Die deutsche fünfte Kolonne im Zweiten Weltkrieg

FÜNFTE KOLONNE Der Krieg im Dunkeln Als Adolf Hitlers großdeutsche Soldaten im Frühjahr 1940 Norwegen besetzten, kabelte

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German Pages 282 Year 1959

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Die deutsche fünfte Kolonne im Zweiten Weltkrieg

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Table of contents :
ZUR ZEITGESCHICHTE
......Page 2
DIE DEUTSCHE FÜNFTE KOLONNE IM ZWEITEN WELTKRIEG
......Page 3
GELEITWORT
......Page 7
VORWORT
......Page 9
ERSTER TEIL: FURCHT
......Page 13
I: PANIK IN POLEN
......Page 47
1. DÄNEMARK
......Page 60
2. NORWEGEN
......Page 63
III: DIE INVASION DER NIEDERLANDE
......Page 71
IV: DIE DEUTSCHE OFFENSIVE IN BELGIEN UND FRANKREICH
......Page 82
V: SPANNUNG IN ENGLAND
......Page 98
VI: ALARM IN AMERIKA
......Page 108
VII: 1941 - DEUTSCHLAND GREIFT WIEDER AN
......Page 123
VIII: DAS FIXIERTE BILD
......Page 133
ZWEITER TEIL: WIRKLICHKEIT
......Page 143
IX: POLEN
......Page 145
1. DÄNEMARK
......Page 155
2. NORWEGEN
......Page 163
1. HOLLAND
......Page 177
2. BELGIEN
......Page 187
3. LUXEMBURG
......Page 192
4. FRANKREICH
......Page 193
1. ENGLAND
......Page 197
2. AMERIKA
......Page 202
1. JUGOSLAWIEN
......Page 214
2. GRIECHENLAND
......Page 219
3. DIE SOWJETUNION
......Page 220
XIV: DIE MILITÄRISCHE FÜNFTE KOLONNE
......Page 226
DRITTER TEIL: ANALYSE
......Page 233
XV: DIE EINGEBILDETE FÜNFTE KOLONNE
......Page 235
XVI GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK
......Page 251
SCHLUSSBETRACHTUNG
......Page 273
INDEX......Page 277

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VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR ZEITGESCHICHTE

QUELLEN UND DARSTELLUNGEN ZUR ZEITGESCHICHTE BAND 4

LOUIS DE JONG

DIE DEUTSCHE FÜNFTE KOLONNE IM ZWEITEN WELTKRIEG

DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART

LOUIS DE JONG

DIE DEUTSCHE FÜNFTE KOLONNE IM ZWEITEN WELTKRIEG

1959 DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART

Titel der holländischen Originalausgabe „De Duitse vijfde Colonne in de tweede wereldoorlog“ Übersetzung von Helmut Lindemann

Alle deutschen Rechte bei der Deutschen Verlags-Anstalt GmbH., Stuttgart. Schutzumschlag und Einband entwurf: Hans-Joachim Kirbach. Gesamtherstellung: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH., Stuttgart. Papier von der Papierfabrik Salach in Salach/Württ. Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS

GELEITWORT ................................................................................................................................... 7 VORWORT.......................................................................................................................................... 9 ERSTER TEIL: FURCHT Einleitung: I. Kapitel II. Kapitel

Das Nahen des Unheils.......................................................................................... 15 Panik in Polen......................................................................................................... 47 Dänemark und Norwegen überrascht..................................................................... 60 1. Dänemark............................................................................................................ 60 2. Norwegen ........................................................................................................... 63 III. Kapitel Die Invasion der Niederlande ................................................................................. 71 IV. Kapitel Die deutsche Invasionin Belgien und Frankreich.................................................... 82 V. Kapitel Spannung in England............................................................................................... 98 VI. Kapitel Alarm in Amerika ................................................................................................ 108 VII. Kapitel 1941 — Deutschland greift wieder an ................................................................. 123 VIII. Kapitel Das fixierte Bild..................................................................................................... 133 ZWEITER TEIL: WIRKLICHKEIT IX. Kapitel X. Kapitel

Polen ..................................................................................................................... 145 Dänemark und Norwegen...................................................................................... 155 1. Dänemark.......................................................................................................... 155 2. Norwegen ......................................................................................................... 163 XI. Kapitel Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich..................................................... 177 1. Holland ............................................................................................................. 177 2. Belgien............................................................................................................... 187 3. Luxemburg ....................................................................................................... 192 4. Frankreich ......................................................................................................... 193 XII. Kapitel England und Amerika............................................................................................. 197 1. England.............................................................................................................. 197 2. Amerika............................................................................................................. 202 XIII. Kapitel Jugoslawien, Griechenland und die Sowjetunion.................................................. 210 1. Jugoslawien ....................................................................................................... 210 2. Griechenland .................................................................................................... 219 3. Die Sowjetunion................................................................................................ 220 XIV. Kapitel Die militärische Fünfte Kolonne............................................................................ 226 DRITTER TEIL: ANALYSE XV. Kapitel Die eingebildete Fünfte Kolonne XVI. Kapitel Geschichtlicher Überblick

235 251

Schlußbetrachtung............................................................................................................................ 273 Index ................................................................................................................................................ 276

5

GELEITWORT

Unsere Generation erlebt die Überlagerung der klassischen Staatenpolitik durch ideologische Frontbildungen, deren sich ins Totale steigernde Dynamik Grenzen und Staatsbürgerschaften überspringt. Dabei wird auch die Beschrän­ kung auf die herkömmlichen Methoden der Diplomatie und Kriegführung auf­ gehoben. Es werden Proselyten auch jenseits der Grenzen geworben, die zunächst eine

ideologische,

dann

auch

politische

und

militärische

Untergrundarbeit

zu

leisten haben. Auch wenn sie bloß mit einer totalitären Ideologie sympathisieren, erscheinen sie, von ihrem Wohnlande aus gesehen, als gefährliche und mehr noch gefürchtete

»Kollaborateure«;

und

den

Versuchen,

eine

Anhängerschaft

jenseits

der Staatsgrenzen aufzubauen, gehen parallel die Maßnahmen, in Krisenzeit bis zur Hysterie gesteigert, sich dieser unsichtbaren Gefahr zu erwehren. Eine solche zwielichtige Erscheinung, halb Realität, halb Produkt legenden­ bildender Phantastik, wie es die Furcht eingab, war die »Deutsche Fünfte Ko­ lonne im zweiten Weltkrieg«. Louis de Jong, der Leiter des Niederländischen Staatlichen

Instituts

für

Kriegsdokumentation

in

Amsterdam,

hat

in

seiner

1953 erschienenen Studie »De Duitse vijfde colonne in de tweede wereldoorlog« zum erstenmal nüchtern die dokumentarisch belegbare Wirklichkeit unterschieden von jenen Psychose-bedingten Vorstellungen über die deutsche »Fünfte Kolonne«, wie sie noch nach Kriegsende im Ausland lange vorherrschten. Sein Buch, hervor­ gegangen aus einem Auftrag der Unesco, war dementsprechend zunächst vor allem für ein außerdeutsches Publikum gedacht. So galt es beispielsweise zur Korrektur übertriebener Vorstellungen von der reibungslos funktionierenden Untergrundmaschinerie

des

Nationalsozialismus,

die

tatsächlichen

Organisation­

verhältnisse des 3. Reiches mit ihren zahlreichen inneren Hemmungen und Wider­ sprüchen darzustellen oder — andererseits — durch eine Analyse der geschicht­ lichen Voraussetzungen vereinfachende Kollektivurteile über die Rolle des Aus­ landsdeutschtums abzuwehren. Die Aufgabenstellung und die Adresse der Unter­ suchung brachten es naturgemäß mit sich, daß manche speziell inner- und aus­ landsdeutsche Zusammenhänge, die der deutschen Forschung vertrauter sind, nur im zusammengefaßten Überblick dargeboten werden konnten. Jedoch scheint uns auf der anderen Seite in der Orientierung des Buches nach »außen« ein ge­

7

wichtiger Gewinn gerade für den deutschen Leser zu liegen. Denn viel unbekann­ ter

und

viel

weniger

bedacht

als

die

realen

deutschen

Untergrund-Aktionen

während des zweiten Weltkrieges sind hierzulande die enormen Wirkungen und Folgerungen, die schon das Gespenst der deutschen Fünften Kolonne in fast allen Ländern bis nach Nord- und Südamerika hin auslöste und die der Verfasser aus einer Vielzahl entlegener ausländischer zeitgenössischer Quellen und Infor­ mationen in fesselnder Anschaulichkeit rekonstruiert hat. Auch eine Vergegen­ wärtigung dieser Auswirkungen gehört zur Erkenntnis der nationalsozialistischen Epoche. Es schien deshalb geboten, das Buch des holländischen Autors auch in die deutsche Zeitgeschichtsliteratur einzuführen. Nachdem 1956 eine leicht gekürzte englische Ausgabe des Buches herausgegeben wurde, hat das Institut für Zeit­ geschichte gern von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die deutsche Über­ setzung, die sich im wesentlichen an die englische Vorlage hält, in die Reihe seiner Veröffentlichungen aufzunehmen. München, im November 1958

8

Paul Kluke

VORWORT

Im Jahre 1949 ersuchte der Internationale Rat für philosophische und hu­ manistische Studien, eine der UNESCO angeschlossene Körperschaft, das Staat­ liche Institut für Kriegsdokumentation in Amsterdam um seine Mitarbeit an einer Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italiens,

die

von

Historikern

verschiedener

Länder

geschrieben

werden

sollte.

Die Mitarbeit sollte der sogenannten Fünften Kolonne der Deutschen gelten. Dem Ersuchen wurde Folge geleistet. Die Leitung des Instituts betraute mich mit der Aufgabe, welche — eine vergleichsweise kurze Arbeit — im 2. Halbjahr 1951 abgeschlossen wurde. Zunächst hatte ich mich damit begnügt, mir eine Vorstellung von den Intrigen zu

machen,

welche

die

Deutschen

außerhalb

Deutschlands

gesponnen

hatten

und die gewöhnlich als Arbeit der Fünften Kolonne bezeichnet werden. Dabei studierte ich zunächst die Literatur und später auch andere Quellen. Im Verlauf der Arbeit fiel mir auf, daß, zumal für die Kriegsjahre, der Unterschied zwischen der Tätigkeit, die der deutschen Fünften Kolonne zugeschrieben wurde, und ihrer tatsächlichen Arbeit ein besonderes Problem von größerer Bedeutung darstellt. Auf diese Weise entstand ein Buch, das sich ganz natürlich in drei Teile gliedert. Der erste Teil stellt dar, wie nach 1933 die Menschen außerhalb Deutschlands immer größere Furcht vor dunklen Operationen deutscher Agenten und national­ sozialistischer Parteigänger empfanden; wie diese Furcht jedesmal, wenn Hitler einen neuen Angriff unternahm, sich zur Panik steigerte; und wie schließlich die Vorstellungen, die aus Furcht und Panik geboren wurden, in dem, was später geschrieben wurde, ihren Niederschlag fanden. Man findet in diesem Buch zahlreiche Beispiele dafür, daß der deutschen Fünf­ ten Kolonne eine geheimnisvolle Allmacht zugeschrieben wurde. Hier möchte ich einen nüchternen amerikanischen Journalisten zitieren, um anschaulich zu machen, was meiner Ansicht nach in den meisten westlichen Ländern damals, als Hitler erfolgstrunken auf dem Gipfel seiner Macht stand, die ziemlich allge­ meine Überzeugung war. Die zitierten Absätze schrieb Otto Tolischus in der Woche, in welcher — nach Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Luxemburg — nun auch Frankreich im Todeskampf lag:

9

»Die Tätigkeit der Fünften Kolonne unterscheidet sich nach Friedenszeit und Kriegszeit. In Friedenszeiten besteht ihre Tätigkeit vor allem darin, Propaganda zu machen, die nicht immer lediglich prodeutsch oder pronazistisch ist, und in der Beschaffung eingehender Nachrichten über Handel, Industrie und politisches Leben sowie über die Stimmung im Lande, welche in Berlin zu einem vollständi­ gen Bild des nationalen Lebens zusammengestellt werden. Ferner werden wichtige Bürger des >Gastlandes< überwacht. Auch gewöhnliche Spionage gehört dazu, vor allem aber die Vorbereitung des >Ernstfallesnazistischen Spion< und in jedem Deutsch­ brasilianer einen Verräter zu sehen12 «. In Argentinien hatten sich die Dinge ähnlich entwickelt. Seit Beginn des Jahres 1938 hatte man allgemein das Gerücht gehört, die Deutschen besäßen geheime Stützpunkte

in

Patagonien.

Eine

parlamentarische

Untersuchungskommission

konnte in den ersten Monaten des Jahres 1939 dort nichts Verdächtiges entdecken. In der letzten Märzwoche veröffentlichte jedoch eine Abendzeitung in Buenos Aires ein Schriftstück, das sie von einem gewissen Enrique Jürges erhalten hatte. Es war das Faksimile eines Briefes vom 11. Januar 1937, der die Unterschrift eines Beam­ ten der deutschen Botschaft, von Schubert, und des stellvertretenden Landes­ gruppenleiters der NSDAP in Argentinien, Alfred Müller, trug. Der Brief war an den Leiter des Kolonialpolitischen Amtes der deutschen NSDAP gerichtet. Der Brief3 gab einen Überblick über die Spionage, die auf Weisung aus Berlin im süd­ lichen Argentinien in großem Umfang ausgeführt worden war. Als Schluß wurde berichtet, daß Patagonien »als Niemandsland betrachtet werden könnte«. Dieses Schriftstück löste eine Explosion aus. Alfred Müller wurde sofort ver­ haftet. Der Präsident der Republik ließ durch einen der obersten Richter die Echtheit der Urkunde untersuchen. Dieser kam zu dem Ergebnis, daß Jürges dem Präsidenten und der Presse eine falsche Urkunde aufgeschwatzt habe. Müller wurde entlassen und Jürges eingesperrt. Viele Leute weigerten sich jedoch zu glauben, daß das Schriftstück wirklich falsch sei. Besaß die NSDAP nicht in Buenos Aires »30.000 Mitglieder, von denen 20.000 der SA angehörten4«? Gab es nicht in Argen­ tinien »43 622 Nazi5«? Die Linke bestand auf einer weiteren Untersuchung. Der sozialistische

Abgeordnete

Enrique

Dickmann

behauptete

in

der

Sitzung

vom

7. Juni 1939, das Schriftstück sei echt, es könne einfach nichts anderes sein als echt, nach Form und Inhalt entspreche es genau dem »totalitären nationalsozialistischen System der Deutschen«. Inzwischen hatte man radikale Maßnahmen ergriffen. Im Herbst 1938 wurde für alle Schulen der Unterricht in Spanisch und in argentinischer Geschichte zur Pflicht gemacht. Am 15. Mai 1939 wurden in einem Teil des Landes alle Gliederun­ 1

Deutschtum im Ausland (Stuttgart) 1939. S. 585. (Künftig ohne Ortsangabe.)

2

Ebenda, S. 584.

3

Text in »Argentinisches Tageblatt« (Buenos Aires), 31.3.1939. Dies war eine anti-national­ sozialistische Zeitung. 4

H. F. Artucio: The Nazi Octopus in South America. London 1943. S. 76.

5

Berliner Tageblatt zitiert von »La Prensa« und New York Times, 9. 9. 1938.

40

gen der Auslandsorganisation

verboten. Die allgemeine Nervosität ließ jedoch

nicht nach. Es gab Gerüchte, daß geheime Waffenlieferungen entdeckt worden seien. Sicherheitshalber wurden einige Fässer, die aus Deutschland eingetroffen waren, geöffnet, doch enthielten sie lediglich Honig. Andere Staaten reagierten auf ähnliche Weise. In Chile, wo ein faschistischer Staatsstreich im September 1938 gescheitert war, wurden die deutschen Schulen gezwungen, chilenische Lehrer und Bücher und die spanische Sprache zu verwen­ den. Der Leiter des Werbebüros der deutschen Reichsbahn, der antisemitische Propaganda getrieben hatte, wurde des Landes verwiesen. Uruguay hatte schon 1938 Maßnahmen gegen den deutschen Unterricht getroffen. In Bolivien tat Präsident German Busch desgleichen. In keinem der südamerikanischen Staaten hatten die Deutschen nachdrück­ lichen Widerstand geleistet. Es fehlten ihnen die Mittel dazu. Sie waren jedoch vor allem durch die Verstaatlichung der Schulen verbittert worden. Man traute ihnen nicht. Einem Regime, das sich so plötzlich Prags bemächtigt hatte, konnte man alles zutrauen. Obwohl manche Südamerikaner vielleicht das Gefühl hatten, daß die »deutsche Gefahr« eingedämmt worden sei, wagte doch niemand zu behaupten, sie sei vollkommen gebannt. Viele glaubten eher, diese Fünfte Kolonne werde, wenn man ihr Gelegenheit gäbe, abermals »in vorbildlicher Ordnung und mit strikter Disziplin« vorrücken. * Wenn wir einen Augenblick innehalten und auf den Gang der Entwicklung zurückblicken, so sehen wir, daß die Furcht vor der deutschen Fünften Kolonne, die nach 1933 einsetzte, in hohem Maße eine internationale Erscheinung war. In den Teilen der Welt, aus denen wir unsere Beispiele bezogen haben — Deutsch­ lands Nachbarländer, die Länder in Nord-, West- und Südeuropa mit ihren Kolonien, das britische Weltreich sowie Nord- und Südamerika —, bildeten die freie Presse und der Rundfunk ein organisches Ganzes. Die Sowjetunion stand abseits. Dort folgten Presse und Rundfunk genau den Weisungen des Kreml, und es wäre schwer zu sagen, inwieweit diese die öffentliche Meinung spiegelten. Wenn unsere Darstellung den 22. Juni 1941 erreicht, an dem deutsche Panzer die russische Grenze überquerten, werden wir auf dieses Thema zurückkommen. Für die übrigen hier genannten Teile der Welt gilt der Satz, daß sie sich, was die Furcht vor den Deutschen angeht, in immer wachsendem Maße gegenseitig beeinflußten. Eine verdächtige Handlung in einem Land wurde in Dutzenden von anderen Ländern beachtet. Infolgedessen beeinflußte die Haltung der Men­ schen nicht eine einzelne Tatsache oder eine einzelne Meldung, sondern deren Anhäufung. Wo immer es Pressefreiheit gab, waren die Menschen in den Zeitungen auf Berichte über die deutsche Fünfte Kolonne gestoßen oder hatten im Rund­ funk davon gehört. Zunächst fand man solche Berichte nur ein paarmal in jedem Jahr, aber von 1938 an trafen sie wöchentlich oder gar täglich ein. Ein großer

41

Teil davon war in dem Unterbewußtsein der Menschen versunken; er war ver­ gessen worden, aber nicht verschwunden. Wenn wir die allgemeine Entwicklung in großen Zügen geschildert haben, so bedeutet das natürlich nicht, daß es nicht je nach Lage des einzelnen, der Ge­ sellschaftsschichten und Nationen beachtliche Unterschiede gab. Beispielsweise gab es Leute, die niemals zuließen, daß ihr Panzer aus unverantwortlichem Opti­ mismus von irgendeiner alarmierenden Nachricht durchbohrt wurde, während andere

von

der

Kriegsgefahr

hypnotisiert

wurden.

Wer

in

Deutschland

den

Streiter gegen den Kommunismus sah oder die unausgesprochene Hoffnung hegte, Nationalsozialisten und Kommunisten würden sich gegenseitig vernichten (diese Leute fand man auch oder gar besonders in den höchsten Kreisen West­ europas), betrachtete die Anzeichen einer deutschen Expansion verhältnismäßig ruhig, vielleicht sogar mit einer gewissen Genugtuung. Linkskreise hingegen hatten schon seit 1933 die Welt alarmiert. Außerdem spielte die Besonderheit jeder Nation und deren Geschichte eine Rolle. In den skandinavischen Ländern, in Holland und der Schweiz glaubten viele, sie könnten sich im Falle eines zweiten Weltkrieges genau wie im ersten aus dem Streit heraushalten. Der Engländer, der sich auf seiner Insel sicher glaubte und von Natur aus phlegmatisch ist, reagierte weniger heftig als Belgier und Franzosen, die den »Hunnen« aus dem ersten Weltkriege als einen Zerstörer und harten Gebieter kannten. Am heftigsten waren die Gefühle dort, wo Völker in früherer Zeit für längere Dauer unter militärischen Angriffen und sozialer wie politischer Unterdrückung der Deutschen zu leiden gehabt hatten, wo sie also einen nationalen Existenzkampf gegen die Deutschen hatten führen müssen, der viele Generationen lang gedauert hatte. Das war vor allem in dem Lande der Fall, das wir nun betrachten müssen, da wir uns dem Kriege nähern, dessen erstes und wohl am härtesten getroffenes Opfer es wurde: Polen. Die Polen leben in einer Tiefebene, die weder im Osten noch im Westen natür­ liche Grenzen kennt, und hatten daher seit Anbeginn ihrer Geschichte mit ihren wichtigsten Nachbarn, den Russen und den Deutschen, in ständigem Streit ge­ lebt. Oft war es zum Krieg gekommen, und fast immer hatte es Auseinander­ setzungen gegeben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Polen von Russen, Preußen und Öster­ reichern regiert. Immer wieder kam es zu blutigen Aufständen, die zwar scheiter­ ten, aber das Nationalgefühl lebendig erhielten. Dieses Gefühl richtete sich auch gegen die Deutschen, die als Chauvinisten, Großgrundbesitzer, Industrielle, Beamte, Lehrer, Polizisten, Lutheraner und Ketzer verhaßt waren. So wuchs unter den Polen das starke Verlangen danach, wieder Herr im eigenen Hause zu werden und die Deutschen zu vertreiben, in denen sie ungebetene Gäste sahen. Nach dem Elend des ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf die Fronten mehr­ mals von Ost nach West und zurück geschwankt und das Land verwüstet hatten, sahen die Polen eine Chance für sich. Um die Jahreswende 1918/19 wurde die

42

polnische Republik gegründet. Polnische Patrioten wollten bis an die Ostsee und die Oder vorstoßen, doch hielten die Deutschen nach einem anfänglichen Rückzug stand. Als die Grenzen festgelegt wurden, errangen die Polen einen Korridor zur Ostsee, durch den sie Ostpreußen von dem übrigen Deutschland trennten. Zwar war es ihnen nicht gelungen, Danzig in Besitz zu nehmen, doch hatten sie es immerhin dadurch von Deutschland abtrennen können, daß es in einen Freistaat verwandelt wurde. Die polnischen Farben wehten über dem Land um Posen und über dem östlichen Teil Oberschlesiens, einem der reichsten Industriegebiete Mitteleuropas. Den meisten Deutschen war der Gedanke unerträglich, daß sie sich mit diesen Verlusten abfinden sollten. Die deutsch-polnischen Beziehungen blieben ge­ spannt, was die in Polen lebenden Deutschen zu spüren bekamen. Die Polen versuchten, die Deutschen systematisch zu vertreiben. Hunderttausende von Deutschen packten ihre Sachen und zogen ab, andere Hunderttausende blieben. Wie viele das genau waren, wußte niemand. Berlin sagte eine Million, Warschau sagte, höchstens 750.000. Unter diesen Volksdeutschen gab es fraglos viele, zumal unter den Landwirten, die ebenso wie die Ukrainer, Weißrussen und Juden, insgesamt 13 Millionen Menschen, geneigt waren, sich mit der unvermeidlichen Oberherrschaft von mehr als 20 Millionen Polen abzufinden. Die Hitzköpfe unter ihnen dürsteten jedoch nach Vergeltung und sehnten die Wiederkehr der strengen Ordnung unter einer deutschen Verwaltung herbei. Schon 1933 gab es Augenblicke, von denen ein erfahrener amerikanischer Beobachter schrieb, »die Spannung schiene zu groß, als daß sie noch länger er­ tragen werden könne1«. Kaum eine andere europäische Nation war so geschlossen und so leidenschaftlich gegen das Dritte Reich eingestellt wie die Polen. Seinem ganzen Wesen und seiner Struktur nach konnte das polnische Volk sich nur gegen das Reich auflehnen. Der polnische Nationalismus brannte gleichermaßen in dem Herzen der Intelligenz und der Bauern. Die Oberschicht der polnischen Gesell­ schaft unterhielt enge Beziehungen zu Frankreich, die Arbeiter waren Sozialisten oder Kommunisten, und der jüdische Mittelstand fürchtete den deutschen Antisemitismus, der noch wütender war als die polnische Spielart. Alle diese Empfindungen herrschten in einer Atmosphäre der öffentlichen Meinung, die »so rasch wie Schießpulver Feuer fängt12 «. Außerdem kam es nach 1933 zu großen Meinungsverschiedenheiten unter den 1

William J. Rose: The Drama of Upper Silesia. A Regional Study. Brittleboro 1935. S. 318. — Eine bemerkenswerte Arbeit, die tiefen Einblick in die sozialen Aspekte des deutsch­ polnischen Gegensatzes gewährt. 2 Aus einem Brief des Völkerbundskommissars in Danzig, Professor Carl Burckhardt, an F. P. Walters im Generalsekretariat des Völkerbundes, 20. 12. 1938. Documents on British Foreign Policy 1919—1939. Third Series, Vol. III, S. 659. — Künftig zitiert als Doc. Br. For. Pol. III, Vol. I. etc.

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Volksdeutschen, welchen Weg man einschlagen solle. Den Polen blieb dieser innere Konflikt verborgen. (Wir werden darauf noch in anderem Zusammenhang zurückkommen.) Jeder Deutsche sprach Hitlers Sprache; das genügte. Außerdem war die äußere Geschlossenheit im Zunehmen begriffen. Für die Masse der polni­ schen Bevölkerung war es eine feststehende Tatsache, daß diese Deutschen das Kommen des »Führers« ungeduldig erwarteten, und daß die Aktiveren unter ihnen keine Bedenken haben würden, »mitzumachen«. An Aktivisten war kein Mangel. Seit 1933 kleidete die »Jungdeutsche Partei« ihre jungen Mitglieder in eine Uniform mit dem Hakenkreuz. Uniform und Haken­ kreuz wurden im Mai 1936 verboten. Zwei Monate später wurden 119 Volks­ deutsche in Kattowitz vor Gericht gestellt. Sie hatten einen geheimen Verein gegründet und waren angeklagt, mit deutschen Staatsangehörigen und mit Agenten der Gestapo zusammenzuarbeiten, um einen Aufstand in Oberschlesien vorzubereiten; 99 von ihnen wurden verurteilt. Abermals sechs Monate später wurden 42 Angehörige einer geheimen deutschen Jugendorganisation zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Im Sommer 1937 wurde dasselbe Schicksal 48 Jungen und Mädel zuteil, deren Vergehen unter anderem darin bestand, daß sie Hitlers Geburtstag in ihrem Lager allzu begeistert gefeiert hatten. Jeder dieser Prozesse galt der polnischen Öffentlichkeit als Beweis für dunkle Anschläge. Die Abneigung gegen alles Deutsche war tief eingewurzelt. Wollten sie die Volksdeutschen beschimpfen, so nannten sie diese »hitlery« oder »hitler­ owcy«, was soviel wie Teufel oder Teufelskinder bedeutete. Im innersten Herzen eines schlichten, gefühlsbetonten und gequälten Volkes lag dieser Vergleich nahe. Wenn man sich diese allgemeine Stimmung vor Augen hält, leuchtet ein, daß der polnisch-deutsche Nichtangriffspakt von 1934 keine große Bedeutung hatte. Regierung und Öffentlichkeit in Polen verstärkten ihren Druck auf die Volks­ deutschen, weil ihre durch schmerzliche Erfahrung geschärften Sinne auch in Hitlers süßesten Worten noch den aggressiven Geist entdeckten. Es kam häu­ fig zu Kämpfen gegen Volksdeutsche. 1939 nahm die Spannung rasch zu. Nachdem die Tschechoslowakei ausgeschaltet worden war, stand fest, daß Hitler nunmehr Forderungen hinsichtlich Danzigs und des polnischen Korridors anmelden würde. (Die polnische Regierung hatte die Gelegenheit benutzt, um den umstrittenen Grenzbezirk Teschen zu annek­ tieren.) Gegen Ende Oktober 1938 schlug Ribbentrop dem polnischen Außen­ minister Josef Beck als Lösung vor, Danzig solle deutsch werden und Deutsch­ land das Recht erhalten, eine exterritoriale Autobahn durch den Korridor zu bauen. Am 25. März 1939, zehn Tage nach Hitlers Einmarsch in Prag, beschloß die polnische Regierung im Vertrauen auf Englands und Frankreichs Unterstützung, jenen Vorschlag endgültig abzulehnen. Die Reservisten von drei Jahrgängen wurden einberufen. Begeisterung flammte auf. Am selben Tage wurden in den Häusern einiger Volksdeutscher in Posen und Krakau und in der deutschen Bot­

44

schaft in Warschau die Fenster eingeworfen. Eine Viertelstunde lang demon­ strierten Menschen vor der Botschaft und riefen: »Nieder mit Hitler! Nieder mit den deutschen Hunden! Es lebe das polnische Danzig1!« Gerüchtweise verlautete, in Oberschlesien seien bereits Kämpfe ausgebrochen. Viele Leute hielten den Krieg für unvermeidlich. Wenige bezweifelten, welche Haltung in diesem Palle die Volksdeutschen einnehmen würden. Am 28. April 1939 widerrief Hitler den Nichtangriffspakt mit Polen. Wiederum waren

die

Reaktion.

Volksdeutschen

die

Landwirtschaftliche

ersten

Opfer

Genossenschaften

der der

unvermeidlichen Deutschen

polnischen

wurden

auf­

gelöst, und die meisten ihrer Schulen — wenige waren es ohnehin nur noch — wurden geschlossen, während Volksdeutsche, die sich kulturell betätigten, verhaftet wurden. Mitte Mai wurde in einer kleinen Stadt, wo 3000 Volksdeutsche unter beinahe 40.000 Polen lebten, in vielen Häusern und Läden die Einrichtung in Stücke geschlagen. Mitte Juni wurden die noch vorhandenen deutschen Vereins­ lokale geschlossen. Mittlerweile wurde das deutsche Volk psychologisch auf den Krieg vorbereitet. Im April hatte Hitler sich endgültig entschlossen, seine Armeen marschieren zu lassen. Goebbels ließ seine Journalisten immer provozierendere Schlagzeilen ver­ wenden. Von Anfang August an verging kein Tag mehr, ohne daß die deutschen Zeitungen bittere Klage über die »Verfolgungen« der Volksdeutschen führten, manchmal mit Recht, häufiger auf Grund übertriebener oder erfundener Berichte. Konnten die polnischen Behörden daraus etwas anderes schließen, als daß die Deutschen sich zum Krieg rüsteten? Sie erließen weiterhin Sicherungsmaßnahmen gegen die Volksdeutschen, die ihrerseits zu Tausenden die Grenze zu überschreiten versuchten — weniger um den Schwierigkeiten des Augenblicks zu entgehen, als weil sie voraussahen, was der Krieg für sie bedeuten würde. Gegen Mitte August begannen die Polen, Hunderte von Volksdeutschen vor­ beugend zu verhaften. Dabei suchten sie wieder diejenigen aus, welche im Leben der

Volksdeutschen

führende

Posten

innehatten.

Zahlreiche

Haussuchungen

fanden statt. Deutsche Druckereien und Gewerkschaftsbüros wurden geschlossen. Am 24. August wurden acht Volksdeutsche, die in Oberschlesien verhaftet worden waren, auf dem Transport erschossen. Einen Tag später fand die polni­ sche Polizei Sprengstoff im Hause von zwei Volksdeutschen in Lodz. Gleichzeitig ging aus der Erklärung eines verhafteten Deutschen hervor, daß der Deutsche Sicherheitsdienst Provokateure nach Polen hineinschmuggelte, um volksdeutsche Bauern ermorden zu lassen, deren Tod dann Berlin wieder den Polen zur Last legen konnte. In der Nacht vom 25. zum 26. August — die Nacht, in welcher Hitler ursprüng­ lich Polen angreifen wollte — wurden deutsche Saboteure an der Grenze ver­ 1 Telegramm von Botschafter von Moltke an Auswärtiges Amt, 25. 2. 1939. Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Berlin 1939. S. 135. — Wie alle »gefärbten Bücher« (Sir Lewis Namier) muß diese Quelle zurückhaltend bewertet werden.

45

haftet. Sie hatten versucht, durch die polnischen Linien hindurch die Eisenbahnen im Hinterland zu erreichen. Am 25. August erregte in Lodz ein aus Deutschland kommendes Telegramm Aufmerksamkeit: »Mutter tot. Kauft Kränze.« Dadurch kam die Polizei einer Widerstandsgruppe auf die Spur, die in Konservenbüchsen mit polnischen Etiketten und in Ölkanistern mit doppeltem Boden 45 Kilogramm Dynamit versteckt hatte. Außerdem fand man Dutzende von Pistolen und Uhr­ werke für Bomben sowie deutsche Funkgeräte. 24 Menschen wurden verhaftet. Die Nachricht von diesem Fund und von den Verhaftungen eilte über die Telegrafendrähte und weckte überall bei Polizei und Gerichten die nervöse Frage, ob vielleicht auch in ihrem Bezirk die Volksdeutschen nur auf ihre Stunde warte­ ten. Man holte die Listen hervor, auf denen die Personen verzeichnet standen, die im Kriegsfalle verhaftet werden sollten. Am Morgen des 1. September 1939 schlug Hitler um Viertel vor fünf ohne Ultimatum oder Kriegserklärung zu.

46

I

PANIK IN POLEN

Ehe

Frankreich

und

Großbritannien

an

der

Westfront

eingreifen

konnten,

mußte Polen zertrümmert werden. Der deutsche Generalstab hatte auf Hitlers Befehl gute Arbeit geleistet. Innerhalb von vier Monaten war ein Operations­ plan vorbereitet worden, dessen maßgebliche Gesichtspunkte die Überraschung des Gegners und die Schnelligkeit der Operationen waren. Das Ziel war, überlegene Streitkräfte an allen entscheidenden Punkten zu sammeln. Anderthalb Millionen ausgebildete Soldaten standen bereit, als am 31. August 1939 der Befehl zum Angriff gegeben wurde. An beiden Enden des weiten Bogens, den die polnische Grenze bildete, stürmten in der Morgendämmerung des 1. September nahezu vierzig Divisionen los, darunter alle verfügbaren motorisierten und mechanisierten Verbände der Deutschen. Dreizehn Reservedivisionen folgten ihnen auf dem Fuße. An den meisten Stellen der polnischen Grenze wurden die Verteidigungsan­ lagen rasch durchbrochen. Panzerverbände stießen durch diese Lücken tief ins Land hinein. Die polnische Luftwaffe war am Ende des ersten Kampftages völlig gelähmt, die Deutschen hatten die Luftherrschaft errungen. Wo die deutschen Divisionen auf polnische Verbände stießen, kam es häufig zu schweren Kämpfen, doch gaben überall die überlegene Bewaffnung und Führung der Deutschen den Ausschlag. Ein polnisches zersprengt und vernichtet. griffsplänen alle möglichen werdende Änderungen der

Regiment nach dem andern wurde eingeschlossen, Das deutsche Oberkommando hatte bei seinen An­ polnischen Gegenbewegungen und dadurch notwendig eigenen Offensive so sorgfältig vorausgesehen, daß es

während der ersten Kampftage keine neuen Befehle auszugeben brauchte. Jede deutsche Herresgruppe, Armee und Division, jedes Regiment kannte seine Auf­ gabe. Am Ende dieser fünf Tage war die Macht der polnischen Armee gebrochen. Örtliche Kämpfe dauerten bis Ende September, doch verlängerten sie nur den Todeskampf. Als der letzte polnische Schuß aus dem letzten polnischen Bunker verhallt war, waren Regierung und Oberbefehlshaber der Polen nach Rumänien geflohen. Tausende von Soldaten waren gefallen, nahezu 700.000 waren in Kriegs­ gefangenschaft gekommen. Den Deutschen war eine riesige Beute in die Hände gefallen, große Teile Warschaus lagen in Trümmern, ausgebrannte Dörfer und

47

Höfe

zeugten

davon,

daß

deutsche

Panzer

die

polnische

Ebene

durchpflügt

und deutsche Stukas die Luft zerrissen hatten. Blickt man auf die Ereignisse zurück, so kann man wohl sagen, daß Polen den ungleichen Kampf schon verloren hatte, ehe noch das erste Geschoß eines deut­ schen Granatwerfers in den Gräben an der Grenze explodiert war. Das würde auch gelten, wenn nicht am 17. September die russischen Armeen begonnen hätten, die östliche Hälfte Polens zu besetzen. Die Polen jedoch hatten die Dinge nicht

auf

diese

Weise

empfunden.

Was

später

in

nüchternen

militärischen

Schilderungen als eine sich stetig entwickelnde, von Anfang an unvermeidliche Katastrophe erschien, hatten die Polen als einen Wirbel wildester Gefühle er­ lebt, in welchem Verzweiflung sich wieder und wieder zu Heldentum steigerte und Pessimismus in Begeisterung verwandelte. Der übereilte Wunsch anzugreifen und eine schrankenlose Überschätzung ihrer eigenen Kraft hatten die polnische militärische Führung veranlaßt, einen Opera­ tionsplan aufzustellen, demzufolge die deutschen Angreifer in der Flanke gefaßt werden und die polnischen Kavallerieverbände in der Mitte im Triumphzug auf Berlin vorstoßen sollten, wo sie ihre Pferde in Spree und Havel tränken könn­ ten. Zu diesem Zweck waren starke polnische Kräfte in Westpolen konzentriert worden, doch war bei Kriegsausbruch erst etwa die Hälfte der polnischen Divi­ sionen vollzählig; andere Divisionen waren unterwegs nach ihrem Bestimmungs­ ort, während bei wieder andern die Reservisten erst gerade die Züge erreicht hatten, die sie an ihre Gestellungsorte bringen sollten. Das Transportwesen geriet durcheinander, Brücken und Eisenbahnen wurden von deutschen Bomben zerschlagen, und so kam es, daß neben den Truppen, die fest in der Hand ihrer polnischen Kommandeure waren, zufällig zusammen­ gewürfelte Verbände standen, deren Offiziere und Mannschaften sich nicht kann­ ten. Vor und neben den deutschen Panzern und Infanterieverbänden suchten sich Haufen verzweifelter Flüchtlinge zu Fuß, manchmal auch in Autos und zumal in Bauern wagen einen Weg nach Osten, wobei sie ein paar dürftige, hastig zusammengeraffte Besitztümer mitführten. Diese Zone der Panik und Verwirrung erstreckte sich von den Grenzen bis ins Innere Polens, wo sich während der ersten Tage niemand eine Vorstellung über den Verlauf der Kämpfe machen konnte. Zu vielen Divisionen war die Verbindung abgerissen, und was im Korridor vor sich ging, konnte man in War­ schau bald nur noch erraten. Anfangs konnten keine Nachrichten von Nieder­ lagen den festen Siegesglauben erschüttern. Am 1. und 2. September herrschte schrecklicher Zweifel daran, ob England und Frankreich zu ihrem Wort stehen würden; als aber am Sonntag, den 3. September, die frohe Botschaft von der zweifachen Kriegserklärung an Deutschland sich ausbreitete, kannte die all­ gemeine Begeisterung keine Grenzen. An vielen Orten erschienen keine Zeitungen mehr und wurden keine Briefe mehr zugestellt, aber die Rundfunknachrichten nährten einen kräftigen Optimis­

48

mus. Zwar besaß keineswegs jeder ein Empfangsgerät, doch wurden die Nach­ richten mündlich weitergegeben und durch Gerüchte verbessert. So konnte es geschehen, daß sich die Leute erzählten, die polnischen Truppen seien überall im Angriff und näherten sich Königsberg in Ostpreußen. Trat in den Angriffen der Luftwaffe eine Unterbrechung ein, so sagten die Leute jedesmal, es liege daran, daß den Deutschen das Benzin fehle. Das Gerücht wollte sogar wissen, die Deutschen hätten aus Mangel an Bomben »an manchen Orten ihre Zuflucht dazu genommen, Bündel von Eisenbahnschienen abzuwerfen1«. Jede Meldung, die ihre Siegeszuversicht bestärkte, wurde von den Polen geglaubt. Als

aber

die

deutschen

Operationen

fortschritten,

verwandelte

sich

dieser

immer krampfhaftere Optimismus schließlich in verzweifelte Gebete, in Hilfe­ rufe und wütende Vorwürfe an die Adresse der Verbündeten, die es unterlassen hatten, dem deutschen Raubtier an die Kehle zu springen. Und von Anfang an war Furcht dabei gewesen: Furcht vor der brutalen Gewalt des Krieges, vor den deutschen Fliegerstaffeln, die ununterbrochen von Westen her wie auf Übungs­ flügen herannahten, ja, Furcht vor der ganzen Wehrmacht des Dritten Reiches, die den Versuch machte, Polens Grenztore aufzustoßen und — nach einigen Tagen mußte man die bittere Wahrheit eingestehen — dabei nur zu erfolgreich war. Furcht

und Hoffnung

waren

unlöslich

miteinander verwoben.

Das Gerücht

ging um, die Deutschen hätten aus ihren Flugzeugen vergiftete Schokolade und Zigaretten und mit Giftgas gefüllte Kinderballons abgeworfen. Andern Berichten zufolge sollten sie Tabakblätter auf die Wiesen streuen, so daß das Vieh, das den Geruch von Nikotin nicht ertragen konnte, Hungers sterben würde. Die deutsche Überlegenheit, die überall offenkundig war; die günstigen Mel­ dungen, die nicht bestätigt wurden; die Niederlage, die allmählich immer deut­ lichere Gestalt annahm — das alles erschreckte die Polen nicht nur bis ins inner­ ste Herz, sondern war zudem vollkommen unbegreiflich. Begreiflich wurde es nur, wenn man annahm, daß die Rückschläge nicht auf ein Versagen der eigenen Truppen im offenen Kampf zurückzuführen waren — was ohnehin undenkbar war —, sondern daß sie auf die Verschlagenheit des Feindes zurückgingen, auf die Operationen seiner Agenten. Wer waren diese Agenten? Ganz Polen konnte die Antwort geben: Es waren alle diejenigen, die seit 1918 als fremde Eindringlinge am polnischen Boden und an ihren eigenen Organisationen festgehalten hatten, die seit 1933 jeden Abend 1 Volksdeutsche Soldaten unter Polens Fahnen. Tatsachenberichte von der anderen Front aus dem Feldzug der 18 Tage. Zusammengestellt und bearbeitet von Dr. Kurt Lück, Posen. Berlin 1940. S. 34. — Alle deutschen Veröffentlichungen über die Leiden der Volksdeutschen im September 1939 müssen mit Vorsicht aufgenommen werden, sind aber, wie mir scheint, nicht in allen Einzelheiten unzuverlässig. Im großen ganzen stimmt das von ihnen gezeichnete Bild mit dem überein, was die Polen selbst in ihren amtlichen Veröffentlichungen mitteilen. Will man sich von Verfolgungen eine Vorstellung machen, so wäre es ein Fehler, das un­ beachtet zu lassen, was die Opfer zu sagen haben. Sie haben gewöhnlich ein besseres Gedächt­ nis als ihre Verfolger.

