sein. Während Ausländern bei einer Freiheitsbetätigung im Negativraum der Deutschengrundrechte nach überwiegender Auffassung, die dem Bundesverfassungsgericht in der Anwendung des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht folgt, zumindest ein Grundrechtsschutz auf niedrigerem Niveau erhalten bleibt, sind sie von den Staatsbürgerrechten im engeren Sinne somit gänzlich ausgeschlossen. In dem Versuch, die daraus entstehende Spannung zu lösen, kann man sich zunächst auf den Standpunkt stellen, daß Bürgerrechte eben keine Menschenrechte seien. Hinter diesem Satz können ganz unterschiedliche inhaltliche Aussagen stehen: Will man damit ausdrücken, daß der Staat selbst bestimmen könne, was Menschenrechte seien und was nicht, so entfernt man sich von der menschenrechtlichen Grundidee, nach der die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" (Art. 1 Abs. 2 GG) dem Staat vorgegeben, seiner Disposition also nach dem Selbstverständnis der politischen Gemeinschaft entzogen sind und gerade deshalb der Ausübung der Staatsgewalt Schranken setzen können. 930 Man könnte den Satz aber auch so verstehen, daß konkret die Rechte, denen ein Deutschenvorbehalt beigefügt wurde, keinen menschenrechtlichen Gehalt aufweisen. Dies ließe sich z.B. für die Deutschenvorbehalte des Art. 16 GG Abs. 1 und 2 GG (Verbot des Entzugs der deutschen Staatsangehörigkeit und

929 930

Zu dieser Differenzierung oben unter I. 5. a) (1). Siehe hierzu oben S. 25.

III. Resümee

307

der Auslieferung eines Deutschen) vertreten, die, wie oben ausgeführt wurde, 931 dem verfassungsneutralen angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zwischen dem modernen Staat und seinem Angehörigen entspringen und, ungeachtet der immensen praktischen Bedeutung der Staatsangehörigkeit für den Menschenrechtsschutz, konzeptionell allenfalls in einem mittelbaren Zusammenhang zur Menschenrechtsidee stehen. Denn jene Forderungen, die der einzelne nach der Kategoriebildung v. Mohls „schon als Theilnehmer an der Staatsverbindung für seine Person zu machen berechtigt" ist, worunter er vor allem das Recht der „bleibenden Theilnahme am Staate" faßt, lassen sich nicht ohne weiteres in ein Menschemecht „auf Teilnahme am Staat", genauer: an einem ganz konkreten Staat unter den vielen anderen ummünzen. Das von H. Arendt postulierte „Recht auf Rechte" oder „Recht auf Zugehörigkeit" wäre zwar tatsächlich der einzige theoretisch gangbare Ausweg aus dem menschenrechtlichen Dilemma, indem es einen Brückenschlag ermöglichte zwischen jenen natürlichen, unveräußerlichen Rechten und dem Umstand, daß sie allein innerhalb einer etablierten Staatsordnung und in vollem Umfang auch nur dann, wenn man ihr zugehörig ist, realisierbar sind. Doch scheitert ein solches Recht nicht erst an der Staatenpraxis mit ihren konkurrierenden nationalen Interessen und staatlichen Souveränitätsansprüchen. Es ist schon von der auf „den Menschen als solchen" zurückgehenden „reinen menschenrechtlichen Lehre" her nicht greifbar: 932 In ihrer Tendenz zur Abstraktion und Nivellierung aller Unterschiede kann sie die auf Differenz basierenden Merkmale, an denen die Verleihung von Staatsangehörigkeit anknüpft, nicht wahrnehmen; aufgrund ihrer Loslösung von allen Autoritäten, staatlichen und sonstigen Bindungen vermag sie die notwendige Anbindung an einen bestimmten Staat konzeptionell nicht angemessen zu erfassen. So wenig sie die menschliche Pluralität in Rechnung stellen kann, so wenig kann sie den nächsten Schritt nachvollziehen, daß es angesichts der Pluralität der Staaten nicht um „den Staat" im Singular, sondern um einen ganz konkreten Staat gehen muß. Insofern hat die im Singular gefaßte Formulierung des Art. 15 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: „Jeder Mensch hat Anspruch auf Staatsangehörigkeit", die noch ganz in diesem Denken gefangen ist, einen fast tragischen Zug, der lediglich durch die der pragmatisch-realitätsbezogenen Orientierung des Völkerrechts entsprechenden späteren Abkommen wie das zur Verminderung der Staatenlosigkeit abgemildert wird. 9 3 3 Dennoch bleibt festzuhalten, daß es ein dem Verbot des Entzugs der deutschen Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 GG) korrespondierendes Menschenrecht auf Verleihung der (deutschen oder einer

931 932 933

Vgl. oben S.291f. Zu alledem eingehend oben S. 137 und passim. Vom 30.8.1961, BGBl. 1977, II, 598.

3 0 8 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion anderen gewünschten) Staatsangehörigkeit schon deshalb nicht geben kann, weil es gerade zu den Aporien des abstrakt-universalistischen Begriffs der Menschenrechte gehört, daß er der Bedeutung der Staatsangehörigkeit für den Menschenrechtsschutz aufgrund der ihm immanenten Tendenz zur Relativierung auch der Unterscheidung von Staatsangehörigen und Ausländern 934 nicht wirklich Rechnung tragen kann. Damit ist aber lediglich klargestellt, daß es auch Deutschenrechte ohne menschenrechtlichen Gehalt gibt, die somit auch in keinem Spannungsverhältnis zur verfassungsrechtlichen Anerkennung der Menschenrechte stehen. Für die Mehrzahl der Deutschenrechte trifft nach der obigen Untersuchung jedoch genau das Gegenteil zu: Hinsichtlich der Freiheitsrechte der Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 GG wurde festgestellt, daß schon nach ihrer historischen Genese ein menschenrechtlicher Gehalt keineswegs ausgeschlossen werden kann. Zudem ergibt sich eine Spannungslage zu den in den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes positivierten menschenrechtlichen Prinzipien einerseits über den ihnen zugesprochenen Menschenwürdegehalt und andererseits auch daraus, daß ihre Deutschenvorbehalte im Widerspruch zum Gedanken gleicher menschenrechtlicher Freiheit stehen, der sich im Verfassungsstaat - in dem die (gleiche) Freiheit das Grundprinzip und jede Freiheitsbeschränkung rechtfertigungsbedürftig ist - paradoxerweise vor allem als Grundlage der Schrankensystematik manifestiert: Nur durch die gleiche Freiheit der anderen beschränkte Freiheit bedeutet, daß Beschränkungen nur aus den gleichen bzw. vergleichbaren Gründen wie bei diesen rechtfertigungsfähig sind und namentlich in Einklang mit der differenzierten, gleichwohl allgemeingültigen Ausgestaltung der jeweiligen Grundrechtsschranken und deren (rechtsschöpferischer) Konkretisierung in der Rechtsprechung stehen müssen. Dieses Grundprinzip wird mit den Deutschenvorbehalten der Art. 8, 9, 11 und 12 GG durchbrochen, da diese bei den fraglichen Freiheitsbetätigungen von Ausländern eine ungleiche Freiheitsbeschränkung aus spezifisch nationalstaatlichen Gründen ermöglichen, und zwar ungeachtet der menschenrechtlichen Fassung der Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG und der im übrigen selbstverständlich auch in Anwendung auf Ausländer geltenden Grundsätze der Schrankensystematik.

934

Sehr treffend charakterisiert dies Frankenberg, Menschenrechte (Fn. 133), 82 f, 95 (83): „Idealiter sind nun - nach Standesvorrechten, Männerherrschaft und anderen Vorrechten - auch staatsbürgerliche Privilegien hinfällig. Der im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlose Universalismus der Menschenrechte entwertet radikal jegliche auf Geburt, Tradition, Geschlecht, Stand oder Zugehörigkeit zu einem Staatsverband beruhende rechtliche Diskriminierung"; zu den Aporien der Menschenrechte schon H. Arendt, Herrschaft (Fn. 217), bes. 601 ff.

III. Resümee

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Im Bereich der Rechte des status negativus, die die Freiheit „vom Staat" gewährleisten sollen, ist die Paradoxie, die darin liegt, daß der Umfang des Schutzes dieser „natürlichen" menschenrechtlichen Freiheit von der Staatsangehörigkeit abhängig gemacht wird, vielleicht besonders augenfällig. Doch erzeugt auch der Ausschluß der Ausländer von den Rechten des status activus im Blick auf das in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte menschenrechtliche Autonomieprinzip eine (durch die Verknüpfung des Demokratie- mit dem Nationalstaatsprinzip allenfalls überlagerte) unterschwellige Spannungslage, die sich, wie oben gezeigt wurde, mit Fortdauer des Aufenthaltes verschärft. Wenn der Satz: „Bürgerrechte sind eben keine Menschenrechte" besagen soll, daß die Deutschenrechte keinen menschenrechtlichen Gehalt besitzen, ist er somit (abgesehen von wenigen Ausnahmen) nicht haltbar. Bleibt eine dritte Variante, die an die Diskussion um ein „Recht auf Zugehörigkeit" anknüpft: Ungeachtet des Umstandes, daß jene Rechte, die üblicherweise als Bürgerrechte ausgestaltet werden - insbesondere also die Aktivbürgerrechte, aber auch bestimmte Freiheitsrechte, denen nationalstaatlich motivierte Vorbehalte beigefügt werden - aus einem menschenrechtlichen Wurzelgrund erwachsen, setzen sie doch alle die Zugehörigkeit zu einem partikulären, in sich geschlossenen politischen Verband voraus. Und wenn die Zugehörigkeit zu diesem geschichtlich-konkreten Gemeinwesen selbst nicht als Menschenrecht eingefordert werden kann, so sind auch die dadurch begründeten Bürgerrechte als Mitgliedschaftsrechte keine Menschenrechte. Sie sind zwar ihrer Konzeption nach insofern universell, als sie einen menschenrechtlichen Gehalt besitzen und jedem Menschen „als Bürger" zustehen soll(t)en, doch in praxi zugleich insofern partikular, als sie nur einen beschränkten Anwendungsbereich besitzen, und vor allem auch nur einen beschränkten, mitgliedschaftlich gebundenen Kreis von Menschen berechtigen. 935 Dieses Moment der Partikularität und der Exklusivität der Bürgerrechte spielte für die aufklärerischen Denker keine Rolle, kam unter Geltung der „Separationsthese" nicht in den Blick, so daß sie insbesondere auch die darin liegende Konsequenz der Ausgrenzung Nichtberechtigter ignorieren konnten. Für sie ging es bei den Bürgerrechten nach wie vor um nichts anderes als die Rechte des Menschen, die nun aber nicht mehr in der Perspektive des status naturalis,

935

Vgl. dazu auch Koller (Fn.6), 49 ff., 53 ff. (60) sowie Fn.6 selbst, der im Blick darauf, daß Jeder Mensch als Bürger eines Staates sie unabhängig von rechtlicher Setzung gegenüber seinen Mitbürgern und gegen die staatliche Autorität besitzt" meint, daß sie insofern „trotz ihres beschränkten Anwendungsbereichs nicht partikulare, sondern universelle Rechte" seien. (Das Problem scheint hier jedoch darin zu liegen, daß - je nach Perspektive - beides zutrifft!)

310

1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

sondern in der des status civilis betrachtet werden. 936 Die Zugehörigkeit selbst schien, sofern sie überhaupt thematisiert wurde, unter diesen Prämissen nur eine Frage des eigenen Willens zu sein, wie insbesondere die Ausführungen John Lockes in seinen „Two Treatises" zeigen. 937 Löst man sich jedoch vor dem Hintergrund heutiger Mobilität im allgemeinen und dem leider wiederkehrenden Phänomen eines Massenexodus von Flüchtlingen im besonderen von der unhaltbaren Prämisse der prinzipiellen „Separation der Völker" und wendet die kontraktualistischen Theorien zur Begründung legitimer Herrschaft in dem Bewußtsein an, daß es in unserer pluralistischen Staatenwelt nur um die Exemplifikation der Gründung einer freien Republik gehen kann, die sich neben und in Abgrenzung zu anderen Staaten etabliert, so kippt die gesamte Argumentation: Wie Lüthy treffend feststellt, 938 gehört das Bürgerrecht - gerade wenn der Staat naturrechtlich als frei geschlossener Gesellschaftsvertrag verstanden wird - nicht zu den natürlichen Menschenrechten und läßt sich auch nicht aus ihnen ableiten, sondern „es ist das Recht der Kontrahenten, ein politisches Recht, das die Zugehörigkeit und prinzipiell das Bekenntnis zu einem geschlossenen politischen Verband bekräftigt". Diese Argumentation führt also nochmals zum Gründungsakt selbst zurück, den Lüthy als eine sich in der Verfassung manifestierende Selbstdefinition der Bürgerschaft einer Republik begreift, die eben weder eine abstrakte Staatsform 936

Darauf hat bes. H. Hofmann wiederholt hingewiesen; vgl. oben S. 1 f. m.w.N. Gelegentlich wird bestritten, daß es hier lediglich um unterschiedliche perspektivische Ausrichtungen geht (vgl. fürNachw. Stern, Staatsrecht III/l [Fn.2], 389 ff). Doch wird diese These auch durch andere Dokumente dieser Zeit gestützt, so etwa die von Samuel Adams im Nov. 1772 im Zusammenhang mit den von ihm ins Leben gerufenen oppositionellen „committees of correspondence" unter Berufung auf John Locke ausgearbeitete und von den versammelten Bürgern Bostons beschlossene Erklärung der „Natural Rights of the Colonists as Men (...) II. (...) as Christians (...) III. (...) as Subjects (...)", in der ebenfalls nicht an unterschiedlich große Gruppen von Individuen gedacht ist; für eine wörtliche Wiedergabe dieser in Amerika und England viel beachteten Erklärung, die in ihrem Kern bereits die knapp vier Jahre später in der Unabhängigkeitserklärung verkündeten Prinzipien enthält s. William V. Wells, The Life and Public Services of Samuel Adams, Being a Narrative of his Acts and Opinions, and of his Agency in Producing and Forwarding The American Revolution. With Extracts from his Correspondence, State Papers, and Political Essays, Vol. I, Boston 1865, second edition, Freeport/ New York, reprinted 1969, 496 ff. (502-507). 937 Hierzu oben S. 140 f. I. Maus, Demokratietheorie (Fn.582), 205, betont, daß angesichts der niedrigen Hürden für die Ausübung sämtlicher bürgerlicher Rechte einschließlich der Aktivbürgerrechte der Französischen Revolution nur ein Begriff der Nation unterstellt werden könne, der für die Beitrittserklärung eines jeden durch Willensakt offen ist. 938 Lüthy (Fn. 902), 38 f.; zustimmend H. Hofmann, Menschenwürde (Fn. 134), 117, Fn. 72.

III. Resümee

311

noch die historisch zufällig vorhandene Einwohnermasse eines Territoriums sei. Daher bestimme die Bürgerschaft einer freien Republik selbst, wer ihr angehöre und wer nicht, und konstituiere sich damit zugleich als Volk und als Staat. Damit stößt man in der Tat zum Kern des Problems vor, ohne es allerdings wirklich lösen zu können: Letztlich wird das Paradoxon, daß Rechte, die das menschenrechtliche Autonomieprinzip innerhalb einer menschenrechtlich fundierten Staatsordnung konkret umsetzen sollen und insofern zwangsläufig einen menschenrechtlichen Gehalt aufweisen, selbst in dem Sinne keine Menschenrechte sein sollen, daß sie jeden Menschen im Staate berechtigen, nur aus jener eingangs geschilderten Paradoxie des Gründungsaktes verständlich. Dieser wird nun aber nicht aus der Perspektive der universellen Rechte, auf die er rekurriert, beleuchtet, sondern aus der des sich darüber selbst hervorbringenden, zwangsläufig partikulären politischen Verbandes und der ihn tragenden Staatsbürgernation. Richtig ist: Solange es nicht um den einen „Weltstaat" geht, ist mit jedem Staatsgründungsakt in einer in eine Vielzahl selbständiger Staaten aufgeteilten Welt notwendigerweise Entscheidung, Ab- und Ausschluß sowie das Moment der Selbstdefinition in Abgrenzung zu anderen verbunden, über die sich das eigene allererst konstituiert. 939 Doch wäre es ein Fehlschluß zu glauben, durch die Hervorhebung der Partikularität und je besonderen Identität einer Staatsbürgernation oder, vertragstheoretisch gedacht, der exklusiven Stellung der Staatsbürger als „Vertragspartner" verliere sich die aus der Bezugnahme auf menschenrechtliche Prinzipien im Staatsgründungsakt und seiner periodischen Erneuerung entstehende Spannung nun ganz von selbst: Die Notwendigkeit, sie in den partikularen Lebensformen der jeweiligen Staatsnation zu verankern, kann den universalistischen Inhalt dieser Prinzipien nicht unterlaufen, der stets über die Nationalisierung ehedem menschenrechtlicher Postulate hinausdrängt. Auch das vertragstheoretische Argument kann diesem überschießenden Gehalt nicht die Spitze nehmen. Haben die Kontrahenten die Menschenrechtsidee nicht nur zur „Geschäftsgrundlage" erklärt, sondern sogar in den wesentlichen Grundzügen positiviert, so haben sie insoweit offenbar, um im Bild zu bleiben, einen (allerdings auf den räumlichen Anwendungsbereich der Verfassung begrenzten) „Vertrag zugunsten Dritter" geschlossen, an dem sie sich nun festhalten lassen müssen. Insofern sind und bleiben Menschenrechte auch innerhalb einer etablierten Staatsordnung etwas anderes als die sich wie eine Erbschaft tradierenden nationalen Rechte im Sinne Edmund Burkes, der mit seiner Kritik an der, wie er meinte, „sinnlosen Abstraktion" der Menschenrechte somit keinen späten Triumph feiert.

939

Dazu oben S. 228 mit Fn. 704.

1

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Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Umgekehrt läßt sich das Paradoxon eines menschenrechtlich fundierten Staatsgründungsaktes aber auch nicht allein auf der Linie des im Wortsinne „grenzenlosen" Universalismus der Menschenrechte lösen. Schon die konkrete Staatsgründungsabsicht spricht unter den Bedingungen notwendiger „AbGrenzung" dagegen. Zudem bringt die aus dem Staatsgründungsakt als ein (bis zu seiner Erneuerung, die die Einbeziehung weiterer Mitglieder erlaubt) geschlossener politischer Verband hervorgehende geeinte Nation als solche ein weiteres legitimatorisches Prinzip ins Spiel: die Vorstellung nämlich, daß der so konstituierte Staat sich auch daraus legitimiere, daß er ihrem Wohl diene, in einer Welt differierender Nationalismen gerade ihre Interessen vertrete. Das Nationalstaatsprinzip vermag bestimmte Beschränkungen bei Nichtmitgliedern offenbar - zumindest zeitweise - zu rechtfertigen. Auch wenn das Autonomieprinzip dies inhaltlich zu fordern scheint, hat danach insbesondere niemand das Recht, ohne weiteres in die Position der „Vertragspartner" einzurücken oder auch nur unterhalb der Schwelle einer (deren Selbstbestimmungsrecht berührenden) Mitgestaltung volle Gleichstellung mit allen Staatsbürgern zu verlangen, wie es ein auf dem Grundgedanken menschenrechtlicher Freiheit und Gleichheit basierender „Vertrag zugunsten Dritter" vielleicht nahelegte. Ist also eine „Entparadoxierung" der Zwillingsexistenz von Menschenrechtsidee und Nationalstaatlichkeit weder in die eine noch in die andere Richtung möglich, so bleibt keine andere Wahl, als die daraus resultierende Spannung zunächst einmal als gegeben zu akzeptieren und mit ihr in der bestmöglichen Weise umzugehen. Das ehrgeizige Projekt des Verfassungsstaates verlangt offenkundig nach einer Vermittlung zwischen diesen beiden Polen - eine Aufgabe, die allein der Verfassung zukommen kann.

2. Die Vermittlungsfunktion der Verfassung a) Die Stiftung von Legitimität durch zwei gegensätzliche Prinzipien Die vom Verfassungsstaat angestrebte Verbindung von Staat und Menschenrechtsidee wird anscheinend nicht nur dadurch erreicht, daß der Staat in den Dienst der Menschenrechte gestellt wird, indem sein Zweck über die Gewährleistung und den Schutz dieser Rechte bestimmt wird, die ihrerseits der Staatsgewalt Schranken setzen, sondern er wird als Staat eines konkreten Volkes auch auf den Dienst an diesem Volk, an der ihn tragenden „Staatsnation" verpflichtet. Wie oben erwähnt, wurden die Idee der Nation und die der Verfassung bereits in den allerersten Anfängen bzw. Vorläufern der nationalstaatlichen Verfassungsentwicklung in ein enges Verhältnis zueinander gesetzt, besonders prägnant bei Emer de Vattel, der die Verfassung schon in seinem Hauptwerk von

III. Resümee

313

1758 geradezu als den „Plan der Nation für ihr Streben nach dem Glück" bezeichnete.940 Stand die Bedeutung der Verfassung für die Rechte des Menschen im status civilis im vernunftrechtlichen Gedankengebäude der Aufklärer außer Frage, so tritt mit der hier postulierten Aufgabe, das Wohl (oder gar Glück) der Nation zu befördern, eine weitere Komponente hinzu, die es ebenfalls zu bedenken gilt. Die Vermittlungsfunktion der Verfassung scheint dabei in einem allgemeinen Sinne zunächst einmal darin zu bestehen, daß sie beides miteinander verknüpft. Die Legitimität des heutigen Verfassungsstaates ruht folglich auf zwei Säulen: dem menschenrechtlichen Prinzip gleicher Freiheit des autonomen Individuums einerseits, dem Nationalstaatsprinzip mit den daraus folgenden mitgliedschaftlichen Ansprüchen der einzelnen Bürger bzw. der staatstragenden Nation als ganzer gegen ihren Staat andererseits. Das erstgenannte Prinzip ist vorstaatlicher Natur und begründet den im Herrenchiemseer Entwurf zu Art. 1 Abs. 1 GG sogar noch explizit formulierten Vorrang des (eben noch nicht „Staatsangehörigen") Individuums vor dem Staat: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", hieß es dort. Das zweite setzt demgegenüber beim „Staatszustand" an und begründet die Pflicht des (National-)Staates, dem Wohl seines Volkes zu dienen, bezogen auf diese Pflichtenstellung des Staates folglich den Vorrang des eigenen Staatsvolkes vor der Sorge um das Wohlergehen anderer Staatsvölker (was selbstverständlich weder humanitäre Hilfspflichten noch die wachsende Bedeutung zwischenstaatlicher Kooperation in Abrede stellt). In dem vom Verfassungsstaat vorausgesetzten Normalfall, daß die im Staate lebenden Menschen auch seine Staatsbürger sind, stehen beide Prinzipien miteinander im Einklang: Der einzelne ist sowohl als Mensch als auch als Staatsbürger seinem Staat gegenüber berechtigt. Die Vermittlungs- und Integrationsleistung der Verfassung besteht hier zunächst darin, daß beide Prinzipien in der Verfassung in Gestalt subjektiver Rechte als Menschen- und Bürger-/ Deutschenrechte, aber auch objektivrechtlich (beispielsweise als staatliche Schutzpflichten für Leben und Gesundheit bzw. in der Eidesformeln des Art. 56 GG 9 4 1 ) Niederschlag finden. Die angestrebte Synthese von Staat und Menschenrechtsidee vollzieht sich dabei durchaus wechselbezüglich: Es wird nicht nur der Staat, genauer: die Staatsgewalt, über die Menschenrechtsidee domestiziert, sondern auch auf das Staatsvolk als konstitutives Element des Staatsbegriffs zugegriffen, und zwar einerseits über die Doktrin der Volkssouveränität und das Demokratieprinzip, das in Europa seit der Französischen Revolution mit dem Nationalstaatsprinzip gekoppelt ist, andererseits dadurch, daß die einzelnen 940 941

Oben S.286 mit Fn.880. Dazu oben S. 288.

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1. Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion

Angehörigen des Staatsvolkes die nach der aufklärerischen Philosophie dem Menschen „als Bürger" (also im status civilis) zustehenden Rechte besitzen, der Staatsangehörige sich somit zum „Staats-Bürger" wandelt. Sicherlich ist das menschenrechtliche Autonomieprinzip die treibende Kraft in diesem Transformationsprozeß, doch findet er Unterstützung in den oben skizzierten weiteren entwicklungsgeschichtlichen Bedeutungsvarianten des Bürgerbegriffs und nicht zuletzt auch in einem beim Staat ansetzenden, die Idee der Staatsmitgliedschaft im Sinne einer aktiven Gliedstellung des einzelnen im Staatsverband ausbauenden Denken, wie es etwa mit dem Namen Otto v. Gierkes verbunden wird. 9 4 2 Eine zweite, über den „nationalen Rechtsstaat" der Weimarer Republik hinausgehende und insofern gemessen am menschenrechtlichen Anspruch „höhere" Integrationsstufe wird im Verfassungsstaat überall dort erreicht, wo - unabhängig von der Staatsangehörigkeit - alle im Staat lebenden Menschen einbezogen werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn die jeweiligen Berechtigungen als Jedermannrechte ausgestaltet wurden oder die objektivrechtliche Pflichtenbindung des Staates gegenüber allen Menschen im Staate gilt. Auch in dieser Hinsicht leisten beide Prinzipien einen Integrationsbeitrag, denn letzteres trifft nicht nur für an Jedermannrechte anknüpfende objektive Schutzpflichten (insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder für Institutsgarantien (z.B. Ehe und Familie, Art. 6 Abs. 1 GG) zu. Wie oben gezeigt wurde, wollen auch keineswegs alle Bestimmungen, die im weiteren Sinne als Verkörperung des Nationalstaatsprinzips gelten können, ausländische Mitbürger ausschließen. Teilweise verwenden sie den Begriff des Volkes bzw. des Bürgers lediglich im Sinne der alten republikanischen Tradition und meinen damit alle, die an der res publica teilhaben, die sich also einerseits über Abgaben etc. an den allgemeinen Lasten beteiligen und zu deren Wohl andererseits auch jedes öffentliche Amt ausgeübt werden soll. 943 Schwierig wird es jedoch in jenen Bereichen, in denen das Nationalstaatsprinzip nicht nur auf eine Abgrenzung der res publica nach außen zielt, sondern staatsangehörigkeitsrechtliche Differenzierungen zu einem Ausschluß bzw. einer Schlechterstellung von Ausländern innerhalb der bundesrepublikanischen Ordnung führen, die Staatsbürgerschaft also im Sinne des Soziologen Brubaker zu einem „mächtigen Instrument sozialer Schließung" wird. 9 4 4 Welche im Umfeld des Prinzips der Staatsmitgliedschaft angesiedelten Gründe dahinterstehen, wurde oben im einzelnen untersucht; hier interessiert jedoch zunächst nur der Prinzipienkonflikt als solcher: Die über das Nationalstaatsprinzip im engeren Sinne vermittelte Legitimität des Staates, die daraus folgt, daß dieser dem Wohl 942 943 944

Siehe im einzelnen oben S. 220 und passim. Dazu im einzelnen oben S. 288 ff. Vgl. oben S. 132 und passim.

III. Resümee

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gerade seines Volkes zu dienen bestrebt ist, läßt sich nur auf Kosten des menschenrechtlichen Postulats der gleichen Freiheit aller realisieren. Dieser Konflikt ist unter den gegebenen Bedingungen unserer realen Welt, die die „Separationsthese" ad absurdum führen, unvermeidlich, muß jedoch insgesamt eine Ausnahmeerscheinung bleiben, wenn das Gegeneinander zweier legitimitätsstifitender Prinzipien für den Verfassungsstaat nicht zu einer inneren Zerreißprobe werden soll. Hinsichtlich der Freiheitsrechte ist der Ausnahmecharakter der Deutschenvorbehalte zweifellos zu bejahen. Allerdings bleibt auch dort zu bedenken, daß die Gewichte sich auf der Zeitschiene betrachtet verschieben, d.h. je länger ein Ausländer im Lande lebt, Steuern zahlt, als Bürger im weiteren Sinne in die res publica integriert ist, um so schwerer muß es fallen, beispielsweise Beschränkungen der Berufsfreiheit zu rechtfertigen (dazu im einzelnen im 2. Teil). Bezogen auf die Aktivbürgerrechte ist die Sachlage aber von vornherein eine andere: Die Staatsmitgliedschaft wird in diesem Bereich aus den oben erläuterten Gründen grundsätzlich als Vorbedingung für die Ausübung dieser Rechte gesehen, so daß die Frage, ob das Gegeneinander der beiden Prinzipien, auf die sich die Legitimität des Verfassungsstaates gründet, hier noch als „Ausnahmeerscheinung" gewertet werden kann, in erster Linie davon abhängt, wie die Zugangsbedingungen zur Staatsbürgerschaft ausgestaltet sind.

b) Und umgekehrt: Verfassungsrechtliche von Nation und Mitgliedschaft

Anforderungen an das Konzept im Staatsverband

Zwar gibt es, wie gezeigt wurde, kein Menschenrecht auf Verleihung der (deutschen oder einer anderen gewünschten) Staatsangehörigkeit, wohl aber besteht eine Verpflichtung derjenigen, die sich selbst menschenrechtlich gebunden haben, aus dieser Selbstbindung heraus zu prüfen, unter welchen Bedingungen sie neuen Mitgliedern Zugang gewähren können. Dies gilt auch im Blick darauf, daß die Grenzen, auf die das große Projekt des Verfassungsstaates - die Synthese von Staat und Menschenrechtsidee - stößt, die Grenzen des Mitgliedstatus sind, wie er im Staatsangehörigkeitsrecht ausgeformt ist. Die gesamte Konzeption des Verfassungsstaates geht, wie oben dargelegt, davon aus, daß die im Staat lebenden Menschen auch seine Staatsbürger seien. Nur unter dieser Prämisse finden die verschiedenen Entwicklungslinien entstammenden Konnotationen des Bürgerbegriffs, die jeweils mit weiteren im Verfassungsstaat einzulösenden Vorgaben befrachtet sind, zusammen. Das umfaßt die heute noch im Amtsprinzip aufscheinende, jeden, der an der res publica partizipiert, als Bürger im weiteren Sinne in die Gemeinwohlbindung einschließende Lesart ebenso wie aufklärerische Vorstellungen über die Rechte des Menschen im status civilis

3 1 6 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion und den Entwurf des Bürgers als Mitglied des Staates, wie ihn die bei dem Begriff des Staates ansetzende deutsche Staatsrechtslehre von Scheidemantel bis zu Gierke und Laband entwickelt hat. Der moderne Staatsangehörige ist im heutigen menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaat als Staatsbürger also im wesentlichen mit all jenen Rechten ausgestattet, die von der Antike über den mittelalterlichen Stadtbürger bis heute - angefangen von Partizipations- über Freiheitsrechte bis hin zu Schutzansprüchen gegen den modernen Staat - als Rechte des Bürgers galten. Wer hingegen die Staatsbürgerschaft nicht besitzt, wird zwar im allgemeinen als Bürger im weiteren Sinne von der Gemeinwohlbindung staatlichen Handelns profitieren, im besonderen Fall kann das Gemeinwohl des als Summe der Staatsangehörigen definierten Staatsvolkes aber auch seine Exklusion fordern. Er wird zwar in den Genuß bestimmter Menschenrechte kommen, doch mangels Staatsmitgliedschaft keineswegs alle Rechte des Menschen im status civilis ausüben können bzw. im Blick auf die besonderen Schutzansprüche der Staatsangehörigen gegen ihren Staat stärkere und insofern ungleiche Freiheitsbeschränkungen hinnehmen müssen. Menschenrechtliche und staatsbürgerliche bzw. mitgliedschaftliche Gleichheit driften an diesem Punkt auseinander, und in der Konsequenz zieht das Fehlen der Staatsbürgerschaft weitere Verwerfungen nach sich, denn nur unter ihrer Ägide kann der individualistische Denkansatz mit der Idee der Nation, das spezifisch neuzeitliche menschenrechtliche Denken mit altem republikanischem Erbe wie Gemeinwohlbindung, Amtsprinzip und Repräsentation vermittelt werden. Die Kluft zwischen Mensch und Staatsbürger erscheint nach diesem Befund nicht nur aus der Perspektive menschenrechtlicher Prinzipien, sondern auch vor dem Hintergrund des republikanischen Vermächtnisses an den Verfassungsstaat als problematisch und verlangt nach einem dem eigenen Anspruch angemessenen Konzept der Nation und einer entsprechenden Ausgestaltung des Zugangs zur „Mitgliedschaft im Staatsverband". Befragt man das Grundgesetz nach seinem Konzept der Nation, so stößt man auf einen konzeptionellen Dualismus. Wie oben im einzelnen dargelegt wurde, findet sich hier sowohl die Idee der Volks- und Kulturnation als auch die der Staatsbürgernation, 945 wobei die beiden Konzepte jeweils auf unterschiedliche Problemstellungen reagieren: Während sich die in Art. 116 Abs. 1 GG anklingende Idee der Volks- und Kulturnation im Hinblick auf das in der damaligen Präambel des Grundgesetzes verankerte Wiedervereinigungsgebot als unverzichtbar erwies, ist das sich unter anderem aus der Interpretation der Fundamentalaussagen des Grundgesetzes - und allen voran: der Menschenwürdegarantie - erschließende Konzept der Staatsbürgernation einschlägig, wenn es um

945

Hierzu und zum folg. ausführlich oben unter II. 2. c) (1).

III. Resümee

317

die internen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung der Zugangsbedingungen zur Staatsbürgerschaft geht. Drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben: Zum ersten artikuliert sich im Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG, soweit er in seiner Bedeutung als Staatsfundamental- oder auch -fundamentierungsnorm umschrieben wird, ein Gründungsvorgang, d.h. die normative Grundlegung des Staates im wechselseitigen Versprechen der Teilhaber an der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. 946 Damit ist zum zweiten der Begriff des Volkes bzw. der sich darüber und durch die weitere gemeinsame politische Praxis ihrer Bürgerinnen und Bürger hervorbringenden deutschen Nation insoweit notwendigerweise ein politischer Begriff. Dieser knüpft zum dritten ganz im Geiste des republikanischen Verständnisses der Volkssouveränität bei einem Menschenbild an, 947 nach dem das Recht der Selbstregierung auf dem Prinzip der Selbstbestimmung des einzelnen als Mensch und Bürger beruht. Aus alledem folgt, daß eine sich über die „individuellen staatsbürgerlichen Gleichheitsrechte und die Verfahren der demokratischen Legitimation der Herrschaft durch die Staatsbürger" konstituierende Staatsbürgernation 948 den Zugang zur Staatsbürgerschaft in ihrer auf das menschenrechtliche Autonomieprinzip gegründeten Republik grundsätzlich offenhalten muß. Dies fällt um so leichter, als es sich dabei ohnehin um einen zukunftsoffenen Entwurf handelt, der auch von der Vorstellung der notwendigen Erneuerung des Gründungsversprechens in einem fortlaufenden Prozeß lebt und damit prinzipiell den späteren Einschluß weiterer Mitglieder erlaubt. Dabei gilt es im Zuschnitt der Mitgliedschaftsbedingungen jedoch sowohl dem menschenrechtlichen Anspruch als auch der Partikularität geschichtlichkonkreter Staatlichkeit Rechnung zu tragen. Da Aufnahmebedingungen stets das Selbstverständnis einer Gruppe widerspiegeln (so wie auch umgekehrt gilt, daß sich jede Gruppe über ihre Grenzen beschreiben läßt), 949 erfordert diese schwierige, sich der Bundesrepublik ebenso wie allen anderen westlichen Demokratien stellende Aufgabe in einem ersten Schritt eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit dem, was die je besondere Identität der eigenen Nation ausmacht. Denn Staatsgründung aus der Idee der Menschenrechte heraus bedeutet keineswegs, daß die jeweilige Staatsbürgernation nichts anderes ist als eine „Unterabteilung der Menschheit" oder ihrem Selbstverständnis nach sein sollte. Nach der

946

Zu der besonders prägnanten Interpretation der Staatsgründungsfunktion der Menschenwürdegarantie durch H. Hofmann s. oben S. 244. 947 Dazu oben S. 250 mit Fn. 776. 948 M. R. Lepsius, vgl. oben S.237f. und pass. 949 J. Schmid, s. oben S. 228 mit Fn. 704.

3 1 8 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion oben skizzierten Position von Habermas 950 bedarf es vielmehr einer Verankerung jener universellen Prinzipien in den partikularen Lebensformen der sie umsetzenden politischen Gemeinschaft. Dies soll vor allem dadurch erreicht werden, daß dieselben universellen Rechtsprinzipien im Kontext je verschiedener nationaler Überlieferungen, historischer Umstände und durch in den jeweiligen kulturellen Lebensformen sozialisierte Staatsbürger interpretiert werden. Nach Habermas zählt die Sozialisation bezogen auf die in spezifischer Weise ausgeprägte politische Kultur (im Gegensatz zu einem weitergehenden Verlangen nach einer die kollektive Identität der Herkunftskultur berührenden kulturellen Assimilation) zu den legitimen Eintrittsbedingungen, deren Erfüllung von jedem neuen Mitbürger erwartet werden darf. Er verlangt damit in diesem Punkt mehr als etwa der Amerikaner Bruce Ackerman, 951 der lediglich eine „allgemeine staatsbürgerliche Kompetenz" voraussetzt. Und doch erscheint, wie oben ausgeführt wurde, auch das Konzept von Habermas insoweit defizitär, als es den notwendigen Schutz der relativen Stabilität des jeweiligen politisch-kulturellen Kontextes, in dem sich die gemeinsame staatsbürgerliche Praxis entfaltet, nicht hinreichend berücksichtigt. 952 Obwohl er anerkennt, daß der Horizont, vor dem Verfassungsgrundsätze interpretiert werden, durch die Zusammensetzung der aktiven Staatsbürgerschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt bestimmt wird, lehnt er, ähnlich wie Ackerman, jede auf die Integrität der Lebensform - und damit auch auf den Schutz der Grundlagen der besonderen politischen Identität der jeweiligen Staatsbürgernation - zielende normative Beschränkung des liberalen Rechts auf Einwanderung ab. Eine Ausnahme gilt allein für funktionale Beschränkungen, die sich aus den Reproduktionsbedingungen des ökonomischen und gesellschaftlichen Systems ergeben. In dieser Frage ergibt sich jedoch, wie oben dargelegt wurde, ein etwas anderer Ansatz, wenn man die unterschiedlichen rechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Zulassungsentscheidungen über Einwanderungen einerseits und Einbürgerungen andererseits vor dem Hintergrund des im Grundgesetz angelegten konzeptionellen Dualismus im Konzept der Nation näher beleuchtet. Gerade wenn man der Leitidee der Staatsbürgernation folgend meint, daß Einbürgerungen von Einwanderern innerhalb eines angemessenen Zeitraums erfolgen müssen und nicht von einem über deren „besondere staatsbürgerliche Kompetenz" hinausgehenden Assimilationsverlangen abhängig gemacht werden dürfen, aber auch um die Rückwirkungen einer veränderten Zusammensetzung der aktiven Staatsbürgerschaft auf die politische Kultur und damit auf die Identität der jeweiligen Staatsbürgernation weiß, muß es möglich sein, zu abrupten 950 951 952

Oben bes. S. 276 ff. Vgl. zu Ackerman bes. oben S. 273 ff. Hierzu im einzelnen oben S. 278 ff.

III. Resümee

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Veränderungen vorzubeugen, und zwar auch unterhalb der Schwelle einer akuten Gefährdung des Systems. Das kann aber, da man hinsichtlich der „Zweitzulassungen" an verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden ist, nur durch ein Austarieren von „Erst"- und „Zweitzulassungen" geschehen. Zwar ist ein „Menschenrechtsstaat" moralisch in der Pflicht, eine möglichst liberale Einwanderungspolitik zu betreiben, doch besteht umgekehrt kein Rechtsanspruch auf Einwanderung. „Erstzulassungen" können folglich zeitweilig verweigert werden, wenn dies zur Sicherung der relativen Stabilität der - auch in der Idee der Kulturnation angedeuteten - Rahmenbedingungen der spezifisch bundesrepublikanischen staatsbürgerlichen Praxis erforderlich erscheint. Dies rechtfertigt sich daraus, daß es gerade der politisch-kulturelle Kontext ist, der dem dynamisierten Konzept politischer Einheitsbildung die nötige Stabilität verleiht und insofern ein notwendiges Gegengewicht zum „dynamisch verstandenen Projekt der Herstellung einer Assoziation von Freien und Gleichen" bildet. Nur unter der Voraussetzung, daß hier die Balance gehalten werden kann, wird es gelingen, hinsichtlich der „Zweitzulassungen" den verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht zu werden, den Zugang zur Staatsbürgerschaft also offen zu halten. Geht es um die Aufnahmebedingungen selbst, so wäre in einem ersten Schritt zu klären, was unsere besondere politische Identität als Staatsbürgernation denn nun eigentlich ausmacht. Erst in einem zweiten Schritt geht es um Fragen der rechtstechnischen Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts, wobei es, wie oben bereits festgestellt wurde, letztlich nicht entscheidend ist, ob man sich in den Grundzügen nun stärker am Prinzip des ius sanguinis oder am Prinzip des ius soli orientiert: In der großen Mehrzahl der Fälle - den im Lande geborenen Kindern eigener Staatsangehöriger - führen sie ohnehin zum selben Ergebnis und sind insoweit „verfassungsneutral". In diesem Punkt mag man an den gewachsenen Rechtstraditionen des jeweiligen Rechtskreises festhalten. Ausschlaggebend ist im Blick auf die geschilderte verfassungsrechtliche Problematik allein, wie der Zugang zur Staatsbürgerschaft für dauerhaft in Deutschland lebende Ausländer und ihre Kinder ausgestaltet ist. In dieser Hinsicht wurde durch die am 1.1.2000 (hinsichtlich einzelner Bestimmungen bereits zuvor) in Kraft getretene Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, namentlich mit dem oben skizzierten „Optionsmodell" des neuen StAG, bereits ein erster wichtiger Schritt zu einer Modifikation und Auflockerung eines strikten ius sanguinis unternommen. Bleibt in einem letzten Schritt noch zu rekapitulieren, was nun in jenem „Interimszustand" bis zur Verleihung der Staatsbürgerschaft gilt, und was sich hier zur Rechtfertigung der Deutschenvorbehalte anführen läßt.

3 2 0 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion 3. Konsequenzen für die Bürgerrechte des Grundgesetzes a) Rechtfertigung der „nationalen Schließung" über die Deutschenvorbehalte Die Frage nach einer Rechtfertigung der Differenzierung zwischen Staatsbürgern und Ausländern läßt sich ganz grundsätzlich aus ethischer Perspektive stellen und müßte, worauf Koller zu Recht hingewiesen hat, 953 in ihrer ethischen Dimension unter den heutigen Bedingungen verstärkter Mobilität und des Zusammenwachsens in ökonomischer und ökologischer Hinsicht wohl auch noch einmal neu überdacht werden. Darum geht es hier jedoch nicht, sondern die Fragestellung ist sehr viel enger auf die dargelegten verfassungsrechtlichen Probleme bezogen und zielt speziell auf mögliche Anknüpfungspunkte für eine Rechtfertigung der verfassungsrechtlichen Deutschenvorbehalte.

(1) Die Grundpflichten des status passivus als Anknüpfungspunkt Naheliegend erscheint zunächst einmal der Gedanke, man könne vielleicht doch zu einer die skizzierte verfassungsrechtliche Spannungslage auflösenden grundlegenden Rechtfertigung der Deutschenrechte nach dem allgemeinen Muster „größere Pflichten - größere Rechte" gelangen. Mit anderen Worten: Korrespondieren nicht möglicherweise jenen Grundrechten, die als Deutschenrechte ausschließlich Deutsche berechtigen und insoweit privilegieren, auf der einen Seite, speziell den Deutschen obliegende, sie also im Vergleich zu Ausländern auch stärker belastende Grundpflichten auf der anderen Seite? Derartige Grundpflichten umschreiben nach ihrem klassischen verfassungsgeschichtlichen Profil den status passivus der Rechtsgenossen und können in Korrelation zu den individuellen Grundrechten sozusagen als spiegelbildliche Grundrechte der politischen Gemeinschaft gegenüber den Individuen aufgefaßt werden, die „den einzelnen zur Erhaltung der gemeinsamen politischen Existenz durch Auferlegung von Leistungs- respektive Unterlassungspflichten oder Duldungslasten für den Staat" in Anspruch nehmen. 954 Man muß auch gar nicht lange suchen, um auf solche regelmäßig nur Deutschen obliegenden Grundpflichten zu stoßen. An erster Stelle wird hier stets die Wehrpflicht (vgl. §§1, 2 WPflG) genannt werden; doch auch das Amt eines Schöffen kann nach § 31 GVG als Ehrenamt nur von Deutschen versehen wer-

953

Koller (Fn.6), 49ff. (50). H. Hofmann, Grundpflichten, in: Perspektiven (Fn.3), 73ff. (91); vgl. auch Götz (Fn. 889), oben S. 289. 954

III. Resümee

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den. - Und dennoch geht die einfache Rechnung, daß ein „mehr" an Rechten durch ein „mehr" an Pflichten kompensiert werde, aus den bereits verschiedentlich im Text angedeuteten Gründen nicht auf: Zum ersten handelt es sich bei dem prominenten Beispiel der Wehrpflicht (die auch nur durch einfaches Gesetz den Deutschen auferlegt wird, wobei § 2 WPflG bereits die Möglichkeit von Ausnahmen vorsieht) um nicht mehr als eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, daß Grundpflichten prinzipiell allen Bürgern obliegen. Und gemeint sind damit all jene, die die Vorteile des Gemeinwesens in Anspruch nehmen und daher auch an den Lasten seiner Organisation zu beteiligen sind. Dieser Gedanke läßt sich sowohl unter dem Gesichtspunkt der alten republikanischen Gemeinwohlbindung - Grundpflichten als „Pflichtbeiträge zum Gemeinwohl", die der einzelne als an der res publica partizipierender Bürger leistet - akzentuieren als auch unter dem die spezifisch neuzeitliche Idee der Freiheit des Individuums in den Vordergrund rückenden Aspekt, daß derjenige, der um seiner individuellen Rechte willen den Schutz des status civilis in Anspruch nimmt, auch an den Lasten der Organisation der Freiheit zu beteiligen sei. Grundpflichten sind daher, wie schon erwähnt, einerseits stets Bürger- und keine Menschenpflichten, andererseits als Bürgerpflichten in dem auf „den Menschen" im status civilis bezogenen, ursprünglichen Sinne des Begriffs auch nicht an die Staatsangehörigkeit gebunden. Sie wurzeln nicht in der Treuepflicht aller Staatsangehörigen, sondern basieren auf dem „Gegenseitigkeitsprinzip des Art. 2 Abs. 1 GG und dem Prinzip gleicher Freiheit aller, insofern damit zugleich die aus ihrer Massenhaftigkeit entspringende Organisations- und Sicherungsbedürftigkeit der Freiheit gemeint ist". 9 5 5 Sicherlich gibt es einen Restbestand an Grundpflichten, die aus historischen und funktionalen Gründen eine besondere Nähe zum Nationalstaatsprinzip im engeren Sinne aufweisen oder wegen dessen Koppelung mit dem Demokratieprinzip nur den Staatsangehörigen obliegen. Dies gilt für die im Zuge der französischen Revolutionskriege erstmals mit großem Erfolg als „vaterländische Pflicht" proklamierte Wehrpflicht ebenso wie für die aufgrund der besonderen Staatsnähe bzw. der Einbettung in die deutsche Nation angenommenen besonderen Loyalitäts- und/oder Solidaritätspflichten, wie sie etwa bei der besonderen Treuepflicht des mit hoheitlichen Aufgaben betrauten Beamten (Art. 33 Abs. 4 GG) oder bei einigen Ehrenämtern wie dem des Schöffen, Wahlhelfers oder Gemeindevertreters vorausgesetzt werden. Doch kann das angesichts des Umstandes, daß die Mehrzahl aller Grundpflichten von der allgemeinen Steuerpflicht über die Gehorsams- zur elterlichen Erziehungs- und der Schulpflicht 955

H. Hofmann, Grundpflichten, in: Perspektiven (Fn. 3), bes. 92 ff. (95); ders, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: VVDStRL 41 (1983), 42 ff; s. diesen Text auch für weitere Einzelheiten und Nachw. zum folg. 21 Siehr

3 2 2 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion allen gleichermaßen obliegen, auch die meisten Ehrenämter im engeren sozialen und im weiteren gesellschaftlichen Bereich ebenso von Ausländern übernommen werden können, kaum die Differenzierung zwischen Deutschen und Ausländern bei den Deutschenrechten rechtfertigen. Zum zweiten bestehen, und dies wiegt noch schwerer, gegenüber der Annahme, man könne ein Plus an Rechten durch ein Plus an Pflichten rechtfertigen, im Verfassungsstaat Bedenken ganz grundsätzlicher Art, und zwar aufgrund der für ihn so charakteristischen Asymmetrie im Verhältnis von Rechten und Pflichten. Selbst wenn man einmal eine numerische Entsprechung der zusätzlichen speziellen (Deutschen-)Rechte und (Deutschen-)Pflichten unterstellen wollte, steht deren substantielle Ungleichgewichtigkeit jedem „Aufwiegen" des einen mit dem anderen schon im Ansatz entgegen; der vermutete direkte Ableitungszusammenhang existiert im „Staat der Freiheit" schlicht nicht: Ist Freiheit das grundlegende Prinzip der Verfassung, ist damit zugleich - wie insbesondere im Blick auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG stets bekräftigt wird - anerkannt, daß jede rechtliche Inanspruchnahme des Menschen für ihn übersteigende letzte Güter, Ziele und Zwecke ausgeschlossen ist, so kann die Verpflichtung des Menschen „zu etwas" von Rechts wegen niemals gleichrangig neben dem kategorischen Satz über die Freiheit des Menschen stehen. Darin artikuliert sich nicht nur die grundsätzliche Freiheitsvermutung im Verfassungsstaat mit den oben schon geschilderten Konsequenzen, sondern dem Verfassungsprinzip der Freiheit 956 korrespondiert auch ein „Äußerlichwerden" des Rechts im Sinne Kants. Dabei geht es bekanntlich um eine Reduktion des Rechtsbegriffs auf das Zwangsmoment mit der Folge, daß nur derjenige im vollen Rechtssinne als verpflichtet gilt, der bei Nichterfüllung dieser Pflicht unter der Drohung staatlichen Zwangs steht; ein Problem, das oben im Zusammenhang mit den von den Kommunitaristen erneut eingeforderten „Bürgertugenden" bereits kurz gestreift wurde. 957 Von daher sind die Möglichkeiten des Verfassungsstaates (anders als bei sozialistischen Staaten), den Status seiner Bürger über Pflichten zu definieren, von vornherein sehr begrenzt: Pflichten sind im Gegensatz zum konstitutiven Begriff der Freiheit stets sekundär, bedingt, abgeleitet, werden innerhalb des Rechtssystems entfaltet und sanktioniert, bilden jedoch nicht dessen Fundament. 958 Aus diesem Grunde ist auch jeder Versuch, die besonderen Deutschen956

Siehe dazu auch Grabitz, Freiheit als Verfassungsprinzip (Fn. 177), I f f , 14ff. u.

pass.

957

Vgl. dazu oben, insbesondere S. 271 f. mit Fn. 834 und 836. Siehe zu alledem Hofinann, Grundpflichten, in: Perspektiven (Fn.3), 95-97; ders., Grundpflichten (Fn.889), in: VVDStRL 41 (1983), 56 f.; zustimmend Lorz (Fn. 138), 238 ff. (239), u.a. in Auseinandersetzung mit Otto Luchterhandt, Grundpflichten als 958

III. Resümee

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rechte über besondere Deutschenpflichten - im Sinne von Grundpflichten, die nur Deutschen obliegen - zu rechtfertigen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. 959

(2) Rechtfertigung der Deutschenvorbehalte bei Rechten des status activus im Gegensatz zum status negativus Ist eine die verfassungsrechtliche Spannungslage ein für allemal auflösende, generell-abstrakt gültige und allgemein als befriedigend empfundene Rechtfertigung der Deutschenrechte nicht möglich, so bleibt nur die Möglichkeit, nochmals getrennt nach den zwei Hauptgruppen 960 der Freiheits- und der Aktivbürgerrechte jene Gründe zusammenzutragen, die eine Ungleichbehandlung aufgrund eines Deutschenvorbehalts - bei den Rechten des status negativus jeweils im Einzelfall, bei den Rechten des status activus generell - rechtfertigen können. Wie oben gezeigt werden konnte, werden diese Gründe allesamt durch das der Menschenrechtsidee in einer bestimmten Konstellation gegenläufige, als zweites legitimatorisches Prinzip eingeführte Nationalstaatsprinzip getragen, wobei dieses allerdings nicht im Sinne eines einheitlichen Prinzips verstanden werden darf. Vielmehr stehen die einzelnen Gründe für eine Privilegierung der Deutschen bzw. eine Ungleichbehandlung von Ausländern für ganz unterschiedliche Facetten eines hochgradig synkretistischen Prinzips. So sind etwa die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte, wie die Analyse der Debatte im Parlamentarischen Rat gezeigt hat, insofern Ausdruck des Nationalstaatsprinzips, als sie in einem engen Zusammenhang mit dem substantiellen Kerngehalt der Staatsangehörigkeit stehen,961 genauer: im Zusammenhang mit

Verfassungsproblem in Deutschland, Berlin 1988. Zur Rechte- und Pflichten-Asymmetrie s. auch Götz (Fn. 889), 13 f.; erstmals in diesem Sinne Wolfgang Huber/Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte, Stuttgart/Berlin 1977, 106 ff, bes. 112 mit dem Fazit, daß Menschenrechte und auf sie bezogene Grundrechte „nicht durchgehend symmetrisch mit Pflichten korrelierbar sind". 959 Dies gilt namentlich für die Feststellung Mertens, Vereinsfreiheit (Fn. 99), Rn. 22, daß die Deutschenrechte gerechtfertigt seien, da den Staatsbürger dafür in seinem allgemeinen Gewaltverhältnis auch besondere Pflichten treffen. Vgl. allgemein dazu auch Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992, 46 ff. (56): „Bürgerpflichten (...) folgen weder aus Rechten, noch sind sie deren Voraussetzung. (...) Wehrpflicht und Sozialdienst sind mögliche Bürgerpflichten. Auch sie müssen jedoch als solche und nicht als eine Art Gegengabe für Bürgerrechte begründet werden". 960 Für sonstige, nicht diesen beiden Gruppen unterfallende Bestimmungen wie Art. 16 GG s. oben S.291 f. 961 Vgl. oben unter II. 2. a) (3) (b).

3 2 4 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion jenen Aufgaben, die der moderne Staat seinen Angehörigen gegenüber übernommen hat. In diesem noch weitgehend verfassungsneutralen Grundverhältnis 962 zwischen dem Staat und seinen Angehörigen sind sie vornehmlich als Ausfluß der staatlichen Schutzpflicht zu begreifen. Besonders deutlich ist die Absicht des Staates, seiner Pflicht zur „protection" (Hobbes) nachzukommen, bei dem als Deutschenrecht ausgestalteten Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Hier meinte man im Parlamentarischen Rat, auf eine Ausgestaltung als Menschenrecht verzichten zu müssen, da sich aus ihrer Ausdehnung auf Ausländer „Gefahren für eine ordnungsgemäße Versorgung der Inländer mit Arbeit und Brot ergeben" könnten. Und dies hielt man für so selbstverständlich, daß überhaupt nur über die Frage „Bundesangehörigen- oder Deutschenvorbehalt" gestritten wurde. Auch in der Debatte um die Fassung der Freizügigkeit thematisierte man vorrangig die in der Nachkriegszeit besonders dringlichen Probleme der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum, wobei in der Perspektive von Wohnraum als „knappem Gut" die besondere Nähebeziehung zwischen dem Staat und seinen Angehörigen als ausschlaggebendes Verteilungskriterium akzeptiert wird. Argumentiert wird also in beiden Fällen nicht in den abstraktuniversalistischen Begrifflichkeiten der Philosophie der Freiheit, sondern bodenständig-konkret unter Bezugnahme auf empirische Gegebenheiten und soziologische und ökonomische Denkkategorien. 963 Überhaupt zeigt sich, daß staatlicher Schutz in diesem Kontext, obwohl es um Vorbehalte zu Freiheitsrechten geht, nicht primär und ausschließlich auf den Schutz bestimmter Freiheitsbetätigungen gerichtet ist, sondern in einem existentiellen Sinne auf die Sicherung von Lebenschancen der Deutschen im Inland, aber auch ihrer Rechte im Ausland zielt. Letzteres gilt insbesondere für die Deutschenvorbehalte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, die den Schutz der Rechte der eigenen Angehörigen mittelbar auf der Basis der Reziprozität sichern sollen. Zusätzlich kommen bei diesen Deutschengrundrechten wohl unausgesprochen auch Gründe zum Tragen, wie sie heute etwa in §37 Abs. 1 Nr. 2 AuslG Niederschlag finden. Danach kann die politische Betätigung eines Ausländers beschränkt oder untersagt werden, soweit sie außenpolitischen Interessen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland zuwiderlaufen kann. 964 Auch derartige außenpolitisch motivierte Rücksichtnahmen dürften hinter der im Parlamentarischen Rat nur sehr knapp begründeten Fassung der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit als Deut962

Zu den Schwierigkeiten einer trennscharfen Abgrenzung s. oben S. 169. Vgl. im einzelnen oben S. 178. 964 Krit. gegenüber dieser weiten Fassung Wolfgang Rüfner, Grundrechtsträger, in: HdbStR V (Fn. 3), § 116, 485 ff., Rn. 16, der meint, daß diese Generalklausel bei verfassungskonformer restriktiver Auslegung nicht Grundlage dafür sein könne, bestimmte Meinungen von Ausländern zu verbieten; ähnlich zur a.F. Dolde (Fn. 10), 186 ff. 963

III. Resümee

325

schenrechte gestanden haben, zumal man möglicherweise glaubte, im Blick auf die demokratie-funktionale Dimension dieser Rechte hier keine allzu hohen Hürden nehmen zu müssen. Insgesamt ist somit festzuhalten, daß die Deutschenvorbehalte der Art. 8, 9, 11 und 12 GG ungeachtet gewisser Unterschiede im einzelnen allesamt im Bezugs· und Kraftfeld des verfassungsneutralen Begriffs des modernen Staates und des Prinzips der Staatsmitgliedschaft stehen. Dabei formen sie den Schutzaspekt als völkerrechtlich vorausgesetzten, aber innerstaatlich umzusetzenden materiellen Kerngehalt des Angehörigkeitsverhältnisses bezogen auf bestimmte grundrechtlich geschützte Lebensbereiche für die Mitglieder des Staatsverbandes - also die Deutschen - näher aus oder bringen spezifisch staatliche (z.B. außenpolitische) Interessen gegenüber „Nichtmitgliedern" zur Geltung. Anders sieht es bei den Staatsbürgerrechten im engeren Sinne aus: Die Deutschenvorbehalte dieser Rechte sind keine Frucht des Nationalstaatsprinzips in seiner auf den modernen Staat zugeschnittenen, noch weitgehend verfassungsneutralen Gestalt. Vielmehr sind sie von vornherein auf den Verfassungsstaat bezogen und insoweit gerade umgekehrt Konsequenz der „Nationalisierung der Verfassungsfrage", in deren Gefolge der demokratische Legitimationszusammenhang zwischen dem zum Träger aller Souveränität erhobenen Volk und der Ausübung von Staatsgewalt dann in Europa stets nationalstaatlich gedeutet wurde. Inhaltlich umschreiben sie jene Rechtspositionen, die die Mitgliedschaft im Verfassungsstaat im Verein mit den Grundrechten zur Staatsbürgerschaft im eigentlichen Sinne werden lassen. Und in ihrer Begrenzung auf Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG stehen sie für die seit der Französischen Revolution übliche, oben näher beleuchtete Koppelung des Demokratie- mit dem Nationalstaatsprinzip. Dabei gewinnt der Begriff des Nationalstaatsprinzips in diesem Kontext aber eine neue Färbung, einen neuen Klang: Es geht um den politischen Begriff der Nation, um das staatlich geeinte Volk als Träger der Souveränität, um die verfassunggebende Gewalt des Volkes. Und hat sich der pouvoir constituant erst betätigt, so ist das aus der Proklamation individueller Autonomie folgende Recht auf Selbstregierung bzw. Herrschaftsteilhabe fortan innerhalb der auf der Basis der Verfassung eingerichteten Institutionen, Verfahren und Partizipationsrechte situiert und dadurch in den Zusammenhang von Verfassung und verfassunggebender Gewalt des Volkes eingebunden. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus folgerichtig, die Zugehörigkeit zum Staatsvolk bzw. zur staatlich geeinten Nation als Vorbedingung für die Ausübung der politischen Mitwirkungs- und Teilhaberechte zu begreifen: Das prinzipiell die Selbstregierung des einzelnen verlangende Demokratieprinzip wird innerhalb eines geschlossenen politischen Verbandes ausgeübt, in dem die vielen einzelnen durch den Begriff der Nation verklammert sind, ihre politi-

3 2 6 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion sehen Rechte gemeinsam ausüben. Auch wenn die durch den Ausschluß von Nichtmitgliedern gegebene Spannung zum ebenfalls in der Verfassung positivierten menschenrechtlichen Autonomieprinzip unterschwellig fortbesteht und sich mit zunehmendem Zeitablauf sogar verstärkt, drängt sie im Sinne einer systemkonformen Auflösung allein auf die Verleihung der Mitgliedschaft - und zwar innerhalb einer angemessenen Zeitspanne - hin. Sie rüttelt jedoch nicht an dem Nexus zwischen Staatsmitgliedschaft und Ausübung der Rechte des status activus, in dem der einzelne, wie es nach überkommener Lehre heißt, „seine Freiheit im und für den Staat" betätigt. Die nationalen Vorbehalte der Aktivbürgerrechte lassen sich somit in anderer Weise rechtfertigen als die der Deutschengrundrechte - dies jedenfalls solange, wie die Verknüpfung des Demokratie- mit dem Nationalstaatsprinzip nicht in Frage gestellt wird. Wo sich diese keineswegs logisch zwingende, sondern historisch bedingte Verbindung hingegen lockert, das Nationalstaatsprinzip zumindest graduell an Kraft und innerer Berechtigung verliert, können demokratische Mitwirkungs- und Teilhaberechte unabhängig von der Zugehörigkeit zu Staat und Nation ausgeübt werden: Das den Staatsangehörigen anderer EGMitgliedstaaten zustehende Kommunalwahlrecht (Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG) ist hier beredtes Beispiel.

b) Die Deutschenvorbehalte der Rechte des status negativus zwischen dem menschenrechtlichen Postulat gleicher Freiheit und „ nationaler Schließung " Aus alledem folgt, daß unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten die eigentliche Herausforderung in der Behandlung der Deutschengrundrechte, also der Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 GG, besteht: Hier zeigt sich der Konflikt zwischen dem in der Verfassung positivierten menschenrechtlichen Prinzip der gleichen Freiheit aller und dem Nationalstaatsprinzip (im engeren Sinne) in aller Schärfe, zumindest wenn man die Situation von Unionsbürgern zunächst ausblendet.965 Und dieser Konflikt ist, anders als bei den Aktivbürgerrechten, auch nicht aufgrund historisch bedingter Weichenstellungen bis auf weiteres entschieden, sondern bleibt auf der Prinzipienebene im Sinne einer bloßen Möglichkeit oder „Eingriffsreserve" 966 in der Schwebe, so daß die Entscheidung im konkreten Einzelfall erfolgen muß. Um nochmals kurz zu resümieren, was den Kern des Problems ausmacht: Die Rechte des status negativus, die die Freiheit des Individuums „vom Staat" durch 965

Sie wird, da die Situation hier eine ganz andere ist, in einem eigenen Abschnitt, und zwar im 3. Teil der Arbeit, erörtert. 966 Diese Begriffsprägung geht auf Isensee, Ausländer (Fn. 14), 81, zurück.

III. Resümee

327

rein negatorische Ansprüche sichern und daher theoretisch von keinen weiteren Voraussetzungen und insbesondere auch nicht von der Staatsangehörigkeit abhängen, da es hier doch gerade um die Sicherung einer „staatsfreien Sphäre" gehen soll, sind schon ihrer Struktur nach kaum mit nationalen Vorbehalten in Einklang zu bringen. Erklären läßt sich dieser gegenüber den (versteckten) Implikationen der Jellinek'sehen Statuslehre entstehende Widerspruch nur dadurch, daß der Verfassungsstaat eben von dem Normalfall her konzipiert ist, daß die in ihm lebenden Menschen auch seine Staatsbürger sind. Von diesem Normalfall ausgehend wurde das Problem zunächst gar nicht wahrgenommen. Teile der Weimarer Staatsrechtslehre vertraten dann jedoch, wie oben ausgeführt wurde, tatsächlich die Auffassung, daß diejenigen Grundrechte, deren Ausübung nicht von der deutschen Staatsangehörigkeit abhänge, trotz des entgegenstehenden Wortlauts der Weimarer Reichsverfassung, die fast nur Deutschengrundrechte kannte, als Menschenrechte zu qualifizieren seien. 967 Mit Anerkennung des Verfassungsprinzips der Freiheit gewinnen diese Überlegungen eine noch breitere Grundlage und grundsätzlichere Bedeutung: Sind nicht nur diese oder jene Einzelfreiheiten gewährleistet, die sich dann auch nach Art feudalistischer Privilegien auf verschiedene Gruppen - die Staatsangehörigen auf der einen, in unterschiedlicher Weise berechtigte Ausländergruppen auf der anderen Seite - in ungleicher Weise verteilen ließen, sondern ist die (im Verhältnis zur Freiheit der anderen gleiche) Freiheit des einzelnen das Prinzip der Konstitution, so löst jede ungleiche Freiheitsbeschränkung einen besonderen Rechtfertigungsdruck aus. Die mit den Deutschenvorbehalten der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit und der Berufsfreiheit bezweckte Privilegierung der eigenen Staatsangehörigen bzw. der Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG bewirkt, sobald davon durch eine stärkere Beschränkung der entsprechenden Freiheitsbetätigungen bei Ausländern Gebrauch gemacht wird, zwangsläufig eine Durchbrechung des Prinzips gleicher Freiheit aller. Dies läßt sich sowohl unter dem Freiheits- als auch unter dem (darauf bezogenen) Gleichheitsaspekt betrachten: Was aus der Sicht des einen eine ungleiche Freiheitsbeschränkung darstellt, ist aus der Sicht des anderen eine dem menschenrechtlichen Gleichheitssatz widersprechende Privilegierung; und doch sind dies nur zwei Seiten derselben Medaille. 968 Anders als unter der Weimarer Reichsverfassung ist es auch nicht mehr möglich, dem durch ein betont „nationales" Verständnis des Rechtsstaates zu begegnen: Der Grundsatz der gleichen Freiheit aller, der auch Dreh- und Angelpunkt der gesamten Schrankensystematik ist, schließt ausweislich der menschenrechtlichen Fassung der ersten drei Artikel des Grundgesetzes prinzipiell 967 968

Dazu oben unter I. 5. b) (1) (a). Hierzu oben insbes. S. 187 und passim.

3 2 8 1 . Teil: Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Exklusion alle Menschen ein, Deutsche ebenso wie Ausländer im Geltungsbereich des Grundgesetzes. So bleibt dem einfachen Gesetzgeber bzw. der Verwaltung gar keine andere Wahl, als sich dem Problem zu stellen und die Rechtfertigung der - vor dem Hintergrund der Deutschengrundrechte ungleichen - Freiheitsbeschränkung eines Ausländers jeweils bezogen auf bestimmte Einzelfragen bzw. im konkreten Einzelfall zu leisten. Daß dies prinzipiell möglich sein soll und muß, zeigen die den Freiheitsrechten der Art. 8, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 GG bewußt beigefugten nationalen Vorbehalte, die sich auch als Ausdruck des dem Nationalstaatsprinzip inhärenten und in unterschiedlichem Grade erfüllbaren Gebots verstehen lassen, das Wohl der deutschen Nation zu optimieren, und zwar in diesem Fall (anders als etwa bei der Eidesformel des Art. 56 GG) ganz gezielt unter Ausschluß derjenigen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind. Die Staatsbürgerschaft bzw. die Zugehörigkeit zur deutschen Nation fungiert hier also tatsächlich in dem von Brubaker umschriebenen Sinne als „ein mächtiges Instrument sozialer Schließung", 969 das nach innen einschließend, nach außen, d.h. gegenüber Nichtmitgliedern, jedoch ausschließend wirken kann. An diesem Punkt löst sich die mitgliedschaftliche von der menschenrechtlichen Gleichheit ab und findet innerhalb derselben verfassungsrechtlichen Binnenordnung auf einen kleineren Kreis von Rechtsträgern Anwendung. Und eben dieser unter den gegebenen Bedingungen unvermeidbare Konflikt zwischen allgemeiner Menschengleichheit und staatsbürgerlicher (mitgliedschaftlicher) Gleichheit markiert den neuralgischen Punkt der Verbindung von Mitgliedschaft und Menschenrechten im Verfassungsstaat. Nun fragt sich vor diesem Hintergrund, wie die Spannung zwischen dem menschenrechtlichen Prinzip der gleichen Freiheit aller, das sich doch „an sich" auch auf die in den Deutschengrundrechten konkretisierten Freiheitsbetätigungen erstreckt, auf der einen Seite und dem sich in den nationalen Vorbehalten dieser Rechte verkörpernden Nationalstaatsprinzip auf der anderen Seite im konkreten Einzelfall aufgelöst, wie zwischen den beiden legitimatorischen Prinzipien vermittelt werden kann. Was soll normativer Anknüpfungspunkt und Maßstab der Prüfung sein? Sollte man trotz des entgegenstehenden Wortlauts bei den Deutschengrundrechten selbst ansetzen oder bei Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht? Auch Art. 1 Abs. 1 GG oder Art. 3 Abs. 1 GG werden in diesem Zusammenhang genannt. Und geht es inhaltlich um die Berufung auf den Menschenwürdegehalt bzw. den menschenrechtlichen Kern der jeweiligen Deutschengrundrechte oder ganz allgemein um Verhältnismäßigkeit? Diesen und anderen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden, wobei zunächst die bisherigen Lösungsansätze skizziert und dann ein eigener Ansatz begründet werden soll. 969

Oben S. 132 und passim.

Zweiter Teil

Die rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte (Art. 8, 9 Abs. 1,11 und 12 Abs. 1 GG) I. Die bislang vertretenen Auffassungen Nach der bisherigen Untersuchung dürfte klar sein, daß bezogen auf die Frage nach der rechtsdogmatischen Behandlung der Deutschengrundrechte zwei extreme Standpunkte von vornherein ausgeschieden werden können. Dabei wird der eine so heute ohnehin nicht mehr vertreten: Brinkmann hatte in seiner Kommentierung der Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG die Deutschenvorbehalte dieser Grundrechte rundheraus als „nicht haltbar" abgelehnt, da sie weder mit Art. 1 Abs. 1 noch mit Art. 3 Abs. 3 GG vereinbar seien.1 Darüber hinaus hatte er damals unter anderem argumentiert, daß für den Ausschluß aller Nichtdeutschen „kein hinreichender Grund" bestehe bzw. die angegebenen Gründe „außerhalb der Sache liegen" und, nachdem anders als in der Weimarer Reichsverfassung viele andere Grundrechte nicht mehr den Deutschen vorbehalten seien, „außerdem noch die Färbung einer zufälligen Regelung tragen". 2 Zwar ist Brinkmann zuzugeben, daß die für die Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft dieser Rechte auf Deutsche angegebenen Gründe, wie die Analyse der Debatte im Parlamentarischen Rat gezeigt hat, tatsächlich auf einer völlig anderen Ebene als das im übrigen die Arbeit am Grundrechtskatalog prägende Freiheitsdenken liegen, doch übersieht er, daß die bewußt auf bestimmte Bereiche beschränkte Privilegierung der Deutschen - oder umgekehrt: die von ihm kritisierten weiterreichenden Einschränkungsmöglichkeiten bei Ausländern - Ausdruck eines ebenfalls im Grundgesetz verankerten, oben als „Nationalstaatsprinzip" bezeichneten gegenläufigen Prinzips sind. Sie sind also 1

Brinkmann (Hg.), Grundrechts-Kommentar zum GG ( 1. Teil, Fn.38), ausführlich Anm. 1. a) zu Art. 8 Abs. 1, s. aber auch Anm. 1. a) zu Art. 9 Abs. 1 ; Anm. 1. a) zu Art. 11 Abs. 1; Anm. 1. a) zu Art. 12 Abs. 1; vgl. auch Anm. 5. a) ß) zu Art. 16 Abs. 2. 2 AaO, Anm. 1. a) ß) zu Art. 8 Abs. 1, vgl. auch Anm. 1. a) ß) zu Art.9 Abs. 1; Anm. 1. a) ß) zu Art. 11 Abs. 1; Anm. 1. a) ß) zu Art. 12 Abs. 1.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

keineswegs zufällig, sondern akzentuieren bezogen auf bestimmte Bereiche, in denen der Verfassunggeber dies fur notwendig erachtete, die Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Angehörigen, 3 indem sie verfassungsrechtlich deren einfachgesetzliche Besserstellung erlauben (jedoch nicht vorschreiben). Darüber hinaus ermöglichen sie teilweise auch zugunsten spezifisch staatlicher Interessen weiterreichende Einschränkungen der entsprechenden Freiheitsbetätigungen von Ausländern, so beispielsweise im Hinblick auf eine den sachlichen Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 GG berührende politische Betätigung von Ausländern, die unter Umständen außenpolitische Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigen könnte. Dies liegt gegenüber dem menschenrechtlichen Prinzip gleicher Freiheit aller zweifellos quer, erzeugt, wie ausführlich dargelegt wurde, eine verfassungsrechtliche Spannungslage, und doch müssen die Deutschenvorbehalte zunächst einmal als bewußte und gewollte Entscheidung des Verfassunggebers akzeptiert und ernst genommen werden. 4 Der Fehler von Brinkmanns Ansatz liegt also nicht etwa darin, daß er Schwierigkeiten hat, die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 GG in Einklang zu bringen, sondern darin, daß er aufgrund einer eindimensionalen Sicht des Verfassungsrechts nicht in der Lage ist, beide Pole wahrzunehmen. Dadurch gelangt er zur Annahme der „Unhaltbarkeit" - was rechtstechnisch ja wohl mit Nichtigkeit übersetzt werden müßte - der Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft auf Deutsche und gerät so (ohne dies selbst auszusprechen) in das gefährliche Fahrwasser von ursprünglich „verfassungswidrigem Verfassungsrecht", 5 eine Figur die heute zu Recht nahezu einhellig abgelehnt wird. Aber auch die gegenteilige Auffassung, wonach hinsichtlich der Deutschengrundrechte gar kein Problem bestehen, Harmonisierungsversuche also überflüssig sein sollen, kann nicht überzeugen. So heißt es etwa, daß die Deutschengrundrechte „nicht nur unbedenklich, sondern auch gerechtfertigt" seien, weil den Staatsbürger „dafür in seinem ,allgemeinen Gewaltverhältnis 4 auch besondere Pflichten treffen". Daher könne an Deutschenrechten „nur sentimentalverschwommene Mitmenschlichkeits- und Brüderlichkeitsideologie Anstoß nehmen".6 Wie oben dargelegt wurde, greift die Vorstellung, daß man die Deutschenrechte über die besonderen Pflichten der Deutschen aus dem „allgemeinen Gewaltverhältnis" generell rechtfertigen könne, aber zu kurz, denn zum einen obliegen eine ganze Reihe von Grundpflichten auch den ausländischen Mitbür3

Dieser Gedanke klingt bei Brinkmann, aaO, Anm. 1. a) ß) zu Art. 12 Abs. 1, auch einmal an, wird dann jedoch nicht weiterverfolgt. 4 So - gegen Brinkmann - auch Sachs, Ausländergrundrechte ( 1. Teil, Fn. 2), 3 86. 5 Dazu oben 1. Teil, Fn. 50. 6 Merten, Vereinsfreiheit ( 1. Teil, Fn. 99), Rn. 22.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

331

gern. Zum anderen basiert sie auf der Prämisse, daß Rechte und Pflichten gleichgewichtig seien, während für jede Verfassung der Freiheit gerade die Asymmetrie von Rechten und Pflichten charakteristisch ist.7 In einem allgemeinen Sinne ist die Differenzierung zwischen Deutschen und Ausländern im Bereich der Deutschengrundrechte daher nur als Ausdruck der Janusköpfigkeit des menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaates zu verstehen, der sich zugleich als Nationalstaat in einer in eine Vielzahl von Staaten aufgeteilten Welt etabliert hat. Doch ist dies etwas ganz anderes als eine alles „ein für allemal" klärende Rechtfertigung. Das Streben nach einer Synthese von Staat und Menschenrechtsidee im Verfassungsstaat läßt beides dort, wo die Auflösung über staatlich gewährleistete Jedermannrechte im Grundrechtsbereich dem Verfassunggeber nicht möglich oder ratsam erschien, auf der Prinzipienebene im Sinne einer mit den Deutschenvorbehalten gegebenen bloßen „Eingriffsreserve" 8 (nicht des definitiven Ausschlusses von bestimmten Freiheitsbetätigungen) in der Schwebe, so daß die - von Verfassungs wegen mögliche - Rechtfertigung der weitergehenden Freiheitsbeschränkung von Ausländern im sachlichen Schutzbereich von Deutschengrundrechten stets im konkreten Einzelfall aufgegeben bleibt. Es geht folglich nicht um ein moralisch empörtes „Anstoßnehmen", sondern um die Ermittlung der dabei zu erfüllenden rechtlichen Anforderungen sowie des rechtsdogmatisch überzeugendsten Ansatzpunktes. Wer aber auf der Basis der (oben im 1. Teil unter I. ausführlich behandelten und im Ergebnis widerlegten) oft unausgesprochenen Vorstellung von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- und Deutschengrundrechten jeden Harmonisierungsversuch für überflüssig hält 9 und meint, die Deutschengrundrechte seien eben Ausdruck einer bewußten Beschränkung und den Ausländern insoweit folglich durch die Verfassung gerade kein Grundrechtsschutz gewährt, 10 verfehlt diese Aufgabe schon im Ansatz. 7

Dazu oben S. 322 f. m.w.N. Zum Begriff s. Isensee, Ausländer ( 1. Teil, Fn. 14), 81. 9 So insbesondere die ältere Literatur vor der noch zu erörternden Leitentscheidung des BVerfG vom 18.7.1973, E35, 382 (399); bestätigt in E49, 168 (180f.); bes. auch E 78, 179 (196 f.); s. auch 3. Kammer des 2. Senats, in: NVwZ 1990, 853. 10 Zur älteren Lit. vor 1972, in der dies h.M. war, s. die zahlreichen Nachw. bei Dolde (1. Teil, Fn. 10), 45 f., in Fn. 1. Die Stellungnahmen in der jüngeren Lit. sind i.d.R. differenzierter; vgl. etwa Hans-Uwe Erichsen, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: HdbStR VI, § 152, 1185 ff., Rn. 47 ff., Rn. 49, der zwar aus der Existenz von Jedermanngrundrechten ableitet, „daß im Falle der Bürgerrechte eine negative Regelung zu Lasten des Grundrechtsschutzes von Ausländern vorliegt, die einen Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 generell ausschließt", aber ausdrücklich den Schutz eines Menschenrechtskerns befürwortet; etwas anders Kay Hailbronner, Ausländerrecht und Verfassung, in: NJW 1983, 2105 ff. (2110 ff.); Albert v. Mutius, Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG, in: Jura 1988, 30 (33); dagegen Kunig, in: v. Münch /ders., GGK I, 4. Aufl., Rn. 7 zu Art. 8. 8

332

2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Allerdings ist es wohl häufig auch nur so, daß mangelndes Problembewußtsein hinsichtlich der grundsätzlichen Problematik der Differenzierung zwischen Menschen- und Bürgerrechten einerseits, die Selbstverständlichkeit, mit der bestimmte Fragen heute grundrechtsdogmatisch gehandhabt werden, andererseits dazu führen, daß die inneren Harmonisierungstendenzen bestimmter Lösungswege gar nicht mehr als solche wahrgenommen werden. So zeigt sich etwa bei näherem Hinsehen, daß die oben zitierte Kritik Mertens sich lediglich gegen die, wie er meint, die klare Verfassungsaussage des Art. 9 Abs. 1 GG trübende Feststellung des Bundesverfassungsgerichts richtet, daß (auch) der Vereinigungsfreiheit ein „menschenrechtlicher Gehalt" zukomme. Merten will dann aber für einen Grundrechtsschutz von Ausländern in diesem Bereich - nun mit dem Bundesverfassungsgericht - auf die „Lückenfunktion" des Art. 2 Abs. 1 GG zurückgreifen. 11 Dies ist jedoch ein Vorschlag, der sich durchaus im Sinne eines Harmonisierungsbestrebens deuten läßt, denn er wäre völlig überflüssig, wenn man die unterschwellig noch vielfach vorhandene Vorstellung von einem spannungsfreien Nebeneinander von Menschen- und Deutschenrechten auch rechtsdogmatisch konsequent durchziehen wollte, da man dann davon ausgehen müßte, daß überhaupt keine „Lücke" existiert. Wie aber kommt man ohne das Bewußtsein einer „Lücke" zu einer Schließung derselben? Doch wohl nur unter der Voraussetzung, daß sich die Problemlösung längst „vom Problem gelöst" hat. Mit anderen Worten: Hat sich eine höchstrichterliche Judikatur erst einmal so weitgehend verfestigt, daß sie, wie das seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1973, spätestens jedoch seit seinem Beschluß aus dem Jahre 1988 der Fall ist, als Ausdruck des „rechtstatsächlichen Grundrechtsstatus des Ausländers" überNoch weitergehend Doehring, der über Art. 25 GG, der dem (hinter den grundrechtlichen Regelungen weit zurückbleibenden) völkerrechtlich gültigen fremdenrechtlichen Mindeststandard Verfassungsrang verleihe, sogar Differenzierungen im Bereich der Jedermannrechte bis zur Grenze des Mindeststandards für zulässig hält, vgl. Ausländer (1.Teil, Fn. 113), 38 ff. (41 f.) u. pass, mit Ls., bes. Ls.4.-8., 13., 21., 22., 23. sowie seine Replik in der Diskussion (112 f., 126, 135 f.); zust. Oppermann, ebd., 129; dagegen zu Recht Kewenig, ebd., 108; Zuleeg, ebd., 111; Tomuschat, ebd., 121; krit., da das völkerrechtliche Fremdenrecht nicht auf das heutige Problem dauerhaft ansässiger Gastarbeiter zugeschnitten sei, auch Böckenförde, ebd., 134. 11 Vgl. Merten, Vereinsfreiheit (1. Teil, Fn.99), Rn.23f., der seine Kritik gegen BVerfGE 50, 290 (353) richtet, dann aber in Fn. 61 für den Weg über Art. 2 I GG selbst auf das BVerfG verweist. Spätestens seit dem Beschluß v. 10.5.1988, BVerfGE 78, 179 (196 f.), mit dem es seinefrüheren Entscheidungen (E35, 382 [399]; E38, 52 [57]; s. aber auch E49, 168 ff. [180f.]; E50, 166 [173]) bestätigt hat, darf dies wohl als ganz h.M. bezeichnet werden. Merten selbst hatte sich schon frühzeitig für diese Lösung eingesetzt; vgl. etwa ders., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: JuS 1976, 345 ff., bes. 350 f.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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wiegend akzeptiert ist, so werden keine kritischen Fragen zum Hintergrund und zur Überzeugungskraft dieser Lösung mehr gestellt.12 Schreitet der Prozeß noch weiter fort, verliert sich sogar das Gefühl dafür, daß es da einmal ein Problem gab, für das einst mit einer gewissen Berechtigung verschiedene Lösungen angeboten wurden. 13 Im folgenden sollen sie im Sinne der „Dekonstruktion des Selbstverständlichen", die stets zu den Aufgaben der Wissenschaft zählte, 14 nochmals aufgerollt und auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft werden.