4

49

die feindlichen Rundfunksendungen eingestellt und die sich selbst bei sich daheim mit den Symbolen des Nationalsozialismus geschmückt hatten: die verfluchten Niemcy, die Hitlery, die Hitlerowcy, kurzum die deutsche Fünfte Kolonne! Seit Jahren waren die Polen vor ihnen gewarnt worden. Schon vor Ausbruch des Krieges waren Plakate mit der Warnung angeklebt worden: »Achtung Spione! Der deutsche Spion hört mit!« Seit langem hatte ihre Wachsamkeit den Volks­ deutschen gegolten; aber offenbar waren sie nicht wachsam genug gewesen. Am frühen Morgen des ersten September waren die polnischen Abteilungen in Danzig heimtückisch von deutschen Verbänden angegriffen worden, die in die Stadt

geschmuggelt

worden

waren.

Die

Nachricht

von

dem

überraschenden

Angriff erreichte Warschau noch, ehe die Verbindungen unterbrochen wurden. Im Industriegebiet von Oberschlesien hatten deutsche Soldaten, die nicht zur regulären Truppe gehörten, mit Hilfe von Volksdeutschen, die sich in den ört­ lichen Verhältnissen genau auskannten, versucht, Bergwerke, Fabriken und Kraft­ werke zu besetzen. An der Grenze waren in der Nacht vorher Brücken von ge­ heimnisvollen Gegnern besetzt worden, die nicht genau zu identifizieren waren, die ihr Ziel jedoch auf Schleichwegen durch die polnischen Linien erreicht hatten. In

Kattowitz

versuchte

eine

Gruppe

von

Volksdeutschen

mit

Hakenkreuz­

armbinden einen Aufstand anzuzetteln. Eine amerikanische Korrespondentin sah, wie dreißig bis vierzig von ihnen (der älteste war noch nicht zwanzig Jahre alt) unter schwerer Bewachung abgeführt wurden; ihnen folgten wenige Minuten später zwei Lastwagen: »Auf ihnen drängten sich Arbeiter, deren Kleidung zer­ fetzt, blutbeschmiert und dreckig war. Sie hockten da, von Soldaten umringt; wer den Kopf hob, wurde mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen. Diese Männer waren ebenfalls an einem nazistischen Aufruhr beteiligt gewesen1.« Ein Teil der Volksdeutschen, die zur polnischen Armee eingezogen waren — andere hatten sich einfach nicht gestellt, sondern waren untergetaucht —, leistete den deutschen Truppen an vielen Stellen ungenügenden Widerstand oder ver­ suchte zu fliehen. Unter ihnen wurde die Parole ausgegeben, daß sie unter keinen Umständen auf Deutsche schießen, sondern sich baldmöglichst gefangennehmen lassen sollten. Ein Volksdeutscher schrieb später: »Davon wußten die polnischen Offiziere, aber man glaubte uns einschüchtern zu können, indem man uns in die vorderste Linie steckte und genau beobachtete2.« In der Nähe von Posen, inmitten des Gebietes, wo die meisten Volksdeutschen lebten, fand man am zweiten Kriegstage bei der Mannschaft eines abgeschossenen deutschen Flugzeuges ein »Merkblatt zur Bekanntgabe an die gegen Polen ein­ gesetzten Truppen«, in welchem zu lesen stand: »Die deutschen und anderen Volksgruppen... 1 2

werden

den

Kampf

der

deutschen

Wehrmacht

unterstützen.«

Claire Hollingworth: The Three Weeks’ War in Poland. London 1940. S. 19.

Der Sieg in Polen. Herausgegeben vom Oberkommando der Wehrmacht in Verbindung mit dem Aufklärungsdienst der SA. Berlin 1940. S. 127.

50

Die »aktiv kämpfenden Teile der Volksdeutschen und anderen Volksgruppen« sollten die besonderen Erkennungszeichen und Kennworte erfahren, die im Merk­ blatt sorgfältig aufgezählt waren. Die Erkennungszeichen sollten ein rotes Taschentuch mit einem großen gelben Kreis in der Mitte, eine hellblaue Arm­ binde mit gelbem Mittelpunkt, ein sandfarbener Overall mit gelbem Abzeichen oder Hakenkreuzarmbinden sein. Das Kennwort sollte »Echo« sein, das auf deutsch, polnisch, ukrainisch, russisch und tschechisch gleich geschrieben und ausgesprochen wird. Alle diese Mitteilungen fanden sich säuberlich in Maschinenschrift auf vier großen Seiten, ordnungsgemäß unterschrieben: »Für die Richtigkeit Prinz Reuß, Major.« So stand es schwarz auf weiß zu lesen1. In Posen, wo man das Merkblatt gefunden hatte, wurden ebenfalls am zweiten Kriegstage zwanzig deutsche Agenten verhaftet. Sie alle trugen die richtigen Armbinden und Abzeichen unter ihren Regenmänteln. »Sie gaben zu, daß sie während der Nacht die Grenze überschritten hätten und daß sie beauftragt seien, die Räumung der polnischen Armee zu verhindern, Störungsmanöver vorzunehmen und Verbindungen zu vernichten. Sie alle hatten eine entsprechende Ausbildung in Deutschland durchgemacht2.« An verschiedenen Stellen des Polnischen Korridors wurden militärische Ver­ bände eingesetzt, die aus Volksdeutschen bestanden oder von diesen unterstützt wurden. Der französische Konsul im Ostseehafen Gdingen, der in den ersten Kriegstagen nach Warschau geeilt war, erlebte, daß Volksdeutsche verhaftet wurden, die beim Umstürzen von Telegrafen- und Telefonmasten ertappt worden waren. In einer Stadt hatte ihm der Polizeichef entrüstet gesagt, »daß er sich allen Ernstes zu fragen beginne, ob nicht jeder, mit dem er spreche, ein verklei­ deter Volksdeutscher sei, der verhaftet werden sollte3«. Anderswo in Polen waren die Rückzugwege durch Bäume versperrt worden, die zu diesem Zweck gefällt worden waren. Man konnte deutsche Agenten treffen, die als polnische Militärpolizisten, Bahnbeamte und Offiziere verkleidet waren. »Ihre deutschen Papiere waren in dem Futter ihrer Kleidungsstücke versteckt4.« Nun, das waren unwiderlegliche Tatsachen. Das Merkblatt des Prinzen Reuß konnte jedermann lesen. Die verhafteten Deutschen waren zu sehen, ihre Waffen, Kleidungstücke, Taschenlampen und Drahtzangen konnte man anfassen. Weiter stand unwiderleglich fest, daß im Korridor und in Oberschlesien junge Volks­ deutsche zu den Waffen gegriffen hatten. Diesen Tatsachen wurde jedoch eine viel weitere Auslegung gegeben. Die breiten Massen des polnischen Volkes erwarteten nichts Geringeres, als daß die Volksdeutschen in großen Scharen ihrem Herrn 1

Faksimile in: The German Fifth Column in Poland. London 1941. Nach S. 148.

2

Aussage Nr. 4 des Majors J. Z. Ebenda, S. 81/3.

3

Aufzeichnung von R. Chaulet. Ebenda, S. 156.

4

Aussage Nr. 316 eines unbekannten Leutnants. Ebenda, S. 119.

51

und Meister Adolf Hitler zur Hand gehen würden. Diese Erwartungen, so meinten die Leute, hatten sich bestätigt: überall und von Anfang an. Zunächst glaubten unzählige Polen, die Volksdeutschen hätten besondere Schritte unternommen, um zu verhindern, daß ihre Häuser bombardiert oder beschossen würden. Man sagte, sie hätten dieserhalb Zeichen auf den Dächern angebracht oder Strohhaufen auf bestimmte Weise in der Nähe der Häuser auf­ gestellt oder die Kamine weiß gestrichen. »Bei Nacht«, so berichtete ein polni­ scher Leutnant, »wurden diese Kamine nach dem verabredeten Signalcode mit verschiedenen Farben beleuchtet1.« Auch bei Tage glaubten die Leute, verdächtige Zeichen wahrzunehmen. Polnische Truppen, die in Gebieten, wo Volksdeutsche lebten, marschierten, waren häufig davon überzeugt, daß die Bauern bestimmte Arbeiten verrichteten, welche abredegemäß Signale für die deutschen Truppen und zumal für die Luftwaffe enthielten. Diese Signale fielen auch den polnischen Piloten auf. Das Gras war »planmäßig geschnitten« worden. Hürden waren »in besonderer Ordnung« aufgestellt. Auf einem gepflügten Acker war »einem Plan zufolge« eine Figur in den Boden getrampelt worden12 . Wann immer die Deutschen einen Luftangriff ausgeführt hatten, suchten die Polen in der Nähe der Bombenziele nach Komplizen, die ihrer Meinung nach den Deutschen Hilfe geleistet haben mußten. Volksdeutsche wurden verdächtigt, in ihren Zimmern das Licht angelassen zu haben, um der Luftwaffe zu helfen, oder durch ihre Kamine Lichtstrahlen nach oben geschickt oder gar den deutschen Flugzeugen durch brennende Streichhölzer den Weg gewiesen zu haben. In West­ polen wurde behauptet, der Besitzer eines Steinmetzbetriebes habe nicht nur einen Funksender, sondern habe auch »von seinem Hof aus den deutschen Fliegern die Windrichtung angezeigt«. Er wurde hingerichtet3. Zwischen Posen und War­ schau versuchten zwei Volksdeutsche, die der Verhaftung entgangen waren, in einer Hütte ein Mahl zuzubereiten. Polnische Eisenbahnbeamte hörten sie deutsch reden; Militär wurde benachrichtigt, und die Deutschen wurden gefangen ab­ geführt. »Man sagte, wir hätten mit Rauch den deutschen Flugzeugen Zeichen gegeben, die ständig den Güterbahnhof angriffen4.« Wie viele wurden aus solchen Gründen verhaftet oder gar getötet? Niemand weiß es, aber allein in Thorn wurden 34 Menschen erschossen, die »dabei ertappt wurden, als sie während eines Angriffs deutscher Bomber mit Spiegeln oder weißem Zeug Signale gaben5«. Zahllose Volksdeutsche wurden der Spionage oder Sabotage verdächtigt, für 1

Aussage Nr. 410 des Leutnants Z. Ebenda, S. 100.

2

Aussage Nr. 257 des Luftbeobachters S. K. Ebenda, S. 103/4.

3

Aussage Nr. 352 des Leutnants S. Ebenda, S. 100.

4

Marsch der Deutschen in Polen. Deutsche Volksgenossen im ehemaligen Polen berichten über Erlebnisse in den Septembertagen 1939. Berlin 1940. S. 65. 5

52

The German Fifth Column in Poland. Aussage Nr. 72 des Dr. J. B. S. 120/1.

deren Zweck sie sich kunstvoll verkleidet hätten. Das geschah in polnischen Uniformen und manchmal in Zivil »als Arbeiter, Bettler, Priester, Angehörige religiöser Orden« oder »als Frauen1«. Die deutschen Agenten waren jedoch keineswegs immer vom Scheitel bis zur Sohle besonders angezogen. Natürlich muß­ ten sie Erkennungszeichen haben, beispielsweise Bänder in bestimmten Farben. Andere jedoch gab es, so meinten die Leute, die sich gegenseitig auf viel unauffäl­ ligere Weise, durch »besonders geformte Knöpfe, Pullover usw.2« oder durch »eine Besonderheit ihres Anzuges, ein Band oder ein Halstuch3« zu erkennen gaben. Was diese Agenten durch Spionage und Sabotage erreichten, mußte natürlich dem deutschen Hauptquartier gemeldet werden. Man nahm an, daß manche Berichte durch Signale übermittelt wurden, die von der Straße aus erkennbar waren. In andern Fällen glaubte man an die Tätigkeit zahlloser Geheimsender, die den Deutschen eine Fülle von Angaben übermittelten. Die Bevölkerung von Warschau war während der Luftangriffe der ersten Kriegstage fest überzeugt, daß die Luftwaffe Verbindung zu Agenten in der Stadt habe, die mit Sendegeräten ausgerüstet waren. Man glaubte auch, daß man auf dem Lande zahlreiche solche Sender entdecken könne, nur waren sie so geschickt verborgen! Sie fanden sich etwa »in der Gruft eines bekannten Industriellen... im Hause eines protestantischen Pfarrers... in einem hohlen Baum4«. Einem polnischen Generalstabsoffizier zufolge wurden bei Haussuchungen allein im Korridor bei Volksdeutschen 15 Kurzwellensender entdeckt5. Anderswo fand ein polnischer Leutnant »einen kleinen Kurzwellensender in einer Schachtel, die nicht viel größer als eine Streichholzschachtel war6«. Personen, unter deren Dach man solche und ähnliche Apparate fand, wurden natürlich als Gefangene abgeführt. Überhaupt erweckte jeder seltsame Gegen­ stand, der typisch deutsch aussah, sofort Verdacht. So wurden in Posen zwei Volksdeutsche »als Spione« erschossen, weil polnische Soldaten in ihren Wohnun­ gen »eine Briefmarkensammlung, einen alten deutschen Helm aus dem ersten Weltkrieg, eine Motorradlampe und einen Kilometerzähler« entdeckt hatten7. Es gab keinen Einfall, den man nicht diesen Volksdeutschen zur Last legen konnte! »Überall, wo Deutsche lebten, feuerten sie nachts auf polnische Soldaten, steckten die Gebäude in Brand, in denen Truppen untergebracht waren, und zer­ schnitten die Telefondrähte. Mit Hilfe farbiger Raketen signalisierten sie Einzel­ 1

Ebenda, sowie Aussage Nr. 134 des Leutnants R. auf S. 96.

2

Aussage Nr. 185 des Leutnants T. S. Ebenda, S. 96.

3

Aussage Nr. 393 des Hauptmanns R. Ebenda, S. 96.

4

Aussage Nr. 203 des Oberstleutnants G. Ebenda, S. 101.

5

Aussage Nr. 24 des Oberstleutnants R. Ebenda.

6

Aussage Nr. 69 des Leutnants G. D. Ebenda, S. 113.

7

Dokument 71 in: Die polnischen Greueltaten an den Volksdeutschen in Polen. Berlin 1940. S. 118.

53

heiten über die polnischen Anordnungen. Sie lockten polnische Truppen in den Hinterhalt und mischten häufig Senfgas in das Wasser, das sie als Waschwasser anboten1.« Um ein Beispiel für dieses letzte, besonders finstere Treiben der Deutschen zu geben: »Ich versichere (schrieb ein polnischer Major nach dem Feldzug), daß ich Zeuge des Falles von Leutnant Kowalski war, der mit mir in einer Siedlung in Wolhynien lag, wo es deutsche Einwohner gab. Er wusch sich mit Wasser, das ihm die Frau des Hauses in einer Schüssel brachte, und alsbald begann sein Gesicht schrecklich anzuschwellen. Er wurde sofort nach Luck ins Krankenhaus gebracht, wo man feststellte, daß seine Verbrennungen von Senf­ gas, wenn auch glücklicherweise in verdünnter Form, herrührten12 .« Die Furcht vor der deutschen Fünften Kolonne, die durch Ereignisse und Berichte, wie sie hier verzeichnet sind, erweckt wurde, war keineswegs nur eine lokale Erscheinung. Nach Beendigung des Krieges konnte die polnische Exil­ regierung von Offizieren und Mannschaften, die ins Ausland geflüchtet waren, über 500 Aussagen sammeln. Jeder dieser Zeugen berichtete, was er über die Fünfte Kolonne mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatte. Diese Aussagen bezogen sich sowohl auf die erste als auf die letzte Woche des Feldzuges und stammten aus allen Teilen des Landes.

* Monate vor Ausbruch der Feindseligkeiten hatte die polnische Regierung an­ geordnet, daß Listen von verdächtigen Reichsdeutschen und Volksdeutschen angelegt wurden. Das geschah wahrscheinlich im April und Mai 1939, also etwa zu der Zeit, als Hitler den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt widerrief. Wie wir schon sahen, wurden einige Gruppen von Volksdeutschen vor Ausbruch des Krieges verhaftet und in Internierungslager gebracht. Die Mehrzahl ließ man noch in Frieden. Am ersten Kriegstage jedoch erhielten die polnischen Gerichte und Polizeibehörden über den polnischen Rundfunk — so jedenfalls behaupteten die Deutschen — besondere Anweisung, die bereitliegenden Listen anzuwenden. Alsbald wurden schon am 1. September überall dort, wo Reichsdeutsche und Volksdeutsche lebten, Haftbefehle erlassen. Es gab Haftbefehle auf rotem, rosa und gelbem Papier. Wer einen roten Haftbefehl erhielt, mußte in das Orts­ gefängnis eingeliefert werden, während seine Wohnung sofort durchsucht wurde. Wer ein rosa Papier erhielt (gewöhnlich Reichsdeutsche), mußte sich der Polizei zur Internierung stellen. Die gelben Haftbefehle bedeuteten, daß die Betroffenen sich in bestimmte Gebiete in Mittel- oder Ostpolen weit von der deutschen Grenze entfernt begeben mußten. Die polnischen Behörden versuchten also, die Mehrheit der Volksdeutschen nicht zu belästigen, sondern nur solche Elemente, denen sie nicht uneingeschränkt trauten, von dem wahrscheinlichen Schauplatz der Hand­ 1

The German Fifth Column in Poland, S. 48.

2

Aussage Nr. 70 des Majors F. S. Ebenda, S. 117.

54

lung zu entfernen und nur diejenigen einzusperren, die als offene Feinde des polni­ schen Staates galten. In der Praxis bedeuteten alle diese Unterschiede nicht viel. Die Reichsdeut­ schen, die interniert werden sollten, konnten nicht transportiert werden. Wer nach Mittel- oder Ostpolen reisen sollte (ausgerüstet mit Vorräten für vier Tage), fand sich manchmal auf Bahnhöfen ein, von denen keine Züge für Zivilisten mehr abgingen. So endete es damit, daß alle diejenigen, die irgendeinen Haft­ befehl bekommen hatten, unbeschadet der Farbe, in ihrem Polizeibüro, im Ge­ fängnis oder einem Internierungslager landeten. Auf dem Wege dorthin wurden manche Deutsche von der erregten Bevölkerung »mit Fußtritten traktiert, mit Gewehrkolben geschlagen, angespien und mit den gemeinsten Schimpfworten bedacht1«. Die Volksmenge versammelte sich vor den Häusern von Leuten, die verhaftet worden waren, und ging manchmal so weit, die Fenster einzuwerfen. Wichtig war, daß neben den »amtlichen« Verhaftungen auch »nichtamtliche« stattfanden. An vielen Orten hatten polnische patriotische Vereine eigene Listen von Leuten aufgestellt, die sie für unzuverlässig hielten. Auch diese Listen wur­ den jetzt, oftmals auf sehr harte Weise, angewendet. In den Straßen hörte man Rufe: »Holt sie! Schlagt die Niemcy, die Szwaby, die Schweine, die Spione tot12 !« Haß und Furcht richteten sich nicht nur gegen die in der Nachbarschaft lebenden Deutschen. Noch gefährlicher waren vielleicht andere Menschen, die auch Deutsche, jedoch nicht als solche bekannt waren. An manchen Stellen zwang man Leute, denen man nicht traute, polnische Wörter auszusprechen, an denen man sich die Zunge abbrechen konnte, um ihre Herkunft nachzuweisen. In Oberschlesien, wo die Spannung am größten war, wurden Angehörige von polnischen Vereinen mit Gewehren ausgerüstet; »alles, was auf Anruf deutsch oder gar nicht antwortete, wurde erschossen3«. Auf diese Weise wurden in den ersten drei Kriegstagen zahlreiche Deutsche, und zwar meistens Volksdeutsche, verhaftet oder anderweitig aus dem Wege geräumt. Was sollte mit all diesen Menschen geschehen? Offenbar mußten sie dem Zu­ griff der Deutschen entzogen werden. Ganz allgemein hieß es darum: Nach Osten abschieben! In manchen Fällen wurden besondere Züge zusammengestellt, in andern Fällen mußten sie zu Fuß gehen. Gelegentlich kam es auch vor, daß die Insassen von Zügen auf halbem Wege aussteigen und ihre Reise zu Fuß fort­ setzen mußten. Alle diese Transporte sollten in den großen Internierungslagern nahe der russischen Grenze enden. Manche gelangten dorthin, andere nicht. Die Gesamtzahl der Volksdeutschen, die abgeschoben wurde, ob sie nun interniert wurden oder nicht, schätzten die Deutschen auf weit über 50 0004. 1

Die polnischen Greueltaten usw. S. 21.

2

Ebenda, S. 22.

3

Volksdeutsche Soldaten unter Polens Fahne. S. 49.

4

Marsch der Deutschen in Polen. S. 14. Die Polen behaupteten, die Zahl sei geringer gewesen.

55

Die Behandlung in den Lagern war schlecht, doch hatten die Gefangenen auf dem Wege dorthin schlimmeres zu erdulden. Ein Zug von Gefangenen, der ein Dorf verlassen hatte, war beim Eintreffen im nächsten Dorf nur noch ein Haufe von staubbedeckten Einzelnen. Sie wurden bewacht — also mußten sie etwas auf dem Gewissen haben! Es waren Deutsche, Niemcy, Hitlerowcy. Sie waren verantwortlich für Polens Unglück. Menschenmengen sammelten sich neben dem Gefangenenzug

an,

die

ihren

Gefühlen

Ausdruck

gaben.

Ein

Volksdeutscher,

der vielleicht seine eigenen Erfahrungen zu sehr verallgemeinerte, schrieb später : »Wir lernten gründlich kennen, was Spießrutenlaufen ist. Überall, wo wir durch eine größere Ortschaft kamen, war die Straße dicht gesäumt mit Volk jeden Alters und Geschlechts, das wie rasend war, schimpfte, spuckte, mit Steinen oder Mist warf und mit Stöcken auf uns einschlug; am schlimmsten wüteten geflüchtete Eisenbahner und Soldaten. Die uns begleitende Polizei war uns feindselig ge­ sinnt, ließ uns kaum einmal am Tage Wasser trinken und nur selten vom Marsch ausruhen; aber sie bewahrte uns in den Städten immerhin davor, von der Menge totgeschlagen und zertreten zu werden, wenn auch fast jeder von uns, besonders in den ersten Tagen, verletzt wurde1.« Das Verhalten der Wachmannschaften war unterschiedlich. Manchmal trieben sie die polnische Menge mit Gummiknüppeln zurück, doch kam es auch vor, daß sie es nicht ungern sahen, wenn man den Gefangenen übel mitspielte. Im allgemei­ nen benahm sich die Polizei, die immerhin wußte, wen sie begleitete, besser als die gleichgültigen polnischen Soldaten, die häufig die Polizisten ablösten. Die Soldaten erschossen unterwegs eine ganze Anzahl »Spione« und leisteten häufig keinen ernstlichen Widerstand, wenn das Publikum versuchte, sich einiger Volksdeutscher zu bemächtigen, um sie zu töten. In mehreren Fällen kam es zu sadistischen Morden. Nach Abschluß der Kämpfe wurden Leichen von Volks­ deutschen gefunden, die scheußlich verstümmelt oder mit einem toten Hund zusammen in eine Grube geworfen worden waren. Mittlerweile kam es an zahlreichen Orten, aus denen die verdächtigen Volks­ deutschen schon entfernt worden waren, zu neuen Ausschreitungen. Aus pani­ scher Angst vor der Fünften Kolonne wurden Häuser und Gehöfte, die Volks­ deutschen gehörten, gestürmt und geplündert. Dabei kamen manchmal ganze Familien ums Leben. Auch hierbei fanden sadistische Neigungen Ausdruck und wurden nicht nur geduldet, sondern mit Beifall aufgenommen. Es gab aber auch Polen, die einen kühlen Kopf behielten. Sie warnten vor Ausschreitungen und halfen manchmal sogar beim Schutz von Volksdeutschen, die sie in ihren eigenen Häusern versteckten. Auch gab es Offiziere, welche Hinrichtungen untersagten oder verhinderten. Obwohl man allgemein der Auffassung war, kein Deutscher verdiene es, daß man sich für ihn einsetze, taten manche Polen es doch unter Gefährdung ihres eigenen Lebens. 1

56

Ebenda, S. 59.

Es ist unmöglich zu sagen, wie groß insgesamt die Zahl derer war, die der Wut des polnischen Volkes zum Opfer fielen. Von deutscher Seite wurde berichtet, daß man bis zum 1. Februar 1940 die Leichen von annähernd 13.000 ermordeten Volksdeutschen gefunden und identifiziert habe1. Diese Zahl ist erfunden. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, daß von den 750.000 bis 1.000.000 Volksdeutschen in Polen mehrere tausend während der Panik vor der Fünften Kolonne ihr Leben verloren haben2. Die Polen bedauerten nicht, was sie getan hatten. Mit welchem Jubel nahmen die Volksdeutschen die deutschen Besatzungstruppen auf! Mit welchem Eifer leisteten sie den Truppen, welche die den Polen so verhaßten Uniformen trugen, tausenderlei Dienste! Sie saßen auf den Panzern, um den Deutschen den Weg zu zeigen, sie standen an den Straßenrändern, warfen den vorüberziehenden Deutschen Blumen zu und wurden nicht müde, »Heil Hitler«! zu rufen. Sie eilten in die Häuser, um Krüge mit Milch zu holen. Sie verteilten an die Soldaten Bröt­ chen, Kaffee und Schokolade, und überall »konnte man den deutschen Gruß, den Namen des Führers, hören3.« Sie schmückten ihre Häuser mit papierenen Haken­ kreuzfähnchen und stellten in die offenen Fenster blumengerahmte Hitlerbilder. Die Frauen »faßten die Soldaten an den Händen und versuchten sie zu umarmen«. Sie drängten ihnen ihre letzten Zigaretten auf, ihre Kinder kletterten auf die Militärfahrzeuge und »alles war außer sich vor Freude4«. Wie schmerzlich aber waren solche Szenen für die Polen, die um ihre verlorene Freiheit klagten und, da sie die Deutschen kannten, die Zukunft mit schreck­ licher Sorge erwarteten. Vor dem Kriege hatten die Leute den Verdacht ge­ hegt, daß die Volksdeutschen bei gegebener Gelegenheit Verrat üben würden. Während des Krieges war dieser Verdacht bestätigt worden. Nach dem Kriege wurde er abermals bestätigt. Nicht ein einziger Pole zweifelte daran, daß die Volksdeutschen Verschwörer seien, mochte er nun im Lande leben oder in der Emigration. Merkwürdigerweise

schenkten



natürlich

mit

Ausnahme

der

polnischen

Flüchtlinge — nur wenige Menschen außerhalb Polens den Missetaten, welche die Volksdeutschen begangen haben sollten, größere Beachtung. Die Flüchtlinge hingegen berichteten solche Dinge in Fülle. Die in Frankreich gebildete Exil­ regierung erhielt ständig Berichte über Ausschreitungen der Fünften Kolonne. Gegen Ende 1939 gelangte in ihren Besitz auch das aufschlußreiche Merkblatt, das man in der Nähe von Posen gefunden hatte. Nachdem sie es auf seine Richtig­ 1

Die polnischen Greueltaten usw. S. 5.

2

Soviel wird in einer mit Datum vom 14. 6. 1954 von Dr. K. M. Pospieszalski vom Pol­ nischen West-Institut in Posen verfaßten Denkschrift zugegeben. Ebenso in: Dokumenty Polskiego Okrucienstwa (Metody propagandy Hitlerowskiej), Berichte des Ausschusses deutscher Greueltaten in Polen. Band III. Warschau 1947, S. 147—71. 3

Der Sieg in Polen. S. 38.

4

Die polnischen Greueltaten usw. S. 125 und Dokument 74, S. 122.

57

keit geprüft hatte, übergab sie es der Weltpresse, und die Londoner »Times« veröffentlichte am 4. Januar 1940 lange Auszüge daraus. Die polnische Exilregierung veranlaßte ferner im April 1940 in Paris die Ver­ öffentlichung eines Buches »L’invasion allemande en Pologne«, worin die Leiden der polnischen Zivilbevölkerung und die Tätigkeit von Angehörigen der Fünften Kolonne anschaulich Der aus Warschau

geschildert wurden. Andere entkommene Korrespondent

ergänzten diese Darstellung. des »Manchester Guardian«

berichtete, die Zahl der deutschen Spione »ging in die Tausende« und daß »die rund eine Million zählenden Angehörigen der deutschen Minderheit von den Nazi aufs äußerste ausgenutzt wurden«, sowie ferner, daß volksdeutsche Mädchen, die in Deutschland angeblich eine Ausbildung als Krankenschwester erhalten soll­ ten, »statt dessen auf Spitzelschulen geschickt wurden1«. Ein Schweizer Offizier sprach im März 1940 von der »Vollkommenheit, mit der das Spitzelsystem der deutschen Minderheit seine Aufgabe erfüllte12 «. Die öffentliche Meinung der Westmächte schenkte solchen Berichten und Kommentaren nur wenig Beachtung. Polen lag weit entfernt, Polen war Ost­ europa. Was bewies schließlich Polens Niederlage anderes, als daß die »Republik der Obersten«, die niemals eine Demokratie gewesen, schon morsch gewesen war? Die Menschen schauderten angesichts von Bildern des zerstörten War­ schaus, wollten jedoch nicht eingestehen, daß die deutsche Militärmaschine, die in wenigen Wochen eine tapfere Armee von mehr als einer Million Mann wie eine Dampfwalze überrollt hatte, immer noch vorhanden und sogar stärker geworden war. Oder sollte die Furcht vor dem, was vielleicht noch kommen würde, tief im Innern der Menschen doch zugenommen haben? Mußte man sich nicht, wenn man der Wahrheit ins Gesicht zu sehen wagte, fragen, was für Überraschungen Hitler seinen übrigen Gegnern noch bereiten konnte? Die Befürchtungen derer, die sich solche Fragen vorlegten, wurden jedenfalls durch die Enthüllungen vermehrt, die Hermann Rauschning in jenem ersten un­ wirklichen Kriegswinter machte. Die »Gespräche mit Hitler« erschienen gleichzeitig in mehreren Ländern. In England erlebte das Buch in einem Monat drei Auflagen. Hier fand man Hitlers eigene Worte, wiedergegeben nach Aufzeichnungen aus den Jahren 1932—34. Aus seinen Worten klang nicht nur die destruktive Dämonie seines Wesens, sondern auch seine weitschauende Verschlagenheit als künftiger Welt­ eroberer, der seine Meisterschaft im Angriff von innen her voll auszunutzen ge­ dachte. Kein Mittel, das diesem Zweck diente, würde er vernachlässigen: massierte Luftangriffe, Überraschung, Terror, Sabotage, Attentate — diese und viele andere Methoden waren in seinen Plänen vorgesehen. Eine Kartei aller Staatsmänner der Welt sollte angelegt werden, worin deren geheime Schwächen verzeichnet wurden. 1

Manchester Guardian, 21. 10. 1939.

2

Neue Zürcher Zeitung, 7. 3. 1940

58

Neue Giftgase sollten Verwendung finden. Agenten, die als Handlungsreisende auftraten, sollten Bakterien in feindliche Länder einschmuggeln. Gegenüber dem Gauleiter Forster von Danzig und dessen Begleitung hatte Hitler erklärt: »Wenn ich Krieg führe, Forster, dann werde ich eines Tages mitten im Frieden etwa Truppen in Paris auftreten lassen. Sie werden französische Uniformen anhaben. Sie werden am hellen Tage durch die Straßen marschieren. Niemand wird sie an­ halten. Alles ist bis aufs kleinste vorbereitet. Sie marschieren zum Generalstabs­ gebäude. Sie besetzen die Ministerien, das Parlament. Binnen weniger Minuten ist Frankreich, ist Polen, ist Österreich, ist die Tschechoslowakei seiner führenden Männer beraubt. Eine Armee ohne Generalstab. Alle politischen Führer sind erledigt. Die Verwirrung wird beispiellos. Aber ich stehe längst auch mit Männern in Ver­ bindung, die eine neue Regierung bilden. Eine Regierung wie sie mir paßt. Wir finden solche Männer, in jedem Lande finden wir sie. Wir brauchen sie nicht zu kaufen. Sie kommen von selbst. Ehrgeiz und Verblendung, Parteihader und Dünkel treiben sie. Wir haben einen Friedensschluß, ehe wir den Krieg haben. Ich garan­ tiere Ihnen, meine Herren, daß das Unmögliche immer glückt. Das Unwahrschein­ lichste ist das Sicherste. Wir werden Freiwillige genug haben, Männer wie unsere SA, verschwiegen und opferbereit. Wir werden sie mitten im Frieden über die Grenze bringen. Allmählich, kein Mensch wird in ihnen etwas anderes sehen als friedliche Reisende. Heute glauben Sie das nicht, meine Herren. Aber ich werde es durchführen, Zug um Zug. Vielleicht werden wir auf den Flugplätzen landen. Wir werden soweit sein, nicht bloß Mannschaften, sondern auch schon Waffen durch die Luft zu transportieren. Uns hemmt keine Maginotlinie. Unsere Strategie ist, Forster, den Feind von innen zu vernichten, ihn durch sich selbst besiegen zu lassen.1«

Der so sprach, hatte innerhalb anderthalb Jahren Österreich, die Tschecho­ slowakei und Polen erobert. Was wäre wohl sein nächster Zug?

1

Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler. London 1939. S. 17-18.

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II

DÄNEMARK UND NORWEGEN ÜBERRASCHT

1. DÄNEMARK

In den frühen Morgenstunden des 9. April 1940 wurden die Bewohner der dänischen Hauptstadt Kopenhagen durch den Motorenlärm eines Flugzeugge­ schwaders geweckt, das in geringer Höhe über die Dächer der Stadt flog. Was konnte das bedeuten? Was war geschehen? Schneller als sonst kleideten sich die Menschen an und gingen auf die Straße. An allen wichtigen Straßenkreuzungen sahen sie Soldaten in unbekannten Uni­ formen, die teilweise drohend aussehende Maschinengewehre bemannten.Deutsche! Unglaublich! Woher kamen sie? War denn Krieg? Eine Invasion? Was sagte die Re­ gierung dazu? Wo waren die eigenen Truppen? Wurde kein Widerstand geleistet? Die Menschen standen in Gruppen zusammen, zuerst in unruhigem Verlangen nach Aufklärung so verblüffender Vorgänge, später in schweigender Verzweiflung, als sich das Gerücht verbreitete, Dänemark sei von deutschen Truppen besetzt worden und die Regierung habe, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, an­ gesichts der erdrückenden Übermacht kapituliert. Zuerst war das nur ein Gerücht, aber gegen neun Uhr bestätigte der dänische Rundfunksender Kalundborg die Nachricht. Auf Anordnung

des

Oberbefehlshabers

der

deutschen

Besatzungsstreitkräfte

in Dänemark wurde eine Proklamation verbreitet, der zufolge Deutschland Däne­ mark und Norwegen besetzt hatte, um einer britischen Invasion zuvorzukommen. Dänemarks Freiheit solle jedoch respektiert werden, und die Bevölkerung wurde aufgefordert, wie gewöhnlich an die Arbeit zu gehen und Ruhe zu bewahren. Un­ mittelbar danach verbreitete der Rundfunk eine Botschaft König Christians und der Regierung: Ja, so war es. In der Stadt wurden Plakate angeschlagen, die den gedruckten Text der Proklamation General Kaupischs und des Königs trugen. Kurz danach fuhr ein Lautsprecherwagen durch die Stadt und verkündete die Proklamation General Kaupischs, die von den Häusern widerhallte. Es war unbegreiflich. Wie konnten diese bewaffneten Deutschen in der Morgen­ dämmerung in Kopenhagen eingedrungen sein? Hatten die Festungen, die ihre Schiffe bestimmt passiert haben mußten, nicht einmal auf die Angreifer das Feuer eröffnet? Was hatte die Regierung dazu bestimmt, sich dieser Schmach so schnell zu unterwerfen? Hatten die Generalstäbe von Heer und Marine geschlafen?

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Im Laufe des 9. April erfuhr man, daß nicht nur Kopenhagen bei Tagesanbruch besetzt worden war. Alle für die Verteidigung des Landes wichtigen Punkte waren den Deutschen in die Hände gefallen. Nicht überall hatten sich die dänischen Truppen überraschen lassen. In Kopenhagen hatte das Garderegiment gegen die Deutschen, die das Kastell, das alte Fort am Hafen, erobert hatten, einen Gegen­ angriff unternommen, und auch im südlichen Jütland war es zu Gefechten gekom­ men. Das schwache Feuer war eingestellt worden, nachdem die Nachricht von der Kapitulation über den Rundfunk verbreitet worden war. Der Widerstand, zu dem es hie und da gekommen war, änderte jedoch nichts an dem allgemeinen Eindruck der völligen Überraschung: Dänemark war innerhalb eines Tages, nein, inner­ halb einer Stunde überwältigt worden. Rief man sich die Ereignisse der vergangenen Wochen in die Erinnerung zurück, so mußte man zugeben, daß an beunruhigenden Anzeichen kein Mangel gewesen war. Während des ganzen Winters 1939/40 war der skandinavische Raum der Schauplatz internationaler Spannungen gewesen. Seitdem die Briten einige ihrer Landsleute, die sich als Kriegsgefangene an Bord des deutschen Schiffes Altmark befanden, in norwegischen Territorialgewässern gerettet hatten, war viel von alliierten Plänen für eine Landung in Norwegen die Rede gewesen. Der zwischen Finnland und Rußland geschlossene Friedensvertrag hatte keine wirkliche Ent­ spannung zur Folge gehabt. London und Paris hatten allzu deutlich erkennen lassen, sie würden den ungestörten Transport des Eisenerzes von den schwedischen Ostseehäfen oder von Narvik nach deutschen Häfen nicht für alle Zeit ruhig mit­ ansehen. Dieserhalb war sicher mit erheblichem Druck auf die norwegische und schwedische Regierung zu rechnen. Wie würden dann die deutschen Gegenmaß­ nahmen aussehen? Befürchtungen dieser Art waren jedoch durchweg allgemeiner und theoretischer Natur. Die Dänen machten sich mehr Sorgen um das Schicksal Norwegens und Schwedens als um ihr eigenes. In der ersten Aprilwoche waren aus Berlin, London und Stockholm Nachrichten gekommen, daß eine Krise bevorstehe. Der dänische Gesandte in Berlin hatte am Sonntag, den 7. April, folgendes Chiffretelegramm geschickt: »Erfahre, daß Trans­ portflotte Stettin am 4. April verlassen hat. Westlicher Kurs, Bestimmungsort unbekannt, aber Eintreffen 11. April erwartet1.« Der dänische Außenminister Dr. Munch hatte alsbald von den Stäben des Heeres und der Flotte nähere Aus­ kunft verlangt. Die Marine hatte nichts Verdächtiges bemerkt — dabei sollte der Transport seit drei Tagen unterwegs sein! Der Generalstab wußte nichts von deut­ schen Truppenansammlungen an der Südgrenze Jütlands oder über ungewöhn­ lichen Betrieb in deutschen Häfen, beispielsweise in Kiel. Also falscher Alarm? Oder war doch etwas im Gange? 1 Betaenkning til Folketinget afgivet af den af Tinget under 15. Juni 1945 nedsatte Kom­ mission i Henhold til Grundlovens § 45. (Denkschrift der Untersuchungskommission des Dänischen Parlaments) 1. Band. Kopenhagen 1945. S. 24. — Dieser Bericht, der als Original­ quelle größte Bedeutung hat, wird im folgenden als Dän. Pari. Ber. zitiert werden.

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Am Morgen des 8. April wurde bekannt, daß die britische und französische Regie­ rung in Oslo Noten überreicht hatten, worin erklärt wurde, in norwegischen Küsten­ gewässern seien Minenfelder gelegt worden, um den Transport von Eisenerz nach Deutschland zu verhindern. Was würden die Folgen dieses Unternehmens sein? Das dänische Kabinett wußte nicht recht, was es tun sollte. Luftaufklärung hatte gezeigt, daß ein deutsches Geschwader auf der Fahrt gen Norden begriffen war. Sollte man die Mobilmachung verkünden? Der Außenminister sprach über seine Befürchtungen mit dem deutschen Gesandten von Renthe-Fink. Dieser vertrat die Ansicht, daß so weitreichende Vorsichtsmaßnahmen angesichts des zwischen beiden Ländern bestehenden Nichtangriffspaktes in Berlin einen höchst unvorteilhaften Eindruck machen würden. Um acht Uhr abends hielten Ministerpräsident Stauning, der Außenminister, der Verteidigungsminister und der Finanzminister mit den Führern der vier wich­ tigsten Parteien eine Beratung ab. Sie waren der Ansicht, daß Deutschland im Falle eines Konfliktes um Norwegen gegenüber Dänemark gewisse Forderungen stellen würde. Angesichts der Tatsache, daß das Land nahezu unbewaffnet war, werde man diesen Forderungen nachgeben müssen. Diese Auffassung wurde dem deutschen Gesandten in vorsichtiger Form mitgeteilt. Um vier Uhr morgens rief Renthe-Fink das Außenministerium an, um zu sagen, er habe Weisung, für 4.20 Uhr um eine Unterredung mit dem Minister nachzusuchen. Der diensttuende dänische Beamte nahm an, daß es sich um 4.20 Uhr nachmittags handele, doch wurde ihm sein Irrtum rasch klargemacht. Weniger als eine halbe Stunde später, als der deutsche Gesandte Dr. Munch das Ultimatum überreichte, hatten die Operationen der deutschen Wehrmacht bereits begonnen. »Trotz der frühen Stunde meines Besuches, die Ungewöhnliches erwarten ließ, war man auf den Inhalt meiner Demarche in keiner Weise vorbereitet. Die Nachricht, daß die deutschen Truppen bereits die dänische Grenze überschritten hätten und noch dazu im Begriff seien, in Kopenhagen zu landen, wollten sie zunächst nicht glauben1.« Arme, verdutzte Regierung! Armes überraschtes Volk! Zumal die Bevölkerung, die im Schlaf überrascht und überwältigt worden war, suchte nach einer Erklärung für die verblüffende Schnelligkeit der Invasion. Daß die Regierung versagt hatte, war allen klar und führte zu vielen bitteren Vorwürfen. Aber waren die Mittel, deren sich diese schlauen Deutschen bedienten, überhaupt solcher Art, daß ein gewöhnliches Gemeinwesen sich dagegen schützen konnte? Wie konnten die deut­ schen Truppen so rasch zur Stelle sein? Das Gerücht lief um, sie seien in den Lade­ räumen einiger deutscher Schiffe gewesen, die vor einigen Tagen in den Hafen von Kopenhagen eingelaufen waren, und hätten sich auf der Fähre WarnemündeGjedser in einigen Güterwagen versteckt; sobald jedoch die Fähre auf See war, 1

Mitteilung von Renthe-Finks an Auswärtiges Amt, 15. 4. 1940. Dän. Pari. Ber. XII (Dok.) S. 214

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seien sie »wie die Griechen aus dem trojanischen Pferd1« hervorgekommen, um sich des Schiffes zu bemächtigen. In der Hauptstadt besetzten die Deutschen am Morgen des 9. April zahlreiche dänische Büros. Deutsche Einwohner zeigten ihnen eifrig und begeistert den Weg und dienten als Dolmetscher. In kürzester Zeit wurden Rundfunk, Post, Telegrafenund Telefonämter deutscher Aufsicht unterstellt. Die Deutschen wußten genau, wohin sie zu gehen hatten. Das konnte nicht improvisiert sein! Es hatte Monate sorgfältigster Vorbereitung erfordert! Hin und wieder hatte die dänische Presse Meldungen über die Aufdeckung von Spionage gebracht. Vor weniger als einem halben Jahr war eine Gruppe von neun deutschen Staatsangehörigen verhaftet worden, die unter der Leitung des Korre­ spondenten der »Berliner Börsenzeitung« Horst von Pflugk-Hartung Schiffahrts­ spionage getrieben hatte. Diese eine Gruppe war entdeckt worden — aber wie viele hatten ungestört arbeiten und damit als Fünfte Kolonne die Invasion Dänemarks hilfreich vorbereiten können? Die volksdeutschen Nazi in Nordschleswig, die fast in demselben Augenblick, als deutsche Truppen eintrafen, vollbewaffnet auf den Straßen erschienen, hatten wahrscheinlich auch nichts Gutes im Sinne gehabt! »Die Regierung übernimmt für das, was geschehen ist, die volle Verantwortung«, erklärte der alte Ministerpräsident Stauning gebeugt in einer am selben Abend stattfindenden Sitzung des Parlaments, die nur zwölf Minuten dauerte. Als die Abgeordneten schweigend das Gebäude verließen, war der Himmel bewölkt, und infolge der Verdunkelung war die Stadt so stockfinster, daß, wie ein Journalist berichtet, »wir auf allen vieren die große Steintreppe vor dem Reichstag hinunter­ kriechen mußten12 «. Auf ähnliche Weise versuchte das dänische Volk einen Weg durch die ungewisse Zukunft zu finden — verblüfft, traurig, voll Sorgen und Selbstvorwürfen, aber über­ zeugt, daß die Deutschen, die sie in ihrer Mitte geduldet hatten, Vorhut und Ge­ hilfen der deutschen Wehrmacht gewesen waren, die im Verlauf von wenigen Stunden das Licht der Freiheit in Dänemark ausgelöscht hatte.

2. NORWEGEN

Was war an diesem 9. April 1940 in Norwegen geschehen? Auch in diesem Lande waren die ersten drei Monate des Jahres nicht vergangen, ohne den Bürgern ernste Sorgen zu bereiten. In der ersten Aprilwoche stieg die Spannung.

Mit

vermehrter

Dringlichkeit

wiederholten

die

Regierungen

Frank­

reichs und Großbritanniens ihr Verlangen, daß dem Zustand ein Ende bereitet werde, unter welchem die Deutschen mit Hilfe der norwegischen Territorialge­ 1

The Times, 11. 4. 1940.

2

Knud Secher: Kampf ohne Waffen. Dänemark unter der Besetzung. Zürich 1945. S. 7.

63

wässer Eisenerz aus dem fernen Narvik erhalten konnten. Die norwegische Regie­ rung wollte jedoch einen Verzicht auf die Neutralität des Landes nicht in Betracht ziehen. Auch sie erhielt Berichte über deutsche Geleitzüge in der Ostsee, war aber so wenig wie die dänische Regierung imstande festzustellen, wie wahr diese Be­ richte waren und was sie genau bedeuteten. Dasselbe gilt von einer Nachricht des norwegischen Gesandten in Berlin vom 5. April 1940 über Gerüchte hinsichtlich einer Besetzung von Punkten in Südnorwegen. An jenem Freitag, dem 5. April, war eine große Zahl höherer norwegischer Offi­ ziere in die deutsche Botschaft eingeladen, den Film »Feuertaufe« anzusehen, der auf Veranlassung von Hitler selbst gemacht worden war, um die Vernichtung der polnischen Republik zu zeigen. Schweigend und niedergedrückt betrachteten die Norweger den Film. Sie sahen, wie die deutsche Luftwaffe über das Land hinweg­ brauste und Warschau zerstörte. Knapp drei Tage später neigten manche von denen, die der Vorführung beigewohnt hatten, zu der Ansicht, daß die Einladung nicht ohne Absicht ergangen sei. Während Außenminister Professor Koth damit beschäftigt war, den Protest gegen die am Morgen eingegangene Note der Alliierten über das Minenlegen vor der nor­ wegischen Küste vorzubereiten, trafen Nachrichten ein, daß starke deutsche Ver­ bände vor der dänischen Westküste gesichtet worden seien. Wenige Stunden später erfuhr man durch die Nachrichtenagenturen, daß Rettungsboote mit Hunder­ ten von deutschen Soldaten, die bis auf die Haut durchnäßt waren, in Südnor­ wegen gelandet seien; die Soldaten gaben an, sie kämen von dem deutschen Schiff »Rio de Janeiro«, das sich auf dem Wege nach Bergen befunden habe. Die nor­ wegische Gesandtschaft in London schickte eine Warnung, daß nach Mitteilung der britischen Admiralität ein deutscher Angriff auf Narvik zu erwarten sei. Ministerpräsident Nygaardsvold rief um 9.15 Uhr abends das Kabinett zu­ sammen, das für gewisse besonders gefährdete Gebiete die Teilmobilmachung beschloß. Von Größe und Ausdehnung der bevorstehenden deutschen Landung hatte das Kabinett jedoch keine Vorstellung. Nachts um halb eins versammelte sich das Kabinett abermals, ließ die Brigaden in Südnorwegen mobilmachen und beschloß, nicht ohne bewaffneten Widerstand nachzugeben. Als der deutsche Gesandte Bräuer am frühen Morgen um 4.20 Uhr den Außenminister aufsuchte, um Ribbentrops Forderungen zu übergeben, erhielt er nach kurzer Beratung die Antwort der Regierung: »Wir werden uns nicht frei­ willig unterwerfen; der Kampf ist bereits im Gange1.« Obwohl die Norweger nicht in demselben Maße wie die dänische Regierung überrascht wurden, war ihnen doch das volle Ausmaß der drohenden Gefahr erst so spät bewußt geworden, daß sie das Land nicht mehr rechtzeitig wirksam in 1 Bräuer an Auswärtiges Amt, 9. 4. 1940. Innstilling fra Undersökelse-Kommisjonen av 1945, utgitt av Stortinget, Bilag. (Bericht der Untersuchungskommission des Norwegischen Parlaments, Beiheft.) 2. Band, S. 319. — Diese Berichte sind weniger umfangreich als die dänischen, bilden aber gleichfalls eine wichtige Quelle. Künftig zitiert als Norw. Pari. Ber.

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Verteidigungszustand versetzen konnten. Das norwegische Volk jedoch wurde genau wie die Dänen ein Opfer der Überraschung. Die Pressemeldungen über Flottenbewegungen in der Nordsee hatte man gelesen, ohne über ihre wirkliche Bedeutung richtig nachzudenken; man hatte gemeint, sie kündigten eine zweite Schlacht im Skagerrak an. Krieg im eigenen Lande? Undenkbar! Mitglieder der Reserveoffiziersvereinigung hatten an jenem Abend einen Vor­ trag über das Thema »Tafelfreuden im alten Rom« gehört. Was das Geheul der Sirenen kurz nach Mitternacht bedeuten sollte, wußte niemand. Vielleicht war die Seeschlacht im Gange und hatten einige der beteiligten Flugzeuge die norwegische Küste überflogen. »Als ein Leutnant der Luftwaffe, ein Jüngling noch, diese An­ sicht mit dem vollen Gewicht seiner Autorität äußerte, gab ihm die Mehrheit recht. Keiner von uns dachte im Traum an eine deutsche Landung in Norwegen.« So beschrieb Sigrid Undset ihre und ihrer Gefährten Einstellung in dem damals ungewohnten Milieu eines Luftschutzraumes, dessen Schlüssel man zuerst gar nicht hatte finden können1. Im übrigen geschah nichts, und alle gingen wieder zu Bett. Als die Menschen morgens aufwachten, lasen sie in der Zeitung, daß im Oslofjord schwere Kämpfe im Gange seien und daß die Deutschen die beiden Flugplätze der Hauptstadt, Fornebu und Kjeller, bombardiert hatten. Deutsche Bomber flogen so niedrig über der Stadt, daß man, während die Maschinengewehre knatterten, die Besatzungen erkennen konnte. Die Menschen gingen zur Arbeit, mochten sie auch vor Furcht zittern: sie hatten auf Bildern das Schicksal Warschaus kennen­ gelernt — hörte man die Stadt Rundfunk

erwartete Oslo das gleiche Schicksal? Das Schießen dauerte an. Später die lauteren Abschüsse von Flakkanonen. Allgemein lief das Gerücht um, würde bombardiert werden. Gegen zehn Uhr vormittags forderte der die Bevölkerung zum sofortigen Verlassen der Stadt auf. Immer noch

brausten deutsche Flugzeuge dicht über die Dächer hinweg. »An den Eingängen zur Untergrundbahn drängten sich die Menschen verzweifelt, um hinunter zu ge­ langen. Es gibt in Oslo keine anderen öffentlichen Schutzräume. Manche Leute suchten Schutz in Torwegen, andere liefen in den Park in der Nähe des Schlosses, alle waren von Furcht, Verzweiflung und Unruhe getrieben. Wieder andere flüch­ teten aus der Stadt oder versuchten die Flucht, schoben Kinderwagen, saßen auf Lastautos und stürmten die Bahnhöfe, wo jeder Wagen bis zum äußersten Fas­ sungsvermögen beladen und aus der Stadt aufs Land geschickt wurde12 .« Während ein Teil der Bevölkerung der Stadt in panischer Angst den Rücken kehrte, sah man andere Männer kühl und geordnet ins Stadtzentrum marschieren : die ersten deutschen Abteilungen befanden sich von den Flugplätzen unterwegs ins Regierungsviertel. Gegen Mittag erreichten sie ihr Ziel, während man von Süden her aus Richtung des Fjords immer noch fernes Geschützfeuer vernahm. Niemand wußte, was er tun sollte. Wie konnte man begreifen, daß diese deutschen

5

1

Sigrid Undset: Return to the Future. New York 1942. S. 11.

2

Nieuwe Rotterdamsche Courant, 14. 4. 1940.

65

Truppen, fast 600 Kilometer vom nächsten deutschen Hafen entfernt, am hell­ lichten Tage in die Hauptstadt einziehen und in aller Ruhe die Regierungsgebäude besetzen konnten? Die zurückgebliebene Bevölkerung sah fassungslos zu. Stunde auf Stunde verstrich in tatenloser Verwirrung, bis man am frühen Abend aus den Lautsprechern eine neue Stimme vernahm: Vidkun Quisling. Vor etwa zehn Jahren war dieser Mann für kurze Zeit Minister gewesen. Später hatte er »Nasjonal Samling« gegründet, eine nationalsozialistische Partei, die bei der Wahl von 1936 weniger als zwei Prozent der Stimmen erhalten hatte. Jetzt stellte er sich als Ministerpräsident vor. Er gab bekannt, die Regierung Nygaardsvold habe die allgemeine Mobilmachung verkündet, doch habe er, Quisling, diesen Beschluß auf­ gehoben. Das Volk solle mit den Deutschen Zusammenarbeiten und sich zu diesem Zweck um ihn, den Ministerpräsidenten Vidkun Quisling, sammeln. Die Leute wollten ihren Ohren nicht trauen, doch standen ihnen noch weitere Überraschungen bevor. Wo die Deutschen eigentlich gelandet waren, wußte man zunächst nicht. Als jedoch einen Tag später das erste deutsche Kriegsschiff im Hafen der Hauptstadt vor Anker lag, stand fest, daß die Deutschen nicht nur nach Oslo eingedrungen waren, sondern auch in alle wichtigen Häfen der ganzen nor­ wegischen Küste: Kristiansand, Egersund, Stavanger und Bergen im Süden, Trondhijem in der Mitte und Narvik im äußersten Norden. Die Norweger saßen in der Falle. Wie war das geschehen? Wie hatten sie alle so unversehens überrascht werden können? Vergeblich konnte man in der Geschichte nach dem Beispiel einer so um­ fangreichen und erfolgreichen Überraschung suchen, die zugleich so bitter und so demütigend war. Von einem fairen Kampf konnte keine Rede sein. Die Deutschen mußten sich Tricks ausgedacht und angewendet haben, die jeden Widerstand unmöglich machten. Fraglos mußten sie sich häufig solcher Helfershelfer und Komplicen bedient haben, die wie Quisling am frühen Morgen des 9. April bereit­ standen, um dem norwegischen Volk den Dolch in den Rücken zu stoßen. Alsbald entstand ein ganzer Schwarm von Gerüchten, die alle darauf abzielten, das Wunder der erfolgreichen deutschen Landung und das weitere Vordringen der deutschen Truppen wenigstens teilweise zu erklären. Es habe viel Sabotage gegeben, erzählten sich die Leute. Falsche Befehle seien brieflich und telefonisch weitergeleitet worden, wodurch ein Teil der norwegischen Truppen den Widerstand vorzeitig und zu Unrecht eingestellt habe. Die Verbin­ dungsdrähte zur Minensperre im Oslofjord seien zerschnitten worden. In allen be­ setzten Häfen hätten die Deutschen Truppen an Bord von Schiffen vorher einge­ schmuggelt; diese seien dann am 9. April mit Waffen an Land gestürmt, die eben­ falls vorher eingeschmuggelt worden seien. Andere Deutsche, die als Touristen oder als Mannschaften der deutschen Handelsmarine verkleidet waren, hätten schon seit einiger Zeit in den Häfen verweilt, die dann überraschend genommen werden sollten. In Oslo seien schon zahlreiche Deutsche in Bereitschaft gelegen, darunter Han­

66

delsreisende und Agenten, die genau gewußt hätten, was sie am 9. April tun sollten. Die in Oslo lebenden deutschen Staatsangehörigen, die jetzt als Dolmetscher und ortskundige Führer dienten, seien bis zum letzten Mann in die Verschwörung ver­ wickelt gewesen. Quisling und seine Parteifreunde hätten alle ihre Weisungen ge­ habt. In Oslo habe Quisling seine Proklamation bereits fertig gehabt, während der Stadtkommandant von Narvik, Oberstleutnant Sundlo, sein Angebot, sofort zu kapitulieren, schon vorbereitet gehabt habe. Ja, und nun fiel es einem wieder ein: vor vielen Jahren hatte jener einem deutschen Nazi erlaubt, militärische Ziele zu fotografieren. Und diese Deutschen schienen alles zu wissen. Ihre Kenntnis des Landes war verblüffend. Seit Jahren mußten sie in wahrhaft gigantischem Ausmaß spioniert haben. Was hatten auch diese deutschen Attachés, Konsuln, Handelsvertreter, Reisende, Touristen, Seeleute und Wanderer anderes getan, als alles genau aufzu­ schreiben und von allem Zeichnungen und Fotografien zu machen? Diese Infor­ mationen, die Leute, welche die Norweger als Fremdlinge und Gäste willkommen geheißen hatten, heimlich zusammengetragen, hatten als Grundlage der militäri­ schen Operationen gedient. Und diese Soldaten kamen größtenteils aus Österreich, wie ihre Sprache deutlich verriet. Da fiel den Norwegern ein, daß sie nach dem ersten Weltkrieg Tausende von Wiener Kindern in Pflege genommen hatten. Wie übel, wie gemein wurde ihnen ihre großzügige Gastfreundschaft nun vergolten! Die »Wienerbarn« von 1920 waren 1940 wiedergekommen, weil sie ja bereits Land und Leute kannten. Es gab einen allgemeinen Schrei des Entsetzens. Die Leute fühlten sich ent­ würdigt, sie glaubten sich in Pallen und Schlingen gefangen, die allenthalben aus­ gelegt waren. Quisling war hervorgetreten und hatte seine Maske abgelegt; aber wie viele trugen die ihrige noch? Der Angriff auf Norwegen schlug in der ganzen westlichen Welt wie eine Bombe ein. Abermals war Hitler zu schlau für England und Frankreich gewesen. Nicht nur Oslo hatte er besetzt, sondern auch Bergen und Trondhijem, ja sogar Narvik, und war glatt an der britischen Schlachtflotte vorbeigefahren. Zuerst wollten die Leute nicht glauben, daß auch Narvik besetzt worden sei. Neville Chamberlain, der erst wenige Tage vorher die Ansicht vertreten hatte, »Hitler werde den Omni­ bus verpassen«, sagte im Unterhaus, vermutlich sei nicht Narvik, sondern Larvik gemeint, ein kleiner Hafen am Eingang des Oslofjords. An demselben Dienstagmorgen saß in Paris Ministerpräsident Reynaud mit seinen engsten Mitarbeitern über eine Landkarte gebeugt und suchte mindestens fünf Minuten lang vergeblich nach einem andern Narvik an der norwegischen Küste, »da wir überzeugt waren, das Narvik, wo die deutschen Truppen angeblich waren, könne unmöglich der Erzhafen im Norden sein1«. Leider war das bis zum Abend zur Gewißheit geworden: Das richtige Narvik 1

Paul Baudouin: Neuf mois au gouvernement: avril-décembre 1940. Paris 1948. S. 22.

67

war den Deutschen in die Hände gefallen. Auch in Oslo hatten sie sich stark ver­ schanzt. Alle wichtigen Häfen waren in ihrer Hand. Hitler war gelungen, was der Kaiser nicht geschafft hatte: er war bis ans Eismeer vorgedrungen, als ob es die britische Flotte und die französische Marine nicht gäbe. Wie konnte man dieses unvorstellbar kühne Unterfangen anders erklären als durch die Vermutung, daß Hitler an allen Orten, die er zu besetzen beabsichtigt hatte, über eine große Anzahl von Werkzeugen verfügte, Deutsche sowohl als Dänen und Norweger. Der Korrespondent der Londoner »Times« in Dänemark wußte nicht genau zu sagen, in welchem Umfang die Operationen der Fünften Kolonne entscheidend ge­ wesen waren. Tatsache war jedoch, daß »Mitglieder der großen deutschen Kolonie zweifellos

vorher

verteilte

Rollen

spielten,

genau

wie

eine

Anzahl

deutscher

Reserveoffiziere in Zivilkleidung, die als Handelsreisende dänische Visa erhalten hatten1«. Der »Sunday Express«, eine der größten englischen Sonntagszeitungen, äußerte sich noch eindeutiger: »Alle in Dänemark lebenden Deutschen wurden für staatsfeindliche Arbeiten verwendet... Die ganze deutsche Kolonie in Schweden ist für Zwecke der Propaganda, Korruption und Spionage mobilgemacht worden2.« Schließlich sehe man sich doch Norwegen an! Die falschen Befehle, die zerschnit­ tenen Drähte, die Sabotage treibenden Offiziere, die eingeschmuggelten Soldaten und Waffen, die deutschen Fischer, Handelsreisenden, Touristen und Pflegekinder, die samt und sonders spioniert hatten — sie alle tauchten in beinahe allen Spalten der Tagespresse auf, zuerst in den Nachrichten und nachher in den Leitartikeln. Was Leland Stowe als Berichterstatter der »Chicago Daily News« nach seiner Ankunft in Stockholm über Oslo zu melden hatte, machte tieferen Eindruck als alles andere. Er hatte sich auf der Rückreise aus Finnland in Oslo aufgehalten. Sein Bericht begann: »Ich glaube, daß dies die wichtigste Zeitungsmeldung ist, die ich jemals zu schreiben Gelegenheit gehabt habe ... Sie schreit förmlich danach, mitgeteilt zu werden.« Zum erstenmal fanden sich alle unheimlichen Meldungen aus Norwegen in einem einzigen Artikel zusammengefaßt. Leland Stowe gab auch die Lösung aller Rätsel: Verrat. »Norwegens Hauptstadt und große Häfen wurden nicht mit Waffengewalt er­ obert. Sie wurden in beispielloser Schnelligkeit mittels einer riesigen Verschwö­ rung genommen, die zweifellos zu den kühnsten und am vollkommensten ange­ legten politischen Verschwörungen der letzten hundert Jahre zählt. Durch Be­ stechung und einzigartiges Einsickern seitens nazistischer Agenten und durch Verrat seitens einiger hochgestellter norwegischer Beamten und Offiziere ist es dem deutschen Diktator gelungen, sich innerhalb Norwegens ein trojanisches Pferd zu bauen. Er benötigte dazu die unbedingte Kontrolle der Verwaltung und der Marine durch ein paar Männer in Schlüsselstellungen; das genügte, und alles war makellos vorbereitet. Zu etwa 90 Prozent lief die Verschwörung planmäßig ab.« 1

The Times, 22. 4. 1940.

2

Sunday Express, 14. 4. 1940.

68

Stowes Aufsatz wurde von der Weltpresse übernommen und mit Erstaunen und Unruhe gelesen. Ein bejahrter amerikanischer Professor aus dem mittleren Westen nannte das, was Stowe in Stockholm geschrieben hatte, »die einzig wirklich informierenden Berichte1«. Die Quelle aller dieser Berichte und Erzählungen versiegte nicht so schnell. Zehn Tage nach Leland Stowe erzählte ein englischer Augenzeuge der Besetzung von Bergen, er habe von einem deutschen Soldaten gehört, »daß dieser und seine Kameraden die letzten vier Wochen vor der Invasion an Bord dieser Schiffe ver­ steckt waren2«. Die britischen Truppen, die nach ihrem mißglückten Angriff auf Trondhijem in den ersten Maitagen zurückkehrten, brachten ähnliche Nachrichten mit. Auch sie hatten gegen einen Gegner, der mit teuflischen Mitteln arbeitete, nichts ausrichten können. »Die Stadt war voll von Spionen«, klagte ein schotti­ scher Soldat von den Königlichen Pionieren. »Jeder Schritt, den wir taten, war den Deutschen unmittelbar nachher bekannt3.« Wo sonst noch lagen solche Ver­ räter auf der Lauer? Die Fünfte Kolonne in Polen war in Westeuropa und Amerika nur wenig be­ achtet worden, aber mit seinem Angriff auf Dänemark und Norwegen stand Hitler bereits auf der Schwelle der westlichen Zivilisation. Dort hatte er nicht eine »rück­ ständige Nation wie die Polen« überrannt, sondern die wohlgeordneten, fried­ fertigen Staatswesen der demokratischen Dänen und Norweger. Genau wie in Österreich und der Tschechoslowakei hatte Hitler auch in Norwegen in dem Land, das er erobern wollte, einen Bürger gefunden, der bereit war, den Judas zu spielen. Außerdem war jedoch, wie die Leute glaubten, in den beiden skandinavischen Ländern zum erstenmal die ganze Methode des militärischen Angriffs der Deut­ schen sichtbar geworden: Spione, Saboteure, falsche Befehle und verborgene Waffenlager. Gab es überhaupt einen einzigen deutschen Staatsangehörigen, dem man trauen konnte? In jeder deutschen Firma im Ausland konnte sich ein Waffen­ lager befinden, und jeder deutsche Reisende, der in Sofia oder Santiago, in Kairo oder Brisbane, in Kapstadt oder Vancouver aus einem Flugzeug stieg, konnte in seinem Gepäck die Bakterien haben, mit denen Hitler die Völker, die er zu unter­ werfen beabsichtigte, zu infizieren hoffte. Nicht nur die Völker wurden manchmal von solchen Befürchtungen heimge­ sucht. Nach den Ereignissen in Dänemark und Norwegen fühlten sich viele Regie­ rungen berechtigt und sogar verpflichtet, zur Sicherung im Innern weitreichende Maßnahmen zu ergreifen. Die nervöse öffentliche Meinung ermutigte sie noch dazu. In Schweden verbot man Ausländern, in Privatwagen oder Taxis zu fahren. Fabriken und Kraftwerke wurden der Aufsicht zuverlässiger Arbeiter unterstellt. 1 Francis Neilson: The Tragedy of Europe. A Diary of the second World War. Vol. I 1938-1940. Appleton 1940. S. 443. 2

Daily Telegraph, 17. 4. 1940.

3

The Times, 8. 5. 1940.

69

In der Schweiz warnte die Regierung die Bevölkerung vor falschen Nachrichten in Kriegszeiten. Sollte das Land angegriffen werden, so würde es sich verteidigen; jede Nachricht über eine etwa vollzogene Kapitulation würde eine feindliche Kriegslist darstellen. Die rumänische Regierung verbot Ausländern den Besitz von Waffen und foto­ grafischen Apparaten. Sie mußten ihre Pässe der Polizei aushändigen und wurden widrigenfalls ausgewiesen. In Jugoslawien, wo Berichten zufolge eine geheime Zentrale der Gestapo schon im Februar 1940 entdeckt worden war, fand bei Reichsdeutschen und Volks­ deutschen eine ganze Serie von Haussuchungen statt. Dabei kamen Papiere zu­ tage, aus denen man schließen zu können glaubte, daß im Falle einer inneren Krise 30.000 Menschen an bestimmten Stellen im ganzen Lande bereit standen, »um auf Befehl bestimmte Posten und Gebäude zu besetzen1«. Im fernen Niederländisch-Indien verursachten die Berichte über die deutsche und norwegische Fünfte Kolonne solche Aufregung und wurden von der Regierung so drastische Maßnahmen gegen deutsche Staatsangehörige und holländische Natio­ nalsoziafisten gefordert, daß sich der Generalgouverneur in einer seiner seltenen öffentlichen Reden gegen den Vorwurf verteidigte, daß die Regierung nichts tue. Er sagte: »Die drohende Unruhe ist zwar psychologisch leicht zu erklären, jedoch durch den Gang der Ereignisse nicht gerechtfertigt2.« Seine Zuhörer fragten sich nur, warum dann kaum zwei Wochen später bei einer großen deutschen Firma Haussuchung gehalten wurde. Warum lag das »Deutsche Haus« in Batavia Tür an Tür mit dem Büro der Rundfunkgesellschaft? Warum sah das neue Bürohaus der deutschen Firma Siemens & Halske, das aus Beton errichtet war, so aus, als könne es im Handumdrehen in eine Festung verwandelt werden? Solche und ähnliche Berichte, Erklärungen, Gerüchte, Fragen und Vermutungen wurden von Presse und Rundfunk begierig aufgegriffen. Die Leute waren unruhig geworden und wollten sich nicht hinters Licht führen lassen. Auf allen Seiten wurden Maßnahmen geplant, um die nationalsozialistische Fünfte Kolonne zu­ rückzudrängen, ehe sie ihren tödlichen Vormarsch fortsetzen würde. Diese Vor­ kehrungen waren noch im Gange, als der 10. Mai 1940 anbrach.

1

Telegraaf (Amsterdam), 1. 5. 1940.

2

Nieuwe Rotterdamsche Courant, 24. 4. 1940.

70

III

DIE INVASION DER NIEDERLANDE

Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte sich in dem friedlichen Leben des holländischen Volkes nur wenig ausgewirkt. Die Menschen bedauerten Polen und bewunderten Finnland. Es herrschte allgemeine Befriedigung darüber, daß Frank­ reich und Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatten, und man hoffte, daß sie siegen würden. Wie? Das war eine andere Sache. Die meisten Menschen sahen in dem Kriege nicht einen Konflikt, der auf den Gang ihres eigenen Lebens unmittelbar

Einfluß gewinnen könnte.

Das Leben war während

des Brandes

1914—18 neutral geblieben; jetzt war es wieder neutral. Trotzdem konnte man nicht ganz beruhigt sein. Im Winter 1939—40 hatte man mehrmals eine deutsche Invasion befürchtet. Am 9. November 1939 und wiederum am 15. Januar 1940 wurde beim Militär eine Urlaubssperre verhängt. Der erste Alarm hing, wie man glaubte, mit einem Grenzzwischenfall bei Venlo zusammen, wo einige Offiziere des britischen Geheimdienstes über die Grenze entführt wurden und ein holländischer Offizier tödlich verwundet wurde. Der zweite Alarm wurde mit der Notlandung eines deutschen Flugzeuges in Belgien in Verbindung gebracht, das angeblich militärische Urkunden an Bord gehabt hatte. Es gab auch andere Anzeichen, die vielleicht weniger wichtig waren als die volle Besetzung der Verteidigungsanlagen, aber trotzdem die nervöse Spannung erhöhten. In der ersten Novemberwoche 1939 entdeckte man, daß ein in der Nähe der Grenze lebender Holländer versucht hatte, einige Koffer mit holländischen Uniformen nach Deutschland zu schmuggeln. Die Presse war voll davon. Der Vater dieses Mannes war als Mitglied der NSB (Nationaal Socialistische Beweging) bekannt, der wichtigsten holländischen Nazi-Gruppe. Der Schmuggler hatte sich von einem Althändler in Amsterdam zwei vollständige Uniformen, ferner die »ganz vollstän­ dige« Uniform eines Postboten, »vollständige« Uniformen von Eisenbahnern und die »ganz vollständige« Uniform eines Staatspolizisten besorgt1. Alle diese Gegen­ stände fanden sich in dem Koffer. Im Januar/Februar 1940 wurden in vielen Teilen des Landes verschiedenfarbige Lichtsignale beobachtet. Polizei und Armee wurden alarmiert. Jeden Abend wur­ 1 Vooruit.

Den Haag, 4. 11. 1939.

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den in allen Provinzen Streifen ausgeschickt, um Nachforschungen anzustellen. Nirgends war ein Schuldiger zu entdecken. Der Kommandeur der Feldarmee Heß die Signale anpeilen, doch ließ sich auch dadurch keine vernünftige Erklärung finden. Übten vielleicht deutsche Agenten und deren Helfershelfer für den Tag, an dem ihr Signalsystem benötigt würde, also etwa bei einer deutschen Invasion? Oder versuchte der Gegner, der schließlich nicht so dumm war, ein künftiges Opfer zu alarmieren, lediglich die Holländer nervös zu machen? Der Uniformschmuggel, die Lichtsignale und die zahlreichen Fälle von Spionage von Ausländern, meistens Deutsche (obwohl in einem sensationellen Fall ein hoher Beamter des Sozialministeriums beteiligt war), brachten eine Anzahl von Hollän­ dern zu der Erkenntnis, daß besondere Vorsicht geboten sei. Sie kannten in ihrer nächsten Umgebung Mitglieder der NSB und Reichsdeutsche, die sie im Auge be­ hielten. Sobald sie etwas Verdächtiges bemerkten, verständigten sie die Pohzei. Der Generalstaatsanwalt in Amsterdam hörte die »phantastischsten Geschichten: >Jetzt sind sie hier, kommen Sie bitte sofort!< Wenn einer der besten Detektive hin­ geschickt wurde, konnte er nichts Ungewöhnliches feststellen. Vielleicht wurde gerade ein Koffer mit Theaterutensilien verschickt und dergleichen mehr1.« Die Besetzung Dänemarks und Norwegens am 9. April 1940 löste ungeheure Bewegung aus. Jede neue Ausgabe der Zeitungen berichtete weitere widerwärtige Einzelheiten über den Verrat Quislings und seiner Anhänger und über die Taten deutscher Spione und Saboteure. Es wurde sofort beschlossen, bei einigen hollän­ dischen Flugplätzen die Abwehr zu verstärken und andere aufzupflügen. Am 11. April erließ die Regierung eine Warnung gegen die Verbreitung von Gerüchten, »welche unbegründet sind und von unpatriotischen Elementen ausgestreut werden12 «. Wenige Tage nach der Invasion in den beiden skandinavischen Ländern fand ein Spaziergänger in der Nähe von Den Haag einen großen, amtlich aussehenden deutschen Briefumschlag, der an H. Cohrs bei der Auslandsorganisation der NSDAP in Berlin adressiert war. Er enthielt offensichtlich zahlreiche Papiere. Um sicherzu­ gehen, brachte der Finder den Briefumschlag auf eine Polizeiwache; wenige Stun­ den später lag er, noch ungeöffnet, auf dem Schreibtisch des Polizeikommissars von Den Haag. Dieser rief den Staatssekretär im Justizministerium an und sagte: »>Ich habe eine ungewöhnliche Fundsache hier; es ist ein amtlicher deutscher Brief.< Ich (Aussage des Staatssekretärs) antwortete: >Vielleicht ist eine Art von Bombe darin. Sie müssen mit dergleichen immer vorsichtig sein3.Würden die holländischen Nazi im Falle eines deut­ schen Angriffes auf die Niederlande deutsche Hilfe annehmen, um ihre Ziele in den 1

Aussage E. N. van Kleffens. Ebenda, S. 323.

2

Aussage J. A. van Thiel. Ebenda Ic, S. 202.

3

Nieuwe Rotterdamsche Courant, 4. 5. 1940.

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Niederlanden zu fördern oder würden sie für ihre Königin kämpfen?< Miss Breckin­ ridge zufolge gab der >Führer< hierauf zur Antwort, daß die Nazi jetzt, da sie nicht mehr Offiziere in den Streitkräften sein dürften, nichts anderes tun würden, als so dazusitzen — und dabei verschränkte er die Arme und lehnte sich in seinem Stuhl zurück1.« Konnten seine verräterischen Absichten deutlicheren Ausdruck finden? * Am 10. Mai kam der Krieg als Überraschung. Das Ziel des deutschen Ober­ kommandos war, die »Festung Holland« mit Panzer- und Infanteriedivisionen durch die südlichen Landesteile zu erreichen und gleichzeitig als Teil einer allge­ meinen Offensive an der Westfront nach Belgien herumzuschwenken. Zu diesem Zweck war die sofortige Eroberung der Brücken über die Maas und den MaasWaal-Kanal unerläßlich. Bei Morgengrauen setzten von Maastricht bis in die Nähe von Arnheim auf allen Brücken Angriffe ein, die von Personen vorgenom­ men wurden, welche wie Zivilisten aussahen oder in Uniformen der holländischen berittenen Polizei, Militärpolizei oder Eisenbahner gekleidet waren. An vielen Orten wurde diese Kriegslist nicht rechtzeitig entdeckt, so daß die Befehlshaber, die

über

diesen

Mißbrauch

von

Zivilkleidung

und

Uniformen

benachrichtigt

wurden — der Grund für den Uniformschmuggel im vergangenen November wurde jetzt klar —, rasch handeln mußten, um die durch solche Rückschläge ge­ schaffene Lage zu meistern. Im Westen des Landes sah man sich einer noch kritischeren Lage gegenüber. In der Nähe der Brücken von Moerdijk und Dordrecht waren Fallschirmtruppen abgesetzt worden. In Rotterdam kletterten Soldaten aus Wasserflugzeugen, die auf der Maas gelandet waren, und besetzten dort die Brücke. Der Flugplatz Waalhaven südlich von Rotterdam wurde von Fallschirmjägern und Luftlande­ truppen erobert. Schließlich versuchten die Deutschen, drei Flugplätze in der Nähe von Den Haag auf ähnliche Weise zu nehmen, um dort das Regierungsviertel zu besetzen und Königin Wilhelmina, das Kabinett und das Oberkommando gefangenzunehmen. Die Angriffe auf die drei Flugplätze bei Den Haag waren nur teilweise erfolg­ reich; holländische Truppen leisteten heftigen Widerstand, und ein Flugplatz war sumpfiger, als die Deutschen erwartet hatten. Vor sieben Uhr morgens kreisten Flugzeuge der späteren deutschen Angriffswelle über den westlichen Niederlanden und suchten nach brauchbaren Notflugplätzen. Manche landeten auf dem Sandstrand, andere auf der Landstraße zwischen Den Haag und Rotter­ dam, wieder andere auf den Wiesen bei Delft. Wenn auch die Leute die Fall­ schirmjäger nicht selbst sahen, so mußten sie jedenfalls von ihnen hören. Die Beobachtungsposten der zivilen Luftverteidigung, die keinen Kurzwellensender zur Verfügung hatten, waren an die gewöhnlichen Rundfunksender angeschlossen, 1 Ebenda,

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30. 4. 1940.

die ihre Meldungen Weitergaben. Immer wieder hörte die Bevölkerung, daß deut­ sche Bomber, Jäger oder Transportflugzeuge sich näherten, kreisten oder Fall­ schirmjäger absetzten — ungestört als Herren der Luft. Es nahm kein Ende. Eine Schreckensbotschaft nach der anderen. Bald vernahm man Gerüchte, nur ein Teil der Fallschirmjäger habe deutsche Uniformen getragen, andere seien als Bauern, Polizisten, Postboten, Schaffner, Priester oder gar als Frauen, zumal als Nonnen, gekleidet gewesen. Wer war Freund, wer Feind? Der Bäckerjunge, der dort kam, mochte sehr wohl Hand­ granaten in seinem Korb tragen! In Rotterdam und Den Haag, die beide stark bevölkert und vom Feinde un­ mittelbar bedroht waren, erreichte die Nervosität ihren Höhepunkt. Schon am frühen Morgen befanden sich in Rotterdam der Flugplatz Waalhaven sowie die Straßen- und Eisenbahnbrücken über die Maas in deutscher Hand. Die Eroberung des Flugplatzes war dadurch erleichtert worden, daß der Kommandeur der Einheit, die für die Sicherheit des Platzes verantwortlich war, seine Truppen in Erwartung eines Angriffes holländischer Nazi teilweise in Richtung auf Rotter­ dam eingesetzt hatte. Die Bewohner der südlichen Stadtteile von Rotterdam sahen, wie Reichsdeutsche und zumal Schüler der deutschen Schule den Luftlande­ truppen als Führer dienten. Deutsche Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft fielen, hatten in ihrem Besitz »Skizzen eines Gebietes von 200 Metern im Quadrat, in dem sie operieren sollten. Die Stellen, an denen sie sich melden sollten, waren darauf markiert1.« Solche Berichte und Gerüchte breiteten sich wie Lauffeuer aus. Ähnliche Dinge wurden über die Maasbrücken erzählt. Auch dort war der Angriff völlig über­ raschend gekommen. Als die ersten deutschen Soldaten, die in Gummibooten von ihren Flugzeugen an Land gepaddelt waren, über die Brücke kamen, fragten Zivilisten »mit aufgerissenem Mund« einen vorüberkommenden Botenjungen: »Wer ist denn das nur?2« Die verfügbaren holländischen Truppen waren außer­ stande, die Deutschen von den Brücken zu vertreiben; diese waren zu schwer bewaffnet. Ein holländischer Hauptmann, dem es gelang, die Brücken noch zu überqueren, als sie bereits von den Deutschen besetzt waren, hatte (und das schien die Erklärung für die schweren Waffen zu sein) gesehen: »... daß von einem schwedischen Schiff, das westlich der Maasbrücke lag, ... Mörser, Motor­ räder mit Beiwagen, Funkgeräte und anderes Heeresgut an Land gebracht wurden3.« 1

Aussage Oberstleutnant J. D. Backer. Holl. Pari. Ber. Ic, S. 367.

2

Historisch overzicht betreffende afwijkingen van normale regelingen, extra getroffen maatregelen, feiten, gebeurtenissen enz., welke zieh van 10 Mei t/m 30 Juni 1940 bij het P. T.en T.-bedrijf hebben voorgedaan. Den Haag 1940. S. 625. — Künftig zitiert als: Historisch overzicht PTT-1940. 3 Generalmajor V. E. Nierstrass: De strijd om Rotterdam, Mei 1940. Den Haag 1952. S. 33 Anm. 2. — Dies ist einer der von der kriegsgeschichtlichen Abteilung des holländischen Generalstabes veröffentlichten Bände.

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Auf der Maasinsel (die mit beiden Flußufern verbunden ist) hatten verschiedene deutsche Firmen ihre Büros und Lagerhäuser. Man nahm allgemein an, daß deutsches Heeresgut dort verborgen war, bis die deutschen Truppen es nutz­ bringend verwenden konnten. Im Bezirkskommando Rotterdam des holländi­ schen Heeres wußte man zunächst nicht, was man tun sollte, um die tödliche Gefahr abzuwenden, die plötzlich aus dem Nichts entstanden war. Alarmierende Nachrichten »liefen sowohl telefonisch wie auch durch Zivilisten ein und wollten von Aktionen von Fallschirmjägern in verschiedenen Teilen der Stadt wissen; auch hieß es, daß unbekannte Leute aus den Häusern schössen1«. Hunderte von Häusern wurden durchsucht, zumal dort, wo man wußte, daß Mitglieder der holländischen Nazipartei ihre Wohnung hatten. Soldaten stiegen in Keller und auf Dächer und lieferten Verdächtige bei der Polizei ab. Auch in Den Haag war die nervöse Spannung an diesem 10. Mai groß. Niemand hatte erwartet, daß die königliche Residenz und der Sitz der Regierung so un­ mittelbar bedroht würden. Die Verteidigung der Stadt war nicht vorbereitet, und es fehlten klare Anweisungen. Die Truppen bestanden überwiegend aus jungen Rekruten, die über mehrere Kasernen verteilt waren. Die Offiziere wußten nicht, von welcher Seite aus die Deutschen, die aus der Luft rings um die Stadt herum landeten, sich nähern würden. Schon vor sechs Uhr morgens wurden um das

Stadtzentrum

Verteidigungslinien

gezogen.

Außenminister

van

Kleffens

mußte auf dem Wege in sein Ministerium, wo er das deutsche Ultimatum ent­ gegennehmen sollte, zwanzig Minuten lang verhandeln und schließlich das holländische Generalkommando anrufen, ehe ihn die nervösen und mißtrauischen Posten passieren lassen wollten. Etwa um dieselbe Morgenstunde fiel dem Kom­ mandeur der Luftverteidigung in Den Haag eine Akte in die Hand, die man in dem Wrack eines mitten in der Stadt abgestürzten deutschen Transportflugzeuges gefunden hatte. Kartenskizzen zeigten den kürzesten Weg von einem der Flug­ plätze zum königlichen Schloß sowie nach Scheveningen, wo die Königin ein Privathaus besaß. Am alarmierendsten war jedoch ein Bataillonsbefehl, in wel­ chem sich unter, anderem folgende Feststellung befand: »Im Einsatzgebiet sind deutsche Zivilpersonen mit Sonderaufträgen eingesetzt. Sie sind im Besitz eines Ausweises nach untenstehendem Muster. Ihnen ist durch die Truppe jede ange­ forderte Unterstützung zu gewähren. Eingehende Belehrung hierüber ist not­ wendig.« Das Paßmuster fehlte, doch war offensichtlich, daß der Feind sich ziviler Helfershelfer bediente. Die Vorsichtsmaßregeln wurden aufs äußerste verstärkt. Einige Offiziere be­ haupteten, sie seien auf dem Wege zu ihrem Posten beschossen worden. Andere waren genötigt worden, sich Zivifisten, die sich ihrer bemächtigen wollten, mit der Pistole vom Leibe zu halten. Das Gefühl der Unsicherheit nahm von Stunde zu Stunde zu und wurde noch durch Gerüchte vermehrt, daß führende Männer 1

76

Ebenda, S. 49.

des öffentlichen Lebens — der Präsident der holländischen Luftverkehrsgesell­ schaft und der Postminister — sich als Verräter erwiesen hätten. Die allgemeine Nervosität wurde noch durch die relative Isolierung der Bevölke­ rung gesteigert. Die meisten Telefonverbindungen waren abgeschnitten, der Post­ betrieb war eingestellt worden. Nur Zeitungen wurden noch zugestellt. Sie ent­ hielten jedoch alle nur dürftige und beunruhigende Nachrichten. Die Menschen saßen an ihren Rundfunkgeräten und lauschten gierig den entmutigenden Be­ richten der Luftschutzwarte. Außerdem warnte der Rundfunk vor Leuten, die das Gerücht verbreiteten, das Trinkwasser sei vergiftet worden; diese Übeltäter solle man verhaften. Der mit Spannung erwartete erste Heeresbericht wurde am 11. Mai verbreitet und klang noch hoffnungsvoll. Er erwähnte einen deutschen Panzerzug, in welchem hol­ ländische Uniformen gefunden worden seien, meldete ferner, daß in Den Haag »ein Versuch, die Polizeihauptwache durch Überraschungsangriff zu nehmen, vollstän­ dig gescheitert« sei und bestätigte dadurch die Tätigkeit der Fünften Kolonne. Ebenfalls am zweiten Tage des Krieges gab das Oberkommando bekannt, daß deutsche Einwohner von Den Haag den Versuch gemacht hätten, von einem Haus im westlichen Teil der Stadt das Zentrum zu erreichen. Sie seien in das Haus zurückgetrieben und dort unter Geschützfeuer genommen worden, »worauf die überlebenden Deutschen sich

ergaben«. Ferner

wurde amtlich bekanntgegeben,

eine Einheit des holländischen Heeres sei »von Personen beschossen worden, die teils in Zivil, teils in holländische Heeresuniformen gekleidet waren«. Offensichtlich war vor allem nötig, daß Reichsdeutsche und Mitglieder der NSB alsbald beseitigt würden, um zu verhindern, daß sie weiteres Unheil anrichteten. Seit 1938 hatte die holländische Polizei sorgfältig darauf geachtet, die Namen und Adressen aller Personen zu registrieren, die als unzuverlässig galten; das waren im ganzen Lande etwa 1500 Reichsdeutsche und 800 Holländer, über­ wiegend Mitglieder der NSB. Am 10. Mai wurden um 5 Uhr morgens ChiffreTelegramme ausgesandt, mit denen die Staatsanwälte ermächtigt wurden, diese 2300 Personen zu verhaften. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte befahl, daß alle andern Deutschen oder Ausländer deutscher Herkunft in ihren Wohnungen zu bleiben hätten; dazu gehörten auch Zehntausende von Juden und anderen politischen Flüchtlingen. Es wurden Streifen gebildet, und die Polizeiwagen be­ gannen zu rollen. Die Tatsache, daß alle für gefährlich erachteten Personen so bald verhaftet wurden, war nicht allgemein bekannt. Was aber hieß schon gefährlich? War nicht jedes Mitglied der NSB ein Verräter, und gehörte nicht jeder Reichsdeutsche zur Fünften Kolonne? Wer immer sich für geeignet oder berufen hielt, half bei den Verhaftungen. »Jedermann — Soldaten, Sergeanten, Leutnants und Bürger­ meister — glaubte damals, er solle nur mit den Verhaftungen beginnen1.« Die 1

Aussage J. A. van Thiel a.a.O.