1. Versuch der Harmonisierung über die Lehre vom Menschenrechtskern oder Menschenwürdegehalt der Deutschengrundrechte a) Der Problemhorizont Ein Teil der Literatur sieht in der Beschränkung bestimmter Grundrechte auf Deutsche - je nach Standpunkt: allein oder insbesondere dann - ein Problem, soweit die „Deutschenrechte Menschenrechtsgehalt haben oder zwingend aus dem Schutz der Menschenwürde fließen". 15 Bachof formulierte den Konflikt bezogen auf die den Deutschen gemäß Art. 12 Abs. 1 GG vorbehaltene Berufsfreiheit einst so, daß „ein ,vorstaatliches', aber gleichwohl einer bestimmten Gruppe von Menschen vorenthaltenes Recht (...) nicht gut denkbar" sei. Doch löse sich der scheinbare Widerspruch, wenn man erkenne, daß „bei weitem 12 So Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 130 a.E., der allerdings gleichzeitig „rechtsdogmatische Bedenken" äußert. Wenig kritisch geht selbst die eigens diesem Thema gewidmete Monographie von Jörg Hofmann (l.Teil, Fn. 100) mit diesem Lösungsweg um. 13 Im Gegensatz zu der bei Dolde (l.Teil, Fn. 10), 45, Fn. 1, angegebenen älteren Lit., der es an einem entsprechenden Problembewußtsein fehlte, nahmen u.a. Bachof und Dürig das Problem wahr und boten dafür Lösungen an (dazu gleich). Auch Zuleeg wies in mehreren Beiträgen auf die Problematik hin, vgl. u.a. Freizügigkeit (l.Teil, Fn. 696); ders., Ausländer (l.Teil, Fn.914); ders., Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 341 ff.; s. aus der jüngeren Lit. Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 385, und im Blick auf die Grundsatzfrage der Differenzierung zwischen Menschen- und Bürgerrechten Koller (l.Teil, Fn.6). 14 Siehe dazu Rudolf Stichweh, Universitätsmitglieder als Fremde in spätmittelalterlichen undfrühmodernen europäischen Gesellschaften, in: M. T. Fögen (Hg.), Fremde (1. Teil, Fn. 704), 169 ff. (169): „Wissenschaft ist eine Ausdifferenzierung der Perspektive des Fremden. Sie hängt davon ab, daß es gelingt, Selbstverständliches und lange Vertrautes so zu sehen, als sei es völlig unwahrscheinlich und letztlich unverständlich". Und weiter auf S. 170: „Die eigene wissenschaftliche Leistung ist, das immer schon als vertraut Erfahrene in einen Modus der Fremdheit zu versetzen". 15 Vgl. etwa Starck, Das Bonner Grundgesetz. Bd. 1, 3. Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn.31 zu Art. 2 I; vgl. auch 4. Aufl. ( 1. Teil, Fn. 91 ), Rn. 44 zu Art. 2 I.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

nicht der gesamte Bereich menschlicher Handlungsfreiheit und insbesondere auch nicht der gesamte Bereich der Berufsfreiheit" an der „Menschenrechtsqualität" teilhabe, sondern „nur insoweit, als diese Freiheiten der Wahrung der als oberster Wert anerkannten Menschenwürde dienen. Wenn und soweit die menschliche Freiheit darüber hinaus durch ein auf staatlicher Setzung beruhendes Grundrecht" geschützt werde, könne „solche zusätzliche Gewährung" unbedenklich auf Angehörige des eigenen Staates beschränkt werden. 16 Wird das Problem in dieser Weise bestimmt, scheint die Lösung auf der Hand zu liegen: Bachof kommt, von seinem Ansatz her folgerichtig, zu dem Schluß, „daß die Beschränkung auf Deutsche dort haltmachen muß, wo die Verweigerung beruflicher Betätigung der Menschenwürde zuwiderliefe". Dies wäre nach seiner Ansicht beispielsweise dann der Fall, wenn man einem asylberechtigten Nichtdeutschen jegliche Berufsarbeit verwehren und ihn für seinen Lebensunterhalt auf die staatliche Fürsorge verweisen wollte, denn dadurch würde er „zum Objekt staatlicher Wohltätigkeit degradiert und seiner Personenwürde entkleidet". 17 Demgegenüber hielten andere Autoren der fünfziger Jahre bereits eine Beschränkung auf einfache Handarbeit für unvereinbar mit dem „naturrechtlichen Kernbestand" des Art. 12 Abs. 1 GG. 18 Auf die sich in dieser Diskrepanz schon andeutende Schwierigkeit, den Menschenrechtskern oder Menschenwürdegehalt der Deutschengrundrechte möglichst präzise und zugleich in nachvollziehbarer Weise zu bestimmen, wird noch einmal zurückzukommen sein. Zunächst einmal sollen jedoch zwei andere Punkte klargestellt werden: Zum ersten wäre es ein Irrtum zu glauben, daß jeder, der Deutschengrundrechten (wie anderen Grundrechten auch) einen „Menschenrechtskern" konzediert oder von ihrem „Menschenwürdegehalt" spricht, im klassischen Sinne naturrechtlich argumentiert. Während dies in der älteren Literatur, die noch durch die die Entstehung und die ersten Jahre des Grundgesetzes begleitende Naturrechtsrenaissance geprägt ist, verbreitet der Fall war, wird heute überwiegend der oben beschriebene aktuelle Zugang zum menschenrechtlichen Gehalt der Deutschengrundrechte gewählt. Das heißt, es wird beim verfassungsrechtlichen Begriff der Menschenwürde und dem „Menschenbild des Grundgesetzes" angesetzt und von da ausgehend der „menschenrechtliche 16

Bachof, Freiheit des Berufs (1. Teil, Fn. 98), 177; s. auch Bleckmann, Grundrechte (1. Teil, Fn. 15), 3. Aufl., §4 3. d). 17 AaO, 178; zustimmend Isensee, Ausländer (1. Teil, Fn. 14), 79, Fn. 71. Gegen eine Beschränkung auf Asylberechtigte wendet sich Ruppel, (1.Teil, Fn.97), 199; ähnlich Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn.66 (a.E.) zu Art. 2 I; zustimmend auch Madert-Fries (1. Teil, Fn. 47), 128. 18 Willi Geiger, Art. Berufsfreiheit und Berufsregelung, in: Görres-Gesellschaft (Hg.), Staatslexikon Recht - Wirtschaft - Gesellschaft, Bd. I, 6. Aufl. Freiburg 1957, Sp. 1112 ff. (1113 f.); zum überpositiven Rang der Berufsfreiheit auch Hamel (I.Teil, Fn. 81), 40.

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Gehalt" der Grundrechte ermittelt, 19 der sich auch als „zu Ansprüchen konkretisierte Menschenwürde" 20 begreifen läßt, so daß oft wahlweise von „Menschenrechts"- bzw. „Menschenwürdegehalt" oder auch „-kern" die Rede ist. Im Unterschied zur naturrechtlichen Argumentation fragt man damit nicht nach dem Staat vorgegebenen „ewigen Wahrheiten", wie sie die Franzosen 1789 so stolz verkündeten. Vielmehr hinterfragt man in erster Linie das sich in der Bezugnahme auf die Idee unveräußerlicher Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG) spiegelnde eigene Selbstverständnis, wie es sich insbesondere in der Menschenwürdegarantie und der Positivierung weiterer wesentlicher Inhalte aufklärerischen Denkens in Art. 2 und Art. 3 GG in der Verfassung manifestiert. Dies klopft man darauf hin ab, inwieweit sich daraus äußere Grenzen der Verfassungsinterpretation ergeben; Grenzen zum Nicht-mehr-Hinnehmbaren, deren Verlauf durch das zu Recht geronnene Ethos 21 der historisch-konkreten Rechtsgemeinschaft und nicht so sehr durch den Gegensatz zwischen überpositivem und staatlich gesetztem Recht bestimmt wird. Ist in diesem Zusammenhang von Menschenwürde- oder Menschenrechtsgehalt die Rede, so geht es also um nichts „unveränderlich Vorgegebenes", sondern um den einmal erreichten und nach dem eigenen Selbstverständnis nicht mehr hintergehbaren rechtskulturellen Standard, den man halten, festigen (und wenn möglich ausbauen) will. Und selbst wenn gelegentlich von einem „gewissen ,überpositiven' Menschenrechtskern" bestimmter Deutschenrechte die Rede ist, 22 geht es im Endeffekt, da Art. 1 Abs. 1 und 2 GG den überpositiven Charakter bestimmter Rechtssätze positiv behauptet, nicht um eine Bindung an überpositives Recht, sondern um die Bindung an das Grundgesetz, 23 das sich - als Ausdruck der Rückkehr zu 19

Vgl. oben l.Teil I. 3. c) (2). Insofern fehlgehend die Kritik von Merten, Vereinsfreiheit (l.Teil, Fn.99), Rn.23, an BVerfGE 50, 290 (353). M. meint, daß man mangels jeden Anknüpfungspunktes in den klassischen Menschenrechtskatalogen nicht von einem menschenrechtlichen Gehalt des Art. 9 I GG sprechen und dafür Art. 1 GG und das Menschenbild des GG bemühen könne. 20 Lecheler, Menschenwürde (l.Teil, Fn. 18), 83, spricht von den Menschenrechten „als zu Ansprüchen konkretisierte Menschenwürde". 21 Siehe hierzu allgemein H. Hofmann, Gebot, Vertrag, Sitte. Die Urformen der Begründung von Rechtsverbindlichkeit, Baden-Baden 1993; ders., Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, Berlin 1998, 49-51; ders., Recht, Moral, Ethos, in: Theo Stammen u.a. (Hg.), Politik - Bildung - Religion, FS f. Hans Maier zum 65. Geburtstag, Paderborn u.a.O. 1996, 171 ff., bes. 175 f. 22 Vgl. etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, Rn. 17 zu Art. 8. 23 Ähnlich Murswiek zur Bindung des pouvoir constitutant an überpositives Recht, vgl. oben Fn. 116. Bleckmann, Grundrechte (l.Teil, Fn. 15), 3. Aufl., §4 4., spricht im Blick auf die Rspr. des BVerfG zum Menschenbild des Grundgesetzes von Ansätzen für den Entwurf eines „,positiven4 Naturrechts" aus dem Grundgesetz selbst. Sein Vorschlag, man könne das Menschenbild auch an Hand der neueren Ergebnisse der Geisteswissen-

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einem bestimmten rechtskulturellen Standard - bewußt in die Tradition der berühmten Erklärungen natürlicher Rechte des ausgehenden 18. Jahrhundert gestellt hat. Zum zweiten ist keineswegs jeder, der vom Menschenrechtskern oder Menschenwürdegehalt der Art. 8, 9, 11 oder 12 GG spricht, zugleich der Auffassung, daß die Spannungslage zu den verfassungsrechtlichen Fundamentalaussagen 24 (primär) in der Weise zu lösen sei, daß sich auch Ausländer auf diesen Kerngehalt berufen könnten. So erschien insbesondere auch dem Bundesverfassungsgericht trotz der Anerkennung des menschenrechtlichen Gehaltes der Vereinigungsfreiheit 25 der Weg über Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht zur Lösung dieses Problems aus noch zu erörternden Gründen vorzugswürdig. Andere hingegen lehnen entweder, wie beispielsweise Starck, die Konstruktion des Art. 2 Abs. 1 GG als ein auch in personeller Hinsicht einschlägiges Auffanggrundrecht grundsätzlich ab, meinen jedoch, daß zumindest die „Menschenrechtsgehalte oder Menschenwürdegehalte" der Deutschenrechte auch für Ausländer (und nach Starcks Ansicht: dies nun über Art. 2 Abs. 1) geschützt seien.26 Oder sie sind zwar durchaus mit dem Bundesverfassungsgericht der Auffassung, daß für Ausländer die den Deutschen vorbehaltenen grundrechtlichen Freiheiten als Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützt seien, bejahen aber - offenbar zusätzlich - ab einem gewissen Grad der Freiheitsbeschränkung auch eine Verletzung des „Menschenrechtskern(s)" des jeweiligen Deutschengrundrechts. 27 Der zwischen der oben beschriebenen Position Bachofs und diesen verschiedenen Autoren bestehende kleinste gemeinsame Nenner besteht somit darin, daß sie alle - ungeachtet der zum Teil gravierenden Unterschiede im einzelnen - der Ansicht sind, daß sich auf den Menschenrechtskern oder Menschenwürdegehalt der Deutschenrechte jeder völlig unabhängig von der Staatsangehörigkeit als schaften entwickeln, verkennt allerdings die normative Bedeutung dieses Begriffs. Zum Menschenbild des Grundgesetzes eingehend Ulrich Becker (1. Teil, Fn. 94). 24 Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn. 84 f. zu Art. 1 II sowie bes. Rn.66 zu Art. 2 I, spricht seiner Grundrechtskonzeption entsprechend insoweit im Blick auf die Deutschenrechte von „Wertschutzlücken". 25 BVerfGE 50, 290 (353) unter Verweis auf BVerfGE 4, 7 (15 f.); E45, 187 (227). 26 Vgl. Starck, Das Bonner Grundgesetz. Bd. 1, 3.Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn.31 zu Art.2 I; ähnlich Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn.66 zu Art.2, der sich für den Schutz des Menschenwürdegehaltes von Art. 11 und 12 GG aber auf Art. 19 II i.V.m. Art. 1 I GG bezieht. 27 So etwa Rittstieg, in: AK I, Rn. 164 zu Art. 12, der den Grundrechtsschutz über Art. 2 I bejaht, in der „gegenwärtigen Behinderung langjährig anwesende(r) Ausländer" aber zugleich eine Verletzung des „Menschenrechtskern(s) des Art. 12, durch eigene Arbeit eine Existenzgrundlage zu schaffen", erblickt.

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verfassungsmäßiges Recht berufen könne. 28 Im einzelnen ist allerdings vieles umstritten, insbesondere auch die im folgenden zu erörternden Fragen, wie denn dieser Menschenrechts- bzw. Menschenwürdegehalt zum einen zu bestimmen und auf welchem Wege er zum anderen geltend zu machen sei.

b) Bestimmung des Menschenrechts- oder Menschenwürdekerns Sicherlich ist die Bestimmung des Menschenrechts- bzw. Menschenwürdekerns der Deutschengrundrechte, wie von Kritikern dieses Gedankens hervorgehoben wird, sehr schwierig und vor allem der Einwand mangelnder Subsumtions-Sicherheit auch ernst zu nehmen.29 Doch kann das allein noch nicht zu einer pauschalen Ablehnung dieses rechtsdogmatischen Ansatzes für den verfassungsrechtlichen Schutz des Ausländers führen, denn immerhin ist zu bedenken, daß die Verfassung selbst in Art. 19 Abs. 2 GG mit dem Terminus des „Wesensgehalt(es)" mit einem kaum leichter zu bestimmenden Begriff operiert 30 und von den Verfassungsinterpreten offenkundig erwartet wird, daß sie diese Mühe dennoch auf sich nehmen. Tatsächlich setzt Dürig, der neben Bachof wohl bekannteste ältere Vertreter der Menschenwürde- oder Menschenrechtskerntheorie, auch bei Art. 19 Abs. 2 GG und beim Begriff des Wesensgehaltes an. Dies ergibt sich für ihn aus seiner Sicht des Art. 19 Abs. 2 GG: Gesetzestechnisch sei diese Vorschrift nichts anderes als „die positivrechtliche Abschirmung des Menschenrechtsgehaltes der einzelnen Grundrechte gegenüber den an sich jeweils zulässigen Einschrän28

Vgl. Bachof, Freiheit des Berufs (l.Teil, Fn.98), 177f.; Starck, in: Das Bonner Grundgesetz. Bd. 1, 3.Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn. 135 zu Art. 1 III, Rn.31 zu Art.2 I; Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn. 84 u. 85 zu Art. 1 II; ders., ebd., Rn. 66 zu Art. 2 I; Denninger, AK, Rn.38 vor Art. 1; Albert Bleckmann, Staatsrecht II. Allgemeine Grundrechtslehren, 2.Aufl. Köln u.a.O. 1985, §9 IV. d) (2); ders., Grundrechte (l.Teil, Fn. 15), 3. Aufl., §9 IV. d) (2); Ingrid Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 123ff. (bes. 124, 126, 128, 130); Dolde (l.Teil, Fn. 10), 46ff, bes. 62ff. (71); Ruppel (l.Teil, Fn.97), 57ff, 155 ff., 175, 183, 198 ff. Für einzelne Deutschenrechte: v. Münch, GGK I, 3. Aufl., Rn. 5 zu Art. 8; Herzog, in: Maunz/Dürig, Rn. 17 zu Art. 8; Scholz, ebd., Rn.41 zu Art. 9; ders., Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (l.Teil), in: AöR 100 (1975), 80ff. (118f.); Kloepfer, Versammlungsfreiheit (l.Teil, Fn. 101), Rn.33; Dürig, Freizügigkeit (l.Teil, Fn.77), 521 ff.; ders., Menschenwürde (l.Teil, Fn.20), Fn. 55 zur Freizügigkeit, allgemein 136, 156 u. pass.; Rittstieg, in: AK, Rn. 164 zu Art. 12. 29 Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 132; s. auch Merten, Vereinsfreiheit (l.Teil, Fn.99), Rn.24. Diese Schwierigkeit räumt im übrigen Bleckmann, Grundrechtslehren (Fn. 28), § 9 IV. d) (2), auch ein. 30 Siehe dazu schon oben S. 68 m.w.N. in Fn. 173 und pass. 22 Siehr

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

kungsmöglichkeiten", meint er. 31 Mal setzt er beides ausdrücklich gleich; 32 in anderen Passagen erklärt er hingegen, daß der „Wesensgehalt" nicht notwendig mit dem „Menschenrechtsgehalt" identisch zu sein brauche, da auch Grundrechte ohne Menschenrechtsgehalt Wesensgehalt hätten. Doch bleibt er dabei, daß zumindest umgekehrt gelte, daß mit der Umschreibung des Menschenrechtsgehaltes gleichzeitig auch feststehe, was auf jeden Fall zum Wesensgehalt des Art. 19 Abs. 2 GG gehöre. 33 Damit ist man aber wieder bei der Frage, was denn nun diesen Menschenrechtsgehalt inhaltlich ausmacht. Dürig verweist hier auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, d.h. der Kernsatz laute auch für Art. 19 Abs. 2 GG, daß der Grundrechtsträger nicht zum Objekt des staatlichen Geschehens gemacht werden dürfe. Führe eine Grundrechtseinschränkung zu einem solchen „Ausgeliefertsein", dann sei der Wesensgehalt des Grundrechts verletzt - eben weil Jedes Grundrecht seinen (Wert-),Gehalt', der für den Menschen als solchen nach dem Willen der Verfassung ,wesentlich' ist", aus Art. 1 Abs. 1 GG beziehe.34 Im Ergebnis bedeutet das jedoch, daß der Rückgriff auf Art. 19 Abs. 2 GG und den Begriff des „Wesensgehaltes" zur inhaltlichen Bestimmung des Menschenrechts- oder Menschenwürdegehaltes der Deutschengrundrechte nichts beiträgt, lediglich das absichert, was sich diesbezüglich aus dem inneren Zusammenhang mit der Menschenwürdenorm ergibt. Dürig wurde daher auch zu Recht entgegengehalten, daß es des Umweges über Art. 19 Abs. 2 nicht bedürfe, man ebenso gut unmittelbar an Art. 1 Abs. 1 GG anknüpfen könne. 35 Zu untersuchen bleibt aber, inwiefern sich für die Ermittlung des „Menschenwürdekerns" eines Deutschengrundrechts die von Dürig im Anschluß an Wintrich angebotene „Objekt-Formel" 36 als hilfreich erweist. Dürig selbst hat

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Dürig, Menschenwürde (1.Teil, Fn.20), 136, 156; auch 140, 142, 145; vgl. auch ders., in: Maunz/Dürig, Rn.85 zu Art. 1 II; Rn.66 zu Art.2 I. Ähnlich W. Geiger (Fn. 18), Sp. 1113, bezogen auf den „naturrechtlichen Kernbestand" des Art. 12 Abs. 1. 32 Dürig, Menschenwürde (1.Teil, Fn.20), 142; ders., in: Maunz/Dürig, Rn. 119 zu Art. 11. 33 Dürig, Freizügigkeit (l.Teil, Fn.77), 523. Dolde (l.Teil, Fn. 10), 47, kritisiert dies als Unklarheit, es läßt sich jedoch auch als Präzisierung der Düring'schen Identitätslehre zu Wesensgehalt und Menschenwürde (vgl. Geddert-Steinacher [l.Teil, Fn.93], 181 f.) im Sinne bloßer Teil-Identität verstehen. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dieser Lehre im Blick auf die Deutschengrundrechte s. Ruppel (1. Teil, Fn. 97), 54 ff. 34 Dürig, Menschenwürde (l.Teil, Fn.20), 136. 35 Siehe etwa Bleckmann, Grundrechte (1. Teil, Fn.15), 3. Aufl., § 9 d) (1) u. (2); i.E. ähnlich Ruppel (l.Teil, Fn.97), 54ff. (56), 57ff., der aber selbst den Wesensgehalt als solchen ohnehin zum bürgerlichrechtlichen Charakter des jeweiligen Deutschengrundrechts zählt, demgegenüber der Menschenwürdegehalt ein „minus" sei. 36 Dazu oben bes. S. 54 ff. mit Fn. 137 ff.

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erklärt, der Grundrechtsträger sei dem staatlichen Geschehen beispielsweise dann als Objekt ausgeliefert, wenn ihm das Gebrauchmachen von einem Grundrecht durch Voraussetzungen verwehrt werde, auf deren Erfüllung er bei allem Mühen keinen Einfluß habe.37 Dieses „Einflußlosigkeitsargument" - so seine eigene Bezeichnung - hilft im Blick auf die Deutschengrundrechte allerdings kaum weiter: Bezogen auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit und Berufsfreiheit ist die fehlende Deutscheneigenschaft als solche bereits die grundlegende Voraussetzung für den Grundrechtsgebrauch, auf die der einzelne tatsächlich bei allem Mühen keinen Einfluß hat. Dies gilt jedenfalls hinsichtlich des originären Erwerbs durch Abstammung. Dürig will mit dieser Formel jedoch keineswegs die grundsätzliche Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft auf Deutsche aushebeln. Nur soweit es um den Menschenwürdegehalt dieser Grundrechte geht, soll eben nicht nach der Staatsangehörigkeit gefragt werden dürfen. 38 - Doch wieviel „Einfluß" muß sein? Dürig wählt diesen Begriff offenbar als Gegenbegriff zur „Objektstellung"; es muß aber bezweifelt werden, daß man auf diesem Wege zu konkreten, den spezifischen „Kerngehalt" der einzelnen Deutschenrechte treffenden Aussagen gelangt, bzw. umgekehrt, daß bei dessen Ermittlung über die Anwendung der Objekt-Formel ein Rationalitätsgewinn zu erzielen ist. Auch dort, wo eine konkrete Aussage zum „Menschenwürdekern" der Berufsfreiheit mit der Objekt-Formel kombiniert wird, scheint sie das Problem eher zu verdunkeln als zu erhellen. So hatte etwa Bachof zur Illustration einer der Menschenwürde zuwiderlaufenden Verweigerung der Berufsfreiheit das oben zitierte Beispiel eines mit dem Verbot jeglicher Berufsarbeit belegten asylberechtigten Nichtdeutschen angeführt und die Würdeverletzung so begründet, daß man ihn dadurch für seinen Lebensunterhalt auf die staatliche Fürsorge verweisen würde; damit würde er „zum Objekt staatlicher Wohltätigkeit degradiert und seiner Personenwürde entkleidet". 39 - Die Frage ist nur: Liegt das Hauptproblem wirklich in der staatlichen Fürsorge? Würde man ihm die Berufstätigkeit verweigern und keine staatliche Fürsorge gewähren, so wäre das staatliche Verhalten doch wohl kaum weniger kritikwürdig. Der Schwerpunkt des Problems liegt also offensichtlich in dem, was man dem Betreffenden an eigenen Möglichkeiten und Chancen selbstbestimmter Lebensgestaltung entzieht und nicht so sehr in dem, was daraufhin an subsidiärer staatlicher Hilfe geleistet wird, auch wenn er diese staatliche „Wohltätigkeit", die dem eigenen Selbstbild und sozialen Achtungsanspruch widerspricht, als demütigend emp37

Dürig, Menschenwürde (1. Teil, Fn. 20), 136. Vgl. z.B. Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn. 119 zu Art. 11: Das Deutschenrecht des Art. 11 weise „einen Wesensgehalt = Menschenrechtsgehalt" auf, der wegen Art. 1 I und 19 II nicht nach der Staatsangehörigkeit fragen dürfe. 39 Bachof, Freiheit des Berufs (1. Teil, Fn. 98), 178. 38

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finden mag. Die Objekt-Formel gibt diese Problematik verzerrt wider, indem sie den Blick von dem primär entscheidenden Freiheitsentzug auf die sekundär auftretenden Folgeerscheinungen lenkt, die aber nicht zwangsläufig den Freiheitsverlust so deutlich widerspiegeln müssen, wie etwa das Gegenbeispiel eines trotz umfassenden Berufsverbots nicht auf staatliche Fürsorge angewiesenen Multimillionärs zeigt. Bei entsprechendem Abstraktionsniveau ist es sicherlich möglich, auch ihn, der auf diese Weise wesentlicher Handlungsmöglichkeiten beraubt ist, als passives „Objekt" staatlichen Handelns zu beschreiben, doch weiß man damit eben nicht, was ihm abhanden kam. Erfolgversprechender erscheinen demgegenüber die Versuche, den „Menschenwürdekern" zu bestimmen, indem man direkt bei dem jeweiligen Deutschengrundrecht selbst ansetzt und die Essenz dessen herauszufiltern sucht, was im Rahmen seiner sozialen Funktion für das Verfassungsganze jeweils die besondere Nähe zu Art. 1 Abs. 1 GG ausmacht.40 So ist, wie oben schon ausgeführt wurde, der besondere Rang der Berufsfreiheit seit dem Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts in ständiger Rechtsprechung aus ihrem engen Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen begründet worden: 41 Das Grundrecht ziele „auf den Schutz der - wirtschaftlich sinnvollen Arbeit, aber es sieht sie als ,Beruf, d.h. in ihrer Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen im ganzen, die sich erst darin voll ausformt und vollendet, daß der Einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich einen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt. Das Grundrecht gewinnt so Bedeutung für alle sozialen Schichten; die Arbeit als ,Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde", hieß es dort. 42 Hans-Peter Schneider bestimmt den Menschenwürdekern des Art. 12 Abs. 1 GG demgemäß als „Recht zur Arbeit"; niemand dürfe vom Staat daran gehindert werden, sich durch eigene Arbeit seine Existenzgrundlage zu schaffen. 43 Es geht dabei unter anderem - und diesmal trifft Dürig wohl eher den Kern als mit der Anwendung der Objekt-Formel auf diese Frage - um die Berufsfreiheit unter dem Aspekt rechtlicher Gleichheit, die auch auf ökonomischem Gebiet 40

Zu der aus der sozialen Funktion der Grundrechte für das Verfassungsganze erwachsenden und als solche keineswegs unwandelbaren „Grundrechts,idee4 (die Eigengesetzlichkeit der Grundrechte)" s. Häberle, Wesensgehaltgarantie (l.Teil, Fn. 163), 8ff, 210 ff. (215); allgemein zum Menschenbild und der Menschenwürde als Maßstab der Kernbereichsbestimmung Geddert-Steinacher (1. Teil, Fn. 93), 186 ff. 41 Siehe oben S. 41 f. und passim. 42 BVerfGE 7, 377 ff. (397, s. auch 400, 402 f.); vgl. auch BVerfGE 13, 97 (104 f.); E 32, 54 (71); E 41, 251 (263 f.); E 50, 290 (362); E 71, 183 (201). 43 H.-P. Schneider, Artikel 12 GG (l.Teil, Fn.82), 15; vgl. auch Scholz, Arbeit (l.Teil, Fn.98), 75; Ruppel (l.Teil, Fn.97), 199; Hamel (l.Teil, Fn.81), 37f.

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gilt, „freilich nur am ökonomischen Ausgangspunkt und der rechtlichen Möglichkeit nach". 44 Über die ökonomische Dimension hinausgreifend ist es jedoch insbesondere die personale Entfaltungschance, die sich dem Menschen im und über den Beruf bietet, 45 die den Menschenwürdegehalt ausmacht: „Das Recht, sich nach freier Willensentscheidung und im Rahmen der eigenen Fähigkeiten produktiv, vor allem zwecks Sicherung der eigenen materiellen Lebensexistenz, zu betätigen, gehört zu den elementaren Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins und einer sich in Freiheit sowie Sozialität entfaltenden Persönlichkeit", heißt es etwa bei Scholz.46 In engem Zusammenhang damit muß auch das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG) gesehen werden, das, wie oben schon erwähnt wurde, nach der deutschen Verfassungstradition in einem besonderen Näheverhältnis zur Berufsfreiheit steht.47 Selbst den Beratungen des Parlamentarischen Rates lag ja zunächst noch ein Formulierungsvorschlag zugrunde, der Freizügigkeit und Berufsfreiheit in Anlehnung an die entsprechenden Bestimmungen der Paulskirchenverfassung und der Weimarer Reichsverfassung in einen einheitlichen Artikel aufnehmen wollte, bis man sich schließlich doch dazu entschloß, die Freizügigkeit von der Berufsfreiheit abzukoppeln.48 Dies änderte aber natürlich nichts daran, daß „das Recht auf freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte ohne das Recht der freien Ortswahl ein Nichts" wäre, wie Dürig auch insoweit

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Dürig, Menschenwürde (l.Teil, Fn.20), 145. Dieser Aspekt ist dann auch in unterschiedlichen Richtungen weiter entfaltet worden, teils im Sinne eines Gleichgewichtsmodells sozialer Berufssituationen (G. Hoffmann), das sich aber im Rahmen der Abwehrfunktion der Berufsfreiheit hält, teils werden darüber hinausgreifend Forderungen nach Maßnahmen zum Schutz gleicher Entfaltungschancen im Beruf erhoben (so bei Hege, auch bei Hoffmann-Riem); s. fürNachw. Pietzcker (l.Teil, Fn.95), 552ff. mit Fn. 17 u. 37; vgl. dazu auch Wendt (1. Teil, Fn.98), 608 ff. 45 Schneider, Artikel 12 GG (1. Teil, Fn. 82), 15, lehnt sich hier an die Formulierung der Enzyklika „Laborem exercens" vom 15.5.1981 an: Der Mensch sei zur Arbeit verdammt und „zur Arbeit berufen". Sie sei seine Existenzform in der „vita activa", selbst wenn sie ihm nicht oder nur sehr begrenzt Selbstverwirklichung ermögliche. Arbeit bedeute immer beides: Notwendigkeit und Freiheit. In ihr manifestiere sich Wert und Würde der Person, sie bestimme weitgehend seinen sozialen Status. Zum starken personalen Grundzug der Berufsfreiheit s. auch Rittstieg, in: AK, Rn. 12 ff.; Badura, Arbeit (l.Teil, Fn.95), 23ff.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4.Aufl., Rn.2 zu Art. 12; Bryde, Artikel 12 (l.Teil, Fn.95), 2181 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Rn.9 zu Art. 12; Pietzcker (l.Teil, Fn.95), 552ff., auch zu den Tücken des Topos der Persönlichkeitsentfaltung bei der Schrankenbestimmung im Rahmen des Art. 12 I. 46 Scholz, Arbeit (1. Teil, Fn. 98), 75. 47 Dazu Breuer (1. Teil, Fn. 519) Rn. 1 ff. (bes. Rn. 1 f., 4, 9). 48 Vgl. dazu: Der Parlamentarische Rat (l.Teil, Fn.523), Bd.5/II, 613; dazu oben l.Teil II. 2. a) (3) (b).

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zutreffend feststellt. 49 Der Menschenwürdegehalt der Freizügigkeit dürfte damit von den zur Berufsfreiheit angestellten Überlegungen mitgetragen werden, ohne sich freilich darauf beschränken zu lassen: So wenig der Mensch sich allein über die „in der Arbeit als Beruf verkörperten persönlichen Lebensleistung"50 definiert, so wenig läßt sich die mit der Idee selbstbestimmter Lebensgestaltung untrennbar verbundene Freizügigkeit als das Recht, „an jedem Orte innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen",51 auf den Zusammenhang mit der Wahl von Ausbildungsstätte oder Arbeitsplatz reduzieren. Auch bei der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit steht, wenn es um die Bestimmung des Menschenwürdegehaltes geht, der personale Grundzug im Vordergrund, der hier jedoch, wie oben schon dargelegt wurde, vor allem die dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechende Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit des Menschen akzentuiert, dessen Freiheit eben nicht die „eines isolierten und selbstherrlichen Individuums" sei. 52 Dementsprechend wird der Menschenrechts- oder Menschenwürdegehalt dieser Grundrechte gerade darin gesehen, daß sie die „maßgebliche kommunikative Persönlichkeitsentfaltung zusammen mit anderen in Gruppenform" gewährleisten und so dem Verlangen des Menschen nach Gemeinschaft im Sinne eines sozialen Grundbedürfhisses Rechnung tragen, ihn insbesondere auch vor totaler Isolation durch staatliche Eingriffe schützen.53 Daraus zieht beispielsweise Kloepfer im Blick auf Art. 8 GG explizit die Konsequenz, daß dieser mit seinem „Verbot absoluter Isolation durch staatliche Eingriffe einen Menschenrechtskern enthalte, auf den sich jedermann berufen könne". 54 49

Dürig, Freizügigkeit (l.Teil, Fn.77), 515; zu seinen - zumindest aus heutiger Sicht - überzogen wirkenden, sogar über das Asylrecht (a.F.!) hinausgehenden Vorstellungen zum Menschenrechtsgehalt der Freizügigkeit (aaO, 521 ff.) s. l.Teil, Fn. 105. Insgesamt wird die Beschränkung auf Deutsche hier seltener problematisiert als etwa bei der Berufsfreiheit; vgl. dazu aber Ruppel (l.Teil, Fn.97), 155ff, u.a. mit Nachw. zu Nawiasky u. Jahreiss, die neben Dürig und Eschenburg die Deutschenfassung des Art. 11 als zu eng bedauert haben. 50 Badura, Arbeit (l.Teil, Fn.95), 24. Auf die - im Gegensatz zur These, daß sich die Persönlichkeit des Menschen im Beruf erst voll ausforme und vollende - stehenden Erkenntnisse Erich Fromms über Persönlichkeitsverengungen und Neurosen als Folgen der ausschließlichen Fixierung der persönlichen Kräfte auf den als Einkommenssteigerung quantifizierbaren beruflichen Erfolg weist Rittstieg hin (AK, Rn. 15 zu Art. 12). 51 BVerfGE 2, 266 (273); E43, 203 (211). 52 BVerfGE 50, 290 (353); s. dazu oben bes. S. 41 und 43. 53 Kloepfer, Versammlungsfreiheit (l.Teil, Fn. 101), Rn.5 u. 33; ähnlich Ruppel ( 1. Teil, Fn. 97), 175 für Art. 9 u. 183 zu Art. 8 („Urstreben nach Assoziation und kollektiver Daseinsgestaltung"). 54 Kloepfer, aaO, Rn.33; zustimmend v. Münch, GGK I, 3. Aufl., Rn.5 zu Art. 8; ähnlich Herzog, in: Maunz/Dürig, Rn. 17 zu Art. 8; Starck, Das Bonner Grundgesetz,

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Zusammenfassend ist damit festzuhalten, daß ein beachtlicher Teil der Literatur der Auffassung ist, daß es ein menschenrechtliches Gebot sei bzw. aus der Menschenwürdegarantie folge, daß auch dem Ausländer in jedem Fall „ein Minimum an Erwerbsmöglichkeit, an räumlicher Bewegungsfreiheit, an organisierter Kommunikation" (Isensee)55 zuerkannt werden müsse. Dabei wird dann regelmäßig in der von Geddert-Steinacher als eine der Strategien im Umgang mit dem schwierigen Verfassungsbegriff der Würde beschriebenen Weise die Würde des Menschen im Sinne eines Konsensbegriffs interpretiert, d.h. sie wird hier nicht theoretisch hergeleitet und begründet, sondern der Inhalt der Menschenwürde selbst steht in diesen Fällen außer Streit. 56 Dementsprechend wird auch hinsichtlich der Deutschengrundrechte der vorausgesetzte Konsens bezüglich jenes „Minimums" allenfalls an Hand von Negativbeispielen belegt, wie etwa dem von Kloepfer genannten „Verbot absoluter Isolation durch staatliche Eingriffe" als Menschenrechtskern der Versammlungsfreiheit, dem von Bachof gewählten Beispiel des völligen Verbotes jeglicher Berufsarbeit gegenüber einem asylberechtigten Nichtdeutschen57 oder dem von Madert-Fries für die Freizügigkeit angeführten Beispiel eines Verbotes, sich länger als einen Monat in einem Gemeindegebiet aufzuhalten. 58 Allerdings sind damit lediglich Extrempunkte markiert. Schon wenn es darum geht, ob der Menschenwürdekern der Berufsfreiheit nur generell das Verbot jeglicher Berufsarbeit oder auch eine Beschränkung auf einfache Handarbeit ausschließt, ob die Asylberechtigung eine Rolle spielt oder nicht, kann sich der Konsens sehr schnell an den Rändern auflösen. 59 Und selbst wenn es dort noch gelingen sollte, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, wird sich dieses 3.Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn. 135 zu Art. 1 III; bezogen auf Art.9 auch Scholz, in: Maunz/Dürig, Rn.41 zu Art.9; Ruppel (l.Teil, Fn.97), 183 für Art.8 u. 175 für Art.9, allerdings nur „für ideelle Vereinigungen von Ausländern ohne politische und wirtschaftliche Zielsetzung". Dies kritisiert Rolvering (l.Teil, Fn. 15), 119f., der selbst der Ansicht ist, daß der menschenrechtliche Gehalt der Art. 8 und 9 „auch in den politischen Raum ausstrahlt und dort realisierbar sein muß", wobei seine eigenen Darlegungen allerdings oberflächlich und insgesamt wenig überzeugend wirken. Grundsätzlich ablehnend Jörg Hofmann (1. Teil, Fn. 100), 24. 55 Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 79. 56 Siehe dazu Geddert-Steinacher (1. Teil, Fn. 93), 26 ff. m.w.N. 57 Bachof, Freiheit des Berufs ( 1. Teil, Fn. 98), 179 f. 58 Madert-Fries ( 1. Teil, Fn. 47), 126 f. 59 Vgl. dazu einerseits Bachof, Freiheit des Berufs (1. Teil, Fn. 98), 178; zustimmend Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 79, Fn.71; andererseits Ruppel (l.Teil, Fn.97), 199, der gegen eine Beschränkung auf Asylberechtigte ist; ähnlich Dürig, in: Maunz/ Dürig, Rn. 66 (a.E.) zu Art. 2 Abs. 1. W. Geiger (Fn. 18), Sp. 1113 f., hingegen betont, daß auch das Verbot eines jeden anderen Berufs als der einfachen Handarbeit mit dem „naturrechtlichen Kernbestand" des Art. 12 unvereinbar wäre.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Problem zumindest in der Praxis alsbald stellen: Sie wird ohne jede Rücksicht auf die Konsensfähigkeit Fälle präsentieren, die weder eindeutig jenen Extrempunkten zuzuordnen noch eindeutig als unproblematisch einzustufen sind, in denen man also darüber streiten kann, ob ein ganz bestimmter Umfang oder die konkrete zeitliche Dauer einer Freiheitsbeschränkung gegenüber Nichtdeutschen, die Staaten- oder heimatlos sein können, vielleicht seit dreißig Jahren hier leben und Steuern zahlen oder auch erst kürzlich als asylberechtigt anerkannt wurden, dem Menschenwürdekern des jeweiligen Deutschengrundrechts zuwiderlaufen oder nicht. Zudem kann man gegen den Konsensbegriff der Würde einerseits einwenden, daß die Konsensfähigkeit im Blick auf die inhaltliche Bestimmung des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs, der sich doch gerade auch in Zeiten eines würdefeindlichen Konsenses (Stichwort: Holocaust) bewähren soll, ohnehin sehr problematisch ist, es daher der Rückkoppelung an den materialen Maßstab von Freiheit, Autonomie und Verantwortung bedürfe. 60 Dies ist auch kaum zu bestreiten, wobei aber andererseits klar ist, daß man mit der Behauptung, ein bestehender Konsens sei „würdefeindlich", demokratietheoretisch in unwegsames Gelände geriete, möglicherweise auch mit eben jenen Erkenntnisproblemen konfrontiert wäre, wie sie sonst für die klassischen Naturrechtslehren typisch sind. Diese Überlegungen zeigen, daß der Anwendungsbereich für eine Konsensdefinition der Würde nur sehr eng sein kann 61 mit der Folge, daß man in all jenen Konstellationen, in denen der Konsens bröckelt oder im Blick auf den materialen Maßstab des Verfassungsbegriffs der Würde angezweifelt werden muß, doch wieder gezwungen ist zu fragen, wie er denn nun zu bestimmen sei, dieser Menschenrechts- oder Menschenwürdekern. Dürig und im Anschluß an ihn auch Bachof greifen hier, wie schon erwähnt, auf die Objekt-Formel zurück. Dies ist jedoch noch nicht das entscheidende Charakteristikum; vielmehr ist für sie ebenso wie für andere Autoren, die das Problem vornehmlich als Konflikt zwischen überpositivem und staatlich gesetztem Recht begreifen, vor allem kennzeichnend, daß sie den Menschenrechts- bzw. Menschenwürdekern als eine feste, substanzhaft gedachte und absolute Geltung beanspruchende Größe auffassen und in diesem Sinne, um mit Bleckmann zu sprechen, eine „vertikale Trennung" zwischen einem „menschen-

60 Auf diese grundsätzliche Problematik der Konsensdefinition von Würde, die aus den genannten Gründen nicht zu einer Beliebigkeit und Gleichsetzung des Verfassungsbegriffs der Menschenwürde mit dem jeweiligen faktischen Konsens führen darf, weist auch Geddert-Steinacher (1. Teil, Fn. 93), 29, hin. 61 So auch Geddert-Steinacher, aaO, 28 f., die ihn auf Fälle begrenzen will, in denen er im konkreten Fall vorausgesetzt werden kann, es um die Abwägung und Auslegung von Grundrechten geht und die Verletzungsgrenze des Art. 1 I GG gar nicht in Frage steht.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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rechtlichen Kern" und einem „positivrechtlichen Hof 4 vornehmen. 62 Diese abstrakt-generelle Bestimmung des Menschenrechtskerns ist plausibel, wenn man mit Bleckmann der Ansicht ist, daß die positivierten Grundrechte eben nicht in vollem Umfang Naturrecht enthalten, sondern der Naturrechtsgehalt bei der Kodifikation um positives Recht erweitert worden sei. 63 Sie hat zur Konsequenz, daß die Besonderheiten des Einzelfalles - die Frage, wie lange jemand in der Bundesrepublik lebt, ob er eine anderweitige Staatsangehörigkeit besitzt oder staatenlos ist, ob er als asylberechtigt anerkannt wurde oder nicht - völlig unbeachtlich sind, denn all das kann auf die Frage, welche Rechte „dem Menschen als solchen" von Natur aus zustehen, keinen Einfluß haben. Faktisch wird dies bedeuten, daß jener „Minimalgehalt" im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners - bezogen auf die Konsensfähigkeit, aber auch den Abstraktionsgrad bestimmt werden dürfte, es also bei den oben skizzierten konsensfähigen Extrembeispielen bleiben wird. Andere sind der Auffassung, daß der Würdekern eines Grundrechts nicht abstrakt-generell, sondern nur bezogen auf den Einzelfall bestimmt werden könne 64 (was natürlich einen Konsens hinsichtlich der genannten Beispiele als einer Einzelfall-unabhängigen letzten Grenze für Einschränkungsmöglichkeiten nicht ausschließt). Dabei wird dann auch gar nicht erst auf Naturrecht rekurriert, sondern verfassungsimmanent argumentiert: Es gehe dabei um den für die Wahrung der Menschenwürde unerläßlichen Bestand von Freiheit und Gleichheit, heißt es etwa, während der Schutzbereich der Grundrechte im allgemeinen wesentlich weiter reiche als die von der Menschenwürde geforderte Minimalgarantie. 65 Gerade bei Vertretern dieser Position ist es dann auch häufig so, daß die Vorstellung von einer durch die Menschenwürde geforderten, jeweils bezogen auf den Einzelfall zu bestimmenden Minimalgarantie des jeweiligen Deutschengrundrechts mit dem Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht verbunden wird. 66 Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. 62

Bleckmann, Grundrechte (l.Teil, Fn. 15), 3.Aufl. 1989, §4 3. d); 4.Aufl. 1997, §4Rn. 10. 63 Ders., aaO (4. Aufl.), § 4 Rn. 9. Vgl. dazu auch die ganz ähnliche Argumentation bei Bachof (oben S. 333 f.), der ja ebenfalls der Ansicht war, daß die Privilegierung der Deutschen hinsichtlich des auf bloßer staatlicher Setzung beruhenden Anteils der Deutschengrundrechte unproblematisch sei - anders hingegen, soweit sie Menschenrechtsqualität besitzen. 64 Statt vieler Geddert-Steinacher (l.Teil, Fn.93), 29 mit Fn.59; ähnlich bezogen auf den Wesensgehalt Walter Krebs, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn.22 zu Art. 19; zustimmend Pieroth/Schlink (1. Teil, Fn. 5), Rn. 303. 65 Geddert-Steinacher, aaO; krit. Quaritsch, Ausländer ( 1. Teil, Fn. 9), Rn. 134 mit Fn. 329. 66 So Geddert-Steinacher, aaO, 182, die sich hier krit. gegen Dürigs Handhabung dieser Problematik wendet. Für die Verbindung von Art. 2 I als Auffanggrundrecht und Menschenrechtskern-Denken s. auch Rittstieg, in: AK, Rn. 164 zu Art. 12.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Hier interessiert jedoch zunächst einmal nur, in welcher Form der Einzelfall bei der Bestimmung des Menschenwürdekerns der Deutschengrundrechte Berücksichtigung finden könnte, und darauf gibt, soweit ersichtlich, nur Isensee eine konkrete, wenn auch eigenwillige Antwort, die seinen bekannten Positionen zum Thema Staatsvolk und Ausländerwahlrecht 67 entspricht: Er meint, das „Rechtsschicksal der Unentrinnbarkeit", das grundsätzlich nur die Deutschen zu tragen hätten, während der Ausländer primär seinem Heimatstaat zugeordnet sei, biete sich als Analogiekriterium dafür an, in welchem Maße dem Ausländer eine Annäherung an den Grundrechtsstandard der Deutschen gewährleistet werden müsse. Je nach dem Grad, in dem er auf Lebensentfaltung im Geltungsbereich des Grundgesetzes angewiesen sei, müsse ihm ein „Minimum an Erwerbsmöglichkeit, an räumlicher Bewegungsfreiheit, an organisierter Kommunikation zuerkannt werden". Das höchste Maß an „Unentrinnbarkeit" sei in der Regel beim Asylberechtigten und beim Staatenlosen erreicht. Dort sei „weitgehende Annäherung an den Deutschenstatus menschenrechtliches Gebot". 68 Bevor diese Positionen kritisch gewürdigt werden, soll noch kurz die gegenüber dem schwierigen Problem der Bestimmung des Menschenrechts- oder Menschenwürdekerns eher nachrangige Frage seiner Geltendmachung abgehandelt werden.

c) Geltendmachung des Menschenrechts- oder Menschenwürdekerns Grundsätzlich existieren vier verschiedene Möglichkeiten (im Blick auf Kombinationsmöglichkeiten auch mehr 69 ), den Menschenrechts- oder Menschenwürdekern der Deutschengrundrechte geltend zu machen, die auch alle vertreten werden: Einerseits könnte man bei den Deutschengrundrechten selbst ansetzen, andererseits bieten sich auch Art. 1 Abs. 1 (gegebenenfalls i.V.m. Abs.2 oder auch mit Art. 19 Abs. 2), Art. 2 Abs. 1 oder Art. 3 Abs. 1 als Ansatzpunkte an.

67

Vgl. dazu etwa seine gemeinsam mit Schmidt-Jortzig herausgegebene Dokumentation Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht (l.Teil, Fn. 12), 14 ff. (bes. 15 f., 19 f. und pass.) mit der von ihm gefertigten Antragsschrift vom 9.6.1989. 68 Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 76ff. (78f.). Tatsächlich ist den Staatenlosen, worauf auch Isensee, aaO, Fn. 71, hinweist, im Vorbehaltsbereich der Deutschenrechte durch das Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet v. 25.4.1951 (bes. §§ 12-20) sowie durch zahlreiche Einzelgesetze (z.B. §211 ApothG; § 3 I 1 BÄrzteO) eine weitgehende Inländergleichstellung gewährleistet. 69 Vgl. dazu Madert-Fries ( 1. Teil, Fn. 47), bes. 84 ff.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Der direkte Weg über Art. 8, 9 Abs.l, 11 oder 12 Abs. 1 GG begegnet oft heftiger Kritik. 7 0 Insbesondere Dürig wird vorgeworfen, daß er in dem von der Wesensgehaltgarantie geschützten Kernbereich alle Bürgerrechte zu Menschenrechten werden lasse, auf die sich dann auch ein Ausländer berufen könne. Er erweitere damit aber den Schutzbereich der Bürgerrechte über den ausdrücklichen Wortlaut der Norm hinaus, was allenfalls unter der Voraussetzung zulässig sein könne, daß sonst eine vom Verfassunggeber nicht gewollte und anders nicht zu schließende Schutzlücke entstünde. Wenn man jedoch den von den Bürgerrechten geschützten Freiheitsaspekt für Ausländer dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zuordne, entstehe eine solche Schutzlücke nicht. Die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 erlaube lediglich weitergehende Eingriffe als die speziellen Schranken der Bürgerrechte, doch sei der Kerngehalt z.B. der Berufsfreiheit des Ausländers als Teil des „Wesensgehalts" des Art. 2 Abs. 1 geschützt.71 Die Ablehnung eines direkten Rückgriffs auf die Deutschengrundrechte (bei Dürig ja wohl genauer: Art. 19 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 und dem jeweiligen

70

Für eine Berufung auf das Deutschengrundrecht spricht sich, soweit der Menschenwürdegehalt dies erfordert, z.B. Denninger, in: AK, Rn.38 vor Art. 1, aus. Für ihn heißt das, daß die einfachgesetzlichen Beschränkungen im Lichte der Menschenwürdebedeutung des betreffenden Grundrechts (z.B. der Vereinigungsfreiheit) auszulegen und u.U. ihrerseits dementsprechend zu begrenzen seien. Vgl. auch Herzog, in: Maunz/ Dürig, Rn. 17 zu Art. 8, der unter Verweis auf den überpositiven Menschenrechtskern des Art. 8 feststellt, daß dadurch die Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft in gewissem Sinne relativiert werde: „In dem - zugegebenermaßen engen - Umfang, in dem Art. 8 über einen Menschenrechtskern verfügt, steht er also auch Ausländern und Staatenlosen zur Seite (Art. 1 II)"; ähnlich zuvor Maunz, ebd. (X. Lfg.), Rn. 23 zu Art. 9. Dürig hingegen greift auf Art. 19 II i.V.m. Art. 1 I, II und das jeweilige Deutschenrecht zurück; vgl. ebd., Rn. 85 zu Art. 1, Rn. 66 zu Art. 2 I, Rn. 119 zu Art. 11; Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 387, weist zutreffend darauf hin, daß die u.a. vom BVerfG geäußerte Kritik an einer unmittelbaren Anwendung der Deutschenrechte dem sachlichen Gehalt dieses Ansatzes nicht gerecht werde, der doch darin bestehe, den Menschenwürdeschutz des Art. 1 I selbst für Teile der in Spezialfreiheitsrechten geschützten Freiheiten zu aktivieren (was im übrigen bei den genannten Autoren, die alle auf Art. 1 Bezug nehmen, auch anklingt). 71 Geddert-Steinacher (l.Teil, Fn.93), 182; vgl. auch Merten, Vereinsfreiheit (l.Teil, Fn. 99), Rn. 24, der gleichfalls auf die Gefahr hinweist, daß das Deutschenrecht über die Berufung auf seinen Menschenrechtskern in nicht berechenbarer Weise in ein Jedermannrecht korrigiert werden könne und diese Tatbestandsausdehnung im Blick auf Art. 2 I für unnötig hält. Krit. gegenüber einem direkten Rückgriff auf die Deutschenrechte auch Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 84ff. (101), 102ff. (106), die allerdings auch den Weg über Art. 2 I ablehnt.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Deutschengrundrecht) 72 wird nicht nur von Geddert-Steinacher und Merten mit einem Plädoyer für eine rechtsdogmatische Anknüpfung an Art. 2 Abs. 1 verbunden. Auch Isensee sieht den Standort der von ihm postulierten menschenrechtlichen Angleichungsgebote nicht bei den einzelnen Deutschengrundrechten, da nach seiner Ansicht die Technizität der Vorbehaltsrechte gefährdet wäre, wenn jedem Deutschengrundrecht ein „diffuses Schattengrundrecht für Ausländer beigegeben würde". 73 Er betont ebenfalls, daß der systemgerechte Ansatz vielmehr bei Art. 2 Abs. 1 liege, dem subsidiären allgemeinen Freiheitsrecht, das die „Grundrechtsbreschen zu schließen" vermöge. Dem vorgeschlagenen Weg über die Rechtsgrundlage des Art. 2 Abs. 1 GG schließen sich noch eine ganze Reihe anderer Autoren an. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Vorstellungen über den damit gewährten Schutzumfang oft weit auseinandergehen: Starck etwa lehnt, wie schon erwähnt, die Interpretation des Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht in auch personeller Hinsicht ab, will aber - ebenso wie Bachof - die Menschenrechts- oder -würdegehalte dennoch über Art. 2 Abs. 1 schützen.74 Dies ist nach seiner eigenen Einschätzung gegenüber dem vollen Schutz über Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht ein deutliches „minus". Dabei spielt sicherlich eine Rolle, daß hinsichtlich der Auswirkungen dieser Konzeption - vor allem im Blick auf die Schrankenbestimmungen - offenbar teilweise unzutreffende Vorstellungen bestehen und der Schutzumfang damit überschätzt wird. Wenn Starck erklärt, von „den Grundrechtsschranken her gesehen würde eine Erstreckung der Deutschenrechte über Art. 2 Abs. 1 auch auf die Ausländer die besonderen Schranken der Deutschenrechte durch die Schranken des Art. 2 Abs. 1 verdrängen, was die Ausländer gegebenenfalls besser stellen würde", 75 72

Ablehnend gegenüber Dürigs Ansatz bei Art. 19 II auch Ruppel (l.Teil, Fn.97), 54ff. (56), sowie Bleckmann, Grundrechte (l.Teil, Fn.15), 3. Aufl., §9 d) (1), der dies zum einen für überflüssig hält, da Ausländern über Art. 1 I GG der Kerngehalt der Deutschengrundrechte zustehe. Zum anderen betont er, daß Art. 19 II GG immer nur den Kernbereich der einzelnen Grundrechte schütze, die Art. 8, 9, 11 und 12 GG auf Ausländer aber nicht anwendbar seien, es für diese daher auch keinen Kernbereich dieser Grundrechte geben könne. 73 Isensee, aaO, 79 f. 74 Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3.Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn.30, 31 zu Art.2 I sowie (unter Berufung auf Isensee) Rn. 135 zu Art. 1 III: „Brücke des Art. 2 Abs. 1" zur Geltendmachung des Menschenrechtskerns; ähnlich unter Bezug auf die Menschenwürde Scholz, Entfaltung der Persönlichkeit (Fn. 28), 118, in Anlehnung an Bachof, Freiheit des Berufs (l.Teil, Fn.98), S. 178, bei dem es heißt: „Zwar kann der Nichtdeutsche, dem die Berufung auf Art. 12 I verwehrt ist, nicht in vollem Umfang auf die allgemeine Handlungsfreiheit zurückgreifen. Er kann es aber insoweit, als diese in ihrem Kernbereich und Wesensgehalt Ausdruck der unantastbaren Menschenwürde ist". Dazu krit. Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 101 ff. (102ff.). 75 Starck, aaO, Rn. 30 zu Art. 2 I.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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so kann das nicht richtig sein. - Tatsächlich eröffnet der weite Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 weitergehende Einschränkungsmöglichkeiten als die Deutschengrundrechte, so daß damit eine Schlechterstellung der Ausländer verbunden ist. Darauf wird unten noch näher einzugehen sein. Aber auch wenn man dies akzeptiert, bedeutet Starcks Position zur Geltendmachung des zwingend aus der Menschenwürde fließenden Menschenrechtsgehalts über Art. 2 Abs. 1 einen schwächeren Schutz des Ausländers als etwa bei Isensee, da Starck in der oben beschriebenen Weise von einer absolut zu bestimmenden substantiellen Größe im Sinne einer fest umrissenen Minimalposition ausgeht, während Isensee dieses Minimum relativ zum Grundrechtsstatus der Deutschen und in Abhängigkeit von der im konkreten Fall anzunehmenden Angewiesenheit auf die „Lebensentfaltung im Geltungsbereich des Grundgesetzes" bestimmen will, wobei er prinzipiell die Möglichkeit fortschreitender Statusangleichung in Rechnung stellt. 76 Gerade das Lager derjenigen, die das menschenrechtliche Minimum, den Menschenrechtsgehalt oder Menschenwürdekern der Deutschengrundrechte über Art. 2 Abs. 1 GG geltend machen wollen, ist in sich also sehr heterogen. Andere Autoren sind der Ansicht, daß der Kerngehalt der Deutschengrundrechte den Ausländern über Art. 1 Abs. 1 GG zustehe,77 was angesichts des

76

Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 76ff. (79), 8Iff. „Ungeachtet der Zweckmäßigkeit" dieser Überlegungen ablehnend Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn.31 zu Art.2 I; vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2109 ff. 77 So etwa Bleckmann, Grundrechtslehren (Fn. 28), § 9 IV. d) (2); ders., Grundrechte (l.Teil, Fn. 15), 3.Aufl., §9 d) (2); Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 390 (neben Art.3 I u. Art.2 I); Ruppel (l.Teil, Fn.97), bes. 54ff. (bes. 56, 58f.), auch 198ff, 220, bes. 223, 224 mit Fn. 1 (neben Art.3 I ). Dolde (l.Teil, Fn. 10), 59ff. (bes. 60, 67, 71), lehnt letzteres ab, will sich jedoch ebenfalls auf Art. 1 I, II i.V.m. den Deutschenrechten stützen, wobei nicht ganz deutlich wird, ob nun in erster Linie auf Art. 1 oder doch auf das jeweilige Grundrecht; vgl. einerseits S.60, andererseits S.71. Auch Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 134, meint, daß die unmittelbare Anwendung des Grundrechts des Art. 1 I GG rechtssystematisch überzeugender wäre als die Bezugnahme auf Würde-Kerne der Deutschenrechte. Allerdings geht er dabei - angeleitet von der Definition der Würdeverletzung als grausame, unmenschliche, erniedrigende oder verächtliche Behandlung - lediglich auf das ein, was Art. 1 I als selbständiges Grundrecht in Abwehr elementaren Unrechts zur Sicherung des erreichten rechtskulturellen Standards ausmacht, vernachlässigt jedoch den nach der hier vertretenen Auffassung für den Würdegehalt der Deutschenrechte maßgeblichen Freiheitsaspekt. Damit bleibt für eine Anwendung des Art. 1 I auf diese Problematik, wie seine eigenen Beispiele demonstrieren, faktisch nichts übrig. Vgl. dazu auch Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 77, der ebenfalls feststellt, daß das dem Art. 1 I entnommene „Elementargrundrecht" nicht

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Umstandes, daß die Bestimmung dieses Kerngehaltes inhaltlich an der Menschenwürdenorm anknüpft und diese, wie oben dargelegt, nach überwiegender Ansicht Grundrechtsqualität besitzt, sicherlich vertretbar wäre. Wieder andere, die Art. 1 Abs. 1 GG den Grundrechtscharakter absprechen und auch die Funktion des Art. 2 Abs. 1 GG als personelles Auffanggrundrecht verneinen, plädieren für einen Schutz des Menschenwürdegehaltes der Deutschengrundrechte über einen Grundrechtsschutz aus Art. 3 Abs. 1 i.V. m. 1 Abs. 1 GG. MadertFries begründet dies damit, daß in der Versagung des Minimums an Freiheit, welches der Menschenwürde korrespondiere, eine Verletzung der Menschenwürde liege. Zugleich werde damit aber, da in diesem Bereich „arithmetische Gleichheit" bestehe, auch das Gleichheitsgebot verletzt, denn das Gleichheitsgebot müsse umgekehrt immer dort absolut gelten, wo jede Ungleichbehandlung die Menschenwürde antasten würde. In einem solchen Fall aktualisiere „sich die Achtungs- und Schutzpflicht aller staatlichen Gewalt, jegliche Ungleichbehandlung aufgrund des Differenzierungskriteriums ,Ausländer 4 zu verhindern. Eine solche ist, da aufgrund dieser absoluten Gleichheit niemals ein sachlich gerechtfertigter Differenzierungsgrund bestehen kann, stets willkürlich 44 , wie sie meint. 78 Es zeigt sich, daß die Frage nach dem systemgerechten grundrechtlichen Standort für eine Geltendmachung des auch dem Ausländer zustehenden „Minimumes) an Erwerbsmöglichkeit, an räumlicher Bewegungsfreiheit, an organisierter Kommunikation44 (Isensee) bzw. in der Diktion anderer Autoren: des „Menschenrechts 44- oder „Menschenwürdekerns 44 der Deutschengrundrechte von der Haltung in anderen Streitfragen abhängig ist wie etwa der nach der Konzeption des Art. 2 Abs. 1 GG, Fragen der Spezialität einerseits, der Technizität der Vorbéhaltsrechte andererseits, aber auch der Bedeutung der Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG oder des Grundrechtscharakters des Art. 1 Abs. 1 GG. Doch können diese Fragen solange auf sich beruhen, als nicht geklärt ist, ob die grundlegende Prämisse trägt, daß aufgrund der Deutschenvorbehalte auftretende Lücken durch die Geltendmachung eines „menschenrechtlichen Minimums44 hinsichtlich der entsprechenden Freiheitsbetätigung - ihres „Würdekernes44 - zu schließen seien.

die mit den Deutschenvorbehalten entstehende Lücke schließe. Grundsätzlich ablehnend gegenüber einem direkten Zugriff auf Art. 1 I, da dieser selbst kein Grundrecht sei, Madert-Fries (1. Teil, Fn. 47), 70 ff. Zum Streit um den Grundrechtscharakter des Art. 1 I GG s. dieNachw. oben im l.Teil, Fn. 141. 78 So Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 112ff., 125ff. (bes. 126); vgl. aber auch Ruppel (l.Teil, Fn.97), 196ff., bes. 223 ff.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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d) Kritik Die Lehre vom Menschenwürde- oder Menschenrechtskern der Deutschengrundrechte hat - zumindest in der von ihren Wegbereitern Dürig und Bachof vertretenen Form - zwei große Schwachpunkte offenbart. Zum ersten ist nochmals auf den eingangs schon erwähnten Einwand ihrer Kritiker zurückzukommen, daß der Kernbestand sehr schwierig zu bestimmen sei, und es diesem den Ausländern zugebilligten „Surrogat" für die Deutschengrundrechte damit, wie insbesondere Quaritsch hervorhebt, an Subsumtions-Sicherheit mangele.79 Anders als man auf den ersten Blick meinen könnte, ist nicht so entscheidend, wie der Würdekern des jeweiligen Deutschengrundrechts ermittelt wird, 80 ob er also absolut aufgefaßt und abstrakt-generell umrissen wird wie bei Dürig und Bachof, oder ob der Jeweils für die Wahrung der Menschenwürde unerläßliche Bestand von Freiheit und Gleichheit" nur bezogen auf den Einzelfall bestimmt werden kann, wie Geddert-Steinacher meint,81 sondern es kommt vor allem darauf an, welche Funktion der „Würdekern" im Gesamtkonzept des jeweiligen Autors einnimmt. Dies soll im folgenden erläutert werden. Eine Parallele finden die unterschiedlichen Ansätze bei der Bestimmung des sog. Würdekernes in dem bekannten Streit um die absolute oder relative Wesensgehalttheorie, die Häberle bereits vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten treffend als „Scheinalternative" charakterisierte. 82 Dem Anliegen der absoluten Wesensgehaltlehre, dem Ausschluß einer Relativierung der Grundrechte (durch Gewichten und Abwägen der im einzelnen Fall beteiligten öffentlichen und privaten Güter und Interessen), werde durch die von ihm vertretene Güterabwägung durchaus Rechnung getragen; denn: „Was als unantastbarer ,Kern' der Handlungs- oder Vertragsfreiheit umschrieben wird, ist jener Bereich, von dem ab es fraglos keine legitimen grundrechtsbegrenzenden gleich- oder höherwertigen Rechtsgüter mehr gibt". 83 Auch auf der Basis der von Alexy vertretenen 79

Quaritsch, Ausländer (1. Teil, Fn. 9), Rn. 132. Er ist - nicht anders als beim Wesensgehalt - für jedes Deutschengrundrecht gesondert zu ermitteln, wie sich angesichts der unterschiedlichen Aspekte des Freiheitsschutzes in den einzelnen Deutschengrundrechten an sich von selbst verstehen müßte; s. dazu bes. Ruppel (l.Teil, Fn.97), 57ff, 155, 175, 183, 199 u. pass.; s. auch GeddertSteinacher (l.Teil, Fn.93), 29 mit Fn.59 (s. aber andererseits auch aaO, 182, gegen die Position Dürigs); zur Parallele beim Wesensgehalt statt vieler Häberle, Wesensgehaltgarantie (l.Teil, Fn. 163), 51ff. (53) und pass. 81 Geddert-Steinacher (1. Teil, Fn. 93), 29 mit Fn. 59. 82 Häberle, Wesensgehaltgarantie (l.Teil, Fn. 163), 64; s. dazu oben l.Teil, Fn. 173. 83 Häberle, aaO; damit werde es auch möglich, mit BVerfGE 6, 32 (41); E 6, 389 (433); E7, 198 (220f.); E8, 274 (328f.) u. E 10, 55 (59) einen letzten „unantastbaren Kernbereich menschlicher Freiheit" anzunehmen, aaO, Fn. 351. 80

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Prinzipienlehre läßt sich gut darstellen, warum der Unterschied zwischen der absoluten Theorie, in der der Wesensgehalt als eine feste, substanzhaft gedachte Größe im Sinne eines „Grundrechtskerns" oder einer „Mindestposition" bestimmt wird, und der relativen Theorie, nach der der Wesensgehalt mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip koinzidiert, im Ergebnis nicht so groß ist, wie es am Anfang scheint: Nach der Prinzipienlehre wird ein Prinzip um so resistenter, je weiter es zurückgedrängt wird. Die Stärke der gegenläufigen Gründe muß überproportional wachsen. Es lassen sich daher nach Alexys Ansicht auch Bedingungen angeben, bei denen mit sehr hoher Sicherheit kein gegenläufiges Prinzip vorgeht. Diese Bedingungen definieren den „Kernbereich privater Lebensgestaltung". Insofern könne hier unter normalen Umständen von einem „absoluten Schutz" ausgegangen werden, nur dürfe dessen relative Fundierung nicht aus den Augen verloren werden. 84 Ähnlich wie bei der absoluten und der relativen Wesensgehaltlehre dürfte auch im Blick auf den „Würdekern" der einzelnen Deutschengrundrechte anzunehmen sein, daß man sich hinsichtlich der oben genannten Grenzfälle eines absoluten Verbotes jeglicher Berufstätigkeit, des Verbotes absoluter Isolation durch staatliche Eingriffe oder des Verbotes, länger als einen Monat in einem Gemeindegebiet zu bleiben, einig ist, gleich ob man grundsätzlich für eine abstrakt-generelle oder eine Einzelfall-bezogene Bestimmung des Würdekernes eintritt. Allerdings wird zumindest in dem von Madert-Fries genannten Beispiel für einen Verstoß gegen den Menschenwürdegehalt des Art. 11 Abs. 1 GG 8 5 die Konsensfähigkeit 86 offenbar mit völliger praktischer Irrelevanz erkauft: Die Pflicht zum Wohnen in Gemeinschaftsunterkünften (notfalls auch Wohncontainern), Beschränkungen der Bewegungsfreiheit durch Aufenthaltsbeschränkungen und das während der Dauer der Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, geltende Verbot einer Erwerbstätigkeit bei Asylbewerbern (vgl. §§56 f f , §61 AsylVerfG) sind von praktischer Bedeutung; hier könnte man zumindest fragen, wie lange und unter welchen Voraussetzungen dies unter dem Aspekt der Menschenwürde hinnehmbar erscheint. 87 Doch mit dem Schutz vor einem Verbot, sich länger als einen Monat an einem Ort niederzulassen, hat man allenfalls ein Scheinproblem gelöst.88

84

Alexy (l.Teil, Fn. 159), 269ff., insbes. 271 f. Madert-Fries (1. Teil, Fn. 47), 126 f. 86 Zur Problematik dieses Kriteriums für die inhaltliche Bestimmung des Verfassungsbegriffs der Menschenwürde s. oben S. 343 f. 87 Ablehnend Quaritsch, Ausländer (1. Teil, Fn. 9), 134. 88 Zwar ging das früher zeitweise von Schleswig-Holstein und Bayern praktizierte Rotationsprinzip bei Gastarbeitern zumindest tendenziell in diese Richtung (und wurde damals auch als unsozial kritisiert; vgl. Werner Kanein, Das Ausländergesetz im Mei85

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

353

Offensichtlich sind diejenigen, die das Problem der Deutschenrechte allein über die Lehre vom Menschenrechtskern oder Menschenwürdekern dieser Rechte lösen wollen, gleich einer doppelten Gefahr ausgesetzt: Entweder schießen sie auf Pappkameraden oder im Sinne einer inflationären Berufung 89 auf die Würdenorm über das Ziel hinaus. Um noch einmal auf das Beispiel der Sammelunterkünfte zurückzukommen: Wenn die Bundesrepublik sich beispielsweise im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion für die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen entscheidet und diese aufgrund beschränkter Aufnahmemöglichkeiten, aber auch administrativer Notwendigkeiten zunächst in Gemeinschaftsunterkünften unterbringt, wird man wohl kaum auf den Gedanken kommen können, daß darin ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG zu erblicken sei oder der Menschenwürdekern eines Deutschenrechts angetastet werde. Wenn jedoch der Bürgerkrieg Jahre dauert und dieselben Flüchtlinge nach längerer Zeit immer noch in denselben Wohncontainern leben müssen, nicht an den Ort ihrer Wahl (beispielsweise zu Verwandten) ziehen dürfen, obwohl längst die Möglichkeit bestanden hätte, sie dort unterzubringen, kann man entweder mit Art. 1 Abs. 1 argumentieren - oder auch schlicht feststellen, daß die Maßnahme, da mildere Mittel zur Verfügung stehen, unverhältnismäßig ist. Doch wenn man die über die Deutschenvorbehalte entstehenden Lücken allein über die Berufung auf deren Menschenrechts- bzw. Menschenwürdekern schließen will und - wie etwa Madert-Fries oder Dürig - den vom Bundesverfassungsgericht beschrittenen Weg über Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht ablehnt,90 fehlt es an einer prozessualen Möglichkeit, einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geltend zu machen.91 Man steht dann vor der Wahl, dies entweder zu akzeptieren oder die Interpretation des Menschenwürdekernes zu überdehnen. Anders sieht es bei denjenigen Autoren aus, die - beispielsweise im Rahmen der Konzeption des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht - zunächst den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz prüfen und den Menschenrechts- oder Menschenwürdekern der Deutschenrechte lediglich als jenen Punkt begreifen, an dem die Maßnahme ohne weiteres Abwägen in jedem Fall unverhältnismäßig nungsstreit, in: NJW 1973, 729 ff. [731]), doch erscheint die Monatsfrist selbst daran gemessen geradezu absurd. 89 Siehe zu diesem Problem auch H. Hofinann, Menschenwürde (l.Teil, Fn. 134), 104f., 107; ähnlich Geddert-Steinacher (l.Teil, Fn.93), 15ff. (bes. 16). 90 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn.66 zu Art.2 I ; Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 35 ff. (56 ff); s. zur Kritik im übrigen die Nachw. bei Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), Fn.25. 91 Auf die neuere Dogmatik des Gleichheitssatzes, die es ermöglichen würde, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Rahmen des Art. 3 I zu prüfen, geht Madert-Fries nicht ein (Dürig konnte sich damit natürlich nicht mehr auseinandersetzen). 23 Siehr

354

2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

ist 92 (was natürlich nicht ausschließt, daß sie bereits auf den früheren Prüfungsstufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit ohne jede Bezugnahme auf den Würdegehalt eines Deutschenrechtes als unverhältnismäßig qualifiziert wird). Die Berufung auf den Menschenwürdekern des jeweiligen Deutschengrundrechts hat hier lediglich klarstellende Funktion: Es wird noch einmal ins Bewußtsein gehoben, daß es trotz der Bezugnahme auf die allgemeine Handlungsfreiheit nicht um „Tauben füttern" oder „Reiten im Walde" 93 geht, sondern thematisch-sachlich beispielsweise um die aufgrund ihres starken personalen Bezuges in einer besonderen Nähe zur Menschenwürde stehende Berufsfreiheit und daß davon, da nach Art. 1 Abs. 1 GG die Würde aller Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu achten und zu schützen ist, trotz der Beschränkung des Art. 12 Abs. 1 GG auf Deutsche und der damit einem Nichtdeutschen gegenüber bestehenden Eingriffsreserve auch für ihn „noch etwas bleiben" muß. 94 Die Funktion der Berufung auf den Menschenwürdekern des jeweiligen Deutschengrundrechts ist in einer Gesamtkonzeption, die den Auffangcharakter des Art. 2 Abs. 1 GG mit Überlegungen zum Würdekern kombiniert oder unterschiedliche Lösungsansätze nebeneinanderstellt, 95 also eine ganz andere, als wenn diese Würdekerne für den Ausländer lediglich (kleiner oder größer bemessene) „Inseln" eines Grundrechtsschutzes im sachlichen Schutzbereich der Deutschengrundrechte bilden. Inbesondere diejenigen Autoren, die aus der naturrechtlichen Perspektive zwischen überpositivem und staatlich gesetztem Recht, zwischen menschenrechtlichem Begriffskern und positivrechtlichem Hof 92 Dies klingt z.B. bei Kunig an, in: v. Münch/ders., GGK I (4. Aufl.), Rn.8 zu Art. 8: „Die Einschlägigkeit des Art. 2 I bewirkt, daß dem Ausländer eine Individualrechtsposition mit Verfassungsrang zusteht. (...) Der Schutz ist nicht reduziert auf einen ,Menschenrechtskern', der lediglich vor dem ,Verbot absoluter Isolation' bewahren würde (...), vielmehr bedarf jede Beschränkung von Versammlungen für Ausländer der Legitimation insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit". 93 Vgl. BVerfGE 54, 143 (146) = Tauben füttern, u. BVerfGE 80, 137 (152 f., 159 ff.) = Reiten im Walde, wo das Gericht nochmals klarstellt, daß Art. 2 I die menschliche Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne und insbesondere ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht ihr für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt, schützt (allerdings nur in den Schranken des Art. 2 I 2. Hs.); a.A. Grimm, BVerfG 80, 137 (164 ff.), s. dazu die Kritik von Bodo Pieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG, in: AöR 115 (1990), 33 ff. (36 ff.). 94 Vgl. für den Parallelfall der Wesensgehaltgarantie nach Art. 19 II GG Pieroth/Schlink (1. Teil, Fn. 5), Rn. 301 ff. m.w.N. 95 So z.B. Rittstieg, in: AK, Rn. 164 zu Art. 12; vgl. auch Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), zum Ergebnis bes. 390, der den Grundrechtsschutz für Ausländer im Bereich von Deutschengrundrechten über Art. 1 I, soweit die Menschenwürde Kemgehalte der Deutschengrundrechte umfaßt, neben den Schutz aus Art. 2 I und aus Art. 3 I stellt.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

355

trennen wollen, 96 steuern zur Lösung der durch die Deutschenvorbehalte ausgelösten Spannungslage solche (überpositiv fundierten) grundrechtlichen „Schutzinseln" an. Die Frage, welchen Umfang sie haben, ist dann ungleich wichtiger als beim Streit um die absolute oder relative Wesensgehaltlehre, denn dort ist der Grundrechtsschutz ja zunächst einmal über das jeweilige Einzelgrundrecht (im Rahmen seiner Schranken) gewährleistet. Was genau im Sinne der absoluten Wesensgehalttheorie unangetastet bleiben muß, bedarf hier zunächst noch keiner präzisen Festlegung, denn, wie Pieroth und Schlink treffend feststellen: „(...) nach dem zu fragen, was von einem Grundrecht keinesfalls preisgegeben werden darf, besteht nur dann Anlaß, wenn die Eingriffe in das Grundrecht so intensiv werden, daß dessen Preisgabe droht". 97 Bei den Deutschengrundrechten ist der Fall jedoch genau umgekehrt gelagert: Erst wenn der Menschenrechts- oder Menschenwürdekern des jeweiligen Deutschengrundrechts berührt ist (also die „Schutzinseln" erreicht sind), soll nach diesem Ansatz auch dem Ausländer Grundrechtsschutz gewährt werden. Das erklärt zum ersten, warum speziell bei denjenigen, die allein auf den Würdekern rekurrieren, die Schwierigkeiten, ihn exakt zu bestimmen, so stark ins Gewicht fallen, während bei denjenigen, die diese Vorstellung mit der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht kombinieren, genau das gilt, was Pieroth und Schlink schon bezüglich der absoluten Wesensgehalttheorie konstatiert hatten: Die Probleme wirken sich nur in (praktisch äußerst seltenen) Extremfällen aus. Es erklärt zum zweiten, warum die Vertreter der „strikten Kerntheorie" zwischen der Gefahr einer Hypertrophie des Würdekernes und der praktischen Irrelevanz ihres Ansatzes hin und her pendeln. Und zum dritten erklärt es auch, warum das Bundesverfassungsgericht zwar beispielsweise der Vereinigungsfreiheit einen menschenrechtlichen Gehalt zusprechen konnte, 98 in seinen Entscheidungen zu den Deutschenrechten darauf bzw. auf die Würdekern-Überlegungen jedoch gar nicht zu sprechen kam: Wählt man, wie das Gericht, den Weg über Art. 2 Abs. 1 GG als - auch personelles - Auffanggrundrecht, so wird dazu überhaupt nur in äußert seltenen Fällen Anlaß bestehen. All dies spricht sicherlich gegen die strikte Würdekerntheorie. Nun könnte man, um sie zu halten, aber vielleicht einwenden, daß es auch bei einer Ablehnung des Auffangcharakters des Art. 2 Abs. 1 GG möglich sei, die korrekte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu überprüfen. Zumindest immer dann, wenn der Ausländer Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes ist und ihm einfachgesetzlich ein subjektives Recht zusteht, das durch diesen 96 Bleckmann, Grundrechte (l.Teil, Fn. 15), 3.Aufl., §4 3. d) bzw. 4.Aufl., §4 Rn. 10; s. auch oben bei Fn. 62. 97 Pieroth/Schlink (l.Teil, Fn.5), Rn.300. 98 BVerfGE 50, 290 (353); vgl. dazu oben S. 43.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Verwaltungsakt verletzt sein könnte, wird die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung und insbesondere auch die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Widerspruchs- bzw. im verwaltungsgerichtlichen Verfahren überprüft werden können. Lediglich der Weg zum Bundesverfassungsgericht durch die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde wäre ihm versperrt. Nur: Selbst wenn man annimmt, daß der einfachgesetzlich gewährte Schutz die durch die Deutschenvorbehalte im Grundrechtsschutz der Ausländer geschlagenen Breschen teilweise wird schließen können, bleibt zu fragen, ob dies denn dem Konzept der Verfassung der Freiheit gerecht werden kann: Der grundstürzende Unterschied zu früheren verfassungsrechtlichen Freiheitsverbriefungen besteht, wie oben ausführlich dargelegt wurde," doch gerade darin, daß nicht mehr einzelne Spezialfreiheiten jeweils gesondert „verliehen" werden, sondern die Freiheit des Menschen zum Prinzip der Konstitution erhoben wurde. Und dies hat zur Konsequenz, daß nicht die Freiheit des Menschen bezogen auf je unterschiedliche Bereiche jeweils einer eigenen Begründung und verfassungsrechtlichen Verleihung bedarf, vielmehr umgekehrt jede Freiheitsbeschränkung von Verfassungswegen rechtfertigungsbedürftig ist. Wenn dem so ist, so paßt die Vorstellung, daß man dem Ausländer im sachlichen Schutzbereich der Deutschengrundrechte jeweils nur insoweit Grundrechtsschutz zuspricht, als der Menschenrechtskern oder Würdekern der einzelnen Rechte betroffen ist, nicht recht ins Bild, denn dies erinnert noch stark an die Verleihung einzelner Freiheiten nach feudaler Manier. Freiheit würde also als Summe konkret benannter und verfassungsrechtlich verbriefter Einzelfreiheiten begriffen, nicht umfassend definiert und dann für einzelne Bereiche konkretisiert (wobei letzteres, worauf bereits hingewiesen wurde, nicht etwa heißt, daß die Spezialfreiheitsrechte einfach unter Außerachtlassung ihrer historischen Prägung aus dem allgemeinen Freiheitsrecht zu deduzieren wären). Aus alledem folgt, daß zumindest die strikten Kerntheorien im Ergebnis nicht zu überzeugen vermögen. Hinsichtlich der Kombinationstheorien, die den Weg über Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht mit Vorstellungen vom Menschenrechts- oder Würdekern verbinden, sieht das jedoch anders aus. Da der Berufung auf den Würdekern in ihrem Gesamtkonzept ein ganz anderer Stellenwert zukommt, er lediglich eine klarstellende Funktion hat und eine letzte Grenze der Einschränkbarkeit bestimmter Freiheitsbetätigungen aufzeigt, schlagen die genannten Bedenken in diesem Fall nicht durch. Gleichzeitig scheint die Konzeption des Art. 2 Abs. 1 GG als subsidiäres allgemeines Freiheitsrecht der Verfassung der Freiheit besser zu entsprechen, denn immerhin ist hier Freiheit zunächst einmal umfassend gewährleistet, wenn auch mit entsprechend weitem Schrankenvorbehalt. Die aus den Deutschenvorbehalten der Art. 8, Art. 9 Abs. 1, 99

Siehe dazu oben im l.Teil I. 5. (3).