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Behandlung war örtlich verschieden; manchmal war sie korrekt, manchmal auch nicht. Vor allem in den großen Städten konnten viele ihre Gefühle nicht bezäh­ men, als sie sahen, wie Adolf Hitlers und Anton Musserts Anhänger abgeführt wurden. Am größten war jedoch der Haß gegen die holländischen Nazi: »Es ertönt der Ruf: Hände hoch! Nationalsozialisten werden mit Frauen und Kindern die Treppen hinuntergejagt. Dann müssen sie mit erhobenen Händen vor ihren Türen warten, wo jedermann sie sehen kann, bis die Haussuchung beendet ist. Geladene Revolver und Gewehre mit Bajonetten sind auf sie ge­ richtet. Jede Bewegung gilt als Angriff. >Nehmt die Hände aus den Taschen!< — >Halt’s Maul, oder du kriegst eine Kugel!< — >Dreckige Verräter! Haltet das Maul!< >Man sollte euch alle ersäufen!Wer hat Ihnen das gesagt?< — >Eine Warnung von der Polizeiwache! Weitersagen!< Die Verbreitung gerade dieses Gerüchts war von der Fünften Kolonne glänzend organisiert worden. Es wurde etwa gleichzeitig an verschiedenen Stellen Amster­ dams ausgegeben und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Es war natürlich völlig unwahr, wirkte aber niederdrückend auf die allgemeine Stimmung12 .« Weiter

wurde

behauptet,

verschiedene

deutsche

Fallschirmjäger

seien

nahe

Amsterdam gelandet, aber glücklicherweise gefaßt worden; in einem Zimmer des »Hotel de l’Europe« habe man Magnesiumbomben gefunden, mit denen deutschen Bombern Lichtsignale gegeben werden könnten; die Fünfte Kolonne habe auf den Straßen und an Häuserwänden Striche gezogen, die geographische Hinweise gaben — und in manchen Teilen der Stadt würden diese Zeichen bereits schleu­ nigst abgekratzt. Noch deutlicher trat die Furcht vor der Fünften Kolonne in Den Haag zutage. Jedermann war sich der Nähe des Feindes bewußt. Am 11. Mai wurde auf den Straßen so viel geschossen, daß die Truppen glaubten, sie bekämpften einen allge­ meinen Aufstand der holländischen Nazi. »Auf Dächern und in Höfen gab es zahl­ reiche Jagden auf Leute von der NSB3.« Am heftigsten war die Schießerei in 1 W. A. Poort und Th. N. J. Hoogvliet: Slagschaduwen over Nederland. Haarlem 1946. S. 282. 2

L. de Jong: Holland fights the Nazis. S. 16/7.

3

Poort-Hoogvliet a.a.O., S. 63.

79

der Nähe eines auffallenden Wohnblocks im Stadtzentrum, wo sich, wie man glaubte, Leute von der Fünften Kolonne verschanzt hatten. Aber auch sonst sah man überall »Autos, aus deren Türen Karabiner hervorragten, und Poli­ zisten, die mit der Pistole in der Hand >Hände hoch!< riefen1«. Niemand wußte genau, wo der Feind war, doch vermutete man ihn überall. Am Sonntag, dem 12. Mai, dem dritten Kriegstag, wurde die Lage in Den Haag noch verworrener. Jetzt wurde auch die Polizei für unzuverlässig gehalten. Junge Angehörige der Bürgerbrigade fingen an, die Polizei zu entwaffnen. Jetzt kamen die Militärbefehlshaber zu der Erkenntnis, daß sie radikal vorgehen müß­ ten, um ein allgemeines Chaos zu verhindern. Die Bevölkerung wurde angewiesen, Türen und Fenster geschlossen zu halten. Niemand durfte auf der Straße stehen bleiben. Die Truppe wurde härter angefaßt. Das Ergebnis war, daß sehr viel weniger wilde Schießereien vorkamen. Die militärischen Stellen hatten jedoch nach dem Fund deutscher Dokumente vom 10. Mai eine ähnliche, aber viel umfangreichere Sammlung von Papieren erhalten, wie sie am 12. Mai auf einem der Flugplätze um Den Haag bei einem gefallenen Deutschen gefunden worden waren. Diese hatten dem Nachrichten­ offizier der 22. deutschen Luftlandedivision gehört und enthielten eine ganze Reihe von Spionageberichten, die zum großen Teil vom deutschen Militärattaché in Den Haag stammten, ferner eine Liste von Leuten, die offenbar festgenommen werden sollten, lange Verzeichnisse von Garagen in Den Haag sowie Karten, auf denen nicht nur die wichtigsten Kraftwerke und dergleichen, sondern auch der Schutzraum der königlichen Familie und die Wohnungen des Ministerpräsidenten und des Verteidigungsministers mit Pfeilen eingezeichnet waren. Außerdem fand sich ein Befehl bezüglich derjenigen »Bürger«, die »mit besonderen Aufträgen« in den Kampf geworfen worden waren, und ein zugehöriger Paß, der folgender­ maßen lautete: »Der................. hat in der Ausführung von Sonderaufträgen die Berechtigung, die deutschen Linien zu passieren. Alle Truppenteile werden ersucht, ihm jede Unter­ stützung zu gewähren. Dieser Ausweis gilt nur in Verbindung mit einem mit Licht­ bild versehenen Personalausweis.« Das aufgefundene Exemplar, das von Graf Sponeck unterzeichnet war, trug die hohe Nummer 206. Ein weiterer Beweis für die Tätigkeit der Fünften Kolonne, mit der, wie die Leute glaubten, das Militär in Den Haag kaum fertigwerden konnte! Die Symptome, welche die Holländer bei der Invasion ihres Landes wahrzu­ nehmen glaubten, ließen den Begriff Fünfte Kolonne seine volle Bedeutung er­ langen. Seine spanische Herkunft war vergessen worden und seine Bedeutung unbestimmt. Man faßte darin alles zusammen, was man als unvereinbar mit einer normalen und anständigen Kriegsführung ansah: Spionage großen Umfangs, die 1

80

A. van Boven: Jan Jansen in bezet gebied. Kämpen 1946. S. 6.

Anwerbung von Mitläufern und das Anlegen militärischer Vorräte in dem Land, das man erobern wollte. Während des eigentlichen Angriffs auch die Täuschung des Gegners durch Benutzung seiner eigenen Uniformen oder durch Operationen von Militär in Zivilkleidung oder auch durch Angriffe nicht nur an der Front, sondern auch dahinter, indem man Fallschirmjäger zu Tausenden abwarf. Schließ­ lich auch, indem man durch Vergiftung von Nahrungsmitteln eine Panik aus­ löste

und

durch

falsche

Befehle,

Falschmeldungen

und

Gerüchte

Verwirrung

stiftete. Alle diese Tätigkeiten der Fünften Kolonne betrachtete man nicht als beiläufige Verstöße des Feindes, der sich im übrigen an die militärischen Spielregeln hielt, sondern dieser Feind hielt sich an überhaupt keine Regel. Wehrlose Frauen und Kinder und entwaffnete Kriegsgefangene trieb er vor sich her, wann immer das in seine bösartigen Pläne paßte. Die Fünfte Kolonne war vor allem seine An­ griffswaffe, die eigentliche Form militärischer Aggressionen durch die National­ soziafisten. Die Leute meinten, das sei in Holland noch deutlicher geworden als in Nor­ wegen. In Norwegen hatten Quisling, Sundlo und ein paar hohe Beamte und Offiziere das Land an Hitler verraten. Dort war, wie man hatte lesen können, der Streich dank der absoluten Kontrolle gelungen, »die eine Handvoll Männer in Schlüsselstellungen von Verwaltung und Marine ausgeübt hatten«. In Holland hingegen hatte Hitler eine Fünfte Kolonne riesigen Umfangs mit Tausenden von Mitgliedern in Marsch gesetzt. Reichsdeutsche und holländische Nazi hatten in zahllosen Fällen aus dem Hinterhalt auf die Truppen geschossen und Hand in Hand mit Fallschirmjägern gearbeitet, die sich unauffällig als Bäcker, Priester, Bauern,

Straßenbahnschaffner

und

Postboten

ins

Getümmel

gestürzt

hatten.

Ja, es gab kein Gewerbe und keinen Beruf, dessen Kleidung sich die Fünfte Kolonne nicht zunutze gemacht hatte. Jeder Freund konnte ein Feind sein. So sah das Bild aus, das sich den verwirrten Blicken des holländischen Volkes in jenen schicksalhaften Tagen des Mai 1940 darbot. Presse und Rundfunk, Briefe und mündliche Berichte teilten es der freien Welt mit und lösten dort eine Welle von Furcht und Spannung aus, die Herzen und Sinne von Millionen Menschen überflutete.

81

IV

DIE DEUTSCHE OFFENSIVE IN BELGIEN UND FRANKREICH

Die Niederlande waren im ersten Weltkrieg neutral gewesen. Das belgische Volk dagegen erinnerte sich noch 1940 nur allzu gut des Alptraums vom August 1914, als der brutale Deutsche seine Armeen durch Belgien marschieren Heß. Dörfer und Städte waren in Flammen aufgegangen, und Zivilisten, die man be­ schuldigte, auf deutsche Truppen geschossen zu haben, wurden zu Hunderten füsiliert. Jenem Vormarsch waren vier Jahre strenger deutscher Besatzung ge­ folgt — Jahre des Unrechts, der moralischen Unterdrückung, des Elends und der Zwangsverschickungen. Am 10. Mai 1940 begann derselbe Feind wieder zu marschieren. Die Holländer wußten nicht aus Erfahrung, was Krieg und Besatzung der Deutschen bedeutete. Die Belgier wußten es! Ihre alte Furcht erwachte in vollem Umfange zu neuem Leben. Gott sei Dank hatten mächtige Verbündete die deutsche Offensive voraus­ gesehen und Gegenmaßnahmen vorbereitet! Kaum hatte der Rundfunk den Kriegsausbruch gemeldet, kaum war nach dem ersten Luftangriff die Entwarnung verklungen, als die Bevölkerung von den Ar­ dennen bis zur Nordsee auf die Straßen stürzte, um die französischen und britischen Truppen, die Kriegskameraden vom letzten Mal, jubelnd zu begrüßen. Diese Truppen rollten in tadelloser Ordnung nach Belgien hinein, wo sie mit dem Gesang der »Marseillaise« und von »Tipperary« von der Bevölkerung begeistert begrüßt wurden. Ihr Anblick gab den Menschen das Vertrauen, daß es ihnen gelingen werde, die deutschen Eindringlinge weit im Osten aufzuhalten und sie dann rasch zurückzudrängen. On les aura! Aber die Furcht war die Kehrseite dieses Vertrauens. Schon am ersten Tag breiteten sich pessimistische Gerüchte aus: in Paris sollte Revolution sein, Italien habe Frankreich angegriffen, die Maginotlinie sei durchbrochen, alle Dörfer um Lüttich seien dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Polizei und ein großer Teil des Publikums waren davon überzeugt, daß feindliche Agenten planmäßig solche Gerüchte ausstreuten. In Courtrai wurden schon am 10. Mai zwölf Personen verhaftet, »die verdächtigt wurden, Spione zu sein und Gerüchte zu verbreiten1«. 1 René

82

de Chambrun: I saw France fall. Will she rise again? New York 1940. S. 119.

Die Bevölkerung hielt Ausschau nach Helfershelfern des Feindes — »La Cinquième Colonne« nannten die Wallonen sie, die Flamen »De vijfde Kolom«. Am 10. Mai wendete sich der Verteidigungsminister über den Rundfunk an die Bevölkerung, sie möge den Militärbehörden oder der Polizei melden, falls sie in der Nähe militärischer Anlagen oder strategischer Punkte »verdächtige Personen« bemerke. Aus allen Automobilen mußten die Rundfunkempfänger entfernt wer­ den: gab es etwa, so fragten sich die Leute, feindliche Agenten, die auf diesem Wege ihre Weisungen erhalten hatten? Am dritten Kriegstag schufen neue War­ nungen der Regierung abermals Unruhe. Die Sicherheitsorgane gaben bekannt, »an mehreren Stellen Belgiens« seien deutsche Fallschirmjäger in Zivilkleidung und im Besitz kleiner Rundfunksender gelandet, um Gerüchte zu verbreiten und Sabotage zu üben. Am nächsten Tage wurde amtlich mitgeteilt, daß feindliche Agenten »in hellbraunen Uniformen mit Hakenkreuzknöpfen und Abzeichen mit den Buchstaben DAP« mehrmals die Polizei angegriffen hätten. Die Sicherheits­ organe baten darum, daß alle Reklameschilder der Cichorie »Pascha« von Tele­ grafenpfählen und dergleichen entfernt würden. Zur Erklärung wurde gesagt: »Auf der Rückseite der Plakate hat man Zeichnungen gefunden, die dem Feind wertvollen Aufschluß über Verkehrswege etc. geben können.« Diese Deutschen hatten an alles gedacht! Nicht die kleinste Einzelheit war ihrer Aufmerksamkeit entgangen! Vor wie langer Zeit waren doch diese Plakate noch mitten im Frieden angebracht worden, die jetzt eiligst entfernt werden mußten, um zu verhindern, daß Fallschirmjäger die nächste Eisenbahnbrücke fänden! Woran konnte man diese Fallschirmjäger erkennen? Sie waren, wie die Regierung am 13. Mai mitgeteilt hatte, »als Arbeiter, Priester oder belgische Soldaten ver­ kleidet«, sogar Frauen wurden vom Gegner als Spitzel und Saboteure beschäftigt. Vor allem die Hauptstadt Brüssel glich in jenen ersten Kriegstagen einem Bienen­ korb, in dem es von Gerüchten und Befürchtungen summte. Es trafen keine Be­ richte über militärische Erfolge ein. Vielmehr wurde bekannt, daß die Deutschen drei entscheidend wichtige Brücken über den Albert-Kanal nordwestlich von Lüttich genommen hatten. Wie war das möglich? Sie lagen doch unter dem Längs­ feuer der Forts um Lüttich! Hatte man diese zum Schweigen gebracht? Es war unheimlich. Verwendete Hitler Geheimwaffen, Gas oder Todesstrahlen? Oder han­ delte es sich um Verrat? Wer konnte das sagen? Aber trotz des optimistischen Tons amtlicher Verlautbarungen — »Unsere Lage bessert sich von Stunde zu Stunde«, sagte König Leopold am 13. Mai — wußte die Bevölkerung, daß die eigenen Trup­ pen ständig zurückgedrängt wurden. Schon am 12. Mai hatte der französische Historiker Marc Bloch auf der Straße bei Charleroi belgische Deserteure gesehen1. Am Abend desselben Tages hörte ein englischer Kriegskorrespondent in Brüssel einen Soldaten an eine Tür klopfen und rufen: »,Ich bin’s, Mutter!* Er war von der Front zurückgekehrt, wo es ihm 1 Marc

Bloch: L’étrange défaite. Témoignage écrit en 1940. Paris 1946. S. 31.

83

nicht gefiel1!« Vielleicht war die Zahl der Deserteure nicht sehr groß, aber jeder einzelne unterstrich die Schilderung von der überwältigenden Macht des deutschen Angriffs. Die erste Flüchtlingswelle vermehrte die traurige Kunde. In Südost­ belgien verstopften die Flüchtlinge schon am 10. Mai die Straßen. Die Bahn- und Postbeamten hatten Weisung erhalten, ihre Posten vor Ankunft des Feindes zu verlassen, aber bald folgten Zehntausende, ja Hunderttausende aus der übrigen Zivilbevölkerung aus freien Stücken ihrem Beispiel. Mindestens anderthalb Milli­ onen Menschen flüchteten in den Westen des Landes, weil sie hofften, sie könnten von dort aus nötigenfalls Frankreich erreichen — verzweifelte, aufgeregte und ent­ wurzelte Menschen, die zusammenhanglos die barbarische Behandlung schilder­ ten, die ihnen von Deutschen und Mitgliedern der Fünften Kolonne zuteil gewor­ den sei, oder Geschichten darüber weitererzählten. Welches Entsetzen, als sich herausstellte, daß der Fluchtweg versperrt war! Fünf Tage lang hielten die Franzosen ihre Grenze geschlossen. Als sie sie öffneten, war es fast zu spät. Deutsche Panzerdivisionen, von deren Operationen die Belgier nichts wußten, näherten sich plötzlich bereits dem Kanal. Von der Mündung der Somme rückten sie unaufhaltsam nordwärts vor. In den letzten zehn Maitagen bildeten

Zivilbevölkerung,

Flüchtlinge

und

übermüdete

belgische,

französische

und britische Soldaten einen Menschenstrudel, der von dem deutschen Vormarsch in Richtung auf die Küste und den einzigen Hafen Dünkirchen getrieben wurde. Der Wechsel des Kriegsglücks wirkte sich vor allem auf die Truppen aus, die Belgien zu Hilfe geeilt waren. Während sie zuversichtlich vorrückten, hatten sie schon in den ersten Tagen ihr Äußerstes hergeben müssen, um dem schweren deutschen Angriff standzuhalten. Eine Woche nach Beginn der Kämpfe hatte eine Panzeroffensive, die niemand vorausgesehen hatte, ihre rückwärtigen Verbin­ dungslinien im Süden abgeschnitten. So blieb nichts übrig, als langsam zurückzu­ weichen und unnachgiebig gegen einen Gegner zu kämpfen, der alle Trümpfe in Händen hielt. Die französischen und britischen Truppen fühlten sich unter Frem­ den, zumal in Flandern, wo sie die Bevölkerung nicht verstehen konnten. Viele französische Bataillone besaßen nicht einmal Generalstabskarten. So kam es ge­ legentlich vor, daß zwei Bataillone dieselbe Straße in entgegengesetzter Richtung benützten. Die französischen Truppen verfügten nicht über eine Abwehrabteilung, die im­ stande gewesen wäre, mit angeblichen Angehörigen der Fünften Kolonne fertigzu­ werden. So gab es nur einen Ausweg: mit Spionen und Saboteuren kurzen Prozeß zu machen. Es hieß, sie würden mit Fallschirmen von deutschen Flugzeugen abge­ worfen, und man erzählte auch von Agenten, die sich als Flüchtlinge verkleidet durch die Linien schlügen. Die Flüchtlinge zählten nach Hunderttausenden, und das Problem, das sie schufen, war unlösbar. Aus anderen Bezirken trafen keine Nachrichten bei den Truppen ein oder höchstens Berichte über die Tätigkeit der 1 J.

84

L. Hodson: Through the Dark Night. London 1941. S. 184.

Fünften Kolonne: Verräter schossen auf ihre Waffenbrüder, Agenten in Priester­ rock oder Uniform, belgische Eisenbahner, die als Angehörige der Fünften Kolonne planmäßig den Verkehr behinderten oder ein hoffnungsloses Durcheinander ver­ ursachten. Am 19. Mai warf sich in der Nähe von Dünkirchen der französische Soldat René Balbaud flach auf den Erdboden. Schüsse kamen »aus den Fenstern eines Gehöfts. Unsere Männer haben bereits das Gebäude erstürmt, um die Türen ein­ zuschlagen. Fallschirmjäger? Fünfte Kolonne? Niemand weiß es. Wahrscheinlich wird man wieder einmal nichts finden!« Einen Tag später hörte er ringsum Feuer aus Maschinenwaffen. »Niemand weiß, was los ist, aber wir müssen an Fall­ schirmjäger denken. Augenscheinlich sind alle Telefonverbindungen von Saboteu­ ren zerstört worden.« Zwei Tage später wurde ein junger Bursche von 18 Jahren »beim Spionieren ertappt« und sofort erschossen; »es lohnt sich nicht, hinzu­ schauen1«. Auch die britischen Truppen waren zu der Überzeugung gelangt, daß es eine allgegenwärtige Fünfte Kolonne gäbe. Der Kriegskorrespondent J. L. Hodson ver­ suchte am 12. Mai, auf dem Wege nach Brüssel mit einem englischen Gefreiten ins Gespräch zu kommen; dieser »konnte mir nicht antworten, bis er meinen Ausweis gesehen hatte«. Während sie miteinander sprachen, kam ein junges Paar in höch­ ster Aufregung herbeigeradelt; sie hatten in dem nah gelegenen Wald einen Frem­ den gesehen, »einen kleinen Mann mit rosa Augen«. Sie hatten ihn noch nie vorher gesehen und »waren sicher, daß es ein Spion war«. Außerdem waren in der Gegend zwei Fallschirmjäger mit Maschinengewehren abgesprungen, der eine in der Uni­ form eines belgischen Polizisten, der andere in Zivil. Am nächsten Tage traf Hodson in Brüssel eine Dame von Adel, die ihm mit ent­ setztem Gesicht berichtete, die Deutschen würfen explosive Uhren und Bleistifte ab; infolge einer deutschen Bombe sei »im Umkreis von 150 Metern12 « nicht ein einziges Haus stehengeblieben. Am 14. Mai erzählte ihm ein schottischer Soldat, er habe an der Gefangennahme einiger Fallschirmjäger in belgischer Uniform teil­ genommen. Weiter verzeichnet Hodson: »Vier in Zivilkleidung landeten gestern mitten in Brüssel. Einer von ihnen fiel auf ein Dach und brach sich ein Bein, ein anderer ist noch in Freiheit3.« In Löwen hörte er später, daß belgische Angehörige der Fünften Kolonne zu Hunderten verhaftet worden seien. »Ein sehr verdächtiger Mann verbrannte auf dem Marktplatz die belgische Fahne unter lauten Ausrufen, daß er diese den Deut­ schen nicht in die Hände fallen lassen könne. War der Rauch ein Signal? Niemand wußte es.« Von Soldaten des Schützenregiments Royal Ulster erfuhr Hodson, deut­ sche Spitzel in britischen Uniformen seien in mehreren britischen Kommando­ 1

René Balbaud: Cette drôle de guerre. London 1941. S. 60/1 u. 67.

2

Hodson a.a.O. S. 181/2.

3

Ebenda, S. 187.

85

stellen eingedrungen und »auf einem frischgepflügten Feld war ein Pfeil der Art gefunden worden, wie sie der Feind zur Kennzeichnung von Gefechtsständen be­ nutzte — ein langer Stock, der in den Boden gepreßt war und an seinem rückwär­ tigen Ende drei Grammophonplatten trug1«. Am 21. Mai hielt sich Hodson in Boulogne auf: »Als heute abend der Bomben­ angriff anfing, stand ich eine Weile am Fenster meines Schlafzimmers, das auf den Hafen blickt. Man konnte zwei oder drei Lichter sehen, die kleinen unbeweglichen Sternen glichen. Sie könnten, so dachten wir, Signale sein, die dem Gegner das zu bombardierende Gebiet abgrenzten. Wir riefen daher zur Militärpolizei hinunter und machten sie darauf aufmerksam. (Heute wird berichtet, daß Hakenkreuze mit Kreide auf die Straßen gemalt wurden.) Dieser Krieg scheint mit Verrat getränkt zu sein12 .« »Mit Verrat getränkt« — diesen Eindruck hatten auch die Soldaten. Häufig wurden höhere Offiziere verhaftet, weil man ihre Identität anzweifelte und diese erst bestätigt haben wollte. »Jeder ungewöhnlich aussehende Zivilist wurde ver­ dächtigt, ein feindlicher Agent zu sein3.« Natürlich wurden auch in Belgien scharfe Maßnahmen gegen alle Personen ge­ troffen, die als Mitglieder der Fünften Kolonne verdächtig waren, vor allem Reichsdeutsche sowie Mitglieder des faschistischen »Vlaams Nationaal Verbond« und der Rexisten. Den Gerichten war bekannt, daß der VNV finanziell aus Deutsch­ land unterstützt wurde; die militärischen Stellen machten sich vor allem wegen der defaitistischen Propaganda Sorge, die der VNV unter den Soldaten trieb. Die Rexisten waren eine antidemokratische Bewegung und hatten ständig gegen Frank­ reich und Großbritannien agitiert. Den reichsdeutschen Gästen konnte man ohnehin nicht trauen; einige Mitglieder der Landesgruppe waren schon in den ersten Kriegstagen 1939 bei Spionage ertappt worden. In dem deutschsprachigen Gebiet von Eupen-Malmedy gab es Elemente, die man schief ansah. Die Truppen aus diesem Gebiet waren vorsichtshalber nicht bewaffnet worden, sondern mach­ ten Arbeitsdienst und hoben Gräben aus. Das Mißtrauen gegen sie versiegte nie­ mals. Am 10. Mai wurden die ersten Verhaftungen vorgenommen. Diejenigen Reichs­ deutschen, Rexisten und Mitglieder des VNV, die eingesperrt werden sollten, waren in Listen zusammengefaßt. Die Listen waren nicht alle gleichmäßig sorg­ fältig aufgestellt worden. An manchen Orten hatte sich die Polizei bemüht, die Rädelsführer ausfindig zu machen, während sie anderswo nur die Bezieher der Wochenzeitung des VNV festgestellt hatte; an manchen Orten war auch über­ haupt nichts geschehen. Léon Degrelle, der Führer der Rexisten, war am 10. Mai 1

Ebenda, S. 200.

2

Ebenda, S. 223.

3

Nigel Nicolson and Patrick Forbes: The Grenadier Guards in the war of 1939—1945. I, S. 19.

86

verhaftet worden; dasselbe Schicksal war den maßgeblichen Führern des VNV zuteil geworden, deren wichtigster, Staf de Clercq, am 12. Mai ohne Angabe der Gründe entlassen wurde. Gleichzeitig wurde eine größere Anzahl führender Kom­ munisten verhaftet, darunter fünf Parlamentsmitglieder. Alle diese ersten Verhaftungen vollzogen sich relativ ordungsgemäß. Einige Tage später kam es aber zu einer ungeheuren Welle neuer Verhaftungen, haupt­ sächlich auf Betreiben der unruhigen Öffentlichkeit, die dazu führten, daß innerhalb kurzer Zeit viele Gefängnisse überfüllt waren. Soldaten, die wegen kleinerer Vergehen in Haft saßen, wurden zu ihren Einheiten zurückgeschickt, und auch andere Ge­ fangene wurden nach Hause geschickt, um Platz für die Neuankömmlinge zu ge­ winnen. Gleichzeitig wurde beschlossen, die Gefährlichsten von den Verdächtigten nach Frankreich in Sicherheit zu bringen. Die Transporte dieser Art enthielten eine seltsame Mischung von Menschen. So verließ ein Zug Brüssel, in dem mehr als 1100 Verhaftete saßen, »fast alle Reichsdeutsche, aber auch viele Juden«; aus dem wallonischen Teil waren dar­ unter »Rexisten, Kommunisten, Verdächtige aus Eupen und den anderen deutsch­ sprachigen Bezirken, Gastwirte und Polizisten«. Ferner befanden sich darunter »ein persischer Student, der verdächtig und deshalb von der Universität entlassen worden war«, und ein jugoslawischer Ingenieur, der in Antwerpen dadurch Ver­ dacht erregt hatte, daß er im Lift eines Etagenhauses mehrmals auf- und abge­ fahren war; er selbst sagte, er habe es getan, um seine Habe aus dem gefährdeten Obergeschoß, wo er lebte, zu entfernen, die Bevölkerung jedoch hatte geglaubt, er gebe den Deutschen Signale. Auch Priester wurden verhaftet, weil grundsätz­ lich »alle Geistlichen im Verdacht standen, verkleidete Fallschirmjäger zu sein«. In Brügge wurden am 15. Mai drei Autobusse mit 78 weiteren Gefangenen beladen, von denen immer je zwei durch Handfesseln verbunden waren: »Deutsche, Hol­ länder, Flamen ... außerdem Juden, Polen, Tschechen, Russen, Kanadier, Ita­ liener, ein Däne, ein Schweizer und sogar Franzosen.« Die Gefangenen wurden zunächst nach Bethune und dann nach Abbeville ins Gefängnis gebracht. »Dort konnten keine mehr aufgenommen werden. Die Zellen barsten von Angehörigen der Fünften Kolonne1.« Die Bevölkerung lebte in pani­ scher Furcht, das Militär war am Ende seiner Weisheit angelangt — jeden Augen­ blick konnten die Umrisse deutscher Panzer auf der Hügelkette im Osten auf­ tauchen. 22 Gefangene wurden ohne weiteres in der Nähe des Konzertpavillons erschossen. In Tournai trafen zwei Transporte zusammen: Zweitausend Gefangene aus Ant­ werpen, einige hundert aus Gent und Umgebung. Am 14. Mai wurden alle hier ver­ sammelten Verdächtigen, insgesamt fast 3000, durch die Stadt geführt. Es war ein Tag, an dem der verhängnisvolle Durchbruch durch die Verteidigungsanlagen am Albert-Kanal bekannt wurde. Man hörte Rufe: »Schießt sie tot! Reißt ihnen die 1 René

Lagrou: Wij verdachten. Brüssel 1941, S. 24, 29, 47, 109, 145, 148.

87

Eingeweide heraus! Wozu habt ihr Bajonette? Lumpen! Schufte! Wo ist euer Führer? Hunnen! Schweine! Abschaum! Laßt sie verhungern!« »Frauen traten auf die Gefangenen zu, lachten und spuckten sie an. Männer zückten Dolchmesser. Kinder machten das Zeichen des >Kopfabà mort!Polizist< erzählte einer abgeschnittenen Gruppe holländischer Soldaten, ihre Freunde befänden sich hinter der nächsten Ecke. Als die Soldaten um die Ecke kamen, wurden sie von deutschen Truppen, die sich auf der Straße verbarrikadiert hatten, abgeschlachtet. Der >Polizist< wurde von später kommenden Truppen erschossen. Am phanta­ stischsten war jedoch, was der Steward des englischen Schiffes berichtete: er und

einige

Leute

von

der

Mannschaft

hätten

Fallschirmspringer

in

Frauen­

kleidung herunterkommen sehen. Sie trugen Rock und Bluse, und jeder hatte eine Maschinenpistole bei sich. Der Steward wußte nicht zu sagen, ob es Frauen oder verkleidete Männer waren. Mehrere Augenzeugen auf dem Schiff bestätigten dies und sagten, andere seien als Priester, Bauern, und Zivilisten abgesprungen.. . Während Maschinengewehre wie unnatürliche Blitze aus heiterem Himmel die Straßen unten bestrichen, kamen die Mitglieder der Fünften Kolonne schwer bewaffnet und in deutschen Uniformen aus ihren Wohnungen. Holland hatte seit Wochen die Fünfte Kolonne durchgekämmt; als sich aber um drei Uhr morgens die Türen öffneten, hielten die Männer, die als Antinazi und deutsche Flücht­ linge gegolten hatten, Gewehre in den Händen1.« Britische Geschäftsleute, die vom Kontinent geflüchtet waren, erzählten von Metzger- und Bäckerjungen in holländischen Städten, die in ihren Körben unter weißen Tüchern Handgranaten und andere Munition befördert hatten. Auch sie hatten verkleidete Fallschirmjäger gesehen. »Als sie Frauen an den Fenstern in die Hände klatschen hörten, gingen sie hin und nahmen mit den Spitzeln drinnen Verbindung auf2.« Dutzende

solcher

Geschichten

wurden

von

den

holländischen

Flüchtlingen

erzählt. Auf Grund dessen, was er selbst erfahren und von seinem einige Tage später geflüchteten Kollegen gehört hatte, warnte der holländische Außen­ minister, wie schon vorher die Franzosen so jetzt das britische Volk, vor den »ab­ scheulichen Anschlägen« der Deutschen. Der britische Gesandte in Holland, der aus Den Haag geflüchtet war, sprach über den britischen Rundfunk von der »furchtbaren Zahl« von Deutschen, die man in Holland hatte frei herumgehen lassen. Sie hätten »die Anweisungen aus Deutschland« ausgeführt. Die Kämpfe in Belgien und Frankreich gaben Anlaß zu einer ganzen Kette ähnlicher Berichte. Kein Journalist, kein Flüchtling, kein Soldat landete in Eng­ land, der nicht erfüllt war von Geschichten über die Fünfte Kolonne und ihren Verrat. Deutsche Fallschirmjäger waren überall gelandet, sogar im Garten der belgischen Königinmutter! »Irgendwie denkt man bei den Franzosen niemals an Quislinge«, schrieb ein Angestellter des britischen Rundfunks in sein Tagebuch, als der französische Ministerpräsident Reynaud bekanntgegeben hatte, daß »die 1

Daily Express, 13. 5. 1940.

2

Daily Telegraph, 15. 5. 1940.

99

Brücken über die Maas verraten worden sind«. »Ich zweifle jedoch nicht, daß es der deutschen Gründlichkeit Kolonne zu schaffen*1 . «

gelungen

ist,

an

empfindlichen

Punkten

eine

Fünfte

Allein die Tatsache, daß in wenig mehr als einem Monat vier Länder rasch zusammengebrochen waren, schien ein ausreichender Beweis dafür zu sein, daß ungewöhnliche Mittel angewendet wurden. Ein normaler Krieg verlief nicht so! Die Leute meinten, es könne unmöglich nur die Überlegenheit an Panzern und Flug­ zeugen gewesen sein, die Hitler in zehn Tagen an den Kanal gebracht hatte. Das Anormale war hier zum wesentlichen Bestandteil einer stürmischen Angriffsweise geworden, wie es ja der »Führer« selbst in Rauschnings enthüllendem Buch be­ schrieben hatte. Er hätte nicht einmal die Offensive riskiert, wenn er nicht sicher auf die bereitwillige Hilfe hätte rechnen können, die ihm seine Werkzeuge in Feindesland im Zusammenwirken mit den Fallschirmjägern leisten würden, die allenthalben abgeworfen werden sollten. Verschiedene britische Ministerien sammelten schleunigst weitere Einzelheiten über die Form, in der diese Hilfe geleistet wurde. Hitlers Offensive war kaum eine Woche alt, als das Informationsministerium der britischen Bevölkerung mitteilte, daß Angehörige der Fünften Kolonne deutschen Flugzeugen Signale gäben, bei­ spielsweise »durch das Anzünden von Heuhaufen oder durch das Ausbreiten von Bettlaken oder sogar Zeitungen auf dem Boden«. Dadurch werde diesen Flug­ zeugen »bei Tag und bei Nacht« die Navigation erleichtert2. Achtung! Wie konnte man verhindern, daß England ebenso ein Opfer der Fünften Kolonne würde, wie es Dänemark, Norwegen und Holland bereits wider­ fahren war und Belgien und Frankreich zu widerfahren drohte? Waren auch nach England Agenten hineingeschmuggelt worden? Gab es auch dort Angehörige der Fünften Kolonne, die eines Tages ihre Türen öffnen und hinausstürmen würden, um Hitlers Luftlandetruppen »um drei Uhr morgens mit dem Gewehr in der Hand« zu begrüßen? Es schien kaum glaublich — aber waren nicht Länder wie die skandinavischen Staaten oder auch ein Land wie Holland Opfer ihrer Leicht­ gläubigkeit

geworden?

Und

hatte

nicht

übrigens

der

12. Mai einen Aufruf für Reservisten der Royal Air Force Bekanntgabe widerrufen müssen? Der Rundfunk hatte telefonisch vom Luftfahrtministerium erhalten. Nach sich, so wurde jedenfalls behauptet, heraus, daß das

britische

Rundfunk

am

drei Stunden nach dessen den Text des Aufrufes der Bekanntgabe stellte Luftfahrtministerium von

der Sache überhaupt keine Ahnung hatte. Es war also eine Falschmeldung, die Verwirrung stiften sollte. Es war das erste Beispiel dieser Art. Würde es das letzte sein? Die Regierung ergriff auf allen Gebieten weitreichende Vorsichtsmaßnahmen. 1 Anthony Weymouth: Journal of the War Years and One Year Later. Worcester 1948. I, S. 245. 2

The Times, 20. 5. 1940.

100

Am 11. Mai forderte das Innenministerium die Öffentlichkeit auf, vor Fallschirm­ jägern auf der Hut zu sein — »eine gefährliche Pest«, deren Auftreten, wie »Times« sagte, sofort gemeldet werden solle1. Beunruhigt über die Berichte Holland, begannen Bauern und Bewohner von Landhäusern schon am 11. 12. Mai in verschiedenen Gebieten damit, kleine Mannschaften zu bilden, die Jagdgewehren

und

anderen

Waffen

ausgerüstet

auf

Posten

standen.

die aus und mit

Anthony

Eden, der in dem von Churchill am 10. Mai gebildeten neuen Kabinett Kriegs­ minister war, forderte am Abend des 14. Mai — eben war die Nachricht von der Kapitulation der holländischen Armee eingetroffen — zur Bildung einer besonde­ ren Bürgergarde (Local Defence Volunteers) auf, die später Home Guard ge­ nannt wurde. Innerhalb von 24 Stunden hatten sich bei den Gemeindebehörden eine Viertel Million Männer gemeldet. Die Polizei wurde ermächtigt, in Waffen­ handlungen die Bestände zu beschlagnahmen. Wo an Gewehren Mangel herrschte, wurden Mistgabeln und Dreschflegel bereitgestellt. England würde sich nicht ohne Kampf geschlagen geben! »Wir müssen jedenfalls damit rechnen, daß wir in Kürze

nach

dem

holländischen

Muster

angegriffen

werden«,

schrieb

Winston

12

Churchill am 18. Mai an Präsident Roosevelt . An demselben Pfingstwochenende, als die Local Defence Volunteers nach deutschen Fallschirmjägern Ausschau zu halten begannen, setzte auf den Haupt­ straßen die Verkehrskontrolle ein. Zehntausende von Autos wurden angehalten und die Insassen um ihre Personalausweise gebeten. Alle Truppen waren alar­ miert worden. Am 16. Mai warnte Informationsminister Duff Cooper die Be­ völkerung davor, Gerüchte weiterzugeben. Am selben Tage begann der Schutz von Regierungsgebäuden. Die Eingänge zu den Ministerien wurden mit Stachel­ draht abgesperrt, und Soldaten übernahmen Tag und Nacht die Wache. An wich­ tigen Punkten Whitehalls wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Auf den nach London führenden Hauptverkehrsstraßen wurden Stacheldraht­ barrikaden

errichtet.

Polizeistreifen

kontrollierten

den

Schiffsverkehr

auf

der

Themse. Alle Besitzer von Autos und Garagen wurden angewiesen, darauf zu achten, daß bei Tag und Nacht kein Angehöriger der Fünften Kolonne sich eines Verkehrsmittels bemächtigen könne. Gegen Ende Mai wurden unter dem Eindruck der unablässig vom Kontinent einlaufenden Berichte neue Maßnahmen ergriffen. Schilder mit Ortsnamen und Wegweiser

wurden

entfernt.

Rundfunkempfänger

in

Autos

wurden

verboten.

Ohne besondere Erlaubnis durfte niemand mehr Uniformen, amtliche Abzeichen oder Embleme herstellen oder verkaufen. Polizei und Militär wurden ermächtigt, jede Wohnung zu betreten, wenn sie annahmen, sie würden dort Geräte finden, mit denen »absichtlich oder unabsichtlich« Signale gegeben werden konnten, welche dem Feind Hilfe brachten. Alle Lagerhäuser an der Themse und alle auf 1 Ebenda, 2 W.

11. 5. 1940.

S. Churchill: The Second World War. II: Their Finest Hour. London 1949. S. 50.

101

dem Fluß liegenden Schiffe wurden sorgfältig nach Kisten mit Waffen und Munition durchsucht: London sollte kein zweites Rotterdam werden! Anfang Juni erhielten alle Polizisten und Militärpersonen das Recht, sich von jedem Bürger die Kennkarte zeigen zu lassen. Das Recht, Verhaftungen vorzu­ nehmen, wurde erweitert. Jedes Haus erhielt gedruckte Anweisungen, man solle im Falle einer Invasion nicht fliehen und sich nicht von »falschen Gerüchten und falschen Anweisungen« beeinflussen lassen, wie sie die Deutschen auf dem Konti­ nent ausgestreut hatten, »um Verwirrung und Panik zu stiften1«. Die Bewegungsfreiheit gewisser Personengruppen, die nicht als völlig zuver­ lässig galten, wurde eingeschränkt. Am 30. Mai wurde verfügt, daß alle Aus­ länder und Staatenlose künftig bei Nacht in ihren eigenen Häusern sein müßten. Vor sechs Uhr morgens durften sie nicht die Straße betreten. Aus einem 30 Kilo­ meter tiefen Gürtel an der Südostküste wurden alle Ausländer entfernt. Aus­ ländische Flüchtlinge, die in großer Zahl eintrafen, wurden in Lagern auf ihre Zuverlässigkeit geprüft, ehe sie Erlaubnis bekamen, sich nach Wohnung und Arbeit umzusehen. Die Besatzungen ausländischer Schiffe in englischen Häfen durften nicht an Land gehen, Offiziere durften es nur zu bestimmten Stunden. Alle Funkanlagen an Bord wurden unter Bewachung gestellt. Viele dieser Maßnahmen sollten dazu dienen, gegebenenfalls deutschen Fall­ schirmjägern, ob nun in falscher Uniform oder nicht, die Bewegungsfreiheit zu nehmen und sie zu hindern, mit Helfershelfern in England Verbindung aufzu­ nehmen. Wer waren diese Helfershelfer? Waren es die einheimischen Faschisten, die sich bereit hielten, wie es nicht anders die Mitglieder der holländischen Nazi­ partei in den Niederlanden getan hatten? Es wurden Vorkehrungen getroffen, die den herzlichen Beifall der Millionen fanden, die überzeugt waren, daß Sir Oswald Mosley keinen Deut besser sei als Vidkun Quisling oder Anton Mussert. Viele Leute fanden es empörend, daß die »British

Union

of

Fascists«

immer

noch

öffentlich

demonstrieren

durfte.