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Art. 11 und Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schlechterstellung der Ausländer wird damit auf die Ebene der Schranken verlagert. Im folgenden soll untersucht werden, ob damit Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht - mit oder ohne Würdekernen als absolut wirkender Schranken-Schranke - der Weg der Wahl ist.

2. Versuch der Harmonisierung über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG als menschenrechtlicher Standard a) Der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts In seiner richtungweisenden Entscheidung vom 18.7.1973, in der es um die Verfassungsmäßigkeit der sofortigen Vollziehung einer Ausweisungsverfügung ging, nahm das Bundesverfassungsgericht auf Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeinen menschenrechtlichen Standard 100 Bezug, um die durch den Deutschenvorbehalt des Art. 11 GG im Hinblick auf den Grundrechtsschutz von Ausländern in diesem Bereich aufgeworfenen Fragen zu lösen. Es führte dazu in der Palästinenser-Entscheidung wörtlich aus: „Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit steht als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern in der Bundesrepublik zu. Die Beschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit auf Deutsche und auf das Bundesgebiet (Art. 11 GG) schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Menschen in der Bundesrepublik auch Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. E 6, 32 [36]). Der daraus folgende Schutz ist jedoch nur in dem durch Art. 2 Abs. 1 gezogenen Rahmen, besonders nur in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet; zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört jede Rechtsnorm, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang steht [m.w.N.]".101 Diese von der damals noch herrschenden Meinung abweichende,102 aber auch nicht besonders eingehend begründete Entscheidung fand im Schrifttum keineswegs nur Zustimmung. 103 Wiederholt wurde kritisiert, daß dies schon 100 Vgl. dazu neben der hier zit. BVerfGE 35, 382 (399) etwa auch BVerwGE 60, 284 (286). 101 BVerfGE 35, 382 (399); bestätigt in BVerfGE 38, 52 (57); E49, 168 (180f.); E50, 166 (173); E78, 179 (196f.) sowie Beschl. v. 28.9.1989, in: NVwZ 1990, 853 f. Den Hinweis auf E 6, 32 (35ff.) - Elfes-Urteil - sieht Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn. 9), Rn. 130, Fn. 313, als Fehlzitat, da Wilhelm Elfes kein Ausländer gewesen sei und ausreisen wollte; etwas anders Jürgen Schwabe, Anmerkung zum Beschluß des BVerfG v. 18.7.1973, in: NJW 1974, 1044, der aber ebenfalls sehr kritisch Stellung nimmt. 102 So krit. Schwabe, aaO; vgl. zum älteren Meinungsstand die Nachw. bei Dolde (l.Teil, Fn. 10), 45f.,Fn. 1. 103 Die unzureichende Begründung kritisieren u.a. Schwabe, aaO, 1044 f., u. Scholz, Entfaltung der Persönlichkeit (Fn.28), 118, der sich von seinem Standpunkt aus vor

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

unter dem Gesichtspunkt des zwischen Art. 2 Abs. 1 und den Einzelgrundrechten bestehenden Spezialitätsverhältnisses problematisch sei, insbesondere aber die klare Entscheidung des Verfassunggebers gegen Ausländergrundrechte für bestimmte Freiheitsbereiche unterlaufe und im Ergebnis zu einer Nivellierung des Grundrechtsschutzes von Ausländern und Deutschen führe. 104 Vor allem Schwabe und Starck hatten gerügt, daß, wenn über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG jedes Deutschengrundrecht zum Jedermannrecht werde, die Beschränkung auf Deutsche obsolet wäre. 105 Aus der Existenz von Jedermanngrundrechten sei vielmehr zu folgern, daß im Falle der Bürgerrechte eine negative Regelung zu Lasten des Grundrechtsschutzes von Ausländern vorliege, die einen Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 generell ausschließe.106 Schwabe hatte diesen Gedanken auch noch hinsichtlich der einzelnen Deutschengrundrechte näher ausdifferenziert: Man müsse unterscheiden, ob die durch Art. 2 Abs. 1 ersetzten Deutschenrechte ebenso stark seien wie das Substitutionsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG oder stärker, d.h. schwerer einschränkbar (schwächere, wie noch Dürig annahm, könne es hingegen wegen der universel-

allem die Prüfung einer spezifisch materialen Menschenrechtlichkeit einzelner Freiheitsgewährleistungen nach Maßgabe des Art. 1 gewünscht hätte, da er nur insoweit auf eine supplementäre Anwendung des Art. 2 I zurückgreifen will. Wieder anders Tomuschat (l.Teil, Fn.705), 1073ff. (bes. 1075-1078), der u.a. die Abweichung gegenüber den sonst strengeren Anforderungen bezüglich des Gesetzesvorbehalts und des Bestimmtheitsgebots krit. beleuchtet, dem BVerfG aber im Ergebnis zustimmt. Für umfangr. weit. Nachw. zur Aufnahme der Entscheidung im Schrifttum s. Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 387, Fn.25, der ebenfalls in der „lapidaren Selbstverständlichkeit", mit der das Gericht die nach damals h.M. anders beurteilten Fragen traktiert, einen Grund für die teils heftige Kritik sieht. 104 Schwabe (Fn. 101), 1044; s. auch ders., Probleme der Grundrechtsdogmatik, Darmstadt 1977, 31 f., Fn.27 m.w.N. und in Auseinandersetzung mit mehreren Vertretern der Gegenansicht; Erichsen (Fn. 10), Rn. 48; ders., Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, in: Jura 1987, 367ff. (369f.); Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3.Aufl. (l.Teil, Fn. 31), Rn. 135 zu Art. 1 III., auch Rn.30 zu Art. 2 I; Fritz Ossenbühl, Die Freiheiten des Unternehmers nach dem Grundgesetz, in: AöR 115 (1990), Iff. (4 mit Fn. 10); dagegen statt vieler Merten, Entfaltung der Persönlichkeit (Fn. 11), bes. 350 f.; Zuleeg, Freizügigkeit ( 1. Teil, Fn. 696), 222 f. 105 Starck, aaO, Rn. 135 zu Art. 1 III; Schwabe, Anmerkung (Fn.101), 1044; ders., Probleme (Fn. 104), 31 f., Fn.27 (bes. unter 5.), der unter 1. auch zu der von Dolde u.a. vertretenen Ansicht Stellung nimmt, daß das Gericht Art. 2 I hier gar nicht zu einem Auffanggrundrecht in personeller Hinsicht habe machen wollen, dies aber angesichts der klaren Formulierung im zit. Beschl. zutreffend ablehnt. 106 Erichsen, Handlungsfreiheit (Fn. 10), Rn.49; ders., Art. 2 Abs. 1 (Fn. 104), 370; so zuvor schon Dolde, (l.Teil, Fn. 10), 61 f.; ähnlich Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 35ff. (56); s. auch v. Mutius (Fn. 10), 33.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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len Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht geben),107 wobei er Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 2, 11 und 16 Abs. 2 S. 1 GG zu den stärkeren und Art. 8 Abs. 2 sowie - jedenfalls in seinem negatorischen Gehalt - Art. 12 Abs. 1 GG zu den gleich starken Rechten zählt. 108 Die subsidiäre Zuweisung von Art. 2 Abs. 1 GG anstelle der „gleich starken" Bürgerrechte hieße nach seiner Auffassung im Ergebnis „alle Deutschen" als „Jedermann" lesen, wozu sich jeder Kommentar erübrige. Das Bundesverfassungsgericht habe bisher nur über den Rückgriff von einem stärkeren Deutschenrecht (Art. 11 GG) auf Art. 2 Abs. 1 GG zu entscheiden gehabt, ohne daß es sein Ergebnis aber auf diese Konstellation beschränkt hätte. Doch sei nicht nur „die Unmöglichkeit eines Rückgriffs auf Art. 2 Abs. 1 GG von gleich starken Bürgerrechten aus zu bedenken", sondern auch die „seltsame Konsequenz", daß, wenn man diese Norm wenigstens als Surrogat für die stärkeren Deutschenrechte halten wolle, die möglicherweise nur geringfügige und „oft genug zufällige Differenz dem Ausländer zu dem Geschenk des wahrhaftig nicht geringwertigen - Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 (verhilft)". Die in Art. 12 Abs. 1 GG nur für Deutsche geschützte Berufsfreiheit bildet in den Augen mancher Kritiker also den eigentlichen Dollpunkt der Konzeption des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht für den Grundrechtsschutz von Ausländern im Vorbehaltsbereich der Deutschengrundrechte - und genau damit hatte sich dann auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 10.5.1988 zu beschäftigen. 109 Gegenstand des Verfahrens war die Beschwerde

107

Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn.66 zu Art.2 I. Schwabe, Anmerkung (Fn. 101), 1044, führt aus, daß die Feststellung eines stärkeren Deutschenrechts von der vom BVerfG in st. Rspr. vertretenen (und heute ganz überwiegend akzeptierten; vgl. Pieroth/Schlink [l.Teil, Fn.5], Rn.315ff. [317] m.w.N.) Prämisse lebe, daß die Übertragung des Schrankenvorbehalts des Art. 2 I auf andere Spezialgrundrechte unzulässig sei, und unterstellt dies auch zunächst einmal trotz gewisser Bedenken. Genau umgekehrt setzt Starck, aaO, Rn.30 zu Art. 2 I an, der glaubt, gerade durch die Verdrängung der besonderen Schranken der Deutschenrechte durch die Schranken des Art. 2 I werde ggf eine Besserstellung des Ausländers bewirkt, in diesem Punkt aber sogar durch Erichsen (Fn. 10), Rn. 48, mit zutreffenden Argumenten widerlegt wird, obgleich sich beide in der Ablehnung der Anwendung des Art. 2 I als [personelles] Auffanggrundrecht bei Ausländern im sachlichen Schutzbereich der Deutschenrechte einig sind. 108 Schwabe, aaO (auch zum folg.); ebenso Erichsen, Handlungsfreiheit (Fn. 10), Rn. 48; ders., Art. 2 Abs. 1 (Fn. 104), 370. Den in jedem Fall schwächeren Grundrechtsschutz aus Art.2 I betonen demgegenüber u.a. Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 363, 368; ders., Freizügigkeit (l.Teil, Fn.696), 222f.; Merten, Vereinsfreiheit (l.Teil, Fn.99), Rn.25; ders., Entfaltung der Persönlichkeit (Fn. 11), 350 f.; Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 80, Fn.73; Hans D. Jarass, in: ders./Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. München 1997, Rn.9 zu Art. 2; vgl. auch Geddert-Steinacher (l.Teil, Fn.93), 182; Jörg Hofinann (l.Teil, Fn. 100), 25 ff. (28). 109 BVerfGE 78, 179ff.;s. dazu u.a. die Anmerkung von Sachs, JuS 1989, 225 f.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

einer als Diplom-Psychologin ausgebildeten Schweizerin, die nach Eröffnung einer eigenen psychotherapeutischen Praxis vorsorglich eine Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Heilpraktikergesetz (HPG) 1 1 0 beantragt hatte. Dieser Antrag war mit der Begründung abgelehnt worden, daß der Beschwerdeführerin nach §2 I b der 1. Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz (1. DVO-HPG) 1 1 1 eine solche Erlaubnis nicht erteilt werden dürfe, da sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitze. Nach erfolglosem Bemühen bei den Fachgerichten erhob die Beschwerdeführerin die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, mit der sie eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 sowie aus Art. 14 GG rügte. Das Bundesverfassungsgericht sah sich in diesem Verfahren also mit der Problematik einer auf das Fehlen der deutschen Staatsangehörigkeit gestützten Berufszugangssperre für Ausländer konfrontiert und setzte sich erstmals eingehender (wenn auch nicht erschöpfend) mit den in diesem Zusammenhang diskutierten grundlegenden Fragen zu einem diesbezüglichen Grundrechtsschutz der Ausländer auseinander, um den gegen seinen früheren Beschluß erhobenen Einwänden entgegentreten zu können. Einleitend stellt es fest, daß in dem Verbot der Erlaubniserteilung an Ausländer nach §2 Abs. 1 b) 1. DVO-HPG jedenfalls kein Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG liege, da dieses Grundrecht nur für Deutsche gelte. Gleichzeitig erteilt es der Auffassung, „die Bürgerrechte seien über ihren Menschenrechtskern auch auf Ausländer anwendbar" (für die es Bleckmann zitiert, der aber auch der damalige Präsident des Gerichts Roman Herzog zuneigt) eine klare Absage: Die „Selbstverständlichkeit, daß auch Ausländer Träger von Menschenrechten sind, (kann) nicht zu einer - wenn auch eingeschränkten - Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GG auf diesen Personenkreis führen, soll die ausdrückliche Entscheidung des Grundgesetzes, die Berufsfreiheit nur deutschen Staatsbürgern zu gewähren, nicht unterlaufen werden". 112 Diese Aussage wurde aufgrund der Pauschalität, mit der sie die Menschenwürdekern-Lehre verwirft, wiederholt angegriffen, 110

Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) v. 17.2.1939 (RGBl. I, 251; BGBl. III, 2122-2). Ziel des Gesetzes war es, im Interesse der Volksgesundheit den Berufsstand der Heilpraktiker auf lange Sicht zu beseitigen und ein Ärztemonopol einzuführen; vgl. Reichs- und Staatsanzeiger Nr. 50 v. 28.2.1939, S.2; zit. nach BVerfGE 78, 179 (181), das auf diesen ursprünglichen Gesetzeszweck in den Entscheidungsgründen näher eingeht (vgl. aaO, 192). 1.1 Vom 18.2.1939 (RGBl. I, 259), damaliger Std.: zul. geändert durch VO v. 18.4.1975 (BGBl. I, 967). § 1 der aufgrund der in § 7 HPG enthaltenen allgemeinen Ermächtigung zum Erlaß von Durchführungs- und Ergänzungsbestimmungen erlassenen 1. DVO-HPG bestimmt den Kreis der Antragspflichtigen und Berechtigten; § 2 I regelt im einzelnen, wem die Erlaubnis nicht zu erteilen ist; nach § 2 I b) ist sie auch zu versagen, wenn der Antragsteller nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. 1.2 BVerfGE 78, 179(196).

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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denn das Gericht differenziert hier nicht zwischen dem sachlichen Gehalt dieses Ansatzes, der - so will sich jedenfalls ein Teil seiner Verfechter ausdrücklich verstanden wissen - darauf zielt, den Menschenwürdeschutz des Art. 1 Abs. 1 GG selbst für einen bestimmten Kerngehalt der in den Spezialfreiheitsrechten geschützten Freiheiten zu aktivieren, und der (oben gesondert erörterten) Frage nach der richtigen Rechtsgrundlage, um dies geltend zu machen.113 Dabei mag zum einen eine Rolle gespielt haben, daß es sich keinesfalls dem Vorwurf aussetzen wollte, die Deutschenvorbehalte zu unterlaufen, und daher von vornherein ganz bewußt auf Distanz zu dieser in ganz unterschiedlichen Facetten vertretenen Lehre ging, zum anderen aber auch, daß es bei der von ihm favorisierten Lösung auf einen Rückgriff auf den Menschenwürdekern (zu dem man ja tatsächlich, wie oben festgestellt wurde, nur in ganz seltenen Fällen vordringen wird) eben gar nicht angewiesen war. Sodann tritt es die Flucht nach vorn an, bekräftigt den schon im Beschluß vom Juli 1973 gewählten Lösungsansatz und baut ihn weiter aus: Verletzt wird jedoch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die Unanwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GG auf Ausländer bedeutet nicht, daß die Verfassung sie in diesem Bereich schutzlos läßt. Der systemgerechte Ansatz liegt vielmehr bei dem subsidiären allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG (Isensee, VVDStRL 32, S.49 [80]). Das darf allerdings nicht so verstanden werden, daß der Nichtdeutsche, dem die Berufung auf die Berufsfreiheit verwehrt ist, denselben Schutz über Art. 2 Abs. 1 GG beanspruchen könnte. Eine solche Auffassung ließe das Speziaiitätsverhältnis zwischen Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 außer acht. Das allgemeine Freiheitsrecht ist insoweit nur anwendbar, als es im Rahmen der in ihm geregelten Schranken die Handlungsfreiheit gewährleistet. Da zur verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne dieses Grundrechts jede Rechtsnorm gehört, die formell und materiell mit der Verfassung im Einklang steht, kann also eine Verletzung dieses Grundrechts nicht schon darin gesehen werden, daß Ausländern der Zugang zu einem Beruf verwehrt wird; denn dieser Ausschluß ist mit Art. 12 Abs. 1 GG zu vereinbaren, gehört demnach zur verfassungsmäßigen Ordnung. Schutz bietet Art. 2 Abs. 1 GG nur vor Eingriffen, die von seinen Schranken nicht mehr gedeckt sind und nicht vom speziellen Regelungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG erfaßt werden (vgl. BVerfGE 35, 382 [399]).114

113 Siehe insbesondere Sachs, JuS 1989 (Fn. 109), 225; ders., Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 387, der sich zur Geltendmachung des von der Menschenwürde geschützten Kerngehaltes selbst direkt auf Art. 1 I stützen will (vgl. auch aaO, 390); bedauernd auch Scholz, Entfaltung der Persönlichkeit (Fn.28), 118 f., der meint, daß Bachofs Überlegungen es wert gewesen wären, näher überdacht bzw. fortgesetzt zu werden und sich seinerseits insoweit auf die „supplementär-rechtssubjektive Vermittlung des (Menschen-)Rechts aus Art. 2 Abs. 1 GG" beruft. 114 BVerfGE 78, 179 (196 f.).

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Diese Argumentation des Bundesverfassungsgerichts ist ersichtlich von dem Bestreben getragen, insbesondere die gegenüber seiner früheren Entscheidung aus grundrechtssystematischer Perspektive erhobene Kritik einer Nivellierung des Grundrechtsschutzes von Deutschen und Ausländern im Bereich der Deutschengrundrechte zu entkräften, ohne sich dadurch in dem damals bereits eingeschlagenen Lösungsweg beirren zu lassen. Doch bleibt bei seinen Ausführungen einiges im Unklaren: Unproblematisch ist der Beschluß, soweit es um seine tragenden Gründe geht. Im konkreten Fall gibt das Gericht der Verfassungsbeschwerde gestützt auf die Feststellung, daß die seit 1939 unverändert in §7 HPG enthaltene Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß der 1. DVO-HPG unzureichend und der dem Rechtsstaatsprinzip immanente Vorbehalt des Gesetzes daher nicht gewahrt gewesen sei, im wesentlichen statt. Insofern steht es auf sicherem Grund, denn soweit Art. 2 Abs. 1 GG, wie dies heute überwiegend der Fall ist, als Auffanggrundrecht akzeptiert wird, besteht auch dahingehend Konsens, daß solche Verstöße gegen die rechtsstaatlichen Formalgarantien, die dazu führen, daß eine Norm nicht mehr zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört, Art.2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzen und im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden können. 115 Aber soweit es darüber hinausgreifend um die Frage der inhaltlichen Reichweite des Grundrechtsschutzes des Ausländers aus Art. 2 Abs. 1 GG im Negativraum 116 von Deutschengrundrechten geht, betritt man schwankenden Boden: Das Gericht ergeht sich hier in dem Bemühen, seine im konkreten Fall „wasserdichte" Lösung auch in grundsätzlicher Weise gegen die Nivellierungskritik abzusichern, in vagen Andeutungen zum unterschiedlichen Schutzumfang von Art. 2 Abs. 1 GG im Vergleich zu dem des Art. 12 Abs. 1 GG, läßt die dogmatischen Konturen eines Grundrechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG bei beruflichen Betätigungen von Ausländern dabei jedoch im Dunkeln. Es kann dies auch tun, da es im entschiedenen Fall auf heikle Punkte, wie etwa den der vollen oder abgestuften (bzw. „vorsichtigen" wie es im Schrifttum auch heißt) Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Eingriffe in die im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützte Erwerbstätigkeit eines Ausländers nicht

115 Vgl. statt vieler Hartmut Bauer, Zum Grundrechtsschutz für die berufliche Betätigung von Ausländern, in: NVwZ 1990,1152 ff. (1153); Gerhard Robbers, Ausländer im Verfassungsrecht, in: E. Benda u.a. (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts (l.Teil, Fn. 145), §11, 391 ff., Rn. 17 ff., 50 ff. Gegen eine solche „Versubjektivierung des Art. 20 Abs. 3" jedoch insbes. Erichsen, Handlungsfreiheit (Fn. 10), Rn. 18 m.w.N.; ders., Art. 2 Abs. 1 (Fn. 104), 368. 116 Für den Begriffs. Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 80, Fn. 73.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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mehr ankommt. 117 Doch könnte dies in einem künftigen Fall, wenn sich einmal keine Verstöße gegen die rechtsstaatlichen Formalgarantien ausmachen lassen, ganz anders aussehen. Die Frage der praktischen Bedeutung einer Prüfung am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG für den Grundrechtsschutz von Ausländern in diesem Bereich soll daher im folgenden ausgehend von einer Analyse des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts näher untersucht und mit unterschiedlichen Auffassungen in der Literatur kontrastiert werden.

b) Praktische Bedeutung einer Prüfung am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG Wird die Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG im Negativraum der Deutschengrundrechte bejaht, 118 so bewirkt dies zunächst einmal, daß auch dem Ausländer insoweit eine Individualrechtsposition mit Verfassungsrang zusteht. Allerdings wird die weite Interpretation des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als allgemeine Handlungsfreiheit, die im Anschluß an das ElfesUrteil des Bundesverfassungsgerichts heute auch im Schrifttum überwiegend akzeptiert ist, zugleich durch die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 2. Hs. relativiert, wobei bekanntlich in der Rechtspraxis (nur) die „verfassungsmäßige Ordnung" überragende Bedeutung erlangt hat. Dazu gehört, wie auch die obigen Zitate belegen, nach ständiger Rechtsprechung jede Rechtsnorm, die formell 117

Vgl. dazu einerseits die Kritik bei Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), bes. 388; andererseits H. Bauer (Fn. 115), 1153, der meint, daß mit dieser Entscheidung zwar die Rechtsgrundlage für den Grundrechtsschutz von Ausländern im Bereich der Berufsfreiheit höchstrichterlich geklärt sei, daß jedoch zu erwarten stehe, daß die Diskussion sich nun schwerpunktmäßig auf die Frage nach dessen inhaltlicher Reichweite verlagern werde, in der - auch vom BVerfG - das letzte Wort noch nicht gesprochen sein dürfte. Beide beschäftigen sich hier auch mit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dazu gleich. 118 So als einer der ersten Zuleeg, Freizügigkeit (l.Teil, Fn.696), 221 ff.; ders., Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 344f.; Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn.14), 80; heute auch das BVerfG, vgl. nur E78, 179 (196f.); Randelzhofer, in: BK, Rn.91 zu Art. 11; Jarass, in: ders./Pieroth (Fn. 108), Rn. 7 u. 9 zu Art. 2, Rn. 8 zu Art. 8, Rn. 7 zu Art. 9, Rn. 6 zu Art. 11, Rn.9 zu Art. 12; Hans-Ullrich Gallwas, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, Art.8 GG, in: JA 1986, 484ff. (485); Jörg Hofmann (l.Teil, Fn. 100), 25ff. (28); Rainer Hofmann (l.Teil, Fn. 113), 114; Robbers (Fn. 115), Rn. 17ff.; Geddert-Steinacher (l.Teil, Fn.93), 182, u. viele andere; dagegen Dürig, in: Maunz/Dürig, Rn.66 zu Art.2 I; Dolde (l.Teil, Fn. 10), 61 f.; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2110f.; Schwabe, Anmerkung (Fn. 101), 1044f.; ders., Probleme (Fn. 104), 31 f., Fn.27 m.w.N.; Erichsen, Handlungsfreiheit (Fn. 10), Rn.47ff; ders., Art. 2 Abs. 1 (Fn. 104), 369 f.; Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 35ff. (56); v. Mutius (Fn. 10), 33; Ruppel (l.Teil, Fn.97), 33ff. (36); Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn.30 zu Art.2 I, der allerdings dem BVerfG bescheinigt, im Einzelfall zu vernünftigen Lösungen zu kommen.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

und materiell mit der Verfassung in Einklang steht. Art. 2 Abs. 1 ist also unter den weitesten und elastischsten Schrankenvorbehalt des Grundgesetzes, den Vorbehalt der mit der Verfassung insgesamt vereinbaren Beschränkungen, gestellt; d.h. das „umfassende Freiheitsblankett (korrespondiert) mit dem umfassenden Ordnungsblankett". 119 Gleichwohl kann damit als weitgehend gesichert gelten, daß der Schutz aus Art. 2 Abs. 1 GG für den Ausländer einen grundrechtlich abgestützten Anspruch darauf beinhaltet, daß auch ihm gegenüber sämtliche Normen des objektiven Verfassungsrechts eingehalten werden. Gemeint sind nach einhelliger Ansicht insbesondere das Rechtsstaatsprinzip und seine Ausprägungen, 120 was den Vorbehalt des Gesetzes ebenso einschließt wie das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes werden meist im selben Atemzug genannt, doch ist hier hinsichtlich der Behauptung eines allgemeinen Konsenses bereits Vorsicht geboten: Er betrifft, worauf noch zurückzukommen sein wird, allenfalls den Grundsatz, nicht aber die Einzelheiten der Anwendung. 121 Mit der Feststellung, daß über Art. 2 Abs. 1 GG die Beachtung der rechtsstaatlichen Bindungen auch gegenüber Ausländern höchstrichterlich kontrolliert werden könne, endet die Einmütigkeit allerdings auch schon: Alles weitere ist umstritten. So sind etwa die einen der Ansicht, daß der materiell-rechtliche Status des Ausländers durch die Heranziehung des Art. 2 Abs. 1 GG nicht erweitert werde, sondern das Bundesverfassungsgericht lediglich die Frage des „Quis iudicabit" zu seinen Gunsten entschieden habe. Während vorher nur die Verwaltungsgerichte die Gesetzmäßigkeit der behördlichen Maßnahme und 119

Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 80, Fn.73; allgemeiner zur Interpretation des Art.2 I s. statt vieler Merten, Entfaltung der Persönlichkeit.(Fn. 11) u. Lorz (l.Teil, Fn. 138), 291 ff, m.w.N. auch zur Entwicklung u. Kritik dieser Position; zur Gegenmeinung s. das Sondervotum des Richters Grimm in BVerfG 80, 137 (164-179) (Reiten im Walde); aus der älteren Lit. s. statt vieler die umfangr. Nachw. bei Scholz, Entfaltung der Persönlichkeit (Fn. 28), 80 ff. 120 Vgl. nur BVerfGE 49, 89 (126f.) m.w.N.; E49, 168 (181); E50, 166 (173); E80, 137 (153); s. auch E6, 32 (42); E20, 150 (157f.); Robbers (Fn. 115), bes. Rn.50ff; zu alledem statt vieler auch Bauer (Fn. 115), 1153 f. m.w.N.; auch Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2109f.; Tomuschat (l.Teil, Fn.705), bes. 1074ff.; Pieroth/Schlink (l.Teil, Fn.5), Rn. 115. 121 Murswiek meint sogar, daß in diesem Fall grundsätzlich keine Anforderungen nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gestellt werden können (vgl. in: Michael Sachs [Hg.], Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl. München 1999, Rn. 140 zu Art. 2); differenzierend Bauer (Fn. 115), 1153f., u. Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), bes. 389; skeptisch gegenüber der Rspr. zum Vertrauensschutz als Bestandteil des tragenden Verfassungsprinzips „Rechtsstaat" und damit der „verfassungsmäßigen Ordnung" Quaritsch, Ausländer 0-Teil, Fn.9), Rn. 131.

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über Art. 20 Abs. 3 GG auch die Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze überprüft hätten, habe sich so das Bundesverfassungsgericht die flächendeckende Zuständigkeit für jedermann gesichert. 122 Materiale Grundrechtspositionen, wie sie den Spezialgrundrechten zu eigen sind, erwüchsen daraus jedoch nicht. 123 Andere behaupten das genaue Gegenteil: Die Wirkung der Grundrechte erschöpfe sich keineswegs darin, einen Aufhänger für die Verfassungsbeschwerde zu bilden, und dies gelte auch für Art. 2 Abs. 1 GG, der ebenfalls als materielles Freiheitsrecht aufzufassen sei. 124 Wie kaum anders zu erwarten, wird auch eine „vermittelnde" Position vertreten, die auf die Länge der Aufenthaltsdauer abstellt und davon ausgeht, daß Art. 2 Abs. 1 GG dem Ausländer zwar zu Beginn des Aufenthalts nicht viel mehr als eine prozessuale Rechtsposition verschaffe, diese sich jedoch mit zunehmender Aufenthaltsdauer um einen materialen Schutzgehalt anreichere. 125 Und wieder andere heben vor allem hervor, daß der Schutz aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht lediglich auf einen Menschenrechtskern reduziert sei, der möglicherweise nur vor dem Verbot jeglicher Berufstätigkeit oder absoluter Isolation bewahren würde, vielmehr jede Beschränkung der Legitimation bedürfe und insbesondere vor dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bestand haben müsse.126 Nun ist allerdings der Verweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie oben schon angedeutet, seinerseits nicht ohne Tücken und bietet Raum für ganz unterschiedliche Ansätze und Einschätzungen, wobei dieser Meinungsstreit stets auch vor dem Hintergrund der gegen die Lösung über Art. 2 Abs. 1 gerichteten Nivellierungskritik gesehen werden muß: Gerade wenn man die vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 12 Abs. 1 entwickelte Stufenlehre, wie das üblicherweise geschieht, als Ergebnis einer strikten Anwendung des Ver122

Quaritsch, Ausländer ( 1. Teil, Fn.9), Rn. 130. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2110; vgl. auch 2108 f., wo er betont, daß sich aus den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit keine Begründung neuer Rechtspositionen herleiten lasse. Die im wesentlichen prozessuale Bedeutung des Art. 2 I betont mit anderer Begründung auch Rüfner, Grundrechtsträger (l.Teil, Fn.964), Rn. 11. 124 Zuleeg, Freizügigkeit (1. Teil, Fn. 696), 222. 125 Gunther Schwerdtfeger, Welche rechtlichen Vorkehrungen empfehlen sich, um die Rechtsstellung von Ausländem in der Bundesrepublik angemessen zu gestalten?, in: Verhandl. des 53. DJT 1980, Bd.I, Gutachten A, S. A 5 ff. (A 31 f.); ähnlich Rittstieg, in: AK I, Rn. 164 zu Art. 12; Fritz Franz, Benachteiligung der ausländischen Wohnbevölkerung in Beruf, Gewerbe und Gesundheitswesen, in: ZAR 1989, 154 ff. (bes. 154 f.); dagegen u.a. Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn. 9), Rn. 135. 126 Vgl. dazu nur Kunig, in: Münch/ders., GGK I, 4. Aufl., Rn. 8 zu Art. 8, der dies im Blick auf die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit weiter ausführt; ähnlich (aber bezüglich der Verhältnismäßigkeitsprüfung differenzierend) Schwerdtfeger (Fn. 125), A 30 f. 123

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

hältnismäßigkeitsgrundsatzes betrachtet, die eben auch mit der von Stufe zu Stufe zunehmenden personalen Bedeutung für den einzelnen und der Nähe zur Menschenwürdenorm zu tun hat, liegt ja der Einwand auf der Hand, daß doch die Unterschiede im Schutzumfang zwischen Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dahinschmelzen müßten, da nicht recht einsichtig sei, wie sich „zweierlei Arten von Güterabwägung, eine für Art. 12, eine andere für Art. 2 Abs. 1, begründen lassen" (Schwabe). 127 Dieser bezweifelt auch (wie noch zu zeigen sein wird: zu Unrecht), daß Art. 2 Abs. 1, wie Zuleeg behauptet,128 im Gegensatz zu Art. 12 einen Konkurrenzschutz nicht verbiete. Sicherlich besitzt der Standpunkt Schwabes angesichts des Umstandes, daß das Gericht wiederholt festgestellt hat, daß „in materieller Hinsicht (...) der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Maßstab (bietet), nach dem die allgemeine Handlungsfreiheit eingeschränkt werden darf', 1 2 9 es nun aber der Sache nach nicht um „Reiten im Walde" geht, sondern beispielsweise im Fall jener Schweizerin, die 1988 vor dem Bundesverfassungsgericht als Beschwerdeführerin auftrat, um eine Berufszugangssperre, eine gewisse Plausibilität. Denn an der großen personalen Bedeutung des Berufs und der daraus folgenden Nähe der - hier nun als Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützten Berufsfreiheit 130 zu der nach Art. 1 Abs. 1 GG allen Menschen garantierten Menschenwürde kann sich natürlich nicht dadurch etwas ändern, daß es um die berufliche Betätigung einer Ausländerin geht. Dies legt es nahe, die in dieser Entscheidung getroffenen Aussagen zum unterschiedlichen Schutzumfang von Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG noch einmal näher zu beleuchten. Aus obigem Zitat 1 3 1 geht sicherlich klar hervor, daß das Gericht die von Schwabe vorgetragene Ansicht, daß Art. 2 Abs. 1 GG ebenso stark sei wie Art. 12 Abs. 1 GG, nicht teilt und sich zur Begründung auf das zwischen den beiden Bestimmungen bestehende Spezialitätsverhältnis und den weiten Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 stützt. - Doch was meint es mit der sibyllinischen 127

Schwabe, Anmerkung (Fn. 101), 1045; mit anderer Stoßrichtung auch Schwerdtfeger (Fn. 125), A 33. 128 Vgl. einerseits Schwabe, aaO; andererseits Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 368. Siehe in diesem Zusammenhang auch Franz (Fn. 125), 157 ff., der feststellt, daß eine Bedürfnisprüfung gegenüber Ausländern unter bestimmten Voraussetzungen anders als bei Deutschen - nicht verfassungswidrig sei, sowie zu weiteren Sonderregelungen für Ausländer im Gewerberecht. 129 BVerfG 80, 137 (153) (Reiten im Walde), unter Verweis auf BVerfGE 17, 306 (314); E55, 159 (165), E75, 108 (154f.). 130 Der Begriff ist hier untechnisch als gegenständliche Angabe des von der allgemeinen Handlungsfreiheit im konkreten Fall erfaßten Aspekts gemeint. 131 Siehe oben S.361 (bei Fn. 114).

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Wendung im letzten Satz des obigen Zitats, derzufolge Art. 2 Abs.l nur vor Eingriffen Schutz biete, „die von seinen Schranken nicht mehr gedeckt sind und nicht vom speziellen Regelungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG erfaßt werden (vgl. BVerfGE 35, 382 [399])"? Geht es hier um den Versuch, den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 im Vergleich zu dem des Art. 12 Abs. 1 von vornherein enger zu fassen (wenn ja, hinsichtlich welcher Aspekte?) oder um die Statuierung von Anforderungen auf der Ebene der Schranken, die den weiten Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 nochmals erweitern? Oder eher um einen Hinweis, der die Prüfung der Schranken-Schranken betrifft? Wie Sachs zutreffend bemerkt, 132 ist dieser Satz trotz der Berufung auf den früheren Beschluß ebenso neu wie schwer verständlich, so daß sich noch am ehesten angeben läßt, was nicht gemeint sein kann: Er kann jedenfalls nicht bedeuten, daß der sachliche Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG nicht berührt sein dürfe, denn sonst bestünde gar kein Konkurrenzproblem. Offenbar will das Bundesverfassungsgericht im Sinne seiner Beteuerung, daß der Nichtdeutsche, dem die Berufung auf Art. 12 Abs. 1 GG verwehrt ist, nicht etwa über Art. 2 Abs. 1 GG denselben Schutz beanspruchen könne wie ein Deutscher, im Ergebnis nur darauf hinaus, daß ganz bestimmte spezifische Schutzwirkungen des Art. 12 Abs. 1 GG ausschließlich den als Träger des Grundrechts des Art. 12 Abs. 1 GG privilegierten Deutschen vorbehalten seien. Doch woraus ergibt sich das nun? Konkreter gefragt: Auf welcher Prüfungsstufe läßt sich wohl nach Ansicht des Gerichts der gewünschte „Filtereffekt" einbauen, der im Ergebnis den schwächeren verfassungsrechtlichen Schutz des Nichtdeutschen begründen soll? Auf der Ebene des Schutzbereichs gilt im Grundsatz - und dies ist auch Grundlage der Anwendung dieser Norm durch das Gericht - daß, wenn Art. 2 Abs. 1 jedes beliebige Handlungsinteresse erfassen soll, „erst recht" die anerkanntermaßen aufgrund ihrer personalen Bedeutung so wesentlichen beruflichen Betätigungen von Ausländern abgedeckt sind (immer vorausgesetzt, man stimmt mit der heute überwiegenden Meinung darin überein, daß die Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 gegenüber den Spezialfreiheitsrechten nur dann zum Zuge kommt, wenn diese in ihrer gegenständlichen und personellen Reichweite eingreifen 133 ). Denkbar wäre jedoch, daß nur ein ganz bestimmter Aspekt - beispielsweise der Berufszugang als solcher - im Blick auf den „speziellen Regelungsbereich des Art. 12 A b s . l " aus dem Schutzbereich des Art.2 Abs.l 132

Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 388 (s. auch im übrigen seine eingehendere Auseinandersetzung bes. mit dieser Passage der Entscheidung); etwas anders H. Bauer (Fn. 115), 1153, der diesen Satz ebenfalls als mißverständlich kritisiert, aber Folgeprobleme im Blick auf den lex specialis-Grundsatz diagnostiziert. 133 So schon Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 81, Fn.73; s. auch die Nachw. bei Jarass/Pieroth (Fn. 108), Rn. 9 zu Art. 2.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

herausgenommen werden soll. Ganz abgesehen davon, daß damit aber gerade der gravierendste Eingriff in die hier als Teilaspekt der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützte Berufsfreiheit von einem Grundrechtsschutz im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 ausgenommen wäre und seine Funktion als Auffanggrundrecht für diesen Bereich so weitgehend leer liefe, kann das Bundesverfassungsgericht das schon deshalb nicht gemeint haben, weil es der Verfassungsbeschwerde ja gestützt auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG im wesentlichen stattgibt, woraus sich in jedem Fall schließen läßt, daß nach Auffassung des Gerichts der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 eröffnet gewesen sein muß. Auch die Feststellung des Gerichts, daß eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 nicht schon darin gesehen werden könne, daß Ausländern der Zugang zu einem Beruf verwehrt wird, führt im Blick auf die Frage nach den Unterschieden im Schutzumfang von Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 insofern noch nicht viel weiter, als dasselbe sogar für einen Deutschen bezogen auf Art. 12 Abs. 1 gelten würde: Zwar sind bei objektiven Zugangshindernissen nach der sog. Stufenlehre die höchsten Anforderungen an eine Rechtfertigung des Eingriffs zu stellen, doch wäre immerhin nicht von vornherein ausgeschlossen, daß der Eingriff noch von den Grundrechtsschranken gedeckt ist. 134 Und umgekehrt bedeutet der Umstand, daß die Berufszugangssperre bei einem Ausländer mit Art. 12 Abs. 1 vereinbar ist, noch nicht, daß sie damit auch von den Schranken des Art. 2 Abs. 1 gedeckt ist. Dementsprechend gab das Gericht trotz der Vereinbarkeit des die Erteilung einer Erlaubnis nach dem HPG an Ausländer versagenden §2 I b) der 1. DVO-HPG mit Art. 12 Abs. 1 GG der Verfassungsbeschwerde in dem zu entscheidenden Fall ja auch mit der Begründung statt, daß ein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vorliege, der dazu führe, daß die entscheidungserhebliche Norm nicht mehr Teil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG sei. Bleibt die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis auf den „speziellen Regelungsbereich des Art. 12 Abs. 1" möglicherweise eine zusätzliche, über den weiten Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 2. Hs. noch hinausgehende Anforderung auf der Schrankenebene formulieren wollte. Jedoch ist die Erweiterung eines Vorbehalts, der die mit der Verfassung insgesamt vereinbaren Beschränkungen erfaßt, nicht gut denkbar. 135 Es könnte also allenfalls um

134 Siehe dazu und zum folg. auch Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), hier bes. 388 mit Fn.46. 135 Vgl. dazu auch Sachs, Ausländergrundrechte, aaO, 388, der es für widersprüchlich hält, wie der Beschluß gleich zweifach die Sperrwirkung des Art. 12 Abs. 1 für den Grundrechtsschutz der Ausländer ableite: Sie könne nur entweder die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung bewirken oder eine zusätzliche Anforderung über die Schranken des Art. 2 I hinaus darstellen.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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eine Präzisierung dessen gehen, was mit der Verfassung, wenn es um die berufliche Betätigung von Ausländern geht, vereinbar sein könnte. Sachs, H. Bauer und andere meinen demgegenüber, daß sich der Vorbehalt gegenüber den Gründen aus dem „speziellen Regelungsbereich" des Art. 12 Abs. 1 GG sinnvoll erst auf die Ebene der Schranken-Schranken, namentlich auf die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, beziehen lasse.136 Im Rahmen dieser Prüfung muß nach Sachs die „grundrechtliche Wertigkeit, die Art. 12 Abs. 1 GG gerade beruflicher Tätigkeit deutscher Grundrechtsträger verleiht, außer Ansatz bleiben, für den Ausländer ist in die Abwägung nur ein beliebiges Handlungsinteresse einzustellen". 137 Und H. Bauer meint, daß es nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1988 überhaupt etwas zweifelhaft geworden sei, ob und inwieweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der näheren Bestimmung der Reichweite des Grundrechtsschutzes für die berufliche Betätigung von Ausländern zu berücksichtigen sei. Er vertritt im Ergebnis die Ansicht, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip zwar zur Anwendung komme, aber ein „ganz erheblich größerer Gestaltungsspielraum" offenstehe, was insbesondere zur Folge habe, daß die Prüfung grundsätzlich nicht anhand der für das Deutschengrundrecht der Berufsfreiheit entwickelten Dreistufentheorie erfolge. 138 Eine exakte und namentlich durch die Erfahrung von Fallreihen geprägte abschließende Festlegung sei damit freilich noch nicht gewonnen, sondern bleibe weiterhin diskussionsbedürftig. Bevor diese Positionen einer kritischen Würdigung unterzogen werden, soll noch ein weiterer Diskussionsbeitrag vorgestellt werden, der im Schrifttum ein sehr geteiltes Echo ausgelöst hat: Die insbesondere mit dem Namen Schwerdtfegers in Verbindung gebrachte These vom Anwachsen eines materialen Grundrechtsgehaltes mit Fortdauer des Aufenthaltes des Ausländers im Bundesgebiet.

c) Ergänzende Positionen in der Literatur (Schwerdtfeger

u.a.)

Im Rahmen der Verhandlungen des 53. Deutschen Juristentages hatte Schwerdtfeger unter der Fragestellung: Welche rechtlichen Vorkehrungen emp-

136

So Sachs, aaO, 389; im Ansatz etwas anders H. Bauer (Fn. 115), 1153 f., der den Ausdruck „speziellen Regelungsbereich" als „sachlichen Regelungsbereich" deutet, was allerdings noch nicht sehr viel weiter hilft, da der Begriff als solcher ja durchaus geläufig ist (vgl. nur Pieroth/Schlink [l.Teil, Fn.5], Rn. 197f., 208, 341 f.), nur die Bedeutung im Kontext der Entscheidung nicht ganz eindeutig ist. 137 Sachs, aaO. 138 Bauer (Fn. 115), aaO, 1154; s. auch Kunig, in: v. Münch/ders., GGK I, 4. Aufl., Rn. 3 u. 24 zu Art. 2. 24 Siehr

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

fehlen sich, um die Rechtsstellung von Ausländern angemessen zu gestalten? ein vielbeachtetes Gutachten zur Diskussion gestellt, in dem er sich auch speziell mit der Frage nach der Intensität des Grundrechtsschutzes von Ausländern auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 befaßt und sie - unter Bezugnahme auf den schon erörterten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - differenziert beantwortet: Damit der Grundrechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 im Blick auf den einfachen Gesetzesvorbehalt nicht leer laufe, müsse die Grundrechtseinschränkung ihrerseits nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „im Lichte der Bedeutung des Grundrechts" gesehen werden. Daraus folge die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, 139 den er sodann in der bekannten Prüfungsabfolge durchspielt; d.h. der Grundrechtseingriff muß geeignet sein, das gesetzgeberische Ziel zu fordern, und es darf auch kein milderes Mittel geben, durch welches es gleich wirksam gefordert werden kann (Ziel-Mittel-Relation). Schließlich dürfe aber - und darauf kommt es hier an - das gesetzgeberische Ziel in seiner Wertigkeit auch nicht außer Verhältnis zur materialen Grundrechtsposition stehen, die zurückgedrängt wird (Verhältnismäßigkeit i.e.S.). Die Intensität des Grundrechtsschutzes werde folglich auf der 3. Prüfungsstufe relevant - je stärker die Grundrechtsposition, um so höher muß das gesetzgeberische Ziel gewichtet sein, um den Eingriff zu rechtfertigen - und damit sei entscheidend, wie stark „die materiale Rechtsposition ist, welche Art. 2 I GG (...) dem Ausländer verleiht". 140 Dies ist aus Schwerdtfegers Sicht der grundrechtssystematische Standort für seine These von einem Anwachsen eines materialen Grundrechtsgehaltes, 141 denn nach seiner Auffassung ist im Aufenthaltsstatus und im Bereich der Deutschengrundrechte die materiale Grundrechtsposition und damit die Intensität des Grundrechtsschutzes von der Aufenthaltsdauer abhängig: Anfangs vermit139

Schwerdtfeger (Fn. 125), A 30f., auch Fn. 13. Für eine Herleitung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aus seiner Funktion als Schranke der Grundrechtsbeschränkung (und nicht in erster Linie aus dem Rechtsstaatsprinzip) sowie zu den Konsequenzen dieser unterschiedlichen Positionen s. auch Kunig, in: v. Münch/ders., GGK I, 4. Aufl., Rn. 24 f. zu Art. 2; ders., Das Rechtsstaatsprinzip, Tübingen 1986, 350 ff. m.w.N., der hinsichtlich dieser Auswirkungen allerdings ausdrücklich zwischen Art. 2 I und speziellen Freiheitsrechten differenziert: Als allgemeines Freiheitsrecht stelle Art. 2 I auch nur Verhältnismäßigkeitsanforderungen „allgemeiner" Art; anders jedoch schon dann, wenn es um den speziellen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geht, wo Gehalte des Art. 1 I in Art. 2 I einfließen. - Die spannende Frage, welcher Ansatz hier denn nun gilt, da die Berufsfreiheit des Ausländers doch über Art. 2 I als allgemeines Freiheitsrecht geschützt werden soll, sachlich aber auch in einer gewissen Nähe zu Art. 1 I steht, bleibt jedoch offen. 140 Schwerdtfeger, aaO, A 30 f. 141 Vgl. dazu aaO, A 31 ff. und A 19 f.

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tele Art. 2 Abs. 1 GG dem Ausländer nicht viel mehr als eine prozessuale Rechtsposition, denn abgesehen vom Asylrecht habe er keinen Anspruch auf (erstmalige) Aufenthaltsgewährung. Er sei auch nicht darauf angewiesen, seine Persönlichkeit gerade auf deutschem Territorium zu entfalten, zumal er dann noch in seinem Heimatstaat voll verwurzelt sei und insofern jederzeit zurückkehren könne. Demgemäß sei der materiale Grundrechtsgehalt des Art. 2 Abs. 1 zu Beginn seines Aufenthaltes zunächst gering. Die Situation ändere sich jedoch mit fortschreitender Aufenthaltsdauer: „Je länger der Aufenthalt in der Bundesrepublik andauert, um so mehr der Ausländer also darauf angewiesen ist, seine Persönlichkeit gerade in der Bundesrepublik zu entfalten (,Rechtsschicksal des Unentrinnbaren 4), um so mehr an materialem Schutzgehalt wächst dem Ausländer im Rahmen des Art. 2 I zu". 1 4 2 Entsprechend müßten die Gründe zunehmend gewichtiger sein, aus denen der Aufenthalt des Ausländers in der Bundesrepublik beendet oder seine Selbstentfaltung in der Bundesrepublik (Erwerbstätigkeit, Freizügigkeit) eingeschränkt werden könne. Spätestens ab dem Zeitpunkt, in welchem sich der Ausländer zu einem dauernden Verbleib in der Bundesrepublik entschlossen habe, sei anzunehmen, daß er für seine reale und soziale Existenz und damit auch für seine Persönlichkeitsentfaltung auf den Aufenthalt in der Bundesrepublik angewiesen sei. Da nach bestimmten empirischen Erhebungen die Absicht dauernden Verbleibs bei einer Verweildauer von 12 bis 15 Jahren sprunghaft von vorher 39% auf 74 % ansteige, aber auch im Blick auf frühere zeitliche Fixierungen des Gesetzgebers, stellt Schwerdtfeger die vorläufige Hypothese auf, daß jedenfalls nach einer Aufenthaltsdauer von 15 Jahren die Angewiesenheit des Ausländers auf die Existenzverwirklichung in der Bundesrepublik typischerweise so weit fortgeschritten sei, daß seine Situation insoweit der eines Deutschen vergleichbar sei. Er erreiche damit eine „materiale Verfassungsposition, welche - besonders auch im Bereich der Deutschen-Grundrechte - der Grundrechtsposition Deutscher gleich ist oder nahe kommt". 143 Nur nahe kommt die Grundrechtsposition des Ausländers der Grundrechtsposition Deutscher nach Schwerdtfegers Ansicht etwa bezüglich einer Ausweisung aufgrund der fortbestehenden Unterschiede zwischen Art. 16 und Art. 2 Abs. 1. Hingegen erreiche der Ausländer im Zeitablauf insbesondere bei der 142

AaO, A 32. Hier wie auch in anderen Passagen bezieht er sich ausdrücklich auf Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), bes. 78ff., 81 ff, abgesehen von der Bezugnahme auf das „Rechtsschicksal der Unentrinnbarkeit" (so I., 78) z.B. hinsichtlich der Feststellung, daß der Ausländer - bei Schwerdtfeger: anfangs - nicht auf Persönlichkeitsentfaltung gerade im Bundesgebiet angewiesen, vielmehr primär seinem Heimatstaat zugeordnet sei. Allerdings hatte Isensee hinsichtlich der menschenrechtlichen Angleichungsgebote gerade nicht auf die Aufenthaltsdauer, sondern auf Merkmale wie Staatenlosigkeit oder Asylberechtigung abgestellt (s. oben S. 346 und passim). 143 AaO, A 19 f., zum Zitat A 32.

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unselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeit eine Gleichstellung mit Deutschen. - Und nun formuliert Schwerdtfeger exakt jene Position, gegen die sich (wenigstens implizit) die oben dargestellten Einwände Schwabes richten: Er verweist darauf, daß die zu Art. 12 Abs. 1 entwickelte Stufentheorie doch nichts anderes als das Ergebnis einer strikten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei. Demzufolge müsse es „für das Abwägungsergebnis im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gleich sein, ob die Abwägung im Rahmen von Art. 12 I GG oder von Art. 2 I GG stattfindet". Dies gelte jedenfalls dann, wenn man seiner Prämisse folge, daß ein Ausländer nach einer Aufenthaltsdauer von 15 Jahren oder als Kind der zweiten oder dritten hier aufgewachsenen Ausländergeneration eine materiale Grundrechtsposition von gleicher Stärke habe, wie sie Deutschen nach Art. 12 Abs. 1 zukomme. Allerdings betreffe all dies nur den rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik, denn eine materiale Grundrechtsposition könne sich der Ausländer in den genannten Bereichen nicht erschleichen. 144 Es kann kaum überraschen, daß Schwerdtfeger mit dieser These, und insbesondere auch mit seiner klaren, dezidierten Schlußfolgerung zu Art. 12 Abs. 1 GG, ausgesprochen polarisierend gewirkt hat. Neben ausdrücklicher Zustimmung 145 oder auch Äußerungen, die tendenziell in dieselbe Richtung wie der von ihm vertretene Standpunkt gehen, 146 ist er wiederholt scharf kritisiert worden. 147 Gegenüber der von ihm gedanklich bereits vorweggenommenen Nivellierungs144

AaO, A 33. So Rittstieg, in: AK, Rn. 164 zu Art. 12; auch Werner Kanein, Die Wohlwollensklausel des deutsch-spanischen Niederlassungsvertrages, in: NVwZ 1982, 180 (181); tendenziell auch Karl Matthias Meessen, Das Grundrecht der Berufsfreiheit, in: JuS 1982, 397 ff. (401); wohl auch Michael Wollenschläger, Asylrecht und Ausbildung, in: ZAR 1985, 156 ff. (159), der jedoch bezogen auf den Bildungsbereich in erster Linie für eine Gleichstellung von Asylberechtigten plädiert, und zwar ebenfalls über Art. 2 I und eine differenzierte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 146 Siehe z.B. Franz (Fn. 125), 154 ff, der ebenfalls von einem Anwachsen einer materialen Grundrechtsposition ausgeht; vgl. auch aaO, 157, wo bezogen auf den Aufenthaltsstatus von einer „Anfangsphase grundrechtsfreier Ermessensbetätigung", aber auch davon die Rede ist, daß ausländerbehördliche „Berufsverbote" nicht mehr hinnehmbar seien, „sobald der Ausländer die rechtsentleerte Phase der ,Vogelfreiheit' (Verweis auf Isay, 1923) überwunden und an grundlegenden Verfassungsprinzipien teil hat". Allerdings nimmt F. (anders als Schwerdtfeger) neben Art. 2 I (aaO, 154) auch immer wieder auf Art. 12 I GG direkt Bezug, vgl. 154, 155 u. bes. 157, wo er davon spricht, daß eine Bedürfnisprüfung gegenüber Ausländern nicht verfassungswidrig sei, „solange ihre berufliche Rechtsposition nicht zum Vollrecht nach Art. 12 erstarkt ist". 147 Sehr krit. Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn. 9), Rn. 135 f.; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2109 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Rn.96 zu Art. 12; ablehnend auch Jörg Hofmann (l.Teil, Fn. 100), 23; Stern, Staatsrecht III/l (l.Teil, Fn.2), 1041; MadertFries ( 1. Teil, Fn. 47), 54 ff. (55 f.); zweifelnd Bauer (Fn. 115), 1154. 145

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kritik bzw. dem bekannten Einwand, daß der Verfassunggeber die Berufsfreiheit und andere Deutschenrechte doch ganz bewußt auf Deutsche beschränkt habe, macht Schwerdtfeger geltend, daß unser Grundrechtsverständnis zwischenzeitlich eine Vertiefung erfahren habe, die manche der Entscheidungen des Verfassunggebers in einem anderen Licht erscheinen lasse. So habe es sich auch gerade im Hinblick auf die Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG dahingehend entwickelt, daß heute ein lückenloser Grundrechtsschutz entstanden sei. Zudem werde die Verfassungsentscheidung, die in der Beschränkung der Deutschengrundrechte auf Deutsche liege, dadurch gewahrt, daß der materielle Grundrechtsschutz zu Beginn des Aufenthaltes gering angesetzt sei und erst nach und nach steige. 148 Die schließlich erreichte weitgehende Gleichstellung mit Deutschen ergebe sich aus Problemkonstellationen und soziologischen Erkenntnissen, die über den Erkenntnisstand des Parlamentarischen Rates hinausreichten. Im übrigen messe auch die Rechtsprechung der Aufenthaltsdauer wesentliche Bedeutung zu - entweder im (wie er meint: unpassenden) Zusammenhang mit dem Vertrauensschutzprinzip oder aber im zutreffenden Zusammenhang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 149 Kritiker wie Quaritsch oder Hailbronner halten dem entgegen, daß die Beobachtung, daß langer Aufenthalt die Rechtsposition des Ausländers sowohl im Blick auf den Aufenthaltsstatus (vgl. §§24 Abs. 1 Nr. 1, 27, 48 Abs. 1 AuslG) als auch im Arbeitsleben (vgl. §286 Abs. 1 SGB III; §2 Abs. 4, §3 Arbeitsgenehmigungsverordnung - ArGV) verstärke, zwar durchaus zutreffe; insbesondere werde der Zeitablauf rechtlich auch über den Grundsatz des Vertrauensschutzes (Vertrauen auf die Fortsetzung des bisherigen behördlichen Verhaltens) und der Verhältnismäßigkeit (im Blick auf die Folgen: Je länger der Aufenthalt, desto belastender die behördliche Maßnahme) erfaßt. Jedoch sei es verfehlt, daraus auf eine „materielle" Gleichstellung mit Deutschen im Bereich der Deutschengrundrechte zu schließen.150 Denn Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit seien als Momente des Rechtsstaatsbegriffs Bestandteile der „verfas-

148 Dies hält Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2110 f., für unerheblich, da das Grundgesetz nicht auf die Aufenthaltsdauer abstelle. Alle Interpretationskünste könnten nicht darüber hinweghelfen, daß Ausländern den Deutschen vorbehaltene Grundrechte nicht zustehen. 149 Schwerdtfeger (Fn. 125), A 33 f. m.w.N. 150 Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 135f. m.w.N. zur Rspr.; ähnlich Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2109, der meint, daß sich aus dem Umstand, daß das BVerfG offenbar in der mehrmaligen Wiederholung einer Aufenthaltserlaubnis, die ohne besondere Begründung oder Hinweise erfolgt, einen Vertrauenstatbestand sehe, keine verfassungsrechtlichen Argumente für eine fortschreitende Angleichung des Ausländers an den grundrechtlichen Status des Deutschen entnehmen lassen; a.A. Albrecht Weber, Anmerkung zum Beschluß des BVerfG vom 26.9.1978, in: DÖV 1979, 370.

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sungsmäßigen Ordnung" im Sinne des Art. 2 Abs. 1 2 Hs. GG. Insoweit decke sich dieser Ansatz noch mit dem des Bundesverfassungsgerichts, das sich im übrigen gegenüber der These einer materialen Angleichung sehr zurückhaltend gezeigt habe. 151 Schwerdtfeger gehe jedoch mit der - nicht haltbaren - Annahme, daß dem Ausländer nach 15-jährigem Aufenthalt eine gleich starke materiale Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 1 GG zustehe wie dem Deutschen aus Art. 12 Abs. 1 GG darüber hinaus. Dagegen spreche zum ersten, daß in Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit nichts enthalten sei, das geeignet wäre, die Differenz der Staatsangehörigkeit aufzuheben; zum zweiten, daß die Differenz gegenüber Deutschen ebenso aufgehoben würde wie die zu EG-Angehörigen. Zum dritten sei unklar, wie der Rechtserwerb auf Art. 12 Abs. 1 beschränkt bleiben könne, warum er sich dann nicht beispielsweise auch auf Art. 33 Abs. 2 beziehen solle. Zudem würde dadurch auch die deutsche Staatsangehörigkeit und das Verfahren ihres Erwerbs entwertet und die politisch nicht unproblematische Existenz der Anwesenheit großer Fremdengruppen verewigt. Schließlich könne auch kein „Verfassungswandel" oder neuer Erkenntnisstand zur Rechtfertigung herangezogen werden, da diese zwar die Auslegung beeinflussen, nicht aber Ausländer in Deutsche verwandeln könnten. 152 Richtigerweise müsse gerade umgekehrt die Unterscheidung von Jedermann- und Deutschenrechten durch den Verfassunggeber als selbständiges Abwägungsprinzip im grundrechtlichen Interessenausgleich berücksichtigt werden. 153 Diese unterschiedlichen Positionen zu einem Grundrechtsschutz von Ausländern über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG im Blick auf Freiheitsbetätigungen im sachlichen Schutzbereich der Deutschengrundrechte sollen nun auf ihre Tragfähigkeit und Überzeugungskraft hin überprüft werden.

d) Kritik Grundlegend ist natürlich zunächst, ob man mit dem Bundesverfassungsgericht, der übrigen Rechtsprechung und dem überwiegenden Schrifttum davon ausgeht, daß Art. 2 Abs. 1 GG als grundrechtliche Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu verstehen ist, also nicht nur einen bestimmten, be151

Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2109; ebenso Bauer (Fn. 115), 1154. Quaritsch, Ausländer (1. Teil, Fn. 9), Rn. 136; s. auch Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2109-2111; im Sinne der Nivellierungskritik auch Scholz, in: Maunz/Dürig, Rn. 96 zu Art. 12. 153 So Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2112 f.; zustimmend Quaritsch, Ausländer ( 1. Teil, Fn. 9), Rn. 117, Fn. 269. 152

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grenzten Lebensbereich, sondern jegliches menschliche Verhalten schützt und dem Bürger insofern einen Anspruch darauf gibt, „nur auf Grund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind". 154 Nach dieser Lesart fungiert Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht, d.h. er tritt einerseits hinter den speziellen Grundrechtsgewährleistungen zurück, soweit deren Schutzbereiche reichen (Subsidiarität), gewinnt jedoch Bedeutung, sobald kein Schutzbereich eines speziellen Grundrechts einschlägig ist. Auf diese Weise ist tatsächlich, wie Schwerdtfeger zutreffend festgestellt hat, ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet. 155 Es würde zu weit führen, nun all das, was im für und wider zu dieser Deutung des Art. 2 Abs. 1 bereits vorgetragen wurde, erneut aufzurollen. 156 Das erscheint vorliegend auch insofern verzichtbar, als eben nicht nur aus der in diesem Zusammenhang häufiger angeführten Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 1 GG, 1 5 7 sondern nach der hier vertretenen Auffassung auch aus der gesamten oben ausführlich geschilderten und in ihrer historischen Entwicklung beleuchteten Konzeption des Verfassungsstaates folgt, daß nur dieses Verständnis des Art. 2 Abs. 1 seinem Ziel gerecht wird, die Freiheit des Menschen - und nicht nur ganz bestimmte partikuläre Einzelfreiheiten - zu sichern, woraus sich dann im Umkehrschluß auch die Rechtfertigungsbedürftigkeit jeder Freiheitsbeschränkung ergibt. Nun läßt sich im nächsten Schritt fragen, ob diese Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG auch speziell bei Freiheitsbetätigungen von Ausländern im „Negativraum" von Deutschengrundrechten zum Tragen kommen kann, oder ob, wie Erichsen und andere meinen, die Deutschenvorbehalte auch und gerade „eine negative Regelung zu Lasten des Grundrechtsschutzes von Ausländern" beinhalten, 158 der einen Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 generell ausschließt, bzw. in 154 BVerfGE 29, 402 (408) unter Verweis auf BVerfGE 19, 253 (257); vgl. auch Pieroth/Schlink (l.Teil, Fn.5), Rn.368; eingehender u. m.w.N. (auch zur Rspr.) Alexy (l.Teil, Fn. 159), 309ff. (311 f.). Dagegen Erichsen, Handlungsfreiheit (Fn.10), Rn. 13ff. (17); ders., Art. 2 Abs. 1 (Fn. 104), 368, der zwar die umfassende Gewährleistung allgemeiner Handlungsfreiheit und die Funktion eines Auffangtatbestandes bejaht, sich gleichwohl gegen die Interpretation als Gewährleistung allgemeiner Eingriffsfreiheit wehrt. 155 Siehe in diesem Zusammenhang auch Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), Ls. 9. a): „Wo das Grundgesetz bestimmte Grundrechte nur den Deutschen zuspricht, entsteht für die Ausländer wegen Art. 2 Abs. 1 kein grundrechtliches Vakuum". 156 Siehe dazu oben in Fn. 104 f., Fn. 118 f. und passim. 157 Die Entwurfsfassung lautete: „Jeder kann tun und lassen, was er will"; vgl. JöR n.F., 1951 (l.Teil, Fn. 16), 54ff. 158 Dolde (l.Teil, Fn. 10), 61 f.; Erichsen, Handlungsfreiheit (Fn. 10), Rn.49; ders., Art.2 Abs. 1 (Fn. 104), 370; zust. v. Mutius (Fn. 10), 33; s. auch Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 35ff. (56); i. Erg. auch Ruppel (l.Teil, Fn.97), 33ff. (36); Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2110 f.; Schwabe, Anmerkung (Fn. 101), 1044 f.

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der Formulierung Starcks: ob die „personell eingeschränkte Gewährleistung besonderer Grundrechte (...) dem allgemeinen Freiheitsrecht tatbestandlich vor(geht)". 159 Schon im Blick darauf, daß es im Staat der Freiheit um die Freiheit des Menschen, nicht den Schutz bestimmter Sachbereiche als Selbstzweck geht, leuchtet eine solche Beschränkung der „Lückenfunktion" des Art. 2 Abs. 1 GG aber nicht so recht ein; sie muß vielmehr sowohl in sachlicher als auch in persönlicher Hinsicht eingreifen, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll. 1 6 0 Tatsächlich handelt es sich hier wohl auch nur um die Folgeerscheinung eines tieferliegenden Dissenses, der bereits in der vorangehenden allgemeinen Feststellung Starcks zutage tritt, daß das Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, noch dazu in seiner weiten Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Lehre, kein Menschenrecht sein könne, da die in Art. 1 Abs. 2 GG in Bezug genommenen Menschenrechte in der Regel besondere Freiheitsrechte seien und ein allgemeines Freiheitsrecht mit umfassender prozeßrechtlicher Gewährleistung unbekannt sei. Dementsprechend hält er die Aussage des Bundesverfassungsgerichts im oben zitierten Beschluß aus dem Jahre 1973, nach der das Recht „auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (...) als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern in der Bundesrepublik" zustehe, für „mißverständlich". 161 Es muß jedoch bezweifelt werden, daß ein solches „Mißverständnis" vorliegt. Wie schon wiederholt festgestellt wurde, macht es eben einen prinzipiellen Unterschied, ob man die grundgesetzliche Freiheit (nur) als Summe ganz bestimmter historisch-konkreter Einzelfreiheitsrechte begreift oder in dem oben schon angesprochenen Sinn noch grundlegender und umfassender bei „der Freiheit" (im Singular) ansetzt. Kant hatte dies in seiner Metaphysik der Sitten (Rechtslehre) von 1797 im Blick auf die Déclaration von 1789 in der oben schon zitierten berühmten Formulierung auf den Punkt gebracht: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht". Sie bestehe in der die „angeborne Gleichheit" einschließenden „Qualität

159

Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. (1. Teil, Fn. 31), Rn. 30 zu Art. 2 I. Ähnlich Kunig, in: v. Münch/ders., GGK I, Rn.3 zu Art. 2. 161 Starck, aaO, Rn.28 mit Fn. 110 zu Art. 2 I (unter Bezugnahme auf BVerfGE 35, 382 [399 f.]). Auch im Hinblick auf Dürig (in: Maunz/ders., Rn.66 zu Art. 2 I), der davon spricht, daß dieses Recht „Ausfluß des Menschseins und nicht der Staatsangehörigkeit" sei, stellt er, aaO, Fn. 110, der Eindeutigkeit dieser Aussage zum Trotz fest, daß dieser die oben angeschnittene Frage „offengelassen" habe. 160

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des Menschen, sein eigener Herr" zu sein, meint somit die nach einem allgemeinen Gesetz miteinander verträgliche Autonomie aller. 162 Vergegenwärtigt man sich dies und stellt ergänzend auch noch die weite, an die französische Déclaration angelehnte Fassung des allgemeinen Freiheitsrechts im ursprünglichen Entwurf („Jeder kann tun und lassen, was er will") in Rechnung, so erscheint es nicht schlüssig, die Entscheidung des Verfassunggebers für bestimmte Deutschengrundrechte als definitive Negativregelung des Inhalts auszulegen, daß Ausländer in diesen Freiheitsbereichen generell keinen Grundrechtsschutz genießen sollen. 163 Wie schon mehrfach betont wurde, steht bei dem skizzierten umfassenden Freiheitsverständnis nicht die „Verleihung" von Rechten im Vordergrund - wobei man dann den Deutschen mehr, den Ausländern weniger zuspricht - sondern paradoxerweise sind eher umgekehrt die abgestuften Einschränkungsmöglichkeiten von Bedeutung, wobei jeder Eingriff im Einzelfall rechtfertigungsbedürftig ist. Diesem Ansatz entspricht es, die mit den Deutschenvorbehalten verbundene Privilegierung der Deutschen in der Weise zu verstehen, daß den Ausländern gegenüber eine zusätzliche „Eingriffsreserve" geschaffen werden sollte, um gegebenenfalls vorrangig die besonderen (Schutz-)Pflichten des Staates gegenüber seinen Angehörigen realisieren zu können, um die auch die Diskussion der Deutschenvorbehalten im Parlamentarischen Rat kreiste. 164 Zweifellos widerspricht dies dem Prinzip gleicher menschlicher Freiheit, doch zeigt sich hier eben das (oben ausführlich erörterte) Dilemma des zwar einerseits menschenrechtlich-universalistisch fundierten, andererseits aber auch als Nationalstaat unter vielen anderen gegenüber den eigenen Angehörigen in besonderer Weise verpflichteten und um die Synthese dieser beiden so unterschiedlichen Aspekte ringenden Verfassungsstaates. Zumindest abgemildert wird der Widerspruch dadurch, daß man im übrigen „im System" bleibt, und das heißt: Es gibt zwar Gründe für mögliche Freiheitsbeschränkungen, die es bei Deutschen gar nicht geben kann, doch ist der Ein162

Kant, Metaphysik (l.Teil, Fn.244), Einl. der Rechtslehre, B., S.345. Hierzu H. Hofmann, Autonomieansprüche (l.Teil, Fn. 132), 60; ders., Verfassungsprinzip (l.Teil, Fn. 177), 239; ders., Rechtsstaat (l.Teil, Fn. 1), 14; Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie (l.Teil, Fn. 145), bes. Rn.48ff, 99ff. und pass.; zum Menschenrecht auf Freiheit und Gleichheit auch Schild (l.Teil, Fn.34), 39ff., insbes. 44ff. Zum Zusammenhang zwischen dem modernen Grund- und Menschenrechtsverständnis des Grundgesetzes und der Philosophie der Freiheit Kants s. insbes. auch die eingehende Untersuchung von Lorz(l.Teil, Fn. 138). 163 Insbesondere läßt sich ein Grundrechtsschutz auf der Basis von Art. 2 I dann auch nicht als ein (zudem von den zufälligen Differenzen in der Abfassung des Grundrechtskataloges durch den deutschen Verfassunggeber abhängiges) „Geschenk" apostrophieren, wie Schwabe, Anmerkung (Fn. 101), 1044, dies tut. 164 Hierzu oben im 1. Teil unter II. 2. a) (3) (b).

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

griff selbstverständlich im Einzelfall rechtfertigungsbedürftig, zumal nach der obigen Untersuchung eine abstrakt-generelle Rechtfertigung über den Verweis auf die besonderen Grundpflichten der Deutschen nicht trägt. 165 Daraus folgt, daß im konkreten Fall auch tatsächlich ein legitimer Grund für eine Freiheitsbeschränkung vorliegen und der Eingriff als solcher verhältnismäßig sein muß, aber natürlich auch sonstige rechtsstaatliche Bindungen zu beachten sind. Damit gilt hier prinzipiell nichts anderes als für Grundrechtsschranken im allgemeinen, die auch Möglichkeiten für Freiheitsbeschränkungen umreißen, ohne daß man umhin kommt, im Einzelfall zu prüfen, ob der Eingriff von der jeweiligen Schrankenregelung gedeckt ist und die Schranken-Schranken, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, beachtet worden sind. Dem wird die Ansicht, daß die Deutschenvorbehalte eine definitive negative Regelung zu Lasten des Grundrechtsschutzes der Ausländer darstellen, jedoch nicht gerecht. Oder umgekehrt: Diese Überlegungen sprechen - so die vorläufige Bilanz - für die Lösung über Art. 2 Abs. 1 GG. Fast schon mitbeantwortet ist damit der nächste Einwand gegen den Weg über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG: die Nivellierungskritik, wobei jedoch zwischen unterschiedlichen Aspekten und Spielarten zu unterscheiden ist. Sie beziehen sich teils auf die grundlegende Frage der Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht in diesem Bereich, teils spezieller auf den Umfang der Kontrolle am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips und zielen insbesondere auch auf dessen Modifikation durch Überlegungen zum „Hineinwachsen" der Ausländer in den materiellen Grundrechtsstatus der Deutschen. Um mit dem Erstgenannten zu beginnen: In einem grundsätzlichen Sinne besteht die „Gefahr" einer die Deutschenvorbehalte unterlaufenden Gleichstellung von Deutschen und (nicht als EG-Bürger privilegierten) Nichtdeutschen schon deshalb nicht, weil die Freiheitsbetätigung von Ausländern in den Negativbereichen der Deutschengrundrechte, wie eben festgestellt wurde, noch aus anderen Gründen beschränkt werden kann als bei Deutschen. An dieser Differenz im verfassungsrechtlichen Status ändert sich weder dadurch etwas, daß der einfache Gesetzgeber, wie das ja auch über weite Strecken der Fall ist, bewußt darauf verzichtet, von der mit den Deutschenvorbehalten gegebenen zusätzlichen „Eingriffsreserve" Gebrauch zu machen und einfachgesetzlich für eine weitgehende Gleichstellung von Deutschen und Ausländern sorgt, 166 noch dadurch, 165

Dazu oben im 1. Teil unter III. 3. a) (1). Dazu allgemein Zuleeg, Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 345; s. auch Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn.94, der vor allem die weitgehende Gleichstellung der Ausländer im Vereins- und Versammlungsrecht hervorhebt. Speziell bei Staatenlosen ist durch das Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet 166

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daß sich ein auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 GG überprüfter Eingriff im Einzelfall aus verfassungsrechtlichen Gründen, etwa unter dem Aspekt des vom Bundesverfassungsgericht zutreffend ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vertrauensschutzes 167 oder wegen Verstoßes gegen das Übermaß verbot, als rechtswidrig erweist. - Man käme ja beispielsweise auch im Blick auf Art. 14 GG nicht auf den Gedanken, daß seine Schranken obsolet seien, weil ein Eingriff im konkreten Fall wegen Verstoßes gegen das Prinzip des Vertrauensschutzes (bzw. Bestandsschutzes) oder gegen das Übermaßverbot für verfassungswidrig erklärt wird. Die in dieser Form der Nivellierungskritik unterschwellig mitschwingende Vorstellung, daß die Differenz im verfassungsrechtlichen Status sich auch in jedem Einzelfall im Ergebnis in einer Schlechterstellung des Ausländers offenbar unabhängig von den Umständen des konkreten Falles - auswirken müsse, bleibt in dem oben dargelegten Sinne nicht „im System", denn dieses setzt die Rechtfertigungsbedürftigkeit jeder Freiheitsbeschränkung voraus. Sie steht zudem im Widerspruch zu allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen, aber auch zum Anliegen des „Menschenrechtsstaates", das im Blick auf diese für ihn heikle Problemkonstellation doch darauf gerichtet sein muß, die zwar unvermeidbare, aber aufgrund des dadurch ausgelösten Selbstwiderspruchs gleichwohl schwierige, partielle Durchbrechung des Grundsatzes gleicher Freiheit aller auf das zur Erfüllung der Aufgaben, die er als Staat ganz speziell seinen Angehörigen gegenüber übernommen hat, 168 wirklich notwendige Maß zu begrenzen. Wie die obige Analyse der Debatte im Parlamentarischen Rat gezeigt hat, entspringen die Deutschenvorbehalte im Grundrechtsteil dem (verfassungsneutralen) angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zwischen Staat und Staatsangehörigem und aktualisieren hier vornehmlich den Schutzaspekt, wobei diese Form staatlichen Schutzes aber nicht primär auf Freiheit zielt, sondern eher in einem ganz existentiellen Sinne auf die Sicherung von Lebenschancen der Deutschen im Inland und ihrer Rechte im Ausland. 169 Wird die aufgrund der

v. 25.4.1951 (BGBl. I, 269), bes. §§ 12-20 des Gesetzes, sowie durch zahlreiche Einzelgesetze (z.B. §3 I S. 1 Nr. 1 BÄrzteO [BGBl. 1978 I, 1218] oder §5 a Ziff. 2 der Ausländer-ReisegewerbeVO [BGBl. 1976 I, 1352]) eine weitgehende Inländergleichstellung gewährleistet. 167 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 72, 200 (242 m.w.N.); 76, 256, Ls. 6 u. pass.; auch E80, 137 (163 f.); krit. Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 131. 168 So sinngemäß Laband, Staatsrecht I (l.Teil, Fn.296), 1. Aufl., 137, 150ff. 169 Die Diskussion kreiste angesichts der wirtschaftlichen Not in erster Linie darum, wie den (Bundes-)Deutschen „ein auskömmliches Leben" gesichert, für eine angemessene Versorgung mit Wohnraum gesorgt oder wie ihnen auf der Basis der Reziprozität die Vereinsfreiheit gesichert werden könne; vgl. dazu im einzelnen oben im 1. Teil unter II. 2. a) (3) (b).

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Deutschenvorbehalte gegenüber Ausländern gegebene zusätzliche „Eingriffsreserve" in den fraglichen Freiheitsbereichen nun aber ihrerseits rechtsstaatlich kontrolliert und eingehegt, mithin in das System der von den Grundrechtsschranken her geläufigen, rechtsstaatlich gebundenen Freiheitsbeschränkungen integriert, so wird damit die vom Verfassungsstaat angestrebte Synthese zwischen der Idee des Staates und der der Menschenrechte doch immerhin noch ein kleines Stück weiter vorangetrieben bzw. der geschilderte innere Widerspruch etwas entschärft. Davon, daß die vom Verfassunggeber mit der Statuierung der Deutschenvorbehalte gegenüber Ausländern geschaffene „Eingriffsreserve" oder wenn man so will: die zusätzlichen Schranken - durch die üblichen rechtsstaatlichen Kontrollen „eingeebnet" würden, kann jedoch keine Rede sein. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die oben zitierte und von Sachs nicht ganz zu Unrecht als unklar kritisierte Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluß vom Mai 1988, daß Art. 2 Abs. 1 GG nur vor Eingriffen Schutz biete, „die von seinen Schranken nicht mehr gedeckt sind und nicht vom speziellen Regelungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG erfaßt werden", 170 einen neuen Sinn: Man kann Art. 2 Abs. 1, wenn es um die Berufsfreiheit von Ausländern geht, nicht so prüfen, als gäbe es Art. 12 Abs. 1 überhaupt nicht. Wäre das der Fall, so hätte das Bundesverfassungsgericht vermutlich längst bezogen auf den Bereich von Arbeit, Beruf und Ausbildung aus der allgemeinen Handlungsfreiheit heraus eine spezielle Grundrechtskonkretisierung entwickelt, deren tatbestandliche Voraussetzungen entsprechend enger gezogen wären als diejenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit. 171 Sicherlich könnte es auf die so konkretisierte Einzelverbürgung dann prinzipiell auch die sog. Stufenlehre anwenden, die, wie oben bereits erörtert wurde, ja gar nicht primär von speziellen Festsetzungen des Art. 12 Abs. 1 selbst lebt, sondern von einer strikten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Blick auf die unterschiedliche Nähe der einzelnen Eingriffsebenen zur persönlichen Entfaltungsfreiheit und Würde des Menschen. Doch hat der Verfassunggeber Art. 12 Abs. 1 GG nun einmal in den Grundrechtskatalog aufgenommen und sich damit auch verfassungskräftig für den Deutschenvorbehalt des Abs. 1 entschieden. Dieser gehört zum speziellen Re170

BVerfGE 78, 179ff. (197); s. dazu oben S.359ff., bes. 361 f. und zur Kritik S. 366 ff. 171 Vgl. zu diesem Vorgehen des Gerichts allgemein Pieroth/Schlink (l.Teil, Fn.5), Rn. 373 ff. m.w.N.; vgl. speziell in dem hier diskutierten Zusammenhang auch Tomuschat (1. Teil, Fn. 705), 1074: „Denn kaum zu leugnen ist, daß das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, bei dessen Einschränkung wie auch sonst im Grundrechtsbereich anhand des Maßstabes der Verhältnismäßigkeit abgewogen wird, zu keinem qualitativ völlig andersartigen und geringerwertigen Schutz führt als irgendeines der spezielleren Grundrechte".

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gelungs-, nicht aber zum Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1, denn er trifft keine Aussage darüber, was für die Träger dieses Grundrechts, die Deutschen, inhaltlich geschützt ist, regelt vielmehr lediglich, daß Nichtdeutsche hinsichtlich dieses Schutzes nicht gleichgestellt sind. Wie schon festgestellt wurde, kann daraus jedoch nicht etwa, wie Kritiker der Lösung über Art. 2 Abs. 1 GG meinen, geschlossen werden, daß Nichtdeutsche nun für diesen Bereich überhaupt keinen Grundrechtsschutz genießen. Dieser soll nur im Bereich der Berufsfreiheit, der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Freizügigkeit aus den schon erläuterten Gründen leichter einschränkbar sein. 172 Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf den „speziellen Regelungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG" kann aber sinnvollerweise nicht als zusätzliche Anforderung oder Erweiterung des denkbar weitesten Schrankenvorbehalts gedeutet werden, eher als Präzisierung dessen, was zur „verfassungsmäßige(n) Ordnung" nach Art. 2 Abs. 1 GG gehört: Er macht auf die aus dem Deutschenvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 GG im Umkehrschluß zu entnehmende zusätzliche „Eingriffsreserve" gegenüber Nichtdeutschen aufmerksam, denn ohne seine Berücksichtigung käme man über Art. 2 Abs. 1 GG in der Tat zu der vielfach behaupteten verfassungsrechtlichen Gleichstellung von Deutschen und Nichtdeutschen. Liest man Art. 2 Abs. 1 GG aber im Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1 GG wie dies ja auch dem Grundsatz der Einheit der Verfassung im allgemeinen und der Schranke der verfassungsmäßige(n) Ordnung im besonderen entspricht dann verliert der Einwand Schwabes, Art. 12 Abs. 1 GG sei (jedenfalls in seinem negatorischen Gehalt) „gleich stark" wie Art. 2 Abs. 1 GG, 1 7 3 seine Überzeugungskraft. Mag dies auch bei einer abstrakten und getrennten Betrachtung der beiden Grundrechte so sein, so kann es doch in der konkreten Anwendung des Art. 2 Abs. 1 auf berufliche Betätigungen von Nichtdeutschen schon deshalb nicht richtig sein, weil die Freiheit von Nichtdeutschen in diesem Bereich eben zusätzlich noch aus anderen Gründen eingeschränkt werden kann als bei Deutschen (und das Gleiche gilt dann auch entsprechend für Art. 8 Abs. 2). Insofern ist auch Zuleeg 174 - entgegen der von Schwabe geäußerten Zweifel - darin 172

Bei einigen Deutschenvorbehalten wurde das im Parlamentarischen Rat sogar ganz direkt formuliert. So wurde beispielsweise ausdrücklich betont, daß die Beschränkung der Versammlungsfreiheit auf Deutsche nicht bedeute, daß Ausländer keine Versammlungsfreiheit haben sollten, sondern nur, daß man sie „administrativ oder sonstwie" leichter einschränken könne; dazu oben S. 174 f. m.w.N. 173 Schwabe, Anmerkung (Fn. 101), 1044, der feststellt, daß der Rückgriff auf Art. 2 I dann praktisch nichts anderes bedeute, als „Jeder Deutsche" durch „Jedermann" zu ersetzen; insoweit unzutreffend auch Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 388, der in einer solchen Konsequenz den „einzige(n) Schönheitsfehler" des bundesverfassungsgerichtlichen Ansatzes erblickt. 174 Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 368.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

zuzustimmen, daß Art. 2 Abs. 1 hier im Gegensatz zu Art. 12 einen Konkurrenzschutz grundsätzlich nicht verbietet: Waren es doch gerade die befürchteten „Gefahren für eine ordnungsgemäße Versorgung der Inländer mit Arbeit und Brot", die den Parlamentarischen Rat dazu veranlaßt haben, Art. 12 Abs. 1 nicht zum „vollen Menschenrecht" auszubauen, um sicherzustellen, daß der Staat in einer wirtschaftlich bedrängten Situation in der Lage ist, zunächst einmal den „Deutschen ein auskömmliches Leben" zu garantieren. 175 - Und solche Überlegungen schließen dann insbesondere auch den Schutz der eigenen Angehörigen vor ausländischer Konkurrenz ein. Eine ganz andere Frage ist, inwieweit ein solcher Konkurrenzschutz einerseits mit internationalem Recht vereinbar wäre und wie lange dies andererseits gegenüber einem im Lande lebenden Nichtdeutschen zur Rechtfertigung von Freiheitsbeschränkungen herangezogen werden könnte. Wie ein Blick in das einfache Recht zeigt, 176 kann die Arbeitserlaubnis nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes für eine bestimmte berufliche Tätigkeit in einem bestimmten Betrieb oder unbeschränkt erteilt werden (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ArGV), wobei die Wartezeit für die erstmalige Erteilung nach § 3 Nr. 1 bis 3 ArGV zwischen 1 bis 4 Jahren liegen kann. 177 Und nach §286 Abs. 1 SGB III wird eine Arbeitsberechtigung erteilt, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis besitzt und fünf Jahre rechtmäßig eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Bundesgebiet ausgeübt hat oder sich seit sechs Jahren im Bundesgebiet ununterbrochen aufhält. 178 Auch in speziellen Bereichen wie dem

175 Dazu oben im l.Teil unter II. 2. a) (3) (b). Albert Bleckmann und Claudia Wiethoff betonen, daß es heute insbesondere um das Problem der Arbeitslosigkeit gehe, so daß umgekehrt in Zeiten der Vollbeschäftigung dem Ausländer aus Art. 2 I ein umfassendes Recht auf freie Berufsausübung zustehe, sofern er die entsprechenden Qualifikationsvoraussetzungen erfülle. So dürfe z.B. die Berufsfreiheit eines ausländischen Arztes nur beschränkt werden, wenn in der betreffenden Fachsparte zahlreiche deutsche Ärzte arbeitslos seien (Zur Grundrechtskonkurrenz, in: DÖV 1991, 722 ff. [725 f.]). 176 Eingehend zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Rechtsstellung des Ausländers (Aufenthaltsstatus, Teilnahme am Wirtschaftsleben, sozialer Bereich, Ausbildung, Ehe und Familie etc.), allerdings noch nach altem Recht, Hailbronner, Die Rechtsstellung von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland, in: Frowein/Stein (Hg.), (l.Teil, Fn.534), Bd. 1, 323-432; zur Reform des AuslG v. 1990, die u.a. zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Aufenthaltsstatus und zu einer verstärkten gesetzlichen Ermessensbindung der Behörden geführt hat, s. Michael Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, Baden-Baden 1991. 177 Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für ausländische Arbeitnehmer (ArGV) v. 17.9.1998 (BGBl. I, 2899). 178 Das seit dem 1.1.1998 geltende SGB III - Arbeitsförderung - v. 24.3.1997 (BGBl. I, 594) tritt an die Stelle des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) v. 25.6.1969 (BGBl. I, 582), zul. geänd. durch Gesetz v. 22.10.1997 (BGBl. I, 2486).

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Reisegewerbe mißt der Gesetzgeber der Dauer von Aufenthalt und Gewerbeausübung im Inland erkennbar Bedeutung bei. So ist eine - Deutschen gegenüber ja nach dem berühmten Apothekenurteil tabuisierte - Bedürfnisprüfung beispielsweise gegenüber einem ausländischen Inhaber von Reisegewerbekarten zunächst zulässig (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Ausländer-Reisegewerbeverordnung), kann aber bei einer Verlängerung nach fünfjährigem Inlandsaufenthalt entfallen (§ 3 Abs. 2 der VO) und entfällt schließlich ganz nach zehnjährigem Aufenthalt und unbefristeter oder sonst auflagenfreier Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 5 a Ziff. 1. b) der VO). 1 7 9 Das einfache Recht berücksichtigt in den genannten Bereichen also offenbar die Gesichtspunkte der Aufenthaltsdauer und des daran geknüpften Vertrauensschutzes. Damit gelangt man zu der oben aufgeworfenen Frage, welche rechtliche Bedeutung ganz allgemein dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit in diesem Zusammenhang zukommt und ob sich hinsichtlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung Modifikationen ergeben. Wie schon erwähnt, schlägt Sachs vor, 1 8 0 den „speziellen Regelungsbereich" des Art. 12 Abs. 1 GG auf der Ebene der Schranken-Schranken, namentlich bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung, in der Weise einzubeziehen, daß in deren Rahmen nun die besondere Wertigkeit, die Art. 12 Abs. 1 gerade der beruflichen Tätigkeit deutscher Grundrechtsträger verleiht, außer Ansatz bleibt und für den Ausländer in die Abwägung nur ein „beliebiges Handlungsinteresse" eingestellt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, daß vielfach die These vertreten wird, daß die Wirkungen der Grundrechte gar nicht so sehr durch die unterschiedliche Ausgestaltung der Grundrechtsvorbehalte bestimmt werden als vielmehr durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. 181 Die Vorstellung ist also offenbar die, daß es aufgrund der in gleicher Weise durchzuführenden Verhältnismäßigkeitsprüfung im Ergebnis keinen großen Unterschied mehr machen würde, ob die Berufsfreiheit nun bei Art. 12 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 geprüft wird. Das hinter dem Vorschlag von Sachs stehende Anliegen, trotzdem einen gestaffelten Grundrechtsschutz für Deutsche und Nichtdeutsche im Bereich der Berufsfreiheit sicherzustellen, ist einleuchtend, der dafür angebotene Lösungsweg aber wenig überzeugend: Wie soll man denn auf der dritten Stufe der Ver-

179 AusländerreisegewerbeVO i.d.F. der Bekanntmachung v. 1.6.1976 (BGBl. I, 1351), zul. geänd. durch Art. 5 der VO zur Aufhebung und Änderung wirtschaftsrechtlicher VOen v. 24.8.1984 (BGBl. I, 1154) u. BGBl. 1986 I, 1634. 180 Sachs, Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 389. 181 Vgl. zu dieser These und der Gegenthese, die davon ausgeht, daß die unterschiedliche Ausformung der Vorbehalte von erheblicher Bedeutung sei, da sie dazu führe, daß es stärkere und schwächere Grundrechte gebe, Christian Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, Baden-Baden 1998, 218 ff.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

hältnismäßigkeitsprüfung (Verhältnismäßigkeit i.e.S.), um die es hier geht, ein „beliebiges" (welches?) Handlungsinteresse zugrunde legen können, wenn tatsächlich die Berufsfreiheit betroffen ist? Man kann sich bei der Abwägung doch nicht bewußt blind stellen und so tun, als ginge es um ein Handlungsinteresse, das in seiner personalen Bedeutung beispielsweise dem Tauben-Füttern vergleichbar ist, obwohl man weiß, daß eine Berufszulassung in Frage steht. Der ohnehin immer wieder kritisierte Rationalitätsmangel von Abwägungsentscheidungen, dem man durch größtmögliche Transparenz und intersubjektive Nachvollziehbarkeit der juristischen Argumentation gegenzusteuern sucht, die in besonderen Formen, nach besonderen Regeln und unter besonderen Bedingungen stattfindet, 182 wäre in diesem Fall evident. Zudem ist es auch nicht ganz richtig, daß das Grundgesetz über Art. 12 Abs. 1 gerade - und das heißt hier wohl: ausschließlich - der beruflichen Tätigkeit deutscher Grundrechtsträger eine besondere Wertigkeit verleiht. Damit soll natürlich nicht bestritten werden, daß der in Art. 12 Abs. 1 verankerten Berufsfreiheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein hoher Stellenwert zukommt. Nur wurde dies in Rechtsprechung und Schrifttum, wie oben schon ausführlich dargelegt, übereinstimmend aus der besonderen Nähe zur Würde des Menschen und der Bedeutung des Berufs für seine personale Entfaltung abgeleitet, mit anderen Worten: aus menschenrechtlichen Verbürgungen des Grundgesetzes. Fest steht aufgrund des Deutschenvorbehaltes des Art. 12 Abs. 1 also nur, daß das Grundgesetz der Berufsfreiheit der Deutschen einen besonderen - im Verhältnis zu Nichtdeutschen stärkeren - Schutz zukommen lassen will, nicht aber, daß es der Berufsfreiheit der Nichtdeutschen als solcher einen anderen Wert beimißt. Der schwächere Schutz der Nichtdeutschen äußert sich bereits darin, daß ihre Berufsfreiheit, wie mit dem Deutschenvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 verfassungskräftig festgestellt ist, leichter eingeschränkt werden kann, und zwar aus Gründen, hinter denen, wie oben erläutert, das Nationalstaatsprinzip i.e.S. als ein gegenüber der Idee gleicher menschenrechtlicher Freiheit gegenläufiges Prinzip steht. Sicherlich wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Beschränkungen der Berufsfreiheit gegenüber Nichtdeutschen oft schon auf der ersten oder zweiten Prüfungsstufe greifen. Kommt es dann aber doch einmal zu einer Abwägung, so ist bei Nichtdeutschen nicht etwa das Gewicht der Berufsfreiheit geringer, sondern es gibt zusätzliche gewichtige Gegengründe für eine Freiheitsbeschränkung.

182

Siehe dazu Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1991, 17ff, 349ff, 352ff. (356ff.) u. pass.; krit. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (l.Teil, Fn. 165); s. auch Pieroth/ders. (l.Teil, Fn. 5), Rn.289ff.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Auf derselben Linie liegt die Antwort auf die von Schwerdtfeger und anderen vertretene These von einem Anwachsen der materiellen Grundrechtsposition des Ausländers bei längerem Aufenthalt: Es leuchtet nicht ein, daß die besondere Nähe zur Würde des Menschen und die besondere personale Bedeutung des Berufs sich erst mit Fortdauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik herausstellen und in einem Zuwachs der materiellen Grundrechtsposition niederschlagen soll. Im übrigen steht dies auch im Widerspruch zu den geistigen Grundlagen des modernen, menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaates, der sich doch in den Dienst der angeborenen, unveräußerlichen Rechte des Menschen zu stellen verspricht. Die Idee ist ja gerade, daß diese Rechte weder staatlicherseits verliehen werden noch in anderer Weise erst durch Verdienst, Wohlverhalten etc. erworben werden müßten, sondern dem Staat vorgegeben und dem Menschen angeboren, sprich: mit dem Menschsein als solchem verknüpft sind. Dennoch enthält die These Schwerdtfegers einen wahren Kern: Seine Beobachtung, daß die Rechtsposition des Ausländers sich mit Fortdauer des Inlandsaufenthaltes verstärkt, trifft durchaus zu. 183 Nur hat dies einerseits damit zu tun, daß insbesondere der Vertrauensschutz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips den Zeitfaktor auch in seiner rechtlichen Dimension einfängt, zum anderen aber auch damit, daß die Gegengründe, die speziell bei Ausländern Beschränkungen in diesem Bereich rechtfertigen, mit der Zeit an Gewicht verlieren. Letzteres muß vor dem Hintergrund des oben eingehend geschilderten Dilemmas der Menschenrechte gesehen werden: Sie können nur in einer partikulären politischen Gemeinschaft verwirklicht werden, sind im „Staatenpluriversum" auf den Schutz durch einen historisch-konkreten Staat angewiesen. Der Zugehörigkeit zu einer partikulären staatlichen Gemeinschaft kommt damit für den Schutz der Menschenrechte eine Schlüsselstellung zu. Zwar wird ein Staat, der sich aus der Idee der Menschenrechte heraus legitimiert, die Menschenrechte, soweit sie auf den Gegenbegriff des „Unrechts" reagieren, strikt gegenüber jedermann schützen. Und bezogen auf den Schutz der Freiheit bzw. einzelner Freiheiten wird er sie, wie gerade auch das Grundgesetz beweist, zumindest weitgehend gegenüber jedermann schützen. Doch gibt es in einzelnen Freiheitsbereichen, wie das Beispiel der Berufsfreiheit besonders deutlich zeigt, Überschneidungen zwischen der menschenrechtlichen Freiheit und dem Schutz elementarer Lebenschancen,184 die der Staat zunächst einmal seinen eigenen Angehörigen sichern will. Geht es um die Verteilung von Arbeitsplät183

Dies räumt auch Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 135, im Blick auf das einfachgesetzlich ausgestaltete Aufenthalts- und Berufsrecht ein. 184 Wie die Analyse der Debatte im Parlamentarischen Rat gezeigt hat, werden diese auch eher in soziologischen oder ökonomischen Kategorien diskutiert; vgl. dazu oben bes. S. 178 f. 25 Siehr

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

zen als „knappes Gut" oder den Zugang zu sonstigen Einrichtungen, die - wie etwa die Hochschulen185 - Lebenschancen vermitteln, dann spielt die Frage der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu jener Gemeinschaft, die die wirtschaftlichen Güter und den Reichtum des eigenen Landes durch ihre Leistungen in der Vergangenheit gemeinschaftlich erwirtschaftet hat, eine entscheidende Rolle. - Was gäbe der jeweiligen partikulären staatlichen Gemeinschaft im globalen Wettbewerb mit den vielen anderen auch Veranlassung, sofort und bereitwillig mit jedem Neuankömmling zu teilen? Hat dieser dann aber über Jahre oder sogar Jahrzehnte zur Erwirtschaftung des Bruttosozialproduktes seinen Beitrag geleistet, Steuern und Sozialabgaben gezahlt, 186 verlieren die durch das Nationalstaatsprinzip getragenen Argumentationsmuster, sprich: die für Beschränkungen der Berufsfreiheit oder des Hochschulzugangs ins Feld geführten Gegengründe, zwangsläufig an Gewicht. Das Fazit lautet somit: Dem Ausländer wächst kein Grundrecht zu, sondern die mit den Deutschenvorbehalten verfassungsrechtlich prinzipiell als legitim anerkannten, gleichwohl, da es nicht um eine Blanko-Rechtfertigung für Eingriffe gehen kann, für jeden Bereich gesondert zu konkretisierenden, speziellen Gründe für Freiheitsbeschränkungen bei Ausländern im Negativbereich der Deutschengrundrechte verlieren mit der Zeit an Überzeugungskraft. Im Rahmen einer Abwägung verschieben sich folglich die Gewichte immer weiter zugunsten der beruflichen Betätigungsfreiheit des Ausländers, auch ohne daß etwa jetzt erst deren aus der Nähe zur Würde und Entfaltungsfreiheit des Menschen resultierende besondere Bedeutung „entdeckt" würde. Der Gesetzgeber trägt dem einfachgesetzlich in Form einer zunehmenden Statusverfestigung durch die 185

In Studiengängen mit Zulassungsbeschränkungen werden Ausländer im Rahmen einer Quote zugelassen. Bevorrechtigt zugelassen werden Ausländer, die in der Bundesrepublik die Hochschulzugangsberechtigung erworben haben. Daneben sind u.a. Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Vereinbarungen zu berücksichtigen; s. dazu Hailbronner, Rechtsstellung von Ausländem (Fn. 176), 399 ff. (400); für weitere Einzelheiten Axel Schulz, Die Teilhabe von Ausländem an der Hochschulausbildung, in: ZAR 1987, 72 ff; bezogen speziell auf Asylberechtigte auch Wollenschläger (Fn. 145); ganz allgemein zur legitimen Bevorzugung der Deutschen bei derartigen Vergabeentscheidungen (im Gegensatz zu existenznotwendigen Leistungen) Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 87. 186 Z u diesem Aspekt Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 368; vgl. in diesem Zusammenhang auch die bei Tomuschat (l.Teil, Fn.705), 1077 (mit Fn.56), als beispielhaft zit. amerikanische Entscheidung Graham v. Richardson, in der die durch Ges. des Staates Arizona angeordnete Beschränkung des Sozialhilfeanspruchs („welfare benefits") auf amerikanische Staatsangehörige mit der Erwägung für verfassungswidrig erklärt wurde, daß der Fremde mit den von ihm bezahlten Steuern zur Aufbringung der öffentlichen Finanzmittel beigetragen habe, aus denen die Unterstützung gezahlt werde; 403 U.S. 365 (1971).

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Konsolidierung des Aufenthaltsstatus des Ausländers und den Anspruch auf Erteilung einer Arbeitsberechtigung nach fünfjähriger ununterbrochener Berufstätigkeit durchaus Rechnung. Verfassungsrechtlich wird die Behördenpraxis zudem durch die Kontrolle der Beachtung des Prinzips des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit von Einzelmaßnahmen flankiert. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, daß dadurch die Staatsangehörigkeit entwertet werde, denn es geht um einen Befund, der in der oben skizzierten Argumentationsstruktur selbst angelegt ist, nicht etwa um ein bloßes Bekenntnis zu einem rechtspolitischen Postulat. Auch ist es zweifellos richtig, daß die Staatsangehörigkeit an Bedeutung verliert, wenn immer mehr Rechtspositionen völlig unabhängig von ihr bestehen. Dies folgt aber bis zu einem gewissen Grade - eine wirkliche Gleichstellung von Staatsangehörigen und Ausländern oder Staatenlosen wird es in einer in über 160 Nationalstaaten aufgeteilten Welt nicht geben - bereits aus dem verfassungsrechtlichen Bekenntnis zur Idee der Menschenrechte. Diese können die Kategorie der Staatsangehörigkeit gar nicht kennen, da aus ihrer Perspektive, wie oben erläutert, weder das Phänomen der Zugehörigkeit zu einer sich gegenüber anderen abgrenzenden partikulären politischen Gemeinschaft noch die der Staatsangehörigkeit zugrundeliegende identitätsstiftende Differenz zu erfassen ist. 187 Speziell in dem oben geschilderten Fall hat man es jedoch noch mit einem ganz anders gelagerten Problem zu tun: Einer Argumentation, die gerade nicht menschenrechtlich ansetzt, sondern vielmehr dem nationalstaatlichen Muster entsprechend zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit unterscheidet, wird durch einen fortdauernden Inlandsaufenthalt allmählich der Boden entzogen, da sich offenbar eine soziale und gesellschaftliche Zugehörigkeit unterhalb der Schwelle der Staatsangehörigkeit entwickelt und gleichzeitig dem Staat eine besondere Verantwortung (sog. special duties im obigen Sinne) 188 auch gegenüber diesen ausländischen Mitbürgern zuwächst.189 Eine solche Beobachtung 187

Hierzu oben S. 137 ff. u. passim. Die Tendenz einer schrittweisen Verlagerung der Verantwortung vom Staat der Staatsangehörigkeit zum Aufenthaltsstaat bzw. der aus der faktischen Zugehörigkeit erwachsenden „special duties" - auch in ihren „lästigen" Konsequenzen - zeigt sich in europäischer Perspektive auch in der Rspr. des EGMR. Danach kann sich bei einem im Lande geborenen und sozialisierten Ausländer eine Abschiebung trotz schwerwiegender Gesetzesverstöße als unverhältnismäßig darstellen, wenn der Betreffende im Staat seiner Staatsangehörigkeit keine sozialen Kontakte hat; vgl. Urt. v. 18.2.1991 - Moustaquim ./. Belgien - , in: InfAuslR 1991, 149ff.; Urt. v. 13.7.1995 - Nasri ./. Frankreich - , in: InfAuslR 1996, 1 ff; Urt. v. 26.9.1997 - Mehemi ./. Frankreich - , in: InfAuslR 1997, 430 ff. 189 Die Forderung, daß die Bundesrepublik, klarer als sie dies bisher getan hat, Verantwortung für diejenigen übernehmen müsse, die sie zunächst als „Gastarbeiter", dann 188

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

sollte aber wohl eher umgekehrt zum Nachdenken über das Konzept der Staatsangehörigkeit anregen. Denn dies zeigt einmal mehr, daß es den oben dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen anscheinend nicht mehr - bzw. im Hinblick auf die jüngsten Reformansätze: noch nicht - voll gerecht wird. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Lösungsweg über Art. 2 Abs. 1 GG der strikten Menschenrechtskernlehre, die allein den Menschenrechtskern des jeweiligen Deutschengrundrechts schützen will (im Unterschied zu den Kombinationstheorien, die prinzipiell den Weg über Art. 2 Abs. 1 wählen und den Menschenrechtskern des jeweiligen Deutschengrundrechts eher als absolut wirkende Schranken-Schranke im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung betrachten), 190 konzeptionell im Blick auf das Grundanliegen des Verfassungsstaates und dessen grundrechtstheoretische Umsetzung überlegen ist und sich die dagegen vorgebrachten Einwände als nicht stichhaltig erwiesen haben. Allerdings stellt sich die Frage, ob sich tatsächlich der gesamte Problemkomplex über Art. 2 Abs. 1 GG lösen läßt. Die bisherige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gibt darüber keinen Aufschluß, da sich das Gericht in den tragenden Gründen seiner Entscheidungen zum Grundrechtsschutz von Ausländern hinsichtlich ihres Aufenthaltes und ihrer beruflichen Tätigkeit in der Bundesrepublik bislang immer auf den unter den Befürwortern der Lösung über Art. 2 Abs. 1 als weitgehend unstreitig geltenden Teil des Prüfungsprogramms stützen konnte. Es war daher nicht gezwungen, zu den wirklich heiklen Punkten im einzelnen Stellung zu nehmen. Um zunächst ersteres kurz zu rekapitulieren: Als relativ unproblematisch erweist sich die Prüfung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, wenn es also insbesondere um die Kontrolle der Beachtung des Vorbehalts des Gesetzes, des Bestimmtheitsgebots oder des Grundsatzes des Vertrauensschutzes geht. Auch im übrigen wirft die weite Schranke der „verfassungsmäßige(n) Ordnung" so lange keine besonderen Probleme auf, als es nicht um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs unter Berücksichtigung des „speziellen Regelungsbereichs" der Deutschengrundrechte geht, sondern nur die Frage der formellen und materiellen Vereinbarkeit mit der sonstigen, der Verfassung gemäßen Rechtsordnung zu prüfen ist. Allein auf diesen als eher unproblematisch charakterisierten Bereich, der zum „klassischen" Prüfungspensum des Art. 2 Abs. 1 GG gehört, bezieht sich die bisherige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.

als „ausländische Arbeitnehmer" und damit in der Regel als Einwanderer in das Land gelassen oder deren Anwesenheit sie doch dauerhaft hingenommen hat, haben in den vergangenen Jahren eine Reihe von Autoren erhoben, so u.a. Tomuschat (l.Teil, Fn.705), 1073; Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 365f., und Böckenförde in seiner Rezension von Brubakers „Staats-Bürger", in: FAZ vom 11.4.1995, S.L 32. 190 Siehe oben bes. S. 353 ff.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Schwierig wird es jedoch, wie oben dargelegt, sobald es um die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs geht: Gäbe es die Deutschengrundrechte nicht, so käme man über die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vermutlich zu einem Grundrechtsschutz von gleicher Stärke wie ihn die Deutschen über die Deutschengrundrechte genießen, denn es liegt nahe, daß das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsschutz dann mittlerweile im Blick auf die hohe personale Bedeutung des Berufs einerseits, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz andererseits, in ähnlicher Weise ausdifferenziert hätte, wie es das im Rahmen der zu Art. 12 Abs. 1 entwickelten Stufenlehre getan hat. Um dem zu entgehen, wurde vorgeschlagen, bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit i.e.S. nur ein „beliebiges Handlungsinteresse" in die Abwägung einzustellen, was jedoch aus den oben dargelegten Gründen nicht überzeugt. 191 Ein anderer Vorschlag zielte darauf, von einem Anwachsen der materiellen Grundrechtsposition des Ausländers mit zunehmender Aufenthaltsdauer und einer Gleichstellung mit Deutschen nach spätestens 15 Jahren auszugehen. Dem wurde entgegengehalten, daß zwar die Beobachtung, daß sich der Grundrechtsschutz des Ausländers im Negativbereich der Deutschengrundrechte auf der Zeitschiene betrachtet zunehmend verstärkt, richtig ist, dies aber eine Konsequenz des Umstandes ist, daß die vom Nationalstaatsprinzip getragenen (und für jeden Bereich gesondert zu spezifizierenden) Gegengründe mit Fortdauer des Aufenthaltes und der Etablierung des Lebensmittelpunktes in der Bundesrepublik immer weiter an Kraft verlieren, also nicht etwa die aus der Nähe zur Würde und personalen Entfaltung des Menschen resultierende besondere Bedeutung der Berufsfreiheit als solche von der Dauer des Inlandsaufenthaltes abhängig ist. 192 Indes zeigen diese beiden Standpunkte vor allem eines: Die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die für den Ausländer im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 geschützte berufliche Betätigung kann nicht unabhängig vom „speziellen Regelungsbereich des Art. 12 Abs. 1" und nicht unabhängig von der Position der Deutschen erfolgen. Wenn der Zweck der mit den Deutschenvorbehalten verbundenen Privilegierung der Deutschen nicht nur, aber doch hauptsächlich darin liegt, den deutschen Staat in die Lage zu versetzen, die ihm vorrangig gegenüber den Deutschen obliegenden besonderen (Schutz-)Pflichten bezogen auf die Sicherung elementarer Lebenschancen erfüllen zu können, indem er, wenn die Situation dies erfordern sollte, gegenüber Ausländern notfalls auf eine „Eingriffsreserve" zurückgreifen, ihre Freiheit im Negativbereich der Deutschengrundrechte also zusätzlich aus den oben skizzierten national191

Siehe oben bes. S. 383 f. und passim. Dies vertrüge sich nicht mit sonstigen Äußerungen zur Würdenorm, vgl. etwa Dürig, Menschenwürde (l.Teil, Fn.20), 143: „Die Würde des Menschen als solchen ist das absolut gesetzte tertium comparationis jedes rechtlichen Gleichbewertens". 192

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staatlich motivierten Gründen heraus beschränken kann, so liegt die Bezugnahme auf die Situation der Deutschen auf der Hand: Es wird im Kern stets darum gehen, ob diese ungleiche Freiheitsbeschränkung - sprich: die Ungleichbehandlung von Ausländern (oder auch bestimmter Ausländergruppen) - im Blick auf den geschilderten Zweck der Privilegierung der Deutschen im konkreten Fall gerechtfertigt ist. An diesem Punkt ist in der Tat zu fragen, ob Art. 2 Abs. 1 überhaupt der richtige Standort für diese Prüfung ist. Die spezielle Problemkonstellation wird nur unzureichend erfaßt, wenn die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs isoliert auf die Freiheitsbeschränkung gegenüber Ausländern bezogen und am allgemeinen Freiheitsrecht gemessen wird, als gäbe es die Deutschengrundrechte nicht, als gelte die Prämisse der gleichen Freiheit aller, die unangefochtene Basis des gesamten Schrankendenkens und freiheitsrechtlichen Abwehrschutzes ist, auch in diesem Bereich, als bestehe das Problem also allein in der angegriffenen Freiheitsbeschränkung als solcher. Tatsächlich verlangt diese Fallkonstellation die ein ausschließlich freiheitsrechtjedoch nach einer Vergleichsperspektive, lich orientierter Abwehrschutz nicht leisten kann. Anspruchsberechtigt ist nach Art. 2 Abs. 1 „Jeder"; mit anderen Worten: der Blick richtet sich auf den einzelnen, auf das (isolierte) Individuum in seinem Verhältnis zum Staat. Auch der sich auf diese Rechtsgrundlage stützende Ausländer wird demgemäß nur ganz abstrakt in seinem Verhältnis als einzelner zum Staat wahrgenommen, nicht aber als Teil einer Gruppe, die der Staat auf Grund der ihm gegenüber seinen eigenen Angehörigen obliegenden „special duties" anders behandelt als die Gruppe der Deutschen, die sich hier auf spezielle Deutschengrundrechte berufen können. Folgeerscheinung der unzureichenden Erfassung des Problems ist die mangelnde Transparenz in der Problembewältigung. Hat man zunächst bei der Prüfung des Art. 2 Abs. 1 GG so getan, als betreffe die angefochtene Freiheitsbeschränkung alle in gleicher Weise, als gäbe es die Deutschengrundrechte gar nicht, so spielen sie dann plötzlich in einer rational nicht immer nachvollziehbaren Weise indirekt oder verdeckt doch wieder eine Rolle - entweder in Form einer Ergebniskontrolle, die (irrtümlich) aus der tatsächlichen Schlechterstellung der Ausländer auf die Tauglichkeit der jeweiligen Lösung schließt, oder auch in Form von Abstrichen bei der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Da das eigentliche Problem jedoch darin liegt, daß aus bestimmten, verfassungsrechtlich prinzipiell für legitim erklärten Gründen in den durch die Deutschengrundrechte abgedeckten Bereichen der Grundsatz der gleichen Freiheit aller zu Lasten der Ausländer durchbrochen wird 1 9 3 und dies nach einer 193

Allgemein zu diesem - oben eingehend behandelten - Grundsatz statt vieler Stem, Menschenwürde (l.Teil, Fn. 91), 640 f.: „Die Gleichheit ist auf die Freiheit bezo-

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Rechtfertigung in der Vergleichsperspektive zur Situation der Deutschen verlangt - eine Konstellation, die typischerweise dem eine dreistellige Relation 194 herstellenden Gleichheitssatz zuzuordnen ist - , spricht sehr viel mehr dafür, insoweit Art. 3 Abs. 1 GG heranzuziehen. Dem philosophisch-politischen Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit entspricht bekanntlich kein verfassungsrechtlicher Gegensatz, so daß ein Gleichheitsverstoß auch neben einem Verstoß gegen Freiheitsrechte geprüft werden könnte. 195 Insofern drängt sich die Frage auf, ob nicht dort der sachgerechtere Standort für die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sein könnte, zumal schon seit längerem im Sinne eines dogmatischen Brückenschlags zwischen Freiheits- und Gleichheitsschutz gefordert wird, diesen bzw. das Übermaßverbot auch im Rahmen des Gleichheitssatzes zu mobilisieren. 196 Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der vielzitierten „neuen Formel" seines Ersten Senats in diese Richtung bewegt. Danach ist das Gleichheitsgrundrecht „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten". 197 Wie tragfähig eine Lösung auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 GG ist, soll im folgenden näher untersucht werden. Nicht umsonst ist im Zusammenhang mit dem Problem der Deutschengrundrechte schon einige Male auf die sträfliche Vernachlässigung des allgemeinen Gleichheitssatzes hingewiesen wor-

gen, und nur in dieser Freiheit ist jeder Mensch auch gleich" (640) bzw. 641: „Freiheit kommt jedem Menschen zu, und zwar in gleicher Weise. Es ist also die Gleichheit der angebornen menschlichen Freiheit". 194 Grundlegend Adalbert Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, Berlin 1971, hier bes. 30. 195 Werner Heun, in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I: Art. 1-19, Tübingen 1996, Rn. 14 zu Art. 3 m.w.N. 196 So namentlich Michael Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, Berlin 1980, insbes. 54 ff. (62 ff); s. aus der neueren Lit. statt vieler die eingehende Analyse bei Stefan Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, Berlin 1993, bes. 164ff., 225ff.; ders., Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 541 ff., jeweils m.w.N. zum Streitstand. 197 So erstmals in BVerfGE 55, 72 (88); danach st. Rspr. des Ersten Senats, s. etwa BVerfGE 82, 126 (146); E84, 133 (157); E84, 197 (199); E84, 348 (359); E85, 191 (210); E 85, 238 (244); E 85, 360 (383); E 87, 1 (36); E 87, 234 (255); E 88, 5 (12); dazu statt vieler Rainald Maaß, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz - Ein Neuansatz?, in: NVwZ 1988, 14 ff; für einen allgemeinen Überblick über diese Entwicklung und den Streitstand s. auch Lerke Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn. 8 ff., bes. 13 ff., 37 zu Art. 3.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

den; 198 allerdings nicht speziell unter dem gerade genannten Aspekt, sondern unter Hinweis darauf, daß nach herrschender Meinung zwar nicht Art. 3 Abs. 3 einschlägig sei, jedoch das in Art. 3 Abs. 1 verankerte Willkürverbot Anwendung finden könne und oft genug nicht einmal erwähnt werde.

3. Der Gleichheitssatz Der Gleichheitssatz zählt seit jeher zu den besonders schwierigen Verfassungsbestimmungen, doch ist in seine Dogmatik auch in jüngerer Zeit - und dies nicht nur oder erst durch die eben angesprochene „neue Formel", mit der vornehmlich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seit 1980 das Willkürverbot ergänzt - wieder Bewegung gekommen, was sich unter anderem in einer Welle von Beiträgen im Anschluß an die Staatsrechtslehrertagung 1988 in Tübingen sowie einer Reihe einschlägiger Monographien in der Folgezeit äußerte. 199 Bezogen auf die Problematik der Deutschengrundrechte soll er aber 198 Dies kritisieren u.a. Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 113, u. Sachs, in: JuS 1989, 225 (Fn. 109); ders., Ausländergrundrechte (l.Teil, Fn.2), 387; s. auch Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), bes. 53f., 81 ff; zustimmend Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2111 mit Fn. 71 ; aus der älteren Lit. Ruppel ( 1. Teil, Fn. 97), 39 ff. 199 Vor 1980 s. insbes. Podlech, Gleichheitssatz (Fn. 194). Für eine kleine Auswahl aus der unübersehbaren Fülle der danach zum Gleichheitssatz erschienenen Lit. s. nur Kloepfer, Gleichheit (Fn. 196); ders., Gleichheit als Verfassungsproblem, in: Norbert Hinske/Manfred J. Müller, Gleichheit als Problem, (Öffentl. Ringvorlesung), Trier 1982, 34 ff; Konrad Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, in: AöR 109 (1984), 174 ff.; Michael Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots. Eine Untersuchung zur Reichweite des UnterscheidungsVerbots nach Artikel 3 Abs. 2 und 3 Grundgesetz, München 1987; ders., Der Gleichheitssatz, in: NWVBL 1988, 295 ff.; Reinhold Zippelius, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47 (1989), 7ff.; Georg Müller, Der Gleichheitssatz, ebd, 37ff; Maaß (Fn. 197); Rudolf Wendt, Der Gleichheitssatz, in: NVwZ 1988, 778 ff.; Christoph Gusy, Der Gleichheitssatz, in: NJW 1988, 2505 ff.; Gerhard Robbers, Der Gleichheitssatz, in: DÖV 1988, 749 ff.; Friedrich Schoch, Der Gleichheitssatz, in: DVB1. 1988, 863 ff; Emst-Joachim Lampe, Gleichheitssatz und Menschenwürde, in: Rechtsstaat (l.Teil, Fn. 145), 253ff.; Paul Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HdbStR V, § 124, 837 ff.; Huster, Rechte (Fn. 196); ders, Gleichheit (l.Teil, Fn.554); Susanne Baer, Würde oder Gleichheit?, Baden-Baden 1995; Albert Bleckmann, Die Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes, Köln u.a.O. 1995; Peter Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, Köln u.a.O. 1997; grundlegend in der älteren Lit. die berühmte und immer noch nachwirkende Schrift von Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Berlin 1925 ( 2. Aufl. 1959); s. in diesem Zusammenhang z.B. Christoph Link (Hg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat. Symposium zum 80. Geburtstag von Gerhard Leibholz, Baden-Baden 1982, sowie zu diesem Symposium auch die gleichnamige Abhandlung von Peter Häberle, in: AöR 107 (1982), 1 ff.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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nur ganz gezielt unter drei Gesichtspunkten näher beleuchtet werden: a) unter dem der Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG im Blick auf die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit; b) unter dem des Willkürverbotes (Art. 3 Abs. 1 GG) und schließlich c) der neueren Dogmatik zu Art. 3 Abs. 1 GG, die auch in diesem Bereich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Geltung verschaffen will (dazu unter II.). Um Mißverständnisse zu vermeiden, bedarf es allerdings zu c) einer klärenden Einschränkung: Nicht nur wie dies zu geschehen habe, ist außerordentlich umstritten, sondern auch ob überhaupt davon die Rede sein kann, daß nun tatsächlich die Grundsätze des Übermaßverbots (teilweise) im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG Anwendung finden. 200 Der Begriff der Verhältnismäßigkeit wird hier in sehr unterschiedlichen Schattierungen gebraucht, und die Prüfung erfolgt von ganz verschiedenen Ansatzpunkten her: Teils tastet man nur vorsichtig in die Richtung der alten Figur „verhältnismäßiger Gleichheit", lehnt die Konstruktion eines beschränkbaren Schutzbereichs bzw. die Interpretation auch des Gleichheitssatzes als Eingriffsrecht jedoch ab. 201 Zwar will man den Gedanken einer sach- und regelungsbereichsspezifischen Abwägung zur Ermittlung der Angemessenheit des Verhältnisses zwischen Zielen, Gründen und Differenzierungswirkungen für die Betroffenen durchaus einbeziehen, schreckt aber vor einer tiefergreifenden dogmatischen Umorientierung zurück. Ungeachtet der Übertragung gewisser Elemente des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit 202 oder - je nach Standpunkt - auch nur der weiteren Ausdifferenzierung einer strukturell anders gelagerten gleichheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung, 203 bleibt man damit der herkömmlichen Sichtweise verhaftet, nach der das Eingriffs- und Schrankendenken als Spezifikum der Freiheitsrechte gilt, auf die das Übermaßverbot in seiner Funktion als eine der Begrenzung von Freiheitsbeschränkungen dienende SchrankenSchranke in besonderer Weise zugeschnitten scheint. 204 Demgegenüber wird der 200

Vgl. nur Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn. 15 ff. zu Art. 3 m.w.N. Siehe etwa Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn. 12 ff. zu Art. 3 m.w.N., bes. Rn. 14f., 18ff, 37; vgl. dazu auch Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), bes. 542 ff., der hier allerdings selbst die Gegenauffassung vertritt. 202 So explizit Katzenstein, Sondervotum zu BVerfGE 74, 9 ff., dort 28 (30); Robbers, Gleichheitssatz (Fn. 199), 751 f.; K. Hesse, Gleichheitssatz (Fn. 199), 188 f.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGKI, 4. Aufl., Rn. 15 u. 29 zu Art. 3 m.w.N. 203 So Rüfner, in: Dolzer, Rudolf/Vogel, Klaus (Hg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Heidelberg, Stand: 94. Lfg./Nov. 2000 (im folg. BK), bes. Rn.96 zu Art. 3 I, insoweit Peter Lerche, Übermaß (1. Teil, Fn. 154), 29 ff, folgend. 204 Hierzu grundlegend Lerche, Übermaß (l.Teil, Fn. 154); stärker differenzierend ders., Grundrechtsschranken, in: HdbStR V, § 122, 775 ff., Rn.3ff., 9 ff.; vgl. auch Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn. 199), Rn. 161 ff. 201

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

weder einen begrenzten Schutzbereich aufweisende noch unter Gesetzesvorbehalt stehende Gleichheitssatz als nicht beschränkbar im Sinne üblicher Grundrechtsbeschränkungen eingestuft, was dann wiederum auch eine Sicherung durch Schranken-Schranken entbehrlich erscheinen läßt. 205 Teils wird jedoch auch unter Hinweis darauf, daß „in Wahrheit (...) der Sache nach auch beim Gleichheitsgrundrecht sehr wohl Einschränkungen verschiedenster Art" erfolgen, nachdrücklich die Anerkennung der „Notwendigkeit von Gleichheitsschranken" gefordert. So namentlich von Kloepfer, der vor nun schon bald zwei Jahrzehnten ein Schrankenmodell für Art. 3 Abs. 1 GG entwikkelt hat, da, wie er meint, die in diesem Bereich „fehlende Differenzierung bei der Grundrechtsprüfung letztlich zu einem undurchsichtigen Subsumtionsbrei" führe. 206 - Und wieder anders ist der neuere Ansatz von Huster, der hier im Blick auf den mit der Ungleichbehandlung verfolgten (internen oder externen) Zweck zwischen zwei verschiedenen Fallgruppen differenzieren will. 2 0 7 Bevor darauf im einzelnen eingegangen werden kann, sollen allerdings zunächst die unter a) und b) genannten Punkte erörtert werden.

a) Die Differenzierungsverbote

des Art. 3 Abs. 3 GG

Anders als nach Art. 109 Abs. 1 WRV ist der allgemeine Gleichheitssatz im Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1 als Menschenrecht positiviert. Der Wendung „Alle Menschen" in Art. 3 Abs. 1 korrespondiert die Formulierung „Niemand" in Art. 3 Abs. 3 GG, d.h. auch die dort enthaltenen Differenzierungs- (bzw. Diskriminierungs-)verbote gelten gleichermaßen für Deutsche wie für Ausländer. Der allgemeine Gleichheitssatz schützt vor gleichheitswidrigen Differenzie205 So die krit. Bestandsaufnahme bei Kloepfer, Gleichheit (Fn. 196), bes. 54 f.; vgl. auch Sachs, Grenzen (Fn. 199), bes. 22 ff., sowie - im Sinne der herkömmlichen Auffassung - Kirchhof, aaO, Rn. 288 ff. 206 Kloepfer, Gleichheit (Fn. 196), bes. 54 ff. (56); krit. Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., bes. Rn. 15, 39 ff., 43 zu Art. 3; s. speziell bezogen auf die Grenzen des Art. 3 II und III GG eingehend Sachs, Grenzen (Fn. 199), der einleitend (bes. 22 ff.) eine allgemeine Vernachlässigung der Gleichheitsgrundrechte im Rahmen der Erörterung von Grundrechtsbegrenzungen konstatiert, obgleich diese ihrer Struktur nach tauglicher Gegenstand von Begrenzungen seien (aaO, 32), sich einer abschließenden Bewertung des von Kloepfer für Art. 3 I entwickelten Schrankenmodells jedoch ungeachtet des Hinweises auf gewisse Probleme dieses Ansatzes enthält (aaO, 35 f.). 207 Vgl. Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), bes. 543 ff.; ders., Rechte (Fn. 196), bes. 164 ff; s. dazu einerseits die (sehr positive) Rezension von Sachs, in: DVB1. 1995, 480 f.; andererseits die Kritik bei Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd.I, Rn. 24 ff. (27 f.) zu Art. 3.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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rungen, und zwar unter jedem dafür herangezogenen Gesichtspunkt, für alle Lebensbereiche und Differenzierungsrichtungen. Dieser umfassende, jedoch inhaltlich unbestimmte Schutz wird durch besondere Gleichheitsgarantien, und speziell in Art. 3 Abs. 3 in der Weise flankiert, daß die dort aufgelisteten Merkmale vor dem Hintergrund der Erfahrung spezifischer historischer Gefährdungslagen als zulässige Grundlage einer differenzierenden Behandlung der Träger dieser Merkmale ausgeschlossen werden. Soweit es also um eine Differenzierung in Anknüpfung an die nach Art. 3 Abs. 3 GG verpönten Merkmale geht, steht dieser in einem Spezialitätsverhältnis zu Abs. 1 und verdrängt diesen. Für alle anderen Differenzierungen bleibt Art. 3 Abs. 1 hingegen anwendbar. 208 Folglich ist vor der Erörterung des. Art. 3 Abs. 1 zu klären, ob die Staatsangehörigkeit dem Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 unterfällt. Da die Staatsangehörigkeit in Art. 3 Abs. 3 nicht ausdrücklich genannt ist, wird diese Frage ganz überwiegend verneint. 209 Im Blick auf den enumerativen Charakter der dort genannten Merkmale, insbesondere aber auch den Umstand, daß der Verfassunggeber selbst in den Deutschengrundrechten eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit - bzw. exakter: der Deutscheneigenschaft im Sinne des Art. 116 Abs. 1 - vorgenommen hat, 210 erscheint dies auch unmittelbar einleuchtend. 208 Siehe zu alledem statt vieler Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: HdbStR V, § 126, 1017 ff, bes. Rn.8ff, 15 ff, 18 f, 20 ff, m.w.N. 209 Vgl. BVerfGE 51, 1 (30); BVerfG, Vorprüfungsausschuß, in: EuGRZ 1982, 508 (509); BVerwGE 22, 66 (69f.); Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3.Aufl. (l.Teil, Fn.31), Rn. 153 u. 276 zu Art.3; Stem, Staatsrecht III/l (l.Teil, Fn.2), 1030; Breer (l.Teil, Fn. 12), 52; Henrich Fabis, Die Auswirkungen der Freizügigkeit gemäß Art.48 EG-Vertrag auf Beschäftigungsverhältnisse im nationalen Recht, Frankfurt a. M. u.a.O. 1995, 148 ff. (150 f.); Hubert Weis, Inländerdiskriminierung zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht, in: NJW 1983, 2721 ff. (2725); Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 120ff. (121); Rüfiier, in: BK, Rn. 135 zu Art.3 I; ders, Grundrechtsträger ( 1. Teil, Fn. 964), Rn. 8; Pieroth/Schlink (1. Teil, Fn. 5), Rn. 446; Robbers, Ausländer (Fn. 115), Rn.20; Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd.I, Rn.36 zu Art.3; Dolde (l.Teil, Fn. 10), 56; Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 115f.; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien (Fn.208), Rn. 51 (m. Nachw. zum Problem von Gegenseitigkeitsanforderungen in Fn. 145); ders, Grenzen (Fn. 199), 142; Jörg Hofmann (l.Teil, Fn. 100), 91 ff, jeweils m.w.N.; grundsätzlich a.A. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4.Aufl., Rn.5, 99 zu Art.3 m.w.N.; Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 363f.; ders, Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 346; ders, Stand und Entwicklung des Ausländerrechts in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZAR 1982, 120ff. (127); i.Erg. auch BGH, in: NJW 1981, 518, der Art.3 III das Verbot entnimmt, „Ausländer wegen ihrer Staatsangehörigkeit" zu benachteiligen; dazu Sachs, Art.3 III und Ausländerbeteiligung, in: NJW 1981, 1133. 210 So auch Starck, aaO, Rn. 153 zu Art.3; ebenso Rüfner, aaO; ähnlich Friedrich E. Schnapp, Art. Grundrechtsträger, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5/360, LdR

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, daß einige der in Art. 3 Abs. 3 genannten Kriterien eine starke Affinität zur Staatsangehörigkeit besitzen, namentlich die Begriffe Heimat, Herkunft, Sprache oder Abstammung Assoziationen in diese Richtung wecken, die sich auch größtenteils bestätigen, wenn man sich die übliche Auslegung der Begriffe selbst und ihre Beziehung zur Staatsangehörigkeit näher betrachtet. So bezeichnet Abstammung nach der beiläufig vom Bundesverfassungsgericht genannten und allgemein zitierten Definition „vornehmlich" die „natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren". 211 Bei der Normierung der Merkmale Heimat und Herkunft dachte man im Parlamentarischen Rat ausweislich der Materialien an die „soziale Herkunft und besonders an die Vertriebenen". 212 Hinsichtlich der Definition des Begriffs Heimat hat sich das Bundesverfassungsgericht dann nach anfänglichem Schwanken zwischen Deutungen als landsmannschaftliche Zugehörigkeit oder örtliche Herkunft auf das Verständnis als „örtliche Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit" festgelegt. 213 Demgegenüber soll Herkunft die „ständisch soziale Abstammung und Verwurzelung" bezeichnen,214 ist also bei näherem Hinsehen zumindest nach gängiger Lesart - im Zusammenhang mit der Staatsangehörigkeit weniger relevant. 215 Die Sprache steht mit den beiden letztgenannten Merkmalen in einem engen Zusammenhang, hat als identitätsprägendes Merkmal eines Menschen aber auch eigenständige Bedeutung und ist erfahrungsgemäß vor allem bei Minderheiten schutzbedürftig. Dementsprechend ist hier die Muttersprache einschließlich regionaler Dialekte gemeint (nicht etwa Fremdsprachenkenntnisse). 216 Die gedankliche Verbindung von zumindest drei der in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Kriterien zur Staatsangehörigkeit ist unübersehbar: Zum ersten bilden Abstammung und Heimat im Sinne der obigen Definition die konkurrierenden Anknüpfungspunkte für ius sanguinis und ius soli. Zum zweiten tauchen die v. 26.7.1984, 1, mit dem zusätzlichen Hinweis, daß Art. 3 III schon deshalb nicht die Verfassungswidrigkeit der Deutschenvorbehalte begründen könne, weil er mit diesen auf derselben Normstufe angesiedelt sei; zur problematischen Denkfigur ursprünglich verfassungswidrigen Verfassungsrechts s. oben im 1. Teil Fn50. 211 BVerfGE 9, 124 (128); Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn.291 zu Art. 3 m.w.N. 212 JöR n.F., Bd. 1, 1951 (l.Teil, Fn. 16), 69. 2,3 BVerfGE 5, 17 (22); ebenso E9, 124 (128); E17, 199 (203); E19, 119 (126); E23, 258 (262); für weitere Einzelheiten u. Kritik s. Sachs, Grenzen (Fn. 199), 223 f. 214 BVerfGE 5, 17 (22); E 17, 199 (203); E23, 258 (262). 215 Anders, wenn man mit Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 363, verallgemeinernd auf die „soziale Verwurzelung" abstellt und vom schichtungsspezifischen Aspekt abstrahiert. 2,6 Dazu und zu den sich in diesem Zusammenhang stellenden Problemen Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn.298f. zu Art. 3 m.w.N.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Merkmale Abstammung und Sprache als Tatbestandsmerkmale der Statusdeutscheneigenschaft im Sinne des Art. 116 Abs. 1, 2. Alt. GG wieder auf - entweder unmittelbar („Abkömmling") oder mittelbar bei der Umschreibung des Tatbestandsmerkmals der „deutsche(n) Volkszugehörigkeit" (Abstammung und Sprache). 217 Und zum dritten bilden diese beiden Kriterien (neben der gemeinsam erlebten Geschichte) ganz folgerichtig auch den Kristallisationskern des dahinter stehenden ethnisch-kulturell orientierten Konzepts der Nation. Doch ist die Staatsangehörigkeit mit keinem dieser Merkmale gleichzusetzen und als Rechtsinstitut, das die rechtliche Zuordnung des einzelnen zu einem bestimmten Staatswesen (und nicht etwa identitätskonstituierende persönliche Merkmale als solche) umschreibt, auch auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt. Das eigentliche Problem besteht also darin, daß das Staatsangehörigkeitsrecht fur die rechtliche Zuschreibung der Staatsangehörigkeit u.a. auf die nach Art. 3 Abs. 3 GG verpönten Merkmale in ausdifferenzierter Form zugreift, diese demzufolge - mittelbar - immer dann eine Rolle spielen, wenn nach der Staatsangehörigkeit differenziert wird. Insofern steht hinter der Auffassung, daß auch die Staatsangehörigkeit grundsätzlich kein zulässiges Differenzierungskriterium im Sinne des Art. 3 Abs. 3 sei, da sie regelmäßig auf Abstammung oder Heimat beruhe (Gubelt) 218 bzw. das Merkmal Herkunft als zusammenfassendes Merkmal die Ausländereigenschaft treffe (Zuleeg), 219 das berechtigte Anliegen zu verhindern, daß das menschenrechtliche Gleichheitsgebot durch dieses Differenzierungskriterium unterlaufen wird. 2 2 0 Wie Zuleeg betont, bleibe es zudem im Rahmen des Art. 116 GG dem einfachen Gesetzgeber überlassen, wer sich zu den Staatsangehörigen zählen dürfe. 221 Dabei erkennen beide Autoren durchaus an, daß die Deutschenvorbehalte nicht gegen Art. 3 Abs. 3 verstoßen, betrachten sie vielmehr als Ausnahmen zur Qualifikation der Staatsangehörigkeit als unzulässiges Differenzierungskriterium im Sinne des Art. 3 Abs. 3, die sich mit der Begründung rechtfertigen lassen, daß es sich bei den Deutschengrundrechten um gleichrangige Verfassungsnormen handele. 222 2,7

Dies unter Rückgriff auf die Definition in §6 Bundesvertriebenengesetz (s. oben S. 239). 218 Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn.99 zu Art.3. 219 Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 363. 220 Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn. 5, 99 zu Art. 3, begründet seine Auffassung demgemäß damit, daß anderenfalls kein effektiver Grundrechtsschutz für Ausländer gewährleistet sei; in ausdrücklicher Anerkennung der Berechtigung dieses Anliegens dazu krit. Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd. I, Rn. 36 mit Fn.204 zu Art.3. 221 Zuleeg, Ausländer (1. Teil, Fn. 914), 364. 222 Gubelt, aaO, Rn.5; Zuleeg, Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 346; im Sinne der Verfassungswidrigkeit der Deutschenvorbehalte aber Brinkmann, Komm. z. GG (l.Teil, Fn. 38), Anm. I 1 a zu Art. 8.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Diese Position vermag, wie noch darzulegen sein wird, im Ergebnis nicht zu überzeugen, schärft allerdings das (bei der Mehrheitsauffassung häufig weniger ausgeprägte) Problembewußtsein im Blick auf den hinter der Positivierung von Deutschengrundrechten neben umfassenden menschenrechtlichen Verbürgungen stehenden Grundkonflikt zwischen dem Prinzip allgemeiner menschenrechtlicher Gleichheit und dem Prinzip der Staatsmitgliedschaft. Die Staatsangehörigkeit ist insofern Ausdruck des letzteren, als sie zunächst einmal als der die nationalstaatliche Zugehörigkeit dokumentierende „Mitgliedschaftsausweis" fungiert. Darüber hinaus läßt sich, wie oben gezeigt wurde, aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis aber auch ein Kernbestand elementarer Rechtspositionen der Staatsangehörigen ableiten. Art. 3 Abs. 3 scheint nun tatsächlich die Nahtstelle zu sein, an der die beiden gegenläufigen Verfassungsprinzipien unmittelbar aufeinanderstoßen, in all ihrer Widersprüchlichkeit beide in der Verfassung fixiert werden müssen. Er bildet insofern einen Knotenpunkt, dessen Unebenheiten sich bei aller juristischen Interpretationskunst nicht hinwegdiskutieren oder glätten lassen. Bekanntlich stellt Art. 3 Abs. 3 GG eine Konkretisierung des Abs. 1 dar, verfolgt somit dasselbe Grundanliegen, ungerechtfertigte Verschiedenbehandlungen von Menschen zu verhindern. Er formt jedoch die heute allgemein akzeptierte Maxime, wonach Differenzierungen, die auf die Person des Berechtigten abstellen, besonders kritisch zu betrachten sind, bei der Anknüpfung an persönliche Merkmale somit stets erhöhte Wachsamkeit geboten ist, 223 in der Weise aus, daß er bei bestimmten historisch erfahrenen Gefährdungslagen und Angriffen auf die nach der Genese des Gleichheitsschutzes ganz zentrale persönliche Rechtsgleichheit224 die Kontrolldichte noch steigert bzw. bezogen auf die dort 223

Dazu allgemein Rüfiier, in: BK, Rn.47, 132 f. zu Art. 3 I. Auch das BVerfG geht bislang zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne der „neuen Formel" nur über, wenn die Ungleichbehandlung sich auf Personengruppen, nicht auf Sachverhalte bezieht; vgl. hierzu die Nachw. bei Heun, in: Dreier, Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 19 zu Art. 3, Fn. 107, der dies aber selbst wegen des letztlich personalen Bezuges aller Sachverhalte für ein zweifelhaftes Abgrenzungskriterium hält; ähnlich Osterloh, in: Sachs, Grundgesetz Komm, Rn. 27 ff. zu Art. 3 I m.w.N. Diese Kritik betrifft allerdings nicht das in Art. 3 III deutlich werdende Anliegen, das sich auf identitätskonstituierende persönliche Merkmale bezieht, die sich recht gut vom personalen Bezug anderer Sachverhalte und verhaltensbezogener Unterscheidungen abgrenzen lassen. Der Erste Senat des BVerfG stellt insoweit zutreffend auf Merkmale ab, die denen des Art. 3 III nahestehen und daher eine striktere Prüfung im Rahmen des Art. 3 I rechtfertigen; vgl. hierzu bes. BVerfGE 88, 87 (96) - Transsexuellen-Entscheidung - unter Verweis auf BVerfGE 55,72 (88 ff.) m.w.N. 224 Seiner historischen Funktion nach richtete sich der Gleichheitssatz ursprünglich nur gegen - vornehmlich ständische - Differenzierungen, die die persönliche Rechtsgleichheit negieren, besaß also eine anti-ständische Spitze und bezog seine emanzipato-

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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konkret benannten Merkmale - so eine überzeugende, wenn auch nicht unstreitige Interpretation - strikte Anknüpfungsverbote für Differenzierungen statu•

. 225

îert. Während also der Gleichheitssatz (persönliche Rechts-)Gleichheit - in den dürren Worten des Art.3 Abs. 1 GG: die Gleichheit vor dem Gesetz, die nach heutiger Auffassung neben der Rechtsanwendungs-, auch die Rechtsetzungsgleichheit meint - durch Abstraktion von individuellen Verschiedenheiten sichern will, 2 2 6 ist das Rechtsinstitut der Staatsangehörigkeit zwangsläufig auf Differenz angelegt: Es braucht und sucht nach Differenzen als Anknüpfungspunkte für die Abgrenzung des eigenen Staatsvolkes gegenüber fremden Staatsvölkern. Dabei kommen aufgrund dieser Zielsetzung notwendigerweise nur persönliche Merkmale in Frage, an die Differenzierungen anzuknüpfen ansonsten nach dem Gleichheitssatz doch als besonders heikel gilt. Der Konflikt spielt sich, da auf der Basis dieser Differenzen über die Zuschreibung der Staatsangehörigkeit ein Unterschied im Rechtsstatus begründet wird, insoweit im Verhältnis zu Ausländern und Staatenlosen ergo keine Rechtsgleichheit besteht, sogar unmittelbar im Kernbereich des Gleichheitssatzes ab. 227 Genauer: Er spaltet die Idee der menschenrechtlichen Gleichheit von der staatsbürgerlichen Gleichheit ab, 228 bildet jenen Keil, der die aufklärerische Vorstellung von rische Kraft aus der Idee bürgerlicher (Rechts-)Gleichheit; dazu allgemein auch Rüfher, in: BK, Rn. 46 ff. (50) zu Art. 3 I. Erst heute entgrenzt er sich zu einem Gebot der sachlichen Rechtsgleichheit oder Gerechtigkeit; dazu Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 541 m.w.N. 225 Die Kennzeichnung als „Differenzierungsverbote" ist st. Rspr. und auch im Schrifttum ganz überwiegend akzeptiert, s. dazu die zahlreichen Nachw. bei Sachs, Grenzen (Fn. 199), 36 f.; streitig ist nur die Qualifikation als „absolute" Differenzierungsverbote oder (begrenzt) wertungsoffene Gleichbehandlungsgebote, die Raum für sach- und regelungsbereichsspezifische Abwägungen unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Verbote lassen; auch dazu eingehend Sachs m.w.N, der selbst den erstgenannten Standpunkt begründet, aaO, 48 mit Fn.252, bes. aber 244 ff, 390 ff, auch 491; ders. Besondere Gleichheitsgarantien (Fn.208), Rn. 52 ff. u. 65 ff (74); ebenso Rüfher, in: BK, Rn. 72 zu Art. 3 I; differenzierend Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm, Rn. 239 ff. zu Art. 3 m.w.N. 226 Vgl. Paul Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, Veröffentlichung der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Bd. 62, München 1996; ders, Gleichheitssatz (Fn. 199), Rn. 1 ff; zu der darin begründeten Paradoxie des Gleichheitssatzes Zippelius, Gleichheitssatz (Fn. 199), 20. 227 Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 53 f, überträgt demgemäß das bekannte Zitat v. Seydels zum Staatsangehörigkeitsrecht, demzufolge jenes „zu einer Rundreise durch das gesammte Staatsrecht" nötige, auf die Korrespondenzmaterie des Ausländerrechts und resümiert: „Die Komplexität der Verfassungsfragen des Ausländers läßt sich auf eine einzige Frage zurückführen: die Verfassungsfrage der Gleichheit". 228 Dazu oben S. 184-192, 268 ff, 316 und passim.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Menschen- und Bürgerrechten als Rechte desselben Individuums, die einerseits in der Perspektive eines hypothetischen vorpolitischen Naturzustandes, andererseits im „bürgerlichen" Zustand bzw. Staatszustand betrachtet werden, von unserer heutigen Vorstellung von unterschiedlich großen Kreises von Grundrechtsträgern trennt. 229 Die von Zuleeg und Gubelt vertretene Ansicht, daß die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit nach Art. 3 Abs. 3 prinzipiell untersagt sei, sofern sie das Grundgesetz nicht ausdrücklich gestatte oder erkennbar zum Schutz anderer Rechtsgüter als verfassungsimmanente Schranke zulasse,230 reagiert sehr sensibel auf diese Problematik und sucht sie zugunsten der Idee menschenrechtlicher Gleichheit zu entscheiden. Sie entspricht allerdings weder den Intentionen des Verfassunggebers im allgemeinen231 noch wird sie dem Schutzzweck des Art. 3 Abs. 3 GG im besonderen ganz gerecht. Es ist gewiß kein Zufall, daß die Staatsangehörigkeit in Art. 3 Abs. 3 GG nicht erwähnt ist. Sie sollte dort weder implizit mitangesprochen werden noch wurde sie schlicht vergessen; vielmehr ist es ja gerade der. Zweck dieses Rechtsinstituts, Differenzierungen zu ermöglichen. Dieser Zweck würde konterkariert, wenn man hinsichtlich der Staatsangehörigkeit ein Differenzierungsverbot aufstellen wollte. Wie Ekkehart Stein treffend bemerkt, würde damit (jedenfalls dann, wenn man ein Verständnis als striktes Anknüpfungsverbot zugrunde legt; dazu gleich) die Staatsangehörigkeit als Rechtsbegriff aufgegeben. Dem steht jedoch ihre Anerkennung und ihr guter Sinn im Staats- und Völkerrecht, aber auch anderen Rechtsgebieten entgegen.232 Tatsächlich wird daher in völkerrechtlichen Verträgen wie etwa dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966 233 sogleich klargestellt, daß die Staatsangehörigkeit nicht gemeint ist. So heißt es dort in Art. 1 Abs. 2: „Dieses Übereinkommen findet keine Anwendung auf Unterscheidungen, Ausschließungen, Beschränkungen oder Bevorzugungen, die ein Vertragsstaat zwischen eigenen und fremden Staatsangehörigen vornimmt" und in Abs. 3: „Dieses Übereinkommen ist nicht so auszulegen, als berühre es die Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten über Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft oder Einbürgerung, sofern diese Vorschriften nicht Angehörige eines bestimmten Staates diskriminieren". Umgekehrt ist dort, wo bezüglich der Staatsangehörigkeit als solcher ein Diskriminierungsverbot gelten soll, wie namentlich nach Art. 6 EG-Vertrag (früher:

229

Vgl. oben S. 1 f. m.w.N. und passim. Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 364; ders., Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 346. 231 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die gegen die Einbeziehung der Staatsangehörigkeit spricht, Fabis (Fn. 209), 150 f. 232 Ekkehart Stein, in: AK I, 2. Aufl. 1989, Rn. 93 zu Art. 3. 233 BGBl. 1969 II, 962; Internationale Quelle: UNTS Bd. 660, 195. 230

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Art. 7 EWGV), dies - eben wegen des Ausnahmecharakters einer solchen Bestimmung - auch ausdrücklich im Vertragstext selbst niedergelegt. Dem Verfassunggeber ist aber noch nicht einmal eine Unklarheit im Hinblick auf die Frage, ob auch hinsichtlich der Staatsangehörigkeit ein Differenzierungsverbot gelten sollte, anzulasten: Art. 3 Abs. 3 benennt ausdrücklich nur die als Grundlage einer Differenzierung verpönten Merkmale. Insofern bestand gar keine Veranlassung, die Staatsangehörigkeit zu erwähnen, wenn man sie nicht dem strikten Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 unterstellen wollte (womit freilich noch offen ist, unter welchen Voraussetzungen eine an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Differenzierung nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 gerechtfertigt ist). Natürlich wollen auch weder Gubelt noch Zuleeg die Berechtigung des Instituts der Staatsangehörigkeit in Abrede stellen. Insbesondere letzterer erkennt nicht nur im Blick auf die Deutschenrechte, sondern beispielsweise auch zugunsten der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich Ausnahmen an. 234 Es geht ihm also offensichtlich nur darum, auch die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit in das Schema der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung einzubinden und dabei an den erhöhten Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 zu messen. Da die Staatsangehörigkeit dort aber zum einen eindeutig nicht genannt ist, und Zuleeg zum anderen bereit ist, Ausnahmen von dem von ihm angenommenen grundsätzlichen Differenzierungsverbot zu konzedieren, ist seine Position von Vorentscheidungen abhängig, die zwei andere (miteinander zusammenhängende) Streitfragen betreffen: Sie setzt voraus, daß Art. 3 Abs. 3 S. 1 sich nicht im Verbot der unmittelbaren Anknüpfung an die verpönten Merkmale erschöpft (= unmittelbare Diskriminierung), sondern auch dann anwendbar ist, wenn eine Regelung oder Maßnahme an andere Merkmale anknüpft, die aber typischerweise zu einer unterschiedlichen Behandlung der in Art. 3 Abs. 3 genannten Merkmalsträger führen (= mittelbare Diskriminierung), wie dies vorliegend aufgrund des geschilderten Zusammenhangs mit der Staatsangehörigkeit bei den Merkmalen Heimat, Abstammung, auch Sprache oder - je nach Interpretation - Herkunft in Betracht käme. Die Anwendung auf mittelbare Diskriminierungen impliziert zugleich eine Entscheidung gegen das Verständnis dieser Merkmale als absolute Anknüpfungsbzw. strikte Unterscheidungsverbote. 235 234

Siehe Zuleeg, Grundrechte (1. Teil, Fn. 113), 346. Dies folgt nicht etwa daraus, daß Zuleeg die Deutschen vorbehalte als Ausnahmen akzeptiert. Denn das könnte schlicht Ausdruck einer von der Verfassung selbst gezogenen Grenze für das Verbot, auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit Differenzierungen vorzunehmen, sein (dazu grundlegend Sachs, Grenzen [Fn. 199]). Doch läßt sich die Einbeziehung auch mittelbarer Diskriminierungen in den Anwendungsbereich des Art. 3 III 235

26 Siehr

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Mit einer solchen Deutung bewirkt man im Ergebnis jedoch nur eine Schwächung des Art.3 Abs.3, denn wenn hier jeweils gefragt werden kann, ob eine Differenzierung auf der Grundlage der verbotenen Merkmale nicht doch - ausnahmsweise - gerechtfertigt ist, verliert er seine Spitze. Wie namentlich Sachs überzeugend dargelegt hat, will Art.3 Abs.3 zweierlei: Zum einen soll typischen Willkürakten der Vergangenheit innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes von vornherein kein Raum gegeben werden. Zum anderen will der Katalog des Art.3 Abs.3 zu diesem Zweck, aber auch darüber hinausgreifend „bestimmte, eng umgrenzte Eigenschaften aus dem nebulösen Umfeld allgemeiner Gleichheitserwägungen herausheben, um einen Mindeststandard unzulässiger Differenzierungen zu fixieren und den Rationalisierungskünsten der Träger öffentlicher Gewalt zu entziehen". 236 Dieses Anliegen wird durch das Verständnis als Anknüpfungsverbote effektiv umgesetzt, während umgekehrt der Sinn der verfassungsunmittelbaren Festlegung untergraben und der spezielle Schutzzweck des Art. 3 Abs. 3 verwässert zu werden droht, wenn auch dieser Bereich relativierenden Abwägungen geöffnet wird. In der Konsequenz dieses Ansatzes liegt es dann allerdings auch, den Anwendungsbereich des Art.3 Abs.3 eng abzustecken, insbesondere nicht auf mittelbare Diskriminierungen auszudehnen, 237 sondern den enumerativen Charakter der dort aufgeführten Merkmale ernst zu nehmen. Auch vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Erwägungen zum Verständnis des Art.3 Abs.3, die hier nicht weiter vertieft werden sollen, scheidet eine Qualifikation der Staatsangehörigkeit als verbotenes Differenzierungskriterium im Sinne des Art. 3 Abs. 3 somit aus. Doch auch unabhängig davon, wie man allgemein zur Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den Anwendungsbereich des Art.3 Abs.3 steht, bleibt speziell im Blick auf die Staatsangehörigkeit zu bedenken, daß man bei

bereits deshalb nicht mit einem Verständnis der dort genannten verpönten Merkmale als strikte Unterscheidungsverbote vereinbaren, weil dann notwendigerweise in jedem Einzelfall zu prüfen wäre, ob die Differenzierung nicht ausnahmsweise gerechtfertigt ist. 236 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien (Fn. 208), Rn. 74; grundlegend ders, Grenzen (Fn. 199), bes. 244 ff, 390 ff. (bes. 428 ff.), zusammenfassend auch 490 ff. (493); für die Interpretation als strikte Anknüpfungsverbote auch Rüfher, in: BK, Rn. 72 zu Art. 3 I. 237 Vgl. dazu Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien (Fn.208), Rn. 88; für einen knappen Überblick über den Streitstand s. Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm, Rn.255ff. zu Art.3 m.w.N. Anders sieht es z.B. nach Art.48 und 6 EGV aus, die nach der Rspr. des EuGH bzw. einschlägigen Stellungnahmen im Schrifttum beide sowohl die unmittelbare als auch die mittelbare Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit erfassen sollen; s. dazu Ulrich Wölker, in: Hans von der Groeben / Jochen Thiesing/Claus-Dieter Ehlermann (Hg.), Kommentar zum EV/EG-Vertrag, 5. Aufl. Baden-Baden 1997, Anm. 13 mit Fn.33 zu Art. 48; Zuleeg, ebd, Anm. 4 zu Art. 6, jeweils mit zahlr. Nachweisen.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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einem Durchgriff auf jene Merkmale, deren sich das Staatsangehörigkeitsrecht als Anknüpfungspunkte bedient, mit dem Dilemma konfrontiert ist, daß entweder Abstammung oder Heimat als Stützpfosten des ius sanguinis bzw. des ius soli unverzichtbar sind. Sofern man vom guten Sinn des Rechtsinstituts der Staatsangehörigkeit in der gegenwärtigen Staatenordnung überzeugt ist, müßte man daher insoweit eine Ausnahme vom prinzipiellen Verbot der Anknüpfung an diese Merkmale zugestehen - und käme damit wiederum zur Nichtanwendung des Art. 3 Abs. 3 GG. Wenn Zuleeg feststellt, daß dahinter nationalstaatliches Denken stecke, 238 kann man ihm im Ergebnis nur zustimmen, denn das Institut der Staatsangehörigkeit selbst ist Ausdruck der nationalstaatlichen Separiertheit unserer Welt und steht in einer unauflöslichen Spannung zur Idee allgemeiner menschenrechtlicher Gleichheit. Anders formuliert: Wenn die Staatsangehörigkeit nicht als verpöntes Merkmal im Sinne des Art. 3 Abs. 3 gilt, ist das auch Ausfluß des Umstandes, daß sich die bundesrepublikanische Ordnung eben nicht allein aus der Menschenrechtsidee legitimiert, sondern mit dem Prinzip der Staatsmitgliedschaft bzw. dem Nationalstaatsprinzip i.e.S., so wie es oben definiert wurde, ein weiteres legitimatorisches Prinzip im Grundgesetz verankert hat, das des Anknüpfungspunktes der Staatsangehörigkeit (bzw. Deutscheneigenschaft) bedarf. Bleibt die Frage, wie man die Spannung zwischen diesen beiden gegenläufigen legitimatorischen Prinzipien in der Anwendung des Gleichheitssatzes soweit als möglich entschärfen kann, konkret: wie man mit Differenzierungen auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit bzw. Deutscheneigenschaft umgehen kann, ohne sich gegenüber dem Problem, auf das Zuleeg und Gubelt mit Recht hingewiesen haben, blind zu stellen. Dabei ist zwischen unterschiedlichen Kon-r stellationen und Fragestellungen zu unterscheiden: Zum ersten muß das Staatsangehörigkeitsrecht selbst in seiner konkreten Ausgestaltung den Anforderungen einer menschenrechtlich fundierten Verfassung gerecht werden. Dieser Punkt wurde oben bereits eingehend erörtert. Hier bleibt nur ergänzend anzumerken, daß dabei auch dem Maßstab des Art. 3 Abs. 3 GG Bedeutung zukommen kann; zwar aus den dargelegten Gründen nicht in der Weise, daß nun die Merkmale Abstammung, Heimat etc. allgemein als verpönt gelten, aber entsprechend der oben zitierten treffenden Charakterisierung in Art. 1 Abs. 3 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 239 doch jedenfalls dann, wenn ganz bestimmte Personengruppen unter Rückgriff auf die dort aufgeführten verbotenen Differenzierungskriterien diskriminiert würden, man also beispielsweise 238

Ausländer (l.Teil, Fn.914), 364. Allgemein zum Nationalstaatsprinzip im GG ders., Nation (1. Teil, Fn. 746), 486 ff. 239 BGBl. 1969 II, 962; s. dazu oben S.400f.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

eine Einbürgerung von Schwarzen oder von Moslems per Gesetz ausschließen oder die Ermessensbetätigung an den in Art.3 Abs.3 genannten Merkmalen orientieren würde. 240 Zum zweiten ist festzuhalten, daß sich Ausländer oder Staatenlose nach einhelliger Auffassung selbstverständlich auf Art.3 Abs.3 GG berufen können, soweit es um unmittelbare Diskriminierungen wegen eines der dort genannten Merkmale geht. Und zum dritten kommt, wenn die Staatsangehörigkeit nicht als verbotenes Merkmal im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG qualifiziert wird, bei Differenzierungen auf dieser Grundlage der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zur Anwendung. Hinsichtlich der Bedeutung einer solchen Prüfung im Blick auf Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit gehen die Vorstellungen allerdings weit auseinander: Teils wird angenommen, daß die Staatsangehörigkeit selbst schon die Verschiedenheit der Sachverhalte begründe, die allein schon deshalb unterschiedlich geregelt werden dürften. 241 (Größten-)teils ist man der Ansicht, daß nach den Maßstäben des Art. 3 Abs. 1 im Einzelfall geprüft werden müsse, ob die fremde Staatsangehörigkeit ein sachliches Kriterium für eine Ungleichbehandlung sei. 242 Und teils wird auch unter Berufung auf das Bundesverfassungsge-

240

Hier ist dann auch Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 365, beizupflichten, sofern man die Prüfung auf die in Art. 3 III genannten Merkmale beschränkt. Gegen die verbreitete Ansicht, daß die Entscheidung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit im freien Belieben der Staatsorgane stehe, wendet sich BVerfGE 37, 217 (239 f.), wo das Gericht betont, daß es nicht ausreiche, „die Regeln darüber lediglich sach- und systemgerecht auszugestalten. Vielmehr müssen die entsprechenden Gesetze die Grundentscheidungen der Verfassung, wie sie vor allem in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, beachten und ihrerseits zu deren Verwirklichung beitragen". Zustimmend Sachs, der dies auch speziell auf Art.3 III bezieht; s. Grenzen (Fn. 199), 141, bes. 227 mit Nachw. zur Gegenauffassung, die u.a. die Freistellung der Entscheidung über Einbürgerungen verlangt, in Fn.31; vgl. etwa Doehring, Ausländer (l.Teil, Fn. 113), 44, der aus dem Beispielsfall der Anwendung des Art. 3 III auf den Einbürgerungsantrag eines Bewerbers aus der Volksrepublik China unverständlicherweise einen (von ihm abgelehnten) Einbürgerungswang bzw. -anspruch konstruiert, obwohl es, sofern der Anspruch nicht aus dem Gesetz folgt und auch keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, nur um eine entsprechende Begrenzung des Ermessens gehen kann. 241 In diese Richtung etwa BVerwGE 22, 66 (70 f.); dazu krit. Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 115. 242 So Rüfner, Grundrechtsträger (l.Teil, Fn.964), Rn.8 m.w.N.; in deutlicher Anlehnung an die „neue Formel" ders, in: BK, Rn. 135ff. zu Art.3 I; s. auch Quaritsch, Ausländer (1. Teil, Fn. 9), Rn. 116; eingehender zu einem Bsp. Isensee, Ausländer (1. Teil, Fn. 14), 81 ff.; vgl. auch Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd.I, Rn.36 zu Art.3 (Rechtfertigung nach den allgemeinen Kriterien) oder Fabis (Fn. 209), 152.