In

Middleton sprengten wütende Arbeiter am 19. Mai eine Versammlung Mosleys. Drei Tage später wurde der Verteidigungs-Verordnung 18 b ein neuer Paragraph angefügt, welcher dem Innenminister das Recht gab, Personen zu internieren, von denen er begründeterweise annehmen durfte, daß sie einer mit dem Feind sympathisierenden Organisation angehörten. Ein paar Dutzend Führer faschisti­ scher Organisationen, darunter Mosley, wurden alsbald verhaftet. Viele andere Verhaftungen folgten, so daß gegen Ende des Jahres 1940 auf Grund dieser Be­ stimmung fast 8000 Menschen interniert worden waren. Unter dem Einfluß der Berichte vom Kontinent hatte die Regierung ferner begonnen,

Zehntausende

von

Flüchtlingen

zu

internieren,

größtenteils

Juden,

die in den letzten Jahren vor der Verfolgung des Naziregimes aus Deutschland und Österreich nach England geflohen waren. Ihre Anwesenheit hatte vom ersten 1

»Official Instruction to Civilians.« The Times, 19. 6. 1940.

102

Augenblick des Krieges an ein Problem geschaffen. Formell waren die weitaus meisten Flüchtlinge immer noch deutsche Staatsbürger. Die meisten haßten das Naziregime. Aber gab es vielleicht Ausnahmen? Hatte die Gestapo vielleicht auch unter den Flüchtlingen ihre Agenten? Und gab es nicht umgekehrt unter den Reichsdeutschen — keine Flüchtlinge, sondern teilweise seit Jahren in England ansässig — viele, die bereit waren, den Kampf gegen ein Regime zu unterstützen, das sie selbst als einen Schandfleck für Deutschland empfanden? Die

Regierung

beschloß

vernünftigerweise,

alle

Ausländer,

die

feindliche

Staatsangehörige waren, über ihre politische Haltung zu vernehmen. Personen, von denen die Polizei und die Abwehr wußten, glaubten oder annahmen, daß sie im Dienst der deutschen Spionage standen oder aktive Nationalsozialisten waren, fielen nicht unter diese Vernehmung; sie waren, etwa 2000, schon in den ersten Septembertagen 1939 festgenommen und interniert worden. Dabei waren manch­ mal schwere Fehler unterlaufen, weil sich in dieser ersten Gruppe, die ihrer Frei­ heit beraubt wurde, viele hundert jüdische Emigranten befanden, deren Zuver­ lässigkeit man niemals hätte in Zweifel ziehen sollen. Am zweiten Kriegstag, den 4. September 1939, war verfügt worden, daß sich alle Ausländer mit feindlicher Staatsangehörigkeit bei der Polizei zu melden hatten, und daß jeder Fall durch ein besonderes Tribunal untersucht werden sollte. Für die deutschen und österreichischen Emigranten war das eine vortreff­ liche Nachricht; denn sie bezweifelten keinen Augenblick, daß sie die Unter­ suchung erfolgreich bestehen würden. Die Personen, die untersucht wurden, sollten in drei Kategorien eingeteilt werden: A (unzuverlässig), B (absolute Zuverlässigkeit ungewiß), C (zuverlässig). Wer unter A fiel, sollte interniert werden. Wer unter B fiel, wurde gewissen Be­ schränkungen unterworfen. Wer unter C fiel, konnte seines Weges gehen und er­ hielt sogar Erlaubnis, bei der Zivilverteidigung und in der Rüstungsindustrie beschäftigt zu werden. »Es besteht nicht der geringste Anlaß für eine allgemeine Internierung«, schrieb die »Times«1. Der »Manchester Guardian« war der An­ sicht, »es würde ein Verbrechen sein, eine solche Fülle von Intelligenz, Wissen, guten Absichten und edler Leidenschaft zu verschwenden2«. Anfang Oktober 1939 waren 120 Ausländer-Tribunale geschaffen. Als diese vier Monate später ihre Arbeit beendeten, hatten sie nahezu

74.000

Fälle untersucht, darunter

55.000

Flüchtlinge. Fast 600 Personen (Kategorie A) wurden interniert, 6800 galten als Kategorie B, und die übrigen wurden für zuverlässig erklärt. Von den 55.000 Flüchtlingen wurde 51.000 die Zuverlässigkeit bescheinigt. Nimmt man die Flüchtlinge als Gruppe, so war das Urteil der Tribunale also günstig, doch fand es nicht die Zustimmung aller Behörden und der öffentlichen Meinung als Ganzes. Schon im Januar 1940 wurden das Innenministerium und 1

The Times, 14. 9. 1940.

2

Manchester Guardian, 15. 9. 1940.

103

das Kriegsministerium mit anonymen Briefen »überschüttet«, in denen deutsche und österreichische Emigranten als Agenten der Gestapo denunziert wurden1. »Werden wir etwa zu milde? Laufen wir zu viele Risiken?... Das ist die Frage, die sich die Leute stellen«, schrieb der »Daily Express12 «. Aus einem Artikel im »Daily Telegraph« ging hervor, daß die militärischen Abwehrstellen »über die Milde der Ausländertribunale sehr betroffen sind3«. »Als Flüchtling in Eng­ land zu leben, ist nicht nur angenehm, sondern gewinnbringend«, behauptete der »Sunday Express4«. Anfang März behauptete dieselbe Zeitung, daß unter den Emigranten bereits »der Kern einer Fünften Kolonne« geschaffen worden sei5. Immer

mehr

Stimmen

forderten

die

allgemeine

Internierung.

Am

18.

März

forderte Oberst Burton, der Abgeordnete für Sudbury im Unterhaus, daß Aus­ länder — »die zweifellos ein gut Teil an Informationen ausplaudern« — zwangs­ weise aus der Umgebung der Häfen entfernt werden sollten6. Im April 1940 trugen die Berichte über die deutsche Fünfte Kolonne in Nor­ wegen dazu bei, die allgemeine Besorgnis zu vermehren. »Würde es nicht viel besser sein, die ganze Gesellschaft zu internieren und dann die Braven heraus­ zusuchen?« fragte Oberst Burton am 23. April7. Für viele Leute war das gar keine Frage mehr. Der Druck der Öffentlichkeit war so stark geworden, daß die »Times« von Hysterie sprach. Innenminister Sir John Anderson wurde, zumal von den hinteren Bänken der Konservativen, immer schärfer angegriffen. Die Berichte aus Holland gaben den Ausschlag. In den späten Abendstunden des 10. Mai suchten Vertreter der Wehrministerien den Innenminister auf »und legten dar, es sei angesichts der immittelbar drohenden Invasionsgefahr ihrer Meinung nach von äußerster Wichtigkeit, daß alle männlichen Ausländer feind­ licher Staatsangehörigkeit im Alter von 16 bis 70 Jahren sofort aus der Küsten­ zone entfernt würden, welche ihrer Meinung nach derjenige Teil des Landes war, der im Falle einer Invasion betroffen sein würde8«. Auf diese Weise in die Ecke gedrängt, beschloß Sir John, alle feindlichen Aus­ länder, die in der Küstenzone lebten, zu internieren, also auch die Kategorien B und C. Die ganze Presse nahm diesen Entschluß beifällig auf, darunter auch die liberalen Zeitungen; sogar der »Manchester Guardian« schrieb: »Mit halben Maßnahmen ist es nicht getan9.« In Ipswich wurden vier Deutsche zur Polizei­ 1

Daily Herald, 24. 1. 1940.

2

Daily Express, 16. 1. 1940.

3

Daily Telegraph, 23. 1. 1940.

4

Sunday Express, 28. 1. 1940.

5

Ebenda, 3. 3. 1940.

6 England: House of Commons Debates, 5th series, Vol. 358, col. 1739. Künftig verkürzt zitiert, also: 358 H. C. Deb., 5s, 1739. 7

360 H. C. Deb. 5s, 33.

8

Sir John Anderson am 22. 8. 1940. 364 H. C. Deb. 5s, 1543.

9

Manchester Guardian, 13. 5. 1940.

104

wache gebracht: es sammelte sich eine Menschenmenge an, und »obwohl nichts darauf hindeutete, daß diese Leute etwas anderes als harmlose feindliche Aus­ länder waren, konnte man aus der Menge laute Rufe gegen sie hören1«. In der ganzen Küstenzone vom Norden Schottlands bis über Southampton hinaus wurden 3000 Personen interniert. Presse und Öffentlichkeit hielten diese erste Maßnahme jedoch nicht für aus­ reichend. Die Briefkästen der Ministerien waren »voll von Briefen, die uns dräng­ ten, weiterzugehen12

«. Churchill, der sich der antideutschen Unruhen von 1915

erinnerte, fürchtete, daß im Falle einer Krise die Flüchtlinge Opfer des Volks­ zornes werden könnten. »Sollten Fallschirmlandungen versucht werden und im Anschluß daran heftige Kämpfe entstehen, so würden diese unglücklichen Men­ schen in ihrem eigenen wie in unserem Interesse viel besser vorher aus dem Wege geräumt sein«, erklärte er in den ersten Junitagen3. Das Kabinett beschloß, den bereits eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Am 16. Mai wurden im ganzen Lande die Männer der Kategorie B verhaftet. In London wurden für diesen Zweck alle verfügbaren Polizeikräfte mobilisiert. Die Männer, die aus ihren Häusern abgeholt worden waren, verließen die Polizei­ wachen unter Geleit. »Das Land vom Dolchstoß der Fünften Kolonne errettet«, jubelte der »Daily Herald«4. »Daily Mail« und »News Chronicle« bestanden dar­ auf, daß auch die Frauen der Kategorie B interniert würden. Die Regierung er­ griff diese Maßnahme Ende Mai. Ungefähr 3500 Frauen wurden mit ihren Kin­ dern auf die Insel Man gebracht, darunter etwa 1000 aus London. »Von den älteren Frauen waren viele in Tränen5.« Unterwegs kam es zu »einigen irregelei­ teten Steinwürfen durch Angehörige des Publikums6«. In den ersten Junitagen folgten die Sechzig- bis Siebzigjährigen aus der Kategorie B. Viele Leute waren noch nicht zufrieden. Die große Mehrheit der Flüchtlinge, die der Kategorie C angehörte, befand sich immer noch in Freiheit. Am 12. Juni erhob Lord Marchwood im Oberhaus den alten Ruf: »Alle internieren7!« Eine gute Woche später, am 21. Juni, drei Tage nach der französischen Kapitulation, wurde beschlossen, die ganze Kategorie C zu internieren, und zwar, wie Sir John Anderson im August mitteilte, »nach eingehender und ernstester Prüfung8«. Innerhalb weniger Wochen wurde die ganze Gruppe »still vereinnahmt9.« Einige 1

New York Times, 13. 5. 1940.

2

Sir John Anderson a.a.O., col. 1544.

3

Winston Churchill am 4. 6. 1940. 361 H. C. Deb. 5s, 794.

4

Daily Herald, 17. 5. 1940.

5

The Times, 28. 5. 1940.

6

News Chronicle, 31. 5. 1940.

7

England: House of Lords, Debates, 5th series, Vol. 116, col. 548. Künftig verkürzt zitiert, also: 116 H. L. Deb. 5s, 548. 8

364 H. C. Deb. 5s, 1545.

9

Manchester Guardian, 3. 7. 1940.

105

Flüchtlinge begingen Selbstmord. Weitaus die meisten jedoch fanden sich mit ihrem Schicksal ab und verbrachten, von der übrigen Welt abgeschnitten, schwie­ rige Monate in Lagern, wo — zumal in der ersten Zeit — die Verhältnisse viel zu wünschen übrig ließen. Beinahe 8000 von ihnen wurden nach Kanada und Austra­ lien gebracht; einer der Transporter, die »Arandora Star«, wurde Anfang Juni torpediert und ging unter. Eine Anzahl deutscher internierter Pfarrer traf an Bord der »Ettrick« in Kanada ein; bei ihrer Ankunft »nahm man an, sie seien Fallschirmjäger der Nazi, die in dieser Verkleidung über Rotterdam abgeworfen wurden, als jene Stadt durch einen furchtbaren Angriff nahezu vernichtet wurde. Sie wurden dementsprechend behandelt und wurden wie auch andere mit höh­ nischen Zurufen >Wie geht’s Hitler?< und Bemerkungen, die noch sehr viel weiter­ gingen, begrüßt1.« Nicht nur in England wurden in den beiden aufgeregten Monaten Mai und Juni 1940 Maßnahmen gegen die Fünfte Kolonne ergriffen. Fast die ganze Welt be­ trachtete den Zusammenbruch Hollands, Belgiens und Frankreichs mit Furcht und Schrecken. Das Echo der Meldungen in Presse und Rundfunk drang bis in die fernsten Winkel der Erde und berichtete von dem umfangreichen Verrat, den Reichsdeutsche gemeinsam mit den Faschisten begingen. Überall rüsteten sich die Menschen gegen den inneren Feind. In Schweden wurde die Bevölkerung aufgefordert, ihre Wachsamkeit zu ver­ doppeln. Eine fünftausend Mann starke Bürgergarde wurde gebildet. In der Schweiz, wo 70.000 Reichsdeutsche lebten, hielt man am Abend des 14. Mai eine deutsche Offensive für unmittelbar bevorstehend. Es wurde eine Bürgerwehr geschaffen, die Saboteure und Fallschirmjäger bekämpfen sollte. Gegen Ende Mai wurde die ganze Bevölkerung dringend ermahnt, nach ver­ dächtig aussehenden Personen Ausschau zu halten, die sich in der Nähe von Brücken, Eisenbahnkreuzungen oder Kraftwerken aufhielten. Wer falsche Ge­ rüchte ausstreute, wurde verhaftet. Die rumänische Regierung schob eine Anzahl von Deutschen über die Grenze ab. In Jugoslawien war die Spannung am größten in den Landesteilen, wo die deutschen Minderheiten lebten. In einem Flugblatt, das durch die Post verbreitet wurde und wiedergab, »was alle Jugoslawen denken«, war zu lesen: »Jeder Deutsche hier, was auch sein Beruf sein mag, beschäftigt sich bis zu einem gewissen Grade mit Spionage. Jeder Deutsche im militärpflichtigen Alter kann als Mitglied der Fünften Kolonne gelten2.« Auch in der Türkei wurde die Öffentlichkeit vor den Deutschen gewarnt. So schrieb die Zeitung »Yenisabah«: »Die älteren Deutschen sind Spitzel, die jünge­ ren gehören der Fünften Kolonne an3.« 1

Alan Moorehead: The Traitors. London 1952. S. 77.

2

The Times, 16. 5. 1940.

3

Zitiert in: Le Temps, 19. 5. 1940.

106

Auf der Insel Zypern bereitete man die Internierung der Fünften Kolonne vor, Die Benutzung von Rundfunkgeräten und fotografischen Apparaten wurde unter Aufsicht gestellt. In Ägypten verfügte der Militärgouverneur in Kairo am 20. Mai, daß alle Bewohner der Stadt sofort ihre Waffen abzuliefern hätten. Für den Fall, daß Fallschirmjäger landen sollten, wurden Vorkehrungen getroffen. In Südafrika waren im Herbst 1939 etwa 150 deutsche Nazi interniert worden, und weit über hundert andere im Mandatsgebiet von Südwestafrika. Im Mai 1940 wurden mehrere hundert andere interniert, darunter einige jüdische Emigranten. Auch Faschisten wurden eingesperrt. »Südafrika macht sich die Erfahrungen in Norwegen und Holland zunutze und hat nicht die Absicht, sich von Quislingen meuchlings ermorden zu lassen«, erklärte der Innenminister1. Auch in anderen Teilen Afrikas wurden Deutsche interniert. Im Juni wies Australien alle Ausländer an, Waffen und Munition in ihrem Besitz abzuliefern. Viele von ihnen, »größtenteils Deutsche«, wurden interniert, nachdem die Bundesbehörden zu der Überzeugung gelangt waren, »daß es nötig sei, gegen das Treiben der Fünften Kolonne äußerste Vorkehrungen zu treffen2«. In Niederländisch-Indien wurden am 10. Mai, als das Mutterland angegriffen wurde, mehrere tausend männliche Deutsche und Mitglieder der holländischen Nazipartei in Internierungslager gebracht. Vielen der Verhafteten wurde übel mitgespielt, und das Publikum demonstrierte gegen die Angehörigen der Fünften Kolonne, die eingesperrt wurden. Die Frauen wurden später interniert. Alle diese Maßnahmen erfolgten unter dem Eindruck der Berichte aus Europa. Daß diese wahr waren, schien über jeden Zweifel erhaben. Minister und Bot­ schafter, erfahrene Geschäftsleute und Journalisten hatten ihr Wort dafür ver­ pfändet, und das, was sie gesagt oder geschrieben hatten, beruhte nicht etwa auf Hörensagen, sondern sie waren ja Augenzeugen gewesen. Hitler, dieser Erz­ lügner, hatte »das Gerede von der Fünften Kolonne dumm und phantastisch« genannt, als er dem amerikanischen Journalisten Karl von Wiegand ein Inter­ view gab, und hatte behauptet, »daß die ganze Geschichte das Phantasieprodukt von Propagandisten war3«. Hierin aber sah man nur einen weiteren Beweis für die Wirklichkeit einer Verschwörung, deren Verzweigungen augenscheinlich ganzen Erdball umfaßten, einschließlich der amerikanischen Hemisphäre.

1

The Times, 1. 6. 1940.

2

Ebenda, 6. 6. 1940.

3

Ebenda, 17. 6. 1940.

den

107

VI

ALARM IN AMERIKA

Genau wie die britische Nation sah auch das amerikanische Volk in den Wo­ chen, die auf den 10. Mai 1940 folgten, viele seiner Illusionen in Rauch aufgehen. Wo holländische, belgische, britische und französische Truppen von der Nord­ see bis ans Mittelmeer Wache gehalten hatten, gähnte fünf Wochen später ein riesiges Nichts. Die Menschen wollten sich die Augen reiben und konnten die Schicksalswende kaum begreifen. Das »große Erwachen1« war zu plötzlich und zu schmerzhaft. Was war den Armeen der Alliierten widerfahren? Welche ge­ heimnisvollen Mächte hatten die Widerstandskraft so vieler altgegründeter Staaten unterminiert und vier von ihnen — die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich — in ebenso vielen Wochen zusammenbrechen lassen, während England als fünfter am Rand des Abgrundes zu wanken schien? Genau wie im Falle Dänemarks und Norwegens nahm man an, daß bei der deutschen Offensive in Westeuropa die Fünfte Kolonne einen hervorragenden, wenn nicht den hauptsächlichen Anteil gehabt hatte. Nur auf diese Weise schien der Zusammenbruch Westeuropas mit der Vernunft erklärlich zu sein. Auch Präsident Roosevelt sprach in seiner Sonderbotschaft an den Kongreß am 16. Mai von »der verräterischen Verwendung der Fünften Kolonne, wobei Personen, die als friedliche Bürger galten, in Wahrheit Bestandteil einer feindlichen Besatzungs­ streitmacht waren«. Zehn Tage später, am 26. Mai, wies er alle Amerikaner, die seinem Kamingespräch zuhörten, darauf hin, daß Amerikas Sicherheit nicht nur durch militärische Waffen bedroht werde: »Wir kennen neue Angriffsmethoden: das Trojanische Pferd, die Fünfte Kolonne, die eine Nation verrät, welche auf Verrat nicht vorbereitet ist. Spione, Saboteure und Verräter sind die Schauspieler in dieser neuen Tragödie.« Bezeichnend für alle diese Gedanken war es, daß Otto D.Tolischus in der Artikel­ serie, die er von Stockholm aus für das »New York Times Magazine« unter dem Titel »Wie Hitler sich bereit machte« schrieb, den ersten Aufsatz der Fünften Kolonne widmete. Nachdem er zunächst die Methode der Fünften Kolonne dar­ gestellt hat, schilderte er das, was die Fünfte Kolonne in Polen, in den skandi­ 1

Langer and Gleason: The Challenge to Isolation 1937—1940. S. 435.

108

navischen Ländern und in Westeuropa getan hatte. Zum Schluß schrieb er: »Ihre Tätigkeit und vor allen Dingen der von ihr ausgehende und nicht abreißende Strom von Nachrichten ist weitgehend für die >nachtwandlerische Sicherheit< und tödliche Genauigkeit verantwortlich, mit der Hitler bisher die Lage in jedem Lande beurteilen konnte, wie auch für den erstaunlichen Vormarsch deutscher Armeen, manchmal in kleinen, selbständig operierenden Abteilungen, der allen Gesetzen militärischer Taktik zuwiderläuft1«. Vor allem diese neuen Methoden der Aggression waren es, durch die sich das amerikanische Volk bedroht fühlte. Gegen einen klassischen Angriff war eine klassische Verteidigung möglich, aber welche Abwehrmethode eignete sich gegen­ über dieser revolutionären Offensive, die ebenso unheimlich wie ungreifbar war? Hitlers Phantasie schien unerschöpflich, sein Ehrgeiz grenzenlos zu sein. Welche unangenehmen Überraschungen hatte er sich für Amerika aufgespart? John T. Flynn schrieb am 27. Mai in der »New Republic«: »Unser Zustand der Wehrlosig­ keit hat plötzlich zu einer Panik Anlaß gegeben, als ob jemand im Begriff stände, bei uns einzufallen.« Fiorello La Guardia, Bürgermeister von New York, wurde die Äußerung zugeschrieben, daß Amerika nicht einmal imstande sein würde, auch nur Coney Island zu verteidigen12 . Nervöses Mißtrauen überflutete das Land. Viele Leute trauten nicht mehr ihren Nachbarn. Die Bundespolizei, die im ganzen Jahr 1939 1600 Anzeigen wegen Spionage hatte untersuchen müssen, erhielt plötzlich »an einem einzigen Tage im Mai3« fast 2900. Die Fünfte Kolonne war »ein Ausdruck in jedermanns Munde« geworden4. Das »New York World Telegram« widmete ihr eine Artikelserie, worin das ganze Thema des Faschismus in Amerika voll beleuchtet wurde. Außer Mißtrauen und Sorge empfand man auch das Bedürfnis nach aktivem Widerstand. In einem Städtchen in Pennsylvanien »rüstete sich ein Schützen­ verein, um jeden Nazi-Fallschirmjäger, der vom Himmel käme, abzuschießen5«. Die gesetzgebende Versammlung jenes Staates erörterte die Einführung von Luft­ schutzmaßnahmen

für

die

Industrie.

In

Bloomington

wurde

eine

patriotische

»Amerikanische Kolonne« gegründet, in Albany eine »Erste Kolonne«. Bürger­ meister Frank Hague von Jersey City drohte, »er werde alle unamerikanischen Verschwörungen und Verschwörer ausrotten«. In den Staaten New York und Massachusetts wurden die Zeughäuser der Nationalgarde Tag und Nacht bewacht. Von New York aus rief die »National Legion of American Mothers« ihre zwei Millionen Mitglieder auf, sich mit Gewehren auszurüsten: »Feindliche Fallschirm­ jäger in Amerika werden den Tag bedauern, an dem sie den ersten Atemzug getan 1

Vgl. Anm. 1.

2

New York Times, 14. 5. 1940.

3

Shepardson and Scroggs: The United States in World Affairs 1940. New York 1941. S. 327.

4

New York World Telegram, 6. 6. 1940.

5

Time, New York, 27. 5. 1940.

109

haben1«. In Buffalo wurden 7000 Angehörige der Nationalgarde mobilgemacht, »um verräterisches Treiben an der Niagara-Grenze zu verhindern2«. Die Vereinigten Staaten hatten ihren unerschütterlichen Glauben an ihre unbe­ dingte Sicherheit verloren. Das Schloß Prosperität schien auf Sand gebaut zu sein. Immer noch war aber trotz allem das Verlangen, aus dem Krieg herauszubleiben, stark. Nach dem Sturz Frankreichs hielten zwei Drittel es für sicher, daß Amerika früher oder später in den Kampf hineingezogen werden würde, und ein ebenso großer Prozentsatz war überzeugt, daß Hitler versuchen würde, einen Teil der Neuen Welt zu erobern, aber nur ein Siebentel der Bevölkerung war dafür, daß sie selbst die Initiative ergreifen und Deutschland und Italien den Krieg erklären soll­ ten. Die Verwirrung und ein Unvermögen, sich für eine klare Stellungnahme zu ent­ scheiden, bildeten zusammen einen fruchtbaren Boden für Gerüchte über geheim­ nisvolle Waffen, die gegen England eingesetzt werden sollten. Es gab auch Witze, die im Grunde das Vorzeichen eines beginnenden Glaubens waren, zunächst jedoch ihrem Inhalt nach nur eine Mischung aus Selbstironie und Selbstmitleid darstellten. »Der neueste Witz aus Wallstreet berichtete, Hitler habe bei General Motors 10.000 Panzer bestellt und auf die Frage, wohin sie geliefert werden sollten, ge­ antwortet : >Keine Sorge! Wir werden sie unterwegs in Detroit abholen3La Prensa< und >La VanguardiaSchwäbisch-deutschen-KulturbundTurn- und Sportvereine< wurden halbmilitärische Hitler-Organisationen geschaffen. Aus dem Reich kamen zahl­ lose >Touristen, Handlungsreisende und VerwandteHeil Hitler!< Die volksdeutschen Zivifisten griffen die zurückweichenden jugoslawischen Truppen im Rücken an, entwaffneten kleinere Einheiten, eroberten sich Waffen, bewachten Brücken und andere wichtige Punkte und stellten sich bei erster bester Gelegenheit den deutschen Befehlshabern zur Verfügung. Außerdem übernahmen sie gemäß einem vorher aufgestellten Plan, wo immer sie konnten, die Macht von den Jugoslawen12 .« Der Feldzug dauerte nicht lange. Eine Woche nach Beginn des Feldzuges zogen die Deutschen in das immer noch rauchende Belgrad ein. Nach weiteren vier Tagen hatte der organisierte Widerstand der Jugoslawen aufgehört. Zehn Wochen später, am Sonntag, den 22. Juni 1941, schrillten wieder die Si­ gnale zum Angriff. Von der Ostsee bis ans Schwarze Meer begannen die Deut­ schen ihren Vormarsch ins Herz der Sowjetunion und in ihren eigenen Untergang. Bei unserem Rückblick auf die Entwicklung in den Jahren 1933 bis 1939 haben wir in der Einleitung zum ersten Teil festgestellt, daß die Furcht vor der deut­ schen Fünften Kolonne in hohem Maße eine internationale Erscheinung war. In den bisher behandelten Gegenden — Deutschlands europäische Nachbarländer, Nord-, West- und Südeuropa, die Kolonien dieser Länder, das britische Com­ monwealth, sowie Nord- und Südamerika — konnten wir die freie Presse und den Rundfunk als ein zusammenhängendes Ganzes behandeln. Verdächtiges Treiben in einem Land wurde alsbald in allen anderen gemeldet. Wie wir aber schon frü­ her bemerkten, nahm die Sowjetunion eine Sonderstellung ein: Dort hielten sich Presse und Rundfunk streng an die Weisungen des Kreml, und inwieweit diese ein Spiegel der öffentlichen Meinung waren, dürfte schwer zu sagen sein. 1 Yugoslav War Crimes Commission, Report to the International Military Tribunal, Nürn­ berg 26. 12. 1945. USSR-036, IMT XXXIX, S. 273/4. 2

Anhang zu dem eben zitierten Bericht. NG-4630, S. 16.

126

In einer Demokratie ist das Verhältnis zwischen öffentlicher Meinung und publizistischen Organen sehr kompliziert. Bestimmt glauben nicht alle Leser alles, was ihnen Presse oder Rundfunk erzählen. Umgekehrt darf man bezweifeln, ob die tiefsten Wünsche und Befürchtungen der Menschen jemals angemessenen Ausdruck in dem finden, was in einer Zeitung erscheint oder über den Rund­ funk gesprochen wird. Trotzdem stehen in jeder Gesellschaft, die durch relative Gedankenfreiheit bestimmt wird, öffentliche Meinung und veröffentlichte Nach­ richten und Kommentare in einer gesunden Wechselbeziehung. In

einer

totalitären

Gesellschaft

hingegen,

in

welcher

systematisch

versucht

wird, dem Publikum gewisse Ansichten einzuflößen, werden mindestens diejenigen Menschen, die sich des Druckes, unter welchem sie leben, irgendwie bewußt sind, die Berichte und Ansichten, die von den Organen von Staat und Partei ausgegeben werden, ständig anzweifeln oder sogar grundsätzlich für falsch halten. Die tödliche Gleichförmigkeit solcher Publikationen ruft Skeptizismus hervor. Eine andere Quelle des Mißtrauens ist die Plötzlichkeit, mit der die von den Machthabern ver­ folgte Linie verändert wird; einem solchen Richtungswechsel gehorchen Presse und Rundfunk in hohem Maße. Wie verbreitet jedoch das Mißtrauen gegenüber amt­ lichen Nachrichten ist und zu welchen wirklichen Meinungen es führen mag, läßt sich in einem totalitären Staat nicht ermessen, ja überhaupt kaum feststellen. Es wäre nicht überraschend gewesen, wenn die Russen, als Hitler zur Macht kam, Deutschland gefürchtet hätten. Der Eindringling kam traditionsgemäß aus dem Westen nach Rußland, und die Deutschen hatten sich im ersten Welt­ krieg in den von ihnen besetzten Teilen Rußlands als harte Gebieter gezeigt. Der Friede von Brest-Litowsk war von einem Sieger mit steinernem Herzen dik­ tiert worden. In den zwanziger Jahren hingegen hatte die Sowjetunion, die ins­ geheim mit der Weimarer Republik zusammenarbeitete, weniger Deutschland als Großbritannien als Beispiel für den Imperialismus hingestellt, der angeblich die letzte Phase des Kapitalismus war, und hatte England als den Hauptgegner des Sozialismus und des sowjetischen Staates geschildert. Kurz nach Hitlers Machtergreifung wurde eine neue »Linie« entworfen und alsbald dem russischen Volk beigebracht. Mehr und mehr wurden Deutschland und Japan als die Erzfeinde der UdSSR dargestellt. Alles trug dazu bei: die Reden angesehener Führer, Zeitungsartikel und Filme wie »Alexander Newski« (der die Vernichtung

einer

deutschen

Invasionsarmee

im

13.

Jahrhundert

schilderte).

Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die Prozesse während der Säuberung von 1936—1938 die gleiche Aufgabe erfüllten, wenn wir feststellen, daß alle Gegner Stalins mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammengearbeitet und dabei keine Schandtat und keine Verworfenheit zu abgründig gefunden haben sollten. Es wurde behauptet und galt als erwiesen, daß Sinowiew und Kamenew — die zusammen mit 14 andern Angeklagten im August 1936 vor der Militärkammer des Obersten Gerichtshofes standen — nach der Ermordung von Serge Kirow (1. De­ zember 1934) die Ermordung Stalins, Woroschilows, Kaganowitschs, Schda­

127

nows und anderer führender Funktionäre vorbereitet hatten. Eines der Mitglieder der »Terrorgruppe« sollte zusammen mit einer Gruppe deutscher Maßnahmen für die Ermordung Stalins getroffen haben.

Trotzkisten

Fünf Monate später, im Januar 1937, kam der Prozeß einer zweiten Gruppe von »Trotzkisten«, darunter der bekannte Journalist Karl Radek. Dieser ge­ stand, daß er und seine Mitangeklagten die Absicht gehabt hätten, die Ukraine an Deutschland abzutreten. Pjatakow, ein anderer Angeklagter, gab zu, daß die Trotzkisten bereit gewesen seien, deutschen Firmen wichtige Zugeständnisse zu ma­ chen, und daß sie im Kriegsfalle als Saboteure gearbeitet haben würden; dies sollte nach Plänen geschehen, die auf einer Konferenz zwischen Trotzki und »dem Stell­ vertreter Hitlers, Heß, endgültig ausgearbeitet und angenommen« worden waren1. Abermals fünf Monate später wurde im Juni 1937 bekanntgegeben, daß Mar­ schall Tuchatschewki, der Generalstabschef der Roten Armee, nach einem ge­ heimen Prozeß mit vier anderen hohen Offizieren hingerichtet worden war. Sie hatten zugunsten einer ausländischen Macht Spionage und Verrat getrieben. Abermals Deutschland? Der letzte große Prozeß fand im März 1938 in derselben Woche statt, die den An­ schluß Österreichs brachte. Auf der Anklagebank eines Militärgerichts saßen alte Bolschewisten wie Bucharin, Rykow und Krestinsky neben dem Chef der Geheim­ polizei Jagoda. Auch sie gestanden unter anderem, die Abtretung der Ukraine und Weißrußlands vorbereitet zu haben. Krestinsky erklärte, er habe seit 1921 als Agent der deutschen Geheimpolizei gearbeitet. Der Angeklagte Rosengoltz hatte 1923 mit der Spionage für Deutschland begonnen, der Angeklagte Grinkow 1932. Ein vierter Angeklagter namens Bessonow hatte »mit dem nächsten Mitarbeiter Rosenbergs in der Außenpolitischen Abteilung der Faschistischen Partei12 « verhan­ delt. Der Angeklagte Tschernow, der nach eigener Darstellung seit 1928 deutscher Spion war, hatte von Paul Scheffer, dem Moskauer Korrespondenten des »Berliner Tageblatts«, und von anderen Aufträge zur Sabotage bekommen. In seiner Eigen­ schaft als Volkskommissar in der Landwirtschaft hatte er diese Aufträge dadurch ausgeführt, daß er den Bau von Silos verlangsamte, Heereslieferungen mit Hilfe von »Parasiten und Milben« verdarb, Mißerfolge bei der Pferdezucht herbeiführte und die Schweine im Bezirk Leningrad »künstlich« mit Rotlauf und im Bezirk von Woronesch und dem Schwarzen Meer mit der Schweinepest infizierte3. 1 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, ver­ handelt vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR vom 23.—30.1.1937, gegen J. L. Pjatakow, K. B. Radek, G. J. Sokolnikow, L. P. Serebrjakow (und 13 andere). Moskau 1937. S. 8. 2 Prozeßbericht über die Strafsache des anti-sowjetischen »Blocks der Rechten und Trotzki­ sten«, verhandelt vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR vom 2.—13. 3. 1938, gegen N. I. Bucharin, A. I. Rykow, G. G. Jagoda, N. N. Krestinski (und 17 andere). Moskau 1938. S. 10. 3

Ebenda, S. 111/3.

128

Haben alle diese schrecklichen Einzelheiten auf die Massen des russischen Volkes Eindruck gemacht? Wir wissen es nicht. Sollte das jedoch der Fall sein, so müssen diese Massen durch den Pakt in Verwirrung gestürzt worden sein, den Stalin im August 1939 mit den Anstiftern all dieser Schandtaten abschloß und durch das Entgegenkommen, welches die Herren im Kreml während der näch­ sten anderthalb Jahre gegenüber dem Dritten Reich zeigten — eine Haltung, welche erst 1941 durch einige Warnungen an das russische Volk, die in die üblichen Redensarten gekleidet waren, abgeschwächt wurde. Für kein anderes Volk kam wohl der deutsche Angriff so unerwartet wie für die Bewohner der Sowjetunion. Die russischen Grenztruppen waren völlig ahnungs­ los, als sich die Deutschen in der Morgendämmerung des 22. Juni auf sie stürzten. Die taktische Überraschung war vollständig. Die russischen Armeen in den Grenzprovinzen wurden umzingelt, angegriffen und in völliger Verwirrung ver­ nichtet. Offiziere und Mannschaften kämpften manchmal zäh, bis ihre Munition erschöpft war, aber auf Wochen hinaus gab es nichts, was man eine vorbereitete Gegenoperation hätte nennen können. Man fürchtete deutsche Fallschirmjäger. Man glaubte, daß hinter der Front verdächtige Lichtsignale gegeben würden. Häufig wurde erzählt, daß Deutsche oder deutsche Agenten, die russische Uni­ formen trugen oder als Bauern oder gar als Frauen verkleidet waren, Dutzende von

Kilometern

vor

den

vorrückenden

deutschen

Truppen

operierten,

russi­

sche Verbindungslinien abschnitten, taktisch wichtige Punkte besetzten und mit dem Feind in Funkverbindung ständen. Selbst in Moskau, das durch mehrere Verteidigungsgürtel geschützt war, fürchteten die Menschen sich bald vor Fallschirmjägern. Vierzehn Tage nach Beginn des Angriffs hörte Alexander Werth, damals als Korrespondent der »Sunday Times« und des britischen Rundfunks in Moskau, von den Schwierig­ keiten, auf die drei britische Unteroffiziere gestoßen waren, als sie in einem offenen Lastwagen vom Flughafen in die russische Hauptstadt fahren wollten, wo sie als Berater wirken sollten. »An einer Straßenecke wurden sie von Poli­ zisten angehalten. Verwundert über die unbekannten britischen Uniformen, sammelte sich eine Menge um sie an, die, als einer >Fallschirmjäger< rief, wütend zu schreien begann. Die drei Unteroffiziere wurden auf eine Polizeiwache gebracht. Schließlich mußte ihnen jemand von der Botschaft zu Hilfe kommen1.« Werth selbst wurde einen Tag später verhaftet, weil ihn jemand in einer fremden Sprache reden gehört hatte. Als er am Abend des 12. Juli — die Deutschen waren damals noch fünfhundert Kilometer vor Moskau — spazierenging, wurde er »alle paar Minuten« nach seinen Papieren gefragt2. 11 Es ist kaum verwunderlich, daß der gewaltige Rückzug der russischen Armeen von den Landesgrenzen bis vor die Tore von Moskau, Leningrad und Rostow, 1

Alexander Werth: Moscow 41. London 1942. S. 30.

2

Ebenda, S. 56.

129

der fünf Monate dauerte und mit blutigen Verlusten verbunden war, ein Gefühl der Unsicherheit, Nervosität und stellenweise auch Panik auslöste, die durch Gerüchte über die Macht des Feindes, seine Überlegenheit und mancherlei Listen noch vermehrt wurden. Moskau erlebte solche Panik Mitte Oktober, als die Menschen jeden Augenblick mit dem Einzug der Deutschen rechneten. Ein russischer Offizier, der sich in jener wirren Zeit in der Hauptstadt aufhielt, war davon überzeugt, daß der Wirrwarr von »deutschen Agenten, die sich unters Volk mischten«, angestiftet werde1. Die Fünfte Kolonne! Zur Zeit von Hitlers Angriffen lebten im europäischen Rußland noch mehrere hunderttausend Menschen deutscher Herkunft, teilweise in geschlossenen Sied­ lungen, die viele Generationen hindurch die deutsche Sprache beibehalten hatten und daher Volksdeutsche genannt werden dürfen. Ihre Vorfahren waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Einladung der Romanows eingewandert, die ihnen Grundbesitz und Privile­ gien angeboten hatten. Sie siedelten sich in Wolhynien, in der Ukraine, im Schwarz­ meergebiet, am Kaukasus und an der untern Wolga an. Viele von ihnen wurden reiche Bauern, andere lebten in freien Berufen oder als Kaufleute in den russischen Städten. Wieder eine andere Gruppe hatte seit vielen Generationen in den balti­ schen Provinzen ihre Heimat gefunden. Von 1933 an hatte die russische Regierung strenge Sicherungsmaßnahmen gegen viele Volksdeutsche in den ländlichen Ge­ bieten eingeführt; in den Städten gab es nur noch wenige. Man traute ihnen nicht, und Stalin war nicht der Mann, der ein vermeidbares Risiko einging. Kurz nach 1933 wurden die Missionare der deutschen evangelischen Kirche aus Rußland ausgewiesen. Es wurde behauptet, daß ihre religiösen Schriften Nazipropaganda enthielten und daß die Schauspieler von Wanderbühnen, die im Wolgagebiet Aufführungen für die Volksdeutschen veranstalteten, in Wirklichkeit Spione seien. Zunächst ließ Stalin die Einwohner der dortigen Sowjetrepublik noch in Ruhe. Aus dem kaukasischen Gebiet wurden jedoch schon Menschen deportiert, und aus den westlichen Teilen der Sowjetunion wurden in den Jahren 1935—1938 sehr viele Volksdeutsche nach Nordrußland und nach Sibirien umgesiedelt. Die deut­ schen Siedlungen, die weniger als hundert Kilometer von der Westgrenze der Sowjetunion entfernt lagen, wurden praktisch entvölkert. Einem deutschen Be­ richt zufolge12 flohen viele Volksdeutsche in die Städte der Ukraine und hielten sich dort verborgen. In den Jahren 1937 und 1938 wurden viele Männer im wehr­ 1 Michel Koriakoff: Moscou ne croit pas aux larmes. Paris 1951. S. 105. — Über die Geistes­ verfassung der Russen während dieser furchtbaren ersten sechs Kriegsmonate sind bisher fast überhaupt keine Informationen veröffentlicht worden. Eines der wenigen vorhandenen Bücher ist Theodor Pliviers Roman »Moskau«. Plivier lebte damals in der Sowjetunion. Stalin und seine Nachfolger hatten es nicht besonders eilig mit der Veröffentlichung von Studien über eine Periode, in der so viele Fehler begangen worden sind. 2

C. von Kügelgen: Von den deutschen Kolonisten in Wolhynien und in der Ukraine west­ lich des Dnjepr. In: Deutsche Post aus dem Osten, XIII, 12. Berlin Dez. 1941. S. 2—6.

130

pflichtigen Alter aus den Siedlungen in der Ukraine und am Schwarzen Meer ost­ wärts verschickt. Im Herbst 1939 und im Sommer 1940 willigte Moskau ein, daß die Volksdeutschen, die noch in den baltischen Staaten und Wolhynien geblieben waren, in den von Deutschland besetzten Teil Polens auswanderten. Die Volksdeutschen in andern Teilen des Landes hatten es nach Ausbruch der Feindseligkeiten im Sommer 1941 sehr schwer. In der Ukraine wurde verfügt, daß alle männlichen Volksdeutschen im Alter von 16 bis 60 Jahren ostwärts verschickt würden. Westlich des Dnjepr gelang es vielen, sich verborgen zu halten oder während des Transports zu entfliehen; östlich des Flusses war die Zwangsver­ schickung üblicher. Dasselbe gilt von den deutschen Siedlungen auf und bei der Krim und weiter ostwärts an der Küste des Schwarzen Meeres. Auch aus dem Gebiet nördlich des Kaukasus wurden Menschen deportiert. Im ganzen fanden die deutschen Truppen in diesen Gebieten von den ursprünglich 600.000 Volks­ deutschen nur etwa noch 250.000 vor1. Die übrigen waren verschwunden. Auf der Krim war »nicht ein einziger Deutscher mehr12 «. Vierzehn Tage nach Beginn der deutschen Invasion hatte die Sicherheitspolizei die öffentlichen Gebäude in der Wolgarepublik besetzt. Die Bevölkerung durfte ihre Dörfer nicht verlassen. Alle Verbindungen zwischen den einzelnen Dörfern wurden

abgeschnitten

und

alle

Beamte

der

Republik

verhaftet.

Als

nächstes

wurde die volksdeutsche Bevölkerung benachrichtigt, daß sie sich zum Verlassen des Landes zu rüsten habe. Vieh, Getreide und landwirtschaftliche Maschinen mußte sie abliefern. Eine immer wachsende Unordnung breitete sich aus: die Deutschen kamen! Als in den ersten Augusttagen russische Kommissionen ein­ trafen, um sich um die noch lebenden, aber vernachlässigten Viehbestände zu kümmern, deutete vieles darauf hin, daß die Volksdeutschen plötzlich hatten ab­ reisen müssen. In manchen Bauernhäusern standen Schüsseln mit verschimmelter Suppe noch auf dem Tisch. Ein großer Teil der Ernte verfaulte auf den Feldern. Pferde und Schweine waren verschwunden, das Vieh brüllte auf den Wiesen. Die Volksdeutschen, die sechs Generationen hindurch an der unteren Wolga gelebt hatten, waren unterwegs nach Sibirien. Alexander Werth vermutete, daß es dabei »recht rauh zuging3«. Maurice Edelman sah den Transport: »Ein trauriger Flüchtlingszug drängte sich auf den Straßen nach den Bahnstationen an der mitt­ leren Wolga. 400.000 waren es, mit Bettzeug beladen, Haustiere hinter sich her­ ziehend, die Frauen in Tränen und alle mit dem bitteren Ausdruck derer, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind4.« 1

J. B. Schechtman: European Population Transfers. New York 1946. S. 208. Kolarz nimmt an, daß von den 1941 noch vorhandenen 480.000 Volksdeutschen »wahrscheinlich etwa 200.000 deportiert wurden«. (Walter Kolarz: Russia and her Colonies. London 1952. S. 75.) 2 Aussage A. E. Frauenfeldt, Greifelt-24. Prozeß gegen die maßgeblichen Führer des Rasseund Siedlungshauptamtes (Case VIII). 3

Werth: Moscow 41. S. 173.