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rieht, das allgemein festgestellt hat, daß die Bindung des Gesetzgebers im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 um so enger werde, ,je mehr sich (...) personenbezogene (...) Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, daß eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt", 243 dafür plädiert, eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 vorzunehmen. 244 Hinsichtlich der Ergebnisse dürfte sich die letztgenannte Ansicht kaum von der Zuleegs unterscheiden, sie geht jedoch den umgekehrten Weg: Nicht Art. 3 Abs. 3 GG wird ausgeweitet und damit im Standard etwas abgesenkt, sondern der Prüfungsstandard im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG wird mit zunehmender Nähe zu Art. 3 Abs. 3 GG angehoben. Damit konzentrieren sich alle weiteren Überlegungen auf Art. 3 Abs. 1 GG, der im folgenden näher beleuchtet werden soll.

b) Der allgemeine Gleichheitssatz und die Lehre vom Willkürverbot Das Bundesverfassungsgericht verwendet in ständiger Rechtsprechung die Formel, der Gleichheitssatz gebiete, „weder wesentlich Gleiches willkürlich

243 BVerfGE 88, 87 (96) - Transsexuellen-Entscheidung -. Interessant ist insoweit ein Vergleich mit der Rspr. des Supreme Court in den USA, die - ohne eine dem Art. 3 Abs. 3 vergleichbare Normierung von Diskriminierungsverboten zu kennen - eine Unterscheidung im allgemeinen nur am Maßstab der „reasonableness" mißt, bei bestimmten Fallgruppen, die als „suspect classifications" gelten, namentlich solche nach Rasse oder Hautfarbe, jedoch den Maßstab einer „strict scrutiny" zur Anwendung bringt, vgl. dazu nur Gerald Gunther, Constitutional Law. Cases and Materials on Constitutional Law, 1 Ith ed., 5th reprint, Mineola/New York 1989, 586ff., 62Iff. mit zahlr. Rspr.nachw.; aus der dt. Lit. Sachs, Grenzen (Fn. 199), 163 ff, 216 ff, m.w.N.; s. auch Donald P. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, 31 ff., in: Link (Hg.) (Fn. 199). 244 Vgl. dazu Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn.256, 297 zu Art. 3, der zwar selbst den Weg über die Einbeziehung mittelbarer Unterscheidungswirkungen in Art. 3 III geht (wobei er dann von abgeschwächten Rechtfertigungsanforderungen ausgeht), aber ausdrücklich feststellt, daß es eher eine dogmatische, aber keine ergebnisrelevante Frage sei, ob man dann von einer direkten oder nur entsprechenden Anwendung des Art. 3 III 1 ausgehe oder (so in Fn. 520 u. Rn. 297) meine, daß die Berücksichtigung des Schutzzweckes des Art. 3 III 1 im Rahmen des Art. 3 I eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung begründe. Im letztgenannten Sinne interpretiert er die (nicht ganz deutlich werdende) Position von Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien (Fn. 208), Rn.89 i.V.m. 82. Für strenge Anforderungen an die Rechtfertigung einer Differenzierung außerhalb des Bereichs staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten auch E. Stein, in: AK I, Rn. 94 zu Art. 3: Hier sei in der Regel von einer völligen Gleichstellung mit im Inland wohnenden Deutschen auszugehen.

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ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln". 245 In dieser Formulierung steckt einerseits die Bezugnahme auf das traditionelle Gerechtigkeitsgebot; so stellt das Gericht an anderer Stelle auch explizit fest, Art. 3 Abs. 1 beinhalte für den Gesetzgeber „die allgemeine Weisung bei steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken, ,Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden4 zu behandeln44.246 Andererseits zeigt sich aber auch schon die Reduktion dieses umfassenden Anspruchs auf ein bloßes Willkürverbot, soweit es um Art. 3 Abs. 1 GG als Kontrollnorm geht. 247 Die Gerechtigkeitsidee wird auf dieser Ebene folglich von vornherein nur durch die Brille des Willkürverbotes betrachtet: Willkürlich ist eine Maßnahme, wenn sie nicht am Gerechtigkeitsgedanken orientiert ist. 248 Und dies soll, wie wiederum in negativer Wendung erläutert wird, dann der Fall sein, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt 44 , 249 wobei es auf die Eigenart des zu „regelnden Sachverhaltes44 ankommen soll. 2 5 0 Es geht mit anderen Worten um eine reine Evidenzkontrolle, bei der lediglich die evidente Unsachlichkeit bzw. Ungerechtigkeit erfaßt wird, nicht etwa die bestmögliche Realisierung der Gerechtigkeitsidee zur Debatte steht. Hintergrund sind die angesichts der Wertungsoffenheit des Art. 3 Abs. 1 GG auf der Hand liegenden kompetenzrechtlichen Probleme im Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber. Die Willkürformel antwortet darauf in der Weise, daß sie dem Gericht nur die Kontrolle des „evident44 Ungerechten zuweist, während das Parlament die Kompetenz zur Konkretisierung der für die Anwendung des Gleichheitssatzes notwendigen Gerechtigkeitsmaßstäbe besitzt. 251 Sie entspringt somit einem primär pragmatisch orientierten Ansatz, wie 245 Vgl. nur BVerfGE 4, 144 (155); E49, 148 (165); etwas anders formuliert in E86, 81 (87); ähnlich auch E l , 14 (52); E67, 186 (195); vgl. auch E78, 104 (121). Der Sache nach laufen diese und weitere Varianten stets auf dasselbe hinaus. 246 So die klassische Formulierung in BVerfGE 3, 58 (135); krit. im Blick auf den Verweis auf die Gerechtigkeitsidee statt vieler Rüfner, in: BK, Rn. 2 ff. zu Art. 3 I, bezogen auf das BVerfG bes. Rn. 4 m.w.N. 247 Siehe hierzu Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 541; Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd. I, Rn. 17 f. zu Art. 3, jeweils m.w.N. 248 So - in unterschiedlichen Formulierungsvarianten - z.B. BVerfGE 3, 58 (136); E 9, 124 (130); E 17, 319 (330); E 42, 64 (72); E 71, 255 (271); E 86, 81 (87). 249 BVerfGE 1, 14 (52); st. Rspr, aus neuerer Zeit z.B. BVerfGE 61, 138 (147); E68, 237 (250); E83, 1 (23); E89, 132 (141). 250 Vgl. die Nachw. bei Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd.I, Rn. 17, Fn.94 zu Art.3. 251 So treffend Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm, Rn. 10 zu Art.3; ähnlich Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn. 554), 541.

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ihr Protagonist Gerhard Leibholz in seiner berühmten Schrift von 1925 auch unumwunden zugibt: „Aus solchen praktischen Erwägungen rechtfertigt sich die Beschränkung der Gleichheitsforderung auf das Verbot der Willkür", heißt es dort zusammenfassend. 252 Hier ist nicht der Ort, um Stärken und Schwächen der Willkürtheorie, ihre Beziehung zur „neuen Formel" des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts und anderen neueren Ansätzen im Schrifttum zu diskutieren; dafür sei auf die reiche Fülle der einschlägigen Literatur verwiesen. 253 Vielmehr interessiert in diesem Zusammenhang zunächst einmal nur, was das dem Art. 3 Abs. 1 GG entnommene Willkürverbot zur Lösung des Problems der Deutschengrundrechte beitragen kann. Die Willkürformel, wie sie das Bundesverfassungsgericht verwendet, zielt in erster Linie auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung. Rechtfertigungsbedürftig ist jedoch - auch dies klingt in der obigen Definition an - nur die Ungleichbehandlung von „wesentlich Gleichem", d.h. der eigentlichen Willkürkontrolle ist a) ein Gleichheitsurteil und b) die Feststellung einer Ungleichbehandlung vorgeschaltet. Da Gleichheit im Gegensatz zu Identität Verschiedenheit voraussetzt, kann das Gleichheitsurteil sich nur auf die Vergleichbarkeit im Hinblick auf bestimmte gemeinsame Merkmale, einen gemeinsamen Bezugspunkt (tertium comparationis), beziehen,254 stellt auf diese Weise also eine Relation zwischen verschiedenen Personen oder Sachen her. 255 Fällt das Gleichheitsurteil hingegen negativ aus, so bedarf die Ungleichbehandlung auch keiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Eben dies ist der Dreh- und Angelpunkt der oben skizzierten Position des Bundesverwaltungsgerichts, das in einer Entscheidung aus dem Jahre 1965 die Auffassung vertrat, daß die (fremde) Staatsangehörigkeit selbst „Grund für eine sachgemäße Differenzierung" sei, dadurch also eine Verschiedenheit der Sach-

252

Leibholz, Gleichheit (Fn. 199), bes. 72 ff. (77). Das Willkürverbot erschöpft den Gleichheitssatz also auch nach Leibholz' eigener Einschätzung keineswegs und ist nicht mit ihm identisch. Insofern wendet sich G. Müller, Gleichheitssatz (Fn. 199), 44 f., mit Recht gegen den „Kurzschluß" zwischen Gleichheitssatz und Willkürverbot, hält im übrigen die „neue Formel" des 1. Senats für überzeugender, da dem Gesetzgeber auch hier noch ein ausreichend großer Gestaltungsspielraum verbleibe; s. auch Rüfiier, in: BK, Rn. 19 zu Art. 3 I. 253 Vgl. nur die oben in Fn. 199 angegebene Literatur, jeweils m.w.N.; s. etwa auch die Nachw. bei Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn. 15 zu Art.3, der im übrigen feststellt, daß die Zahl der Veröffentlichungen zum Gleichheitssatz nahezu unübersehbar sei. 254 Siehe dazu Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 16 m.w.N. zu Art.3; Pieroth/Schlink (l.Teil, Fn.5), Rn.431 f. 255 Podlech, Gleichheitssatz (Fn. 194), 30 u. passim.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

verhalte begründet werde, 256 die allein schon deshalb unterschiedlich geregelt werden dürften. Die Vergleichbarkeit wird also bestritten. Vorsorglich schiebt das Gericht dann noch eine Argumentation auf der Rechtfertigungsebene nach (dazu gleich); zunächst jedoch zur Frage des negativen Gleichheitsurteils. In dem zu entscheidenden Fall ging es um die Satzung eines Landkreises über die Erhebung einer Schankerlaubnissteuer, die den Steuersatz für Ausländer um 400 % gegenüber dem für deutsche Steuerschuldner geltenden Satz erhöht. So schwierig die rationale Bildung von Vergleichsgruppen, ihre logische Klassifizierung und Unterordnung unter einen gemeinsamen Oberbegriff vielfach auch sein mag 257 - hier ist sie es nicht: Das Betreiben einer Schankwirtschaft drängt sich in diesem Fall als sachgerechter gemeinsamer Oberbegriff (genus proximum) für die Gruppe der deutschen und die der ausländischen Betreiber einer Schankwirtschaft förmlich auf. Sie sind somit ungeachtet der je unterschiedlichen Staatsangehörigkeit hinsichtlich wesentlicher Merkmale durchaus vergleichbar (wesentlich gleich), werden aber offenkundig ungleich behandelt. Die Behauptung, schon die unterschiedliche Staatsangehörigkeit als solche begründe die Verschiedenheit der Sachverhalte - mit der Art. 3 Abs. 1 GG letztlich für unanwendbar erklärt wird - läßt sich in dieser Pauschalität also nicht halten. Vielmehr wird es stets darauf ankommen, ob aufgrund anderer, nach der Fallgestaltung wesentlicher (gemeinsamer) Merkmale Vergleichbarkeit gegeben ist oder nicht. Damit stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung der Differenzierung. Dies ist der eigentliche Anwendungsbereich der Willkürformel, deren Bedeutung sich an der erwähnten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1965 ebenfalls recht gut exemplifizieren läßt. Das Gericht verwies hier unter anderem darauf, daß, wie vor allem auch Art. 12 GG zeige, „schon die Verfassung in der Staatsangehörigkeit selbst einen Grund für eine sachgemäße Differenzierung sieht. Art. 3 Abs. 1 GG ist mithin nicht verletzt, wenn Ausländern in einzelnen Gewerbezweigen die Betätigung erschwert wird". 2 5 8 Auch diese Feststellung verfehlt in ihrer Pauschalität die Anforderungen des Art.3 Abs. 1, und zwar schon in seiner Deutung als reines Willkürverbot: Der allgemeine Hinweis auf die Deutschenvorbehalte trägt nicht weiter, als wenn man jede Freiheitsbeschränkung ohne Ansehung der konkreten Umstände im Blick auf die bloße Existenz von Schrankenvorbehalten bei den betroffenen Grundrechten rechtfertigen wollte. Die Entscheidung ist daher im Schrifttum zu Recht 256

BVerwG, Urt. v. 24.9.1965, E 22, 66 (70 f.); dazu krit. u.a. Zuleeg, Ausländer (1. Teil, Fn. 914), 363, der aber zu Unrecht einen Verstoß gegen Art. 3 III annimmt. 257 Dazu grundlegend Podlech, Gleichheitssatz (Fn. 194), 29 ff, 48 ff, 64 ff, bes. auch 71 ff, u. pass, der hier zwischen „behandelten Klassen", „Restklassen" und „Einschlußklassen" unterscheidet; vgl. hierzu auch Rüfner, in: BK, Rn. 13 f. zu Art. 3 I. 258 BVerwGE 22, 66 (70 f.).

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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auf massive Kritik gestoßen. So hält etwa Quaritsch dem Gericht entgegen, daß es zur Rechtfertigung einer verschiedenen Behandlung zweier Sachverhalte bekanntlich nicht genüge, auf die eine oder andere Verschiedenheit zwischen ihnen hinzuweisen, vielmehr ein innerer Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung bestehen müsse. 259 Die fremde Staatsangehörigkeit müsse unter dem Aspekt des Gleichheitsgebots also ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung sein 260 bzw. noch präziser: für die Wahl der Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium muß sich im Blick auf das mit der Ungleichbehandlung verfolgte Differenzierungsziel 261 ein solcher sachlicher Grund benennen lassen, der den von Quaritsch angesprochenen Konnex zwischen den differentia spefica und der differenzierenden Regelung herstellt. Auch in diese Richtung hatte das Gericht zwar noch einen Vorstoß unternommen, indem es zur Begründung anführte, daß die bei Gastwirten im öffentlichen Interesse besonders notwendige Überwachung sich gegenüber Deutschen sachgerechter und einfacher durchführen lasse als gegenüber Ausländern, denen die gleiche Verbundenheit mit der im Bundesgebiet bestehenden Rechts- und Lebensordnung fehle. 262 An diesem Punkt hakt dann jedoch Isensee mit seiner (berechtigten) Kritik an dieser Entscheidung ein: 263 Das Bundesverwaltungsgericht ziehe hier steuerfremde Gesichtspunkte der gebührenrechtlichen Kostendeckung heran und überspringe die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Schuldners als steuerrechtlichen Anknüpfungspunkt. Die Ausländereigenschaft sei steuerindifferent. Der Gleichheitssatz gebiete hier Systemgerechtigkeit und Formkonsequenz, über die sich zugleich die materiale Steuergerechtigkeit verwirkliche. Dem deutschen Steuerrecht sei allgemein die Staatsangehörigkeit als steuerbegründendes Merkmal fremd. Die Eigenschaft des Steuerausländers oder -inländers hänge vom Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt, nicht von der Staatsangehörigkeit ab. Sondersteuern für Ausländer seien seit der Aufklärung verpönt. Die diskriminierenden Vermögenseingriffe, wie sie das feudale Fremdlingsrecht vorsah, wurden von der Französischen Nationalversammlung 1790

259

Quaritsch, Ausländer (1. Teil, Fn. 9), Rn. 116, unter Hinweis auf BVerfGE 42, 374 (388), m.w.N. 260 Quaritsch, aaO. 261 Dieses ist i.d.R. mit dem Gesetzeszweck identisch; dazu im einzelnen Gusy (Fn. 199), 2507 f.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn. 18 ff. zu Art. 3. 262 BVerwGE 22, 66 (71). 263 Siehe zum folg. Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 81 f. m.w.N.; zustimmend Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2111 mit Fn.71 f.; s. ganz allgemein auch HansWolfgang Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, in: NVwZ 1988, 787 ff.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

als Schande der Menschheit verurteilt. 264 Und es bestehe, wie Isensee nachdrücklich betont, kein Grund dazu, dieses Urteil heute zurückzunehmen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Wie dieser Beispielsfall belegt, kann Art. 3 Abs. 1 GG in seiner herkömmlichen Lesart als Willkürverbot durchaus Bedeutung für den Grundrechtsschutz von Ausländern gewinnen. Insofern ist die Kritik an der Rechtsprechung, die diese Norm häufig nicht einmal erwähnt, zweifellos berechtigt. 265 Allerdings bringt das Willkürverbot, wie sich aus den obigen Ausführungen erhellt, insgesamt nur eine minimale Bindung. Es erfaßt auch nur einen Teilausschnitt des Gleichheitssatzes, so daß sich zwar der Satz aufstellen läßt, daß jede willkürliche Ungleichbehandlung gegen Art. 3 Abs. 1 verstößt, umgekehrt aber nicht jeder Gleichheitsverstoß ein Problem von Willkür ist. 266 Seine Anwendung führt in den Fällen zu eindeutigen Ergebnissen, in denen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit dem jeweiligen Rechtsgebiet völlig fremd ist, wie Isensee dies zu Recht für das Steuerrecht festgestellt hat. Damit wird in dem genannten Beispielsfall auch die mittelbare Beeinträchtigung bei der Ausübung eines Gewerbes korrigiert. Die Frage ist jedoch, wie es mit der unmittelbaren Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes bezogen auf Ungleichbehandlungen - sprich: Benachteiligungen - von Ausländern in jenen Bereichen aussieht, die für Deutsche durch die Deutschengrundrechte geschützt werden, wobei insbesondere der Bereich der Berufsfreiheit von großer praktischer Bedeutung ist. Die hierzu in der Literatur entwickelten Ansätze sollen im folgenden kurz skizziert werden. Ausgeklammert bleiben allerdings Vorstellungen, die darauf hinauslaufen, daß eine 264

Eine wörtliche Wiedergabe findet sich bei Portemer (l.Teil, Fn.893), 540, Anm. 1: Décret des 6-7-18 août 1790: „L'Assemblée Nationale, / Considérant que le droit d'aubaine est contraire aux principes de fraternité qui doivent lier tous les hommes quels que soient leur pays et leur gouvernement; que ce droit établi dans des temps barbares doit être proscrit chez un peuple qui a fondé sa constitution sur les droits de l'homme et du citoyen, et que la France libre doit ouvrir son sein à tous les peuples de la terre, en les invitant à jouir, sous un gouvernement libre, des droits sacrés et inviolables de l'humanité, / A décrété: / Le droit d'aubaine et celui de détraction sont abolis pour toujours". Dazu sehr instruktiv Brubaker, Staats-Bürger (l.Teil, Fn.387), 64ff, bes. 73 f, u. pass. 265 Wie Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 113ff, kritisch anmerkt, ist z.B. in den Entscheidungen des BVerwG zur Approbation ausländischer Ärzte die Vereinbarkeit der Regeln der BÄrzteO mit Art.3 I GG gar nicht angesprochen worden; vgl. BVerwGE 45, 142 (162); E 58, 283 (290); E 65, 1 (19); E 67, 202 (203); BVerwG, in: NJW 1987, 726. Ähnlich krit. bezogen auf BVerfG E 78, 179 ff. - Heilpraktikererlaubnis - Sachs, Ausländergrundrechte (1. Teil, Fn. 2), 387 f. 266 Rüfner, in: BK, Rn. 19 zu Art.3 I; nachdrücklich für eine Differenzierung zwischen Gleichheitssatz und Willkürverbot G. Müller, Gleichheitssatz (Fn. 199), 43 ff.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Differenzierung dann gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, wenn sie den Menschenrechts- oder Menschenwürdekern eines Deutschengrundrechts berühre, da sie oben bereits erörtert wurden.

c) Art. 3 Abs. 1 GG und die Deutschengrundrechte - Ansätze im Schrifttum (1) Die Deutschenrechte als Ungleichtatbestände Nach einer Auffassung in der Literatur ist bei der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG auf Ausländer die fehlende Pflicht zur Gleichbehandlung von Deutschen und Ausländern in Rechnung zu stellen: Wie die Art. 8, 9, 11 und 12 GG zeigten, sei bereits auf Verfassungsebene eine Schlechterstellung von Ausländern erfolgt. Die Staatsangehörigkeit sei damit als sachliches Differenzierungsmerkmal anerkannt worden. Diese klare Entscheidung könne nicht durch Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG negiert werden, „da die Deutschenrechte hinsichtlich der Ausländer spezielle Ungleichtatbestände sind und dem allgemeinen Gleichheitssatz für ihren Geltungsbereich vorgehen" (Dolde/Madert-Fries). 267 „Generell kann also gesagt werden, daß nicht jegliche Ungleichbehandlung von Ausländern und Deutschen - gerade in den hier in Rede stehenden Freiheitsbereichen - von vornherein sachwidrig ist". Der Gleichheitssatz verbiete demnach dem Gesetzgeber nicht, zwischen In- und Ausländern sachliche Unterschiede zu machen. Wann die Grenze zulässiger Verschiedenbehandlung überschritten sei, müsse anhand des konkreten Einzelfalles unter Berücksichtigung der besonderen Gegebenheiten überprüft werden. Diese Position ist nicht mit der oben genannten des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1965 identisch, das die Verschiedenheit der Sachverhalte bereits aus der Staatsangehörigkeit selbst folgerte. Die Stoßrichtung ist eine ganz andere: Offenbar aus dem Empfinden des oben geschilderten Grundkonflikts zwischen der Idee menschenrechtlicher Gleichheit und staatsangehörigkeitsrechtlicher Differenzierung heraus sucht man den Widerspruch zu entschärfen, indem man ihn rechtsdogmatisch auf den Begriff bringt; Stichwort: „Ungleichtatbestände". Tatsächlich ist diese Wortschöpfung allerdings ebenso überflüssig wie unglücklich und vor allem dogmatisch verfehlt. Überflüssig ist sie, da die Intention des Verfassunggebers, nach der Staatsangehörigkeit (bzw. Deutscheneigenschaft) differenzieren zu wollen, angesichts der Deutschenvorbehalte klar auf 267

So (gegen Rolvering [l.Teil, Fn. 15]) Dolde, Rechte (l.Teil, Fn. 10), 50ff. (59); wortgleich in Anlehnung an ihn Madert-Fries (l.Teil, Fn.47), 119f., der auch das nachfolgende Zitat zuzuordnen ist.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

der Hand liegt, diese zudem auch nicht zum Kanon der verbotenen Differenzierungskriterien nach Art. 3 Abs. 3 GG gehört. Verzichtet man also darauf, die äußerst gewagte Figur ursprünglich verfassungswidrigen Verfassungsrechts als Gegenspieler auf den Plan zu rufen, so bedarf es keiner weiteren Anstrengungen zur Begründung der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit im Negativraum der Deutschengrundrechte, und schon gar nicht der Deutung der Deutschengrundrechte als „spezielle Ungleichtatbestände". Dogmatisch verfehlt ist diese Konstruktion vor allem deshalb, weil sie das verfassungsrechtliche Schema von grundsätzlicher Freiheitsvermutung und Rechtfertigungsbedürftigkeit von Freiheitsbeschränkungen bzw. der grundsätzlichen Vermutung zugunsten der (persönlichen Rechtsgleichheit und der Rechtfertigungsbedürftigkeit einer Ungleichbehandlung268 auf den Kopf stellt, indem sie die Deutschengrundrechte als - definitive - Ungleichtatbestände einstuft. Die Position ist im übrigen aber auch in sich inkonsistent, wenn sie im nächsten Atemzug dann doch wieder das Willkürverbot zur Anwendung bringen will und in diesem Zusammenhang auf die Einzelfallprüfung verweist. Anders als der Begriff des Ungleichtatbestandes suggeriert, ist die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit also auch nicht definitiv zulässig (oder kennt fest umrissene Ausnahmetatbestände für die Unzulässigkeit einer Differenzierung), sondern muß im Einzelfall über das Vorliegen eines sachlichen Grundes gerechtfertigt werden - womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären. Der einzig weiterführende Hinweis könnte in einer Beschränkung der Differenzierungsmöglichkeiten nach der Staatsangehörigkeit auf den Bereich der Deutschengrundrechte liegen, doch ist die Stellungnahme in diesem Punkt nach dem Zitat („gerade in den hier in Rede stehenden Freiheitsbereichen") nicht ganz eindeutig. Andere Autoren haben sich jedoch über die allgemeine Bejahung der Anwendbarkeit des Willkürverbotes hinausgehend auch Gedanken darüber gemacht, was speziell bei Benachteiligungen von Ausländern aufgrund von Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit als gleichheitswidrig gelten könnte. Diese Ansätze sollen im folgenden vorgestellt werden.

268 Zur Argumentationslast beim Gleichheitssatz Podlech, Gleichheitssatz (Fn. 194), zusammenfassend bes. 87; s. speziell bezogen auf die Deutschengrundrechte auch Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 73f.: Aus der Proklamation der Rechtsgleichheit aller Menschen (Art. 3 I GG), die eine entsprechende „Vermutung für die Rechtsgleichheit" begründe, folge, daß „Individualrechte des Fremden (...) nunmehr nicht von der Gnade einer Analogie zu den Deutschenrechten (leben); vielmehr muß sich jedes Staatsbürgerprivileg vor dem Gebot der Rechtsgleichheit rechtfertigen". - Und das muß dann natürlich auch für jede einzelne Ungleichbehandlung aufgrund eines solchen Privilegs gelten.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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(2) Die Bedeutung von Zulassungsentscheidungen (Isensee) Wie oben bereits festgestellt wurde, lag in dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall in der fur Ausländer nach der Satzung des Landkreises Ζ um 400 % höheren Schankerlaubnissteuer auch eine mittelbare Beeinträchtigung der Ausübung des Gastwirtgewerbes. Das Gericht bringt dies in der oben zitierten Entscheidungspassage indirekt in einen Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1 GG. Es ist offenbar der Ansicht, daß dem Ausländer, da ihm das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht zustehe, auch die Betätigung in einzelnen Gewerbezweigen - hier mit dem Mittel der Steuer - erschwert werden dürfe, ohne daß dadurch Art. 3 Abs.l GG verletzt werde. 269 Isensee sieht darin eine unzulässige Folgerung a fortiori von der Möglichkeit der Berufsversagung auf die Möglichkeit der Diskriminierung in der Berufsausübung. Nach seiner Ansicht wäre es zwar grundrechtlich unbedenklich gewesen, wenn die öffentliche Hand den Zugang zum Beruf völlig versperrt hätte. „Hat sie sich aber in der Phase der Berufszulassung über den grundrechtlichen Minderstatus des Ausländers hinweggesetzt, so kann sie nachher nicht mehr beliebig darauf zurückkommen". Er bezeichnet es als „ein Gebot rechtsstaatlicher Konsequenz, daß der Staat von seinen selbstgesetzten Prämissen nicht ohne Grund mehr abweicht". 270 Wie schon hinsichtlich der Gebietszulassung ist für Isensee somit auch bezogen auf die Berufsfreiheit der Zulassungsakt als solcher von zentraler Bedeutung. 271 Er markiert den „point of no return", der für den Staat ein System fortschreitender Selbstbindung in Gang setzt, und dem auf Seiten des Ausländers eine zunehmende Statusverfestigung entspricht. Hinsichtlich der Berufsfreiheit präzisiert er seine Vorstellungen wie folgt: Ist der Zugang zum Beruf erst einmal eröffnet, so könne in der Phase der Berufsausübung nur noch nach der jeweiligen beruflichen Rolle, nicht mehr nach der Staatsangehörigkeit unterschieden werden. Und wörtlich heißt es: „Der Gleichheitssatz läßt nicht zu, daß sich in einem Lebensbereich eine Zwei-Klassen-Ordnung bildet. Damit fordert er die materielle Gleichstellung des zum Beruf zugelassenen Ausländers mit den Deutschen. Wenn sich der Deutsche und der Ausländer hier auf der gleichen Stufe der Berufsausübungsfreiheit treffen, so ist es für den Ausländer ein Schritt hinauf von der Stufe der grundrechtlich ungesicherten Zulassung; für den Deutschen ein Schritt hinab von der Höhe der am stärksten geschützten Berufswahlfreiheit auf die Stufe der geringeren Grundrechtssicherung". Das System der staatlichen Selbstbindung gegenüber den Ausländern sei mit der Zulassung zum 269 270 271

BVerwGE 22, 66 (70 f.). Isensee, Ausländer ( 1. Teil, Fn. 14), 82 f. Vgl. aaO, 61 ff.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Aufenthalt also noch nicht abgeschlossen; vielmehr verfestige sich der Grundrechtsstatus des Ausländers weiter, wenn er zu einem deutschenrechtlich geschützten Lebensbereich zugelassen werde. 272 Isensee konkretisiert seine Vorstellungen dann an Hand des für ausländische Arbeitnehmer so praktisch bedeutsamen Beispiels des Arbeitsrechts: Zwar sei der Staat grundsätzlich frei, einem Ausländer die Arbeitserlaubnis zu erteilen oder zu versagen. Habe er sie erteilt, müsse er ihm aber die gleichen arbeitsrechtlichen Bedingungen wie dem Inländer gewährleisten. Im Rahmen eines einmal begründeten Arbeitsverhältnisses dürfe nur noch auf die Rolle des Arbeitnehmers abgestellt werden; der Rekurs auf die Staatsangehörigkeit sei abgeschnitten. Die Kette der Selbstbindung könne weiter gehen, je nach dem Lebensbereich, den der Staat dem Ausländer eröffne. So erschließe die Arbeitserlaubnis den Zugang zu der (ohnehin als Jedermannrecht ausgestalteten) Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) - mit allen Konsequenzen samt Mitbestimmung und Arbeitskampffreiheit. Auch den Schlüssel zu anderen allgemeinen Grundrechten habe der Staat über Art. 12 Abs. 1 GG in der Hand: zur Pressefreiheit, soweit sie Ort beruflicher Betätigung als Journalist und Verleger ist, oder zu den Grundrechten, die in der Universität als Berufsfeld und Ausbildungsstätte organisiert sind. 273 Nach alledem erweist sich das von Isensee entworfene Modell fortschreitender Statusverfestigung gerade auch im Hinblick auf die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf Ungleichbehandlungen von Ausländern in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen als erhellend, entzieht sich gleichwohl dank seiner Mehrschichtigkeit einer einfachen Zuordnung zu den gängigerweise im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG diskutierten topoi und läßt wie angesichts der Komplexität der Materie nicht anders zu erwarten - auch Fragen offen. Was zunächst die Einordnung im Rahmen der Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG anbelangt, so trägt Isensees Ansatz ohne Zweifel zur Klärung der Frage bei, ob ein sachlicher Grund vorliegt, der die Ungleichbehandlung rechtfertigt. Er bietet nämlich insbesondere konkrete Anhaltspunkte dafür, wann dies zu verneinen ist. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn der Staat einem Ausländer, dem er eine Arbeitserlaubnis erteilt hat, schlechtere arbeitsrechtliche Bedingungen zumuten wollte als einem Deutschen, etwa mit dem Argument, daß er, wie Art. 12 Abs. 1 GG zeige, den Deutschen gegenüber in besonderer Weise verpflichtet sei. Insofern bietet Isensees Modell eine Hilfestellung für die Anwendung der ob ihrer inhaltlichen Weite bzw. Inhaltsarmut immer wieder gescholtenen Willkürformel. Dies ließe sich vor dem Hintergrund, daß Isensee nach erfolgter Zulassung nur noch auf die Rolle z.B. als Arbeitnehmer abstellen 272 273

Isensee, aaO, 83. AaO, 83-85 m.w.N.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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will, auch unter dem Aspekt der an der Eigenart des jeweiligen Sachgebietes orientierten Sachgerechtigkeit bzw. im Blick auf die von ihm ausdrücklich in Anknüpfung an die Zulassungsentscheidung eingeforderte „rechtsstaatliche (...) Konsequenz" unter dem früher mit leicht abgewandelter Bedeutung als Systemgerechtigkeit bezeichneten Gesichtspunkt der Folgerichtigkeit präzisieren, der den Gesetzgeber verpflichtet, Sachverhalte in sich konsistent zu regeln. 274 Doch wird man damit dem von Isensee entwickelten Modell insofern nicht ganz gerecht, als es die formelhafte Selbstbeschränkung der Willkürtheorie gerade durchbricht, sehr viel tiefer zum Kern des mit den Deutschenvorbehalten aufgeworfenen Gleichheitsproblems vordringt: Es thematisiert den die Ungleichbehandlung allererst ermöglichenden, durch das Fehlen der deutschen Staatsangehörigkeit gegebenen Statusunterschied und ordnet die Frage, ob sich daraus ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung herleiten läßt, dem jeweils erreichten Grad der grundrechtlichen Statusverfestigung des Ausländers zu. Das Fehlen eines sachlichen Grundes ist damit nur Reflex einer inzwischen eingetretenen Kompensation des ursprünglichen Statusunterschiedes, wobei der Statusverfestigung des Ausländers spiegelbildlich eine zunehmende Selbstbindung des Staates entspricht. Die mit der Willkürformel gegebene Reduktion auf ein Verbot willkürlicher Ungleichbehandlung wird in diesem Modell durch das Gebot materieller Gleichstellung - wie sie Isensee nachdrücklich für den zum Beruf zugelassenen Ausländer mit den Deutschen fordert - ergänzt. Dennoch hat das Modell auch seine Schwachstellen, bleiben Fragen offen und ein Restbestand an Problemen folglich nach wie vor ungelöst: Die ganze Kette der staatlichen Selbstbindung, die sich auf immer weitere Lebensbereiche erstreckt, wird durch Zulassungsakte miteinander verknüpft. Sämtliche Folgerungen bezüglich der geforderten rechtsstaatlichen Konsequenz und der Verpflichtung der öffentlichen Hand auf das materielle Gleichstellungsgebot stehen und fallen also mit dem Vorliegen eines Zulassungsaktes - zunächst die zur Statusbegründung durch Gebietskontakt führende Zulassung des Aufenthaltes, dann die zur weiteren Statusverfestigung führende Arbeitserlaubnis und so fort und jedesmal obliegt die Entscheidung einseitig dem Staat. Doch fragt sich, ob er dabei in seiner Entscheidung wirklich völlig frei sein kann, wie dies Isensee nicht nur für die Gebietszulassung, sondern beispielsweise auch für den Berufszugang behauptet. Ist es tatsächlich „grundrechtlich unbedenklich", wenn „die öffentliche Hand dem Ausländer den Zugang zum Beruf völlig versperrt", und zwar ganz unabhängig von der Arbeitsmarktlage, der Situation der Deutschen in diesem Bereich, der Aufenthaltsdauer des Nichtdeutschen im Inland und ähnlichen Faktoren? Und selbst wenn die öffentliche Hand am Anfang der Kette in 274

Zu diesen verschiedenen Topoi s. nur Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd. I, Rn. 33 f. m.w.N. zu Art. 3; ausführlicher Rüfher, in: BK, Rn. 29 ff, 32 ff. zu Art. 3 I.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

ihrer Entscheidung frei sein sollte - ist sie es noch in gleicher Weise bei den weiteren Zulassungsentscheidungen zu neuen Lebensbereichen oder muß sie dann den Gedanken der Folgerichtigkeit ihres Handelns, der rechtsstaatlichen Konsequenz gegen sich gelten lassen? Insbesondere wenn es um Schritte im Lebenslauf geht, die typischerweise aufeinander folgen, wie beispielsweise Schule - Ausbildung - Beruf spricht sicherlich viel dafür. Und ist es überhaupt der richtige Ansatz, auch bei Ausländern der zweiten und dritten Generation nur auf die speziell ihnen gegenüber ergangenen Zulassungsakte abzustellen? Müßte man nicht - gerade wenn man, wie Isensee, in der Kategorie der Schicksalsgemeinschaft denkt - an die schon gegenüber den Eltern oder gar Großeltern erlassenen Zulassungsakte anknüpfen? Läßt sich die Verweigerung des Hochschulzuganges (z.B. mit dem Argument, die Ausländer-Quote sei erfüllt) noch rechtfertigen, 275 wenn Eltern und Großeltern in zweiter Generation bei uns Steuern zahlen und so das Studium deutscher Studenten mitfinanzieren? Man kommt auf diesem Wege, wie kaum anders zu erwarten, erneut zu dem oben schon eingehend erörterten Punkt zurück, daß nur eine Einbürgerung die (Gleichheits-)Probleme wirklich lösen kann. Doch stellt sich angesichts des dieser Einsicht zum Trotz nach wie vor recht hohen Ausländeranteils eben dennoch die Frage nach der bestmöglichen Lösung der in der Interimsphase zwischen „Erst"- und „Zweitzulassung" (Walzer), also Gebietszulassung und Einbürgerung, bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) im Blick auf Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit auftauchenden Probleme. Hier zeigt sich, daß das Modell von Isensee zwar überzeugend zu begründen vermag, daß und warum der allgemeine Gleichheitssatz einer Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit, die auf den unterschiedlichsten Rechtsgebieten zur Entstehung einer „Zwei-Klassenordnung" führen würde, entgegensteht, sobald der Staat selbst Ausländern den Zugang zu deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen eröffnet hat. Tatsächlich könnte sich anderenfalls das von Walzer vor dem Hintergrund einer zögerlichen Einbürgerungspraxis gezeichnete Menetekel bewahrheiten, wonach „die politische Gemeinschaft in eine Welt von Mitgliedern und Fremdlingen (zerfällt), (...) in der die Fremdlinge den Mitgliedern Untertan sind. Letztere mögen zwar untereinander gleich sein, aber

275

Vgl. zur Problematik der Quotenregelung und des Ausländers als „Bildungsinländers" u.a. Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 128f. §8 BAföG unterscheidet zwar zwischen Deutschen und verschiedenen (teils aus unterschiedlichen Gründen privilegierten) Ausländern, trägt in Abs. 2 den Gesichtspunkten von Aufenthaltsdauer und Erwerbstätigkeit des Berechtigten oder mindestens eines Elternteils aber auch bei nicht privilegierten Ausländern Rechnung; für die Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 3 I auch Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl., Rn. 156 zu Art. 3 I mit Nachw. zur Rspr.

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es ist nicht ihre Gleichheit, die den Charakter des Staates bestimmt, in dem sie leben, sondern ihre tyrannische Herrschaft". 276 Dies ist eine für den demokratischen Verfassungsstaat untragbare Vorstellung, die zudem positivrechtlich mit dem für alle Menschen geltenden Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Die Errichtung einer solchen „Zwei-Klassenordnung" ließe sich, wie Isensee zutreffend feststellt, auch nicht etwa a fortiori aus der mit den Deutschenvorbehalten prinzipiell gegebenen Möglichkeit, den Zugang zu den deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen ganz zu verweigern, herleiten. - Nur ist umgekehrt ebensowenig nachvollziehbar, warum der Staat in der den einzelnen noch stärker belastenden Zugangsentscheidung völlig frei sein soll, warum also etwa die Verweigerung des Berufszugangs grundrechtlich unbedenklich sein soll, und zwar unabhängig von den das jeweilige Berufsfeld prägenden besonderen Umständen, also auch dann, wenn die Sperre zum Schutz der Deutschen im konkreten Fall gar nicht erforderlich wäre. Auch wenn es einleuchtet, daß Isensee innerhalb seines Modells gewisse formale Anknüpfungspunkte für jede weitere Stufe der Statusverfestigung und der auf dieser Stufe greifenden materiellen Angleichungsgebote benötigt, folgt daraus noch nicht die Freistellung der dafür maßgeblichen Entscheidungen von den üblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen, nach denen jede Freiheitsbeschränkung bzw. Ungleichbehandlung im Einzelfall einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Auch eine (schon für sich genommen nicht unproblematische) typisierende Betrachtungsweise, die darauf abzielte, die Stufenfolge grundrechtlicher Statusverfestigung in eine Parallele zur Aufenthaltsdauer des einzelnen oder ähnlichen Faktoren zu setzten, hilft nicht weiter. Aus vielfältigen Gründen wird der eine früher, der andere später auf den Zugang zu einem bestimmten Beruf, zum Hochschulstudium oder anderen deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen angewiesen sein. Es lassen sich also (abgesehen von der Gebietszulassung, die durch Geburt im Inland aber ebenfalls variiert wird) keine mit der Aufenthaltsdauer korrelierenden „typischen" Etappen grundrechtlicher Statusverfestigung ausmachen. Wann und ob weitere Zulassungsakte ergehen, dürfte von mancherlei Zufällen abhängen. Doch vermag es kaum zu überzeugen, daß der Grundrechtsstatus des die Kinderbetreuung übernehmenden Elternteils womöglich ein anderer sein soll als der seines berufstätigen Ehepartners oder, falls man in diesen Fällen qua familiärer Verbundenheit auf den Status des Ernährers abstellen will, als der von Alleinerziehenden. Ähnliche Unterschiede könnten zwischen jenen, die eine Ausbildung in der privaten Wirtschaft durchlaufen, im Verhältnis zu den Absolventen staatlicher Hochschulen bestehen. Auch erscheint es nicht nachvollziehbar, daß es generell dort, wo die gesetzliche Rege-

276

Siehe für das volle Zitat oben S. 120 bei Fn. 365.

27 Siehr

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lungsdichte höher ist und folglich mehr Zulassungsakte erforderlich sind, anders aussehen könnte als in weniger reglementierten Bereichen. All dies zeigt, daß dieser Ansatz noch keine befriedigende Lösung der Gleichheitsprobleme im Verhältnis zu den Deutschen bietet und als neue Variante einer Stufenlehre sogar Verwerfungen in der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im Verhältnis von Ausländern untereinander mit sich bringen kann. Zudem steht die Beliebigkeit und Zufälligkeit der den Grundrechtsstatus begründenden und weiter verfestigenden staatlichen Akte aber auch in einem eigentümlichen Kontrast sowohl zu dessen weitreichender Bedeutung für den einzelnen als auch zu der inhaltlichen Forderung nach materieller Gleichstellung mit den Deutschen in dem damit eröffneten Lebensbereich, der das Gesamtkonzept inkonsistent erscheinen läßt. Dies suchen die ebenfalls auf eine Präzisierung - und damit letztlich: Beschränkung - der Voraussetzungen von Ungleichbehandlungen auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit zielenden, jedoch stärker funktionell orientierten Ansätze zu vermeiden, die im folgenden vorgestellt werden sollen.

(3) Funktionell orientierte Ansätze Teilweise wird die Auffassung vertreten, daß die „Wahrung der allen Menschen gewährleisteten Menschenwürde (es) gebietet (...), an das Fehlen der deutschen Staatsangehörigkeit nur solche rechtlichen Unterschiede gegenüber deutschen Staatsangehörigen zu knüpfen, die zur Erfüllung der formalen Funktion der Staatsangehörigkeit erforderlich sind" (Podlech). 277 Anders als bei dem von Isensee entworfenen Modell, dessen Dreh- und Angelpunkt das Handeln des Staates ist, das, indem es den Zugang zu bestimmten Lebensbereichen eröffnet, zu einer zunehmenden Statusverfestigung und Selbstbindung der öffentlichen Hand führt und dann unter dem Aspekt rechtsstaatlicher Konsequenz materiell-rechtliche Angleichungsgebote nach sich zieht, wird hier ausgehend von der gleichen Würde aller Menschen der Hintergrund der mit den Deutschenvorbehalten zu Lasten von Ausländern gegebenen besonderen „Eingriffsreserve" thematisiert. Dabei geht es im Kern wohl um den Versuch, aus der begrenzten - Funktion der Staatsangehörigkeit eine Eingrenzung der für Differenzierungen nach der Staatsanghörigkeit angebbaren sachlichen Gründe abzuleiten. Dies dürfte zumindest eine mögliche, wenn auch nicht erschöpfende Deutung der stärker funktionell orientierten Ansätze darstellen, die damit darauf reagieren, daß die Willkürformel selbst in ihrer schier endlosen Weite für die Frage, was jeweils als sachlicher Grund gelten darf, keine eigenen Kriterien 277

Podlech, in: AK I, Rn. 33 zu Art. 1.

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liefert und nur etwas hilflos auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs verweisen kann. 278 Die funktionell orientierten Ansätze sind im übrigen - was die Auseinandersetzung mit ihnen erschwert - zum einen eher vage angedeutet als wirklich klar herausgearbeitet, zum anderen auch alles andere als einheitlich, wobei sich Unterschiede vor allem hinsichtlich der Einschätzung der Bedeutung der Staatsangehörigkeit selbst sowie bezüglich der Frage zeigen, in welchen Bereichen danach differenziert werden dürfe: Teils wird die Möglichkeit von Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit von vornherein auf die deutschenrechtlich geschützten Lebensbereiche begrenzt; 279 teils wird auch umgekehrt festgestellt, daß Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit untersagt seien, sofern das Grundgesetz sie nicht - wie eben bei den Deutschenrechten - ausdrücklich gestatte oder erkennbar zum Schutz anderer Rechtsgüter zulasse, was etwa zugunsten des Erhalts der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik angenommen wird. Dieser Standpunkt läßt zumindest theoretisch die Möglichkeit offen, auch außerhalb der deutschenrechtlich geschützten Lebensbereiche Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit vorzunehmen, wenn sich dafür eine hinreichende Stütze im Grundgesetz findet. 280 278

Zur Kritik an der Leerformelhafligkeit des Willkürverbots statt vieler Schoch (Fn. 199), 875 m.w.N.; auch Maaß (Fn.197), 19 ff. (21); weitere Nachw. bei Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 18, Fn. 100, zu Art. 3. 279 In diesem Sinne wohl Ruppel (l.Teil, Fn.97), 46ff. (48, 52). So läßt sich aber z.B. auch die Feststellung E. Steins, in: AK I, Rn. 94 zu Art. 3, verstehen, nach der „der Begriff der Staatsangehörigkeit ausschließlich zur Abgrenzung von Rechten und Pflichten verwendet werden (darf), die sich auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat beziehen, also nur zur Abgrenzung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten". Etwas unklar bleibt allerdings, ob der Begriff der „staatsbürgerlichen Rechte" stets die Deutschengrundrechte einschließt oder gelegentlich nur die staatsbürgerlichen Rechte i.e.S. meint, so auch wenn es zwei Sätze weiter heißt: „Jede Diskriminierung von Ausländern außerhalb des Bereichs der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten bedarf einer besonderen Rechtfertigung". 280 Vgl. dazu die oben auf S. 397 ff. erörterte Position von Zuleeg, der zwar grundsätzlich bei Art. 3 III ansetzt, aber in den von ihm geschilderten Ausnahmefällen die Differenzierung ebenfalls am Maßstab des Art. 3 I überprüfen will. Ob er, wie seine Definition es nahelegt, solche Ausnahmen tatsächlich auch außerhalb deutschenrechtlich geschützter Lebensbereiche anerkennen will, wird nicht ganz deutlich, da alle genannten Beispiele, einschließlich des von ihm unter gleichzeitiger Zubilligung weitreichender Beschränkungsmöglichkeiten anerkannten Rechts auf Einreise, das für Deutsche über Art. 11 geschützt ist, sich auf deutschenrechtlich geschützte Lebensbereiche beziehen, vgl. Ausländer (l.Teil, Fn.914); ders., Grundrechte (l.Teil, Fn. 113); ders., Freizügigkeit (l.Teil, Fn.696). Als Bsp. für aus dem Grundgesetz ableitbare Einschränkungen des Verbots, nach der Staatsangehörigkeit zu differenzieren, nennt er Differenzierungen zwischen Ausländern zugunsten des Erhalts der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Die erstgenannte engere Auffassung, die davon ausgeht, daß der Verfassunggeber mit den Deutschenvorbehalten selbst festgelegt hat, in welchen Lebensbereichen es überhaupt sachliche Gründe für Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit geben könnte, wird solche Differenzierungen in anderen Bereichen von vornherein als unsachlich ablehnen. Die letztgenannte Position muß sich hingegen mit Fällen wie dem der Ablehnung einer Entschädigung von Ausländern bei unschuldig erlittener Haft, soweit im Verhältnis zu dessen Heimatstaat die Gegenseitigkeit völkervertraglich nicht verbürgt ist, im einzelnen befassen und sich den hier auftauchenden Fragen stellen: Das Differenzierungsziel, auf diese Weise die Belange der eigenen Staatsangehörigen im Ausland zu sichern, ist von der (wie unter anderem die Deutschenvorbehalte zeigen: verfassungsrechtlich anerkannten 281) Schutzfunktion des Staates gegenüber seinen Angehörigen prinzipiell gedeckt und insofern legitim. Es kann durch die Differenzierung zwischen Ausländern, mit deren Heimatstaaten Gegenseitigkeit verbürgt ist und jenen, bei denen das nicht zutrifft, auch erreicht werden (dazu unten). Aber ist es in einem Rechtsstaat auch angemessen, die Nichtentschädigung eines Ausländers, mit dessen Heimatstaat kein Gegenseitigkeitsabkommen existiert, bei unschuldig erlittener Untersuchungshaft als Druckmittel einzusetzen, um dem Heimatstaat Zugeständnisse zugunsten der eigenen Staatsangehörigen abzuringen? 282 Die Klärung der Frage, ob eine solche Ungleichbehandlung im Verhältnis zu Deutschen, aber auch zu anderen Ausländern, mit deren Heimatstaaten Gegenseitigkeit verbürgt ist, gerechtfertigt ist, kommt offenbar nicht ohne Erwägungen zur Angemessenheit der differenzierenden Regelung aus. Und damit ist man wieder bei der oben der Bundesrepublik (Grundrechte, aaO, 346), die dadurch in die Lage versetzt werde, völkerrechtliche Abkommen mit einzelnen Staaten zu berücksichtigen. Offen bleibt jedoch wiederum, ob sich dies nur auf deutschenrechtlich geschützte Lebensbereiche beziehen soll. 281 Siehe dazu die Erörterung der Deutschengrundrechte im Parlamentarischen Rat oben S. 170 ff. 282 Vgl. BVerfGE 30, 409 (412 ff.), wo das Gericht diese Ungleichbehandlung billigt; dazu sehr krit. Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn.914), 363, der Ungerechtigkeiten gegenüber einzelnen als Druckmittel gegenüber Staaten für unvertretbar hält. Umgekehrt meint das Gericht, aaO, 414 f, daß der einzelne seinem Staat enger verbunden sei als aufgrund eines jederzeit lösbaren Vertrages. Es sei „nicht unangemessen, ihm die Haltung seines Staates jedenfalls insoweit zuzurechnen, als es sich um die Gewährung einer Haftentschädigung handelt". Allgemein zu dem umstr. Problem, inwieweit das völkerrechtliche Gegenseitigkeitsprinzip Benachteiligungen rechtfertigt, s. die Nachw. bei Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien (Fn.208), Rn. 51 mit Fn. 145; speziell bei Amtshaftungsansprüchen BGH, in: NJW 1981, 518f, u. BVerfG, in: NVwZ 1991, 661 f.; zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Rspr. in diesen Fällen s. die Nachw. bei Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm, Rn. 70 zu Art. 3 mit Fn. 123.

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schon angesprochenen Frage, ob hier nur eine spezifisch gleichheitsrechtliche Angemessenheitsprüfung in Betracht kommt oder ob bei Fällen wie dem eben genannten die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i.e.S. in Rede steht. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Sicherlich besitzt die Ansicht, daß Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit auf deutschenrechtlich geschützte Lebensbereiche zu beschränken seien, angesichts des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von menschenrechtlichen Verbürgungen und Deutschenrechten sowie der Bewußtheit, mit der nur einigen Grundrechten Deutschenvorbehalte beigefügt wurden, auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität. Ob sie sich durchhalten läßt, bedürfte jedoch einer eingehenderen Untersuchung, die insbesondere auch die verfassungsrechtliche Dimension des Leistungsstaates miteinbeziehen müßte, was hier nicht en passant geleistet werden kann. 283 Speziell für die den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildenden Deutschengrundrechte selbst bzw. bezogen auf Differenzierungen innerhalb deutschenrechtlich geschützter Lebensbereiche bringt dieser Ansatz allein durch die Bezugnahme auf die Funktion der Staatsangehörigkeit hingegen noch keine brauchbare Konkretisierung dessen, was als sachlicher Grund gelten darf, denn insbesondere unter den Aspekt des Schutzes der eigenen Angehörigen läßt sich fast alles subsumieren, was nicht ohnehin aufgrund der strikten Differenzierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 GG verboten ist. Vor diesem Hintergrund kann es nicht erstaunen, daß es Bemühungen gibt, die Bedeutung der Staatsangehörigkeit selbst zu relativieren. Dort, wo sie ihre Bedeutung verloren hat, kann es auch keine sachlichen Gründe mehr geben, die eine auf dieser Grundlage vorgenommene Differenzierung zu rechtfertigen vermögen. Wurde früher nur auf Grenzfälle hingewiesen, in denen die Staatsangehörigkeit mangels eines effektiven Bandes des Betreffenden zum Staat seiner Staatsangehörigkeit zu einem rein formalen Kriterium verblasse, 284 so wird 283

Denkbar wäre es, in dieser Frage wischen staatlichen Eingriffen - einschließlich der Kompensation für rechtswidrige Eingriffe - und staatlichen Leistungen zu differenzieren, wobei die Angemessenheit solcher Differenzierungen, wie am Bsp. des § 8 BAföG (dazu unten) verdeutlicht wird, von ganz unterschiedlichen Faktoren abhängen kann. Von vornherein ausgeschlossen wäre jedoch beispielsweise die auch von Quaritsch (vgl. Ausländer [l.Teil, Fn.9], Rn. 125) kritisierte und auf das „sondergesellschaftliche( ) Selbstverständnis deutscher Waidmänner" zurückgeführte gesetzliche Möglichkeit, Antragstellern, die nicht Deutsche sind, den Jagdschein zu versagen (§17 II Nr. 2 BJagdG), denn hier geht es um eine Betätigung im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit, die keinen Deutschenvorbehalt kennt, und nicht um eine Betätigung in einem deutschenrechtlich geschützten Lebensbereich. 284 Vgl. z.B. die beiden bei Dolde (l.Teil, Fn. 10), 58, geschilderten Fälle, in denen es um die Ausweisung italienischer Staatsangehöriger ging, die in Deutschland straffällig geworden waren, wobei in einem Fall seit 70 Jahren kein Familienmitglied mehr in

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

diese Beobachtung heute von manchen verallgemeinert: „Die durch sie [die Staatsangehörigkeit] bewirkte Zuordnung einer Person zu einem rechtlich verfaßten Gemeinwesen ist insofern nur formal, als sich einerseits die Bundesrepublikanische Staatsgewalt auch auf solche Personen erstreckt, die ohne Deutsche i.S. des Art. 116 zu sein, ihren Lebensmittelpunkt unter Umständen seit langer Zeit in der Bundesrepublik Deutschland haben, und es andererseits deutsche Staatsangehörige gibt, deren Lebensmittelpunkt seit langer Zeit oder gar seit ihrer Geburt im Ausland liegt und die daher möglicherweise nie den Schutz bundesrepublikanischer Behörden in Anspruch nehmen werden". Und weiter heißt es: „Unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Menschenwürde ist mit Ausnahme der Erfüllung dieser formalen Funktion Differenzierungsgrund der Umstand, ob Menschen ihren Lebensmittelpunkt auf Dauer in der Bundesrepublik haben und somit regelmäßig bundesrepublikanischer hoheitlicher Gewalt unterworfen sind oder ob sie nicht zu diesem Bevölkerungskreis gehören, und nicht innerhalb dieses Bevölkerungskreises der Umstand, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht". 285 Damit wird im Blick auf die Staatsangehörigkeit eine Art beschränktes Differenzierungsverbot 286 konstruiert. Abgesehen von den - leider nicht näher präzisierten - Fällen, in denen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zur Erfüllung ihrer formalen Funktion erforderlich sein soll, tritt das Merkmal des (dauerhaften) Lebensmittelpunktes an die Stelle der Staatsangehörigkeit, soll diese nicht länger Differenzierungsgrund sein dürfen. Auch wenn kein striktes Differenzierungsverbot im Sinne des Art. 3 Abs. 3 besteht, wird dadurch nach dieser Ansicht doch zumindest eine Vermutung der Unsachlichkeit bei einer Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit begründet.

Italien gewesen war und Mutter und Großmutter Deutsche waren; im zweiten Fall der in Deutschland geborene italienische Staatsangehörige auch nur einmal wenige Tage in Italien gewesen und des Italienischen kaum mächtig war; s. in diesem Zusammenhang auch die oben in Fn. 188 zitierte Rspr. des EGMR. 285 Podlech, in: AK I, Rn.33 zu Art. 1 I. Sehr viel vorsichtiger E. Stein, ebd, Rn.94 zu Art. 3, der lediglich feststellt, daß bei Ausländem, die im Inland wohnen, „in der Regel von einer völligen Gleichstellung mit im Inland wohnenden Deutschen auszugehen (ist), soweit es nicht um staatsbürgerliche Rechte und Pflichten geht" und im übrigen eine besondere Rechtfertigung von Differenzierungen vor allem auch im Bereich von Art. 11 und 12 verlangt, da zwar der Schutz speziell aus diesen Grundrechten abgeschwächt sei, nicht aber der Schutz aus den menschenrechtlich gefaßten Art. 2 I und Art. 3. 286 Vgl. aus der älteren Literatur bereits Rolvering (l.Teil, Fn. 15), 95ff, 108f, 113 f. u. pass.; dagegen Dolde (l.Teil, Fn. 10), 50ff, bes. 57ff.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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Doch so berechtigt die Kritik an einem blinden, die konkreten Lebensumstände ignorierenden Abstellen allein auf die Staatsangehörigkeit auch ist, 2 8 7 so wenig überzeugt es, sie nun gänzlich durch das Kriterium des Lebensmittelpunktes ersetzen 288 und den Schritt zu einer Einbürgerung damit völlig überflüssig machen zu wollen. Zum einen sprechen die Vorzüge all jener oben näher dargelegten besonderen Charakteristika des Rechtsinstituts der Staatsangehörigkeit dagegen. Ohne diese erneut aufzurollen, dürfte es bereits unmittelbar einleuchten, daß eine Überlegenheit dieses formalen Anknüpfungspunktes schon darin liegt, daß die Frage der dauerhaften Verbundenheit mit dem politischen Gemeinwesen, aus der die umfassende Berechtigung als Bürger folgt, nicht erst im Einzelfall überprüft werden muß. Alternativ bliebe nur die Möglichkeit, auf der Grundlage soziologischer Erhebungen im Rahmen einer - im Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG auch nicht ganz unproblematischen - typisierenden Betrachtungsweise bestimmte Zeiträume (bei Schwerdtfeger waren es 15 Jahre 289 ) festzulegen. Zum anderen ist die Frage, ob der einzelne seinen Lebensmittelpunkt dauerhaft in der Bundesrepublik begründet hat, zwar von ganz entscheidender Bedeutung, doch schließt dies nicht aus, daß es sachliche Gründe geben kann, noch unter anderen Aspekten, die jeweils mit der sich als Abstraktionsleistung hohen Grades darstellenden Staatsangehörigkeit in Verbindung gebracht werden, zwischen Deutschen und Ausländern, aber auch zwischen verschiedenen Ausländergruppen Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit vorzunehmen und dabei auch bereichsspezifische Unterscheidungen zu treffen. 290 So ist etwa der Zugang zum „normalen" Erwerbsleben anders zu beurteilen als der Zugang zum Öffentlichen Dienst und hier speziell zur Beamtenlaufbahn. Und es gibt beispielsweise nicht nur sachliche Gründe für Differenzierungen zwischen Bürgern von EG-Mitgliedstaaten und anderen Ausländern, sondern auch innerhalb der letztgenannten Gruppe zwischen Asylberechtigten, heimatlosen Ausländern, Flüchtlingen etc. auf der einen und anderen nicht-privilegierten Aus287

Ein Blick in die Gesetze zeigt allerdings, daß dies Ausnahmen sind und insbesondere die Aufenthaltsdauer in vielen Bereichen tatsächlich im Sinne der von Isensee umschriebenen zunehmenden Statusangleichung Berücksichtigung findet; s. oben bei Fn. 176 ff. 288 Ablehnend gegenüber einer Gleichstellung der Staatsangehörigkeit mit der Etablierung des Lebensmittelpunktes in der Bundesrepublik auch BVerfG, Beschl. v. 17.1.1991, 661 (662 a.E.). 289 Dazu oben bei Fn 143. 290 Allgemein zum Gebot der bereichsspezifischen Anwendung des Gleichheitssatzes vgl. BVerfGE 84, 239 (268); ähnlich E85, 176 (187); Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn. 37 zu Art. 3, bezeichnet die sehr variable Differenzierung der jeweiligen Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte als wesentliches Charakteristikum der Rspr. beider Senate.

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ländern auf der anderen Seite, bei denen dann wiederum die Aufenthaltsdauer und/oder die Erwerbstätigkeit eine Rolle spielen kann (vgl. nur § 8 BAföG). Letztlich besteht bekanntlich die gesamte Rechtsordnung aus nichts anderem als aus Differenzierungen und ein partieller Verzicht darauf macht sie noch nicht unbedingt gerechter; wohl aber müssen diese sich angesichts der konkreten Umstände als sachgerecht bzw. gerechtfertigt erweisen. Mit anderen Worten: Aus der zutreffenden Beobachtung, daß Staatsangehörigkeit und Lebensmittelpunkt nicht immer zur Deckung kommen, läßt sich nicht pauschal folgern, daß die durch die Staatsangehörigkeit bewirkte Zuordnung einer Person zu einem rechtlich verfaßten Gemeinwesen deswegen „nur formal" sei - immerhin besteht in der großen Masse der Fälle ja durchaus die auch völkerrechtlich als soziale Basis des rechtlichen Bandes zwischen dem Staat und seinem Angehörigen vorausgesetzte „genuine connection of existence" 2 9 1 - , sondern es kann daraus nur die Forderung abgeleitet werden, möglichen Abweichungen bei Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit gegebenenfalls Rechnung zu tragen. Solche Abweichungen werden zunächst insofern eine Rolle spielen, als die aufgrund der Abstraktionsleistung der Staatsangehörigkeit tatbestandlich komprimierten und vielfach auch nur vorausgesetzten empirisch feststellbaren Verschiedenheiten, die für die Beurteilung der Frage der wesentlichen Gleichheit bzw. Ungleichheit - also für das Gleichheitsurteil - maßgeblich sind, möglicherweise nicht (mehr) in der vorgestellten Weise bestehen. Die vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG gebotene sachgerechte Differenzierung, die den Abstraktionsgrad ein Stück zurücknehmen und auf die sich hinter dem Begriff der Staatsangehörigkeit verbergenden Unterschiede im Tatsächlichen - ob sie nun den Lebensmittelpunkt, die Angewiesenheit auf staatlichen Schutz gerade in der Bundesrepublik oder erbrachte Beiträge zu den Sozialsystemen betreffen zugreifen muß, verliert damit ihre Grundlage. Zudem ist speziell im Blick auf das im Laufe dieser Untersuchung herausgearbeitete Spannungsverhältnis zwischen der universalistischen Idee menschenrechtlicher Gleichheit und dem Nationalstaatsprinzip auch noch ein weiteres zu bedenken: Mit dem Schwinden der vom Verfassunggeber vorausgesetzten idealtypischen Differenz zwischen dem deutschen Staatsangehörigen, der seinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik hat, und dem ausländischen Staatsbürger, der sich nur zeitweilig hier aufhält und dann in seinen Heimatstaat zurückkehrt, verlieren, wie oben dargelegt, auch die durch das Nationalstaatsprinzip getragenen, hinter differenzierenden Regelungen zu Lasten von Nichtdeutschen in deutschenrechtlich geschützten Bereichen stehenden Gründe 291

Siehe oben im 1. Teil bei Fn. 461.

I. Die bislang vertretenen Auffassungen

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immer weiter an Gewicht und können daher ab einem bestimmten Punkt die Ungleichbehandlung nicht mehr rechtfertigen. Dabei macht der Umstand, daß sich hier auf der Zeitschiene betrachtet etwas verändert, daß der fragliche Punkt zudem möglicherweise von Sachgebiet zu Sachgebiet und für verschiedene Gruppen von Ausländern unterschiedlich zu bestimmen ist, die Sache nicht einfacher. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß sich die Frage, wann dies der Fall ist, nicht dadurch beantworten läßt, daß die Bedeutung der Staatsangehörigkeit negiert und jenseits bestimmter, formal definierter Resttatbestände durch das Merkmal des (dauerhaften) Lebensmittelpunktes ersetzt wird. Vielmehr ist es erforderlich, daß das Differenzierungskriterium hinsichtlich der wirklich tragenden Unterschiede präzisiert, der innere Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung genauer untersucht und die Angemessenheit des Differenzierungsziels im Verhältnis zu den Differenzierungswirkungen unter den konkret gegebenen Umständen näher beleuchtet wird. Dabei bedarf zunächst der mehrdeutige Begriff der Angemessenheit, der im Rahmen der Gleichheitsprüfung eine andere, aber auch dieselbe Bedeutung haben kann wie der Begriff der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, einer Klärung. Dies erscheint um so dringlicher, als sich in diesem Bereich Gleichheits- und Freiheitsschutz häufig kreuzen werden: Die Ungleichbehandlung von Ausländern in den deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen stellt, wie oben gezeigt wurde, vielfach zugleich eine (ungleiche) Freiheitsbeschränkung dar. 292 Man stößt hier also erneut auf die schwierige, schon im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 1 GG angesprochene Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer solchen, aus der Sicht des Betroffenen sowohl einen Eingriff als auch eine Ungleichbehandlung darstellenden Regelung. - Nun muß sich zeigen, ob sie sich im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG aufgrund der dort gegebenen Vergleichsperspektive sachgerechter lösen läßt und was die neuere Dogmatik zum Gleichheitssatz dafür hergibt.

292

Allgemein zur wechselseitigen Verschränkung von Freiheits- und Gleichheitsschutz statt vieler Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn. 16 f., 18 ff.; auf bemerkenswerte strukturelle Parallelen bei Freiheits- und Gleichheitsrechten weist auch Hans D. Jarass hin; vgl. Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, in: AöR 120 (1995), 345 ff., bes. 361 ff., 375 ff.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

II. Die Deutschengrundrechte im Lichte der neueren Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes 1. Die „neue Formel" und ihre Anwendung auf Differenzierungen in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen Neuere Ansätze in der Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes kreisen vielfach um die Frage, ob und in welcher Weise das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Rahmen der Gleichheitsprüfung Berücksichtigung finden sollte. Gegenstand der Kontroverse ist, wie oben schon angedeutet, unter anderem auch die dogmatische Einordnung der sog. „neuen Formel" des Ersten Senats (sowie die Bewertung der diesbezüglichen Haltung des Zweiten Senats) des Bundesverfassungsgerichts. Teils wird seine Formulierung, daß der Gleichheitssatz dann verletzt sei, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten" 293 als Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf Ungleichbehandlungen gedeutet, teils eher als Präzisierung dessen, was im Rahmen der herkömmlichen Willkürprüfung als wesentlich gleich gelten kann. 294 Auch der dahinter stehende tiefergreifende Dissens hinsichtlich der dogmatischen Struktur des Gleichheitssatzes, der Frage, ob eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG überhaupt möglich und wünschenswert ist oder es vielmehr bei einer - strukturell anders gelagerten - gleichheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung bleiben müsse, wurde bereits erwähnt. Hier soll auf diesen Grundsatzstreit jedoch nur

293

So zuerst in BVerfGE 55, 72 (88); danach st. Rspr. des Ersten Senats, vgl. BVerfGE 82, 126 (146); E84, 133 (157); E84, 197 (199); E84, 348 (359); E85, 191 (210); E85, 238 (244); E85, 360 (383); E87, 1 (36); E87, 234 (255); E88, 5 (12). Zu zwei widersprüchlichen Ansätzen bei der Zuordnung von Willkürprüfung und „neuer Formel" u.a. Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm, Rn.26ff. zu Art.3; s. im Blick auf den oft festgestellten Gegensatz zwischen den beiden Senaten einerseits Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd.I, Rn.20, der ihn als „nicht emsthaft" bezeichnet, andererseits die abweichende Einschätzung bei Schoch (Fn. 199), 876. 294 Vgl. Katzenstein, Sondervotum zu BVerfGE 74, 9 ff, dort 28 (30); Robbers, Gleichheitssatz (Fn. 199), 751 f.; K. Hesse, Gleichheitssatz (Fn. 199), 188 f. (der hier auf die von Lerche, Übermaß [l.Teil, Fn. 154], 31 f, 41 f, 52, 162 u. pass, aufgezeigten Unterschiede zwischen gleichheitsrechtlicher Angemessenheits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung bzw. Willkür- und Übermaßverbot Bezug nimmt); Gubelt, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, 4.Aufl., Rn. 15, 29 zu Art.3 m.w.N.; a.A. Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd. I, Rn. 23 zu Art. 3: Verfeinerung des Begriffs der wesentlichen Gleichheit; Huster, Rechte (Fn. 196), 226; ders, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), bes. 542, 547 m.w.N.

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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insoweit eingegangen werden, als es speziell zur Lösung der mit den Deutschengrundrechten aufgeworfenen Fragen notwendig erscheint. Daher interessiert auch im Blick auf die „neue Formel" zunächst einmal nur, ob sie weiterhilft, wenn es um die Frage geht, ob Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit einen Gleichheitsverstoß begründen. Wendet man sie versuchsweise auf zwei der schon genannten Beispiele - § 8 BAföG sowie die (Nicht-)Entschädigung bei unschuldig erlittener Haft - an, so zeigt sich, daß sich diese Frage möglicherweise nicht einheitlich beantworten läßt. Zunächst zur BAfÖG-Regelung: §8 BAföG bestimmt in Abs. 1, daß Ausbildungsforderung 1. Deutschen im Sinne des Grundgesetzes sowie nach Nr. 2. bis 8. den dort aufgeführten Gruppen von Ausländern geleistet wird. Nach Abs. 2 wird anderen Ausländern Ausbildungsforderung geleistet, wenn 1. sie selbst sich vor Beginn der Förderung fünf Jahre im Inland aufgehalten haben und rechtmäßig erwerbstätig gewesen sind oder 2. zumindest ein Elternteil sechs Jahre vor Förderungsbeginn sich insgesamt drei Jahre im Inland aufgehalten hat und rechtmäßig erwerbstätig gewesen ist. Die hier vom Gesetzgeber vorgenommenen Differenzierungen lassen sich recht gut mit Hilfe der „neuen Formel" umschreiben bzw. in deren negativer Ausrichtung auf einen möglichen Gleichheitsverstoß überprüfen: Der Gesetzgeber hat nicht pauschal zwischen Deutschen im Sinne des Grundgesetzes und Ausländern unterschieden, sondern im Blick auf die Förderungswürdigkeit in nachvollziehbarer Weise zwischen Deutschen und unterschiedlichen Gruppen von Ausländern Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet. So werden zunächst die Gruppen der heimatlosen Ausländer, der anerkannten Asylberechtigten, der Flüchtlinge, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommen wurden oder diesen Status nach der Genfer Flüchtlingskonvention besitzen, genannt - alles Personengruppen, bei denen anzunehmen ist, daß sie aufgrund des Umstandes, daß sie in besonderer Weise auf den Schutz und die Verwirklichung ihrer Lebenschancen in der Bundesrepublik angewiesen sind, mit den Deutschen gleichgestellt wurden. Auch die Annahme, es fehle bei Ausländern mit einem deutschen Elternteil, die ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, an „Unterschieden von solcher Art und solchem Gewicht", daß sie eine ungleiche Behandlung im Verhältnis zu Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG rechtfertigen könnten, läßt sich nicht von der Hand weisen. Gleiches gilt für Ausländer, die die Staatsangehörigkeit eines anderen EG-Mitgliedstaates haben, denn deren Gleichstellung liegt in der Konsequenz des Verfassungsprozesses der europäischen Integration. Weitere Einzelheiten des § 8 BAföG können in diesem Zusammenhang auf sich beruhen. Interessant ist jedoch noch die Gleichstellung derjenigen, die entweder selbst oder bei denen ein Elternteil für einen bestimmten Zeitraum im Inland rechtmä-

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

ßig erwerbstätig war. Offenbar spielt hier der Gedanke eine Rolle, daß sie sich einen Anspruch auf Förderung durch ihren eigenen Beitrag zum Steueraufkommen „verdient" haben. Im Ausschlußverfahren läßt sich die Gruppe, bei der dem Gesetzgeber die Ungleichbehandlung durch Nichtgewährung einer staatlichen Ausbildungsförderung sachgerecht erschien, demnach so umschreiben: Ausländer, die weder besonders schutzbedürftig sind noch in einer besonderen Nähebeziehung zur deutschen Staatsbürgerschaft stehen bzw. durch das gemeinsame Band der europäischen Unionsbürgerschaft (oder andere internationale Abkommen) mit den Deutschen in besonderer Weise verbunden sind oder den Anspruch auf Förderung innerhalb der deutschen Solidargemeinschaft durch eigenes Zutun, insbesondere einen eigenen Beitrag zum Steueraufkommen, erworben haben. 295 Ihrem Gesamtbild nach läßt diese Vorschrift somit deutlich das Streben des Gesetzgebers nach verhältnismäßiger Gleichheit erkennen. Dies ist nicht mit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie es aus der Dogmatik der Freiheitsrechte geläufig ist, gleichzusetzen. Vielmehr bezeichnet es zunächst einmal nur den Relationscharakter der Gleichheitsprüfung, 296 die die Angemessenheit der Behandlung von Vergleichsgruppen über den Vergleich und die Gewichtung der relevanten Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermittelt, oder noch allgemeiner: auf die Eigenarten des Tatbestandlichen abstellt, „d.h. auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten ,im Verhältnis' zu anderen Tatbeständen" (Lerche). Dieser Gedanke wird mit der „neuen Formel" letztlich nur in negativer Wendung reformuliert, um einen möglichen Gleichheitsver.sfo/? zu erfassen. Bei Lerche heißt es im Blick auf den Unterschied zum Verhältnismäßigkeitsprinzip dann weiter: „Diese horizontalen Verhältnisse' allein führen zur Forderung nach verhältnismäßiger Gleichheit, nicht aber eine Abwägung zwischen Ziel (Gewinn) und Mittel (Opfer), wie sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kennzeichnet". 297 Die entscheidende Differenz ist danach die, daß Angemessenheit im Verständnis des Gleichheitssatzes einen horizontalen Vergleich zwischen einer Mehrheit vergleichbarer Tatbestände erfordert, während der 295

§8 III BAföG i.d.F. der Bek. v. 6.6.1983 (BGBl. I, 645, ber. 1680, zul. geändert durch Ges. v. 21.12.2000, BGBl. I, 1983), bestimmt, daß Rechts- und Verwaltungsvorschriften, nach denen anderen Ausländem Ausbildungsforderung zu leisten ist, unberührt bleiben. Zudem weiten auch Abs. 2 Nr. 7 und 8 den Kreis der Förderungsberechtigten noch auf weitere Gruppen aus, so daß der verbleibende Anteil nichtberechtigter Ausländer im Ergebnis noch geringer ist. 296 Vgl. Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd.I, Rn.28 zu Art.3; zum Relationscharakter auch Podlech, Gleichheitssatz (Fn. 194), 30 u. pass. 297 Lerche, Übermaß (l.Teil, Fn. 154), 29ff. (30); ihm folgend statt vieler G. Müller, Gleichheitssatz (Fn. 199), 41; Rüfner, in: BK, Rn.96 zu Art.3 I; s. auch Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn. 199), Rn. 161 ff.

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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur nach der Angemessenheit einer Einschränkung im Verhältnis zum angestrebten Ziel fragt, 298 auch wenn es im tieferen Wurzelgrund hinsichtlich der Vorstellung eines „,Gleich'-Gewichts" durchaus Berührungspunkte geben mag. 299 Bezogen auf § 8 BAföG scheint die „neue Formel" - so zumindest eine erste intuitive Bewertung - demzufolge zu passen, d.h. der Struktur der hier vom Gesetzgeber angestellten Erwägungen zu entsprechen, so daß sie insofern auch als Gleichheitsverstoß zu wertende Abweichungen von dieser Struktur sichtbar machen könnte. Etwas anders stellt sich die Situation jedoch im zweiten Beispielsfall der Nichtgewährung einer Haftentschädigung bei fehlender Gegenseitigkeitsverbürgung dar, wie im folgenden zu zeigen sein wird. Rechtsgrundlage des vom Bundesverfassungsgericht 1971 entschiedenen Falles 300 war § 12 des Gesetzes betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft vom 14.7.1904 (UHaftEntschG), 301 wonach Angehörige eines auswärtigen Staates nur insoweit gemäß § 1 Abs. 1 UHaftEntschG entschädigt werden, „als nach einer im Bundesgesetzblatt enthaltenen Bekanntmachung durch die Gesetzgebung dieses Staates oder durch Staatsvertrag die Gegenseitigkeit verbürgt ist". Ausländer, auf die das nicht zutrifft, sind danach von der Entschädigung ausgeschlossen. Dies galt auch für den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen. Das Gericht vertritt in seiner Entscheidung die Ansicht, daß die Differenzierung nach dem Merkmal der Gegenseitigkeit unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes keinen Bedenken begegne, wobei es sich ausdrücklich auf die herkömmliche Formulierung der Willkürformel bezieht und sodann ausführt: Es ist sachlich gerechtfertigt, die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft bei Ausländern davon abhängig zu machen, daß im Verhältnis zu ihrem Heimatstaat die Gegenseitigkeit verbürgt ist. Die Gegenseitigkeitsverbürgung ist eine Erscheinungsform des völkerrechtlichen Gegenseitigkeitsprinzips, das der Wahrnehmung eigener staatlicher Belange gegenüber anderen Staaten dient. (...) Als Norm des innerstaatlichen Rechts gehört § 12 UHaftEntschG zu jenen Bestimmungen, in denen das Gegenseitigkeitsprinzip unmittelbar die Rechtsstellung des einzelnen ausländischen Staatsangehörigen berührt. Der Grundgedanke der Vorschrift besteht darin, Angehörigen anderer Staaten im Inland keine Rechte einzuräumen, die ein Deutscher in ihrem Heimatstaat nicht genießt. Maßgebend hierfür ist die Erwägung, diesen anderen Staaten die Gleichstellung ihrer Staatsangehörigen als Gegenleistung für eine entsprechende Verstärkung des Schutzes der eigenen Staatsangehörigen an298

So zusammenfassend Rüfner, aaO. Lerche, aaO. Dies bezeichne aber nur den „dunklen Ursprung beider Angemessenheitsbegriffe"; vgl. dazu auch Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn.199), Rn. 161, 163. 300 BVerfGE 30, 409 ff. 301 RGBl. I, 321; für alle weiteren Einzelheiten s. die BVerfGE, aaO. 299

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bieten zu können, um durch Abschluß von Staatsverträgen oder in anderer Weise Regelungen zu erreichen, die für beide Seiten von Nutzen sind, indem sie den jeweiligen Ausländern ,inländergleiche' Rechte verschaffen. Diese Erwägung ist sachgerecht. Sie entspricht einem legitimen Anliegen des Staates, zu dessen traditionellen Aufgaben es gehört, auch außerhalb seiner Grenzen den Schutz eigener Staatsbürger nach Möglichkeit zu gewährleisten.302 Dem Maßstab des Willkürverbotes hält die Regelung, wie diese Ausführungen belegen, also stand. Nur bleibt das Unbehagen, daß das eigentliche Problem noch nicht einmal thematisiert worden ist: der Konflikt zwischen dem zugunsten des Beschwerdeführers zu berücksichtigenden Gesichtspunkt der Individualgerechtigkeit auf der einen Seite und dem kollektiven Nutzen einer über die Verweigerung der (bedingungslosen) Inländergleichbehandlung erzwungenen Gegenseitigkeitsverbürgung für deutsche (und andere türkische) Staatsangehörige auf der anderen Seite. Nur ganz am Rande wird der Gedanke der Individualgerechtigkeit in der Entscheidung einmal gestreift, als es heißt, die Differenzierung sei auch nicht deshalb willkürlich, „weil der Ausländer, mit dessen Heimatstaat die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist, für eine Ursache haftet, die er nicht gesetzt hat und die seinem Einfluß entzogen ist", und sogleich mit der Feststellung abgetan, daß „der Einzelne (...) mit seinem Staat enger verbunden (ist) als aufgrund eines jederzeit lösbaren Vertrages". Es sei daher „nicht unangemessen, ihm die Haltung seines Staates jedenfalls insoweit zuzurechnen, als es sich um die Gewährung einer Haftentschädigung handelt". 303 Offenbar sind die Maschen des Willkürverbotes zu grob, als daß sich ein derartiger Gleichheitskonflikt damit einfangen ließe, und dies selbst dann nicht, wenn er - wie hier - kaum zu übersehen ist. Sogar unabhängig von der Frage, ob das konkrete Ergebnis einem vertretbar erscheint oder nicht, sollte dieser Befund nachdenklich stimmen. Bleibt die Frage, ob die gemeinhin als Verschärfung der Anforderungen des Willkürverbotes eingestufte „neue Formel" in einem solchen Fall mehr leistet. Immerhin läßt sie nicht mehr irgendeinen sachlichen Grund genügen, sondern fragt genauer nach dem inneren Zusammenhang der differenzierenden Regelung mit den vorgefundenen Verschiedenheiten, 304 sucht den Begriff der wesentlichen Gleichheit und damit den Maßstab zur Beurteilung der Wesentlichkeit zu verfeinern. 305 Damit ist aber auch schon ihr Anwendungsfeld umschrieben: Sie ist auf Differenzierungen zugeschnitten, die sich überhaupt an diesem Maßstab 302

BVerfGE 30, 409 (413 f.); ähnlich BVerfG, in: NVwZ 1991, 661 (662) zur Gegenseitigkeitsverbürgung im Staatshaftungsrecht. 303 BVerfGE 30, 414 f. 304 Rüfner, in: BK, Rn. 26 zu Art. 3 I; Maaß (Fn. 197), 18 ff. (20). 305 So Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 23 zu Art. 3.

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orientieren und den „Eigenarten des Tatbestandlichen" Rechnung tragen wollen, nicht hingegen auf Differenzierungen, die ganz andere Zwecksetzungen verfolgen. Sie findet ihren Platz, wie oben schon angedeutet, im Kontext des Strebens nach verhältnismäßiger Gleichheit. Dort ist auch der Hinweis auf „Art" und „Gewicht" der Unterschiede zu verorten, 306 der einen Vorgang des Wertens dieser Unterschiede 307 im Blick auf einen bestimmten Maßstab und nicht etwa das für die Verhältnismäßigkeitsprüfung typische Abwägen bezogen auf eine Zweck-Mittel-Relation meint. Nach alledem ist die „neue Formel" ganz nach dem Muster der speziellen gleichheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung entworfen, wie es Lerche zwei Jahrzehnte zuvor in seinem grundlegenden Werk gezeichnet hat, und basiert auf der dort aufgestellten These, daß eine „Abwägung zwischen Ziel (Gewinn) und Mittel (Opfer), wie sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kennzeichnet", im Rahmen der Gleichheitsprüfung anders als bei den Freiheitsrechten gerade nicht stattfinde. Doch steht man angesichts des Haftentschädigungsfalles vor dem Phänomen, daß sich einerseits sehr wohl ein „Ziel", nämlich die Erfüllung der traditionellen Aufgabe des Staates, „auch außerhalb seiner Grenzen den Schutz eigener Staatsbürger nach Möglichkeit zu gewährleisten", bzw. ein erhoffter „Gewinn" angeben läßt, und zwar die (künftige) Haftentschädigung Deutscher in der Türkei. Andererseits kann auch ein „Mittel", nämlich die Verweigerung jeglicher Entschädigung mangels Gegenseitigkeitsverbürgung bzw. ein konkretes „Opfer" bestimmt werden, nämlich die Versagung einer Deutschen und anderen Ausländern unter vergleichbaren Bedingungen gewährten Entschädigung gegenüber dem türkischen Beschwerdeführer für die von ihm unschuldig erlittene Haft. Es fehlt hier also, anders als dies bei Ungleichbehandlungen herkömmlicherweise unterstellt wird, gerade nicht an der für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorausgesetzten Zweck-Mittel-Relation, und es spricht alles dafür, daß die Frage, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, demgemäß von dem Ergebnis einer „Abwägung zwischen Ziel (Gewinn) und Mittel (Opfer)" im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abhängig zu machen ist. Umgekehrt ist auch festzustellen, daß der Gesetzgeber die differenzierende Regelung erkennbar nicht am Ideal der Herstellung verhältnismäßiger Gleichheit ausgerichtet hat, denn der Zusammenhang mit vorgefundenen Unterschieden ist bezogen auf den einzelnen Ausländer allenfalls ein mittelbarer und beruht darauf, daß bestimmte Handlungen oder Unterlassungen des Heimatstaates ihren Staatsangehörigen zugerechnet werden. 306

So auch Huster, Rechte (Fn. 196), 193 f, der die „neue Formel" ebenfalls nicht als Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips begreift und meint, daß manche Autoren sich durch Ähnlichkeiten auf der sprachlichen Oberfläche haben täuschen lassen. 307 Vgl. Maaß (Fn. 197), bes. 14, 20; Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn. 199), Rn.289, s. auch Rn. 161 ff.

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Dies markiert den entscheidenden Unterschied zu § 8 BAföG: Diese Regelung geht offenbar von der Prämisse aus, daß innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft prinzipiell nur diejenigen unter näher definierten Voraussetzungen eine Ausbildungsförderung erhalten sollen, die ihr zugehörig sind, in der Bundesrepublik Deutschland also die Deutschen. Sodann werden im Blick auf die hier lebenden Ausländer Gruppen gebildet, die einbezogen werden sollen, weil sie in dem einen oder anderen Merkmal Gemeinsamkeiten mit jenen Merkmalen aufweisen, dfe typischerweise den Staatsangehörigen im Verfassungsstaat kennzeichnen, jedoch gewöhnlich hinter der Abstraktion des umfassenden Rechtsstatus der Staatsangehörigkeit verschwinden. Dies gilt etwa für die besondere Angewiesenhèit auf den Schutz gerade durch diesen Staat oder auch für das Merkmal der besonderen rechtlichen Verbindung, wie es schon in v. Gierkes Genossenschaftslehre Ausdruck findet und sich im Zuge zunehmender Internationalisierung im allgemeinen und der europäischen Integration im besonderen im Sinne einer (loseren) Verbindung zur „community" auch auf die internationale Ebene transportieren läßt. Es gilt aber auch für den Gedanken Vattels, wonach eine Nation sich vornimmt, gemeinschaftlich für die Erlangung der Vorteile arbeiten zu wollen, derentwegen die politische Gemeinschaft errichtet ist, was auch das gemeinsame Wirtschaften innerhalb einer Solidargemeinschaft einschließen dürfte und es rechtfertigt, diejenigen einzubeziehen, die sich über einen bestimmten Zeitraum hinweg daran beteiligt haben (vgl. §8 Abs. 2 BAföG). 3 0 8 All dies sind Gesichtspunkte, die im Staatsangehörigkeitsrecht selbst nirgends (direkt) thematisiert werden, aber das hinter diesem nüchternen Regelwerk und anderen Rechtsmaterien, in denen die Staatsangehörigkeit (oder spiegelbildlich: die Ausländereigenschaft) eine Rolle spielt, stehende Bild des „typischen" Staatsangehörigen mitprägen und einen inneren Zusammenhang zwischen der jeweiligen differenzierenden Regelung und dem Differenzierungskriterium der Staatsangehörigkeit (bzw. Deutschen-/Ausländereigenschaft) begründen können. Ganz anders hingegen die Regelung in § 12 UHaftEntschG, bei der die Staatsangehörigkeit lediglich Zurechnungspunkt für Handlungen oder Unterlassungen des Heimatstaates ist: Die Frage, ob und wieviele Verträge dieser mit anderen Staaten schließt, hat inhaltlich mit den besonderen Charakteristika der Staatsangehörigkeit als solcher nichts zu tun. Dagegen könnte man einwenden, 308

Zu dem berühmten Vattel-Zitat s. oben im l.Teil bei Fn.879. Vgl. neben §8 II BAföG auch §8 1 Nr.8, der sich wischen diesen beiden letztgenannten Merkmalen bewegt, indem er Auszubildende, die die Staatsangehörigkeit eines anderen EG-Mitgliedstaates oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben, in die Ausbildungsforderung einbezieht, sofern sie im Inland vor Beginn der Ausbildung in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden haben und ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dieser Tätigkeit und der Ausbildung besteht.

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daß dies doch nur eine Frage des Standpunktes sei. Wenn man statt dessen davon ausgehe, daß Entschädigung für unschuldig erlittene Haft üblicherweise nur den eigenen Staatsangehörigen zukommen solle, lasse sich auch begründen, warum dies nur ausnahmsweise auch für diejenigen Ausländer gelte könne, deren Heimatstaaten den Deutschen unter diesen Voraussetzungen ebenfalls Entschädigung gewähren. Oder man könnte umgekehrt behaupten, daß Ausbildungsförderung eben innerhalb der Bundesrepublik allen Menschen zukommen müsse, so daß die Ungleichbehandlung von Ausländern gegenüber dem Ziel einer Privilegierung der Deutschen und ganz bestimmter privilegierter Ausländergruppen abzuwägen sei. Richtig an diesem Einwand ist, daß die Unterscheidung zwischen den beiden Beispielsfällen von bestimmten Prämissen abhängig ist. Nicht richtig ist, daß sich diese beliebig vertauschen lassen, denn es handelt sich nicht um frei gewählte Annahmen, sondern um die Vorfrage, welche Prinzipien einen bestimmten Bereich beherrschen: Der Rechtsstaat, wie wir ihn verstehen, gründet sich nun einmal auf universalistische Prinzipien. 309 Sowohl das Rechtsstaatsprinzip allgemein als auch speziell der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Rechtsschutz gelten also selbstverständlich in vollem Umfang auch für Ausländer, 310 was im Blick auf das Gewaltmonopol des Staates insbesondere auch einen Anspruch auf Entschädigung bei unschuldig erlittener Haft einschließt. Die Annahme, grundsätzlich seien nur Deutsche entschädigungsberechtigt, ist somit nicht haltbar. Umgekehrt läßt sich der Bereich der staatlichen Ausbildungsforderung nach dem BAföG hinsichtlich der Anspruchsberechtigten jedoch nicht beliebig erweitern: Hier gilt die von Walzer formulierte Erkenntnis, nach der jedes Konzept distributiver Gerechtigkeit prinzipiell eine „festumgrenzte Welt voraus(setzt), innerhalb deren Güter zur Verteilung gelangen", so daß eben nicht von der Anspruchsberechtigung aller Menschen - nicht einmal aller Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes - ausgegangen werden kann. Anders als bei der Philosophie der Freiheit, die bei dem „Menschen als solchen" ansetzt und einer Differenzierung bei staatlichen Eingriffen (und gegebenenfalls deren Kompensation) grundsätzlich entgegensteht, ist im Bereich distributiver Gerechtigkeit also eine Beschränkung auf diejenigen, deren „Welt" es ist, zunächst einmal gerechtfertigt. - So das philosophische Gegenstück zu der trivialen Einsicht, daß Universalisierungstendenzen regelmäßig spätestens beim Eigentum auf feste Grenzen stoßen und das bloße Überschreiten der Grenzen eines Staates noch keinen Anspruch auf volle Teilhabe an den öffentlichen Mitteln begründen kann. An der Beurteilung der beiden Beispielsfälle ändert

309

Siehe dazu H. Hofmann, Rechtsstaat (l.Teil, Fn. 1). Zum nationalen Rechtsstaat als Leitbild der Weimarer Republik s. oben im l.Teil unter I. 5. b). 3,0 Vgl. nur BVerfGE 35, 382 (400f.). 28 Siehr

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sich demnach nichts; doch ist der Gesichtspunkt, daß diese nicht zuletzt von bestimmten bereichsspezifischen Maßstäben abhängt, die man sich jeweils bewußt machen sollte, im Auge zu behalten. So bleibt im Ergebnis festzuhalten, daß die „neue Formel" dann paßt, wenn Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit auf Merkmale abstellen, die bei einer materiellen Betrachtungsweise mit der Staatsangehörigkeit in Verbindung gebracht werden können und über einen (wertenden) Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Staatsangehörigen und Vergleichsgruppen von Nicht-Staatsangehörigen hinsichtlich der je nach Regelungsbereich wesentlichen Merkmale bezogen auf den jeweiligen Regelungsgegenstand die Herstellung verhältnismäßiger Gleichheit anstreben (Beispiel des § 8 BAföG). Sie paßt hingegen nicht, wenn die Staatsangehörigkeit lediglich Anknüpfungsoder Zurechnungspunkt für eine Differenzierung im Rahmen anderweitiger Zwecksetzungen ist (Beispiel des § 12 UHaftEntschG). Während es im ersten Fall nicht um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, sondern - wie bei der „neuen Formel" überhaupt - allem um eine typisch gleichheitsrechtliche Angemessenheitsprüfung geht, besteht im zweiten Fall eine Zweck-Mittel-Relation, die wohl prinzipiell einer Abwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips zugänglich wäre. Daneben existiert, wie der Vollständigkeit halber angemerkt sei, noch eine dritte Gruppe von Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit, die jedoch weder eine Angemessenheitsprüfung im Sinne der „neuen Formel" noch eine „klassische" Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert: Es sind dies Differenzierungen, die sich - wie etwa die Materie des diplomatischen und konsularischen Schutzes eigener Staatsangehöriger im Ausland - im funktionellen Kernbereich des Rechtsinstituts der Staatsangehörigkeit bewegen und ganz formal an das Vorliegen oder NichtVorliegen der Staatsangehörigkeit anknüpfen. Jede weitere Differenzierung würde die Ordnungsfunktion der Staatsangehörigkeit auf völkerrechtlicher Ebene untergraben; und tatsächlich fordert auch niemand den diplomatischen Schutz von Nichtdeutschen (aus Nicht-EG-Staaten, vgl. Art. 8 c EG-Vertrag), die in der Bundesrepublik ihren Lebensmittelpunkt etabliert haben, im Ausland. Die strikte Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit ist in diesen Fällen schlicht sachgerecht, ohne daß sich weitere Fragen nach der Angemessenheit überhaupt stellen, und ohne daß dies in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG irgendwelche Probleme aufwerfen würde. Damit kann dieser Punkt hier auf sich beruhen. Auch im Blick auf die anderen beiden Fallgruppen zeigt sich, daß der Problemschwerpunkt vor dem Hintergrund der Themenstellung dieser Arbeit eindeutig bei jenen Fällen liegt, in denen die „neue Formel" gerade nicht weiterhilft. - Nicht umsonst stammt das Anwendungsbeispiel des § 8 BAföG aus dem hier im übrigen ausgesparten Bereich des Leistungsstaates und der distributiven Gerechtigkeit. Wendet man sich jedoch dem den Brennpunkt dieser Untersu-

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chung bildenden Problem der ungleichen Freiheitsbeschränkung zu, so liegt es nach den bisherigen Erkenntnissen schon angesichts des Umstandes, daß mit den Deutschenvorbehalten abweichend von der menschenrechtlichen Fassung der Art.2 Abs.l und 3 Abs.l GG von Verfassungs wegen eine zusätzliche „Eingriffsreserve" bereitgestellt wird, um den deutschen Staat in die Lage zu versetzen, gegebenenfalls die ihm gegenüber den Deutschen vorrangig obliegenden „special duties" aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis erfüllen zu können, auf der Hand, daß, soweit er davon Gebrauch macht, Maßstab dieser Differenzierungen nicht die an der Behandlung aller als Gleiche orientierte Idee verhältnismäßiger Gleichheit sein kann. Leitbild der gesetzgeberischen Regelung ist dann nicht die aequitas als das Prinzip verhältnismäßig gleicher gerechter Behandlung, 311 sondern der deutsche Staat verfolgt in der vom Bundesverfassungsgericht im Haftentschädigungsfall beschriebenen Weise ganz speziell die Interessen seiner Angehörigen oder auch besondere staatliche Belange und damit anderweitige Zwecksetzungen. Will man anstelle des Haftentschädigungsfalles, in dem dieser Hintergrund besonders deutlich zu Tage tritt, lieber auf Beispiele aus den deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen zurückgreifen, so sei daran erinnert, daß der Deutschenvorbehalt der Vereinsfreiheit, wie es damals hieß, im Parlamentarischen Rat ausdrücklich mit der Möglichkeit, Deutschen dieses Recht über Gegenseitigkeitsverbürgungen im Ausland zu sichern, begründet wurde. 312 Auch hier besteht also die oben genauer analysierte Zweck-Mittel-Relation. Nicht anders sieht es meist bei Zugangsbeschränkungen zum Beruf aus, die vielfach auch dieses Motiv klang im Parlamentarischen Rat an - der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der Deutschen dienen. Anders sind beispielsweise die Deutschenvorbehalte im Gesundheitswesen nicht zu erklären, die zwar Ausnahmen für EG-Angehörige, heimatlose Ausländer, Kontingent-Flüchtlinge etc. kennen, aber im übrigen nicht danach fragen, wo die Ausbildung stattgefunden hat und wie Kenntnisstand und sonstige Eignung des Betreffenden zu beurteilen sind. Sie stehen also nicht etwa in einem inneren Zusammenhang zur Volksgesundheit, sondern sollen offenbar Ärzte, Zahnärzte und Apotheker vor ausländischer Konkurrenz schützen.313 In all diesen Fällen ist eine bei Ungleichbehandlungen herkömmlicherweise verneinte Zweck-Mittel-Relation durchaus erkennbar, und es drängt sich die Überlegung auf, daß die Rechtfertigungsfähigkeit einer solchen Ungleichbe311

Zum Nebeneinander von égalité und aequitas im Gleichheitssatz Rüfher, in: BK, Rn. 5 zu Art. 3 I. 312 Siehe oben im l.Teil unter II. 2. a) (3) (b), bes. S. 176. 313 Dazu und zu weiteren Beispielen ausführlicher Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn. 9), Rn. 121 ff. (126).

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handlung nicht anders als bei einer Freiheitsbeschränkung vom Ergebnis einer Abwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abhängig gemacht werden müßte. Dieser Befund legt es nahe, die gegenüber der - von vielen Autoren geforderten - Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in diesem Bereich geltend gemachten Einwände etwas genauer zu analysieren und zu prüfen, inwiefern sie berechtigt sind.

2. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes In der neueren Literatur zum Gleichheitssatz wird vielfach - teils unter Bezugnahme auf Parallelen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) oder des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) 3 1 4 eine Mobilisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes verlangt. 315 Danach soll geprüft werden, ob eine Ungleichbehandlung im Hinblick auf den mit ihr verfolgten (legitimen) Zweck geeignet und notwendig ist und auch sonst in angemessenem Verhältnis zum Wert des Zwecks steht, 316 beziehungsweise ob Differenzierungskriterium und Differenzierungsziel in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.317 314

Siehe zu beidem die Nachw. bei Huster, Rechte (Fn. 196), 63 f. So als erster wohl Kloepfer, Gleichheit (Fn.196), 54ff. (62ff.); differenzierend Huster, Rechte (Fn. 196), 67ff., 165ff. (238ff.); ders., Gleichheit (l.Teil, Fn.554), bes. 544ff; vgl. auch Jarass, Grundrechtsdogmatik (Fn.292), 376ff; Gubelt, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn. 18 ff. (22, bes. 29); skeptisch trotz Anerkennung der Verdienste solcher Bemühungen K. Hesse, Gleichheitssatz (Fn. 199), 189, Fn. 57. Für einen allg. Überblick auch Martini (Fn. 199), bes. 102 ff., mit zahlreichen weiteren Nachw., der selbst ebenfalls eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen will, vgl. 266 ff., 298. 316 Vgl. Pieroth/Schlink (l.Teil, Fn. 5), Rn.440, die diese Prüfung auch ausdrücklich als Verhältnismäßigkeitsprüfung bezeichnen; ähnlich Schoch (Fn. 199), 874: ob die Differenzierung zur Zielerreichung „geeignet und erforderlich sowie sachangemessen ist"; Zippelius, Gleichheitssatz (Fn. 199), 23; Wendt, Gleichheitssatz (Fn. 199), 781 ff (785); s. zur Darstellung im Rahmen des Prinzipienmodells Alexy (l.Teil, Fn. 159), 390 f., Fn. 91. 317 So vor allem Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 4. Aufl., Rn. 18ff. (22, bes. 29) zu Art. 3; vgl. auch Gusy (Fn. 199), 2507f.; Maaß (Fn. 197), 20f., und bes. E. Stein, in: AK I, Rn.48ff, 52 ff. zu Art. 3, wobei bei den Letztgenannten allerdings nicht ganz deutlich wird, ob hier das Verhältnismäßigkeitsprinzip gemeint ist, da, je nachdem, wie man den Begriff des Differenzierungsziels interpretiert (im Sinne einer Zweck-MittelRelation oder bezogen auf die Anforderungen des für den jeweiligen Bereich geltenden Gerechtigkeitsmaßstabes), auch eine Zuordnung zur gleichheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung denkbar wäre; s. zu diesen Autoren auch Martini (Fn. 199), 93 ff., 98 ff., sowie Robbers, Gleichheitssatz (Fn. 199), 751 f. 3,5

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Dem ist entgegengehalten worden, daß dies mit dem herkömmlichen Modell des Gleichheitssatzes nicht kompatibel sei: Die umfassende und alle Lebensbereiche übergreifende Geltung des Gleichheitssatzes schließe es aus, wie bei den benannten Freiheitsrechten einen umgrenzten Schutzbereich des Grundrechts zu definieren und so nach Schutzbereich und Eingriff zu differenzieren. 318 Das Übermaßverbot sei eben in spezifischer Weise auf die Begrenzung von Freiheitsbeschränkungen zugeschnitten und gerate daher entweder in Konflikt mit der Relativität und Wertungsoffenheit des allgemeinen Gleichheitssatzes oder aber seine Anwendung erfordere die zweifelhafte Konstruktion eines beschränkbaren Schutzbereichs. 319 Zudem sei die für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorauszusetzende Zweck-Mittel-Relation häufig nicht gegeben. In vielen Fällen werde eine Ungleichbehandlung nämlich (wie oben beschrieben) mit Erwägungen gerechtfertigt, die ausschließlich an Unterschieden zwischen den verschieden behandelten Personen und Sachverhalten anknüpfen und diese an Hand bestimmter Maßstäbe (Ausmaß der Schuld im Strafrecht, Leistungsfähigkeit im Steuerrecht, Bedürftigkeit im Sozialrecht) messen, ohne daß dabei irgendein Ziel im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation verfolgt werde. Vielmehr werde hier in erster Linie geprüft, ob die Ungleichbehandlung dem zugrunde gelegten Maßstab entspreche und ob dieser als solcher gerechtfertigt sei. 320 Diese Einwände lenken den Blick auf die logische Struktur des Verhältnismäßigkeitsprinzips und seine Funktion im Rahmen der Überprüfung von Grundrechtseingriffen sowie die grundsätzlichen Unterschiede in der dogmatischen Struktur von Freiheitsrechten und Gleichheitssatz. Um mit letzterem zu beginnen: Schlagwortartig läßt sich die Differenz in Anlehnung an die Diktion Alexys im Begriff des „beschränkungsfähigen prima facie-Rechts" auf den Punkt bringen, 321 der das Freiheitsrecht im Gegensatz zum Gleichheitssatz kennzeichnen soll. Das heißt, während Freiheitsrechte die in ihrem Tatbestand genannten Freiheiten zunächst in umfassender Form gewährleisten, gleichzeitig jedoch nach Maßgabe ihrer Schrankenregelung - Eingriffe zugunsten kollidierender Freiheitsrechte anderer oder kollektiver Güter zulassen, soll der Gleichheitssatz von vornherein nur gegen unsachliche Differenzierungen schützen, dann aber auch nicht zugunsten kollidierender Schutzgüter einschränkbar sein. Er unter318

Rüfner, in: BK, Rn. 96 zu Art. 3 I. Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm, Rn. 15 zu Art.3 m.w.N, der sich hier insbes. gegen Kloepfer wendet. 320 Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd.I, Rn.25 zu Art.3; vgl. auch Rüfner, in: BK, Rn. 89 ff. (92 ff.) zu Art. 3 I. 321 Vgl. Alexy (l.Teil, Fn.159), 91 f, 118, 273ff. u. pass; ihm folgend Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 541 f.; ders. Rechte (Fn. 196), 78 u. pass, der sich dabei inhaltlich auf die hier geschilderte Problematik bezieht. 319

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steht danach keinem (ungeschriebenen) Gesetzesvorbehalt; die Möglichkeit einer Unterscheidung von Schutzbereich und Eingriff 322 bzw. von Grundrechtseingriff und -Verletzung entfällt. Kurz: Wenn „Personen ungleich behandelt (werden), so bedeutet das verfassungsrechtliche Ungleichheit nur, wenn die Differenzierung ohne zureichenden Grund erfolgt" (Podlech), 323 sonst liegt schon keine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG vor. Oder in den Worten Husters: „Das Recht auf Gleichbehandlung trägt seine Schranken in sich selbst und ist daher - anders als die Freiheitsrechte in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte - kein prima facie-Recht im technischen Sinne". 324 Die besondere Funktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips erschließt sich wiederum aus seiner Einbettung in dieses Eingriffs- und Schrankenschema der Freiheitsrechte als liberaler Abwehrrechte. Hintergrund des Eingriffsschemas ist die Erkenntnis, daß der individuelle Freiheitsgebrauch in nicht vorhersehbarer damit aber auch nicht abschließend regelbarer - Weise zu Konflikten mit den Rechten anderer sowie kollidierenden Gemeinschaftsgütern führen kann. Dem entspricht es, die Freiheit des einzelnen zunächst tatbestandlich umfassend zu gewährleisten, aber zugleich gesetzlichen Beschränkungen, die in der jeweiligen Konstellation einen angemessenen, schonenden Ausgleich mit kollidierenden Schutzgütern ermöglichen sollen, zugänglich zu machen.325 Doch fordert der prima facie-Vorrang, den das Grundgesetz nachweislich dem Prinzip der individuellen Freiheit (und Gleichheit) gegenüber anderen Rechtsgütern einräumt, 326 daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip als (praktisch bedeutsamste) Schranken-Schranke die Befugnis des Gesetzgebers, dem Grundrechtsgebrauch Schranken zu ziehen, seinerseits beschränkt. Es läßt daher eine Freiheitsbeschränkung nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen zu, daß sie auf der 322

So die ganz h.M.; vgl. nur Rüfner, in: BK, Rn.96 zu Art. 3 I; Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn. 199), Rn.288ff; Pieroth/Schlink (l.Teil, Fn.5), Rn.430; ausdrücklich gegen die Annahme eines Gesetzesvorbehalts beim Gleichheitssatz trotz der Betonung gewisser Parallelen zum Freiheitsschutz auch Jarass, Grundrechtsdogmatik (Fn.292), 376f.; Lübbe-Wolff (l.Teil, Fn.229), bes. 17f., 258ff; auch Geddert-Steinacher (1. Teil, Fn. 93), 26; weitere Nachw. bei Huster, Rechte (Fn. 196), 54 f. 323 Podlech, Gleichheitssatz (Fn. 194), 48. 324 Huster, Rechte (Fn.196), 55; ähnlich ders., Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 542, s. zum folg. auch aaO, 542 f., wo er die wesentlichen Punkte prägnant zusammenfaßt. 325 Dazu eingehender und differenziert Lerche, Grundrechtsschranken (Fn. 204), Rn. 3 ff. m.w.N., der u.a. auch zutreffend darauf hinweist, daß die Vorstellung des schonenden Ausgleichs kollidierender Güter also nicht nur auf den engen Bereich der unmittelbar kollisionslösenden Normen beschränkt werden kann, vgl. Fn. 6 m.w.N.; s. in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von C. Bumke zum Grundrechtsvorbehalt (Fn. 181); speziell im Vergleich mit Art. 3 I Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn. 199), 288 f. (289). 326 Alexy, Grundrechte (l.Teil, Fn. 159), 517f. u. pass.

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Wahl eines an sich zulässigen Mittels beruht, zum Schutz anderer Rechtsgüter geeignet und erforderlich ist und der mit dem Eingriff verfolgte (für sich genommen legitime) Zweck sich schließlich auch im Verhältnis zu der damit verbundenen Beeinträchtigung für den einzelnen im Rahmen einer Abwägung als angemessen (verhältnismäßig i.e.S., zumutbar, proportional) erweist. 327 Seiner logischen Struktur nach, die auf die Analyse von Zweck-Mittel-Relationen angelegt ist, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip speziell auf Rechtsgüterkonflikte zugeschnitten. Normativ ist es darauf ausgerichtet, diese zu einem gerechten Ausgleich zu bringen, insbesondere aber eine unangemessene Freiheitsbeschränkung des einzelnen zu verhindern. Seiner Verwurzelung im Eingriffs- und Schrankenschema der Freiheitsrechte entsprechend scheint die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips also tatsächlich als eine die Zweck-Mittel-Relation umgreifende Größe einen Eingriff im Sinne der Eingriffsdogmatik zu verlangen, der auf dem Einsatz eines bestimmten Mittels beruht, zu einem bestimmten Zweck erfolgt und angesichts des Umstandes, daß die Feststellung eines Eingriffs in den Schutzbereich eines Grundrechts noch nicht automatisch eine Grundrechts Verletzung bedeutet, stets auf seine verfassungsrechtliche Rechtfertigungsfähigkeit hin abzuklopfen ist. Nach der herkömmlichen Dogmatik des Gleichheitssatzes fehlt es mangels einer Differenzierung zwischen Schutzbereich und Eingriff jedoch an einem Ansatzpunkt für die Übertragung dieses Prüfungsschemas. Damit steht man im Blick auf die Forderung nach einem Einbau des Verhältnismäßigkeitsprinzips in die Gleichheitsprüfung vor dem Dilemma, 328 daß man entweder die These aufgeben muß, daß der Gleichheitssatz sich der Eingriffsdogmatik nicht fügt oder, sofern man diese aufrechterhält, ein ganz neues Erklärungsmodell für die Verhältnismäßigkeitsprüfung entwickeln müßte. Dies dürfte dann allerdings im Zweifel nicht mehr dieselbe Bedeutung haben wie im Bereich der Freiheitsrechte, so daß die Forderung auch sprachlich anders gefaßt werden sollte. Für die erstgenannte Möglichkeit hat sich Kloepfer entschieden, der im Jahre 1980, also zu Beginn der Phase einer neuerlichen intensiven Diskussion des Gleichheitssatzes, mit einem Schranken-Modell für Art. 3 Abs. 1 aufwartete. Er betrachtet die Gleichbehandlung gleicher Tatbestände (bzw. die Ungleichbehandlung ungleicher Tatbestände) als „Grundrechts-Tatbestand (einschlägiges Grundrechtsfeld) des Gleichheitssatzes" und die Ungleichbehandlung rechtlich gleicher Tatbestände (bzw. umgekehrt) einschließlich der Abweichungen von einem gesetzlichen System (Systemwidrigkeit) als Eingriff in dieses Grundrechtsfeld. Da primär die Gesetzgebung wesensmäßig immer auch Ungleichbehandlung durch abgegrenzte Rechtsfolgenbestimmung sei, erweise sie sich als 327 328

Vgl. dazu statt vieler Pieroth/Schlink (1. Teil, Fn. 5), Rn. 274 ff. (279 ff.). So treffend Huster, Rechte (Fn. 196), 65; ders., Gleichheit (1. Teil, Fn. 554), 542.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

immanente Beschränkung des Gleichheitssatzes. Die viel beschworene „gesetzgeberische Handlungsfreiheit (...) wäre also im wesentlichen der Schrankenvorbehalt von Art. 3 Abs. 1 GG oder jedenfalls die Beschreibung seiner Folgen". Das Willkürverbot (Verbot unsachlicher Beschränkungen) wandere im Zuge dieser schrankendogmatischen Ausdifferenzierung vom Grundrechtstatbestand des Gleichheitssatzes zu den Schranken-Schranken. Und hier könne nun auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip seine von der freiheitsrechtlichen Dogmatik her vertraute Funktion als Schranken-Schranke entfalten: Während das Willkürverbot das Verhältnis von Differenzierungskriterium und Differenzierungsziel regele, beschäftige sich das Übermaßverbot mit dem Verhältnis von Eingriff und Ziel, bei seiner Anwendung auf den Gleichheitssatz also mit dem Verhältnis von Ungleichbehandlung und Differenzierungs- d.h. Gesetzesziel. Danach müsse die Ungleichbehandlung einem verfassungslegitimen Ziel dienen, geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i.e.S. sein. 329 Anders als bei der üblichen Herangehensweise, die zu undurchschaubaren Subsumtionen führe, die Lösung von Kollisionen zwischen Verfassungsgütern unter dem Aspekt des Vorliegens eines sachlichen Grundes auf der Tatbestandsebene abhandele und den Gleichheitssatz inhaltlich auf ein Willkürverbot reduziere, sei so eine größere Transparenz im Grundrechtsaufbau gewährleistet und unter anderem klargestellt, daß für Einschränkungen von Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich der Gesetzgeber zuständig und dabei an das Übermaßverbot gebunden sei. 330 Dieses Schranken-Modell für Art. 3 Abs. 1 GG ist auf Kritik gestoßen.331 So wurde ihm unter anderem entgegengehalten, daß - so verdienstvoll der Versuch, dem Gleichheitssatz als Kontrollmaßstab deutlichere Konturen zu verleihen, auch sei - dies doch nur weiterführen könne, wenn man überhaupt in der Lage sei, den Willkürmaßstab zu ersetzen. Oft lasse sich indes ein Differenzierungsziel des Gesetzgebers gar nicht ausmachen; die konkrete Ungleichbehandlung sei vielmehr eine unvorhergesehene und nicht beabsichtigte Folge eines Gesetzes. Zudem bleibe der fünktionell-rechtliche Aspekt unbeachtet: Die

329

Kloepfer, Gleichheit (Fn.196), 54 ff. (bes. 56-59, 62 f., zusammenfassend 64 f.); ders., Verfassungsproblem (Fn. 199), 49 ff. (50 ff.). 330 Kloepfer, Gleichheit (Fn.196), 55 f., 64 (dort auch zu weiteren Konsequenzen seines Ansatzes). 331 Vgl. statt vieler Rüfner, in: BK, Rn.96 zu Art.3 I; krit. auch Alexy (l.Teil, Fn. 159), 391, Fn.91; K. Hesse, Gleichheitssatz (Fn. 199), 189f., Fn.57; Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 26, Fn. 146; Kirchhof, Gleichheitssatz (Fn. 199), Rn. 290; vgl. auch Martini (Fn. 199), 108 ff., bes. 159 ff., 273 ff. (der selbst aber ebenfalls ein Eingriffsmodell vorschlägt; zusammenfassend, aaO, 298); für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Kloepfer s. u.a. Huster, Rechte (Fn. 196), 225 ff, bes. auch 233 ff. (235 ff.); Lübbe-Wolff (l.Teil, Fn.229), 258 ff.

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips laufe auf eine striktere verfassungsgerichtliche Prüfung hinaus als diejenige anhand des Willkürverbotes. 332 Nun kann man das letztgenannte Argument zunächst einmal ausklammern, da es in engstem Zusammenhang mit der Annahme steht, daß die - den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers allererst begründende - Wertungsoffenheit des Gleichheitssatzes der Definition eines umgrenzten Schutzbereichs wie bei den benannten Freiheitsrechten und damit einer Differenzierung zwischen Schutzbereich und Eingriff generell entgegenstehe.333 Sollte diese Prämisse sich aber nicht halten lassen, wäre auch nicht einsichtig, aus welchem Grunde hier - anders als bei den Freiheitsrechten - funktionell-rechtliche Erwägungen einer Überprüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips entgegenstehen sollten. Gewichtiger ist jedoch der Hinweis auf den Umstand, daß sich vielfach gar kein gesetzgeberisches Differenzierungsziel (im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation) wird ausmachen lassen. Dies läßt sich, wie schon erwähnt, noch dahingehend präzisieren, daß die Ungleichbehandlung statt dessen oft mit Erwägungen gerechtfertigt werde, die ausschließlich an Unterschieden zwischen den verschieden behandelten Personen und Sachverhalten anknüpfen und diese an Hand bestimmter Maßstäbe messen. In diesen Fällen werde somit gar kein Ziel im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation verfolgt, sondern nur geprüft, ob die Ungleichbehandlung dem zugrunde gelegten (Gerechtigkeits-) Maßstab entspreche. 334 In der Tat hat die Frage nach dem angemessenen Verhältnis von Schuld und Strafe, die Differenzierung nach der Leistungsfähigkeit im Steuerrecht, der Bedürftigkeit im Sozialrecht oder eben auch die Ausdifferenzierung von Gruppen, die im Sinne von § 8 BAfÖG die persönlichen Voraussetzungen für eine öffentliche Ausbildungsforderung erfüllen, wie oben dargelegt, mit dem Streben nach verhältnismäßiger Gleichheit, nicht aber mit einer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie es Kloepfer vorschlägt, zu tun, da dort weder eine Zweck-Mittel-Relation erkennbar ist noch die von ihm angesprochene Kollision von Verfassungsgütern in Rede steht. Hier behalten vielmehr die grundlegenden Ausführungen Lerches, der den Unterschied zwischen der „klassischen" Verhältnismäßigkeitsprüfung und der anders gelagerten gleichheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung treffend charakterisiert hat, nach wie vor

332

K. Hesse, Gleichheitssatz (Fn. 199), 189 f., Fn. 57. Vgl. Rüfner, in: BK, Rn.96 zu Art.3 I; Huster, Rechte (Fn. 196), 56, sieht hinsichtlich des funktionell-rechtlichen Arguments daher die Gefahr, einem Zirkelschluß zu erliegen. 334 Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd.I, Rn.25 zu Art.3; Rüfner, in: BK, Rn. 89 ff. (92 ff.) zu Art. 3 I. 333

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

ihre Gültigkeit. 335 Und diese Form einer Angemessenheitsprüfung läßt sich auch nicht als Schranken-Schranke in ein Schranken-Modell des Art. 3 Abs. 1 GG einpassen, da sie sich eben gar nicht als Einschränkung, sondern als bereichsspezifische Umsetzung des Leitbildes der Individualgerechtigkeit 336 versteht. Allerdings bleibt die herkömmliche Dogmatik ihrerseits die Antwort auf die Frage schuldig, wie es denn nun in jenen Fällen aussieht, in denen die von Kloepfer angenommene Zweck-Mittel-Relation - deren Abhandlung auf der Tatbestandsebene des Gleichheitssatzes allein unter der Ägide des Willkürverbotes er kritisiert - nachweislich besteht, wie dies oben beispielsweise für den Haftentschädigungsfall festgestellt wurde. 337 Zur Auflösung dieser Widersprüche bietet es sich an, auf einen neueren, von Stefan Huster vertretenen Ansatz zurückzugreifen, der - auf den Schultern vieler Vorarbeiten stehend - ein klar strukturiertes Modell anbietet, das zwischen diesen beiden Fallgruppen differenziert und sich damit gerade auch im Blick auf die deutschenrechtliche Problematik als hilfreich erweisen könnte.

3. Die Gleichheitskonzeption Husters a) Die zwei Fallgruppen des Art. 3 Abs. 1 GG und ihr jeweiliges Verhältnis zum Gleichheitssatz Der Ansatz Husters basiert im Kern auf der These, daß die Fallgruppe, die durch das Beispiel der Besteuerung unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit oder auch das Beispiel des §8 BAföG umschrieben wurde (1) und jene Fallgruppe, für die hier der Haftentschädigungsfall oder die Deutschenvorbehalte im Bereich des Gesundheitswesens angeführt wurden (2), in ganz unterschiedlicher Beziehung zum Gleichheitssatz stehen.338 Ausgangspunkt des von Huster vorgeschlagenen dogmatischen Modells des Gleichheitssatzes ist ein normativer Begriff von Gleichheit, der vor dem Hintergrund der engen Verbindung des Gleichheitssatzes mit der Gerechtigkeit gewonnen ist und den materialen Gehalt des Gleichheitssatzes in der Weise bestimmt, daß dieser von vornherein keine schematische Gleichbehandlung, sondern eine gerechte Behandlung, eine Behandlung aller „als Gleiche" verlangt, d.h. daß 335

Vgl. Lerche, Übermaß (l.Teil, Fn. 154), 29ff. (30); s. oben bei Fn.297ff. u. pass. Dazu, daß diese durch Kloepfer nicht widerlegt wurden, u.a. Rüfiier, in: BK, Rn. 96 zu Art. 3 I, und bezogen auf diese Fallgruppe auch Huster, Gleichheit ( 1. Teil, Fn. 554), 544. 336 Siehe hierzu Rüfiier, in: BK, bes. Rn. 93 zu Art. 3 I. 337 Siehe oben unter II. 1., bes. S. 429 ff. (431). 338 Vgl. Huster, Rechte (Fn. 196), 164 ff.

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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jeder auf dieselbe Weise mit Achtung und Respekt - und namentlich auch gleicher Berücksichtigung seiner Interessen - zu behandeln ist. 339 Dementsprechend sind die Ungleichbehandlungen (im schematischen Sinne) in der Fallgruppe (1) nach Huster als Erfüllung einer Forderung der Gerechtigkeit zu verstehen. Diese Vorstellung kommt auch immer wieder in Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck. So formulierte es in seinem Urteil zur Parteienfinanzierung aus dem Jahre 1958 etwa: „(...) im Bereich des Steuerrechts (würde) eine formale Gleichbehandlung von Reich und Arm durch Anwendung desselben Steuersatzes dem Gleichheitssatz widersprechen. Hier verlangt die Gerechtigkeit, daß im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seines Einkommens als Steuer zu zahlen hat als der wirtschaftlich Schwächere (vgl. schon Art. 134 WRV)". 3 4 0 Huster stellt daher bezogen auf Fallgruppe (1) fest, daß diese Ungleichbehandlungen dem Gleichheitssatz nicht widersprechen, sondern ihm entsprechen oder ihn verwirklichen und insofern „ interne Zwecke " realisieren. Diese Fallgruppe sei also gerade dadurch gekennzeichnet, daß jeweils ein Maßstab vorliege, der zwar formal zur Ungleich- aber materiell zur Gleichbehandlung führe. 341 Der interne Zweck der Ungleichbehandlung bestehe somit darin, daß sie einem Gerechtigkeitsmaßstab entspreche. Ein kollidierendes Rechtsgut, das mittels der Ungleichbehandlung verfolgt werde und erst noch mit ihr abgewogen werden müsse, sei nicht ersichtlich. 342 Er bezeichnet die hier durchzuführende Prüfung deshalb im Gegensatz zur Verhältnismäßigkeitsprüfung auch ganz plastisch als „Entsprechungsprüfung". 343 Anders sieht es nach Huster in Fallgruppe (2) aus: Hier werden die Ungleichbehandlungen nicht durch Gerechtigkeitsmaßstäbe, sondern durch gesamtgesellschaftliche Nutzen- oder Zweckmäßigkeitserwägungen legitimiert. Die Differenzierungen stellen nicht auf die eigentlich relevanten Eigenschaften der Vergleichspersonen ab, zwischen diesen Merkmalen und den differenzierenden Regelungen besteht demzufolge kein innerer Zusammenhang.344 Vielmehr beruhen sie auf „ externen Zwecken ", die in einem echten Zweck-MittelVerhältnis zu den Ungleichbehandlungen stehen, die für ihre Verwirklichung in 339

Vgl. Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 541, 547; ausführlich ders., Rechte (Fn. 196), 21 ff, 29 ff. (34 f.), bes. 41 ff. (42 f.), der sich hier u.a auf Dworkin, aber auch auf Bydlinski bezieht, vgl. Fn. 118 u. pass. 340 Vgl. nur BVerfGE 8, 51 (68 f.). 341 Huster, Rechte (Fn. 196), 169. 342 Ders, Gleichheit (l.Teil, Fn. 554), 544. 343 Huster, Rechte (Fn. 196), bes. 142 ff, 171 u. pass.; für eine vergleichende Darstellung der beiden Fallgruppen aaO, bes. 165 ff, für einen knappen Überblick ders, Gleichheit (l.Teil, Fn. 554), 543 f. 344 Huster, Rechte (Fn. 196), 167, sowie ders, Gleichheit (1. Teil, Fn. 554), 544.

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Kauf genommen werden. Derartige Ungleichbehandlungen verwirklichen den Gleichheitssatz also nicht, sondern stehen in einem Spannungsverhältnis zu Art. 3 Abs. 1 GG. Trotzdem sind sie, wie Huster betont, keineswegs schlechthin unzulässig.345 Er verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß auch das Bundesverfassungsgericht beispielsweise im Blick auf typisierungsbedingte Ungleichbehandlungen festgestellt hat, daß in ihnen ein „Verstoß gegen den Gleichheitssatz" liege, der nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sei. 346 Seine Folgerung: „Hier liegt also ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz oder wie man vorsichtiger formulieren sollte: ein prima facie-Verstoß gegen oder ein Eingriff in den Gleichheitssatz - vor, obwohl die Ungleichbehandlung möglicherweise durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt werden kann". 347 Damit gelangt man zum Kern seiner Kritik am traditionellen dogmatischen Modell des Gleichheitssatzes: Es krankt nach Husters Ansicht daran, daß es Ungleichbehandlungen aufgrund externer und interner Zwecke in gleicher Weise verarbeiten will. Dies führe jedoch dazu, daß der Gleichheitssatz gegenüber gestaltungsbedingten Ungleichbehandlungen leer laufe. Er verweist in diesem Zusammenhang auf das Beispiel von Steuernormen mit Lenkungs- und Vereinfachungsfunktion, die gar nicht den Anspruch erheben, eine gerechte Verteilung der Steuerlast zu bewirken, sondern externen (z.B. wirtschaftspolitischen oder verwaltungsökonomischen) Zwecken folgen: „Da externe Zwecke regelmäßig sachliche Gründe sind und als solche von vornherein eine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 ausschließen [nach anderer Lesart: rechtfertigen 348 ], 345

Huster, Gleichheit (1. Teil, Fn. 554), aaO; ders., Rechte (Fn. 196), 169 u. pass. BVerfGE 45, 376 (390); zum Problem der Typisierung im einzelnen Huster, Rechte (Fn.196), 245 ff., bes. 248 ff., 260 ff. mit zahlreichen weiteren Rspr.nachw., insbes. 261 f., Fn. 93 ff; zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit von Typisierungen s. 273 ff. mit zahlr. weiteren Nachw. aus Lit. u. Rspr. 347 Huster, Rechte (Fn. 196), 169. 348 Ausgehend von der Annahme, daß der Gleichheitssatz als Gebot schematischer (mechanischer oder absoluter) Gleichbehandlung aufzufassen sei, erscheint jede Ungleichbehandlung als rechtfertigungsbedürftig und gilt nach Maßgabe des Willkürverbotes dann als gerechtfertigt, wenn dafür ein sachlicher Grund vorliegt. Anders der Ansatz von Huster: Dieser beantwortet zwar die Frage, ob eine Ungleich- oder Gleichbehandlung vorliegt, danach, ob die auf zwei Sachverhalte angewendete Rechtsfolge identisch oder vertauschbar ist, was weitgehend einer schematischen Gleichbehandlung entspricht; doch geht er im übrigen davon aus, daß der Gleichheitssatz von vornherein keine schematische Gleichbehandlung, sondern eine gerechte Behandlung, eine Behandlung als Gleicher verlange. Dies könne sowohl eine Gleich- als auch eine Ungleichbehandlung im schematischen Sinne sein. Die sachlichen Gründe zählen bei ihm somit zu den inhaltsbestimmenden Elementen des Gleichheitssatzes; vgl. Huster, aaO, 18ff. (20f.), 165ff., bes. auch 241, 361 f.; ders., Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 547; s. dazu auch Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 22 zu Art. 3. 346

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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ist in diesem Modell nicht die naheliegende Frage angelegt, ob der Gestaltungszweck so gewichtig ist, daß er den Verstoß gegen die Gleichbehandlung rechtfertigt, die der Gleichheitssatz eigentlich gebietet". 349 Das Dilemma bestehe also darin, daß bei der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen aus dem Bereich der Ziele diese offensichtlich erforderliche Abwägung nicht vorgenommen oder zumindest nicht angemessen beschrieben werden könne. Huster zeigt dann im Blick auf verschiedene Rechtsgebiete bzw. rechtliche Gestaltungsinstrumente auf, daß es auch keineswegs so ist, daß das Problem und - damit zusammenhängend - die Unterscheidung von zwei Arten, Differenzierungen zu begründen, bislang nicht bemerkt worden sei. In vielen Bereichen ließen sich entsprechende Ansätze nachweisen. Insofern leide die bisherige Dogmatik auch weniger an falschen Ergebnissen als vielmehr an einer partiell unzutreffenden Selbstbeschreibung. 350 Schließlich gibt er auch vor dem Hintergrund des weiteren Umfeldes der politischen Philosophie zu bedenken, daß die Erkenntnis, daß Ungleichbehandlungen gerecht oder nützlich sein, den unterschiedlichen relevanten Eigenschaften der Vergleichspersonen entsprechen oder das allgemeine Wohl fordern, interne oder externe Zwecke haben können, nicht neu sei. So zitiert er H. L. A. Hart mit den Worten, daß die „Forderungen (der Gerechtigkeit) manchmal auch mit anderen Werten in Konflikt geraten", so daß „man das Prinzip ,Gleiches gleich behandeln' der generellen Sicherheit oder Wohlfahrt der Gesellschaft opfern" 351 muß. Im übrigen verweist er darauf, daß insbesondere in der Diskussion um die Legitimität von Ungleichbehandlungen die Unterscheidung und der Konflikt von Gerechtigkeit und Nützlichkeit, von Verteilungs- und Effektivitätsüberlegungen eine prominente Rolle spiele und z.B. die Frage der sozialen Gerechtigkeit wesentlich durch den Zielkonflikt von Gerechtigkeit und Nützlichkeit bestimmt sei. Als den wohl bedeutsamsten Versuch, diesen Konflikt aufzulösen, sieht er das Differenzprinzip von John Rawls. Er bezieht sich aber auch - und das ist für das von ihm vorgeschlagene Lösungsmodell von Bedeutung - auf die Unterscheidung, die Ronald Dworkin 349

Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 544; zum Beispiel aus dem Steuerrecht aaO, 545; vgl. auch ders. Rechte (Fn. 196), 171 f. u. pass. 350 Vgl. Huster, aaO, 544 ff. (545) m.w.N.; ausführlich ders. Rechte (Fn. 196), speziell zum Problem der Typisierung 245 ff, bes. auch 273 ff. m.w.N. Hinsichtlich der Bewertung (partiell unzutreffende Selbstbeschreibung) a.A. die überaus positive Rezension v. Sachs, in: DVB1. 1995, 480 (481, a.E.), der sich von der Arbeit auch eine Korrektur manch unbefriedigender Ergebnisse der traditionellen Dogmatik erhofft. 351 The Concept of Law, 1961, dt.u.d.T. Der Begriff des Rechts, Frankfurt a.M. 1973, 227f. Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 546, Fn.73, verweist für die deutsche Rechtsphilosophie auf jene Autoren, die verschiedene Rechtszwecke - Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit - unterscheiden, so Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. Stuttgart 1963, 168 ff. u. pass.

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zwischen Prinzipienargumenten („arguments of principle"), die sich auf die Rechte der Betroffenen beziehen, und Argumenten der Zielsetzung („arguments of policy"), die auf die Verfolgung kollektiver Güter abstellen, trifft. 3 5 2 Diese Unterscheidung von Rechten und Zielen spiegele sich auch in der gleichheitsrechtlichen Dogmatik wider: „Während Differenzierungen, die einen internen Gerechtigkeitszweck verfolgen, sich an den Gleichheitsrechten der Vergleichspersonen orientieren, werden zielbestimmte Differenzierungen diese Rechte regelmäßig durchbrechen und müssen, da Rechte gegenüber Zielen ein Schwellengewicht besitzen, in eine Abwägung mit ihnen eingestellt werden". 353 In diesem Punkt erkennt Huster eine deutliche strukturelle Parallele zur freiheitsrechtlichen Eingriffsdogmatik und der Bedeutung, die dem Verhältnismäßigkeitsgebot hier bei der Bestimmung des „Schwellengewichts" (wie es bei ihm in Anlehnung an Dworkin heißt) individueller Rechte im Rahmen der „,Wechselwirkung 4 von Recht und Eingriff zukommt. Dementsprechend versucht er, die Gleichheitsprüfung weitgehend parallel zu dem herkömmlichen Eingriffs-Schranken-Schema zu konstruieren, wobei sich sein Modell jedoch deutlich von dem Kloepfers unterscheidet. 354

b) Das Eingriffsmodell

des Gleichheitssatzes

Die Differenzierung zwischen Rechten und Zielen, internen und externen Zwecken, die die Unterscheidung zwischen den Fallgruppen (1) und (2) bestimmt und deren ganz unterschiedliches Verhältnis zum Gleichheitssatz prägt, nimmt Huster bei der Entwicklung eines Eingriffsmodells des Gleichheitssatzes wieder auf. 355 Es basiert auf der Überlegung, daß die Struktur der Gleichheitsprüfung davon abhängt, welche Art von Zwecken jeweils einschlägig ist und führt so zu einer gestuften Prüfung.

352

Dworkin, Bürgerrechte (l.Teil, Fn.911), dt. Ausgabe, 15, bes. 145ff. u. pass.; Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 546, Fn.77, hebt hervor, daß dies der inhaltlich bestimmte, engere Begriff des Prinzips bei Dworkin ist, nicht der weite, allein auf die Normstruktur abzielende Prinzipienbegriff, dessen Gegenbegriff der in der deutschen Diskussion (insbesondere über Alexy) vornehmlich rezipierte Regelbegriff ist. 353 Huster, aaO, 546. Auch der Begriff des „Schwellengewicht(s)u ist in Anlehnung an Dworkin gewählt; vgl. Bürgerrechte (l.Teil, Fn.911), dt. Ausgabe, 158ff, 162. 354 Vgl. Huster, Rechte (Fn. 196), 225; den Umstand, daß dieser Ansatz von dem Kloepfers „scharf zu unterscheiden" ist, betont auch Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 26, Fn. 146, zu Art. 3. 355 Vgl. zum folg. Huster, Rechte (Fn.196), 225ff.; ders., Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 547f.; s. auch Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd.I, Rn.26 zu Art. 3.

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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Zunächst wird geprüft, ob eine Behandlung vorliegt, die dem jeweiligen Gerechtigkeitsmaßstab bzw. den jeweiligen Gleichheitsrechten der Vergleichspersonen entspricht. Diese maßstabsgerechte Behandlung konstituiert den Schutzbereich des Art. 3 I. Dabei lassen sich die jeweiligen Gerechtigkeitsmaßstäbe und Rechte als Konkretisierungen des fundamentalen Gleichheitsgebotes verstehen, daß alle „als Gleiche", 356 also mit gleicher Berücksichtigung ihrer Interessen, zu behandeln sind. Diese Ausprägungen sind bereichs- und kontextspezifisch, 357 wie schon die oben genannten unterschiedlichen Leitbegriffe der Leistungsfähigkeit im Steuerrecht, der Bedürftigkeit im Sozialrecht etc. verdeutlichen, d.h. der Begriff der Gleichheit ist insoweit relativ. 358 Dabei obliegt die Kompetenz zur Konkretisierung des Gleichheitssatzes und damit auch der bereichsspezifisch maßgeblichen Gerechtigkeitsnorm dem Gesetzgeber. Insoweit erscheint Huster auf dieser Prüfungsstufe das Willkürverbot auch als der zutreffende Prüfungsmaßstab, und er meint, daß dabei von Verschärfungen der verfassungsrechtlichen Anforderungen, wie z.B. durch die „neue Formel", nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden sollte. Wenn hier das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht zum Zuge komme, so nicht deshalb, weil es ein zu strenger, sondern weil es ein untauglicher Maßstab wäre: Es werde eben nur geprüft, ob die (Un-)Gleichbehandlung den Gerechtigkeitsmäßstäben bzw. den entsprechenden Rechten entspricht, und bei derartigen Entsprechungsprüfungen laufe das Verhältnismäßigkeitsprinzip leer. Ein Güterkonflikt, auf den es reagieren könnte, sei auf dieser Stufe gar nicht denkbar, da hier nur Gerechtigkeitserwägungen im engeren Sinne und keine Zweckmäßigkeitserwägungen zugelassen seien, die mit dem Gleichheitssatz in Konflikt geraten könnten. Vielmehr solle dieser ja gerade umgekehrt durch die dem jeweils einschlägigen Gerechtigkeitsmaßstab entsprechende Behandlung verwirklicht werden. 359 Auf einer zweiten Prüfungsstufe wird untersucht, ob zur Verfolgung externer Ziele von dem Gerechtigkeitsmaßstab abgewichen wird. Werden die auf der Schutzbereichsebene festgestellten spezifischen Gerechtigkeitsnormen durchbrochen, so liegt nach Huster ein Eingriff in den Gleichheitssatz vor, der den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügen muß. Ein solcher Eingriff soll immer dann anzunehmen sein, wenn Gleich- oder Ungleichbe356

Dazu grundlegend Dworkin, Bürgerrechte (l.Teil, Fn.911), dt. Ausgabe, 298ff, 370 ff, bes. auch 439 ff, 587. 357 Zum Gebot der bereichsspezifischen Anwendung des Gleichheitssatzes vgl. BVerfGE 84, 239 (268); E 85, 176 (187). 358 Dazu eingehender Huster, Rechte (Fn. 196), 361 ff.; vgl. auch ders, Gleichheit (1. Teil, Fn. 554), 547 mit Fn. 82, der hier auf Walzer, Sphären der Gerechtigkeit (1. Teil, Fn. 365), 440 ff. (Die Relativität und Nichtrelativität von Gerechtigkeit) hinweist. Anders jetzt Martini (Fn. 199). 359 Huster, Rechte (Fn. 196), 226 f.; ders, Gleichheit ( 1. Teil, Fn. 554), 547.

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handlungen, die von der Gleichbehandlung im normativen Sinn abweichen, durch Zweckmäßigkeitserwägungen gerechtfertigt werden. Da derartige Differenzierungen nicht per se unzulässig seien, sondern ihre Zulässigkeit von der nachfolgenden Verhältnismäßigkeitsprüfung abhänge, werde der Gleichheitssatz zum prima facie-Recht. Damit bestehe hier ebenso wie bei den Freiheitsrechten die für die Eingriffsdogmatik konstitutive Unterscheidung von Grundrechtseingriff und Verletzung eines Grundrechts. Huster räumt ein, daß die Unterscheidung von schutzbereichsdefinierenden Gerechtigkeitsüberlegungen und eingriffsbegründenden Zweckmäßigkeitsüberlegungen, von Rechten und Zielen, im Einzelfall schwierig sein könne; doch helfe eine Kontrollfrage weiter: Wird ein Grund geltend gemacht, den man nicht für ungerecht halten würde, wenn alle Differenzierungen des jeweiligen Rechtsgebiets sich danach richten würden, so soll es sich um eine Gerechtigkeitserwägung handeln. Hingegen liege eine Zweckmäßigkeitserwägung vor, wenn der Grund zwar ein legitimes Ziel verfolge und daher nicht willkürlich sei, aber als generelles und einziges Verteilungsprinzip gegenüber den Vergleichspersonen nicht zu rechtfertigen wäre. 360 Was die ebenfalls schwierige und umstrittene Frage nach den Schranken anbelangt, so meint Huster, daß es nicht möglich sei, ohne weiteres auf die in der freiheitsrechtlichen Dogmatik entwickelten Grundsätze zurückgreifen, wie es diejenigen Autoren tun, die - wie Kloepfer - einen umfassenden Gesetzes vorbehält formulieren oder diejenigen, die verlangen, daß die eingriffsrechtfertigenden Zweckmäßigkeitsaspekte den Rang kollidierender Verfassungsgüter besitzen.361 Dies ist, wie er zutreffend feststellt, schon deshalb nicht plausibel, weil die Grundsätze der Schranken- und Vorbehaltsdogmatik nicht mit Blick auf den Gleichheitssatz entwickelt worden sind, der traditionell als Gebot persönlicher Rechtsgleichheit oder Verbot personenbezogener Diskriminierung verstanden wurde und in dieser Funktion absolut galt, so daß gar kein Bedarf für eine Beschränkungsdogmatik bestand.362 Insofern sieht Huster es insbesondere auch als problematisch an, im Zuge einer undifferenzierten Übertragung der Schrankensystematik der Freiheitsrechte die These aufzustellen, daß der Gleichheitssatz - wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte - nur

360

Gleichheit ( 1. Teil, Fn. 554), 548. Hierzu und zum folg. Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 548 m.w.N.; ausführlicher, ders., Rechte (Fn. 196), 233-239, dort auch in Auseinandersetzung mit Kloepfer. Siehe jetzt auch Martini (Fn. 199), 297 u. pass., der Art. 3 I „im Wege der teleologischen Reduktion" einen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt beifügen will. 362 Huster, Rechte (Fn. 196), 25ff.; ders., Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 541 m.w.N. in Fn. 1, 548; speziell unter dem Blickwinkel der Diskriminierungsverbote eingehend Sachs, Grenzen (Fn. 199), 21 ff., 93 ff. u. pass. 361

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durch Rechtsgüter mit Verfassungsrang eingeschränkt werden könne. Schon die Frage, ob es bei den Freiheitsrechten eine Schrankensystematik gebe oder eher ein „Schrankenwirrwarr" vorliege, sei ungeklärt. So werde etwa auch die Ansicht vertreten, daß das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts nicht ohne weiteres auf eine erhöhte Schutzwürdigkeit hindeute. Schließe man sich insoweit z.B. der These Schwabes an, daß „Fragen nach Rang und Bedeutung der Schrankengüter sinnvollerweise bei allen Grundrechten gleichermaßen in einer Abwägung abgearbeitet werden (sollten)", so lösen sich die diesbezüglich im Blick auf den Gleichheitssatz auftauchenden Probleme: Seine „materielle Eingriffsstruktur läßt sich dann dogmatisch nahtlos in die Verhältnismäßigkeitsprüfung übersetzen". 363 Nichts anderes gelte aber, wenn man an einer differenzierten Schrankensystematik festhalten will, denn die Forderung, daß vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte nur durch Rechtsgüter mit Verfassungsrang eingeschränkt werden dürften, sei jedenfalls nicht im Blick auf den Gleichheitssatz entwickelt worden. 364 Aus diesen Gründen sei eine selbständige, an den Besonderheiten des Gleichheitssatzes orientierte Schrankendogmatik erforderlich. Eine praktikable Lösung sieht Huster z.B. darin, keinen Verfassungsrang der Schrankengüter, sondern lediglich deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit zu verlangen. In der Sache sei der Gleichheitssatz, ähnlich wie die allgemeine Handlungsfreiheit, ein viel zu umfassendes Grundrecht, um in seiner ganzen Breite nur Beschränkungen durch Rechtsgüter mit Verfassungsrang zugänglich zu sein. Man könne sich daher in materieller (nicht in formeller) Hinsicht an die Interpretation der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG anlehnen und den Gleichheitssatz unter einen allgemeinen Vorbehalt der legitimen Verfolgung anderer Ziele stellen. „Die Gewichtungsfragen wandern hier wie da in die Verhältnismäßigkeitsprüfung". 365 Im übrigen sei es angesichts der Fülle gestaltungsbedingter Differenzierungen in einer auf eine umfassende Lenkung und Steuerung gesellschaft363

Huster, Rechte (Fn. 196), 238 f. m.w.N. Grundlegend zum Gesetzesvorbehalt C. Bumke (Fn. 181), s. insbes. auch 218 ff. zu dem hier anklingenden Streit zwischen der „Nivellierungsthese", die die Relevanz der Vorbehalte gering einstuft, weil die Wirkungen der Grundrechte nach dieser Position vor allem durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip entfaltet werden, und der „Differenzierungsthese", die den Vorbehalten eine erhebliche Bedeutung zuschreibt und aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausformung von stärkeren und schwächeren Grundrechten ausgeht. Aus den von Huster genannten Gründen kann dies hier jedoch auf sich beruhen, da ein solches System, wenn es denn existieren sollte, jedenfalls nicht auf den Gleichheitssatz übertragbar wäre, was den Akzent von vornherein zur Verhältnismäßigkeitsprüfung hin verschiebt. 364 Huster, aaO, 239. Sie wird auch heute im Schrifttum durchweg nicht auf den Gleichheitssatz bezogen, vgl. die Nachw. bei Sachs, Grenzen (Fn. 199), 23 f. mit Fn. 114-116. 365 Huster, Rechte (Fn. 196), 239. 29 Siehr

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licher Vorgänge ausgerichteten Rechtsordnung auch nicht möglich, einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in den Gleichheitssatz zu konstruieren; man sei hier eher auf einen behutsamen Rückgriff auf die Grundsätze der Wesentlichkeitstheorie angewiesen. „Dabei müßte sich die Wesentlichkeit der Schutzbereichskonkretisierung nach der Bedeutung des jeweiligen Grundrechts richten, während sich die Feststellung der Wesentlichkeit von Eingriffen zusätzlich an der Intensität der Ungleichbehandlung (im normativen Sinn) orientieren könnte". 366

c) Die Verhältnismäßigkeitsprüfung Ist auf den vorhergehenden Prüfungsstufen festgestellt worden, daß die maßstabsgerechte bzw. an den Rechten der Vergleichspersonen orientierte (Un-)Gleichbehandlung aus Gründen durchbrochen wurde, die sich aus Zielen ergeben, liegt also ein Eingriff vor, so ist nach Huster auf der Stufe der Schranken-Schranken zu prüfen, ob der Eingriff durch das Gewicht der Ziele gerechtfertigt ist. Handlungstheoretisch stellen diese Ziele externe Zwecke dar, und normativ handelt es sich um Rechtsgüter, die mit der Gerechtigkeit im engeren Sinn kollidieren. Abschließend ist somit nach seiner Ansicht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung möglich und geboten. 367 Möglich ist sie, weil dann ein echtes Zweck-MittelVerhältnis und ein Rechtsgüterkonflikt vorliegt, der sich in der bekannten Prüfungsabfolge - Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit für die nachteilig Betroffenen 368 - abarbeiten läßt. Und geboten ist sie, weil der Gleichheitssatz in den oben der Fallgruppe (2) zugeordneten Fällen, wie Huster überzeugend darlegt, sonst leer liefe. Die Willkürtheorie muß an dieser Stelle versagen, denn sie ist allein auf Entsprechungsprüfungen, nicht aber auf Abwägungen zwischen kollidierenden Gütern zugeschnitten. Werden dennoch Abwägungen vorgenommen, etwa in der Weise, daß die Verfolgung eines Ziels erst dann als sachlicher Grund anerkannt wird, wenn seine Bedeutung die Ungleichbehandlung rechtfertigt, so mangelt es diesem Verfahren an Transparenz, denn die 366

Huster, Rechte (Fn. 196), 238. Hierzu und zum folg. Huster, Rechte (Fn. 196), 239ff; ders., Gleichheit (l.Teil, Fn. 554), 549. 368 Vgl. Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn. 554), 549, der sich insoweit auf die Legitimation der Verteilungswirkungen von gestaltungsbedingten Ungleichbehandlungen bezieht. Dadurch wird sicherlich der gößte Teil von Ungleichbehandlungen, die aus dem „Bereich der Ziele" gerechtfertigt werden, erfaßt. Dennoch scheint der Begriff gerade auch im Blick auf Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen zu eng - es sei denn, man faßt den Begriff der Gestaltung sehr weit und bezieht ihn nicht nur auf allgemeine gesellschaftliche Lenkungs- und Steuerungsaufgaben, sondern auch auf spezifisch nationalstaatliche Zielsetzungen. 367

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Abwägung wird in Begriffe hineinverlagert, die diesen Vorgang nicht wiedergeben. So verlangt der Begriff des sachlichen Grundes z.B. nur, daß überhaupt ein legitimes Ziel verfolgt wird und fragt nicht nach der Möglichkeit weniger intensiver Ungleichbehandlungen. Gegen die theoretisch gegebene zweite Möglichkeit, wie bei der Fallgruppe (1) auch in der Fallgruppe (2) schlicht auf eine Abwägung zu verzichten, spricht wiederum die normative Intuition, daß dies zu massenhaften Ungerechtigkeiten führen kann. 369 Hier sieht Huster zu Recht auch den Hintergrund für Forderungen nach einer Integration des Verhältnismäßigkeitsprinzips in die Gleichheitsprüfung im neueren Schrifttum. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die klare Umschreibung des Problems bei v. Arnim, der kritisiert, daß das Bundesverfassungsgericht und die herrschende Rechtslehre Gerechtigkeit im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes mit dem Ausschluß von Willkür gleichsetzten, Willkür jedoch nur dann gegeben sein soll, wenn es überhaupt an einem für die Regelung sprechenden Grunde fehlt. „Dies führt dazu, daß schon irgendein für die Ungleichbehandlung sprechendes Argument den Gleichheitsverstoß ausschließen kann, sofern dieses Argument nicht neben der Sache liegt oder sonst offensichtlich falsch ist. Es bleibt kein Raum mehr für Fragen, wie z.B. die, ob es sich um einen besonders krassen oder eklatanten Gerechtigkeitsverstoß handelt, ob der Gerechtigkeitsverstoß zur Erreichung der angestrebten Ziele erforderlich ist oder ob es noch andere gleichfalls geeignete Mittel gibt, die zu keiner oder nur einer geringeren Beeinträchtigung der Gerechtigkeit führen würden, und ob der Gerechtigkeitsverstoß nicht unverhältnismäßig schwer ist im Vergleich zu den mit der Maßnahme angestrebten Zielen. Denn ein solcher Gerechtigkeitsverstoß liegt in der Sache ex definitione gar nicht mehr vor. Dadurch, daß einer der kollidierenden Werte, nämlich der der Gerechtigkeit, vorab ,weggezaubert' wird, erübrigt sich eine Abwägung. Der Abwägungsprozeß wird auf diese Weise von vornherein zu Lasten der Gerechtigkeit abgeschnitten'". 37° Huster spitzt diese Kritik im Blick auf sein Modell noch weiter zu: Diese Interpretation pervertiere den Gleichheitssatz geradezu, weil sie diejenigen Ziele zu sachlichen Gründen und damit zu inhaltsbestimmenden Elementen des Gleichheitssatzes mache, die der Gerechtigkeit gerade entgegengesetzt seien. 371 369

Zu beiden Möglichkeiten Huster, Rechte (Fn. 196), 240. Hans Herbert v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, 157f.; vgl. dazu Huster, Rechte (Fn. 196), 240f.; s. auch ders, Gleichheit (l.Teil, Fn. 554), 544. Die These von der Gleichsetzung der Gerechtigkeit mit dem Ausschluß von Willkür wird man allerdings bezweifeln dürfen. Doch gilt auch dann, daß v. Arnim treffend ein Defizit der Willkürtheorie umreißt und dieses Defizit in einem schmerzlichen Gegensatz zur Erläuterung des Art. 3 I GG durch das traditionelle Gerechtigkeitsgebot, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, steht. 371 Huster, Rechte (Fn. 196), 241. 370

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Im Ergebnis ist damit festzuhalten, daß Huster in der Fallgruppe (1) - zu der auch § 8 BAföG zu rechnen wäre - lediglich eine Entsprechungsprüfung durchführen will und hier auch den Anwendungsbereich des Willkürverbotes sieht. Hingegen hält er in Fallgruppe (2) - die auch den oben diskutierten Haftentschädigungsfall einschließen würde - die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht nur für möglich, sondern auch für geboten, da in diesen Fällen ein Spannungsverhältnis zwischen der vom Gleichheitssatz verlangten Behandlung „als Gleicher" bzw. dem Gebot sachbereichsbezogener Gerechtigkeit, und der - nicht per se unzulässigen - Verfolgung bestimmter externer gesellschaftlicher Ziele bestehe. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Ungleichbehandlung (im normativen Sinn) lasse sich nur beantworten, wenn - neben der Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Ungleichbehandlung zur Zweckerreichung - die Intensität der Ungleichbehandlung (im normativen Sinn) gegenüber der (gesamtgesellschaftlichen) Bedeutung der externen Ziele abgewogen wird.

d) Zur Kritik an diesem Ansatz Teilweise wird ausgehend von einer Auslegung des Art. 3 Abs. 1 als ein unter einem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt stehendes Gebot absoluter persönlicher und sachlicher Rechtsgleichheit Husters Unterscheidung zwischen internen und externen Zwecken angegriffen: Lehnt man die herrschende Meinung ab, die - so Martini - den allgemeinen Gleichheitssatz im Sinne der relativen aristotelischen Gerechtigkeitsgleichheit als Gebot interpretiere, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, damit aber eine inhaltsleere und zugleich für Mißbrauch anfällige Formel zugrunde lege, so könne es nur noch externe Zwecke geben, weil dann jedes Regelungsziel, das auf eine (schematische) Ungleichbehandlung gerichtet ist, mit dem Gleichheitssatz kollidiere. 372 Hier ist allerdings der Ausgangspunkt der Kritik nicht überzeugend: Einmal abgesehen von der stark verkürzten Wiedergabe der herrschenden Meinung zieht auch das Mißbrauchsargument nicht, wenn die Schwierigkeiten in der Materie selbst begründet liegen und zudem nicht etwa ein „Mißbrauchsresistenter" Gegenvorschlag unterbreitet wird, sondern einer, der von der fast absurd anmutenden Vorstellung ausgeht, daß jeder zunächst einmal aus Art. 3 Abs. 1 GG einen Anspruch auf die gleiche Behandlung wie jeder andere haben soll, ohne daß es darauf ankommt, ob die Vergleichspersonen in relevanter Hinsicht gleich sind - also der Multimillionär auf Sozialhilfe, der (männliche)

372

Martini (Fn. 199), 115 ff., 124 ff., 135 ff. (145 f.), 187 ff.; zu Huster bes. 197 ff., zusammenfassend 297 ff. u. pass.

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Matrose auf Mutterschutz? Man will kaum glauben, daß das so gemeint sein könnte, doch stellt Martini ausdrücklich fest, daß die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Gleichbehandlung und das korrespondierende subjektive Recht des einzelnen unabhängig von in der Person, dem Verhalten, der jeweiligen Situation oder in sonstiger Hinsicht zwischen den Betroffenen existierenden Unterschieden bestehe; der allgemeine Gleichheitssatz daher eine in diesem Sinne absolute persönliche und sachliche Rechtsgleichheit aller Menschen schütze. Der ungeschriebene Gesetzesvorbehalt erlaube dann jedoch notwendige gesetzliche Differenzierungen, sofern sie den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips standhalten.373 Die damit erzielte Ergebniskorrektur vermag an der Unsinnigkeit des zunächst postulierten prima facie-Rechts auf schematische Gleichbehandlung, mit dem Argument, daß Sinn und Zweck eines Gleichheitssatzes nur die Gewährleistung von Gleichheit nicht von Ungleichheit sein könne, 374 jedoch nichts zu ändern. Zudem bleibt unklar, wo der Rationalitätsgewinn angesichts der dann doch erforderlichen Beurteilung der Sachgerechtigkeit oder Angemessenheit von Differenzierungen liegen soll. Schließlich stellt die herrschende Vorstellung von der Relativität der Gleichheit den von Martini betonten Grundsatz der Gleichbehandlung aller Menschen auch keineswegs in Abrede, sondern verdeutlicht nur, daß der Gleichheitssatz den Personen in ihrer jeweiligen Situation gerecht werden will und insofern der bereichs- und kontextspezifischen Konkretisierung bedarf Es wird also nicht etwa das Gleichbehandlungsgebot als solches relativiert, sondern lediglich die sich aus der Bezogenheit auf die je besonderen Verhältnisse ergebende Relativität des für die (Un-)Gleichbehandlung jeweils konkret zugrunde zu legenden Maßstabes in Rechnung gestellt. 375 Nach alledem vermag die von der Prämisse absoluter Rechtsgleichheit ausgehende Kritik an Huster nicht zu überzeugen. Auch von anderer Seite wird Husters Unterscheidung zwischen internen und externen Zwecken kritisiert: Insbesondere Heun wendet ein, daß selbst dann, wenn sich die Schwierigkeit einer Abgrenzung zwischen internen Würdigkeitsmerkmalen und externen Zwecken noch überwinden lassen sollte, doch übersehen werde, daß „die Gerechtigkeitsmaßstäbe ihrerseits nicht nur auf Würdigkeitsgesichtspunkten beruhen, sondern selbst häufig Ausdruck externer Ziele sind oder diese zumindest auch verfolgen". 376 Ferner seien die sachbereichsbezogenen Gerechtigkeitsmaßstäbe, wie etwa das Prinzip der Leistungsfähigkeit, in hohem Maße selbst noch konkretisierungsbedürftig. Bei der Konkretisierung könnten wiederum exter373 374 375 376

Martini (Fn. 199), zusammenfassend 297, zuvor 117 ff. (123), 185, 187 ff. u. pass. AaO, 137. Dazu Rüfner, in: BK, Rn. 5 zu Art. 3 I. Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd. I, Rn. 27 (auch zum folg.).

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ne Zwecke eine Rolle spielen. Außerdem könnten mehrere Maßstäbe in einem Bereich ineinanderlaufen, beispielsweise bei der Begriffsbildung und Konkretisierung der Leistungsfähigkeit im Steuerrecht Würdigkeitsgesichtspunkte ebenso eine Rolle spielen wie gesellschaftliche Steuerungszwecke (z.B. sozialer Ausgleich, Leistungsanreize, Stabilität, Staatsfinanzen). Schließlich sei auch nicht recht nachvollziehbar, daß der Gesetzgeber bei der Wahl der Gerechtigkeitsmaßstäbe nur an das Willkürverbot gebunden sein solle, dann jedoch in vollem Umfang gezwungen sein solle, sich daran zu halten, es sei denn, externe Zwecke rechtfertigten erne Abweichung. Dies würde zudem zu einer mehrfachen Prüfung der Zwecke führen - nämlich sowohl bei der Bildung und Konkretisierung der Gerechtigkeitsmaßstäbe als auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung - und auch eine erhebliche Verschärfung der Kontrolldichte nach sich ziehen. Aus diesen Gründen sei an der bisherigen Struktur der Gleichheitsprüfung festzuhalten. Was zunächst den ersten Kritikpunkt anbelangt, der darauf zielt, daß die Trennung interner und externer Zwecke sich nicht durchhalten lasse: Soweit Heun dies auf die Frage der Maßstabsbildung bezieht, ist der Einwand auf der Basis von Husters Darlegungen nicht plausibel, da Zweckmäßigkeitserwägungen bei der Konkretisierung eines Gerechtigkeitsmaßstabes nicht zugelassen sein dürften, d.h. man könnte den Maßstab der Leistungsfähigkeit im Steuerrecht nicht durch gesellschaftliche Steuerungszwecke konkretisieren, 377 sondern müßte diese als konkurrierende externe Ziele begreifen. Richtig ist jedoch, daß sich hinsichtlich einzelner Normkomplexe die Trennung häufig nicht wird sauber durchhalten lassen, da oft verschiedene Zielsetzungen zugleich verfolgt werden. Wie Rüfher hervorhebt, wird beispielsweise nicht selten versucht, in Maßnahmen, die zu einem bestimmten Verhalten anreizen sollen, verteilungspolitische Zielsetzungen einzubauen oder verteilungspolitische Maßnahmen auf einen Lenkungszweck auszurichten. So schwankt die gesamte Spar- und Wohnraumförderung zwischen verteilungspolitischen Zielsetzungen und wirtschaftspolitischen Anreizen. 378 Gleichwohl umschreibt Rüfher die idealtypische Unterscheidung von zwei Fallgruppen in einer Weise, die der Husters sehr nahe kommt: Auf der einen Seite Ungleichbehandlungen, deren Rechtfertigung in dem entsprechend den verfassungsrechtlichen Wertungen ausgelegten Gleichheitssatz liege, auf der anderen Seite die bewußte und gewollte Abweichung von der Gleichbehandlung aus Gründen, die Jenseits der Individualgerechtigkeit liegen, z.B. aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität, der Wirtschaftslenkung, des Umweltschutzes 377 Die Konkretisierungsbedürftigkeit als solche kann man natürlich nicht Husters Modell anlasten, aber so ist die Kritik Heuns wohl auch nicht gemeint, auch wenn man nach dem einleitenden „Ferner" ein neues Argument erwarten würde. 378 Rüfiier, in: BK, Rn. 98 zu Art. 3 I.