4

Zitiert in: Schechtman a. a. O., S. 385.

131

Wir wissen nicht, wie diese Menschen, unter denen sich dem Kreml zufolge »Tausende und Abertausende von Saboteuren und Spionen befanden«, in einem Lande behandelt wurden, das in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt war. Wir wissen nicht, wie sie den Ural überquert haben, im Gegenstrom zu den nach Westen eilenden Militärtransporten, und wie sie zu Anfang eines früh ein­ setzenden Winters in ungastlichen Gebieten untergebracht wurden. Wie diese 400.000 Männer, Frauen und Kinder oder doch die Überbleibsel davon in jenen Jahren der Unterdrückung und Entbehrung sich ein neues Leben aufgebaut haben oder

vielleicht,

vergessen

und

vernachlässigt,

allmählich

untergegangen

sind,

wissen wir nicht. Es heißt von einer Gruppe zwangsverschickter Volksdeutscher, daß sie für eine Eisenbahnstrecke, die gewöhnlich einen Tag beanspruchte, zwei volle Wochen benötigte, und daß schließlich einige Reisende in den überfüllten Güter­ wagen vor Durst umgekommen seien. Ein zweiter Bericht meldet sechs Monate später, daß ein Teil der Volksdeutschen in das Altai-Gebiet gebracht und dort unter die Kollektivwirtschaften aufgeteilt worden sei, wo sie viel Hilfe gefunden hätten1. Einem dritten Bericht zufolge waren viele Familien zerrissen worden12

.

1954 traf Harrison E. Salisbury, Moskauer Korrespondent der »New York Times«, zufällig auf die Überbleibsel einer Gruppe von 20.000 Wolgadeutschen, die in Zentralasien an der afghanischen Grenze entlang angesiedelt worden waren, wo »Tausende an Krankheit und Entbehrungen zugrunde gingen3«. Im übrigen besitzen wir weder Worte noch Zeichen. Alexander Werth, der den heroischen Kampf des russischen Volkes mit tiefem Mitgefühl verfolgte, konnte kein Wort des Mitleids mit dem Schicksal dieser Wolgadeutschen finden. Seine Ansicht, die in dem größten Teil der westlichen Welt Zustimmung fand, ging dahin, daß diese Zwangsverschickungen anzusehen seien als »eine realistische Behand­ lung des Problems einer deutschen Minderheit; es ist ein Problem, dessen Natur im Sudetenland und anderswo nur allzu deutlich dargelegt worden ist4«. So kam es — und es war kaum überraschend, sondern begreiflich —, daß die schärfsten Maß­ nahmen, die jemals während des zweiten Weltkrieges gegen eine vermeintliche Gruppe der deutschen Fünften Kolonne getroffen wurden, alsbald mit dem Verrat des Sudetendeutschen Konrad Henlein in Verbindung gebracht wurden. In den Augen der Leute hatte die ganze Geschichte ja 1933 angefangen, als Hitler Kanzler des Reiches wurde, das tausend Jahre dauern sollte.

1 W. Wolshanin: Das Ende der autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. In: Frei­ heit 1,4, S. 24, München 1953. — Wolshanin gehörte einer der Kommissionen an, die sich um das von den Volksdeutschen zurückgelassene Vieh kümmerten. 2

Helmut Gollwitzer: Und führen, wohin du nicht willst... München 1952. S. 300/1.

3

New York Times, 28. 9. 1954.

4

Werth: Moscow 41. S. 173.

132

VIII

DAS FIXIERTE BILD

Es ist nun an der Zeit, die Vorstellungen von der deutschen Fünften Kolonne zu überprüfen, die seit 1933 — also bevor der Begriff selbst geprägt worden war — und besonders in den Kriegsjahren in den Ländern außerhalb Deutschlands entstanden waren. Wieweit diese Vorstellungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen, ist hier noch gleichgültig. An dieser Stelle gilt es nicht zu untersuchen, sondern zusammen­ zufassen. Wir haben gesehen, daß der eigentliche Begriff allgemein erst nach der deutschen Invasion in Dänemark und Norwegen verwendet wurde, hauptsächlich aber erst nach der Invasion in Holland und Frankreich. Damals wurde das Hauptgewicht auf die »militärische« Fünfte Kolonne gelegt, also die Touristen und jungen Wande­ rer, die, wie man vermutete, Norwegen so gründlich ausspioniert hatten; die reichsdeutschen Zivilisten, die Berichten zufolge das Regierungsviertel in Den Haag mit Waffen angegriffen hatten; die deutschen Agenten, die in Belgien und Frankreich falsche Befehle ausgegeben oder vergiftete Süßigkeiten verteilt hatten— sie alle wurden Fünfte Kolonne genannt. So bezeichnete man auch die »Verräter« in den angegriffenen Ländern: in Norwegen Quisling und seine Anhänger, die, wie man glaubte, bereit gewesen waren, die Landesverteidigung zu stören und die Macht zu ergreifen; in Holland die vielen Mitglieder der holländischen Nazi­ bewegung, die, wie die Öffentlichkeit überzeugt war, aus ihren Häusern auf hollän­ dische Truppen geschossen hatten; in Belgien die flämischen und wallonischen Faschisten, von denen man berichtete, sie hätten falsche Gerüchte verbreitet, um die Kampfmoral zu untergraben; in Frankreich schließlich die Politiker, die angeb­ lich absichtlich die Kriegsanstrengung des Landes sabotiert hatten, um dadurch so rasch wie möglich mit Hitler verhandeln zu können. Nachdem der Begriff Fünfte Kolonne allgemein gebräuchlich geworden war, verlegte man ihn auch in die Vergangenheit und bezeichnete damit alle Handlun­ gen, die seit 1933 mit der großen aggressiven Verschwörung der Nationalsozialisten zusammengehangen hatten. Man zögerte nicht, mit dem Begriff Fünfte Kolonne diejenigen Reichsdeutschen zu bezeichnen, die im Ausland ihre Wühlarbeit getan hatten, oder diejenigen Volksdeutschen, die als Bürger anderer Staaten trotzdem in Hitler ihren wahren Führer sahen.

133

Die Art und Weise, wie dieses Bild von der Fünften Kolonne entstand, läßt sich kaum genau beschreiben. Die bewußten und unbewußten Strömungen in den Köpfen der Menschen lassen sich nicht präzise aufzeichnen. Im allgemeinen jedoch waren es konkrete Ereignisse, die zuerst zu der allgemeinen Überzeugung führten, daß es so etwas wie eine Fünfte Kolonne gebe. Die Ermordung von Dollfuß, der Anschluß Österreichs, die Aufstellung von Henleins Sudetendeutscher Legion, aber auch die Demonstrationen und Anschläge nationalsozialistischer Reichsdeutscher im Ausland, die von Litauen bis nach Südwestafrika durch Haussuchungen und Pro­ zesse ans Licht kamen — das alles waren unbestreitbare Tatsachen. Während der deutschen Invasion erschien den Rolen der Massenverrat der Volksdeutschen und den Holländern der Verrat deutscher und holländischer Nazi genauso unbestreitbar. Das »internationale« Bild der Fünften Kolonne entwickelte sich aus den »natio­ nalen« Bildern, die mehr oder minder unabhängig voneinander entstanden waren. Das Vorgehen von Seyß-Inquart und Henlein machte aus der Fünften Kolonne eine internationale Neuigkeit und ein Thema, das von Zeitungen und Rundfunk­ stationen in aller Welt immer wieder unterstrichen wurde. Wieder und wieder schrieb und sprach man davon, aber natürlich niemals so intensiv wie in dem Kata­ strophenfrühling 1940, als man glaubte, daß die Fünfte Kolonne von Narvik bis nach Montevideo und von Rotterdam bis nach Batavia aktiv geworden sei. Da­ mals erst grub sich das Bild der Fünften Kolonne endgültig klar und deutlich in die Köpfe von Hunderten von Millionen Menschen ein. Was man später bei den deutschen und andern Nationalsozialisten an Taten er­ lebte, trug nur dazu bei, jenes Bild zu fixieren. Daß die Reichsdeutschen und Volks­ deutschen sich in den von Deutschland besetzten Ländern unter dem Hakenkreuz versammelten und daß die »eingeborenen« Nationalsozialisten offensichtlich Hitlers Partei ergriffen, galt als weiterer Beweis für die Auffassung, daß diese Gruppen im Gewand der Fünften Kolonne das Kommen der Deutschen aktiv gefördert hätten. Bei diesem Fixieren des Bildes spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle alles das, was man über die Fünfte Kolonne lesen konnte, nachdem der deutsche Angriff stattgefunden hatte. Schon im Oktober 1940 hatte Thomas Huntington, obwohl er nur bis Kriegsausbruch zurückgeht, bereits 121 Artikel gesammelt, die sich mit der europäischen Fünften Kolonne beschäftigen. Diese Artikel entstammen füh­ renden amerikanischen Zeitungen1. Florence Hellman konnte 1943 eine Biblio­ graphie über »Die Fünfte Kolonne der Nazi« zusammenstellen, in der nur Bücher

und

wichtigere

Artikel

aus

amerikanischen

Zeitschriften

berücksichtigt

wurden; sie enthält 290 Titel12 . In den Vereinigten Staaten verdient besondere Aufmerksamkeit eine Artikel­ serie über die Fünfte Kolonne von Oberst William Donovan und Edgar Ansei 1 T. W. Huntington: The Trojan Horse bibliography. The European Fifth Column and American morale-resistance. In: Bulletin of the New York Public Library XLIV, 10 (Oct. 1940). S. 741/4. 2

134

F. S. Hellman: Nazi Fifth Column Activities. A list of References. Washington 1943.

Mowrer. Donovan war ein unternehmungslustiger und tapferer Mann, der die Kämpfe in Abessinien und Spanien aus erster Hand kannte und sich schon im ersten Weltkrieg einen Namen gemacht hatte. Er war ein persönlicher Freund des Republikaners Frank Knox, des Herausgebers der »Chicago Daily News«. Mit Billigung Roosevelts, der den pessimistischen Berichten seines Botschafters Kennedy in London mißtraute, schickte Knox Donovan nach London, damit er berichte, welche Aussichten Großbritannien habe, den Schlägen Hitlers zu wider­ stehen, die unweigerlich kommen würden. Anfang August kehrte er mit sehr gün­ stigen Eindrücken nach Washington zurück. In London hatte er gleichzeitig Einzelheiten über die Tätigkeit der Fünften Kolonne auf dem Kontinent gesammelt. Zu diesem Zweck hatte er sich mit Mowrer zusammengetan, dem europäischen Vertreter der »Chicago Daily News«. Die von Donovan und Mowrer gesammelten Eindrücke erschienen so wichtig, daß sie in vier Aufsätzen durch Agenturen an praktisch alle amerikanischen Zeitungen verbreitet wurden. Sie wurden vom 20. bis 23. August nacheinander veröffentlicht und ver­ dienen, als typisches und einflußreiches Beispiel hier kurz wiedergegeben zu werden. Donovan und Mowrer begannen mit einer Schilderung von Hitlers Siegen. Sie sagten, seine Streitkräfte seien überlegen gewesen, hätten aber niemals so schnelle und entscheidende Siege erringen können, wenn ihnen nicht deutsche und andere Bundesgenossen

in

den

angegriffenen

Ländern

geholfen

hätten.

Die

Sudeten­

deutschen hätten die Niederlage der Tschechoslowakei herbeigeführt. Volksdeut­ sche unter Führung der Gestapo hätten Polen den Dolch in den Rücken gestoßen; Zehntausende von ihnen seien als Agenten und Wegweiser der Invasionsarmeen ausgebildet worden, während andere falsche Befehle erteilt und militärische Ziele auf besondere Weise kenntlich gemacht hätten. In Dänemark hätten die Deut­ schen die Demoralisierung gefördert, während Norwegen von deutschen Truppen überrascht worden sei, die sich in Schiffen verborgen gehalten hatten. In Holland hätten 120.000 Reichsdeutsche »wie wütende Derwische« auf ihre Gastgeber ge­ schossen, während 60.000 Reichsdeutsche in Belgien die flämischen und wallo­ nischen Faschisten finanziert hätten. In Frankreich hätten Agenten im Dienste der Deutschen Botschaft die Saat der Kapitulation ausgestreut. England habe alle gefährlichen Elemente einschließlich der Flüchtlinge interniert. Wie Donovan und Mowrer weiter schreiben, habe es in der Tschechoslowakei und Polen keine einheimische Fünfte Kolonne gegeben. In Norwegen hingegen habe Quisling den deutschen Erfolg ermöglicht. In Holland hätten Mitglieder der holländi­ schen Nazipartei Hitler geholfen. Flämische Nazi hätten die wichtigen Brücken über den Albert-Kanal ausgeliefert. Französische Spitzel hätten Hitler die ganze Zeit hindurch vortrefflich informiert, während die Oberschicht und die Intellek­ tuellen in Frankreich seit Jahren von deutschen Propagandisten bearbeitet worden seien. Vielleicht gäbe es sogar in England Defaitisten. Für solche Organisationen und Propaganda im Ausland hatten die Deutschen den Verfassern zufolge 200 Millionen Dollar ausgegeben. Ein Teil davon sei der

135

Auslandsorganisation der NSDAP zur Verfügung gestellt worden, die »nahezu vier Millionen Mitglieder zählte, welche fast alle bewußt Agenten waren«. Ihr gehörten Reichsdeutsche, naturalisierte Deutsche und Nichtdeutsche an. Neben der Aus­ landsorganisation arbeiteten die Gestapo, das Propagandaministerium, die Ar­ beitsfront, die Abwehr und das Auswärtige Amt mit insgesamt 30.000, von denen 5000 mit kleinen Funkgeräten ausgerüstet und für die Gestapo tätig waren. Deutsche Studenten und Hausmädchen hätten oft als Agenten gearbeitet. Die Demokratien seien dem allem gegenüber zu gleichgültig gewesen. Das gelte auch für die Vereinigten Staaten, wo wahrscheinlich »die beste von den Nazi ge­ schulte Fünfte Kolonne der Welt zu finden ist«. Große Wachsamkeit sei nötig, um der Gefahr zu steuern. Nachdem die Presse diese Betrachtungen von Donovan und Mowrer gebracht hatte, erschienen sie auch als Broschüre mit einem Vorwort von Marineminister Knox, der diese »sorgfältige Studie, bei der den Verfassern alle amtlichen Quellen zur Verfügung standen«, warm empfahl1. Reichlich zwei Jahre später veranlaßte das amerikanische Außenministerium 1943 die Veröffentlichung eines gründlichen Werkes, das hauptsächlich auf Grund von in Deutschland veröffentlichtem Material eingehend die Entwicklung der Be­ ziehungen zwischen Deutschland und den Deutschen im Ausland schilderte. Darin wurde auch die Fünfte Kolonne erörtert, teilweise auf Grund von vertraulichen Informationen. Das wichtigste Beweismaterial waren Auszüge aus »einem ver­ traulichen, zuverlässigen, durch andere Quellen bestätigten Bericht über die viel­ seitige Tätigkeit der deutschen Fünften Kolonne in Holland vor der deutschen Invasion12 «. Diesem Bericht zufolge war die Reichsdeutsche Gemeinschaft, die Organisation der in Holland lebenden deutschen Staatsangehörigen, die neutral zu sein vorgab, in Wirklichkeit eine nationalsozialistische Körperschaft. Ihr Leiter Otto Butting war »der ungekrönte König jedes deutschen Staatsangehörigen« in den Nieder­ landen. Er besaß eine Kartei mit Einzelheiten über zahlreiche Nichtdeutsche und über die hunderttausend Deutschen, die zum Eintritt in die »Arbeitsfront« ge­ zwungen worden waren. Viele von diesen waren als Spione tätig. Mit der Hilfe holländischer Nazi war es ihm gelungen, 80.000 arbeitslose Holländer in Deutsch­ land unterzubringen, wo sie zu Parteigängern Hitlers bekehrt worden waren. Nach ihrer Rückkehr waren diese Menschen »unter den Holländern hoher und niedriger Gesellschaftsschichten gewesen, die dazu beitrugen, jäger zu begrüßen, aufzunehmen und zurechtzuweisen3«.

die

deutschen

Fallschirm­

Diese Veröffentlichung erregte Aufsehen durch die vielen Einzelheiten, die sie enthielt und die offensichtlich auf amtlichen Informationen beruhten. Viele andere 1

W. Donovan and E. A. Mowrer: Fifth Column Lessons for America. Washington 1940, S.4.

2

Raymond E. Murphy and others: National Socialism. Basic principles, their application by the Nazi party’s Foreign Organization and the use of Germans abroad for German aims. Washington 1943, S. 132. 3

Ebenda, S. 137.

136

Veröffentlichungen, die auf persönlichen Erlebnissen beruhten, wurden als ebenso authentisch hingenommen; zu den Verfassern gehörten Autoritäten wie der Präsi­ dent des norwegischen Parlaments Carl Hambro1 und der holländische Außen­ minister van Kleffens12 sowie Journalisten oder andere Augenzeugen, welche die von Deutschland besetzten Gebiete verlassen hatten. Andere Regierungen trugen ihr Teil dazu bei, das Bild der Fünften Kolonne zu fixieren. Die Polen veröffentlichten eine Reihe von Berichten, deren Verfasser aus Polen entkommene Militärs waren3, und die Tschechen eine große Anzahl von Doku­ menten über die Henlein-Bewegung4. Außerdem verarbeiteten viele Schriftsteller, jeder auf seine Weise, alle seit 1933 bekanntgewordenen Tatsachen zu Monographien. Vor allem im Hinblick auf die zentrale Organisation der Fünften Kolonne widersprechen sich diese Darstellungen oft. Manche von ihnen sahen in Bohle, dem Leiter der Auslandsorganisation, eine äußerst wichtige Gestalt, die »99 Prozent der Deutschen im Ausland kontrollierte5« und das Auswärtige Amt »unmittelbar beaufsichtigte6«. Andere wiederum sahen in Wilhelm Canaris, Chef der deutschen Abwehr, den Hauptübeltäter, weil er »nahezu unbeschränkte Macht« hatte7. Wieder andere sahen in Ribbentrop den Mann, der die für einen Angriff ausersehenen Staaten »durch Bestechung, schöne Worte und verführerische Frauen untergrub — ja sogar Dienstmädchen und Hotelportiers importierte8«. Noch wieder andere be­ richteten, der Volksbund für das Deutschtum im Ausland habe »über 10.000 gut ausgebildete Agenten und Vertrauensmänner9« ausgesandt. Nur wenige äußerten deutlichen Zweifel an der Allmacht der Fünften Kolonne. Die belgische Regierung erklärte bald nach ihrer Ankunft in London, in ihrem 11 «. 1941 veröffent­ Lande »bestehe die Fünfte Kolonne nur aus wenigen Personen10 lichte Professor David Mitrany seine Auffassung, daß die Aktionen der Nazi in

Nord- und Südamerika keine große Bedeutung gehabt hätten11. 1952 pflichtete Arnold Toynbee dieser Auffassung bei12. Die Professoren Langer und Gleason 1

Carl J. Hambro: I saw it happen in Norway. London 1940.

2

E. N. van Kleffens: The Rape of the Netherlands. London 1940.

3

The German Fifth Column in Poland. London 1941.

4

B. Bilek: Fifth Column at Work. London 1945.

5

Heinz Pol: AO — Auslandsorganisation. Tatsachen aus Aktenberichten der 5. Kolonne. Graz 1945. S. 87. 6

Artucio a.a.O., S. 24.

7

Kurt Singer: Duel for the Northland. The War of Enemy Agents in Scandinavia. London 1945. S. 37. 8

H. W. Blood-Ryan: The Great German Conspiracy. London o. D., S. 167.

9

Pol AO S. 44.

10

Belgie. Een officieel overzicht van de gebeurtenissen 1939—1940. London 1941. S. 37.

11

In: Toynbee and Boulter: Survey of International Affairs 1938. Vol. I. London 1941, S. 586/7 und 672/4. 12

The World in March 1939. London 1952. S. 12.

137

hegten Zweifel an der Bedeutung der Fünften Kolonne in Norwegen und Frank­ reich1, und T. K. Derry war geneigt, offen zuzugeben, daß die Wirkung von Quis­ lings Handeln wesentlich überschätzt worden war12 . Demgegenüber sehen wir, daß in anderen maßgeblichen Werken von hohem Niveau die Fünfte Kolonne, wenn auch nur in kurzen Absätzen, wieder in ihrem vollen faszinierenden Glanz erschien. So in den Absätzen, die Churchill in seinen bewegenden Erinnerungen auf der Grundlage von Hambro Norwegen widmet3. Hugh Seton-Watson sprach von der »beispielhaften Leistungsfähigkeit der Fünf­ ten Kolonne der Volksdeutschen in Polen4«. In Louis L. Snyders meisterlicher Analyse des nationalistischen Denkens der Deutschen findet sich ein Absatz über die »Spione, Saboteure und mancherlei Verschwörer« der I. G. Farben, deren Agenten Snyder zufolge »den Kern nazistischer Anschläge in andern Ländern« bildeten5. Schließlich nennt Martin Wight in einer Veröffentlichung des König­ lichen Instituts für internationale Angelegenheiten (London) die deutschen Minder­ heiten in Osteuropa »eine internationale Fünfte Kolonne von einzigartiger Macht« und gibt eine Schilderung der Auslandsorganisation und des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland, in der unter anderem wiederum von verkleideten Tou­ risten, Technikern und Handelsreisenden die Rede ist.6 In Deutschland hingegen erklärten die Nationalsozialisten kategorisch, es habe so etwas wie eine Fünfte Kolonne der Nazi überhaupt niemals gegeben. Im Nürn­ berger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde eine eidesstattliche Er­ klärung Bohles verlesen, worin dieser behauptet, weder die Auslandsorganisation noch deren Mitglieder hätten jemals »auf irgendeine Weise Befehle erhalten, deren Ausführung als Tätigkeit einer Fünften Kolonne betrachtet werden könnte« — und zwar weder von Rudolf Heß, dessen unmittelbarer Untergebener Bohle war, noch von ihm selbst. Auch habe Hitler niemals Weisungen dieser Art erteilt. Bohle gab zu, daß es im Ausland Deutsche gegeben habe, die für Spionagezwecke verwendet worden seien, daß aber dergleichen Arbeit von Franzosen und Eng­ ländern auch für deren Geheimdienste ausgeführt worden sei. In jedem Falle habe die Spionagetätigkeit dieser Deutschen niemals etwas mit ihrer Zugehörigkeit zur Auslandsorganisation zu tun gehabt. Danach richtete ein Vertreter der Anklage an Bohle einige Fragen, aus denen hervorging, wie vollständig er die Glaubwürdigkeit von dessen Erklärung be­ zweifelte : »Oberstleutnant 1

Griffith-Jones:

>Ist

Ihnen

niemals

eingefallen,

daß,

wenn

Ihre

Langer and Gleason a.a.O., S. 420, 448.

2

T. K. Derry: The Campaign in Norway. London 1952, S. 244.

3

W. S. Churchill: The Second World War. I: The Gathering Storm. S. 478/9.

4 Hugh Seton-Watson: Eastern Europe between the Wars, 1918—1941. Cambridge 1946. S. 283. 5

Louis L. Snyder: German Nationalism: the Tragedy of a People. Harrisburg 1952. S. 295.

6

The World in March 1939. S. 332 und 314/16.

138

Armee in ein Land einfiel, wo Sie eine gut aufgebaute Organisation hatten, diese Organisation von größtem militärischem Wert sein würde?< Bohle: >Nein. Das war weder Sinn noch Zweck der Auslandsorganisation, und keine Amtsstellen sind jemals in dieser Hinsicht an mich herangetreten.< Oberstleutnant Griffith-Jones: >Wollen Sie diesem Gericht jetzt erzählen, daß, als die verschiedenen europäischen Länder tatsächlich von der deutschen Armee angegriffen wurden, Ihre dortigen Organisationen nichts getan haben, um militäri­ sche oder halbmilitärische Hilfe zu leisten?< Bohle: >Ja, genau das1.TouristenHandelsreisende< oder >Studenten< nach Holland gelangt waren4«. Wir treffen wieder Mitglieder der Fünften Kolonne, die »Luftschutzsirenen außer Betrieb setzten und die Wasserversorgung Amsterdams, soweit sie noch vorhanden war, abschnitten5« oder »hinter den Linien Verwirrung 1 IMT 2

X, S. 15 und 19.

Ebenda, S. 76.

3 C. Grove Haines and Ross J. S. Hoffman: The Origin and Background of the Second World War. New York 1947. S. 571. 4 6

W. C. Langsam: The World since 1914. New York 1948. S. 764. F. T. Miller: History of World War II. Philadelphia 1945. S. 170.

139

und Schrecken stifteten1«. Wir hören von Fallschirmjägern, die mit »Spitzeln, Verrätern, Leuten von der Fünften Kolonne und deutschen Touristen12 « zusammen­ arbeiteten oder vom Himmel fielen, »viele in holländischer Uniform, die vortreff­ lich holländisch sprachen und Zivilisten und Soldaten gleichermaßen verwirrten3«. Selbst in einer »Miniaturgeschichte« des zweiten Weltkrieges fand man genügend Raum, um zu erwähnen, daß die Deutschen in Holland »genau wie in Norwegen, aber in größtem Umfang geschickten Gebrauch von Fallschirmjägern und Verrat machten4«. Warum sollte man an Mitteilungen zweifeln, die sich so allgemeiner Unter­ stützung erfreuten und von so angesehenen Jüngern der Geschichtswissenschaft herrührten? Tatsächlich war die Ansicht, daß in den Jahren der nationalsoziali­ stischen Expansion eine mächtige deutsche Fünfte Kolonne am Werk gewesen sei, sozusagen Bestandteil einer Denkweise, worin der Begriff Fünfte Kolonne als solcher eine immer größere Rolle zu spielen begonnen hatte. Die westliche Welt kam mehr und mehr unter den Eindruck der kommunistischen Fünften Kolonne und umgekehrt. Kurz nach 1945 begann eine Zeit, in der man kaum eine Zeitung lesen oder eine Nachrichtensendung hören konnte, ohne diesem furchtbeladenen Ausdruck zu begegnen. Daß er aus einer prahlerischen Rede während des spani­ schen Bürgerkrieges herrührte, wußten nur noch wenige. Die Menschen konnten sich kaum noch eine Welt vorstellen, in der es nicht eine Fünfte Kolonne gab. Wenn wir jetzt prüfen wollen, wieviel Wahrheit hinter den Vorstellungen steckte, welche die Menschen von der deutschen Fünften Kolonne hatten, so erscheint es vernünftig, ausdrücklich festzustellen, was der Ausdruck bedeutete. Genaue Begriffsbestimmungen befriedigen nur selten gänzlich, zumal wenn es sich dabei um einen Begriff handelt, der durch ständigen Gebrauch so abgenutzt ist, daß ein scharf umrissenes Bild nicht mehr erkennbar ist. Fünfte Kolonne ist ein solcher Begriff geworden — eine Wortverbindung, bei deren täglichem Gebrauch von Anfang an eine gewisse Unbestimmtheit wesentlich gewesen ist. Versuchen wir es einmal so: »Jede Gruppe außerhalb des nationalsozialistischen Deutschlands galt als zugehörig zur deutschen Fünften Kolonne, wenn sie bewußt und in Übereinstimmung mit geheimen Anweisungen deutscher Behörden Tätig­ keiten förderte, die im Dienste der territorialen Expansion Deutschlands standen.« Betrachten wir uns diese Definition etwas näher. Zunächst ist »deutsche Fünfte Kolonne« eine mehrdeutige Vorstellung. Sie kann dazu dienen, entweder eine pro­ deutsche Fünfte Kolonne oder eine aus Deutschen bestehende Kolonne zu be­ schreiben. Die erste Beschreibung ist weiter als die zweite und umfaßt alle nicht­ 1

H. S. Commager: The Story of the Second World War. Boston 1945. S. 51.

2

F. L. Schuman: International Politics. The Western State System in Transition. New York 1941. S. 580. 3 W. P. Hall: Iron out of Calvary. An interpretative history of the Second World War. New York 1946. S. 94. 4

R. C. K. Ensor: A Miniature History of the War. Oxford 1945. S. 25.

140

deutschen Gruppen, die in prodeutschem Sinne tätig waren. Im Vorwort haben wir darauf hingewiesen, daß die Tätigkeit dieser nichtdeutschen Gruppen noch nicht für eine wissenschaftliche Beschreibung von internationalem Rang reif ist. Gleichwohl kann man sie nicht außer acht lassen. Die Länder, die sich vom Dritten Reich bedroht fühlten, betrachteten die Fünften Kolonnen, soweit sie aus Deut­ schen und soweit sie aus einheimischen Faschisten und Nationalsozialisten be­ standen, als ein Ganzes. Die Frage, ob jene einheimischen Fünften Kolonnen die deutsche Aggression militärisch unterstützten, kann nicht einfach beiseite ge­ schoben werden; aber den politischen Hintergrund all jener faschistischen und nationalsozialistischen

Bewegungen

in

Norwegen,

Holland,

Frankreich,

Groß­

britannien, Nord- und Südamerika werden wir sich selbst überlassen. Kehren wir zu unserer Definition zurück. Die Tätigkeit von Mitgliedern der Fünften Kolonne wurde als bewußte Tätigkeit angesehen. Tatsächlich betätigten sich andere vor und in dem Kriege objektiv »unabsichtlich« auf mancherlei Weise zugunsten der territorialen Expansion Deutschlands. Wollte man auf sie den Be­ griff Fünfte Kolonne anwenden, so würde man diesen zu einem sinnlosen politischen Schimpfwort abwerten. Die subjektive Absicht muß gegeben sein. Im Falle der deutschen Fünften Kolonne darf auch die organisatorische Ver­ bindung mit deutschen Behörden (in Staat oder Partei) nicht fehlen. Die Fünfte Kolonne galt als ein Werkzeug, welches Deutschland betätigte. Ferner mußte die Tätigkeit dieser Fünften Kolonne ganz überwiegend im ge­ heimen gelenkt werden. Man sah in ihr eine Verschwörung. Selbst dann, wenn nationalsozialistische Einrichtungen — beispielsweise die Auslandsorganisation oder das Propagandaministerium — im Ausland tätig waren, nahmen die Menschen trotzdem an, daß sie dort ihre wirklichen Ziele nicht eingestanden, sondern daß ihre wirkliche Arbeit darin bestand, geheimen deutschen Weisungen Folge zu leisten. Diese Arbeit zeigt, wie die Leute sie sahen — Tolischus hatte das bereits deutlich in Worte gekleidet —, in Friedenszeiten eine andere Natur als in Kriegs­ zeiten. In Friedenszeiten kann man sie mit dem Begriff des Untergrabens zusam­ menfassen: »Mittels der Fünften Kolonne untergrub das nationalsozialistische Deutschland andere Staaten«. War das nicht der allgemeine Eindruck, wie er in den Jahren 1933 bis 1939 entstanden war? Die Tätigkeit im Kriege bestand anderer­ seits, wie man glaubte, darin, daß »einer militärischen Aggression, während sie im Gange ist, durch Angriffe im Innern Beistand geleistet wird«. In diesem zweiten Sinne werden wir künftig von der militärischen Fünften Kolonne im Gegensatz zur politischen sprechen. Zwischen diesen beiden Fünften Kolonnen gab es natürlich alle möglichen Übergänge. Die militärische Fünfte Kolonne galt in Wirklichkeit als die logische Folge der politischen und als deren Vollendung. Nun wollen wir neben das Bild dessen, was nach Ansicht der Leute diese mili­ tärische Fünfte Kolonne zu verantworten hatte, im zweiten Teil ein anderes Bild setzen: Das, was wirklich geschehen ist.

141

ZWEITER TEIL

WIRKLICHKEIT

IX

POLEN

In den Monaten zwischen dem Münchener Abkommen (29. September 1938) und der Besetzung Prags (15. März 1939) war Polen seitens des Deutschen Rei­ ches schwerem politischem Druck ausgesetzt. Es wurde deutlich, daß Deutsch­ land den Status Danzigs geändert zu sehen und eine »Lösung« des KorridorProblems wünschte. Ob Hitler ganz davon überzeugt war, daß die polnische Re­ gierung nachgeben werde, oder glaubte, sie werde sich bis zum äußersten wider­ setzen, ist unbekannt. Wahrscheinlich rechnete er von Anfang an mit der zwei­ ten Möglichkeit. Jedenfalls entschloß sich Hitler in der zweiten Märzhälfte, als sich Polen mehr und mehr bedroht fühlte, einen Teil seiner Armee mobilmachte und eine britische Garantie entgegennahm, die Vorbereitungen für einen ent­ scheidenden militärischen Schlag zu beschleunigen. Die ersten Entwürfe für einen Angriff auf Polen lagen um jene Zeit bereits vor. Am 3. April 1939 unterrichtete jedoch General Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehr­ macht, die Oberbefehlshaber von Heer, Marine und Luftwaffe (von Brauchitsch, Raeder und Göring) von Hitlers Wunsch, die Pläne sollten so schnell aus­ gearbeitet

werden,

daß

ihre

Ausführung

vom

ersten

September

an

jederzeit

1

möglich sei . Für das Heer arbeitete General Halder, Chef des Generalstabes, unter Anlei­ tung von General Brauchitsch die Pläne aus. Beide Männer dachten rein militärisch. Da sie Deutschlands Überlegenheit kannten, beabsichtigten sie, die polnische Armee durch eine doppelte Einkreisung zu vernichten, wobei das deutsche Heer Polen nicht im Zentrum, sondern auf beiden Flügeln angreifen würde. Zunächst blieb zweifelhaft, ob die Anordnung der polnischen Divisionen die Ausführung dieses Planes begünstigen würde oder nicht. Noch am 14. und 28. Juni 1939 stellten die deutschen Offiziere, die den Feldzug bearbeiteten, fest, daß ihnen zuverlässige 2 1

fehlten 1

Nachrichten

über

Mobilmachung

und

Operationspläne

der

Polen

. Später nahmen die Deutschen an, daß die polnischen Truppen im

C-120, IMT XXXIV, S. 380/1.

2

PS-2327 Nr. 6, IMT XXX, S. 190. Brief des Arbeitsstabes Rundstedt vom 28. 6. 1939. NOKW-215. 10

145

Westen des Landes für eine Offensive in Richtung auf Berlin konzentriert werden würden1. In den Urkunden über den deutschen Operationsplan ist, soweit sie bekannt sind, von dem Vorhandensein militärischer oder halbmilitärischer Verbände von Reichs­ und Volksdeutschen zur Unterstützung der deutschen Operationen nicht die Rede12 . Das rechtfertigt jedoch nicht den Schluß, daß die Reichs- und Volksdeutschen über­ all untätig blieben. Vielmehr steht fest, daß Angehörige dieser Gruppen bei der Vorbereitung und Ausführung der deutschen Operationen behilflich waren, in manchen Fällen sogar beträchtlich. Bevor wir das im einzelnen schildern, empfiehlt sich eine Bemerkung über die Reichs- und Volksdeutschen im allgemeinen. Über die Reichsdeutschen weiß man nur wenig. 1938 lebten etwa 13.000 in Polen3, davon die meisten in den polnischen Westprovinzen, die Deutschland im Versailler Vertrag abgetreten hatte, und in Galizien. 1800 von ihnen waren Mitglieder der Landesgruppe der Auslandsorganisation der NSDAP. Weitere 1200 gehörten den Untergliederungen für Arbeiter, Angestellte und Frauen an. Im ganzen gab es also 1938 3000 organisierte Parteigenossen. Die Deutsche Botschaft in Warschau versuchte, mit möglichst vielen Reichsdeutschen Fühlung zu halten, und hatte 1939 gemeinsam mit dem Landesgruppenleiter ein geheimes Netz aus ausgesuchten Männern gebildet, deren jedem eine Anzahl von Reichsdeut­ schen anvertraut worden war. Der Sinn der Sache war, den Reichsdeutschen im Kriegsfalle Schutz zu gewähren. Da man hierin keine ausreichende Gewähr für ihre Sicherheit sah, erhielten die reichsdeutschen Männer im Sommer 1939 den Rat, ihre Frauen und Kinder nach Deutschland zu schicken. In der letzten Augustwoche sollte außerdem die Botschaft die Beschäftigungslosen oder die­ jenigen, die »als besonders gefährdet anzusehen sind«, warnen und zur Rückkehr in die Heimat auffordern. Die übrigen sollten sich vor Verfolgungen zu schützen versuchen, die als unvermeidlich galten. Parteifunktionäre und Journalisten sollten Zuflucht in den Häusern von befreundeten Angehörigen neutraler Staaten suchen. In den Grenzprovinzen lagen die Dinge wesentlich anders. Dort sollten die Reichsdeutschen »in die dort zum Maßnahmen miteinbezogen werden4«.

Schutze

der

Volksdeutschen

vorbereiteten

Am 24. August 1939 gab Gauleiter Bohle von der Auslandsorganisation tele­ grafisch Weisung, daß die Amtsträger der Landesgruppe auf ihren Posten blei­ 1 Professor K. Rheindorf in Hiddesen bei Detmold zufolge wurden die polnischen Mobil­ machungs- und Operationspläne den Deutschen von einem polnischen Generalstabsoffizier verraten, der wegen seiner Homosexualität erpreßt wurde. Wann das genau geschah, steht nicht fest. 2

C-120, IMT XXXIV, S. 380—422; C-126 ebenda, S. 428-58; C-142 ebenda, S. 493-500; PS-2327, IMT XXX, S. 180-200. 3

Jahrbuch der Auslandsorganisation der NSDAP 1940. S. 278/9.

4

Aktennotiz von Schliep, einem Angehörigen der Deutschen Botschaft in Warschau, für Auswärtiges Amt, 21. 8. 1939. NG-2427.

146

ben sollten. An demselben Tage wurden die Reichsdeutschen in Polen allgemein von Berlin zum Verlassen des Landes aufgefordert1. Wie viele Personen dieser rechtzeitigen Warnung gefolgt sind, weiß man nicht; daher bleibt auch ungewiß, wie viele Reichsdeutsche zur Zeit des deutschen Angriffes wirklich in Polen waren. Wahrscheinlich lag ihre Zahl beträchtlich unter den vorher erwähnten 13.000. Ein Beweis dafür, daß diese Reichsdeutschen oder auch nur die National­ sozialisten unter ihnen die deutschen militärischen Operationen irgendwie unter­ stützt haben, liegt nicht vor, abgesehen von denjenigen Gebieten, in denen die Reichsdeutschen »in die dort zum Maßnahmen miteinbezogen wurden«.

Schutze

der

Volksdeutschen

vorbereiteten

Es ist unbekannt, wie viele Volksdeutsche es in Polen gab. Die Schätzungen weichen erheblich voneinander ab. Die Polen nannten gewöhnlich etwa eine Dreiviertelmillion, die Deutschen über eine Million. In der Einführung zum er­ sten Teil haben wir gesehen, daß die Volksdeutschen einem ständig wachsenden Druck der Polen ausgesetzt waren. Das hängt eng mit der Tatsache zusammen, daß unter den Volksdeutschen nach 1933 diejenigen, die ein aggressives Vor­ gehen begünstigten, zunehmend an Einfluß gewonnen hatten. Außer den national­ sozialistisch Gesinnten gab es unter den Volksdeutschen auch liberale, katholische und sozialistische Gruppen. Zum Ärger Berlins herrschten jedoch selbst zwischen den mit dem Dritten Reich sympathisierenden Gruppen (Jungdt. Partei, Dt. Ver­ einigung, Dt. Volksbund) scharfe Gegensätze. 1938 brütete deshalb die Volks­ deutsche Mittelstelle einen Plan aus, demzufolge sie in einer Dachorganisation zusammengefaßt werden sollten, deren Leiter man in Berlin ernennen würde. Gegen Ende Mai 1938 wurde dieser Vorschlag den Führern der wichtigeren Organisationen durch die deutschen Konsuln zugeleitet. Diese widersetzten sich dem Vorschlag, einen »Führer« zu ernennen12 . Trotzdem wurde der sogenannte »Bund der Deutschen in Polen« im August 1938 gegründet. Daß dessen Führer enge Verbindung mit der Volksdeutschen Mittelstelle hatte, darf man als sicher annehmen; weitere Beweise sind noch nicht veröffentlicht worden. Die liberalen, katholischen und sozialistischen Gruppen haben vielleicht einen Teil ihrer aktiven Mitglieder behalten können, aber auch darüber wissen wir nichts Bestimmtes. Unter dem Einfluß von Hitlers Erfolgen 1938 und als Ergebnis sowohl des zu­ nehmenden polnischen Druckes wie der aufreizenden Propaganda des deutschen Rundfunks im Frühjahr und Sommer 1939 hatten sich Haltung und Stimmung der Volksdeutschen weitgehend radikalisiert. Gleichzeitig wurden vom Reich aus Schritte unternommen, um die bereits gespannten Beziehungen zwischen Volks­ deutschen und Polen weiter zu verschlechtern. Beispielsweise 1

entsandte

der

Himmler

unterstellte

deutsche

Sicherheitsdienst

NG-4154 und Jodis Tagebuch, PS-1780, IMT XXVIII, S. 390.

2

Aufzeichnung des Reichsaußenministers über ein Gespräch mit Gauleiter Forster, 31. 5. 38. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918—1945, Serie D, Band V, Baden-Baden 1953, S. 44. Künftig zitiert als: AD AP. D.