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oder der besonderen Gefährlichkeit bestimmter Tätigkeiten". 379 Er gelangt auch zu vergleichbaren dogmatischen Konsequenzen: hier die typisch gleichheitsrechtliche Angemessenheitsprüfung im Sinne der grundlegenden Ausführungen Lerches, also eine Prüfung auf verhältnismäßige Gleichheit; dort hingegen das übliche Schema der Verhältnismäßigkeitsprüfung. 380 Die Mischung verschiedener Zielsetzungen wird insoweit lediglich als ein Umstand gewertet, der die verfassungsrechtliche Bewertung erschwere. Rüfher folgert daraus, daß die Unterscheidung zwischen den beiden idealtypischen Fallgruppen in der Praxis nur den „Schwerpunkt" der Gleichheitsprüfung markieren könne. 381 Vor diesem Hintergrund muß es erstaunen, daß Heun sich im Rahmen seiner Kritik an Huster ausdrücklich auf Rüfner beruft, 382 denn dessen Position scheint die Husters eher zu stärken, und zwar nicht nur aufgrund inhaltlicher Parallelen, sondern auch weil er den Einwand Heuns aufnimmt und zugleich entkräftet: 383 Idealtypische Gruppenbildungen - oder allgemeiner: Abgrenzungsversuche unterliegen in der Praxis fast regelmäßig Relativierungen bzw. lassen sich nicht trennscharf durchführen. Hält man die gefundenen Kriterien und die daran anknüpfenden Lösungen jedoch für brauchbar, so sucht man den Ausweg oft darin, daß man nach dem Schwerpunkt oder Schwergewicht einer Regelung fragt. Lassen sich Regelungen innerhalb eines Regelungskomplexes getrennt beurteilen (und aufrechterhalten), so könnte man im einen Falle nach der Angemessenheit der Ungleichbehandlung (im schematischen Sinn) im Blick auf das Streben nach verhältnismäßiger Gleichheit, im anderen nach der Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung (im normativen Sinn) fragen. Sind die Normen hingegen so stark aufeinander bezogen, daß sie miteinander „stehen und fallen", sich also vielleicht getrennt beurteilen, jedoch keinesfalls getrennt aufrechterhalten lassen, so wäre eine Gesamtbetrachtung anzustellen. Dabei wäre zu erwägen, ob das positive Ergebnis einer Angemessenheitsprüfung hinsichtlich bestimmter 379

AaO, Rn. 92 ff. (95) zu Art. 3 I. AaO, 96 f. m.w.N. Es wird also gefragt, ob die Abweichung von der an sich gebotenen Gleichheit einem rechtmäßigen, insbesondere verfassungsmäßigen Ziel dient, zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich und schließlich auch unter Abwägung der Abweichung von der Gleichheit und dem angestrebten Ziel angemessen ist. 381 Rüfner, aaO, Rn. 99 zu Art. 3 I. 382 Vgl. Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm, Bd. I, Rn. 27 mit Fn. 149 zu Art. 3. 383 Diese inhaltlichen Parallelen sieht auch Huster (vgl. Gleichheit [l.Teil, Fn.554], 544, Fn. 38; ders. Rechte [Fn. 196], 191 f.), der im übrigen auch den Einwand Heuns teilweise vorwegnimmt, vgl. Rechte (Fn. 196), 243, jedoch zu Recht daraufhinweist, daß diese Unterscheidung häufig getroffen werde. Desweiteren betont er, daß, auch wenn Prinzipien, Begriffe und Unterscheidungen nicht völlig eindeutig seien und Zweifelsfälle bestehen ließen, dies allein nicht dazu führen könne, ihre Legitimität insgesamt in Frage zu stellen. Ob eine Unterscheidung sinnvoll sei und sich in der alltäglichen Dogmatik durchhalten lasse, könne sich nur anhand konkreter Probleme erweisen. 380

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interner Zwecke der Regelung bei einer Abwägung, die aufgrund einer von externen Zielen getragenen Abweichung von der an sich gebotenen Gleichbehandlung im Blick auf andere Teile des Regelungswerkes erforderlich wird, nicht zugunsten der Abweichung ins Gewicht fallen müßte, und zwar unter dem Aspekt, daß insoweit doch immerhin „ein Stück Gerechtigkeit" realisiert wird. Vor dem Hintergrund des Rawls'schen Differenzprinzips könnte dies jedenfalls dann zu bejahen sein, wenn auch der an sich Benachteiligte von der Gesamtregelung noch einen Vorteil hätte. Wie dem auch sei: Es ist zumindest nicht erkennbar, daß diese Fallkonstellationen etwa unüberwindbare Schwierigkeiten mit sich brächten, die der grundlegenden Differenzierung zwischen den beiden Fallgruppen ihren Sinn nähmen. Tatsächlich spricht auch Heun davon, daß „die diagnostizierte, idealtypische Differenz zwischen Gerechtigkeitsmaßstäben und externen Zielen (...) im Rahmen der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu beachten" sei, wobei allerdings nicht ganz klar wird, wie das unter Zugrundelegung der „bisherigen Struktur der Gleichheitsprüfung" geschehen sollte. 384 Der zweite Einwand betraf die Frage des unterschiedlichen Grades der Bindung des Gesetzgebers auf der ersten bzw. zweiten Prüfungsstufe. Hinsichtlich des durch die bloße Anwendung der Willkürformel eröffneten weiten Spielraumes des Gesetzgebers bei der Wahl und Konkretisierung der Gerechtigkeitsmaßstäbe bewegt man sich auf dem von Leibholz erschlossenen Terrain, kann diese also nach wie vor als Antwort auf kompetenzrechtliche Probleme im Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber begreifen. 385 Man muß auch Husters eher skeptische Haltung gegenüber tendenziellen Verschärfungen, wie er sie in der „neuen Formel" sieht, nicht unbedingt teilen - schließlich scheint sie nur das, was Lerche einst treffend zur typischen Gleichheitsprüfung ausführte, in eine für die verfassungsgerichtliche Praxis handhabbare Formel zu gießen - doch ist seine vom mainstream insoweit kaum unterscheidbare Position wohl nicht weiter begründungsbedürftig. Anders sieht es hinsichtlich der zweiten Prüfungsstufe aus. Sie markiert den eigentlichen Unterschied zur herkömmlichen Ausrichtung der Prüfung allein am Willkürverbot, entspricht allerdings nur dem, was in der neueren Literatur so vehement gefordert wird: der Einbau des Verhältnismäßigkeitsprinzips in die Gleichheitsprüfung. Der entscheidende Fortschritt liegt darin, daß Strukturen aufgezeigt werden, aus denen sich ergibt, wann dies paßt und sogar geboten ist und wann nicht. Heun stößt sich nun daran, daß der Gesetzgeber auf der ersten Prüfungsstufe bei der Wahl und Konkretisierung der Gerechtigkeitsmaßstäbe relativ frei sein, 384 385

Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 27 zu Art. 3. Siehe dazu oben bei Fn.251 (S.406f.).

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dann jedoch in vollem Umfang gezwungen sein soll, sich daran zu halten, es sei denn, externe Zwecke rechtfertigten eine Abweichung. Doch ist der große gesetzgeberische Spielraum auf der ersten Stufe die Folge einer eindeutigen Kompetenzzuweisung: Nur der unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber soll innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft die Kompetenz zur Konkretisierung bereichsspezifischer Gerechtigkeitsmaßstäbe besitzen, die dem fundamentalen Gebot der Gleichbehandlung (im normativen Sinn) gerecht werden. Der Umstand, daß auf der zweiten Stufe jede Abweichung rechtfertigungsbedürftig ist, erklärt sich in der Diktion Husters daraus, daß ein Eingriff in den Gleichheitssatz - den er insoweit als prima facie-Recht begreift, das ein „Schwellengewicht" besitzen muß - vorliegt, wenn die auf der Schutzbereichsebene festgestellten spezifischen Gerechtigkeitsnormen durchbrochen werden. Man kann dies in Anlehnung an Dworkin (oder Alexy) so ausdrücken und prinzipientheoretisch in stringenter Form darstellen. Wie insbesondere die Darlegungen Rüfners zeigen, muß man dies aber nicht, um zu diesem Ergebnis zu kommen: 386 So wie im Bereich der Freiheitsrechte die Freiheit den Ausgangspunkt bildet und jede Freiheitsbeschränkung rechtfertigungsbedürftig ist, so bildet auch im Blick auf den Gleichheitssatz die Gleichbehandlung im normativen Sinn den Ausgangspunkt, so daß in dem Augenblick, in dem sich aufgrund gesetzgeberischer Vorgaben eine Aussage darüber treffen läßt, was sie gebietet, jede als Eingriff in die Gleichheit 387 zu bewertende Abweichung aus Gründen, die Jenseits der Individualgerechtigkeit liegen", 388 rechtfertigungsbedürftig ist. Wenn man dabei den Gesetzgeber an der von ihm getroffenen Gerechtigkeitsentscheidung, durch die er die Gleichheitsforderung konkretisiert hat, festhält, so ist das, wie Huster betont, nicht zuletzt Ausdruck des Umstandes, daß man die gesetzgeberische Grundkonzeption ernst nimmt, ein Gedanke, der im übrigen auch bislang schon in der Figur der Systemgerechtigkeit dogmatisch umgesetzt wurde. 389 Bleiben die Einwände der doppelten Prüfung der Zwecke auf beiden Prüfungsstufen und der Verschärfung der Kontrolldichte. Zu ersterem ist zu sagen, daß auch nach Husters Ansicht selbst dann, wenn man den Fehler, die Maßstäbe der beiden Prüfungen durcheinanderzubringen, vermeide, „das Verhältnis dieser 386

Dies bezieht sich allein auf die Frage, ob eine Erläuterung nur auf der Basis der Prinzipientheorie möglich ist, nicht auf die Sachfrage, ob sich der Gleichheitssatz dem Eingriffs-Schranken-Schema fügt oder nicht. Hier ist Huster beizupflichten, wenn er Rüthers Ablehnung einer Differenzierung von Schutzbereich und Eingriff (vgl. Rüfher, in: BK, Rn. 96 a.E. zu Art. 3 I - nicht 97, wie es bei Huster versehentlich heißt) bei gleichzeitiger Verwendung des Vokabulars der Eingriffsdogmatik („Eingriff 4, „Verhältnismäßigkeitsprüfung" etc.) als inkonsequent ansieht; vgl. Huster, Rechte (Fn. 196), 192. 387 Rüfner, in: BK, Rn. 97 zu Art. 3 I. 388 Rüfner, aaO, Rn. 95 zu Art. 3 I. 389 Huster, Rechte (Fn. 196), 244.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Ebenen zueinander ein neuralgischer Punkt des Modells" bleibt. 390 Man kann in dieser Doppelung tatsächlich einen Nachteil, aber ebenso gut eine Möglichkeit zur „Gegenprobe" unter einem neuen Gesichtspunkt und damit zur Fehlerkorrektur sehen. Zudem stellt sich das Problem natürlich auch nur dann, wenn die Entsprechungsprüfung negativ ausfällt, also eine Abweichung von den jeweils für maßgeblich erkannten Gerechtigkeitsmaßstäben vorliegt. Hinsichtlich des zweiten Einwandes ist anzumerken, daß einer Verschärfung der Kontrolldichte auf der einen Seite ein völliger Abwägungsausfall auf der anderen Seite gegenübersteht. Da externe Zwecke regelmäßig sachliche Gründe sind, findet, wie oben ausgeführt wurde, sonst schlicht keine weitere Prüfung mehr statt. Zudem handelt es sich bei dem Erfordernis der Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Ungleichbehandlung zur Erreichung bestimmter externer Zwecke doch wohl um eine Selbstverständlichkeit, und hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit i.e.S. läßt sich über die Frage, inwieweit dies stets mit einer erheblichen Verschärfung der Kontrolldichte Hand in Hand gehen muß, noch streiten. Immerhin wird in anderem Zusammenhang im Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG geltend gemacht, daß auch innerhalb der Verhältnismäßigkeitsabwägung die Kontrolldichte sach- und regelungsbereichsspezifisch sehr variabel bis zu einer Evidenzprüfung heruntergeschraubt werden könne. 391 Zudem könnte eine gewisse Steigerung der Kontrolldichte sogar gerechtfertigt sein: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steigen die Anforderungen an die sachlichen Gründe ,je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann". 392 Die Kontrolldichte steigt also in diesem Fall bzw. die Ungleichbehandlung (im normativen Sinn) kann nur durch besonders gewichtige Gegengründe (externe Ziele) gerechtfertigt werden. Dies könnte im Rahmen von Husters Modell auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung angemessen berücksichtigt werden. - Überraschend ist nun allerdings, daß auch Heun diese Rechtsprechung zitiert und meint, daß insoweit der Rückgriff auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip nahe liege. 393 Es fragt sich, was damit von seinen Einwänden gegen Husters Konzeption übrig bleibt oder umgekehrt: wie sowohl die idealtypische Differenz zwischen Gerechtigkeitsmaßstäben und externen Zielen berücksichtigt als auch auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip 390

Huster, aaO, 242 f. So bezogen auf Art. 3 I Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz Komm., Rn. 33 zu Art. 3, im Zusammenhang mit der Frage, ob für die Prüfung des Willkürverbots neben einer Verhältnismäßigkeitsabwägung (als die Katzenstein die „neue Formel" wertet; vgl. sein Sondervotum BVerfGE 74, 9 (28 ff. [30]) noch Raum bleibt. 392 BVerfGE 88, 87 (96); E 91, 346 (363). 393 Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd.I, Rn.29 mit Fn. 162 zu Art. 3; zum folg. auch, aaO, Rn. 27. 391

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zurückgegriffen und dennoch an der bisherigen Struktur der Gleichheitsprüfung festgehalten werden kann. Heun liefert dafür keine nachvollziehbare Erklärung. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, daß die Kritik an Husters Modell nicht überzeugt. Positiv läßt sich hingegen feststellen, 394 daß es ihm gelingt, die herkömmliche Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes mit neueren Bestrebungen in Richtung auf die Mobilisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu verbinden und dabei auch dem selbstgesetzten Anspruch, das Verhältnis von Grundrechtsinteressen und Kollisionsgütern offenzulegen, gerecht zu werden. 395 Zudem enthält das von ihm vorgeschlagene Modell auch eine (nachträgliche) Erklärung für die bisher eher intuitiv erfolgte Anwendung dieses Prinzips in bestimmten Bereichen und bietet zugleich klarer strukturierte Vorgaben für den künftigen Umgang mit Art. 3 Abs. 1 GG (natürlich ohne etwa damit Lösungen für alle Zweifelsfälle zu präsentieren). Als Beispiel für die (nicht eingestandene) Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips lassen sich die von Huster eingehender analysierten typisierungsbedingten Ungleichbehandlungen396 anführen: Für typisierende Normen ist kennzeichnend, daß aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität oder der Rechtssicherheit Differenzierungen vorgenommen oder unterlassen werden, die nach dem „eigentlichen" Normzweck nicht vorgenommen werden dürften bzw. vorzunehmen wären, d.h. solche Normen nehmen es aus sekundären Rücksichten in Kauf, „over-" oder „under-inclusive" zu sein, und geraten so mit dem Gleichheitssatz in Konflikt. Dies wird in Literatur und Rechtsprechung auch vielfach so wahrgenommen: Von einem „Verstoß gegen den Gleichheitssatz"397 ist ebenso die Rede wie von „Härten oder Ungerechtigkeiten", 398 die dies zur Folge haben könne. Dementsprechend wird dann in der Rechtsprechung regelmäßig eine Abwägung vorgenommen, in der geprüft wird, ob die Vorteile der Typisierung im „rechten Verhältnis" zu den mit ihr verbundenen Ungerechtigkeiten stehen,399 wobei namentlich das Bundesverfassungsgericht weitere Anhaltspunkte dafür herausgearbeitet hat, wann dies der Fall sein soll. 4 0 0 394 Siehe in diesem Zusammenhang auch die sehr positive Bewertung von Huster, Rechte (Fn. 196), in der Rezension von Sachs, in: DVB1. 1995, 480 f. 395 Huster, Gleichheit (l.Teil, Fn.554), 549. 396 Huster, aaO, 545; ausführlich ders., Rechte (Fn. 196), 5. Kapitel (Gleichheitssatz und Typisierung), 245 ff. 397 BVerfGE 26, 265 (276); E45, 376 (390); E79, 87 (100); E82, 126 (152). 398 BVerfGE 26, 265 (275f.); E42, 176 (185); E63, 119 (128); E82, 60 (97); E84, 348 (360). 399 BVerfGE 45, 376 (390); E 63, 119 (128); E 84, 348 (360, 364 f.). 400 Für eine ausführliche Rechtsprechungsübersicht s. Ingolf Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, Baden-Baden 1991, 243 ff, sowie Huster, Rechte (Fn.196), 273 ff.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Dieses Vorgehen wertet ein Teil der Literatur als Übergang zu einer „Prüfung der Verhältnismäßigkeit zwischen Typisierung und Gleichheitsinteresse" im „Rahmen der Gleichheitsfrage". 401 Andere kritisieren, daß in bestimmten Bereichen nach wie vor nur eine Willkürkontrolle stattfinde und äußern die Hoffnung auf eine künftige Korrektur durch die Rechtsprechung des 1. Senats. 402 Dabei wird häufig nicht weiter reflektiert, daß nach herkömmlicher Dogmatik gar nichts anderes als eine Willkürkontrolle stattfinden darf. Nach Husters Modell des Gleichheitssatzes ist hingegen klar, daß in diesen Fällen tatsächlich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden kann und muß, denn die Typisierungen beruhen zwar regelmäßig auf sachlichen Gründen und können auch durchaus gerechtfertigt sein, doch ist dies, da die sie tragenden Zweckmäßigkeitserwägungen sich als externe Zwecke darstellen, im Einzelfall durch eine Abwägung zu ermitteln. Insofern wird hier die höchstrichterliche Rechtsprechung im Ergebnis bestätigt, aber auch jenseits dieser - in der Praxis wichtigen - Spezialfrage eine größere Transparenz in der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG erreicht. Die Ausführlichkeit, mit der diese Gleichheitskonzeption geschildert wurde, ist, wie oben bereits angedeutet, natürlich nicht ohne Hintergedanken erfolgt, denn was sich nunmehr anschließen wird, ist die Übertragung dieser Überlegungen auf das spezielle Problem von Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen.

4. Folgerungen für Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen Das Problem der Deutschenrechte ist, wie im Laufe der Untersuchung deutlich geworden ist, im Kern ein Gleichheitsproblem. Dies gilt prinzipiell sowohl für die Deutschenvorbehalte im Bereich der Freiheitsrechte als auch für die im Bereich der staatsbürgerlichen Rechte im engeren Sinne, wie insbesondere auch das mehrfach erwähnte Walzer-Zitat plakativ zum Ausdruck bringt. 403 Doch ist die Funktion der Deutschenvorbehalte aus den oben eingehend analysierten Gründen unterschiedlich: Stehen sie bei den staatsbürgerlichen Rechten, da die Zugehörigkeit als unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung der „Mitgliedschaftsrechte" gesehen wird, stellvertretend für die Nachfrage nach dem „Mitgliedschaftsausweis", so daß Nichtmitglieder im Regelfall definitiv ausgeschlossen sind (es sei denn, es werden ausdrückliche Ausnahmen gemacht, vgl. 401

Pernice, aaO, 248; Rüfiier, in: BK, Rn. 114 u. 307 zu Art. 3 I. Schoch, Gleichheitssatz (Fn. 199), 879 f.; für eine ausführliche Darstellung der Diskussion s. Huster, Rechte (Fn. 196), 299 ff. m.w.N. 403 Siehe oben S. 120. 402

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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z.B. §7 Abs.3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 und Abs.2 BBG, §4 Abs.3 BRRG), so begründen sie bei den Freiheitsrechten lediglich eine zusätzliche „Eingriffsreserve", von der der Staat Gebrauch machen kann, um die ihm vorrangig gegenüber seinen Angehörigen obliegenden „special duties" zu erfüllen oder spezifisch staatliche Belange zu verfolgen (wobei dies, nicht anders als sonst bei Grundrechtsschranken, im Einzelfall rechtfertigungsbedürftig bleibt). Soweit die Deutschenvorbehalte reichen, driften also die in Art. 3 Abs. 1 GG anerkannte menschenrechtliche Gleichheit und die staatsbürgerliche Gleichheit, die zwischen den Deutschen untereinander besteht, auseinander. So entsteht eine bei den feierlichen Proklamationen der Menschen- und Bürgerrechte nicht mitgedachte, für den menschenrechtlich fundierten Verfassungsstaat schmerzliche Kluft zwischen jenen, die als seine Angehörigen im Staat als „Mensch und Bürger" berechtigt sind und jenen, deren gleiche Freiheit zwar prinzipiell auf der Grundlage der ersten drei Grundgesetzartikel in gleicher Weise anerkannt ist wie die der Deutschen, für die dies dann aber auch im Bereich des traditionell als Freiheit des Menschen „vom Staat" definierten status negativus nicht durchgängig gilt. Wie oben ausführlich dargelegt wurde, steht hinter den Deutschenvorbehalten der Freiheitsrechte 404 ein zweites legitimatorisches und zur Menschenrechtsidee gegenläufiges Prinzip des sich schon durch den bloßen Akt der Staatsgründung inmitten einer Vielzahl anderer Staaten notwendigerweise diesen gegenüber abgrenzenden deutschen Verfassungsstaates: Die Vorstellung, daß dieser historisch-konkrete Staat sich als Staat einer ganz bestimmten (Staatsbürger-)Nation auch daraus legitimiere, daß er gerade die Interessen des deutschen Volkes - insgesamt, aber auch seiner einzelnen Angehörigen - vertritt und speziell seinen Angehörigen gegenüber die aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis folgenden besonderen Pflichten, namentlich die Schutzpflicht, erfüllt. Insoweit kann das Gebrauchmachen von der mit den Deutschenvorbehalten gegebenen „Eingriffsreserve" zwar durchaus legitim und im Ergebnis gerechtfertigt sein. Dennoch entsteht dadurch zunächst einmal eine Spannungslage zu dem im Rückgriff auf die Prinzipien von 1789 ganz bewußt menschenrechtlich gefaßten allgemeinen Gleichheitssatz. Man kann die Durchbrechung des Prinzips der gleichen Freiheit aller als Freiheitsproblem auffassen, wie es die herrschende Lehre tut, indem sie den Weg über Art. 2 Abs. 1 GG beschreitet, denn tatsächlich werden die Ausländer ja in der Ausübung einer Freiheitsbetätigung - etwa der Freiheit der beruflichen Betätigung - beschränkt. Schon die Überlegung, daß es um ein ganz anderes Problem ginge, wenn alle Deutschen in gleicher Weise in der Freiheit der entsprechenden beruflichen 404

Hinsichtlich der Staatsbürgerrechte i.e.S. stellt sich der Zusammenhang mit der Nation und dem Nationalstaatsprinzip, wie oben dargelegt, wieder etwas anders dar.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Betätigung beschränkt wären, zeigt jedoch, daß der eigentliche Schwerpunkt hier in einem Gleichheitsproblem liegt. Das spricht dafür, die Lösung des Problems auch schwerpunktmäßig im Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG zu suchen.405 Ein Widerschein dieser Problematik ist im übrigen auch auf der Ebene der politischen Philosophie zu beobachten: Die Philosophie der Freiheit setzt, wie oben gezeigt wurde, die gleiche Freiheit aller voraus, wobei die Gleichheit immer auf die Freiheit bezogen ist. Doch indem sie sie voraussetzt, kann sie sie nicht mehr als Problem aufgreifen, sofern sie einmal nicht gegeben sein sollte. Die möglichen Ursachen für ihr Fehlen werden aufgrund der gesetzten Prämisse der „Separation der Völker" gar nicht erst thematisiert, die Konsequenzen folglich auch nicht reflektiert. So gibt es bei Kant zwar den nicht stimmberechtigten „Schutzgenossen", doch werden bei Erlaß der „allgemeinen Gesetze" immerhin auch seine Interessen berücksichtigt. Soweit jedoch in der geschilderten Weise von der mit den Deutschenvorbehalten gegebenen „Eingriffsreserve" Gebrauch gemacht wird, werden die Interessen des Nichtdeutschen gerade gegenüber denen des Deutschen zurückgestellt. Der nichtdeutsche Einwanderer steht also unterhalb des „Schutzgenossen", eine Kategorie, die bei Kant, der nur zeitweilig sich im Lande aufhaltende Kaufleute kannte, nicht existiert. Wie oben schon angedeutet, ist das diesbezügliche Versagen der Philosophie der Freiheit, die die Gerechtigkeit als eine Funktion der Freiheit betrachtet, also angenommen hatte, daß bei Sicherung der größtmöglichen gleichen Freiheit aller im Gefolge der Freiheit auch Gerechtigkeit herrschen werde, mit ein Grund für die Renaissance der Gerechtigkeitsphilosophien: Die Gerechtigkeitsfrage muß sich in dem Augenblick in voller Schärfe neu stellen, in dem das Prinzip der gleichen Freiheit aller nicht zum Zuge kommt und die Gerechtigkeit damit aus ihrer funktionellen Einheit mit der Freiheit gelöst wird. Tatsächlich wird aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit das Problem in der Gerechtigkeitsphilosophie dann auch behandelt; nicht zufällig hat gerade Walzer in seinem grundlegenden Werk „Sphären der Gerechtigkeit" so nachdrücklich darauf hingewiesen. Sicherlich läßt es sich auch aus der Perspektive der Philosophie der Freiheit, die von der gleichen Freiheit aller ausgeht, als Durchbrechung dieses Grundsatzes umschreiben - allerdings nicht lösen, da es dieses Problem ja „eigentlich" gar nicht geben dürfte. Schärfer fokussiert wird es jedoch durch den grundlegenden Anspruch der Gerechtigkeitsphilosophie, daß jeder „als Gleicher", also in gleicher Weise mit Achtung und Respekt und insbesondere auch gleicher Berücksichtigung seiner Interes405

Aufgrund des inneren Zusammenhangs, in dem Freiheit und Gleichheit hier stehen, sowie im Hinblick darauf, daß sie auch prüftingstechnisch nebeneinander geprüft werden dürfen, schließt dies im übrigen den zusätzlichen Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 keineswegs aus.

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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sen, zu behandeln sei. - Und eben dies ist auch der Ausgangspunkt der Bestimmung des materialen Gehalts des Gleichheitssatzes bei Huster, dessen Modell sich als Basis einer Lösung dieses Problems anbietet. Soweit es darum geht, daß von der mit den Deutschenvorbehalten gegebenen „Eingriffsreserve" Gebrauch gemacht wird, um besondere staatliche Pflichten aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis zu erfüllen, also etwa den Schutz der Existenzbedingungen der Deutschen zu gewährleisten, indem Ausländern der Zugang zu bestimmten Berufen verwehrt (oder erschwert) wird, werden im Sinne von Husters Unterscheidung externe Zwecke verfolgt. Denn es geht nicht etwa darum, bereichs- und kontextspezifisch ausgeformte Gerechtigkeitsmaßstäbe zur Anwendung zu bringen, d.h. die Ungleichbehandlung steht nicht im „Dienste der Gerechtigkeit" und will den Gleichheitssatz allererst verwirklichen, sondern sie verfolgt anderweitige legitime Ziele. Die grundsätzliche Legitimität dieser Ziele ergibt sich bereits daraus, daß sie auf Verfassungsebene ausdrückliche Anerkennung gefunden und zur Statuierung der Deutschenvorbehalte geführt haben. Dies ist also der Sonderfall, in dem die Möglichkeit einer dem Gleichheitssatz nicht entsprechenden, sondern in einem Spannungsverhältnis zu Art. 3 Abs. 1 GG stehenden Ungleichbehandlung zur Verfolgung kollektiver, nämlich nationalstaatlich motivierter Ziele sogar ausdrücklich in der Verfassung selbst festgeschrieben ist. Und zwar geschieht das nach Art eines speziell Ausländer betreffenden „Grundrechtsvorbehalts" 406 - so die freiheitsrechtliche Seite der Medaille - der allerdings nicht unmittelbar als solcher formuliert ist, sondern - dies nun die gleichheitsrechtliche Seite derselben Medaille - umgekehrt aus der Privilegierung der Deutschen zu folgern ist. Ob die dahinterstehenden Ziele das Zurücktreten der vom Gleichheitssatz an sich verlangten Behandlung aller „als Gleiche", insbesondere mit der gleichen Berücksichtigung ihrer Interessen, im Einzelfall rechtfertigen, hängt demnach auf der Basis des hier gewählten Ansatzes von einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung (im normativen Sinn) ab: Sie muß geeignet sein, das jeweilige Ziel - also beispielsweise die Sicherung der Existenz der Deutschen in der jeweiligen Berufssparte - zu erreichen, sie muß erforderlich und schließlich auch verhältnismäßig i.e.S. sein. Die Frage nach dem Standort der Verhältnismäßigkeitsprüfung - bei Art. 2 Abs. 1 oder bei Art. 3 Abs. 1 - ist damit beantwortet: Sie ist bei Art. 3 Abs. 1 durchzuführen, und das hat bezogen auf die konkrete Problemkonstellation auch entscheidende Vorteile. Dabei ist der wirklich grundlegende Vorzug der, daß das eigentliche Problem überhaupt direkt angesprochen und nicht so getan wird, 406

Dazu, daß dies vor dem Hintergrund des umfassenden Freiheitsverständnisses des Grundgesetzes nicht als definitive Negativregelung zu Lasten Deutscher interpretiert werden kann, s. oben bei Fn. 158 ff. u. pass.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

als ginge es um eine beliebige Freiheitsbeschränkung im Verhältnis Individuum-Staat, bei der die Prämisse der gleichen Freiheit aller unangetastet bleibt, mit anderen Worten: als gäbe es die Deutschengrundrechte gar nicht. Wie gezeigt wurde, fuhrt eine solche Herangehensweise dazu, daß zwar ohne Berücksichtigung der Situation der Deutschen im konkreten Fall geprüft, dann aber doch das Ergebnis daran gemessen wird, ob die Schlechterstellung der Ausländer noch gewährleistet ist. Die einen meinen, dies sei nicht der Fall und verwerfen damit die Lösung über Art. 2 Abs. 1 GG. Und diejenigen, die daran festhalten wollen, aber ebenfalls fürchten, daß über die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine Einebnung der Unterschiede zwischen Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG eintreten könnte, 407 fordern, nur ein „beliebiges Handlungsinteresse" in die Abwägung einzustellen. Um zu einer Abschwächung des Schutzes zu gelangen, müßte man also so tun, als gehe es gar nicht um den Beruf mit seiner aus der Nähe zur Menschenwürde resultierenden hohen personalen Bedeutung, sondern um Tauben-füttern oder Reiten-im-Walde oder ein beliebiges anderes Handlungsinteresse. Überzeugen kann das nicht, auch wenn der Versuch, auf diese Weise überhaupt einen Grundrechtsschutz für Ausländer diesseits der letzten Grenze einer Antastung des „Menschenwürdekerns" des jeweiligen Deutschengrundrechts zu erreichen, natürlich anerkennenswert ist (zumal dies mit einer reinen Willkürprüfung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG ebenfalls nicht gelingen kann, da externe Zwecke eben sachliche Gründe sind). Die offenbar bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG gegebene Notwendigkeit eines undurchsichtigen Taktierens - die schon daraufhindeutet, daß das Problem dort nicht hingehört - entfällt jedoch, wenn diese Prüfung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG durchgeführt wird, denn hier erfolgt sie von vornherein mit Blick auf die Deutschengrundrechte und die besondere Situation der Deutschen in dem jeweiligen Lebensbereich. Dies gilt schon bei der Prüfung der Erforderlichkeit der Ungleichbehandlung, aber insbesondere auf der dritten Prüfungsstufe, wenn im Rahmen einer Abwägung zu klären ist, ob die Ungleichbehandlung - sprich: Schlechterstellung der Ausländer - „unter Abwägung der Abweichung von der Gleichheit und dem angestrebten Ziel angemessen" ist. 408 Die Abweichung von der an sich gebotenen Gleichbehandlung wird um so eher gerechtfertigt sein, je schwieriger die Situation der Deutschen in dem jeweiligen Bereich ist, je mehr sie also des staatlichen Schutzes bedürfen - im Beispielsfall einer durch die Arbeitsmarktlage motivierten Berufszugangssperre durch Schutz vor ausländischer Konkurrenz 407

Wie schon erwähnt wurde, ist Grundlage dieser Befürchtung die Auffassung, daß letztlich nicht die Grundrechtsschranken die Wirkung eines Grundrechts bestimmen, sondern diese im wesentlichen durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip entfaltet werden; vgl. dazu Bumke (Fn. 181), 218 ff. 408 Vgl. Rüfner, in: BK, Rn. 97 zu Art. 3 I.

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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und je eher umgekehrt dem Ausländer zugemutet werden kann, seine wirtschaftliche Existenz in anderer Weise zu sichern. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Ungleichbehandlung für den Ausländer sind wiederum unter anderem „die Dauer des Aufenthaltes und das Maß der Integration (...) in ihrem je konkreten Gewicht zur Geltung zu bringen". 409 Sofern die Situation der Deutschen dies jedoch nicht erfordert oder dies den Ausländern aus bestimmten Gründen nicht zumutbar ist, ist die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt. Es besteht also auf verfassungsrechtlicher Ebene aufgrund der Deutschenvorbehalte durchaus eine Schlechterstellung der Ausländer, die nur nicht in jedem Fall auf das konkrete Ergebnis durchschlagen wird. Doch wollten die in der Nachkriegszeit zwar bezüglich der Versorgung der Deutschen mit „Lohn und Brot" besorgten, im übrigen aber menschen- bzw. naturrechtlich argumentierenden Verfassungsväter und -mütter auch gar nicht mehr erreichen, als daß die Möglichkeit gegeben ist, gegebenenfalls vorrangig die gegenüber den Deutschen bestehenden besonderen (Schutz-)Pflichten erfüllen bzw. spezifisch staatliche Belange verfolgen zu können. Wie die Ausführungen zur Zumutbarkeit der Abweichung von der nach Art. 3 Abs. 1 GG an sich gebotenen Gleichbehandlung zeigen, finden hier auch andere in der Literatur bislang diskutierte Aspekte ihren Platz, so etwa die von Isensee hervorgehobenen Zulassungsentscheidungen, die die Zumutbarkeit in der Tat in Frage stellen, oder auch die von Schwerdtfeger betonte Bedeutung der Aufenthaltsdauer. Nur führt diese eben nicht, wie Schwerdtfeger annimmt, zu einem Anwachsen materialer Grundrechtspositionen, sondern zu einer Schwächung der Gegengründe: Mit zunehmender Integration und Aufenthaltsdauer verliert das Nationalstaatsprinzip bzw. verlieren die im einzelnen zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ins Feld geführten Gründe an Gewicht, so daß nur noch eine extrem schwierige Situation der Deutschen (sofern es um den Schutzaspekt geht) die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte. Hinsichtlich der im Blick auf die Frage nach den Maßstäben stets schwierige Problematik der Abwägung, die in diesem Zusammenhang aber als allgemeines Problem nicht weiter ausgelotet werden kann, stellt sich noch die spezielle Frage, ob man angesichts der Deutschenvorbehalte von der oben erwähnten Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts abrücken müßte, daß die Nähe zu den Freiheitsrechten die Intensität der Ungleichbehandlung und damit die Anforderungen an die sachlichen Gründe (im Sinne externer Zwecke) steigen läßt. 410 Die Antwort 409

So Robbers, Ausländer (Fn. 115), Rn. 20, der ebenfalls für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 3 I plädiert und dies auch - soweit ersichtlich als einziger - auf die Anwendung des Art. 3 I auf Ausländer bezieht. 410 Vgl. nur BVerfGE 88, 87 (96 f.); weitere Nachw. bei Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz Komm., Bd. I, Rn. 19 mit Fn. 106, auch Rn. 29 mit Fn. 162 zu Art. 3. 30 Siehr

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

lautet wohl: Der Umstand, daß die Ungleichbehandlung sich „auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken" wird, spielt durchaus eine Rolle, wird zunächst einmal aber durch die das Nationalstaatsprinzip aktualisierenden Gründe aufgewogen. Doch in dem Maße, in dem diese an Gewicht verlieren, kommt das Eigengewicht der jeweiligen Freiheitsbetätigung wieder zur Geltung. 411 Nun war bislang allein von Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit die Rede, die der zweiten von Huster genannten Fallgruppe unterfallen, in denen mit der Ungleichbehandlung also externe Zwecke verfolgt werden. Doch stellt sich die Frage, wie es mit Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit aussieht, die internen Zwecken dienen, den Gleichheitssatz also erst verwirklichen sollen. Wie schon das oben genannte Beispiel des § 8 BAföG zeigte, gibt es die auch - nur haben sie mit dem in der Untersuchung behandelten Problemkomplex nicht viel zu tun, da es dafür keiner Deutschenvorbehalte bedürfte: Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit, die allein auf die Eigenarten des Tatbestandlichen abstellen, gegebene Gemeinsamkeiten oder Verschiedenheiten hinsichtlich relevanter Eigenschaften berücksichtigen, so daß ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Umständen und der fremden Staatsangehörigkeit besteht, erfordern keine spezielle „Eingriffsreserve", denn sie verstehen sich als sachgerechte Differenzierung, nicht als eine erst durch externe Zwecke zu rechtfertigende Ungleichbehandlung im normativen Sinne. Einzuräumen ist allerdings, daß bei einer sich am inneren Zusammenhang mit der fremden Staatsangehörigkeit orientierenden Bestimmung der Fallgruppe (1) ein Unbehagen bleibt. Dieses Unbehagen erwächst aus dem Umstand, daß sich Menschenrechtsidee und Staatsangehörigkeit, wie oben gezeigt, auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lassen, so daß selbst dann, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen der fremden Staatsangehörigkeit und der differenzierenden Regelung bejaht wird, oft Zweifel aufkommen werden, ob das denn nun „gerecht" sei: Die Staatsbürgschaft als „mächtiges Instrument sozialer Schließung" (Brubaker) liegt gegenüber universalistisch orientierten Gerechtigkeitserwägungen eben häufig quer. Im übrigen ist es auch nicht einfach, für die Fallgruppe (1) überhaupt Beispiele zu finden: Schon bei dem erwähnten Beispiel des § 8 BAföG ist Voraus411

Insofern ist es nicht ganz richtig, wenn Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 10), 2112, von den Deutschenvorbehalten selbst als einem „eigenständigen Abwägungsprinzip" spricht, denn wenn die Deutschenvorbehalte zum Ausdruck bringen, daß die Möglichkeit einer solchen Ungleichbehandlung überhaupt bestehen soll, können sie nicht neben den für die Ungleichbehandlung konkret angeführten Gründen bei der Abwägung selbst nochmals in Anschlag gebracht werden; vielmehr kommt es auf das konkrete Gewicht der die Ungleichbehandlung rechtfertigenden Gründe an.

II. Die neuere Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes

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setzung, daß die oben begründete Wahl des Gerechtigkeitsmaßstabes akzeptiert wird. Zudem spielt dort auch eine Rolle, daß es um eine Leistung, nicht um einen Eingriff geht. Als Beispiel einer sachbereichsspezifischen Differenzierung lassen sich die Aufenthaltsbeschränkungen im Zusammenhang mit dem Asylverfahren (§ 56 AsylVfG) anführen, die dessen ordnungsgemäße Durchführung sicherstellen sollen. Sie stehen insofern in einem inneren Zusammenhang mit der Staatsangehörigkeit bzw. Ausländereigenschaft, als hier - anders als bei Deutschen - grundsätzlich kein Recht auf freie Einreise und Aufenthalt besteht, und die Aufenthaltsgestattung dem um Asyl nachsuchenden Ausländer nach § 55 AsylVfG gerade zur Durchführung des Asyl Verfahrens im Bundesgebiet erteilt wird. Auch Beschränkungen der Gewerbefreiheit bei Ausländern in politisch und gegenständlich besonders sensiblen Bereichen könnte man möglicherweise der Fallgruppe (1) zuordnen. Dies gilt namentlich für die Herstellung und den Handel mit Schußwaffen und Munition, die Herstellung und Beförderung von Kriegswaffen und den gewerbsmäßigen Umgang mit Sprengstoffen, die unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt werden, daß bei Deutschen und EGAngehörigen erstens eine bessere Kontroll- und Zugriffsmöglichkeit gegeben sei, und zweitens bei Ausländern die Gefahr außenpolitischer Verwicklungen bestehe.412 Allerdings überzeugt dies nur unter dem erstgenannten Aspekt, der zudem hinsichtlich des dauerhaften Lebensmittelpunktes weiter ausdifferenziert werden müßte, da anderenfalls eine (wiederum eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach sich ziehende) Typisierung vorläge. Soweit die Regelung jedoch zum zweiten eine Verhinderung außenpolitischer Verwicklungen bezwecken soll, wäre dies eindeutig ein - legitimer und die Beschränkung im Ergebnis auch rechtfertigender - externer Zweck. Schließlich sei auch noch einmal an den oben erwähnten Schankerlaubnissteuer-Fall erinnert: Vorgeblich sollte die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit sich dort an Unterschieden hinsichtlich relevanter Eigenschaften orientieren, was sich jedoch, wie Isensee zu Recht hervorhebt, als krasser Verstoß gegen das Willkürverbot entpuppt, da die Staatsangehörigkeit bzw. Ausländereigenschaft ein steuerindifferentes Merkmal ist. 413 Hier zeigt sich, daß die in Fallgruppe (1) durchzuführende Willkürprüfung bei Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit durchaus praktisch relevant werden kann. Als Kontrollfrage für die Unterscheidung der beiden Fallgruppen bietet es sich in dieser besonderen Problemkonstellation folglich an zu überlegen, ob die Differenzierung in einem Zusammenhang mit den Deutschenvorbehalten steht, was insbesondere dann der Fall sein wird, wenn eine Privilegierung der Deutschen angestrebt ist, bzw. als Gegenfrage: ob die Differenzierung in einem inneren 4,2 413

Hierzu Quaritsch, Ausländer (l.Teil, Fn.9), Rn. 125 m.w.N. (auch zur Gegenansicht). Vgl. dazu oben bes. bei Fn.263.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Zusammenhang mit Eigenschaften steht, die aus der Staatsangehörigkeit selbst folgen oder ihr zugeschrieben werden und die die Betreffenden (anders als z.B. im oben erörterten Haftentschädigungsfall) auch selbst aufweisen. Doch liegt der Schwerpunkt, wie gesagt, eindeutig bei der Fallgruppe (2), also der auf externen Zwecken beruhenden Ungleichbehandlung im normativen Sinn, in der die Rechtfertigung von einer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips abhängt.

III. Ergebnisse des zweiten Teils Zur Lösung der Probleme im rechtsdogmatischen Umgang mit den Deutschengrundrechten werden unterschiedliche Wege beschritten, die an die ersten drei - allesamt menschenrechtlich gefaßten - Artikel des Grundgesetzes anknüpfen: Die Menschenrechts- oder Menschenwürdekernlehre nimmt ihren Ausgangspunkt bei Art. 1 GG, gewinnt ihren materialen Gehalt also aus der Garantie der Menschenwürde in Abs. 1 oder dem Menschenrechtsbekenntnis in Abs. 2 GG. Dabei werden hinsichtlich der Frage, auf der Basis welchen Grundrechts der Menschenrechts- oder Menschenwürdekern denn geltend gemacht werden soll, durchaus unterschiedliche Varianten vertreten: Art. 1 GG selbst, teils i.V. m. Art. 19 Abs. 2 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG oder auch Art. 3 Abs. 1 GG bzw. die Deutschengrundrechte selbst. Die heute herrschende Meinung beruft sich demgegenüber auf Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht. Schließlich wird aber auch Art. 3 Abs. 1 GG in Anspruch genommen, allerdings entweder in Verbindung mit der Menschenwürdekerntheorie oder im Sinne einer reinen Willkürprüfung, die neben der Prüfung des Art. 2 Abs. 1 GG durchgeführt wird. Schließlich findet sich auch die Kombination von Menschenrechtskernlehre und der dogmatischen Lösung über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG. Gegen die Menschenwürdekerntheorie in ihrer „reinen" (nicht mit Art. 2 Abs. 1 kombinierten) Form wurde insbesondere eingewandt, daß sie entweder Gefahr läuft, den Grundrechtsschutz für Ausländer im Bereich von Deutschengrundrechten nur in absoluten Extremfällen gewährleisten zu können wie dem von Madert-Fries angeführten Beispiel eines Verbots, sich länger als vier Wochen an einem Ort niederzulassen, was zur praktischen Irrelevanz dieser Theorie in der alltäglichen Praxis führt. Oder aber sie erliegt in dem Versuch, die über die Deutschengrundrechte entstehenden Lücken (Dürig) nun über die Berufung auf den Menschenwürdekern zu schließen, der Gefahr einer Hypertrophie des „Menschenwürdekerns" der einzelnen Deutschengrundrechte. Das schwächt zum ersten tendenziell die Bedeutung der Menschenwürdegarantie (deren interpretatorische Überdehnung auch sonst häufiger zu beobachten ist), läßt zum zweiten die Konsensfähigkeit des gefundenen Ergebnisses fraglich erscheinen, und ist zum dritten - damit zusammenhängend - auch mit Subsum-

III. Ergebnisse des zweiten Teils

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tionsschwierigkeiten verbunden. Anders sieht es jedoch aus, wenn die Menschenwürdekerntheorie, wie dies vielfach geschieht, mit der Berufung auf Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht verbunden wird: Hier hat der zusätzliche Verweis auf den Menschenwürde- oder Menschenrechtskern der einzelnen Deutschengrundrechte eher klarstellende Funktion bzw. eine „Warnfunktion", indem er auf die durch die Deutschenvorbehalte gegebene Spannungslage und den Menschenwürdekern als letzte Grenze hinweist, die Lösung selbst - abgesehen von Extremfällen - aber über Art. 2 Abs. 1 GG sucht. Der Weg über die Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht bietet sich insofern an, als so einerseits ausgehend von der heute herrschenden Lesart des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet ist, auf den sich auch Ausländer in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen berufen können, andererseits Art. 2 Abs. 1 GG aber dem denkbar weitesten Schrankenvorbehalt untersteht, so daß wie zumindest die Befürworter dieser Lösung meinen - die Freiheitsbetätigungen von Ausländern in den entsprechenden Lebensbereichen stärker beschränkt werden können als die der Deutschen im Bereich der Deutschengrundrechte, die verfassungsrechtlich gewollte Differenzierung also erhalten bleibt. Dem wird (abgesehen von grundsätzlichen Bedenken gegenüber der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht) entgegengehalten, daß jedenfalls Ausländer sich darauf nicht berufen könnten, da die Deutschenvorbehalte auch und gerade „eine negative Regelung zu Lasten des Grundrechtsschutzes von Ausländern" beinhalteten; ein Einwand, der, da es im Verfassungsstaat um die Freiheit des Menschen und nicht um den Schutz bestimmter Sachbereiche als Selbstzweck geht, allerdings nicht recht einleuchtet. Vielmehr muß die „Lückenfunktion" des Art. 2 Abs. 1 sowohl in sachlicher als auch in persönlicher Hinsicht eingreifen, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll. Zudem erscheint es vor dem Hintergrund, daß dem Grundgesetz die Vorstellung von der Freiheit des Menschen zugrundeliegt und daher nicht einzelne Rechte (zwischen Deutschen und Ausländern in ungleicher Weise) verliehen bzw. verteilt werden, sondern paradoxerweise eher umgekehrt die Möglichkeiten der abgestuften und im Einzelfall natürlich stets rechtfertigungsbedürftigen - Einschränkungen in den Blick genommen werden, nicht schlüssig, die Vorbehalte der Deutschengrundrechte als definitive Negativregelung des Inhalts auszulegen, daß Ausländer in diesen Freiheitsbereichen generell keinen Grundrechtsschutz genießen sollen. Systemgerechter ist es, die mit den Deutschenvorbehalten verbundene Privilegierung der Deutschen so zu verstehen, daß gegenüber den Ausländern eine „Eingriffsreserve" geschaffen wurde, um gegebenenfalls vorrangig die besonderen (Schutz-)Pflichten des Staates gegenüber seinen Angehörigen erfüllen zu können. Das spricht prinzipiell für die auch vom Bundesverfassungsgericht gewählte Lösung über Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Bejaht man die Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1, so bestehen allerdings Unsicherheiten im Blick auf den damit gewährten Schutzumfang. Unstreitig beinhaltet der Schutz aus Art. 2 Abs. 1 fur den Ausländer einen grundrechtlich abgestützten Anspruch darauf, daß auch ihm gegenüber sämtliche Normen des objektiven Verfassungsrechts eingehalten werden, womit nach einhelliger Ansicht insbesondere das Rechtsstaatsprinzip und seine Ausprägungen gemeint sind. Dies schließt den Vorbehalt des Gesetzes ebenso ein wie etwa das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot. Alle Fallkonstellationen, die sich an diesem Punkt entscheiden lassen - und ausnahmslos um solche ging es in den bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - lassen sich problemlos und rechtsdogmatisch sauber auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 GG lösen. Schwierig wird es jedoch insbesondere, sobald die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Rede steht. Gerade im Hinblick darauf, daß vielfach die These vertreten wird, daß es gar nicht in erster Linie die Grundrechtsvorbehalte seien, die über die Wirkungen der Grundrechte entscheiden, sondern diese im wesentlichen über das Verhältnismäßigkeitsprinzip entfaltet werden, wird befürchtet, daß es auf diese Weise letztlich doch zu einer Nivellierung der mit den Deutschenvorbehalten bezweckten Differenzierung im Grundrechtsschutz kommen könne. Um dies zu verhindern, wird u.a. der Vorschlag gemacht, bei einer gegebenenfalls erforderlichen Abwägung - gedacht ist hier in erster Linie an die Berufsfreiheit bzw. die Frage der Verhältnismäßigkeit von Berufszugangsbeschränkungen bei Ausländern - nur ein „beliebiges Handlungsinteresse" zugrunde zu legen. Überzeugen kann dies jedoch nicht, da man gezwungen wäre, sich bewußt blind zu stellen. Zudem würde man sich in Widerspruch zu all dem setzen, was üblicherweise zum Zusammenhang von Berufsfreiheit, persönlicher Entfaltungsfreiheit und Würde des Menschen ausgeführt wird und stets in die Beteuerung der der Berufsfreiheit zukommenden hohen personalen Bedeutung einmündet. Eine Analyse des Problems hat gezeigt, daß es letztlich daraus resultiert, daß die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art. 2 Abs. 1 durchgeführt wird. Dort gilt aber - wie im übrigen in der gesamten freiheitsrechtlichen Schrankensystematik die Prämisse der gleichen Freiheit aller. Probleme, die darauf beruhen, daß hier eine Schieflage besteht, die gleiche Freiheit also gerade nicht gewährleistet ist, können daher nicht angemessen bearbeitet werden. Die Crux einer Prüfung im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 besteht demnach gerade darin, daß so getan wird, als gäbe es die Deutschengrundrechte gar nicht, als ginge es um eine beliebige Freiheitsbeschränkung im Verhältnis Individuum-Staat, nicht um die ungleiche Freiheitsbeschränkung - sprich: Ungleichbehandlung - einer bestimmten Gruppe von Menschen, nämlich der Ausländer, zugunsten einer anderen Gruppe von Menschen, nämlich der Deutschen, aus ganz bestimmten Gründen, und zwar in erster Linie um der Erfüllung der besonderen Pflichten willen, die dem Staat

III. Ergebnisse des zweiten Teils

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vorrangig gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen obliegen. Bei der im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG durchgeführten Verhältnismäßigkeitsprüfung wird all dies ausgeblendet, gleichzeitig aber das Ergebnis häufig daran gemessen, ob denn auch noch eine Schlechterstellung der Ausländer festzustellen sei. Anstatt sich dem grundlegenden Gleichheitsproblem zuzuwenden, das immer dann auftritt, wenn der nach der menschenrechtlichen Fassung des Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich auch für Ausländer anerkannte Anspruch auf Gleichbehandlung (im normativen Sinn) mit den aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis folgenden (Schutz-)Pflichten des Staates gegenüber seinen Angehörigen in Konflikt gerät, wird so paradoxerweise die Ungleichbehandlung im normativen Sinn sogar noch zum Maßstab einer „richtigen" freiheitsrechtlichen Prüfung erhoben. Dieser Befund führt zu der Frage, ob sich diese Probleme nicht sachgerechter im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG lösen lassen, zumal neuere Ansätze dort inzwischen auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Geltung bringen wollen. Wie die Untersuchung gezeigt hat, kann ein Teil der Probleme sogar bereits auf der Grundlage der herkömmlichen Willkürprüfung abgearbeitet werden. Dies verdeutlicht insbesondere der Fall einer um das vierhundertfache erhöhten Schankerlaubnissteuer: Die Ausländereigenschaft ist, wie schon Isensee hervorgehoben hat, ein steuerindifferentes Merkmal, eine solche Differenzierung verstößt daher gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 4 1 4 Allerdings sind dies Fälle, die im Grunde genommen nicht viel mit der durch die Deutschenvorbehalte gegebenen zusätzlichen „Eingriffsreserve" zu tun haben. Und umgekehrt läuft eine Willkürprüfung, wenn dies der Fall ist, regelmäßig leer, da immer dann, wenn der Staat in der Absicht, die ihm gegenüber seinen Angehörigen obliegenden „special duties" zu erfüllen, Deutsche privilegiert, sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung von Ausländern gegeben sind. Das heißt, man müßte die Prüfung an diesem Punkt schon abbrechen, ohne noch nachfragen zu können, ob die mit der Ungleichbehandlung verfolgten Ziele denn im Einzelfall auch so gewichtig sind, daß der Anspruch des Ausländers aus Art. 3 Abs. 1 GG auf eine Behandlung „als Gleicher" (d.h. insbesondere mit gleicher Berücksichtigung seiner Interessen) dahinter zurücktreten muß. Dagegen läßt sich auch nicht einwenden, daß ein solcher Anspruch auf Gleichbehandlung im normativen Sinn gar nicht bestehe und nur die Staatsbürger untereinander gleich zu behandeln seien, da der allgemeine Gleichheitssatz im Grundgesetz - anders als in der Weimarer Republik - ganz bewußt menschenrechtlich gefaßt wurde. Da sich die eigentlichen Probleme dieser Fallkonstellation auf der Basis des herkömmlichen Verständnisses des Art. 3 Abs. 1 als Willkürverbot offenbar nicht lösen lassen, richtet sich der Blick auf jene neueren Bestrebungen, die im 414

Siehe dazu oben bei Fn. 263.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Rahmen des Art. 3 Abs. 1 den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mobilisieren wollen. Sie stehen allerdings vor dem Dilemma, daß dieser in seiner hergebrachten Funktion als Schranken-Schranke in die typisch freiheitsrechtliche Eingriffsdogmatik eingebettet ist, die nicht ohne weiteres auf den Gleichheitssatz übertragbar zu sein scheint: Während Freiheitsrechte die in ihrem Tatbestand genannten Freiheiten zunächst in umfassender Form gewährleisten, gleichzeitig jedoch Eingriffe zugunsten kollidierender Freiheitsrechte anderer oder kollektiver Güter zulassen, soll der Gleichheitssatz nach seiner überkommenen Dogmatik von vornherein nur gegen unsachliche Differenzierungen schützen, dann aber auch nicht zugunsten kollidierender Schutzgüter einschränkbar sein, so daß hier die Möglichkeit einer Unterscheidung von Schutzbereich und Eingriff entfällt. Ohne die Differenz zwischen Grundrechtseingriff und Grundrechtsverletzung, innerhalb derer das übliche Prüfungsprogramm Raum greift, also gefragt wird, ob der Eingriff durch die Grundrechtsschranken gedeckt und die Schranken-Schranken, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, beachtet sind, bleibe der Standort einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG aber unklar. Zudem fehle es auch an der bei seiner Anwendung vorausgesetzten Zweck-Mittel-Relation, die es erlaubt, nach der Angemessenheit einer Einschränkung im Verhältnis zu dem angestrebten Ziel zu fragen, um so einen Rechtsgüterkonflikt zu einem gerechten Ausgleich zu bringen. Wie die Gegner einer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG einwenden, würden demgegenüber Ungleichbehandlungen (im schematischen Sinne) mit Erwägungen gerechtfertigt, die ausschließlich an Unterschieden zwischen den verschieden behandelten Personen und Sachverhalten anknüpfen und diese an Hand bestimmter Maßstäbe (z.B. Ausmaß der Schuld im Strafrecht oder Leistungsfähigkeit im Steuerrecht) messen, ohne daß dabei irgendein Ziel im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation verfolgt werde. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung sei hier nicht möglich; vielmehr könne nur eine strukturell anders gelagerte, auf den horizontalen Vergleich einer Mehrheit vergleichbarer Tatbestände angelegte spezifisch gleichheitsrechtliche Angemessenheitsprüfung vorgenommen werden. Tatsächlich läßt sich dies hinsichtlich der genannten Beispielsfälle gar nicht bestreiten, was gegen Konstruktionen spricht, die die Dogmatik des Gleichheitssatzes völlig der freiheitsrechtlichen Eingriffsdogmatik anpassen und demgemäß auch im Rahmen der Schranken-Schranken in allen Fällen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Anwendung bringen wollen. Neben jenen Beispielen, in denen sich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung aus den genannten Gründen nicht durchführen läßt, finden sich aber auch Gegenbeispiele wie etwa das der durch ein Differenzierungsdefizit gekennzeichneten Typisierungen, die die normative Gleichheit definitionsgemäß verfehlen, was u.a. unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität gerechtfertigt zu werden pflegt. Hier ist

III. Ergebnisse des zweiten Teils

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eine Zweck-Mittel-Relation erkennbar und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung demgemäß strukturell möglich. Nicht anders sieht es - und das ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung entscheidend - in all jenen Fällen aus, in denen Ungleichbehandlungen von Ausländern, also beispielsweise Berufszugangsbeschränkungen, unter Rückgriff auf die mit den Deutschenvorbehalten (hier: Art. 12 Abs. 1) gegebene zusätzliche „Eingriffsreserve" damit gerechtfertigt werden, daß entweder der Schutz der Deutschen (z.B. die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz durch Schutz vor ausländischer Konkurrenz) oder die Verfolgung spezifisch staatlicher Belange dies erfordere. Hier hilft der neuere Ansatz Husters weiter, dem es gelingt, sowohl diese beiden unterschiedlichen Fallgruppen in ein einheitliches Modell des Art. 3 Abs. 1 GG einzupassen, als auch das herkömmliche Verständnis des Gleichheitssatzes mit neueren Bestrebungen zu verknüpfen: Ausgehend von einem normativen Begriff der Gleichheit, der sich aus der engen Verbindung des Gleichheitssatzes mit der Gerechtigkeit herleitet und den materialen Gehalt des Gleichheitssatzes als gerechte Behandlung bzw. Behandlung aller „als Gleiche", d.h. mit gleicher Berücksichtigung ihrer Interessen, definiert, wird die Fallgruppe (1) (Steuer-Bsp.) in der Weise charakterisiert, daß die Ungleichbehandlung hier dem Gleichheitssatz entspreche, ihn aufgrund der bereichsspezifisch geltenden Gerechtigkeitsmaßstäbe überhaupt erst verwirkliche. Ein kollidierendes Rechtsgut, das mittels dieser Ungleichbehandlung verfolgt werde und mit ihr noch abgewogen werden müsse, sei nicht erkennbar. Die Kompetenz zur Konkretisierung der Gerechtigkeitsmaßstäbe als Voraussetzung der bereichsspezifischen Anwendung des Gleichheitssatzes liege beim Gesetzgeber. Prüfungsmaßstab soll insoweit allein das Willkürverbot sein. Anders jedoch die Fallgruppe (2), für die sich die Beispiele der Typisierungen und Berufszugangsbeschränkungen bei Ausländern anführen lassen: Hier werden die Ungleichbehandlungen nicht durch Gerechtigkeitsmaßstäbe und damit interne Zwecke legitimiert, sondern durch gesamtgesellschaftliche Nutzen- und Zweckmäßigkeitserwägungen, also durch externe Zwecke. Mit den eigentlich relevanten Eigenschaften der Vergleichspersonen besteht kein innerer Zusammenhang, d.h. derartige Ungleichbehandlungen verwirklichen den Gleichheitssatz nicht, sondern stehen in einem Spannungsverhältnis zu ihm. Dennoch sind sie nach Huster keineswegs per se unzulässig. Vielmehr ist dies davon abhängig, ob die jeweiligen Ziele als solche verfassungsrechtlich zulässig sind und der - in dieser Fallgruppe im Blick auf den Rechtsgüterkonflikt bzw. das Vorliegen einer Zweck-Mittel-Relation anwendbare - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wurde. Er verarbeitet diese Überlegungen sodann in einem Modell des allgemeinen Gleichheitssatzes als Eingriffsrecht: Die maßstabsgerechte (Un-)Gleichbehandlung konstituiert den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 und eine Abweichung von dem bereichsspezifisch festgelegten Gerechtigkeitsmaßstab zur Verfolgung äußerer Ziele wird als

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

Eingriff in den Schutzbereich qualifiziert, der den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips standhalten muß. Dieser Ansatz läßt sich mit gewissen Modifikationen auf die Problematik der Ungleichbehandlung von Ausländern in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen übertragen. Dabei betreffen die Modifikationen vor allem die Fallgruppe (1): Soweit Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit bzw. Ausländereigenschaft vorgenommen werden, muß berücksichtigt werden, daß die Staatsangehörigkeit aufgrund ihrer ausschließenden Wirkung - Brubaker umschrieb sie als „mächtiges Instrument sozialer Schließung" - gegenüber universalistisch ausgerichteten Gerechtigkeitsüberlegungen in der Regel quer liegen wird. Man darf in dieser Fallkonstellation folglich nicht so sehr danach fragen, ob die Differenzierung im „Dienste der Gerechtigkeit" steht und dem Gleichheitssatz insofern entspricht, sondern muß den Akzent stärker auf den inneren Zusammenhang der Differenzierung mit Merkmalen oder Eigenschaften legen, die aus der Staatsangehörigkeit bzw. Ausländereigenschaft selbst folgen oder ihr zugeschrieben werden, und die die Betreffenden selbst aufweisen. Knüpft die Differenzierung an solche nach dem Sachzusammenhang relevanten Merkmale an und sucht den festgestellten Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der differenzierenden Regelung Rechnung zu tragen, so bleibt kein Raum für eine Abwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips, sondern lediglich für ein wertendes Gewichten der Unterschiede im Hinblick auf den Regelungszweck, wie es auch in der „neuen Formel" des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts anklingt. Diese ist also, anders als im Schrifttum teilweise angenommen wird, nicht als „klassische" Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustufen, sondern eher der anders strukturierten gleichheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung zuzuordnen. Insofern ist sie als eine durchaus noch dem traditionellen Verständnis des Gleichheitssatzes entsprechende und prinzipiell begrüßenswerte Ergänzung der Willkürformel zu sehen, die die Vorstellung verhältnismäßiger Gleichheit im Sinne eines horizontalen Vergleichs anwendungsgerecht umsetzt. Als Beispiel für eine nach der Staatsangehörigkeit bzw. Ausländereigenschaft differenzierende Norm, bei der diese Maßstäbe zur Anwendung kommen, wurde §8 BAföG genannt. Dabei wurde bezüglich der Wahl des Gerechtigkeitsmaßstabes von der Prämisse ausgegangen, daß Güter innerhalb der festumrissenen Welt der politischen Gemeinschaft - hier: der der Deutschen - zur Verteilung gelangen sollen, so daß prinzipiell auf die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft abgestellt werden kann. Mit der durch die Deutschenvorbehalte gegebenen besonderen „Eingriffsreserve" gegenüber Ausländern hat das, da es um eine Leistung und nicht um einen Eingriff geht, nichts zu tun. Als Beispiel für eine zwar nicht gerechte, aber in einem inneren Zusammenhang mit der fremden Staatsangehörigkeit bzw. Ausländereigenschaft stehende differenzierende Regelung mit Eingriffscharakter wurden die Aufenthaltsbeschränkungen

III. Ergebnisse des zweiten Teils

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im Zusammenhang mit der Durchführung des Asylverfahrens gem. § 56 AsylVfG genannt. Das Schwergewicht liegt jedoch sowohl quantitativ als auch bezogen auf die Themenstellung dieser Untersuchung eindeutig bei jenen Fällen, in denen die Ungleichbehandlung der Ausländer externen Zwecken folgt, also zunächst einmal in einem Spannungsverhältnis zu Art. 3 Abs. 1 GG und dem daraus folgenden Anspruch auf gleiche Berücksichtigung auch ihrer Interessen steht. Die mit den Deutschenvorbehalten gegebene besondere „Eingriffsreserve" bringt zum Ausdruck, daß die vorrangige Berücksichtigung der Interessen der Deutschen und die damit verbundene Schlechterstellung der Ausländer verfassungsrechtlich zulässig sein kann. Dies ist also der Sonderfall, in dem die Möglichkeit eines Eingriffs in die nach Art. 3 Abs. 1 an sich gebotene Gleichbehandlung sogar auf Verfassungsebene festgeschrieben ist, was man in Anlehnung an die freiheitsrechtliche Dogmatik auch als „Schrankenvorbehalt" bezeichnen könnte. Allerdings wird er nicht direkt formuliert, sondern - dies nun wieder die spezifisch gleichheitsrechtliche Perspektive - ist umgekehrt aus der Privilegierung der Deutschen, die notwendigerweise die Ungleichbehandlung von Ausländern beinhaltet, zu folgern. Anders als bei der im Schrifttum anzutreffenden Charakterisierung der Deutschengrundrechte als „Ungleichtatbestände" geht es dabei nicht um die definitive Festschreibung einer Ungleichbehandlung im normativen Sinne. Vielmehr bleibt diese im Einzelfall rechtfertigungsbedürftig, bricht also nicht aus dem von der Vorgegebenheit der Freiheit und (der darauf bezogenen) Gleichheit des Menschen und der Rechtfertigungsbedürftigkeit jeden Eingriffs ausgehenden Denkmuster des Verfassungsstaates aus. Hintergrund dieses schon auf der Verfassungsebene selbst aufgenommenen Gleichheitskonflikts ist der Umstand, daß der Staat des Grundgesetzes sich eben nicht allein aus der Menschenrechtsidee legitimiert, sondern auch daraus, daß er als Staat einer ganz bestimmten, sich schon durch den Gründungsakt inmitten einer Vielzahl anderer Staat notwendigerweise diesen gegenüber abgrenzenden Nation speziell deren Interessen vertritt (Nationalstaatsprinzip). Ihm obliegen folglich als Staat seinen eigenen Staatsangehörigen gegenüber aus dem angehörigkeitsrechtlichen Grundverhältnis besondere Pflichten („special duties"), wobei dem Schutzaspekt, wie auch die Analyse der Debatte zu den Deutschenvorbehalten im Parlamentarischen Rat gezeigt hat, eine hervorgehobene Rolle zukommt. Die Frage, ob die Erfüllung dieser „special duties" den Eingriff in den Gleichheitssatz im Einzelfall rechtfertigen kann, ist davon abhängig, ob dieser den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügt. Letzteres ist in diesen Fällen auch seiner Struktur nach anwendbar, da im Blick auf die mit der Ungleichbehandlung aufgrund des Nationalstaatsprinzips verfolgten äußeren Ziele bzw. externen Zwecke im Verhältnis zu der der Individualgerechtigkeit entsprechenden Gleichbehandlung ein echtes Zweck-Mittel-Verhältnis

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

vorliegt, und seine Anwendung im übrigen auch geboten erscheint, um den erkennbaren Rechtsgüterkonflikt zu einem Ausgleich zu bringen. Damit ist auch die Frage nach dem Standort der Verhältnismäßigkeitsprüfung beantwortet: Sie ist sachgerechter im Rahmen der Prûfung des Art. 3 Abs. 1 GG durchzuführen, stößt dort insbesondere auch nicht auf die Probleme, denen sie im Rahmen der Prüfung des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht begegnete. Da es immer dann, wenn der Staat von der mit den Deutschenvorbehalten gegebenen „Eingriffsreserve" zu Lasten von Ausländern Gebrauch macht, nicht um die Rechtfertigung einer allgemein gültigen Freiheitsbeschränkung, sondern um die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im normativen Sinne geht, ist die Vergleichsperspektive zu der Situation der Deutschen von vornherein gegeben. War bei einer Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG ein hilfloses Taktieren zu beobachten, das sich u.a. darin äußerte, daß bei der gegebenenfalls erforderlichen Abwägung auf der dritten Prüfungsstufe nur ein „beliebiges Handlungsinteresse" in Anschlag gebracht werden sollte, auch wenn es beispielsweise tatsächlich um die Berufsfreiheit geht, so entfällt dies, wenn die Prüfung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG erfolgt. Hier wird das eigentliche Problem direkt adressiert und die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.; Zumutbarkeit; Proportionalität) der Ungleichbehandlung zur Erreichung der im konkreten Fall verfolgten nationalstaatlich motivierten Ziele geprüft. Es besteht auch keine Notwendigkeit, von der vom Bundesverfassungsgericht allgemein aufgestellten Maxime abzurücken, daß die Intensität der Ungleichbehandlung höher einzustufen sei, wenn die Ungleichbehandlung sich auf Freiheitsbetätigungen auswirke. Da die Deutschenvorbehalte der Freiheitsrechte exakt im Schnittpunkt von Freiheits- und Gleichheitsschutz stehen, bedeutet das zwar, daß von vornherein von einer höheren (dann aber nach Art der Freiheitsbetätigung abgestuften) Intensität der Ungleichbehandlung auszugehen ist, nur wird dies zunächst einmal - sofern im konkreten Fall nationalstaatliche Gründe von entsprechendem Gewicht vorliegen - dadurch aufgewogen bzw. relativiert, daß die Verfassung selbst die Möglichkeit dieser Ungleichbehandlung vorsieht. Dennoch ist man weder gezwungen, sich gegenüber dem Umstand, daß z.B. der Berufsfreiheit auf Grund ihrer Nähe zur Würde und Persönlichkeitsentfaltung des Menschen allgemein eine hohe personale Bedeutung zugesprochen wird, blind zu stellen, noch ist dies bei der Prüfung irrelevant. Vielmehr kommt das Eigengewicht der Berufsfreiheit in dem Maße, in dem die nationalstaatlichen Gründe - etwa aufgrund zunehmender Aufenthaltsdauer und Integration - an Gewicht verlieren, wieder zur Geltung, d.h. die Rechtfertigungsschwelle wird höher. Und dem trägt der einfache Gesetzgeber, wie etwa die gesetzliche Ausgestaltung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis zeigt, regelmäßig auch Rechnung.

III. Ergebnisse des zweiten Teils

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Es zeigt sich, daß sich auf der Grundlage dieses Vorschlages zur Lösung der im Zusammenhang mit den Deutschengrundrechten aufgeworfenen Probleme auch weitere, bislang schon im Schrifttum diskutierte Ansätze aufnehmen und integrieren lassen. Dies gilt zunächst fur den von Isensee angesprochenen Gesichtspunkt der Angewiesenheit auf die Lebensentfaltung im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die beim Asylberechtigten und beim Staatenlosen den höchsten Grad erreiche, aber auch für die von ihm für so wesentlich gehaltenen staatlichen Zulassungsakte zu den einzelnen Lebensbereichen: Beides stellt in der Tat die auf der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu klärende Frage der Zumutbarkeit der Ungleichbehandlung für den auf den Schutz der bundesrepublikanischen Staatsgewalt besonders angewiesenen bzw. durch den jeweiligen Zulassungsakt begünstigten Ausländer in Frage. Menschenrechtliche Angleichungsgebote werden so zwar nicht begründet, doch können diese Erwägungen dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG gegenüber dem gegenläufigen Nationalstaatsprinzip zur Durchsetzung verhelfen. Gleichfalls berücksichtigen läßt sich so der materielle Kern der von Schwerdtfeger aufgestellten These, daß die zunehmende Aufenthaltsdauer zu einem Anwachsen materialer Grundrechtspositionen der Ausländer führe und nach ca. 15 Jahren eine vollständige Gleichstellung erreicht sei. Dieser Ansatz konnte, abgesehen von sonstigen Einwänden, schon deshalb nicht recht überzeugen, weil der Verfassungsstaat von der Vorgegebenheit der gleichen Freiheit des Menschen ausgeht und sich dies mit der Vorstellung eines allmählichen „Wachstums" von Rechten, der allmählichen „Entdeckung" der Beziehung der Berufsfreiheit auch des Ausländers zur Menschenwürde nicht verträgt. Richtiger Kern der These ist aber die Feststellung, daß sich hier auf der Zeitschiene betrachtet etwas verändert, die Rechtsposition des Ausländers im Ergebnis nach einer längeren Aufenthaltsdauer stärker ist als am Anfang seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik. Diese auch von Isensee mit dem Begriff der zunehmenden (grundrechtlichen) Statusverfestigung 415 auf den Punkt gebrachte Beobachtung erklärt sich daraus, daß das Nationalstaatsprinzip, wie sich im Laufe der Untersuchung gezeigt hat, mit zunehmender Aufenthaltsdauer und zunehmender Integration in die staatliche Gemeinschaft, mit dem eigenen Beitrag, den die ausländischen Mitbürger „für die Erlangung der Vorteile (...), derentwegen die politische Gemeinschaft errichtet ist" (Vattel) 416 leisten, immer weiter an Gewicht verliert. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, daß sich, soweit es um die Kontrolle der Einhaltung der rechtsstaatlichen Bindungen, insbesondere die Beach4,5

Vgl. Isensee, Ausländer (l.Teil, Fn. 14), 83 („verfestigt sich sein Grundrechtsstatus weiter"), 85 („zunehmender Status-Verfestigung") und passim. 416 Vgl. zu diesem Vattel-Zitat oben im l.Teil bei Fn. 879.

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2. Teil: Rechtsdogmatische Behandlung der Deutschengrundrechte

tung des Vorbehalts des Gesetzes und des Bestimmtheitsgebots geht, der Weg über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG anbietet. Hingegen ist Art. 3 Abs. 1 GG als Standort der Prüfung aus den dargelegten Gründen vorzugswürdig, soweit es um die Verhältnismäßigkeit einer den Ausländer in seiner Freiheit beschränkenden und zugleich im Verhältnis zu Deutschen schlechter stellenden Regelung geht, da der Problemschwerpunkt in diesen Fällen in der Ungleichbehandlung liegt. Da die Deutschenvorbehalte im Schnittpunkt von Freiheits- und Gleichheitsschutz angesiedelt sind, sind auch zunächst einmal beide Grundrechtsbestimmungen einschlägig. Und da dem philosophisch-politischen Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit kein verfassungsrechtlicher Gegensatz entspricht, können sie auch nebeneinander geprüft werden. Prüfungstechnisch wird man sich natürlich in der Praxis daran orientieren, wo die Probleme des konkret zur Entscheidung anstehenden Falles liegen, mit der Folge, daß auch nach der hier vorgeschlagenen Lösung die bislang vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fälle auf der Basis von Art. 2 Abs. 1 GG zu entscheiden gewesen wären. Die Berufung auf den Menschenrechts- oder Menschenwürdekern des jeweiligen Deutschengrundrechts hat demgegenüber eher eine proklamative Bedeutung oder - je nach Fallkonstellation - eine „Warnfunktion" im Sinne des Hinweises auf eine letzte Grenze, wird aber (hoffentlich) selten praktisch relevant werden.

Dritter Teil

Ausblick: Die Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

Der zukunftsoffenen Dynamik des - zwischenzeitlich schon recht weit vorangeschrittenen - Prozesses der europäischen Integration im beginnenden 21. Jahrhundert auf der einen Seite korrespondiert ein schrittweises Zurückweichen des in seiner reinen Form als Erbe des 19. Jahrhunderts geltenden Nationalstaates auf der anderen Seite. Daß es sich dabei um einen verfassungsrechtlichen Prozeß handelt, zeigt sich schon darin, daß nach heute herrschender Ansicht dem gesamten EG-Recht Vorrang vor dem nationalen Recht jeder Rangstufe zukommt, also auch vor den Verfassungen der Mitgliedstaaten mit ihren Grundrechten. Wenn das Bundesverfassungsgericht auch an seinem in dem berühmten Solange II-Beschluß (um-)formulierten und in der Maastricht-Entscheidung bekräftigten Prüfungsvorbehalt festhält, läßt es im Ergebnis doch seine Kontrollkompetenz zurücktreten, wenn und „solange" die „Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist". 1 Während dieser Vorrang nach Ansicht des Gerichtshofs der Gemeinschaften nicht auf nationalem Verfassungsrecht, sondern ausschließlich auf den Anordnungen des Gemeinschaftsrechts selbst beruht, ist das Bundesverfassungsgericht der Auffassung, daß sich dies zwar nicht aus Art. 23 Abs. 1 S.2 (Art. 24 GG a.F.) selbst ergebe, diese Grundrechtsbestimmung aber die nationale Rechtsordnung dergestalt öffne, daß ein Vorrang des supranationalen Rechts gegeben

1

BVerfGE 73, 339 (387), sog. „Solange II-Beschluß" v. 22.10.1986; in umgekehrter Form noch der „Solange I-Beschluß", BVerfGE 37, 271 ff. (279 f.); durch die Maastricht-Entscheidung (BVerfGE 89, 155 ff.) hat sich im Grunde genommen gegenüber der Solange Ii-Entscheidung nichts geändert, auch wenn das dort angesprochene „KooperationsVerhältnis" mit dem EuGH zunächst Verwirrung gestiftet hat. Vgl. zu alledem statt vieler Albert Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. Köln u.a.O. 1997, Rn. 1107 ff, 1120 ff. (1125 ff, 1133), 1134 ff.

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3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

sei.2 Diese Meinungsdifferenzen können hier auf sich beruhen; entscheidend ist, daß - selbst wenn man nicht gleich auf der supranationalen Ebene ansetzen will - in jedem Fall bereits auf der Ebene des nationalen Verfassungsrechts ein „Integrationshebel" (Hans Peter Ipsen) eingebaut wurde, der fur die nationale Rechtsordnung einen Souveränitätsverzicht bedeutet und sie für das Hereinströmen des supranationalen Rechts öffnet. 3 So wie oben die Verankerung des Nationalstaatsprinzips auf Verfassungsebene nachgewiesen wurde, ist auch die Möglichkeit semes schrittweisen Rückzugs auf Verfassungsebene, nämlich in Art. 23 Abs. 1 S.2 GG, angelegt; und zwar handelt es sich um einen sich allmählich vollziehenden, gegenständlich beschränkten, aber immer weitere Lebensbereiche erfassenden Verfassungsprozeß in Richtung auf die zunehmende Integration der (bzw. zur echten) Gemeinschaft. Da hinter den Deutschenvorbehalten jedoch, wie im Laufe der Untersuchung gezeigt wurde, das Nationalstaatsprinzip (in dem oben erläuterten Sinne) steht, kann sein schrittweiser Rückzug für diese nicht ohne Konsequenzen bleiben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Umgang mit den Deutschenvorbehalten im Verhältnis zu europäischen Unionsbürgern. Ganz konkret stellt sie sich bezogen auf jene Bereiche, wo entweder direkte inhaltliche Überschneidungen zwischen dem Schutzbereich der Deutschengrundrechte und den aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Rechtspositionen bestehen oder gemeinschaftsrechtliche Normen aus sonstigen Gründen wegen des Vorrangs des EG-Rechts bei der Anwendung des Grundgesetzes zu beachten sind. Bekanntlich gilt hier ein Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, eine Kollision soll also nicht die Nichtigkeit kollidierenden nationalen Rechts nach sich ziehen, sondern eine blockierende Wirkung dahingehend entfalten, daß die nationale Norm im Umfang der Kollision ohne weiteres unanwendbar ist. 4 Im folgenden ist zu klären, um welche Bereiche und Normen es dabei geht. Als eine aus sonstigen Gründen zu beachtende, ebenso allgemeine wie grundlegende Norm kommt das in Art. 6 Abs. 1 EGV verankerte allgemeine Diskriminierungsverbot in Betracht. Danach ist unbeschadet „besonderer Bestimmungen dieses Vertrages (...) in seinem Anwendungsbereich jede Diskrimi2

Siehe hierzu BVerfGE 22, 293 (296); E31, 145 (174); E37, 271 (277f., bes. 280); E 73, 339 (374); E 58, 1 (28); E 59, 63 (91 f.); s. auch Klaus Drathen, Deutschengrundrechte im Lichte des Gemeinschaftsrechts, Diss. Bonn 1994, 32 ff. m.w.N. auch zur Ansicht in der Lit. (aaO, 36 ff). 3 Vgl. Hartmut Bauer/Wolfgang Kahl, Europäische Unionsbürger als Träger von Deutschengrundrechten?, in: JZ 1995, 1077 ff. (1078). 4 Vgl. Bauer/Kahl, aaO, 1078 m.w.N.; Drathen (Fn.2), 42 ff. m.w.N. E. Grabitz hat seinefrühere Ansicht, nach der Nichtigkeit anzunehmen war, aufgegeben; vgl. dazu die Nachw. bei Drathen, aaO, 44 f., Fn. 247 und (mit wörtlichem Zitat) Fn. 249.

3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht" nierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten". Anders als bei Art. 3 Abs. 3 GG, der das Merkmal der Staatsangehörigkeit nach ganz herrschender Ansicht nicht erfassen soll, 5 ist das strikte Verbot sämtlicher Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit bei Art. 6 Abs. 1 EGV nicht nur alleiniger Gegenstand der Norm, sondern bildet auch ein Leitmotiv des gesamten Vertrages, das an verschiedenen Stellen wieder aufgenommen und bezogen auf unterschiedliche Sachbereiche konkretisiert wird. Das Verbot richtet sich zudem nicht nur gegen direkte (offene), sondern auch indirekte (verdeckte) Diskriminierungen. 6 Begründet wird die Notwendigkeit, das Diskriminierungsverbot auch auf Unterscheidungsmerkmale anzuwenden, die ohne Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit tatsächlich vor allem EG-Ausländer treffen (Wohnsitz, Herkunftsort etc.), mit dem Ziel der sozialen Integration, der angestrebten Effektivität und der Bedeutung, die der Wahrung dieser Grundprinzipien der Gemeinschaft zukommt.7 Ablesen läßt sich daran umgekehrt aber auch, wie ernst es der Gemeinschaft damit ist, im Anwendungsbereich des EG-Vertrages die Nationalstaatlichkeit der Mitgliedstaaten, die im Institut der Staatsangehörigkeit Niederschlag findet, zurücktreten zu lassen. Sieht man Art. 6 Abs. 1 EGV nicht in einem - ihn verdrängenden - Spezialitätsverhältnis zu den noch zu erörternden speziellen Diskriminierungsverboten, sondern zieht ihn, wie dies in der Rechtsprechung nicht selten geschehen ist, gegebenenfalls neben diesen Bestimmungen heran, um die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens zu begründen, so kann man mit v. Bogdandy zu der Auffassung gelangen, daß bereits das strikte Diskriminierungsverbot des Art. 6 Abs. 1 EGV gebiete, „daß die Grundrechte insbesondere aus Art. 8, 9, 11 und 12 GG im Anwendungsbereich des Vertrages auch natürliche ausländische Personen schützen".8 Selbst wenn man hier jedoch von der Geltung der lex-specialisRegel ausgehen wollte, verbliebe dem Art. 6 Abs. 1 EGV jenseits der speziellen 5

Vgl. oben im 2. Teil unter I. 3. a) mit Fn. 209. Bauer/Kahl (Fn. 3), 1079 m.w.N. 7 Vgl. dazu Christine Fuchsloch, Das Verbot der mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung, Baden-Baden 1995, 51 m.w.N. (allerdings noch unter Bezugnahme auf Art. 7 EWG-Vertrag). 8 Armin v. Bogdandy, in: Eberhard Grabitz (|)/ Meinhard Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union. Altband I: EUV, Art. 1-136 a EGV (Maastrichter Fassung). München, Stand: 14. Erg.lfg. Okt. 1999, Rn.51 zu Art. 6 EGV (Hervorhebung im Original). Zur Anwendbarkeit neben anderen Bestimmungen des Vertrages (wie z.B. Art. 48 Abs. 3), die natürlich ausscheidet, wenn diese die nach Art. 6 tatbestandliche Diskriminierung zulassen, ders, aaO, Rn. 55 m.w.N.; wohl a.A. unter Bezugnahme auf eine Änderung der Rspr. des EuGH, der zu einer Anwendung der lex-specialis-Regel übergegangen sei, Wölker, in: von der Groeben u.a. (Hg.), Komm. z. EV/EG-Vertrag, 5 Aufl. Baden-Baden 1997, Rn. 14 zu Art. 48; a.A. bezogen auf die Bedeutung des Art. 6 EGV für die Rechte aus Art. 8, 9, 11 und 12 GG auch Drathen (Fn. 2), 162 ff. 6

31 Siehr

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3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

Diskriminierungsverbote noch ein Anwendungsbereich, und zwar seit der „Gravier-Entscheidung" des Europäischen Gerichtshofes aus dem Jahre 1985 insbesondere im Hinblick auf die Bildungspolitik: Der Gerichtshof hatte dort in einer Abgabe, Einschreibe- oder Studiengebühr einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (damals Art. 7 EWGVertrag) gesehen, wenn sie von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten, nicht aber von inländischen Studenten erhoben wird. 9 Daneben sind im Blick auf die in Art. 12 Abs. 1 GG als Deutschengrundrecht normierte Berufsfreiheit sowie das Deutschengrundrecht des Art. 11 GG (Freizügigkeit) angesichts des Anwendungsvorrangs des EG-Rechts natürlich insbesondere die speziellen Diskriminierungsverbote der Art. 48 Abs. 2 und 52 EGV zu beachten. Während Art. 48 ff. EGV die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und damit die Berufsfreiheit der nichtselbständig Tätigen betrifft, werden die für Art. 12 Abs. 1 GG relevanten Aspekte der selbständigen beruflichen Tätigkeit von Art. 52 ff. EGV (und Art. 59 ff. EGV) erfaßt, der somit die Rechtsstellung der Freiberufler und Gewerbetreibenden regelt. Nach Art. 48 Abs. 2 EGV umfaßt die Arbeitnehmerfreizügigkeit „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen". Soweit es um den Aspekt des Diskriminierungsverbots geht, ist Art. 48 EGV nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch unmittelbar anwendbar. 10 Die Niederlassungsfreiheit beinhaltet demgegenüber nach Art. 52 Abs. 2 EGV die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbs9 EuGH, Urt. v. 13.2.1985; Rechtssache 293/83 - Vorabentscheidung im Fall Françoise Gravier gegen Stadt Lüttich/Belgien, in: EuGRZ 1985, 307ff; dazu Thomas Oppermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsche Bildungsordnung - „Gravier" und die Folgen, Bad Honnef 1987; ders., Von der EG-Freizügigkeit zur gemeinsamen europäischen Ausbildungspolitik? Die „Gravier"-Doktrin des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Berlin 1988; s. auch Bauer/Kahl (Fn.3), 1079, bes. 1083 ff; Peter Becker, Die Entwicklung des Hochschulzulassungsrechts in den Jahren 1985 und 1986, in: NVwZ 1987, 653 ff. (657 f.); ders., Die Entwicklung des Hochschulzulassungsrechts in den Jahren 1987 und 1988, in: NVwZ 1989, 315 ff. (318). 10 St. Rspr., vgl. nur EuGH, Urt. v. 12.12.1974 - B.N.O. Walrave und L.J.N. Koch./. Union Cycliste Internationale, Rechtssache 36/74 - Slg. 1974, 1405 (1406), (Die Gleichbehandlung nach Art. 48 II erstreckt sich auch auf nichtbehördliche Akte); EUGH, Urt. v. 3.7.1974 - Casagrande ./. Landeshauptstadt München, Rechtssache 9/74 Slg. 1974, 773 (778 f.), (Ausbildungsforderung unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen); EuGH Urt. v. 14.1.1988 - Kommission ./. Italienische Republik, Rechtssache 63/86 - Slg. 1988, 29 (53), (Erwerb oder Miete einer mit öffentlichen Mitteln errichteten Wohnung durch EG-Ausländer); EUGH, Urt. v. 30.5.1989 - Kommission ./. Griechische Republik, Rechtssache 305/87 - Slg. 1989 II, 1461 (1478), (Rechtsgeschäfte über Immobilien, die die griechische Staatsbürgerschaft voraussetzen).

3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht" tätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen im AufnahmeStaat, und dies unter den gleichen Bedingungen und mit den gleichen Rechten wie dessen eigene Angehörige (Gebot der Inländergleichbehandlung). 11 Der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit wird sehr weit gezogen und schließt in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts - nicht nur Berufszulassungs-, sondern auch Berufsausübungsregelungen jeder Art ein, unabhängig davon, ob diese eine „berufsregelnde Tendenz" aufweisen. Auch das Gleichheitsrecht aus Art. 52 EGV ist seit dem Ablauf der Übergangszeit unmittelbar anwendbar. 12 Daneben wäre noch die Dienstleistungsfreiheit (Art. 59 ff. EGV) zu nennen, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit dahingehend ergänzt, daß sie anders als Art. 48 die selbständige Erwerbstätigkeit und anders als Art. 52 Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat ohne dortige Niederlassung betrifft. Sie erfaßt somit als Auffangtatbestand Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Warenverkehr (Art. 30 ff. EGV), den Kapitalverkehr (Art. 67 ff. EGV) oder die Freizügigkeit der Person (Art. 48 f f , 52 ff. EGV) unterfallen (Art. 60 Abs. 1 EGV). Als Dienstleistungen gelten nach Art. 60 Abs. 2 EGV insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten. Die - seit dem 1.1.1970 ebenfalls unmittelbar anwendbaren - Diskriminierungsverbote des Art. 59 Abs. 1 und 60 Abs. 3 EGV verbieten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als lex specialis zu Art. 6 Abs. 1 EGV direkte und indirekte Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern gehen insofern noch darüber hinaus, als nach neuerer Rechtsprechung nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, grundsätzlich besonders strengen Anforderungen genügen müssen.13 11

Vgl. zu alledem Bleckmann, Europarecht (Fn. 1), Rn. 1555, 1592 ff. m.w.N, zu den dort normierten Rechten auf Inländergleichbehandlung bes. Rn. 1563 bzw. 1650; zum umgekehrten Problem der sog. „Inländerdiskriminierung" s. statt vieler Theodor Schilling, Gleichheitssatz und Inländerdiskriminierung, in: JZ 1994, 8 ff, sowie Weis (2. Teil, Fn.209). 12 Bauer/Kahl (Fn. 3), 1080, m.w.N. 13 Vgl. EuGH, Urt. v. 3.12.1974 - J. H. M. van Binsbergen ./. B. van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, Rechtssache 33/74 - Slg. 1974, 1299 (1309), (Anforderungen, die an den Leistenden aus Gründen seiner Staatsangehörigkeit gestellt werden, sind mit Art. 59 u. 60 unvereinbar); Urt. v. 22.3.1994 - Kommission ./. Spanien, Rechtssache C - 375/92 - Slg. 1994, 1-935 (Verstoß gegen Art. 59, wenn Spanien den Zugang zum Beruf des Fremdenführers von einer Prüfung abhängig macht, die nur spanische Staatsbürger ablegen dürfen); EUGH, Urt. v. 30.11.1995 - R. Gebhard ./. Consiglio dell'ordine degli avvocati e procuratori di Milano, Rechtssache C-55/94 Slg. 1995, 1-4165 (Vorentscheidung), Slg. 1995, 1-4186 (Urt.), (Möglichkeit der Errich-

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3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

Damit dürfte klar sein, daß ungeachtet des Umstandes, daß dem EG-Vertrag keine mit dem Schutzbereich der in Art. 12 Abs. 1 GG als Deutschenrecht gewährleisteten Berufsfreiheit vollinhaltlich übereinstimmenden Aussagen zur Freiheit der beruflichen Betätigung der Unionsbürger zu entnehmen sind, 14 doch weitgehende Übereinstimmungen bzw. in kollisionsrechtlicher Sicht: Überschneidungen bestehen, die die Frage nach einer dogmatisch akzeptablen Lösung der durch die Deutschenvorbehalte entstehenden Probleme aufwerfen. Dabei steht erneut - nicht anders als bei Nicht-EG-Ausländern - die mit einem Deutschenvorbehalt versehene Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) im Zentrum der Diskussion. Im Unterschied zu sonstigen Ausländern ist bei Angehörigen der EG-Mitgliedstaaten das Ergebnis allerdings gemeinschaftsrechtlich vorgegeben: Sie sind gegenüber Nicht-EG-Ausländern insoweit zu privilegieren und den Deutschen gleichzustellen als das Gemeinschaftsrecht dies bezogen auf die Freiheit der beruflichen Betätigung verlangt. Dabei besteht heute auch dahingehend weitgehende Einigkeit, daß dieser Schutz sich nicht auf gemeinschaftsrechtlich verliehene oder vermittelte Rechte beschränken kann, sondern die Grundrechtsberechtigung der Unionsbürger zwingend mit einschließen muß, damit eine vollständige Gleichstellung - insbesondere auch hinsichtlich der Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde - erreicht wird. 15 Werden hingegen,

tung einer Anwaltskanzlei); dazu auch Bleckmann, Europarecht (Fn. 1), Rn. 1678 ff., bes. auch Rn. 1680 zu den Voraussetzungen, die derartige Maßnahmen erfüllen müssen. 14 Die Abgrenzungsfragen hinsichtlich der einzelnen Grundfreiheiten können hier ebenso auf sich beruhen wie die von Vorentscheidungen in umstrittenen Einzelfragen (vgl. dazu Bauer/Kahl [Fn.3], 1083 mit Fn.95) abhängige Frage, inwieweit die in Art. 12 I GG geschützte Berufsfreiheit und die EG-vertraglichen Aussagen zur beruflichen Betätigung der Unionsbürger inzwischen zur Deckung gelangen; vgl. dazu schon Bleckmann, Die Personen Verkehrsfreiheit im Recht der EG. Vom Gleichheitssatz zur Verankerung absoluter Grundrechte, in: DVB1. 1986, 69 ff. 15 Bauer/Kahl (Fn.3), 1081, sehen diese - auch von ihnen vertretene Position - einer Grundrechtsberechtigung der Unionsbürger als die im Vordringen befindliche Ansicht (mit umfangr. Nachw. z. Streitst. in Fn. 73); ebenso - schon frühzeitig - Zuleeg, Ausländer (l.Teil, Fn. 914), 364 unter Bezugnahme auf Grabitz; auch Zuleeg, Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 345; Breuer (l.Teil, Fn.519), Rn.21; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Fn. 8), Rn.51 zu Art. 6 EGV; s. auch Bleckmann, Europarecht (Fn. 1), Rn. 1650 f.; a.A. Scholz, in: Maunz/Dürig, der - ohne nähere Begründung - die Nichtanwendbarkeit des Art. 12 GG auf „Marktbürger" feststellt; sehr dezidiert aus der älteren Lit. auch Herbert Bethge, Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen - Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 104 (1979), 54 ff. (86); unklar Rüfher, Grundrechtsträger (l.Teil, Fn.964), Rn. 12, der einerseits von einer (nur) einfachgesetzlichen Rechtsstellung spricht, die die EG-Bürger vor allen Gerichten geltend machen könnten, andererseits feststellt, daß eine Verfassungsbeschwerde auf Art. 2 I GG, nicht auf Art. 12 GG zu stützen wäre und schließlich wiederum mögliche Probleme in einem späteren, dem Vertragsrecht widersprechenden Bundesgesetz sieht und hier (entgegen der h.M.

3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht" wie dies insbesondere in der älteren Literatur vielfach vertreten wurde, lediglich gemeinschaftsrechtlich vermittelte Rechte auf der Ebene des einfachen Rechts anerkannt, so ist weder die gebotene volle rechtliche Gleichstellung gegeben, die selbstverständlich auch alle Verfahrensrechte umfassen muß und jede (auch die mittelbare) Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt, noch wird dem oben skizzierten Charakter eines echten Verfassungsprozesses Rechnung getragen. 16 Bei den Positionen, die nach Maßgabe des EG-Vertrages einen auch den Weg zum Bundesverfassungsgericht eröffnenden Grundrechtsschutz der Angehörigen der EG-Mitgliedstaaten gewährleistet sehen wollen, ist allerdings nicht immer ganz klar, auf welcher rechtsdogmatischen Konstruktion dies beruht. So stellt etwa Bleckmann zunächst einmal - im Ausgangspunkt zutreffend - fest, daß Art. 52 Abs. 2 EGV hinsichtlich der Aufnahme und Ausübung von selbständigen Berufstätigkeiten kein den Art. 2, 9, 12 und 14 GG entsprechendes Grundrecht, das sich gegen die Beschränkung als solche richtet, gewähre, sondern nur ein Recht auf Inländergleichbehandlung. Sofern der Staat also die Rechte von In- und Ausländern gleichzeitig beschränke, stünde Art. 52 EGV (wie auch die Art. 48 ff. und 59 ff. EGV) einer solchen Einschränkung nicht entgegen. Allerdings komme den Angehörigen der EG-Mitgliedstaaten indirekt auch der Schutz der Deutschengrundrechte zu: „Wenn die Art. 48 ff., 52 ff. und 59 ff. die Bundesrepublik auch nicht verpflichten, die Deutschengrundrechte auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten auszudehnen, darf die Bundesrepublik auf Grund dieser Vorschriften aber nicht Maßnahmen gegen Angehörige der Mitgliedstaaten ergreifen, die ihr nach dem GG Deutschen gegenüber verboten sind. Es ist deshalb anzunehmen, daß die ausländischen Staatsangehörigen sich deutschen Behörden und Gerichten gegenüber unmittelbar auch auf die Deutschengrundrechte berufen können". 17 Möglicherweise ist dieser Passus so zu verstehen, daß in Anbetracht des Umstandes, daß der Verfassunggeber die Deutschengrundrechte nicht (auch nicht partiell) oder zumindest nicht dem ausdrücklichen Wortlaut nach auf Angehörige der EG-Mitgliedstaaten erstreckt hat, diese auch nicht formell als Träger des zum Anwendungsvorrang des EG-Rechts) auf Mechanismen des EG-Rechts gegen Vertragsverletzungen verweist. Für eine entsprechende Grundgesetzänderung Drathen (Fn.2), 212 ff. (216). 16 Wie viel hier in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist, zeigt sich spiegelbildlich an der aus dieser Zeit stammenden Feststellung Bethges, aaO: „Zudem hätte eine konsequente Beachtung der europarechtlichen Argumentationsschiene zur Folge, daß die sogenannten Deutschenrechte des Grundgesetzes (Art. 8, 9, 11, 12) eine gegenüber dem Gemeinschaftsbürger nicht tolerable Grundrechtsbeschränkung darstellten; ein vor der Verfassung trotz Art. 24 GG unhaltbares Ergebnis". 17 Bleckmann, Europarecht (Fn. 1), Rn. 1650 f.

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3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

Deutschengrundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG betrachtet werden, sondern statt dessen von einer Nichtanwendung des Deutschenvorbehalts ausgegangen wird, soweit der EG-Vertrag dies gebietet (also nicht dort, wo der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG weiter reicht als die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts). Diese Differenzierung wird im Schrifttum durchaus vorgenommen, 18 wobei allerdings die Frage ist, wie weit diese feinsinnige Unterscheidung trägt: Sicherlich leuchtet ein, daß der eindeutige Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG einer im Blick auf das Gebot der Gleichstellung mit den eigenen Staatsangehörigen zunächst naheliegenden direkten Berufung auf dieses Deutschengrundrecht entgegensteht. Auch finge es den Geist der europäischen Einigung nicht so recht ein, wenn man die Grundrechtsprüfung mit dem Satz beginnen müßte: „Deutscher im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG ist auch der europäische Unionsbürger". Demgegenüber ist die Nichtanwendung dieses Deutschenvorbehalts nach Maßgabe des EGV auf Angehörige der EG-Mitgliedstaaten, die einfachgesetzlich zu einer Gleichstellung mit den Deutschen führen würde, für sich genommen natürlich eine Möglichkeit, um dem gemeinschaftsrechtlichen Gebot der Inländergleichbehandlung zumindest auf einfachgesetzlicher Ebene Rechnung zu tragen. Möglich ist der Verzicht auf die Anwendung der Deutschenvorbehalte ja im übrigen stets, da sie, wie oben dargelegt, nur eine zusätzliche „Eingriffsreserve" begründen, von der aber nicht Gebrauch gemacht werden muß. Nur: Sobald der Anspruch auf einen solchen Verzicht auf Art. 12 Abs. 1 GG gestützt wird, der betroffene Angehörige eines EG-Mitgliedstaates sich also unmittelbar auf dieses Grundrecht berufen können soll, läßt sich nicht mehr zwischen Nichtanwendung des Deutschenvorbehalts und Grundrechtsträgerschaft differenzieren, denn nur der Träger eines Grundrechts kann sich auch auf dieses Grundrecht berufen. 19

18

Vgl. dazu und für weitere Stellungnahmen die eigens diesem Thema gewidmete Dissertation von Drathen (Fn.2), bes. 201 ff. (207 ff., 210 ff.) m.w.N., die allerdings über große Strecken nicht überzeugen kann. So muß z.B. hinsichtlich der auf S. 204 ff. vorgestellten Position zur „Einbeziehung der Gemeinschaftsangehörigen in den Gewährleistungsbereich der Bürgerrechte und des Art. 19 Abs. 3 in Form von Rechtsreflexen" erstaunen, daß der Verf. dem noch viel Positives abzugewinnen vermag (vgl. aaO, 205 f., bes. auch 213), auch wenn er sie letztlich verwirft. Zudem bezieht er sich hier u.a. auf Lit. aus dem Jahre 1958, die zu diesem Problem natürlich nicht viel hergeben kann (vgl. S. 205, Fn. 1006), bemüht aber auch Bleckmann (aaO, Fn. 1007), der wohl kaum so verstanden werden will. 19 Insofern jedenfalls konsequent Wölker, in: Von der Groeben u.a. (Hg.), Komm, zum EU-/EG-Vertrag (Fn. 8), Rn.4 zu Art. 48, der Arbeitnehmer aus EG-Staaten als „Träger der in Artikel 11 und 12 GG garantierten Deutschengrundrechte" sieht; ähnlich Zuleeg, Grundrechte (l.Teil, Fn. 113), 345 („zustehen").

3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht" Andere Autoren lehnen dies im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG ab 20 und vertreten die Ansicht, daß der den Verfassungswortlaut respektierende Weg zur Herstellung des gemeinschaftsrechtskonformen Grundrechtsschutzes fur Unionsbürger vielmehr über Art. 2 Abs. 1 GG führe. 21 Damit kann sich dieser Ansatz zugute halten, daß er eine der oben dargestellten herrschenden Auffassung zur Lösung der Frage des Grundrechtsschutzes von NichtEG-Ausländern in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen konforme und im Ergebnis auch den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts entsprechende Lösung präsentiert. Insbesondere Bauer und Kahl haben den Nachweis zu erbringen versucht, daß es im Rahmen der Prüfung des Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht durchaus möglich sei, die gegenüber anderen Ausländern privilegierte Position der Angehörigen von EG-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Sie verweisen in diesem Zusammenhang hinsichtlich der Möglichkeit differenzierender Abstufungen (nicht der jeweiligen konkreten Ergebnisse) auf die von Isensee und Schwerdtfeger unterbreiteten (oben erläuterten) Vorschläge. Anders als bei NichtEG-Ausländern gehe es aber bei den durch den EG-Vertrag gebotenen Differenzierungen und Abstufungen nicht mehr nur um diskussionsfähige Anregungen, sondern angesichts des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts um zwingende Vorgaben. Und das primäre Gemeinschaftsrecht verlange „in seinem Anwendungsbereich die Nichtdiskriminierung von EU-Ausländern gegenüber Deutschen auch in der Bundesrepublik Deutschland".22 Diese Vorgaben seien bei der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, und dies sei im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung auch möglich: Wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts sind EU-Ausländer im Anwendungsbereich und nach Maßgabe des EG-Vertrages in bezug auf den Grundrechtsschutz für ihre berufliche Betätigung den Deutschen gleichzustellen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Im Anwendungsbereich des EG-Vertrages fordert das Diskriminierungsverbot neben der Gleichstellung bezüglich der grundrechtlichen Gewährleistungen (Schutzbereich) nämlich auch eine Gleichstellung bezüglich der staatlichen Regelungsbefügnisse, was zur Folge hat, daß die Vorbehalte des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG im Wege einer europarechtskonformen Reduktion auf die bei Art. 12 Abs. 1 GG anerkannten Vorbehalte zurückgestutzt werden müssen. Im praktischen Ergebnis bedeutet dies, daß nicht-deutschen Gemeinschaftsangehörigen im Anwendungsbereich und nach Maßgabe des EG-Vertrages eine gegenüber ,normalen' Ausländem qualifizierte Grundrechtsposition zukommt, die insoweit derjenigen von Deutschen gleich20

So insbesondere Bauer/Kahl (Fn.3), 1077, 1085; vgl. auch Drathen (Fn.2), der letztlich zur Klarstellung für eine Grundgesetzänderung durch Einfügung eines neuen Art. 19 Abs. 4 GG plädiert, vgl. aaO, 201 ff. (216). 21 Bauer/Kahl (Fn.3), 1081 ff; ebenso Christoph Degenhart, Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen bei wirtschaftlicher Betätigung im Inland, in: EuGRZ 1981, 161 ff. (164). 22 Bauer/Kahl (Fn.3), 1083.

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3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

wertig ist und deshalb nicht das Verdikt eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht auf sich zieht.23 Im Ergebnis fuhrt diese Konstruktion sicherlich in dem durch das Gemeinschaftsrecht geforderten Umfang zu einer Gleichstellung der Angehörigen von EG-Staaten mit den Deutschen hinsichtlich der Berufsfreiheit. Doch zeigt hier schon die gesamte Terminologie, die ständig um Begriffe wie „Gleichstellung", „Gleichwertigkeit", „Nichtdiskriminierung", „Differenzierungen" und „Diskriminierungsverbot" kreist, daß Standort dieses Anspruchs auf Inländergleichbehandlung nicht Art. 2 Abs. 1 GG sein kann, sondern der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sein muß. Wäre man nicht im Blick auf den Grundrechtsschutz von Nicht-EG-Ausländern in deutschenrechtlich geschützten Lebensbereichen aufgrund der im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weithin akzeptierten Anwendung des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht so auf Art. 2 Abs. 1 GG fixiert, käme man wohl gar nicht auf den Gedanken, Diskriminierungsverbote bzw. einen Anspruch auf (Inländer-)Gleichbehandlung unter die allgemeine Handlungsfreiheit zu subsumieren, obgleich dieser Problemkreis geradezu den Kernbereich der Anwendung des Gleichheitssatzes ausmacht. Schon bei den Darlegungen Isensees fiel auf, daß er zwar feststellt, daß die „Komplexität der Verfassungsfragen des Ausländers (...) sich auf eine einzige Frage zurückführen (läßt): die Verfassungsfrage der Gleichheit" 24 und auch im Laufe seiner weiteren Ausführungen von „menschenrechtlichen Angleichungsgebote(n)" spricht, 25 dann aber fast überraschend erklärt, der „systemgerechte Ansatz liegt bei Art. 2 Abs. 1, dem subsidiären allgemeinen Freiheitsrecht, das die Grundrechtsbreschen zu schließen vermag". 26 Doch ist die Diskrepanz zwischen den Problemen, die man lösen will, und der Rechtsgrundlage, die man dafür bemüht, angesichts der dezidierten Aussagen des EG-Vertrages, der nun einmal Diskriminierungsverbote bzw. Gleichbehandlungsgebote als unmittelbar anwendbares Recht vorgibt, noch augenfälliger. Nun wurde oben bereits festgestellt, daß auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 GG, der prinzipiell auch neben Art. 3 Abs. 1 GG zur Anwendung kom23

Bauer/Kahl, aaO. Vgl. zur europarechtskonformen Auslegung auch ebd., 1081, wo sie mit diesem Argument Forderungen nach einer Verfassungsänderung oder dem Erlaß von Kollisionsnormen ablehnen, im übrigen darauf verweisen, daß es das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich der nationalen Rechtsordnung zu überlassen habe, wie sie die Herstellung der Gemeinschaftskonformität bewerkstelligt; s. zu alledem Martin Nettesheim, Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, in: AöR 119 (1994), 261 ff., 268 ff., 270ff. m.w.N. 24 Isensee, Ausländer (1. Teil, Fn. 14), 54. 25 AaO, 79. 26 AaO, 80.

3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht" men kann, bestimmte Grundrechtsverletzungen geltend gemacht werden können und namentlich die Einhaltung der rechtsstaatlichen Bindungen (Vorbehalt des Gesetzes, Bestimmtheitsgebot etc.) kontrolliert werden kann. Das gilt natürlich auch im Hinblick auf Angehörige von EG-Mitgliedstaaten. Demgegenüber ist die von Bauer und Kahl thematisierte Kollision des Deutschenvorbehaltes des Art. 12 Abs. 1 GG mit den speziellen (oder gegebenenfalls auch dem allgemeinen) Diskriminierungsverboten bzw. Gleichheitsrechten aus Art. 48 Abs. 2, 52 Abs. 2, Art. 59 Abs. 1 und 60 Abs. 3 bzw. 6 EGV nicht auf der Grundlage des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), sondern im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) zu lösen. Der Hintergrund dafür, warum Isensee trotz des von ihm zutreffend diagnostizierten Gleichheitsproblems zur Prüfung des Art. 2 Abs. 1 GG übergeht, liegt letztlich darin, daß er Art. 3 Abs. 1 GG im Sinne der herkömmlichen Dogmatik allein im Lichte der Willkürtheorie interpretiert: Einige Problemfälle kann er so zwar noch bearbeiten, 27 der Großteil fallt jedoch durch die groben Maschen des Willkürverbotes. Wie oben ausführlich dargelegt wurde, erklärt sich das daraus, daß die nationalstaatlich motivierten Gründe allesamt sachliche Gründe sind, so daß die Prüfung nach der Willkürtheorie abzubrechen wäre, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Dementsprechend wurde in Anlehnung an Husters Ansatz zum allgemeinen Gleichheitssatz ein (auf der ersten Stufe etwas modifizierter) zweistufiger Prüfungsaufbau vorgeschlagen. Nunmehr gilt es zu zeigen, daß dieser sich auch im Blick auf die Berücksichtigung der (auch unmittelbar anwendbaren) Diskriminierungsverbote bzw. Gleichbehandlungsgebote aus dem EG-Vertrag bewährt. Auf der Basis des Art. 6 EGV, der, wie schon erwähnt, ein striktes Verbot sämtlicher Differenzierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit statuiert 28 und sowohl direkte als auch indirekte Diskriminierungen erfaßt, ist im Anwendungsbereich des Vertrages jede Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen. Die Fallgruppe (1), in der Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit nachweislich in einem inneren Zusammenhang mit deren Funktion stehen müssen, schrumpfit also weiter: Innerhalb des Anwendungsbereichs des Vertrages ist kein Fall mehr denkbar, in dem die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit als sachlich gerechtfertigt gelten könnte; schon die bloße Möglichkeit einer den inneren Zusammenhang zur differenzierenden Regelung herstellenden sachbereichsspezifischen Differenzierung unter Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ist bezogen auf Angehörige der EG-Mitgliedstaaten von vornherein ausgeschlossen.

27

Siehe z.B. den Schankerlaubnis-Fall; dazu oben im 2.Teil unter I. 3. b) bei Fn. 256 ff, zu Isensees Kritik bes. bei Fn. 263. 28 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Fn. 8), Rn. 51 zu Art. 6 EGV.

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3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

Als Beispiel für eine Bestimmung, die dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 6 EGV - im Anwendungsbereich des Vertrages - Rechnung trägt, ist wiederum der oben schon erörterte § 8 BAföG 2 9 zu nennen: Wie nicht zuletzt die bereits erwähnte Gravier-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zeigt, ist Art. 6 EGV nach dieser Rechtsprechung auf bestimmte Begleitumstände der (Hochschul-)Ausbildung, insbesondere die als Zugangshindernis qualifizierten Studiengebühren, durchaus anwendbar, da zwar nicht die Bildungspolitik als solche, wohl aber die Voraussetzungen für den Zugang zur Berufsausbildung in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages fallen sollen. 30 Die britische und dänische Regierung hatten in diesem Verfahren Bedenken bezogen auf die Gewährung von sozialen Leistungen geäußert, etwa für den allgemeinen Lebensunterhalt oder als Ausbildungsbeihilfe, und insoweit auf besondere Verpflichtungen eines jeden Mitgliedstaates gegenüber den eigenen Staatsangehörigen verwiesen. 31 Diese Frage (die der Gerichtshof in der GravierEntscheidung offen lassen konnte) wird im Schrifttum unterschiedlich beurteilt, je nachdem, ob die Ausbildung im Anschluß an eine Berufstätigkeit - der sog. „Nach-Berufsphase" - stattfindet oder nicht. 32 Genau dies findet sich in §8 Abs. 1 Nr. 8 BAföG wieder: Danach werden Staatsangehörige anderer EGMitgliedstaaten, die im Inland vor Beginn der Ausbildung in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden haben, den Deutschen gleichgestellt, allerdings grundsätzlich nur, sofern zwischen der darin ausgeübten Tätigkeit und dem Gegenstand der Ausbildung ein inhaltlicher Zusammenhang besteht. In dieser ausdrücklichen Bezugnahme auf die „Nach-Berufsphase" in § 8 Abs. 1 Nr. 8 BAföG zeigt sich also sehr schön die Begrenzung auf den „Anwendungsbereich" des Vertrages (Art. 6 EGV). Da gemäß Art. 8 c EGV jeder Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines dritten Landes, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht vertreten ist, sogar den diplomatischen und konsularischen Schutz eines jeden anderen Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie dessen Staatsangehörige genießt, bleibt, soweit ersichtlich, für Fallgruppe (1) außerhalb des Anwen29

Siehe oben im 2. Teil unter II. 1. (vor Fn. 295 und pass.). Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 13.2.1985 (Fall Gravier gegen Belgien), in: EuGRZ 1985, 307 ff. (309), der sich auf unterschiedliche Quellen des Sekundärrechts stützt, aber auch darauf verweist, daß die gemeinsame Politik im Bereich der Berufsausbildung ein unentbehrlicher Bestandteil der Tätigkeit der Gemeinschaft sei, zu deren Zielen unter anderem die Freizügigkeit, die Mobilität der Arbeitskräfte und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer gehören. 31 AaO, 308f.; s. dazu allgemein auch Bauer/Kahl (Fn.3), 1084 m.w.N. zu Rspr. und Literatur. 32 Bauer/Kahl, aaO, insoweit in Anlehnung an Oppermann, EG-Freizügigkeit (Fn. 9), 15. 30

3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht" dungsbereichs des EG-Vertrages nichts übrig. Dennoch zielen die speziellen Diskriminierungsverbote der Art. 48 Abs. 2, 52 Abs. 2, 59 Abs. 1 und 60 Abs. 3 EGV und daneben bzw. in einer Auffangfunktion auch das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 6 EGV ihrer ganzen Stoßrichtung nach auf die Fallgruppe (2), in der es um die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen (im normativen Sinn) aufgrund externer Zwecke geht. Sie richten sich also vor allem gegen Ungleichbehandlungen, mit denen vorrangig nationalstaatlich motivierte Zielsetzungen verfolgt werden, schließen beispielsweise aus, daß von dem Deutschen vorbehält des Art. 12 Abs. 1 GG Gebrauch gemacht wird, um durch Schutz vor ausländischer Konkurrenz die wirtschaftliche Existenz der eigenen Staatsangehörigen zu sichern. Bei Ausländern aus Nicht-EG-Staaten wurde die Frage, ob eine solche der Fallgruppe (2) zuzuordnende Ungleichbehandlung vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt ist, von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig gemacht. Erster Prüfungsschritt ist dabei die Frage, ob mit der Ungleichbehandlung ein legitimer Zweck verfolgt wird, dieser also verfassungsrechtlich zulässig ist. Dies kann bezogen auf Ausländer aus Nicht-EG-Staaten im Blick auf nationalstaatliche Zwecksetzungen aufgrund der die Privilegierung der Deutschen zum Ausdruck bringenden Deutschenvorbehalte regelmäßig bejaht werden, so daß dort der Schwerpunkt bei dem üblichen Dreischritt der Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt. - Anders jedoch bei Unionsbürgern: Nach dem eindeutigen Wortlaut, aber auch nach Sinn und Zweck der oben genannten speziellen Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages steht unzweideutig fest, daß der mit einer solchen Ungleichbehandlung verfolgte Zweck unzulässig ist bzw. gerade umgekehrt eine Inländergleichbehandlung geboten ist. Da dies durch die mit Anwendungsvorrang ausgestatteten und auch unmittelbar anwendbaren Art.48 Abs.2, 52 Abs.2, 59 Abs.l und 60 Abs.3 EGV definitiv geregelt ist, kann die Prüfung an diesem Punkt bereits abgebrochen werden; für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bleibt im Anwendungsbereich und nach Maßgabe des EG-Vertrages kein Raum. Lediglich dort, wo der deutschenrechtliche Schutz weiter reicht als das gemeinschaftsrechtliche Gebot der Inländergleichbehandlung wäre wiederum in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung einzutreten. Soweit hingegen das Gebot der Inländergleichbehandlung reicht, ist innerhalb der Europäischen Gemeinschaft der Rückzug des Nationalstaates besiegelt. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß sich die oben vorgeschlagene rechtsdogmatische Lösung dadurch bestätigt findet, daß sich auch die durch den EG-Vertrag aufgeworfenen Fragen in diesem Rahmen lösen lassen: Es handelt sich eben in jedem Fall im Kern um ein Gleichheitsproblem, das sich in unterschiedlichen Abstufungen stellt. Daher kann es auch nur über Art. 3 Abs. 1 GG richtig adressiert und - im Blick auf Ausländer aus Nicht-EG-Staaten - im vollen Bewußt-

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3. Teil: Deutschengrundrechte im „Europäischen Verfassungsrecht"

sein der Spannungslage gelöst bzw. bezogen auf Unionsbürger nach Maßgabe des EG-Vertrages im Sinne einer grundrechtlich abgestützten Inländergleichbehandlung aufgelöst werden. Probleme, die sich bislang dem Nationalstaat stellten, sind damit allerdings allenfalls im Hegel'schen Sinne „aufgehoben"; auf der supranationalen Ebene finden sie sich wieder, drängen auf gemeinsame Anstrengungen in der Einwanderungs- und Asylpolitik, um nur ein Beispiel zu nennen. Innerhalb der Ordnung des Grundgesetzes hingegen wird die Spaltung der ursprünglich als ideelle Einheit proklamierten Menschen- und Bürgerrechte, die in praxi einer unterschiedlichen Berechtigung des Bürgers und des Menschen, der den Bürgerstatus nicht besitzt, weichen mußte, in Gestalt des Unionsbürgers immerhin partiell überwunden.

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Personenregister Ackerman, Bruce 261, 263 f., 273 ff., 277, 281 Alexy, Robert 63, 298, 351 f., 437, 457 Anschütz, Gerhard 93 ff. Arendt, Hannah 131, 133-137, 143, 166, 229, 268 v. Arnim, Hans Herbert 451 Bachof, Otto 23, 27, 333 f., 336 f., 339, 344, 348,351 Bahr, Otto 209,211 Balibar, Etienne 268 Bauer, Hartmut 369,487,489 Bentham, Jeremy 303 Beri it, Uwe 240 Besold, Christoph 170 Bleckmann, Albert 49, 284 ff, 292, 344 f., 360, 485 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 71, 73 f., 87, 89, 97, 235 f., 252 Bodin, Jean 203 v. Bogdandy, Armin 481 Bornhak, Conrad 212 Boutmy, Emile 29 f. Brinkmann, Karl 23, 48, 329 f. Brubaker, Rogers 129, 131 f., 144, 224, 229 f., 232, 328, 466 Campe, Joachim Heinrich 196 f., 200 Cranston, Maurice 15, 132, 295 Denninger, Erhard 21 ff, 25, 50,243,251 Diner, Dan 267 Doehring, Karl 47 Dolde, Klaus-Peter 411 Dürig, Günter 23, 45, 54, 68 f., 146, 337 ff,344, 468 Dworkin, Ronald 445 f., 457 34 Siehr

Erichsen, Hans-Uwe 375 Frankenberg, Günter 83, 132 f. Fikentscher, Wolfgang 71, 75 f. Gans, Eduard 221 Gebhardt, Jürgen 240 ff, 251 Geddert-Steinacher, Tatjana 40, 343 ff, 348,351 v. Gerber, Carl Friedrich 212 v. Gierke, Otto 209, 211, 213, 215-220, 236, 294,314,316 Giesen, Bernhard 245 Götz, Volkmar 289 Gouges, Olympe de 182 Grabitz, Eberhard 70,88 Grawert, Rolf 129,155,162 Grimm, Jakob 235 Gubelt, Manfred 397, 400 f., 403 Häberle, Peter 65,69,351 Habermas, Jürgen 228, 276 ff, 318 Hailbronner, Kay 365, 373 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 154, 217 Hart, H. L. A. 445 v. Herder, Johann Gottfried 236 Herzog, Roman 43, 360 Heun, Werner 453 ff, 455, 458 Hobbes, Thomas 140, 167 f., 198, 303, 324 Hofinann, Hasso 33, 57, 59, 76, 244, 270, 289, 320 f. Huster, Stefan 394, 438, 442-460, 463, 466, 473, 489 Isensee, Josef 116, 343, 346, 348 ff, 409 f., 413-418, 465, 487 ff.

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Personenregister

Jellinek, Georg 29 f., 72 ff, 77, 85, 95, 103 ff, 191 f, 21 I f f , 327 Johann I. ohne Land 32 Jordan, Silvester 14, 209 f., 213 Kahl, Wolfgang 487,489 Kant, Immanuel 55, 57, 61, 88, 115, 122, 137 ff, 190, 196, 304, 322, 376 f, 462 Kelsen, Hans 92, 177 Kent, Ο. T. 265 Kersting, Wolfgang 272 f. v. Kielmannsegg, Peter, Graf 57, 83, 194 Kloepfer, Michael 43, 342 f., 394,439 ff, 446, 448 Klopstock, Friedrich Gottlieb 303 Koller, Peter 320 Kristeva, Julia 230 Kühnhardt, Ludger 137 Kyriazis-Gouvelis, Demetrios L. 34 Laband, Paul 102, 162, 168, 179, 211 ff, 214 ff, 287, 316 Leibholz, Gerhard 407, 456 Lepsius, M. Rainer 237f, 241, 248f. Lerche, Peter 428 f, 431, 441 f, 455 f. Lesch, Walter 226 Locke, John 37 ff, 43, 79, 140, 142, 189 f., 262, 310 Ludwig XVI. 39 Ludwig XVIII. 97 Lüthy, Herbert 295,310 Madert-Fries, Ingrid 343, 350, 352, 411, 468 Makarov, Alexander N. 161 f. v. Mangoldt, Hermann 171, 173 f., 177 ff, 183 f , 186, 188, 192 Martini, Peter 452 f. Meinecke, Friedrich 233 f, 238, 282 Merten, Detlef 330, 332, 348 Mohl, Robert v. 180, 210 ff, 226 f, 287, 292 Montesquieu, Charles de 44 Moser, Justus 208,236 Münkler, Herfried 242 Nawiasky, Hans 57

Paine, Thomas 303 Pauly, Walter 265 Pieroth, Bodo 61 Podlech, Adalbert 418,438 v. Pufendorf, Samuel 170 Quaritsch, Helmut 351,365,373,409 Ratjen, Hans 254 Rawls, John 226 f, 263,271, 445, 456 Renan, Ernest 280 Robespierre, Maximilian de 304 v. Rönne, Ludwig 210,213 Rousseau, Jean-Jaques 83,137,140, 190, 195, 198, 207, 215, 295, 303 ff. Rüfiier, Wolfgang 454 f, 457 Sachs, Michael 367, 369, 380, 383 f, 402 Scalan, John A. 265 Scheidemantel, Heinrich Gottfried 198, 209,316 Scheuner, Ulrich 73 v. Schiller, Friedrich 235 Schlink, Bernhard 61 Schmitt, Carl 87, 91, 105-112, 123,280 Schneider, Hans-Peter 42, 69, 340 Schwabe, Jürgen 358 f, 366, 381 f, 449 Schwerdtfeger, Gunther 365, 369 ff, 375, 385, 423, 465, 477, 487 v. Seydel, Max 213 Sieyès, Emmanuel Joseph, gen. Abbé S, 83,196 Stahl, Friedrich Julius 213 Starck, Christian 40, 336, 348 f, 358, 376 Stein, Ekkehard 400,419 Stern, Klaus 24, 40, 49 ff. Sternberger, Dolf 241,276 Stier-Somlo, Fritz 95, 103 f, 106 Stolleis, Michael 198 ff. Svarez, Carl Gottlieb 205 f. Taylor, Charles 271 ff, 276 Thoma, Richard 103 Toqueville, Alexis de 250, 282 Uhland, Ludwig 99

Personenregister Vattel, Elmerde 286f., 312f., 432, 477 Walzer, Michael 120 ff., 125, 230, 232 f., 262 ff., 268, 462 Weber, Max 131 f. Weinacht, Paul Ludwig 180, 197 Welcker, Carl 208

Williams, Roger 75 Wintrich, Josef 54 f., 338 Wolff, Christian 26 f. Zuleeg, Manfred 285, 363, 365 f., 381 f., 397, 400 f., 403, 405

Sachregister Abwägung 66, 366, 372, 384, 386, 389, 436, 449, 464 f., 470, 476 - im Rahmen der Gleichheitsprüfung 393, 402, 428, 431, 434, 446, 450 f., 456, 458 ff., 464 ff., 476 f. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) 19,46,58,136,147 Allgemeinheit des Gesetzes 121 f., 140, vgl. auch 462 Allg. Landrecht f. d. preußischen Staaten v. 1794 (ALR) 199 ff., 204 ff., 209 Amt, öffentliches 84, 284, 293, 314, vgl. auch 195 - Amtseid 284 - Amtsprinzip 287 f., 290, 315 f. Angemessenheitsprüfung, gleichheitsrechtliche 393, 421, 426, 428 f., 431, 434, 441 f., 455,472, 474 Angleichungsgebote, menschenrechtliche 417 f., 477, 488 Anwendungsvorrang des Gemeinschaflsrechts 479 f., 487, 491 Apothekenurteil (s.a. BVerfG/Stufenlehre) 41 f., 66 f., 340 Arbeit - u. Herleitung des Eigentums 37 ff. Arbeit, (Grund-)Recht der 37 ff., 42, 46, 69, 340 - Menschenrechtskern 42,340 Arbeitnehmerfreizügigkeit 297, 482 ff, 489, 491 Arbeitserlaubnis 382 f., 414 f., 476 association politique /free association of individuals 79,110,154,217 Asyl 142, 144 ff., 343, 352, 423, 427, 467, 477 Asylpolitik, europäische 145 f., 492

Aufenthaltsdauer 370 ff., 382, 385, 389, 417, 465, 476 f. Aufenthaltsstatus 370, 373, 382 f., 386 f. Augsburger Religionsfrieden (1555) 71 Ausbildungsforderung (s. BAföG) Ausländer 308, 331, 364, 371 ff., 375 ff., 408 ff., 432 f., 467, 477 u. pass. - dauerhaftes Ausländertum 120, 125, 232, 281 - u. Französische Revolution 303 f. - als Gegenbegriff zum Staatsangehörigen 222 f., 229, vgl. auch 432 - Gleichstellung von EG-Ausländern 485 f., 487 ff. - Statusverfestigung 414 f., 417 f. Auswanderungsfreiheit 31 f., 72 Ausweisung 130, 150, 164 f., 371 Autonomie/~prinzip 57 ff., 61 ff., 80 f., 83 f., 114 f., 194 ff., 295, 304 f., 317, 325 f. u. pass. BAföG 427 ff, 432 ff, 441 f., 452, 466 f., 475, 490 Beamte 284,288,297,321 - Beamtenverhältnis/-laufbahn 297,423 - Berufsbeamtentum, hergebrachte Grundsätze 293 Berufsfreiheit 36, 46, 339 ff., 359 ff., 364 ff., 372, 374, 380 ff., 389, 464 u. pass. - u. EGV 297, 482 f., 484 ff., 489 - u. Gleichheitssatz 413 ff, 463 ff, 473, 476 f., 489 - u. Konkurrenzschutz 299 f., 366, 381 f., 464, 473 - U.Menschenwürde 41 ff., 66 f., 334, 339 ff., 343, 354, 366, 380, 384 ff., 464, 476 f. u. pass.

Sachregister - menschenrechtlicher Gehalt 36 ff, 40, 43, 68, 308, 333 f. - Menschenrechts-/Menschenwürdekern 42, 69, 339 f., 343,352, 360 f. - im Parlamentarischen Rat 170 ff., 183 f, 324, 341,382 Bill of Rights (1689) 32,77 bills of rights (amerikanische) 28 ff, 37 f, 75, 77 f, 80, 82, 84, 88, 195, 217, 295 Brokdorf-Beschluß (s.a. BVerfG) 44 Bundesakte (1815) 97 f. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) - Apothekenurteil 41 f, 66 f, 340 - Berufsfreiheit (für Ausländer s. Heilpraktikerentscheidung) 41 f,340 - Brokdorf-Beschluß 44 - Differenzierungsverbote (Merkmale des Art. 3 III GG) 396 - allgemeiner Gleichheitssatz 391, 404 ff, 429 f, 443, 458 ff. - Grundlagenvertragsurteil 193,247, 285 - Grundrechtsgeltung für jur. Personen des öffentl. Rechts 85 f. - Haftentschädigung 420, 429 f, 435 - Heilpraktikerentscheidung 299 f, 360 ff, 367 f. - Kommunalwahlrecht für Ausländer 249, 253, vgl. auch 17 - Menschenwürde 41, 43, 54 f. - Menschenbild des GG 41,43 - Palästinenser-Entscheidung 357 - Parteienfinanzierung (1958) 443 - Solange II-Beschluß 479 - Staatsangehörigkeit 158f,220,404 - Typisierungen 459 f. - Vereinigungsfreiheit (Urteil zum MitbestG) 43,332,336 Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) - Schankerlaubnissteuer 407 ff, 413, 467 f, 471 Bürger (s.a. Staats-/Stadtbürger) - BegriflTBedeutungsvarianten 180, 197 f , 199 ff, 314 ff. - Bürgerpflichten (s. Grundpflichten)

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Déclaration des droits de Phomme et du citoyen (1789) 13, 29 f , 79, 82, 109 f , 112, 136, 181, 194 f , 236,294, 302 u. pass. Déclaration des droits de Phomme et du citoyen (1793) 31 f, 39, 82 Delaware Declaration of Rights (1776) (s.a. bills of rights) 88,289 Demokratieprinzip 119 ff, 123, 284, 292 ff, 297, 313, 325 f. Deutsche/Deutscheneigenschaft 128,233, 239 f, 247, 284, 339, 397, 403, 432 Deutschengrundrechte (s.a. Deutschenrechte) 15, 119, 285, 326 ff, 329 ff. u. pass. - im Parlamentarischen Rat 170 ff, 177 ff, 183 f. - rechtsdogmatische Behandlung 329 ff. - u. allgemeine Handlungsfreiheit 357 ff. - u. europäische Integration 479 ff, 481 ff, 484 ff. - als Gleichheitsproblem 390 f, 460 ff, 471, 474 ff. - Menschenwürde-/Menschenrechtsgehalt/-kern 24, 28 ff, 36, 40 ff, 48 f, 51, 68 f, 117 f., 333 ff, 337 ff, 355 f , 468 f. u. pass. Deutschenrechte (s.a. Deutschengrundrechte) - Begriff 18 - als Gleichheitsproblem 460 f. - Kategorien 291 ff, vgl. auch 213 f. - als Ungleichtatbestände 411 f., 475 Deutschenvorbehalte - als „Eingriffsreserve" 326,331, 377f, 381, 389, 418, 435, 461, 463, 466, 473 ff, 486 u. pass. - der Abwehrrechte 120, 123 ff, 170 ff, 177 ff, 183, 229, 283, 323 ff, 326 ff. u. pass. - u. Nationalstaatsprinzip i.e.S. 291 f, 294, 298 ff, 323 f , 328, 384, 386 u. pass. - als Negativregelung 358, 375 ff, 469 - der Staatsbürgerrechte i.e.S. 120,124, 229, 293 f, 325 f, 460 - unter der WRV 93 ff, 103 ff, 107

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Sachregister

Dienstleistungsfreiheit 297, 483, 485, 489, 491 Differenzierungsverbote 394 ff, 421 Diskriminierung (s.a. Gleichheitssatz/Rassend-) 405,448,488 - mittelbare/verdeckte/indirekte 401 ff., 481,483,489 - unmittelbare/offene/direkte 401,404, 481,483,489 Diskriminierungsverbot (EGV) 488 - allgemeines 401, 480 ff., 489 ff. - spezielle ~e 481 ff., 487, 489, 491 Diskurstheorie 228, 276 ff. Drei-Elemente-Lehre 151, 154, 193,252 Edikt Ludwigs XVI. 39 EG-Vertrag (EGV) 297, 401 f., 480-492 Eigentum 37 ff., 80, 433 f. Einbürgerung 149 f., 230, 251 f., 254, 256, 259 f., 281 f., 400, 404, 416, 423 u. pass. - Anforderungsprofi 1 (s. Staatsbürgerschaft, Zugang zur ~ ) - als Zweitzulassung (s.a. dort) 265 f., 282,416 Einwanderung 228, 257, 275, 278 ff. - Beschränkungen 279 f., 281 f., 318 - als Erstzulassung (s.a. dort) 265, 281 f. - (liberales) Recht auf ~ 281, 318 f. - u. Staatsbürgernation 281 f. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), (1950) 46 f., 124, 153, 164 Europäische Union/Gemeinschaften 145, 176, 297, 479 ff. Europäischer Gerichtshof (EuGH) 436, 482 f., 490 - Gravier-Entscheidung 482,490 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 387f., 436 Exklusion (s.a. Inklusion/Schließung) 227, 246, 265, 268, 287, 291, 316 u. pass. - Exklusionsregeln/-mechanismen/-strategien 265,302,304 Findelkind 149

Flüchtlinge (s.a. Genfer Flüchtlingskonv.) 133 f, 142 ff., 149 f., 239, 246 f., 423, 427 Folter (s.a. Menschenwürdeverletzungen, Fallgruppen) 54,56,59 Frankfurter Nationalversammlung (s. Paulskirchenparlament) Freiheit 53 ff., 58 ff., 66, 70 ff., 86 ff., 91, 103 ff., 115, 438, 462 u. pass. - gleiche ~ aller 91 f., 109, 124 f., 171, 187, 295, 300, 326 f., 390, 461 f., 470 u. pass. - Philosophie der - (zu einzelnen Philosophen s. dort) 324, 433, 462 - als Staatszweck (s. dort) - als Verfassungsprinzip 70,87,104, 107, 112, 123, 187, 299, 327,356 u. pass. - neuzeitliches Verständnis 76 ff, 86 ff., 91 - Verschränkung von Freiheits- u. Gleichheitsproblem 109, 187, 327,425,476 Freiheiten, partikuläre 76 f., 86 ff., 91 f., 104, 123 Freiheitsbegriff - demokratischer/politischer 87 f., 110, 114 - liberaler 87 ff., 90 f. u. pass. - bei Kant 115, 376 f. Freiheitsbeschränkung, ungleiche 92, 104, 123 f., 187, 300, 308, 316, 327, 390, 435, 470 u. pass. Freiheitsrecht, allgemeines (s.a. Handlungsfreiheit) 71, 103 ff., 112, 114f., 125, 187,356, 376, 488 u. pass. Freiheitsrechte (s. Grundrechte) Freizügigkeit 29 f., 31 ff., 35 f., 46 f., 297, 327 f., 341 f., 357 u. pass. - Arbeitnehmerf- (s. dort) - Menschenrechts-/Menschenwürdegehalt 45,68, 146, 339, 341 f., 352 - im Parlamentarischen Rat 172 ff., 183, 324 Freizügigkeitsrecht, globales (s.a. Territorium, freier Zugang) 226 f. Fremde(r)/Fremdling 96, 120, 139 ff., 188 f., 221 ff., 229 f., 267 u. pass.

Sachregister Friedensschrift (Kant) 138 ff., 141, 303 f. Fürsorgeabkommen, Europäisches (1953) 164 Gastarbeiter 120, 140, vgl. auch 387 f. Gegenseitigkeitsverbürgung (s. bei Reziprozität) Gehorsam (s.a. Personalhoheit) 163, 166ff., 169f., 213, vgl. auch 203ff. Gemeinschaftsrecht (Anwendungsvorrang s. dort) 479 ff., 487 f. Genfer Flüchtlingskonvention (1951) 144, 147, 149, 165, 427 Genossenschaftslehre 209, bes. 216 ff., vgl. auch 99, 236, 294 Gemeinwohl 287 f., 290, 294, 316, 321 Gerechtigkeit/Gerechtigkeitsidee 125, 263, 271, 406, 445 ff, 451 f, 456 f , 462 f , 466, 473 f. - distributive 263, 433 f. - Individualgerechtigkeit 430,442, 454, 457, 475 - Gerechtigkeitsmaßstäbe, (sachbereichsspezifische) 406,441,443, 447, 453 f , 456 ff, 473 f. - Philosophie/Theorien der ~ 263 ff, 462, vgl. auch 125 - politische 120,125,230 - Steuergerechtigkeit 409 f , 443, vgl. auch 185 f., 441,447, 473 - Systemgerechtigkeit 409,457 Gesellschafts-/Herrschaftsvertrag (s.a. Vertragslehren) 37 f , 83, 140, 168, 207, 304 f , 310 Gestaltungsfreiheit/-spielraum, gesetzgeberische^) 64, 67, 69, 441, 456 f. Gewerbefreiheit 39, 467 Gewissensfreiheit (s.a. Grundrechte) 71 ff, 74 ff, 86 f. Gleichbehandlung/Ungleichbehandlung 205, 406, 435 ff, 445, 447 f, 450 ff, 464 f , 474 ff. u. pass. - im normativen Sinn 442 f , 448, 455, 457 f , 463,466, 471,473,476 - schematische 442, 444, 452 f , 455

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Gleichheit 191 f, 268 f , 271, 350, 391 ff. u. pass. - absolute 350, 452 f. - gleichheitsrechtliche Angemessenheitsprüfung (s. dort) - U.Differenz 267 ff, 399 - U.Gerechtigkeit 185 f , 406, 409, 442 f , 445 ff, 451 f , 473 f. - als Menschenrecht / allgemeine Menschengleichheit 109 ff, 125, 184 ff, 188, 191, 268, 328, 397, 400, 424, 471 u. pass. - menschenrechtliche u. mitgliedschaftliche/staatsbürgerliche 184 ff, 188, 191 f„ 268, 290, 316, 328, 399, 461 u. pass. - menschenrechtliche u. Nationalstaatsprinzip (s. dort) - Rechtsgleichheit 125, 184 ff, 204 f , 398 f , 412, 448, 452 f. - bei Carl Schmitt 108 ff. - als Staatsbürgerrecht/staatsbürgerliche 104, 108 ff, 121, 185, 188, 191, 203 ff, 268 u. pass. - Gleichheitsurteil 407 f , 424 - verhältnismäßige 393,428,431,435, 443, 455, 474 Gleichheitssatz 187, 391 ff, 405 ff, 426 ff, 442 ff, 446 ff, 488 ff. u. pass. - „neue Formel" 391 f , 426 ff, 430 f , 434, 456, 474 - Eingriff/Eingriffsmodel l/~srecht 393, 444, 446 ff, 451, 457, 473 ff. - Fallgruppen (s.a. Zwecke, externe/interne) 394, 442 ff, 446, 450 ff, 454 ff, 466, 473, 489 ff. - im Parlamentarischen Rat 183 ff. - u. Eingriffs- u. Schrankendogmatik 393 f , 437 ff, 448 ff, 472 - Schrankenmodell 394, 439 ff, 442 - u. Verhältnismäßigkeitsprüfting 391, 428 f, 431, 434, 436 ff, 447 ff, 450 ff, 458 ff, 463 ff, 471 ff. u. pass. - unter der WRV 104, 108 f , 111, 184, 186 Gravier-Entscheidung (s.a. EuGH) 482, 490

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Sachregister

Grundlagenvertragsurteil (s.a. BVerfG) 193, 247, 285 Grundpflichten 288 ff., 320 ff., 330 Grundrechte 17 f., 20 ff., 85 f., 93 ff., 97 ff., 103 ff., 112 ff., 218 u. pass. - als Abwehrrechte 84 ff., 88 ff., 108, 119f., 123,438 - Anwachsen eines materialen Grundrechtsgehaltes 369 ff., 385 f., 389, 465, 477 - Begriff 99 f., vgl. auch 236 f. - Deutschengrundrechte (s. dort) - dt. Entwicklung im 19. Jh. u. unter der WRV 93 ff., 96 ff. - Funktionen/Theorien (s.a. Statuslehre) 88 ff., vgl. auch 44 f., 84 f. - doppelter Geltungsbegriff 21 ff., 49 f., 118 - Gewissensfreiheit als Urgrundrecht/ erstes Menschenrecht 29, 74 f. - Individualg- vs. objektiv-rechtliche Schutzgesetzgebung 70 ff, 76 ff. - Jedermanngrundrechte (s. dort) - u. „staatsfreie Sphäre" 87,105,107, 109 f., 114, 191

Identität (politische/kulturelle/nationale/ -sstiftung o.ä.) 236, 242, 262, 265 ff., 270, 272, 277 ff., 317 ff. u. pass. Individualismus 79 ff., 99, 236, 262, 272, vgl. auch 85, 105, 136 - methodischer 80 f., vgl. auch 189,

216, 262

Inklusion (s.a. Exklusion) 265, 303 f. Inländergleichbehandlung 483, 485 f., 488, 491 f. Integration, europäische (s.a. Deutschengrundrechte) 249,294,301,427, 479 f. Internat. Pakt ü. bürgerliche u. politische Rechte (IPbürgR) 46, 58, 60, 148, 164 f. Internat. Pakt ü. wirtschaftliche, soziale u. kulturelle Rechte (IPwirtR) 46 Internationaler Gerichtshof (IGH) 152 f., 230 ius sanguinis 155 f., 158, 233, 254 ff., 257 ff. ius soli 155 f., 158, 254 f., 257 ff. Jedermannrechte/Jedermanngrundrechte 14 ff, 53 f., 91, 93, 172 ff., 305, 314, 358 f. u. pass.

Habeas-Corpus-Akte 77 Haftentschädigung/~sfall 420, 427, Kommunitarismus 267, 269 f., 271 ff., 429ff., 435, 442, 452, 468 276 f., 281,322 Handlungsfreiheit, allgemeine 70, 354, 357 ff., 363 ff., 374ff., 380 ff., 449 u. Konkurrenzschutz (s. Berufsfreiheit u. ~) pass. Konstitutionalismus 97 ff., s.a. 196 - als Auffanggrundrecht 115,117,336, 353, 355 ff., 373, 375 ff., 468 f., 487 u. Lebensmittelpunkt 422 ff., 434, 467 pass. leges fundamentales 99 f. Liberalismus 267, 269 f., 271 ff. - u. Berufsfreiheit bei Ausländern - organischer 216,236 359 ff., 365 ff., 372, 374, 380ff., 389, 464 Magna Charta Libertatum 32 ff., 73, 77 - materiale Grundrechtsposition 364 f., Massachusetts Declaration of Rights 370 ff. ( 1780) (s.a. bills of rights) 80, 155, Heilpraktikerentscheidung (s.a. BVerfG) 217 299 f., 359 ff., 367 f. Mayflower Compact ( 1620) 74 f., 295 Herrenchiemseer Entwurf 79,114,116, Menschenbild des GG 40 f., 43, 282, 174,313 317, 334 ff, 342 Homogenität 269,280 Menschenrecht, einziges 134 ff.

Sachregister Menschenrechte - Begriff 15, 98 f , 124,295 - Bedingungen ihrer Gewährleistung 135, 305 u. pass, vgl. auch 134, 149 - u. Deutschenrechte/-vorbehalte 22 ff, 28 ff, 36, 46 ff, 50 ff, 93, 106, 308 u. pass. - herrschaftsbegrenzende Funktion 78 f, vgl. auch 137, 147 - herrschaftsbegründende Funktion 78 f, 81, 110, 137, vgl. auch 194 - Gewissensfreiheit als erstes Menschenrecht (s. Grundrechte) - verbindlicher Kanon 26 f. - U.Menschenwürde 21, 40, 48 u. pass. - u. Nationalstaat/-sprinzip 132, 283, 302 ff, 312 ff, 424 - menschenrechtliche Paradoxien 132 ff, 270, 295, 302 ff, 309, 311 f. - als legitimatorisches Prinzip (s.a. herrschaftsbegründende Funktion) 79, 182, 192, 283, 312 ff, 403 u. pass. - Schutz- u. Freiheitsaspekt 53 ff, 58 ff, 305 f , 385 - u. Staat 132 ff, 154, 159, 190, 192, 229, 290, 302, 305 ff, 312 f. u. pass. - überpositive/vorstaatliche 17 ff, 21 ff, 31, 48 ff, 50 ff, 74 ff, 97 ff, 108 u. pass. - Universalismus (s. dort) - völkerrechtliche Verankerung (s.a. IPbürgR, IPwirtR) 46 f , 147 f. - u. Volkssouveränität 81 ff, 194 Menschenrechtsbekenntnis (Art. 1 II GG) 19 ff, 40, 48 f , 50 ff, 58 f , 113 Menschenrechtserklärung(en) (s.a. bills of rights/Déclaration) 33 ff, 77 ff, 97, 134 ff, 143, 270 u. pass. Menschenrechtsgehalt (s. Deutschengrundrechte) Menschenrechtsidee, „Verrechtlichung" 144, 225, 305 Menschenrechtskern (s. Deutschengrundrechte) Menschenrechts-/Menschenwürdekerntheorien 49, 69, bes. 333 ff, 337 ff, 346ff, 351 ff, 468 f.

529

Menschenrechtsschutz 134 ff, 147 ff, 195 f., 225, 305, 307 f. u. pass. - Grenzen 136,143 f. - U.Staatsangehörigkeit 147 ff, 305, 307 f. Menschenwürde 21 ff, 40 ff, 53 ff, 65 ff, 80f, 112ff, 349f, 354, 380, 418 u. pass. - Abwägung im Rahmen der ~ 63 - Ausstrahlungswirkung 62,64 - staatsgrundsätzliche/-konstitutive Bedeutung (o.ä.) 57, 119, 243 ff, vgl. auch 59, 317 u. pass. - -gehalt (s. Deutschengrundrechte) - (negative) Definition aus dem Verletzungstatbestand 54 ff, 61, 63 ff, 124 - positive Dimension 57 ff, 62 ff, vgl. auch 124 - Grundrechtscharakter 56, 60, 64, 350 - -kern (s. Deutschengrundrechte) - als Konsensbegriff 343 ff, 352 - Objekt-Formel (s. dort) - u. Prinzipientheorie 63 - als Staatsfundamentierungsnorm 57, 229, 243 ff, 317 - Staatsgründungsfunktion 244, 317 u. pass. - als Tabugrenze 61,64,124 - Unantastbarkeit 21, 60 ff, 64, 68, 112, 124 - -Verletzungen (Fallgruppen) 54 ff, 58, 60 f , 64, 68 Migration/Migrationsbewegungen 129 ff, 142, 226, 263 Mitbestimmung (s.a. Mitwirkungs- u. Teilhaberechte) 119 f , 122, 293 Mitgliedschaft (s. Staatsmitgliedschaft) Mitwirkungs- u. Teilhaberechte 119, 148, 192, 195, 197 f., 202, 206 ff, 215 ff, 229, 248, 295, 325 f. Nation 121 ff, 126 f , bes. ab 231 ff. - als Club 261 f. - konzeptioneller Dualismus 246 ff, 316,318, vgl. auch 281 - Konzept des Grundgesetzes 233, 239 ff, 246 ff, 257, 281, 316 ff.

530

Sachregister

- Natiogenese in Deutschland u. Frankreich 234ff., 255 f. - Kulturnation/ethnisch-kulturelles Konzept 233 ff, 238 ff, 245 f., 248 f., 253, 257, 281 f., 316, 319, 397 - als Solidargemeinschaft/-verband 281 f., 284, 293, vgl. auch 271 - souveräne 82 f., 294 f., 302 f. - Staatsnation 233 f., 237 f., 261, 277, vgl. auch 255 - Staatsbürgernation 237 f., 240 ff, 244-251, 253, 257, 260 ff, 265 ff, 277 ff, 316 ff. - Typologie 233 ff, 238 - u. Verfassung 286, 291, 294, 312 f. - Volksnation / ethnisch-kulturelles Konzept 237, 239 ff, 245 f., 248 f., 253 ff, 257, 266, 281,316, 397 Nationalstaatsprinzip - Begriff 126 f., vgl. auch 475 - u. Demokratieprinzip 284,292,297, 309, 325 f.,vgl. auch 294, 301 - im Grundgesetz 284 ff, 329 - u. europäische Integration 297, 479 ff, bes. 480, vgl. auch 491 - u. menschenrechtliche Gleichheit (s.a. Menschenrechte) 424 f., vgl. auch 314 f., 328 u. pass. - als Optimierungsgebot 127 f., 298 ff, vgl. auch 328 - als legitimatorisches Prinzip 127, 232, 283, 312 ff, 323,403,461 - Rechtscharakter 297 ff. - i.e.S. 291, 314 f., 321, 384, 403, 475, 477 u. pass. - i.w.S. 291,314 - Synkretismus 238, 291, 323, vgl. auch 287 - als Verfassungsprinzip 127, 283 ff, 286,313,475 Naturrecht (s.a. überpositive Menschenrechte) 21 ff, 25 ff, 77 f., 119, 183, 188, 194, 205 ff, 334 ff, 344 f. u. pass. - Erkenntnisproblem 26,36,48,51, 344 - u. Grundgesetz 21 ff, 25, 334 ff, vgl. auch 48 ff, 183, 188, 345 u. pass.

Naturzustand (s.a. status naturalis) 13 f., 37 f., 77, 80, 139 Niederlassungsfreiheit (Art. 52ff. EGV) 297, 482 f., 485, 489, 491 Nottebohm Case 152 f., 163, 230 Objekt-Formel 54 f., 58, 61, 338 ff, 344 Optionsmodell 156, 158, 260, 319 Optimierungsgebot 127 f., 298 ff, vgl. auch 328 Organismus, politischer/Organismuslehren 99, 207 f., 215 f., 236 Osnabrücker Frieden (s. Westfälischer Friede) Palästinenser-Entscheidung (s.a. BVerfG) 357 Parlamentarischer Rat 52, 170 ff, 181 ff, 192, 214, 246 f., 257, 324, 341, 377, 435, 475 Parteienfinanzierung (s.a. BVerfG) 443 Partikularismus/Partikularität (s.a. Universalismus) 270 ff, 277, 302, 305, 309,311 Patriotismus / - der Gerechtigkeit (s.a. Verfassungsp-) 245, 271, 276 Paulskirchenparlament (s.a. Verfassung, Paulskirchenv-) 98 ff, 211 ff, 236 f. Personalhoheit 133, 152ff, 166, 193, 224 Persönlichkeitsentfaltung/Recht auf freie - 4 I f f , 64ff, 340f., 363, 371,376, 380, 386, 476 Philosophie der Freiheit der Gerechtigkeit (s. dort) Pilgrimfathers 74,295 Plantation Agreement at Providence (1640) 74 f. Positivismus 25, 50 ff. - staatsrechtlicher (s.a. Spätkonstitutionalismus / Staat, präexistenter) 102, 169, 190, 206, 212 f. u. pass., vgl. auch 105 prima-facie-Rechte 437 f., 448, 453, 457 Prinzipientheorie 63, 127, 298, 351 f. Property-Begriff bei Locke (s.a. Eigentum) 37 f.

Sachregister Rassendiskriminierung, Internat. Übereink. z. Beseitigung v. - 400 f, 404 Recht, Rechte zu haben (s.a. Menschenrecht, einziges) 134 ff, 268, 305, 307 Rechtsstaat 180 f , 210, 287, 373, 433 - nationaler Rechtsstaat der WRV 93 ff, bes. 95 f , s.a. 186 f., 245, 314, 327 Rechtsstaatsprinzip 362, 385, 433 Religions- u. Gewissensfreiheit (s. Gewissensfreiheit) Republik 138ff„ 158,207, 310f, 317u. pass, vgl. auch 250 f. - res publica 287 f, 290 f, 293, 314 f, 321 Revolution - amerikanische (s.a. Unabhängigkeitserklärung) 120,302 - Französische 97ff, 123, 158, 196f, 200, 215 f, 284, 286, 302 ff. - dt. Märzrevolution (1848/49) 101, 180,214, 285 - Pariser Julirevolution (1830) 98 Reziprozität 176 f, 300, 324, 420, 429 ff, 435 Schließung, - u. Nationalstaat/nationale- 132, 229, 232, 320 - soziale 132,224,314,328,466 - territoriale (s.a. Territorium, freier Zugang) 131 f, 144, 224 ff. - u. Verfassungsstaat 224 ff, 228 ff. Schranken/-systematik/-vorbehalt (s.a. Gleichheitssatz) 91, 187, 308, 348f, 363 f, 366 ff, 378 ff, 437 ff, 448 f„ 470 u. pass. Schranken-Schranke 357, 369, 383, 393, 438, 440, 442, 450, 472 Schutz, diplomatischer 148, 153, 163 f , 285, 292 Schutz, staatlicher 163 f, 167 ff, 214 - -pflichten des Staates gegenüber seinen Angehörigen 171, 177 ff, 193 f, 283, 292, 316, 324 f, 377, 379 f, 469, 475 u. pass. - verfassungsrechtl. Schutzpflichten gegenüber j edermann 169

531

Schutzgenosse bei Kant 122, 138, 140, 462 Selbstbestimmung (s. Autonomie) Separation der Völker/Separationsthese 140, 143, 189 ff, 190 f , 262 ff, 303, 309 f, 315,462 Solange II-Beschluß Souveränität, staatliche (s. im übrigen Volkss-) 133, 150 ff, 157, 165, 203, vgl. auch 480 - Souveränitätstheorie 203 Spätkonstitutionalismus (s.a. Positivismus, staatsrechtlicher) 95, 105, 190 f. speziai duties 232, 271, 387, 390, 435, 461,471,475 Staat - Begriff (s.a. Drei-Elemente-Lehre) 150 f., 154 f. - moderner 129, 150 ff, 154 f , 201 ff, 218, 221 ff, 230, 257, 283 u. pass. - als Organismus (s. Organismuslehren) - als Personen-/Mitgliederverband 129, 158, 217 f, 221 ff. u. pass. - präexistenter (s.a. Positivismus, staatsrechtlicher) 95,105,111,114,123, 190,213 - als Territorialverband 129,221, 223 f, vgl. auch 203,218 Staatenlose/Staatenlosigkeit 133 ff, 143, 149, 165 ff. - Übk. über die Rechtsstellung der Staatenlosen (1954) 149,165 - UN-Konv. zur Verminderung der Staatenlosigkeit (1961) 149,167 Staatsangehörigkeit - Anforderungen, völkerrechtliche (s.a. Nottebohm Case) 150 ff, bes. 152 f, 163 - Anspruch auf- 136, 147 f, 307 f, 315 - Ansprüche/Pflichten aus dem verfassungsneutralen Grundverhältnis (s.a. Schutzpflichten des Staates) 160, 169 ff, 177, 179, 193 f, 291 f, 435 u. pass. - Differenzierungen nach der - (s.a. Differenzierungsverbote) 185, 395 ff.

532

Sachregister

400 ff., 408 ff, 414 ff, 418 ff, 434 f., 460 ff, 489 u. pass.

-

doppelte/mehrfache 153, 156 ff, 162, 259 ff. - Entstehung/Entwicklung 129 ff, 155, 221 ff, 304 - Erwerb (s. Einbürgerung / ius sanguinis u. ius soli / Staatsangehörigkeitsrecht) - Funktion 152 f., 160, vgl. auch 193, 258, 304,418, 421,434 - sachlicher/substantieller (Kern-)Gehalt 160 ff, 163, 167 ff, 178, 283 - Strukturmerkmale (s.a. moderner Staat) 155 f., vgl. auch 257 f. - als Mitgliedsstatus (s.a. Staatsmitgliedschaft) 129, 148, 158, 160, 193, 218, 221 ff, 229 ff, 304 u. pass. - Rechtsnatur 160 ff, 193 - als Rechtsverhältnis 160 ff, 193, 210 ff, 216 Staatsangehörigkeitsrecht (zur Reform s.a. Optionsmodell) 121, 155 f., 233, 252 ff, 257 ff, 403 u. pass. Staatsbürger - begriffsgeschichtliche Entwicklung/ Bedeutungsvarianten 180, 196 ff, 201 ff, 212 - Gleichheit untereinander als konstitutives Merkmal 202 ff. - bei Kant 138 ff, 196 - universeller 275, vgl. auch 138 Staatsbürgerrechte 181, 192 f., 210 f., 213 ff. - i.e.S. / Aktivbürgerrechte (s.a. Mitwirkungs- u. Teilhaberechte) 119 f., 195 f., 215 ff, 229, 293 ff, 315, 325 f. u. pass. - als Mitgliedschaftsrechte 160,179, 193 f., 214, 218, 309 f., 460 u. pass., vgl. auch 201 f. Staatsbürgerschaft 160, 181, 189 f., 193, 209, 229 f. u. pass. - Staatsbürgerschafts-Diskurs 269 ff. - Integrationsleistung 190, 192 ff, 214, vgl. aber auch 220 ff, 290 - Zugang 158, 230 ff, 249, 251, 261, 266 ff, 273 ff, 277 f., 315 ff. u. pass. - als Kampf um Gleichheit 268 ff.

Staatsgebiet (s.a. Drei-Elemente-Lehre/ Territorium) 151, 193 Staatsgründungsakt (Gründungsversprechen/-erzählung o.ä.) 242 ff, 251, 270, 295, 310ff, 317, 461 Staatsmitgliedschaft 129, 158 ff, 170, 191 ff, 197 ff, 201, 204 ff, 291 f., 294, 325 f. u. pass. - genossenschaftliche Deutung (s.a. Genossenschaftslehre) 216 ff, 294 - u. Menschenrechte 132 ff, 178 f., 180 ff, 186, 191,268 Staatsrechtslehre, Weimarer 93 ff, 115 f., 123 f., 327 Staatsvolk (s.a. Volk) 95, 120 f., 151, 193, 231 f., 247, 252 f., 283 f., 293, 297, 325 u. pass. Staatswerdung 129, 155, 201 ff, 221 ff. Staatszweck 59, 79, 88, 113, 205 u. pass. Statenversammlung v. Dordrecht (1572) 71,75 Stadtbürger 198 ff, 202 Städteordnung, Stein'sche (1808) 202 status activus 85, 106, 191, 309, 323, 326 status civilis 14, 188, 191, 289, 310, 314, 321 Statuslehre/-theorie 85, 95, 105 ff, 187, 191,212, 327, vgl. auch 85 status naturalis (s.a. Naturzustand) 188, 191,309 status negativus 85, 95, 105 f., 112, 123, 191 f., 309, 323,326, 461 status passivus 85, 320 Studiengebühren (s. EuGH, GravierEntscheidung) Stufenlehre 66 f., 369, 372, 380, 389 Supreme Court 30,36,405 Territorialhoheit (s.a. Staat als Territorialverband) 129,221,224 Territorium, freier Zugang (s.a. Schließung, territoriale) 129, 146 ff, 225 ff, 413, 415 f. Treue(pflicht) 163, 167 ff, 321 Typisierungen 459 f., 467, 473

Sachregister Übereinkunft „wegen wechselseitiger Uebernahme der Vaganten ..." (1816) 130 f., 165 Unabhängigkeitserklärung, amerikanische (1776) 82, 181, 195 Unionsbürger/Unionsbürgerschaft 157, 284, 297, 428, 480, 484, 486 f., 490 ff. Universalismus 80, 267, 271, 433, vgl. auch 274 ff. u. pass. - menschenrechtlicher 80, 121, 133, 178, 182,215, 236,304 u. pass. u. Partikularität 178, 270 f., 276 f., 302, 304 f , 311 Untert(h)an 97 f., 130, 180, 200 f , 203 ff., 212 ff., 218, 221 ff. u. pass. Utrechter Union (1579) 71, 75 f. Vereinigungsfreiheit/Vereinsfreiheit 29 ff., 43 f , 46 f., 107, 124, 175 f., 292 f, 327 f., 339,381 - Menschenrechtskern/Menschenwürdegehalt 29 ff, 36, 40, 43, 308, 332,336, 342f, 355 - im Parlamentarischen Rat 175 ff, 183 f., 324 f, 435 Verfassung - franz. - v. 1791 (Constitution Française du 3. Sept. 1791) 30,82,296 - franz. ~ v. 1793 (Acte Constitutionel du 24. Juin 1793) 30f., 39, 82, 296 - franz. ~ v. 1814 (Charte Constitutionelle Française) 97 - desNorddt. Bundes v. 1867 101 - oktroyierte ~ Preußens v. 1848/1850 101 - Paulskirchenverfassung (s.a. Paulskirchenversammlung) 36, 172, 341, vgl. auch 98 ff, 102 - Reichsverfassung v. 1871 101 - amerikanische Unionsverfassung (s.a. bills of rights) 28 - Weimarer Reichsverfassung (WRV) 93 ff, 102 ff, 123, 172, 184, 186, 327 Verfassungen der dt. Bundesstaaten 97 f. - Altenburger Konstitution (1831) 223 - Kurhessische Verfassung (1831) 98, 211

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Verfassungsbewegung, deutsche (s. Konstitutionalismus) Verfassungspatriotismus 244 f , 276 Verfassungsrecht, verfassungswidriges 27,330,412 Verfassungsstaat 159, 190, 192 f , 218, 228 ff, 241, 251, 282, 294, 312 ff, 315 f , 377 u. pass. Verhältnismäßigkeit i.e.S. 66, 370, 383f, 389, 421, 439f, 458, 463 f , vgl. auch 372 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 66 ff, 353 ff, 363 ff, 369 f., 372 ff, 380, 387 ff, 437ff, 470 f. u. pass. - Prüfung im Rahmen des Gleichheitssatzes (s. dort) - als Schranken-Schranke 369,378, 383,388, 439 f. - Ziel/Zweck-Mittel-Relation 370,428, 431, 434 ff, 439, 441 f , 450, 472 ff. u. pass. Versammlungsfreiheit 28 ff, 124, 174 ff, 184, 292 f , 327 f , 381 - Menschenrechtskern/Menschenwürdegehalt 43, 308, 336, 342 f. - im Parlamentarischen Rat 324 f. Verteilungsprinzip, rechtsstaatliches 87, 91, 106, 123 Vertragslehren/Kontraktualismus (s.a. Gesellschaftsvertrag) 190, 197, 205 ff, 295, 310 ff. Vertrauensschutz (s.a. Rechtsstaatsprinzip) 364, 373 f„ 379, 383, 385, 387 f. Virginia Bill of Rights (1776) (s.a. bills of rights) 31, 77 ff, 82, 195, 270, 295 f. Virginia Statute of Religious Liberty (1785) 75 Volk (s.a. Staatsvolk) - bürgerschaftlich verfaßtes 240 f , 243, 250 f. - Trennung von Demos u. Ethnos 241, 246, 249 - ethnisch-kultureller Begriff (s.a. Kultur-/Volksnation) 246, 249 ff. - politischer Begriff (s.a. Staatsbürgernation) 246,250,317

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Sachregister

Volkssouveränität 81 ff., 100, 120, 127, 194, 250, 284, 294 f., 313 - republikanisches Verständnis 250 f., 317 Wahlrecht (s.a. Staatsbürgerrechte/Mitwirkungsrechte) 84, 119 ff., 122, 148, 184, 209, 229, 293,295, 301 - Kommunalwahlrecht für Ausländer 249, 253, 297, 326, vgl. auch 17 Wehrpflicht/-dienst 157, 166 f., 285, 289 f., 320 f., vgl. auch 229 Wesensgehalt 64 f., 68 f., 337 f., 347, 350 ff, 355 Westfälischer Frieden ( 1648) 71 ff. Wiedervereinigung/~sgebot 247 f., 257, 285,316 Wiener Diplomaten- bzw. Konsularkonv. (1961 bzw. 1963) 163 f. Willkürformel/-theorie/-verbot 405 ff., 414, 418, 426, 429 f., 440 ff., 447, 450 ff., 467, 471,489 u. pass.

Zugehörigkeit (zur staatlichen Gemeinschaft / zur Nation) 119, 121, 127 ff., 133f., 136f., 143, 23Iff., 261 ff., 267 ff., 305, 325, 460, 474 u. pass. - als primäres Gut 261 ff., s.a. 232 - Menschenrecht auf - (s.a. Recht, Rechte zu haben) 136, 307, 309 - (gerechte) Vergabekriterien 121,232, 261 ff., 264 ff., 267, 270, bes. 273 ff. - Verlust der- 143, vgl. auch 134 Zulassung - Erst-/Zweitzulassung (s.a. Einwanderung/Einbürgerung) 120, 122, 265 f., 268, 281 f., 319, 416 - Zulassungsakte/-entscheidungen 264 ff., 413 ff., 465, 477 Zuzug (s.a. Einwanderung) 45,146 Zwecke - externe 394, 444, 450, 452 ff., 456 ff., 458 ff., 463, 465 ff., 473, 475, 491 - interne 394, 443 f., 452 ff., 45