147

vor dem Kriege Agenten nach Polen. Diese hatten die Aufgabe, Gesetzwidrig­ keiten zu begehen, welche den Polen zur Last gelegt werden könnten und bei den Volksdeutschen Empörung und Bitterkeit auslösen würden. Die Pläne für solche Provokationen, die der Sicherheitsdienst sorgfältig ausgearbeitet hatte, hatten beträchtlichen Umfang. Sie sahen 200 Einzelaktionen vor, die im August 1939, möglichst in der zweiten Monatshälfte, von 12 Kommandos (die nur aus wenigen Personen bestanden) mit der Unterstützung von in Polen ansässigen Volksdeut­ schen ausgeführt werden sollten1. Ob und in welchem Umfang

diese

Provokationen

tatsächlich

ausgeführt

worden sind, ist nicht festgestellt worden, doch ist kaum wahrscheinlich, daß der Sicherheitsdienst es bei den Plänen bewenden ließ. Die Leitung der Abwehr wußte, daß es einer Anzahl von agents provocateurs des Sicherheitsdienstes gelungen war, nach Polen zu gelangen12 , um dort ihre Aufträge auszuführen; aus einem Bericht vom August 1940 geht hervor, daß der Sicherheitsdienst die »Vor­ bereitung des Krieges gegen Polen« mittels »Einsatzkräften für die Durchfüh­ rung illegaler Aktionen« betrieb3. Man darf jedoch nicht auf den Gedanken kommen, daß die Spannung zwischen Volksdeutschen und Polen auf die Provokation des Sicherheitsdienstes zurück­ zuführen sei; diese haben die Spannung nur verschärft. Viele Volksdeutsche hatten schon lange gehofft, daß sie eines Tages wieder unter deutsche Herrschaft zurückkehren würden. Beweise dafür, daß irgendeine wirtschaftliche oder politi­ sche Organisation der Volksdeutschen solche Schritte unternommen habe, um den militärischen Operationen der Deutschen Hilfe zu leisten, sind jedoch nicht vorhanden. Es ist wahrscheinlich, daß die Volksdeutschen in manchen Gebieten Maßnahmen ergriffen, um nötigenfalls auch mit Gewalt Angriffe abzuwehren, die sie im Kriegsfalle befürchteten. Zu diesem Zweck wurden vielleicht an zahl­ reichen Orten geheime Organisationen geschaffen, welche, zumal in den Grenz­ bezirken,

mit

aus Deutschland eingeschmuggelten Waffen ausgerüstet gewesen

sein mögen. Möglicherweise waren Waffen seit den Kämpfen der Jahre 1918/19 versteckt worden. Genaues weiß man über alle diese Dinge nicht. Ein deutscher Autor4 erwähnt, daß in einem Dorf im polnischen Korridor südlich von Danzig die älteren volksdeutschen Einwohner spontan einen deutschen Schutzverband gebildet hätten. Ferner liegen Anzeichen dafür vor, daß Volksdeutsche an mehreren Orten den vorrückenden

deutschen Truppen freiwillig

Hilfe leisteten. Das Blatt »Flieger,

Funker, Flak« der Luftwaffe berichtete bald nach dem Ende des Feldzuges, die volksdeutschen Männer seien »die besten Kameraden unserer Soldaten« ge­ 1 Übersicht in Edmund Jan Osmanczyk: Dowody Prowokacji. Archiwum Himmlera (Be­ weise für Provokationen. Die unbekannten Himmler-Archive). Krakau 1951. S. 35—48. 2

Mitteilung General Erwin von Lahousens, 1939—43 Chef der Abwehr II.

3

Aktennotiz über den Einsatz des SD im Ausland, 8. 8. 1940, NG-2316.

4

Hugo Landgraf: Kampf um Danzig. Dresden 1940. S. 62.

148

worden: »Sie haben auf den Wegen die Baumsperren und Steinhindernisse hinweg­ räumen helfen. Sie haben gewußt und ausspioniert, wo die Polen irgendwelche Fallen angelegt hatten. Sie haben Bäume gefällt, um zersprengte Brücken er­ setzen zu helfen, ganz zur Freude unserer Pioniere. Sie sind durch die Scho­ nungen und durch Gestrüpp gekrochen, um die Wälder zusammen mit den Soldaten, so gut sie’s eben konnten, von den polnischen Wegelagerern freizu­ machen1.« In Pleß in Oberschlesien wurde am zweiten Tag der deutschen Offensive ein deutscher Panzer von Volksdeutschen repariert. Dort diente auch ein Volks­ deutscher als Führer und wurde dieserhalb in den Wagen des Regimentskomman­ deurs gesetzt2. In der Nähe von Lemberg zeigte am 12. September ein Öster­ reicher den Deutschen den Weg3. Wahrscheinlich sind solche Hilfeleistungen in viel größerem Umfange vorgekommen. Wo immer die deutschen Truppen auf­ tauchten, wurden sie von den Volksdeutschen herzlich willkommen geheißen und oft festlich bewirtet4. Die bisher geschilderten

Handlungen

von

Volksdeutschen

lassen

sich

er­

klären, ohne daß man deshalb auf eine organisatorische Verbindung mit einer deutschen Stelle zu schließen braucht. Außerdem wurden jedoch andere Aktionen von Volksdeutschen, die den polnischen Widerstand untergraben sollten, vor und während der deutschen Invasion fraglos von Deutschland aus organisiert. Es gab reichsdeutsche Organisationen, die einen Krieg mit Polen für unvermeidlich hielten und teilweise über die Verbindung zu einigen volksdeutschen Organisa­ tionen die Bereitschaft ausnutzten, mit der ein Teil der volksdeutschen Jugend zur »Befreiung« der Gebiete beitragen wollte, die bis 1918 deutsch gewesen waren. Zu diesen Einrichtungen darf wohl die Volksdeutsche Mittelstelle gerechnet werden und wahrscheinlich auch die Hitlerjugend. Einzelheiten fehlen. Die Archive sind zerstört worden, und die Zeugen schweigen. Mehr wissen wir hingegen über die Abwehr. Die

Bereitschaft

eines

Teils

der

Volksdeutschen,

Deutschland

behilflich

zu

sein, machte es der Abwehr leicht, die Offensive gegen Polen auf vielerlei Weise zu unterstützen. Betrachten wir zuerst die Spionage. Von polnischer Seite ist mitgeteilt worden, daß die Zahl der Spionageprozesse, die sich von 1935 bis 1938 auf 300 belief, in den sechs Monaten von März bis August 1939 das Doppelte erreichte5. Man darf sehr wohl annehmen, daß in den letzten sechs Monaten vor dem Signal zum Angriff eifrig spioniert worden ist. Schon im Oktober 1938 hatte ein Beamter 1

Zitiert in Deutschtum im Ausland 1939. S. 528.

2

Die polnischen Greueltaten usw. S. 122 und 124.

3

Kampferlebnisse aus dem Feldzug in Polen. Berlin 1941. S. 68.

4

Beispiele in Leo Leixner: Von Lemberg bis Bordeaux. München 1941. S. 65, 74/5, 90.

5

The German Fifth Column in Poland. S. 37/8.

149

des Auswärtigen Amts festgestellt, daß die Volksdeutschen regelmäßig aufgefordert wurden, Militärspionage zu betreiben. Er hielt es für besonders gefährlich, daß die Menschen, die dazu herangezogen wurden, im Leben der Deutschen eine führende Rolle spielten. Die Abwehr versprach Besserung und sicherte zu, sie würde künftig so wenig Volksdeutsche wie möglich verwenden, erklärte jedoch, »es würde nicht möglich sein, auf ihre Mitarbeit überhaupt zu verzichten1«. Zur Unterstützung der deutschen Offensive war in Polen eine Anzahl von geheimen Funkstationen

errichtet

worden,

doch

konnte

infolge

des

schnellen

deutschen

Vormarsches »keiner der eingebauten Funksender Wesentliches zu dem Vormarsch beitragen12 «. Vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten gaben die Abwehr und Gliederungen der NSDAP unter den jungen Volksdeutschen die Parole aus, sie sollten sich im Kriegsfalle nicht zur Mobilmachung melden. Falls das unvermeidlich sei, sollten sie nicht auf deutsche Truppen schießen, sondern bei erster Gelegenheit überlaufen3. Das geschah auch in einer Anzahl von Fällen4. Andere Volksdeutsche wurden angewiesen, im Heer defaitistische Propaganda zu machen. Ähnliche Weisungen wurden an Ukrainer ausgegeben, die gleichfalls eine von Polen unter­ drückte Minderheit waren. Die Abwehr begnügte sich damit jedoch nicht. Einige Volksdeutsche und Ukrainer waren im Dritten Reich für Störaktionen und Guerilla­ kämpfe ausgebildet worden. Wahrscheinlich gab es verschiedene Arten von Lehr­ gängen. Ein Ausbildungslager lag am Dachstein südöstlich von Salzburg. Schein­ bar fand dort ein Sportkursus für Bauern aus dem Alpengebiet statt. In Wirk­ lichkeit lernten nach dem 1. August 1939 etwa 250 Ukrainer5 die »selbständige Durchführung kleiner, auf List und Überraschung aufgebauter Stoßtruppunter­ nehmungen6«. Diese Ukrainer wurden nicht eingesetzt. Hitler fürchtete, daß die Sowjetunion, mit der er sich gegen Ende August geeinigt hatte, durch den Einsatz der Ukrainer unnötig gereizt werden würde7. 1

Aufzeichnung v. Heyden-Rynschs über ein Gespräch mit der Abwehr, 15. 11. 1938. ADAP. D. V. S. 95 Anm. 1. 2

Paul Leverkühn: Der geheime Nachrichtendienst der deutschen Wehrmacht im Kriege, Frankfurt/Main 1957. 3

Mitteilung v. Lahousens.

4

Kurt Lücks Buch »Volksdeutsche Soldaten unter Polens Fahnen« macht anschaulich, wie stark unter den mobilgemachten Volksdeutschen der Wunsch zu desertieren war. Andere Bei­ spiele in »Der Sieg in Polen« (S. 45) und bei Leixner a.a.O., S. 67. 5

Mitteilung v. Lahousens.

6

Befehl General v. Lahousens vom 4. 8.1939, NOKW-423. Das hektographierte Dokument trägt die Unterschrift »Lehmann«. Daß dies Lahousen heißen soll, geht aus dem Protokoll des Prozesses gegen deutsche Generäle vor einem der amerikanischen Gerichte in Nürnberg hervor (Militärgerichtshof Nr. V, Fall XII, engl. Protokoll). 7 Lahousens Auszüge aus dem Kriegstagebuch der Abwehr II vom 28. 8., 1., 11. u. 17.9.1939. Diese wichtige Quelle, die sich über die Zeit vom August 1939 bis April 1941 erstreckt, wird künftig als KTB-Abwehr zitiert.

150

Andere Abteilungen solcher Art wurden jedoch sehr wohl eingesetzt. Im all­ gemeinen bestand ihre Aufgabe darin, Straßensperren vor den vorrückenden Deutschen zu beseitigen, die Polen an der Zerstörung von Brücken und Straßen zu hindern, Kleinkrieg zu führen und die polnischen Verbindungslinien abzu­ schneiden. Einige Angehörige dieser Verbände sollten als Zivilisten operieren; dann hatten sie als Erkennungszeichen ein rotes Taschentuch mit einem großen gelben Kreis in der Mitte und eine hellblaue Armbinde mit gelbem Mittelstück oder auch eine Hakenkreuz-Armbinde. Andere sollten in sandfarbenen Overalls mit gelben Abzeichen an Kragen und Ärmeln oder als Fallschirmjäger in grau­ grünen Overalls, ebenfalls mit gelben Kennzeichen, operieren. Besondere Fall­ schirmjäger sollten in Zivil abgesetzt werden1. Wie umfangreich die Operationen dieser Agenten wurden, läßt sich nicht sagen. Von deutscher Seite wird behauptet, daß infolge des schnellen Vorrückens der deutschen Divisionen viele Anweisungen für Sabotage und Partisanenkrieg nicht ausgeführt worden sind12 . Das ist nicht unwahrscheinlich, doch steht einwandfrei fest, daß eine Anzahl von ihnen wirklich ausgeführt wurde, und das, was wir im allgemeinen über die Vorbereitungen für die Ausführung dieser Anweisungen wissen, vermittelt den Eindruck großer Betriebsamkeit. Der Abwehr fiel es zu, dafür zu sorgen, daß bestimmte Gruppen der Volks­ deutschen und Ukrainer rechtzeitig mit Waffen und Material für Störaktionen ausgerüstet wurden3. Ein Teil der Waffen wurde von Rumänien aus nach Polen eingeschmuggelt4. Außerdem wurden an bestimmten Frontabschnitten unmittel­ bar vor oder gleichzeitig mit der Offensive ausgesuchte Kommandos der Abwehr nach Polen geschickt, um Sabotage zu üben und Unruhe zu stiften; diese waren vermutlich

verkleidet. Das geschah unter anderem von Ostpreußen aus5. Im

südlichen Polen wurde in der Nacht des 25. August der dicht an der tschechischen Grenze gelegene Jablonka-Paß von einer von der Abwehr aufgestellten Abteilung von etwa 360 Mann besetzt. Hitler hatte zunächst Polen in den Morgenstunden des 26. August angreifen wollen. Als am Abend des 25. August Befehl gegeben wurde, in die Quartiere zurückzukehren, war es nicht mehr möglich, mit der Abteilung am Jablonka-Paß Verbindung aufzunehmen. Diese kämpfte mehrere 1 Diese Einzelheiten finden sich in dem oben S. 50 erwähnten »Merkblatt zur Bekannt­ gabe an die gegen Polen eingesetzten Truppen«. Es gäbe gute Gründe dafür, diesem sorglos maschinegeschriebenen Dokument zu mißtrauen, stimmte es nicht in maßgeblichen Absätzen mit einem Dokument vom 23. 8. 1939 überein, in welchem General v. Lahousen Anweisungen dafür gibt, wie die deutschen Kommandeure Personen aufnehmen sollen, die im Rücken des Feindes operieren (NOKW-083). Ein Brief, den ich an den vermutlichen Unterzeichner des Merkblattes geschrieben habe, wurde nicht beantwortet. 2

Mitteilung v. Lahousens.

3

KTB-Abwehr, 15. 8. 1939.

4

Ebenda, 16. 8. 1939.

5

Ebenda, 23. 8. 1939.

151

Tage lang gegen die polnischen Grenztruppen, wobei es ihr gelang, die Dynamit­ ladungen zu entfernen, welche die Polen in dem Eisenbahntunnel in der Nähe des Passes angebracht hatten1. Nirgends war die Tätigkeit der Abwehr so ausgeprägt wie im östlichen Ober­ schlesien. In diesem wichtigen Industriegebiet war dem Oberkommando der Wehrmacht besonders daran gelegen, die Polen an Zerstörungen zu hindern2. Dieserhalb wurde das große Kraftwerk in Chorzow so frühzeitig lahmgelegt, daß die elektrischen Zünder der von den Polen gelegten Sprengladungen nicht funk­ tionierten3. Die Breslauer Abwehrstelle hatte ferner eine 3000 bis 5000 Mann starke

Abteilung

aus

sudetendeutschen

Nationalsozialisten

gebildet,

die

sich

in der Nacht vor der deutschen Offensive über die Grenze schlichen — einige »als Bergleute und Arbeiter verkleidet« sogar schon ein paar Tage früher —, um gemeinsam mit nationalsozialistischen Volksdeutschen, die ihnen den Weg zeigten, die wichtigsten Fabriken und Gruben zu besetzen4. Andere Volksdeutsche entfalteten noch regere Tätigkeit. Der eifrige Leiter der Abwehrstelle Breslau hatte in verschiedenen Städten Ostoberschlesiens GeheimOrganisationen von Volksdeutschen geschaffen, die mit den aus Deutschland kommenden Sudetendeutschen zusammenarbeiteten und bei sich bietender Ge­ legenheit mit Waffengewalt gegen die Polen rebellieren sollten. Diese Kriegs­ organisation

der

Abwehr

in

den

Industrieorten

Ostoberschlesiens

zählte

1200

Mitglieder5. 400 von ihnen nahmen den Polen die Stadt Kattowitz weg, ehe die regulären deutschen Truppen dort eintrafen6. Einen ähnlichen bewaffneten Aufstand hatte die Abwehr in den von Ukrainern bewohnten Teilen Polens vorbereitet7. Zu diesem Zweck hatten sie Verbindung mit Oberleutnant Andrej Melnyk, Leiter der ukrainischen Nationalisten (OUN), aufgenommen8. Zuerst wollte Hitler den Aufstand der Ukrainer zulassen. Noch am 12. September 1939 erhielt Admiral Canaris als Chef der Abwehr Befehl, einen Aufstand in der polnischen Ukraine, »der auf die Vernichtung der Juden und der Polen« abzielt, in Gang zu setzen9. Diese Erhebung durfte dann jedoch nicht stattfinden, als am 17. September die Russen in Südostpolen einmarschierten, wo die Ukrainer lebten. Alle Vorbereitungen wurden eingestellt, und am 23. Sep­ tember befahl Hitler, Stalin zu Gefallen, daß die Ukrainer gehindert werden 1

Ebenda, 25., 26., 27. 8. 1939.

2

C-120/Nr. 13, IMT XXXIV., S. 408.

3

Kurt Franz: Erste Fahrt in die befreite Heimat. In: Deutschtum im Ausland 1939. S. 526.

4

Mitteilung v. Lahousens. Leverkühn a.a.O., S. 24.

5

KTB-Abwehr, 3. 9. 1939.

6

Ebenda, 5. 9. 1939.

7

Ebenda, 15. 8. 1939.

8

K. H. Abshagen: Canaris. Stuttgart 1949. S. 214/5.

9

Ebenda, S. 208/9.

152

sollten, aus dem von der Roten Armee besetzten Gebiet die deutsch-russische Demarkationslinie zu überqueren1. Noch einige deutsche Operationen, die den Rahmen einer »normalen« Kriegs­ führung sprengten, verdienen Erwähnung. Im Freistaat Danzig wurden in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 die polnischen Beamten und Trup­ pen überraschend von Angehörigen der nach ihrem General benannten Brigade Eberhardt angegriffen, die heimlich aus Angehörigen der SA, der SS und der Polizei gebildet worden war2. Südlich des Freistaates hatte Hitler selbst den Plänen für einen Überraschungsangriff auf zwei wichtige Brücken im polnischen Korridor große Aufmerksamkeit geschenkt: die Eisenbahnbrücken bei Dirschau und bei Graudenz, 20 und 80 Kilometer südlich von Danzig. Beide waren ent­ scheidend wichtig, um rasch die Verbindung mit Ostpreußen herzustellen, von wo aus die deutschen Armeen über Warschau hinaus vorstoßen sollten. Es war geplant, die polnischen Garnisonen mit Fallschirmjägern und mit als Bahn­ beamte verkleideten Soldaten zu überraschen. Der Angriff auf Graudenz fand schließlich nicht statt, weil die Erfolgsaussicht zu gering erschien3. Dirschau hin­ gegen wurde angegriffen. Zwölf Mitglieder der SS, welche die Örtlichkeit gut kannten, und eine Pionierkompanie sollten sich der Eisenbahnbrücke in einem Güterzug nähern, dem ein Panzerzug folgen sollte, während gleichzeitig die polnische Garnison bombardiert würde. Der Angriff schlug jedoch fehl, und die Polen konnten die Brücke rechtzeitig sprengen. Wie viele Reichsdeutsche und Volksdeutsche insgesamt an den hier beschriebe­ nen Operationen beteiligt waren, ist nicht bekannt. Es müssen mindestens einige tausend gewesen sein. Angesichts der Art dieser Operationen ist das eine große Zahl und ein Beweis für umfangreiche Tätigkeit. Es sind jedoch keine

deutschen

Angaben

bekannt

geworden,

die

mit

der

Auffassung

im

Widerspruch stehen, daß die große Mehrheit der in Polen lebenden Reichs­ deutschen und Volksdeutschen bis zum Eintreffen der deutschen Truppen eine passive Rolle gespielt haben. Viele der Anzeichen für eine Fünfte Kolonne, die von den Polen beobachtet wurden und die wir im 1. Kapitel geschildert haben, stimmen mit den geheimen Operationen überein, die, wie jetzt aus deutschen Quellen bewiesen ist, tatsäch­ lich geplant und ausgeführt wurden. Die polnischen Quellen jedoch erwähnen auch noch andere Operationen, bei­ spielsweise : Die Deutschen markierten ihre Dächer, strichen ihre Kamine mit bestimmten Farben an, ordneten ihre Heuschober merkwürdig an, mähten ihr Gras »wei­ sungsgemäß« und stampften oder pflügten Figuren in den Boden — alles mit dem 1

KTB-Abwehr, 23. 9. 1939.

2

Landgraf a.a.O., S. 10.

3

Mitteilung General Halders, der von 1939—42 Chef des Generalstabes war.

153

Ziel, den deutschen Streitkräften und besonders der Luftwaffe vorher verabredete Signale zu geben. Die Volksdeutschen zeigten der deutschen Luftwaffe den Weg dadurch, daß sie in ihren Häusern das Licht brennen ließen, daß sie Licht durch die Kamine scheinen ließen, daß sie Streichhölzer anzündeten oder mit Rauch, Spiegeln oder weißem Stoff Zeichen gaben. Die Volksdeutschen gaben sich gegenseitig mittels besonderer Knöpfe, Woll­ jacken oder Halstücher als Agenten zu erkennen. Die Volksdeutschen trieben als Priester und Mönche verkleidet Spionage. Die Volksdeutschen standen mit den deutschen Truppen über zahlreiche Ge­ heimsender in Verbindung, die teils in hohlen Bäumen oder in Gräbern verborgen und teils so klein waren, daß sie in eine Schachtel paßten, die kaum größer war als eine Streichholzschachtel. Es fehlen Beweise dafür, daß diese von den Polen gemachten Beobachtungen tatsächlich auf die Aktionen von Volksdeutschen zurückgehen, die auf irgend­ eine

Weise

mit

deutschen

militärischen

Operationen

Verbindung

hatten.

Ver­

geblich sucht man Beweise dieser Art in dem Buch »The German Fifth Column in Poland«, aus dem wir viele ähnliche Beobachtungen zitiert haben. Über den historischen Quellenwert dieser Veröffentlichung kann man streiten. Mindestens 500 Erklärungen wurden dafür gesammelt1, von denen nur 109, größtenteils in fragmentarischer Form, gedruckt wurden. Diese Erklärungen erscheinen insoweit zuverlässig, als die Zeugen, die ihre Ansicht wiedergeben, tatsächlich erklärt zu haben scheinen, was sie mit eigenen Augen gesehen oder mit eigenen Ohren gehört haben. Es ist jedoch bemerkenswert, daß bei vielen der berichteten Beobachtungen keine bewiesene oder auch nur deutlich sichtbare Verbindung mit den deutschen militärischen Operationen besteht.

1 Die

154

Erklärung Nr. 512 wird auf S. 60 des Buches zitiert.

X

DÄNEMARK UND NORWEGEN 1. DÄNEMARK

Die Deutschen sahen in der Besetzung Dänemarks nicht eine selbständige Operation, sondern nur einen Teil der Besetzung Norwegens. Die Besetzung Nor­ wegens, bei der Luftlandetruppen eine führende Rolle spielen sollten, müßte noch gefährlicher sein als ohnehin schon, wenn Deutschland notfalls nicht imstande wäre, den Kampf in Südnorwegen von den dänischen Flugplätzen in Nordjütland aus zu unterstützen. »Luftwaffe fordert Dänemark. Kräfte bereitstellen!« notierte sich General Halder am 21. März 1940 in seinem Tagebuch. An demselben Tag wurde General von Falkenhorst von Hitler damit beauftragt, einen eingehenden Plan für die Besetzung Dänemarks und Norwegens auszuar­ beiten, nachdem ein kleiner Stab schon seit Mitte Dezember Vorarbeiten geleistet hatte. Acht Tage später konnte er die Grundzüge seines Plans Hitler vorlegen, der ihnen zustimmte, nur daß er, was Dänemark anging, in Kopenhagen eine »reprä­ sentative Gruppe« mit augenscheinlich stärkeren Verbänden zu haben wünschte, als Falkenhorst zunächst für nötig gehalten hatte1. Falkenhorst setzte seine Arbeit fort und bestimmte General von Kaupisch zum Führer der Operationen in Däne­ mark. Die Vorbereitungen wurden unter äußerster Geheimhaltung ins Werk gesetzt. Der deutsche Angriffsplan war die Einfachheit selbst. Dänemark sollte völlig überrascht und die Regierung in Kopenhagen in solchem Maße unter Druck ge­ setzt werden, daß sie sofort kapitulieren würde. Dafür sollte ein Minimum an Truppen verwendet werden, lediglich zwei verstärkte Divisionen und eine Brigade. Mehr als die Hälfte davon, nämlich eine Division und eine Brigade, sollten Jütland bis an dessen Nordspitze innerhalb eines Tages besetzen. Die zweite Division sollte alle strategischen Punkte auf den Inseln Seeland, Fünen und Falster überraschend besetzen. Im Augenblick des Beginns der deutschen Offensive sollte die dänische Regie­ rang zur Kapitulation aufgefordert werden. Am Morgen des Tages, an dem die Operationen beginnen würden, sollte die deutsche Luftwaffe einen Demonstrations­ flug über Kopenhagen ausführen und, falls dieser seine Wirkung verfehlte, die Stadt bombardieren. Der deutsche Botschafter von Renthe-Fink sollte die deutsche Note 1 Jodl:

Tagebuch, 29. 2. 1940. PS-1809, IMT XXVIII, S. 409.

155

genau zur richtigen Stunde überreichen. Er sollte nicht lange vorher angewiesen werden, wie das auch beim Außenminister von Ribbentrop nicht geschehen sollte. Es war natürlich für die Militärs entscheidend zu wissen, wo und wie die Lan­ dungsoperationen stattfinden könnten und wieviel Widerstand von den dänischen Truppen zu erwarten sei. Falkenhorst und Kaupisch fanden viele Angaben bereits in Berlin vor. »Die Unterlagen über Dänemark und dänische Wehrmacht waren gut brauchbar«, schrieb Kaupisch nach dem erfolgreichen Unternehmen, »mußten aber in Einzelheiten ergänzt werden1.« Hierfür wurde die Abwehr herangezogen. Mit Hilfe von Agenten wurde von Ende Februar bis Ende März eine besondere militärische Erkundung Dänemarks ausgeführt. Noch sind nicht alle Agenten der Abwehr bekannt, die »ein V-Mann-Netz« auf dänischem Boden besaß12

. Einige

waren Deutsche, die zwecks Ausführung ihrer Aufträge nach Dänemark kamen und unmittelbar danach nach Deutschland zurückkehrten3. Andere waren dänische Staatsbürger. Nach dem Kriege konnten dänische Behörden die Namen von 16 dieser Agenten feststellen4. General von Kaupisch nannte die Unterlagen, die ihm der deutsche Luftattaché Oberstleutnant Petersen aus Kopenhagen schickte, »besonders wertvoll5«. Es gab jedoch noch andere Anschläge, die auf ihre Ausfüh­ rung warteten, doch wird davon noch zu sprechen sein. Am frühen Morgen des 9. April wurde die Offensive planmäßig eingeleitet. In Nordschleswig überquerten Kolonnen rasch die Grenze. Hier war es vor allem darauf angekommen, die Dänen an der Sprengung einiger Hauptstraßen und Eisenbahnbrücken zu hindern. Zu diesem Zweck entsandte die Abwehr kleine Kommandos, die am 8. April nachts heimlich über die Grenze gingen und die ihnen bestimmten Ziele rechtzeitig erreichen konnten6. Im ganzen gehörten dazu 1 Offizier und 10 Mann7. Ihr Hauptziel jedoch, die Eisenbahnbrücke bei Padborg, war gar nicht zur Sprengung vorbereitet worden; hier war die Aktion der Abwehr völlig überflüssig8. In Nordschleswig lebten etwa 30.000 Volksdeutsche9. 1932 war eine national­ sozialistische Organisation entstanden. Viele wirtschaftliche und kulturelle Orga­ 1 Bericht über die Besetzung Dänemarks am 9. und 10. 4. 1940 und die dabei gemachten Erfahrungen. Vom 30. 4. 1940. — Künftig zitiert als: Kaupisch, Bericht. Dän. Pari. Ber. XII (Dok.), S. 248. 2

Notiz Major Herrlitz’, 11. 4. 1940. Ebenda, S. 203.

3

Leverkühn a.a.O., S. 53/60.

4

Mitteilung von Hauptmann C. J. Villumsen von der Nachrichtenabteilung des dänischen Generalstabes. 5

Kaupisch, Bericht. Dän. Pari. Ber. XII, Dok., S. 248.

6

Ebenda, S. 249 und S. 203.

7

KTB-Abwehr, 9. 4. 1940.

8

Mitteilung Hauptmann Villumsens.

9

Holger Andersen: Le Danemark et la minorite allemande du Slesvig du Nord. In: Le Nord. Kopenhagen 1938. Nr. 1—2, S. 69.

156

nisationen der Volksdeutschen unterstellten sich gegen Ende 1938 der Zentral­ organisation »Deutsche Volksgruppe«, die in politischer Hinsicht von der NSDAP Nordschleswig1 kontrolliert wurde, welche ihrerseits etwa 2000 Mitglieder hatte12 . Diese Entwicklung wurde von Berlin aus gefördert, wo die NSDAP Nordschleswig der Volksdeutschen Mittelstelle unterstand; zwischen diesem Amt und dem streit­ süchtigen Dr. Jens Möller, Führer der kleinen Nazipartei, kam es jedoch zu häufigen Konflikten3. Wir haben bereits erwähnt, daß den Dänen 16 Leute als Agenten der deutschen Spionage bekannt geworden sind. Die meisten von ihnen waren Volksdeutsche4, darunter einige örtliche Führer der deutschen Minderheit5. Ihre Zusammenarbeit mit der Abwehr war Dr. Möller unbekannt. Er kannte auch nicht das Datum der deutschen Invasion, obwohl er und andere Leute zwei Tage früher Gerüchte ver­ nommen hatten, daß etwas im Gange sei6. Die Tatsache, daß aus Deutschland Sonderkommandos entsandt wurden, um ein paar Zerstörungen zu verhindern, scheint die Auffassung zu stützen, daß die Volksdeutschen in Nordschleswig nichts von einer Operation wußten, die Hitler mehr als andere geheimzuhalten wünschte. Trotzdem wurden am Tage der Invasion von diesen Deutschen Dinge getan, welche die Gefühle der Dänen tief verletzten. Viele von ihnen begrüßten die deutschen Truppen mit überschäumender Begeisterung7. Andere erschienen mit geschulter­ tem Gewehr8. Wieder andere9 begannen den Verkehr zu regeln, dänische Waffen einzusammeln oder gar dänische Kriegsgefangene zu bewachen, und an einem Ort wurde ein Mann, der im Verdacht stand, antideutsche Spionage getrieben zu haben, von Volksdeutschen verhaftet. Weiter nördlich in Jütland wurde Esbjerg an der Ostküste im Laufe des Mor­ gens von den Besatzungen einiger deutscher Kriegsschiffe kampflos eingenommen. Dasselbe geschah mit der Brücke, die in der Nähe von Middelfart über den kleinen Belt führt; dort war frühmorgens ein deutsches Bataillon gelandet worden10. Die Hafenstadt Nyborg an der Ostküste der Insel Fünen wurde im Morgen­ grauen des 9. April von einer deutschen Abteilung besetzt, die aus 2 Offizieren, 1

Deutschtum im Ausland 1938, S. 694; 1940, S. 30.

2

Dän. Pari. Ber. XIV-2, Dok., S. 677.

3

Ebenda, S. 647/8, 650.

4

Mitteilung Villumsens.

5

Dän. Pari. Ber. XIV-1, Dok., S. 620 Anm. 3.

6

Ebenda, S. 31/2.

7

Hans Schmidt-Gorsblock: Der neunte April. Apenrade 1943. S. 29/30.

8

Photo in »Danmark under Besättelsen«. Kopenhagen 1946. I, S. 147.

9

Dän. Pari. Ber. XIV-2, Dok., S. 659/60.

10

Walter Hubatsch: Die deutsche Besetzung von Dänemark und Norwegen 1940. Göttingen 1952. S. 96. — Künftig zitiert als: Hubatsch, Besetzung. — Eine vorzügliche Studie, doch ver­ gißt Hubatsch, daß Hitlers Angriff gegen Skandinavien nicht von der allgemeinen Aggressivität geschieden werden kann, die ihn und seine Partei auszeichnete.

157

18 Unteroffizieren und 140 Mann bestand. Sie waren an Bord eines Torpedobootes und zweier Minensuchboote in den Hafen eingedrungen. Das Torpedoboot wurde von dem schläfrigen Posten eines dänischen Kriegsschiffes festgemacht, der keine Ahnung hatte, daß es sich dabei um ein deutsches Schiff handelte. Der deutsche Kommandant eilte in die noch schlafende Stadt und benutzte als Führer einen gerade vorüberkommenden Bahnbeamten. Die Dänen wurden völlig überrascht1. Auch in der kleinen Hafenstadt Korsör auf der Insel Seeland gegenüber von Nyborg hatte der deutsche Plan Erfolg. Dort liefen zwei Dampfer mit deutschen Truppen in den Hafen ein, was dadurch erleichtert wurde, daß alle Navigations­ lichter und Straßenlaternen brannten, worin der deutsche Kommandeur »ein be­ ruhigendes Zeichen dafür, daß man auf der Insel Seeland ahnungslos ist«, er­ blickte. Die dänische Garnison hatte tags zuvor Manöver abgehalten, denen tat­ sächlich eine deutsche Landung in Korsör zugrunde lag. Als die Deutschen wirk­ lich an Land stürmten, schlief die Garnison12 . Dem Angriff auf Gjedser, den dänischen Hafen für die Fährschiffe aus Warne­ münde, hatten die Deutschen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die dortigen Verhältnisse kannte man nicht genau, weshalb ein deutscher Offizier am 30. März 1940 die Hin- und Rückreise als gewöhnlicher Passagier auf der Fähre unternahm und auf diese Weise Gjedser mit bloßem Auge und mit dem Fernrohr betrachten konnte. Am 1. April meldete er nach Berlin, daß die Dänen »einen ahnungslosen, recht bequemen, fast langweiligen Eindruck« machten3. Am Abend des 8. April sollten die Angestellten und Zollbeamten auf der däni­ schen Fähre, die von Warnemünde auslief, durch Offiziere der Abwehr4 interniert werden. Einige Stunden später wurden die Telefonverbindungen von Gjedser nach Norden von einem deutschen Kommando zerstört, das aus einem Offizier und vier Mann bestand und von Warnemünde aus geradewegs nach der dänischen Küste gefahren war5. Fast gleichzeitig liefen die beiden gewöhnlichen deutschen Fähren, die »Mecklenburg« und die »Schwerin«, mit Hilfe der wie üblich brennenden Leuchtfeuer in den Hafen von Gjedser ein, als ob alles in Ordnung sei. Sie machten fest, und alsbald sprangen schwerbewaffnete Deutsche an Land, die teilweise in Militärlastwagen nach der langen Brücke bei Vordingborg fuhren. Dort landeten mehr als eine Stunde später deutsche Fallschirmjäger. Um 5.45 Uhr morgens be­ fand sich die Brücke in deutscher Hand. Erst eine Viertelstunde vorher waren die ersten dänischen Soldaten auf der Straße erschienen und hatten ihre Fahrräder bestiegen. Die deutschen Wagen waren schneller6. 1

Bericht Hauptmann Kanzlers, 14. 4. 1940. Dän. Pari. Ber. XII (Dok.), S. 210—12.

2

Bericht Oberleutnant Schultz’, 17. 4. 1940. Ebenda, S. 225/9.

3

Bericht Erfurths, 30. 3. 1940. Ebenda, S. 111/2.

4

Befehl des OKW, 3. 4. 1940. Ebenda, S. 140/1.

5

KTB-Abwehr, 9. 4. 1940.

6

Bericht Oberstleutnant Bucks, 10. 4. 1940. Dän. Pari. Ber. XII (Dok.), S. 197/8.

158

Der Überraschungsangriff auf Kopenhagen stand in den deutschen Plänen voran. Dort sollten alle wichtigen Punkte so schnell und so unwiderruflich genommen werden, daß jedes Verlangen der dänischen Regierung, Widerstand zu leisten, im Keim erstickt würde. Ein Bataillon und einige technische Einheiten sollten auf dem Wasserwege nach der »Langelinie«, dem der Stadt nächstgelegenen Kai, ge­ bracht werden. Die Deutschen mußten genau wissen, wo die »Hansestadt Danzig«, die das Bataillon transportieren sollte, festgemacht und wie die Zitadelle erstürmt werden könnte. Außerdem war entscheidend wichtig, daß sie alsbald in der Zita­ delle, wo das vorläufige deutsche Hauptquartier eingerichtet werden sollte, eine Funkstation zur Verfügung haben würden. Diese benötigte man für die Verbin­ dung mit Deutschland, aber ganz besonders auch, um die erwartete Nachricht von der Kapitulation öffentlich bekanntgeben zu können. Die von der Abwehr gelieferten Angaben über die Lage um den Hafen und das Port enthielten nicht genügend Einzelheiten. Daher erhielt der Bataillonskomman­ deur Major Glein, dessen Truppe den Angriff übernehmen sollte, Befehl, eine gründ­ liche Erkundung vorzunehmen. Am Spätnachmittag des 4. April 1940 reiste er mit dem planmäßigen Flugzeug der Lufthansa nach Kopenhagen, wo er um 9 Uhr eintraf. Er hatte die Papiere eines Beamten. Es schneite, und nur wenige Leute waren auf der Straße. Noch am selben Abend besichtigte Major Glein den Kai und die dorthin führen­ den Straßen gründlich. Ein Polizist fragte ihn, was er dort zu suchen habe. Er sagte, er habe sich verirrt, wurde zur Straßenbahnhaltestelle geleitet, kehrte aber, als der Polizist verschwunden war, in den Hafen zurück, um die Straße nach der Zitadelle gründlich zu betrachten. Um halb ein Uhr nachts traf er in seinem Hotel ein. Um acht Uhr am nächsten Morgen war er wieder am Hafen. Dann ging er an dem Posten vorüber in das Fort. Wir folgen ihm: »Zur Tarnung schlug ich zunächst den Weg nach der Kirche ein. Dort angekom­ men stellte ich fest, daß die Kirche verschlossen war. Dieser Vorgang wurde von einem dänischen Sergeanten, der gleichzeitig an der Kirche vorbeiging, bemerkt. Der Sergeant kam dann auf mich zu und frug mich, ob ich in die Kirche wolle. Als ich ihm dies bejahte, sagte er mir, daß die Kirche nur sonntags geöffnet sei. Nach einer weiteren kurzen Unterhaltung bat ich dann den Sergeanten, ob er mir nicht die Sehenswürdigkeiten der alten Zitadelle zeigen und erklären könne. Meiner Bitte kam der Sergeant bereitwilligst nach. Als erstes wurde ich von ihm in die Korporals­ messe geführt, wo ich mit ihm ein Glas Bier trank. Gleichzeitig erzählte er mir dann einiges über die Zitadelle, ihre Belegung und militärische Bedeutung. Nachdem ich das Bier mit ihm getrunken hatte, zeigte er mir dann die Generalswohnungen, die verschiedenen Kontore, die Fernsprechzentrale, die Wachen und die alten Tore am Süd- und Nordeingang. Als ich alles gesehen hatte, was für mich von Wich­ tigkeit war, verabschiedete ich mich von dem Sergeanten1.«

Am Nachmittag des 5. April flog Major Glein nach Berlin zurück. Am 7. April 1 Bericht

Major Gleins, 15. 4. 1940. Ebenda, S. 216/8.

159

begaben sich zwei andere Deutsche mit dem gewöhnlichen Passagierflugzeug nach Kopenhagen. Der eine war Legationssekretär Dr. Schütter, der als diplomatischer Kurier reiste. In seiner Tasche befanden sich die versiegelten Anweisungen für Botschafter von Renthe-Fink. Der andere war Generalmajor Himer, Chef des Stabes bei General von Kaupisch. Himer reiste als hoher Beamter. Seine Uniform befand sich in dem Diplomatengepäck von Dr. Schlitter. Am 8. April, dem Tag vor der Landung, unternahm General Himer zusammen mit dem Luftattaché Oberst Petersen eine neue Erkundung in der Nähe des Hafens. Das Eis war verschwunden. Es lagen viele Schiffe im Hafen, doch hörte Petersen, daß zwei von ihnen im Laufe des Tages auslaufen würden, so daß es am Kai mehr Platz geben würde. Sie betrachteten noch einmal die Zitadelle und kamen zu dem Schluß, daß es leicht sein würde, von der Südostecke aus einzudringen. Ihre Feststellungen wurden eiligst in einem Chiffre-Telegramm nach Berlin gemeldet1. Nur ein Problem war noch ungelöst: Wie würde man am frühen Morgen den schweren Rundfunksender einige hundert Meter weit von der Langelinie nach dem Kastell tragen können? Himer bat den deutschen Reserveoffizier von Zimmer­ mann, der in Kopenhagen wohnte, zu sich und teilte ihm mit, daß früh am näch­ sten Morgen ein deutsches Schiff an der Langelinie anlegen würde, »um einige Kisten abzuladen2«. Würde es ihm wohl möglich sein, mit vier zuverlässigen Parteimitgliedern und einem Lastwagen um vier Uhr morgens in den Hafen zu kommen? Und könnte nicht vielleicht einer von ihnen unmittelbar danach in die Artilleriekaserne eilen, um zu sehen, ob dort Alarm gegeben würde? In diesem Falle müsse Oberstleutnant Petersen gewarnt werden. Die Angelegenheit sei streng geheim. Sollten sie auf eine dänische Polizeistreife stoßen, so müsse diese aus dem Wege geräumt werden. Zimmermann übernahm den Auftrag. Zufällig hatte er unmittelbar anschlie­ ßend eine Verabredung mit einem Funktionär der Ortsgruppe Kopenhagen der Auslandsorganisation, Werner Thiele. Diesen fragte er, ob er sich im Hafen ein­ stellen und den Besuch der Artilleriekaserne übernehmen könne. Thiele hielt das für ein riskantes Unternehmen. Sollte die Sache schiefgehen, so würde es minde­ stens das Verbot der NSDAP in Dänemark zur Folge haben. Er wagte nicht, sich ohne Zustimmung des Landesgruppenleiters Schäfer zu entscheiden3. Zimmer­ mann besuchte daher Schäfer, welcher selbst gerade krank gewesen war und daher nicht mitmachen konnte. Schäfer gab ihm jedoch vier Namen an, darunter auch Thiele. Botschafter Renthe-Fink wurde um elf Uhr abends unterrichtet. Dr. Schlitter übergab ihm den Briefumschlag mit den Anweisungen, und General Himer er­ 1

Bericht Oberarchivrat Goes 12. 8. 1940. Ebenda, S. 261/2.

2

Ebenda.

3

Brief Thieles an Schäfer, 12. 4. 1940. Dän. Pari. Ber. II (Dok.), S. 243.

160

läuterte die Pläne. Der Botschafter »war völlig überrascht1«, aber »hat sich in ausgezeichneter Weise rasch in seine schwere Aufgabe hineingefunden2«. Einer von den vier Parteimitgliedern, die Zimmermann ausgewählt hatte, be­ mächtigte sich eines Lastwagens der deutschen Kohlenfirma, bei der er arbeitete, ohne daß die Geschäftsleitung davon wußte, und fuhr damit kurz vor vier Uhr in den Hafen. Kein Polizist war zu sehen. »Alles schlief und alles war ruhig in Kopen­ hagen3«. Zimmermann und Thiele erschienen ebenfalls. Thiele hatte dafür gesorgt, daß sich in seinem Hause keinerlei Parteikorrespondenz befand4. Was eigentlich geschehen sollte, wußten sie nicht genau; als aber um 4.20 Uhr ein Schiff an der Langelinie festmachte und bewaffnete Deutsche an Land sprangen, »wurden unsere Vermutungen Wirklichkeit«, wie einer von ihnen später schrieb. Dieser deutsche Staatsangehörige schrieb von sich selbst, er sei »glücklich, daß ich aktiv an der Besetzung Kopenhagens teilnehmen durfte5«. Die »Hansestadt Danzig« hatte unter Führung des deutschen Eisbrechers »Stettin« ungehindert in den Hafen einlaufen können. Sie war von dem großen Fort an der Hafeneinfahrt beobachtet und mit einem Scheinwerfer angestrahlt worden. Die Dänen hatten einen Warnungsschuß abgeben wollen, aber infolge tech­ nischer Schwierigkeiten die Granate nicht in den Geschützlauf bringen können6. Die Polizeiwache und das Zollhaus am Hafen wurden von den Deutschen inner­ halb von fünf Minuten genommen. Das nördliche Tor der Zitadelle, das der Lange­ linie am nächsten lag, war geschlossen, wurde jedoch aufgesprengt. Das südliche Tor war offen. Die Deutschen stürmten durch beide Tore hinein, überraschten die Wache, zertrümmerten die Telefonzentrale und waren zehn Minuten nach der Landung Herren des Kastells. Die überraschten dänischen Soldaten, denen das alles völlig unversehens gekommen war, wurden entwaffnet und in einem Keller der Zitadelle eingeschlossen. Der Chef des dänischen Generalstabes, der dänische Innenminister und der britische Handelsattache, die auf der Straße verhaftet worden waren, wurden ebenfalls dorthin gebracht. Ein schwacher Angriff der Wache des königlichen Schlosses Amalienborg wurde abgeschlagen7. Zimmermann hatte inzwischen den Sender in die Zitadelle gebracht, wo er bald betriebsfertig gemacht wurde. Thiele fuhr in einem Taxi nach der Artilleriekaserne, deren Adresse er am Abend vorher im Adreßbuch nachgeschlagen hatte, ging dort bis halb sieben auf und ab, konnte aber nichts Beunruhigendes entdecken8. Infolge

11

1

Hubatsch: Besetzung, S. 142.

2

Dän. Pari. Ber. XII (Dok.), S. 262.

3

Brief Sporns’ an Thiele, 20. 4. 1940. Dän. Pari. Ber. III (Dok.), S. 254/5.

4

S. Anm. 348.

5

S. Anm. 351.

6

Hubatsch: Besetzung, S. 98.

7

Bericht Gleins a.a.O., S. 220/3.

8

S. Anm. 348.

161

der Unaufmerksamkeit der Dänen hatte General Himer inzwischen noch um sechs Uhr morgens ungestört mit General von Kaupischs Hauptquartier telefonieren können1. Daher hatte er Anweisung geben können, daß ein Bombengeschwader die dänische Regierung unter Druck setzen solle. Diese kapitulierte kurz nach halb sieben Uhr. Der Rimdfunksender Kalundborg arbeitete noch nicht, doch konnten die Deutschen die Nachricht von der Kapitulation unmittelbar über den Sender in der Zitadelle bekanntgeben. Deutsche Techniker, die mit dem Bataillon einge­ troffen waren, besetzten die Funkstationen und das Hauptpostamt12 . Angehörige der

Propagandastaffel

übernahmen

die

Nachrichtenagenturen

und

die

Presse3.

4

Ein Offizier und fünf Mann von der Abwehr , die ebenfalls an Bord der »Hanse­ stadt

Danzig«

nach Kopenhagen gekommen

waren, versuchten, britische und

französische Agenten zu verhaften5. Kurzum, das Programm, das unmittelbar nach dem Überraschungsangriff ausgeführt werden sollte, lief rasch ab. Auf dänischer Seite gab es 36 Soldaten als Tote oder Verwundete6, auf deutscher Seite »etwa zwanzig7«. General von Kaupisch konnte nach Abschluß der Opera­ tionen allerdings feststellen, daß die Bevölkerung und die Streitkräfte Dänemarks völlig überrascht worden seien: »Das deutsche Tempo benahm ihnen den Atem8«. Über keine andere deutsche Offensive sind wir so gut unterrichtet wie über die in Dänemark. Der hier wiedergegebene Bericht bietet, so scheint uns, eine be­ friedigende und logische Erklärung für die völlige Überraschung, die den Deut­ schen gelang, und für den überwältigend schnellen Erfolg, den sie errangen. Die Hypothese, daß an dem Angriff auf Dänemark eine umfangreiche Fünfte Kolonne beteiligt gewesen sei, ist überflüssig und findet in keinem der zahlreichen Doku­ mente eine Unterstützung, welche die Untersuchungskommission des dänischen Parlaments veröffentlicht hat. Die Zahl der deutschen Staatsangehörigen, die 1940 in Dänemark lebten, ist nicht genau bekannt. 1930 waren es 9400, von denen mehr als 3000 in Kopenhagen lebten9. Schäfer schätzte, daß im April die Zahl der deutschen Staatsangehörigen über 15 Jahre — möglicherweise meinte er nur die männliche Bevölkerung — in Kopenhagen und auf den Inseln Seeland, Falster und Laaland etwa 1500 betrug. 1

Bericht Goes. a.a.O.

2

Bericht Gleins a.a.O., S. 223.

3

Bericht der Propagandastaffel D(änemark), 11. 4. 1940. Ebenda, S. 205/6.

4

Befehl Generalmajor Himers vom 5. 4. 1940. Ebenda, S. 153.

5

Mitteilung v. Lahousens.

6

Hubatsch: Besetzung, S. 94.

7

Bericht Goes a.a.O., S. 263.

8

Bericht Kaupisch. Ebenda, S. 251.

9 Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Breslau 1936-41. II, S. 78. Künf­ tig als HWB zitiert. Ein wertvolles Handbuch, dessen Vorarbeiten 1925 begonnen haben. Fast 850 Gelehrte waren daran beteiligt. Leider waren bei Zusammenbruch des Dritten Reiches erst zwei Bände (A-Fugger) erschienen.

162

Von diesen waren 120 Mitglieder der Auslandsorganisation1. Ein Beweis dafür, daß diese Leute die deutschen Operationen, abgesehen von dem Überraschungs­ angriff auf Kopenhagen, auf irgendeine Weise unterstützt haben, liegt nicht vor. Ebensowenig gibt es Beweise dafür, daß die Fragen, welche Schäfer 1935 Mit­ gliedern des Landeskreises vorlegte (beispielsweise: Besitzen Sie ein Auto? Haben Sie eine Schreibmaschine? Können Sie stenographieren?), eine halbmilitärische Ge­ heimsprache darstellten, die mit irgendeinem deutschen Angriffsplan zu tun hatte. In einem Privatbrief, den Schäfer nach dem Angriff geschrieben hat, beklagt er sich über die törichten Schlußfolgerungen, die manche Leute aus seinen Fragen gezogen hatten12 . Die von den Dänen geäußerte Vermutung, daß General von Kaupisch »im November und Dezember 1939 unter falschem Namen in Dänemark weilte3«, wird nirgends bestätigt. Dasselbe gilt von ihrer Behauptung, die Gründung deut­ scher Kaffeehäuser in Kopenhagen habe »in größerem oder geringerem Umfang« dazu gedient, politische, wirtschaftliche und militärische Spionage für Deutschland zu ermöglichen4. Was das Vergiften von Wasserleitungen in Nordschleswig angeht, so ist nichts bewiesen worden. Schließlich ist auch das allgemein verbreitete und geglaubte Ge­ rücht, daß deutsche Soldaten in den Laderäumen von Schiffen versteckt worden seien, die schon längere Zeit in Kopenhagen gelegen hatten, nirgends bestätigt worden. Hätte man sich dieser Kriegslist bedient, dann wäre sie fast sicher in den militärischen Geheimberichten erwähnt worden. Kein Deutscher dachte damals daran, daß die von ihm geschriebenen Berichte jemals in die Hände von Deutsch­ lands Gegnern fallen könnten.

2. NORWEGEN Auf deutscher Seite kam die erste Anregung zu dem Angriff auf Norwegen aus hohen Marinekreisen. Dort kam jemand beim Studium des ersten Weltkrieges zu dem Ergebnis, daß Deutschland den Seekrieg mit größerer Erfolgsaussicht hätte führen können, wenn es an der norwegischen Küste Stützpunkte besessen hätte und wenn es die Engländer hätte daran hindern können, bis vor die norwegische Küste Minensperren zu legen. Der Befehlshaber Nordsee Admiral Carls war für diesen Gedanken besonders zu haben. Er unterbreitete ihn dem Oberbefehlshaber 1

Karl Moeller: Hinter den Kulissen der dänischen antisemitischen Agitation. Apenrade (1936 oder 1937). S. 20. 2 Anlage 2 zum Brief vom 25. 4. 1940 von Schäfer an den Stabsamtsleiter der Auslandsorga­ nisation der NSDAP. Dän. Pari. Ber. III (Dok.), S. 268. 3 Denkschrift der dänischen Regierung an das Internationale Militär-Tribunal in Nürnberg. D-628, IMT XXXV, S. 192. 4

Ebenda, S. 193/4.

163

der Kriegsmarine Admiral Raeder, der den Gedanken wichtig genug fand, um ihn Hitler vorzutragen. Das geschah am 10. Oktober 1939. »Dem Führer leuchtete sofort die Bedeutung des Norwegenproblems ein; er erklärte, er wolle sich mit der Frage beschäftigen1.« Innerhalb der deutschen Marine bestand jedoch über die Wünschbarkeit einer solchen Operation keine Einigkeit. Raeder blieb fest. Er sicherte sich die Unter­ stützung des deutschen Marineattachés in Oslo, Korvettenkapitän Schreiber. Auf diesem Wege und ferner über das Außenpolitische Amt der NSDAP kam er mit Vid­ kun Quisling in Verbindung und mit Albert Viljam Hagelin, der einer von Quislings engsten Mitarbeitern und seit Jahren sein geheimer Vertreter in Deutschland war12 . Schon im Dezember 1930 bat Quisling, der damals noch norwegischer Vertei­ digungsminister war, einen deutschen Nationalsozialisten, der sich gerade in Oslo auf hielt, er möge ihn insgeheim mit den Führern der NSDAP in Verbindung bringen. Diese wollten jedoch nichts mit ihm zu tun haben3. 1933 gründete Quisling seine eigene Bewegung »Nasjonal Samling«, und es besteht Grund zur Annahme, daß etwa von jener Zeit an Himmler und die Abwehr4 eine gewisse Fühlung mit ihm hatten. Einzelheiten darüber liegen nicht vor, hingegen wissen wir mehr über Rosenbergs Verbindung zu Quisling. Rosenberg, der im Baltikum geboren war, hatte sich schon früh für die skandi­ navischen Länder interessiert. 1933 empfing er zum erstenmal Quisling zu einem kurzen Gespräch5. 1933 richtete er eine Denkschrift an Hitler, in der er auf »die politisch-strategische Wichtigkeit Norwegens« hinwies6. Durch seinen Privat­ sekretär blieb er in Verbindung mit Quisling, der im Frühsommer 1939 nach Berlin kam, um Rosenberg zu warnen, daß Großbritannien im Falle eines Krieges wahr­ scheinlich versuchen würde, Skandinavien zu besetzen. Rosenberg glaubte, Göring könne sich vielleicht für Quislings Erklärung interessieren; es gelang ihm, eine Zusammenkunft zwischen dem Norweger und einem von Görings engsten Mitarbeitern zu arrangieren, bei der Quisling um eine Unterstützung von 6 Millionen Reichsmark bat.7 Rosenberg selbst warnte Hitler und schickte seinen Mitarbeiter Scheidt vom Außenpolitischen Amt auf eine »Ferienreise« nach Norwegen; über seine »Beobachtungen« dort verfaßte Scheidt einen Bericht. Quisling hatte ange­ fragt, ob einige seiner führenden Parteimitglieder in dem Schulungshaus des Außen­ politischen Amtes an einem Lehrgang teilnehmen dürften. Rosenberg erfüllte diese Bitte, und so wurde im August 1939 für 25 Mitglieder von Nasjonal Samling 1 Denkschrift Admiral Raeders an Admiral Assmann, 30. 1. 1944. C-066, IMT XXXIV, S. 281. Künftig zitiert als: Raeder an Assmann. 2

Aktennotiz von Rosenberg an Hitler, 22. 7. 1940. PS-992.

3

Brief Max Pferdekämpfers an Himmler, 19. 11. 1932. (Sammlung Skodvin.)

4

Auskünfte von Himmlers Arzt Felix Kersten und v. Lahousens.

5

Aussage Rosenbergs. IMT XI, S. 455.

6

Alfred Rosenberg: Tagebuch, 11. 4. 1940.

7

Norw. Pari. Ber. Beiheft I, S. 13.

164

ein Lehrgang veranstaltet1. »Ihnen wurde beigebracht, wie sie wirksamere Propa­ ganda machen könnten12 .« Um die Zeit des Kriegsausbruchs im September 1939 suchte Hagelin Rosenberg auf, um ihn zu warnen, daß die Alliierten in Skandinavien ein Unternehmen planten3. Als nach dem Ausbruch des finnisch-russischen Krieges die Spannung in ganz Skandinavien zunahm und die öffentliche Meinung in England und mehr noch in Frankreich verlangte, daß den Finnen ein Expeditionskorps zu Hilfe käme, wuchs in Berlin die Bereitschaft, Quisling und Hagelin Gehör zu schenken. Quisling war klar, daß er die militärische Unterstützung der Deutschen benö­ tigte, um in Norwegen an die Macht zu kommen. Er glaubte, eine Anzahl von hohen Offizieren würde, wenn er erst einmal an der Macht wäre, zur Zusammen­ arbeit mit ihm bereit sein, und sogar der König würde ein Fait accompli hinneh­ men. Wie sollte er aber an die Macht kommen? Sein Plan ging dahin, eine Anzahl von sorgfältig ausgesuchten Mitarbeitern in Deutschland ausbilden zu lassen und sie dann zusammen mit einigen erfahrenen deutschen Parteigenossen nach Norwegen zu­ rückzuschmuggeln. Dann würden sie überraschend alle strategischen Schlüssel­ stellungen in Oslo besetzen; er, Quisling, würde das Amt des Ministerpräsidenten an sich reißen und — wie einst in Wien Seyß-Inquart — deutsche Hilfe herbeirufen. Wenn zu jenem Zeitpunkt ein deutsches Geschwader mit Truppen an Bord zur Ein­ fahrt in den Oslo-Fjord bereit läge, könnte der Staatsstreich Erfolg haben, ehe noch irgend jemand in Norwegen, Großbritannien oder Frankreich wußte, was geschah4. Es gibt Anzeichen dafür, daß Quisling sich schon seit einiger Zeit um Unter­ stützung für diesen Plan bemüht hatte5. Am 10. Dezember, anderthalb Wochen nach Ausbruch des finnisch-russischen Krieges, reiste er nach Berlin und wohnte in Rosen­ bergs Schulungshaus. Mit einer Einführung von Rosenberg und in Begleitung Hagelins besuchte er am 11. Dezember Admiral Raeder. Dieser kannte Rosenberg nur flüchtig und hatte von Quisling überhaupt noch nichts gehört, erklärte sich aber bereit, ihn anzuhören6. Quisling schilderte seine Absichten. Ihm zufolge hatte die norwegische Regierung beschlossen, die Wahlen zu verschieben. Die Lebensdauer des Parlaments, die am 11. Januar 1940 enden sollte, würde um ein Jahr verlängert werden. Das wäre die gegebene Zeit für den Staatsstreich. Er machte viel Aufhebens von seinen Anhängern in hohen Stellungen, beispielsweise bei der Eisenbahn. 1

Rosenbergs Bericht, 17. 6.1940: Die politische Vorbereitung der Norwegen-Aktion. PS-004 IMT XXV, S. 26/7. Künftig zitiert als: Rosenberg, Norwegen-Aktion. 2

S. Anm. 374.

3

Rosenberg. Norwegen-Akten a.a.O.

4 Am deutlichsten wird dieser Plan in Rosenbergs undatierter Aufzeichnung »Besuch des Staatsrats Quisling-Norwegen«. C-065, IMT XXXIV, S. 273/5. 5

Am 11. 12. 1939 schreibt Rosenberg in sein Tagebuch, Quisling habe ihm den Plan »noch­ mals« vorgelegt, und am 19.12., daß Quisling seinen Plan »verschiedenen« Leuten vorgetragen habe. 6

Aussage Raeders. IMT XIV, S. 92.

165

Raeder hörte ihn an, traute jedoch dem Norweger nicht ganz. Am nächsten Tage brachte er den Plan zu Hitlers Kenntnis und bemerkte dazu, »daß man bei solchen Angeboten nie wissen kann, wieviel die betreffenden Personen die eigenen Parteiabsichten fördern wollen und wie weit ihnen die deutschen Interessen wirk­ lich am Herzen lägen. Daher Vorsicht geboten«. Eine britische Besetzung Nor­ wegens müsse auf jeden Fall verhindert werden1. Hitler hörte sich das an. Da er mit den Plänen für die große Offensive an der Westfront beschäftigt war, stimmte er einer Ausweitung des Kriegsschauplatzes nach Skandinavien nicht sofort zu. Immerhin war ihm Quislings Erklärung, daß prominente

Norweger

aktiv

für

künftige

britische

Landungen

einträten,

nicht

gleichgültig. Es erschien ihm politisch zweckmäßig, Quisling in die Hand zu be­ kommen und einstweilen die Ausführbarkeit des Planes zu untersuchen. Hierzu entschloß er sich grundsätzlich am 13. Dezember. Das Oberkommando der Wehr­ macht sollte die Angelegenheit prüfen12 . Hier muß nun betont werden, daß die deutschen Militärs kein Zutrauen zu Quislings Operationen hatten. Sie hielten Rosenberg für einen Narren, und Hitler hatte ihnen nicht befohlen, mit Quisling zusammenzuarbeiten, sondern lediglich die Durchführbarkeit von dessen Plänen zu prüfen. Bald ergaben sich ernsthafte Zweifel. General Halder sagte, Quisling habe niemand hinter sich3. Der Marine­ stab blieb skeptisch. Der wichtigste Einwand aber war: wie konnte eine solche Operation, bei der es in erster Linie auf die Verschwiegenheit aller Beteiligten an­ kam, geheimgehalten werden, wenn daran so viele Norweger teilnehmen sollten, für deren Integrität allein Quisling gutsagen konnte4? Würde das Vorhaben scheitern, so würde Deutschland damit wahrscheinlich den Krieg verlieren. Der Plan

wurde

nicht

weiter

ernstlich

ausgearbeitet.

Die

militärischen

Fachleute

hielten die Operation für zu riskant5. Der Beschluß, den Plan nicht auszuführen, wurde Rosenberg nicht mitgeteilt. Ihn und seine Mitarbeiter benutzten Hitler und die Generäle, um Quisling bei der Stange zu halten. Dieser bekam Geld. Scheidt besuchte Oslo abermals am 19. Januar 1940 und hatte »das Nötige« bei sich6. Vier Wochen später hatte Quisling bereits 100.000 Reichsmark in britischen Pfunden erhalten7. 1 Anmerkung Raeders zu seinem Bericht an Hitler, 12. 12. 1939. C-064, IMT XXXIV, S. 271/2. 2 Raeder an Assmann, S. 281. Jodis Tagebuch, 13. 12. 1939 in: Die Welt als Geschichte. XIII, 1 S. 62. 3

Halder: Tagebuch, 1. 1. 1940.

4

Raeder an Assmann, S. 281.

5

Hubatsch: Besetzung, S. 25/6.

6

Rosenberg: Tagebuch, 19. 1. 1940.

7

Scheidts Bericht über seinen Aufenthalt in Norwegen vom 20. 1.—20. 2. 1940. Documents on German Foreign Policy 1918-1945, Series D, Volume VIII, S. 757. Künftig zitiert als: Doc. Ger. For. Pol. D.

166

Inzwischen hatte das Oberkommando der Wehrmacht sich an die Vorbereitung eines rein militärischen Operationsplanes gemacht. Es entstand ein Entwurf nach dem andern. Am 27. Januar 1940 befahl Hitler jedoch, daß die Angelegenheit von einem kleinen, unmittelbar dem Führerhauptquartier verantwortlichen Stab schneller bearbeitet würde1. Er hatte jedoch noch keineswegs beschlossen, ob der Plan ausgeführt werden solle. Drei Wochen später drang der britische Zerstörer »Cossack« in die norwegischen Küstengewässer ein, um britische Kriegsgefangene auf dem deutschen Dampfer »Altmark« zu befreien. Diesen Zwischenfall benutzten Hitler, erst recht aber Rosenberg, Quisling und Hagelin als Beweis dafür, daß Großbritannien und Frank­ reich, falls es ihnen nützen würde, nicht einen Augenblick zögern würden, Nor­ wegen zu besetzen. Es lagen Anzeichen dafür vor, daß eine solche Besetzung be­ reits beschlossen worden war. Hagelin teilte Scheidt mit, er wisse sicher, daß Nor­ wegen sich nicht widersetzen würde. Rosenberg übermittelte diese Nachricht eiligst an Hitler. Hitler sagte ihm am 19. und nochmals am 29. Februar, daß er den »politischen Plan der Norweger« nicht mehr unterstütze, aber andererseits bereit sei, ihnen mehr Geld zu geben12 . Admiral Raeder schrieb später: »Im Auftrage Quislings drängte Hagelin mehr­ fach darauf, man solle Quisling rechtzeitig einen Sturmtrupp geben, mit dessen Hilfe er alsbald die Macht erobern und dann mit Zustimmung des Königs eine neue Regierung einsetzen könnte. Diesem Ersuchen konnte leider nicht entspro­ chen werden, da Quisling und Hagelin befehlsgemäß nicht von dem Zeitpunkt der Operation und deren nahem Bevorstehen unterrichtet werden durften3«. Es trifft zu, daß Rosenbergs Vertrauensmann Scheidt am 5. Januar 1940 be­ richtete, Quisling wähle jetzt »aus seinen Sturmabteilungen eine angemessene Zahl zuverlässiger Männer aus, die für eine eventuelle Überraschungsaktion in Betracht kommen4«. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, daß Quisling einen solchen Stoß­ trupp geschaffen hat. Scheidt ist während seines Aufenthalts in Norwegen über­ haupt nicht mit Quisling zusammengekommen, dessen Namen Hagelin benutzte, um seine eigenen ehrgeizigen Pläne zu fördern. Jede von ihm vorgeschlagene Ein­ zelheit wurde von Scheidt in seinen Berichten nach Berlin ausgeschmückt, deren Inhalt mit großer Vorsicht aufgenommen zu werden verdient5. Hitler beschleunigte das Tempo. Am 21. Februar befahl er General von Falken­ horst zu sich, der gegen Ende des ersten Weltkrieges in Finnland gekämpft hatte. 1

KTB-Seekriegsleitung, 29. 1. 1940. Dok. Woermann Nr. 24.

2

Rosenberg: Tagebuch, 19. u. 29. 2. 1940.

3

Beitrag zum KTB des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, 22.4.1940. Führer Conferences on Naval Affairs 1940. London 1947. S. 39. — Künftig zitiert als: Führer Conferences. Absatz 1 dieses Stückes ist Dokument C-071. 4

Doc. Ger. For. Pol., D VIII, S. 626.

5

Auskunft von Magne Skodvin, Mitglied des Instituts für Norwegische Geschichte in Oslo, und von Sverre Hartmann in Oslo.

167

Das war fünf Tage nach dem Zwischenfall mit der »Altmark«. Hitler sagte ihm, er halte für möglich, daß Deutschland demnächst Norwegen besetzen müsse. Wie lasse sich eine solche Operation ausführen? Falkenhorst solle am Nachmittag mit endgültigen Vorschlägen wieder zu ihm kommen. Er könne damit rechnen, daß er fünf Divisionen zur Verfügung haben werde. Der deutsche General verließ die Reichskanzlei. Er selbst erzählte nach dem Kriege: »Ich ging in die Stadt und kaufte mir einen Baedeker, um festzustellen, wie Norwegen aussieht. Ich hatte keine Ahnung und mußte ausfindig machen, welches die Häfen waren, wie viele Einwohner es hatte und was das überhaupt für ein Land war. Von der ganzen Sache hatte ich keine Ahnung1«. Mit dem Baedeker — einer anderen glaubwürdigen Darstellung zufolge kaufte Falkenhorst Baedeker von verschiedenen Ländern, um nicht den Verdacht des Buchhändlers zu erwecken12 — ging der General in sein Hotel, betrachtete die Land­ karten, erwog und bedachte und konnte nachmittags um fünf Uhr einen Plan vor­ legen, dessen Grundlage ein gleichzeitiger Überraschungsangriff auf alle wichti­ geren Häfen war. Die Grundzüge des Planes waren folgende: Narvik, Trondhijem, Bergen, Stavanger, Kristiansand und Oslo sollten am frühen Morgen eines künfti­ gen Tages besetzt werden. In Oslo würde Falkenhorst unter Vorantritt einer Militärkapelle zum königlichen Schloß marschieren, um dem König ein Ständchen zu bringen3. Auf den Flugplätzen von Oslo und Stavanger sollten Luftlandetrup­ pen landen. Deutsche Kriegsschiffe mit Truppen an Bord sollten in alle Häfen ein­ dringen. Schwere Waffen und Vorräte würden nicht von den bereits überlasteten Kriegsschiffen mitgenommen werden, sondern sollten, von Kohlen zugedeckt, auf sieben als Neutrale getarnten Frachtschiffen so vorausgeschickt werden, daß sie am Vorabend an ihrem Bestimmungsort einträfen: eines in Stavanger, je drei in Narvik und Trondhijem und ein achtes Schiff, der Tanker »Jan Wellern«, sollte von »Basis Nord«, einem deutschen Flottenstützpunkt in der Nähe von Murmansk, nach Narvik geschickt werden. Wenn die Häfen und Flugplätze besetzt worden waren, konnten in Reserve gehaltene Truppen ins Land gebracht werden. Es würde eine sehr riskante Operation sein. Alle in Frage stehenden Häfen waren durch Befestigungen geschützt. Ein großer Teil der Flotte, die der britischen weit unterlegen war, würde hin und zurück Spießruten laufen. Absolute Geheim­ haltung war daher wesentlich. Die Kommandeure der Truppen konnten erst im letzten Augenblick unterrichtet werden. Es ist nicht bekannt, ob Hitler ausdrücklich befahl, die Auslandsorganisation von diesen Plänen genau so wenig zu unterrichten wie Quisling und Hagelin. Tat­ sächlich jedoch findet sich in den zahlreichen militärischen Urkunden über Vor­ kehrungen oder Ausführung des Planes nicht einmal eine Erwähnung der norwegi­ 1

Vernehmung v. Falkenhorsts am 24.10.1945. Dän. Pari. Ber. XII (Dok.), S. 284.

2

Bernhard von Lossberg: Im Wehrmachtsführungsstab. Hamburg 1949. S. 60.

3

Aussage Schreibers. Norw. Pari. Ber. Beiheft I, S. 25.

168

schen Nationalsoziafisten oder der in Norwegen lebenden deutschen Parteimitglie­ der1. Unter den Papieren von Falkenhorsts Stab fand sich eine Notiz über Quisling: »Deutschfreund spielt keine Rolle, gilt als Phantast12 «. Falkenhorst glaubte zuver­ sichtlich, er werde sich mit dem norwegischen Außenminister Koth einigen können3. Die ins einzelne gehende Ausarbeitung der Pläne wurde behindert, weil es in Berlin kein genügendes Material über Norwegen gab. Operative und militärgeo­ graphische Studien gab es nicht, über die Verteilung und Stärke der norwegischen Truppen und Küstenbesfestigungen wußte man nur wenig, und »es gab nicht ein­ mal eine brauchbare Landkarte4«. Landkarten und Reiseführer wurden in den Berliner Buchhandlungen unauffällig erstanden5. Mit Hilfe dieses Materials wur­ den bis Ende Februar neue Landkarten hergestellt6. Man muß annehmen, obwohl keine Beweise vorliegen, daß die Abwehr angewiesen wurde, die Lücken durch Beobachtung an Ort und Stelle auszufüllen. Diese Bemühungen waren jedoch nicht sehr erfolgreich. Einige norwegische Küstenbatterien blieben den Deutschen unbekannt, bei andern wurde die Stärke unterschätzt, und in wieder andern Fällen rechnete man mit Batterien, die gar nicht vorhanden waren7. Ein Teil dieser falschen Informationen stammte von Quisling. Als Hitler am 2. April 1940 — teil­ weise als Ergebnis von Anzeichen, daß die Alliierten eine Landung vorbereiteten — den Abend des 8. April als Zeitpunkt festsetzte, zu dem die deutschen Verbände unter dem Schutz des Neumondes in die norwegischen Fjorde einlaufen sollten, fehl­ ten immer noch entscheidend wichtige Informationen. Quisling wurde über Hagelin eingeladen, sich in Kopenhagen mit Oberst Pieckenbrock, dem Chef der Spionage­ abteilung der Abwehr, zu treffen8. Sie trafen sich am 4. April, als die für Narvik be­ stimmten Schiffe bereits unterwegs waren. Quislings Antworten auf Pieckenbrocks präzise Fragen waren »im allgemeinen ausweichend«. Er gab jedoch einige nützliche Hinweise

auf

»Truppenstärke,

Lage

der

Flugplätze,

Flugbereitschaft

etc.«.

Er

glaubte nicht, daß die Küstenbatterien das Feuer eröffnen würden, ohne sich vorher mit der Regierung in Verbindung zu setzen9. Hitler sagte später, Quisling habe in jenem Gespräch von den Batterien in Narvik einen falschen Eindruck vermittelt10. 1

Hubatsch: Besetzung, S. 404—47.

2

Ebenda, S. 158.

3

KTB des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, 22.4.1940. Führer Conferences 1940, S. 41.

4

Hubatsch: Besetzung, S. 35.

5

Schriftliche Aussagen der Generäle v. Brauchitsch, v. Manstein, Halder, Warlimont und Westphal, 19. 9. 1945. PS-3798. 6

Aussage Admiral Kranckes, 28. 3. 1948. Woermann 25.

7

Hubatsch: Besetzung, S. 35.

8

Rosenberg: Norwegen-Aktion, S. 33. Einzelheiten über die Befestigungen im Oslo-Fjord erhielten die Deutschen von Hagelin. Anlage 18 zu Rosenberg: Norwegen-Aktion. 9

KTB-Seekriegsleitung, 4. 4. 1940.

10

Adolf Hitler, Libres propos sur la guerre et la paix recueillis sur l’ordre de Martin Bormann. Paris 1952. S. 298 (9. 2. 1942).

169

Beweise dafür, daß Quisling in letzter Minute der Zeitpunkt der Landung mitgeteilt worden ist, haben sich nicht gefunden1. Man darf jedoch als sicher annehmen, er habe mindestens aus den ihm gestellten Fragen schließen können, daß die Stunde nahe sei, in welcher sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen sollte. Darin hatte er recht. In Narvik, wo einige Leuchtfeuer noch in Betrieb waren, konnte das deutsche Geschwader nach einem scharfen Gefecht mit einem dort stationierten Kanonen­ boot in den Hafen eindringen. Die drei von Deutschland unterwegs befindlichen Frachter verfehlten alle ihr Ziel. Das gilt übrigens auch für die anderen vier Schiffe, deren Bestimmungsorte Stavanger und Trondhijem waren. Nur die »Jan Wellern« traf pünktlich in Narvik ein12 , wo neun andere deutsche Schiffe vor Anker lagen3. Die Besatzungen dieser Schiffe hatten keine Ahnung, was wirklich vorging, und eines der Schiffe wurde auf Strand gesetzt, weil die Besatzung überzeugt war, es kämen britische Kriegsschiffe4. Der Kampf um die Stadt ging schnell vorüber. Oberst Sundlo, der Kommandant der Garnison, kapitulierte bald, doch zogen sich einige Truppen kämpfend aus Narvik zurück. Sundlo wußte nichts von einem bevorstehenden deutschen Angriff. Nach dem Kriege stellte das Kriegsgericht bei der Untersuchung seines Verhaltens fest, daß Sundlo zwar unzweifelhaft pronazistisch war, daß es aber keinen Beweis für bewußte Sabotage der militärischen Vorbereitungen oder für ungenügende Abwehrbereitschaft gegenüber dem deutschen Angriff gab5. Im Trondhijem-Fjord waren die Forts um ein Uhr morgens alarmiert worden. Der deutsche schwere Kreuzer »Hipper« hatte versucht, ungestört zu passieren und hatte signalisiert: »Habe Befehl der Regierung, nach Trondhijem zu laufen. Keine feindlichen Absichten.« Der Trick als solcher hatte keinen Erfolg, aber die norwegischen Batterien wurden durch die deutschen Scheinwerfer geblendet, und ein Zufallstreffer einer deutschen Granate zerstörte das elektrische Kabel ihrer eigenen Scheinwerfer. Punkt halb fünf Uhr machten die deutschen Schiffe im Hafen fest; der Kommandant kapitulierte6. In Bergen wurde einer der sich nähernden deutschen Kreuzer aufgefordert, seine 1

Straffesak mot Vidkun Abraham Jonssön Quisling. Oslo 1946. S. 373.

2

Hubatsch: Besetzung, S. 130.

3

Jacques Mordal: La Campagne de Norvege. Paris 1949. S. 221.

4

Hubatsch: Besetzung, S. 72.

5

Urteil gegen Sundlo vom 13. 5.1947. Scheidt berichtete am 5. 1. 1940, Quisling habe »eine weitere Nachricht von Oberst Sundlo« erhalten, worin dieser wiederholt feststellte, »daß er aus eigenem Antrieb in Narvik alle Vorkehrungen getroffen habe und jetzt nur auf Quislings Befehl zum Angriff warte«. Doc. Ger. For. Pol., D VIII, S. 627. — Es gibt keine Beweise für die Rich­ tigkeit dieser Erklärung, die als weitere Bemühung von Scheidt und Hagelin betrachtet werden muß, die Bedeutung ihrer Intrigen zu übertreiben. (Mitteilung Magne Skodvins.) 6

Hubatsch: Besetzung, S. 75, 77,— T. K. Derry: The Campaign in Norway. London 1952. S. 40. Künftig zitiert als: Derry: Norway.

170

Identität mitzuteilen, und erklärte, er sei das britische Kriegsschiff »Cairo«. Einem vorüberkommenden Zerstörer teilte man auf englisch mit: »Laufen Bergen zu kurzem Aufenthalt an.« Die Forts eröffneten trotz eines dritten irreführenden Signals: »Feuer einstellen! Wir sind Freunde!« das Feuer, konnten aber den deut­ schen Verband nicht aufhalten. Bergen wurde in den ersten Morgenstunden be­ setzt, ehe die Bevölkerung merkte, wie ihr geschah. Einige Stunden später lief ein deutsches Marinefahrzeug, das als Holzfrachter getarnt war, mit einer Ladung Minen ein, die von den Deutschen alsbald zum Auslegen eines Minenfeldes be­ nutzt wurden1. In Stavanger wurde der nur von zwei Maschinengewehrnestern verteidigte Flugplatz rasch von Luftlandetruppen genommen. Der Hafen wurde von der Landseite aus besetzt12 . In Kristiansand ging es für die Deutschen beinahe schief. Nebel und die Ports hinderten den deutschen Verband mehrere Stunden lang am Einlaufen. Als das um elf Uhr morgens möglich wurde, betrachteten die Norweger irrtümlich die Flagge des Kreuzers »Karlsruhe« als die französische Kriegsflagge und stellten das Feuer ein3. Auch im Oslo-Fjord stießen die Deutschen auf ernste Hindernisse. Die Forts waren alarmiert worden. Die beiden Außenforts konnten infolge des Nebels nicht genau zielen. Das Minenfeld, das zwischen ihnen liegen sollte, war tatsächlich niemals gelegt worden, »teilweise wegen der Hoffnung, daß die britische Flotte Hilfe bringen würde«. Der Marinestützpunkt hinter den Außenforts wurde von deutschen Landungstruppen genommen. Um 4.20 Uhr versenkten die Innenforts den schweren deutschen Kreuzer »Blücher« durch Geschützfeuer, und das Ge­ schwader saß in der Palle4. In der Hauptstadt kannten nur wenige Deutsche die Stunde des Angriffs. Der deutsche Marineattaché Schreiber und der Luftattaché Spiller waren einige Tage vorher unterrichtet worden, während Scheidt, dem es erst am 8. April mitgeteilt werden sollte, sich vorher eingehende Informationen über das Geheimnis zu ver­ schaffen gewußt hatte5. Der deutsche Gesandte Bräuer wußte nichts. Wie sein Kollege Renthe-Fink in Kopenhagen sollte er durch einen besonderen Geheim­ kurier über den Angriffsplan und die ihm dabei zugedachte Rolle unterrichtet wer­ den. Zu diesem Zweck war Oberstleutnant Pohlmann, einer von General Falken­ horsts engsten Mitarbeitern, am 7. April in Zivil nach Oslo geflogen, begleitet von einem Kurier des Auswärtigen Amtes, der den Briefumschlag mit den Anweisun­ 1

Ebenda, S. 81/2 bezw. S. 40.

2

Ebenda, S. 83 bezw. S. 40.

3

Ebenda, S. 83/5 bezw. S. 39.

4

Ebenda, S. 87-91 bezw. S. 35/6.

5

Norw. Pari. Ber. Beiheft I, S. 24. Brief Scheidts an Rosenberg, 26. 5. 1940. Anlage 29 zu Rosenberg: Norwegen-Aktion.

171

gen für Bräuer bei sich hatte1. Pohlmann beriet sich am 8. April mit Schreiber, welcher der Ansicht war, daß die norwegische Regierung wahrscheinlich keinen Widerstand leisten werde; Pohlmann war jedoch weniger optimistisch und befahl dem Luftattaché Spiller, jemanden nach dem Flugplatz Fornebu zu schicken, wo deutsche Fallschirmjäger am frühen Morgen des 9. April landen sollten. Spiller gab diesen Auftrag dem Vertreter der Lufthansa in Oslo, der mit der Abwehr in Verbindung

stand.

Die

deutschen

Fallschirmjäger

konnten

jedoch

infolge

des

Nebels zuerst nicht landen. Als Spiller merkte, daß der Angriff trotzdem statt­ finden sollte, kletterte er zusammen mit dem Mann von der Lufthansa über das Tor zum Flugplatz. Während die norwegischen Soldaten noch überlegten, ob sie schießen sollten, landeten bereits die ersten deutschen Flugzeuge. Die beiden Deutschen auf dem Flugplatz konnten jetzt ihre Landsleute in die Stadt führen2. Dort hatte Pohlmann den deutschen Gesandten Bräuer am 8. April um elf Uhr abends über die kommenden Ereignisse unterrichtet. »Selten habe ich einen Mann so überrascht gesehen«, schrieb Pohlmann später3. Bräuer wurde angewiesen, das deutsche Ultimatum um 4.20 morgens der norwegischen Regierung zu übergeben. Die Antwort war, wie wir wissen, daß Norwegen den Kampf aufnehmen werde. Marineattaché Schreiber war um vier Uhr morgens auf seinem Posten im Hafen, um dort die Deutschen zu treffen. Er hatte einen Gehilfen an Bord eines deutschen Schiffes als Lotsen den Fjord hinunter geschickt, doch nützte das nichts: das deutsche Geschwader erschien nicht. Schreiber kehrte in sein Büro zurück. Dort wurden bereits Pistolen für die Verteidigung des Hauses ausgegeben, doch wurden sie nicht benötigt. Am Nachmittag trafen die Luftlandetruppen aus Fornebu in Oslo ein. Schreiber half ihnen »durch Verteilung von Stadtplänen und dergleichen4«. Am Nachmittag desselben Tages erlebten Bräuer und Pohlmann eine große Überraschung. Sie hörten, daß Vidkun Quisling einen Staatsstreich durchführe. Was sollten sie tun? Hierfür hatten sie keine Befehle. »Da trat ein junger Mann ins Zimmer«, schrieb Pohlmann später, »und stellte sich als SA-Standartenführer vom Amt Rosenberg vor« — Scheidt! »Er habe soeben mit Herrn Quisling verhandelt, dieser werde den Posten des Mi­ nisterpräsidenten übernehmen und weitere Minister ernennen. Erstaunt blickte ich zum Gesandten hinüber: >Wer macht denn nun eigentlich deutsche Außenpolitik, der Reichsaußenminister oder der Reichsleiter Rosenberg?< Der Gesandte zuckt die Schultern. — >Wie kommen Sie eigentlich hierher? Wann sind Sie eingetroffen?< Der Standartenführer läßt die Frage unbeantwortet. >Sie sehen, meine Papiere sind in Ordnung, Herr Oberstleutnant, mein Auftrag ist vom Reichsleiter Rosen­ berg unterschrieben, das muß Ihnen genügenWas soll denn das? Im Hotel Continental, wo ich mein Divisionsstabsquartier einrichte, erscheint ein Herr Quisling mit bewaffneter Leibgarde und erklärt, er sei jetzt Ministerpräsident und bewohne den dritten Stock. Ich weiß von dem Mann gar nichts. Kann ich ihn nicht verhaften? * — >Vor einer Viertelstunde hätte ich Ihnen gesagt, schmeißen Sie den Kerl raus, Herr General, aber jetzt sitzt ein Beauftragter von Rosenberg nebenan im Zimmer und erklärt Quisling für dessen Schützling und Mittelsmann. Da können wir nichts machen. Wir müssen warten, bis der Herr Befehlshaber kommt, vielleicht ist er orientiert*.« An jenem Nachmittag telefonierte Pohlmann mit General von Falkenhorst in dessen Hauptquartier in Hamburg. Die Antwort war: Hände weg1! Bräuer warnte Berlin, kein Norweger sei bereit, mit Quisling zusammenzuarbeiten, und sein Griff nach der Macht werde den Widerstandswillen ernstlich stärken. Über eine halbe Stunde kämpfte er am Telefon, doch half es nichts12 . Hitler hatte beschlossen, sich Quislings zu bedienen, und die Verwirrung in der norwegischen Hauptstadt war so groß, die Bevölkerung so völlig außerstande, nach der Abreise der Regierung irgend etwas Geschlossenes zu unternehmen, daß Quisling später am Tage unge­ hindert seine erste Proklamation verkünden konnte. Die Rolle der Auslandsorganisation in dieser ganzen Sache ist nicht völlig klar. 1930 lebten in Norwegen etwa 4500 deutsche Staatsangehörige3. Die Zahl für 1940 kennt man nicht4. Bohle meinte nach dem Kriege, es seien ungefähr nur 80 von ihnen Mitglieder der Landesgruppe der Auslandsorganisation gewesen5, die nach dem Januar 1940 von einem gewissen Carl Spanaus geführt wurde6. Während des Krieges schrieb Spanaus einen Artikel, worin er erklärte, daß vom September 1939 ab »eine große Anzahl von Parteigenossen neue und oftmals gefährliche Aufträge« erhielten. Nach dem Zwischenfall mit der »Altmark« traf er »in aller Stille orga­ nisatorische Vorsorgen«. Als am 8. April bekannt wurde, daß Großbritannien und Frankreich in norwegischen Territorialgewässern Minen legen würden, warnte er seine Parteimitglieder, und »jeder bezog seinen Posten«, aber »dabei war noch der Eindruck vorwiegend, daß der erste Schlag von England kommen würde«. Am Abend des 8. April erließ Spanaus eine besondere Warnung. Am 9. April wurde er morgens um drei Uhr auf die Deutsche Gesandtschaft gerufen, wo man ihm sagte : »Es ist soweit.« Kurz nach vier Uhr ordnete er »höchsten Alarmzustand« an. Ein Botendienst wurde eingerichtet. Spanaus blieb eine Weile in der Gesandtschaft und ging dann nach Fornebu, um die Lage zu erkunden. Er kehrte als erster mit der frohen Botschaft zurück, daß der Flugplatz genommen worden war. Danach sorgte 1

Pohlmanns Bericht in Hubatsch: Besetzung, S. 159.

2

Norw. Pari. Ber. II, S. 270.

3

Paul Lévy: Le Germanisme à l’Etranger. Strasbourg 1933. S. 75.

4

Auskunft des Sentralpasskontoret in Oslo.

5

Aussage Bohles. IMT X, S. 23.

6

Mitteilungsblatt der AO der NSDAP 1940, Nr. 1.

173

er dafür, daß eine Anzahl von Parteimitgliedern als Führer und Dolmetscher auftraten1. Was bedeuteten jene »neuen und oftmals gefährlichen Aufträge« und die ver­ schiedenen »Alarmstufen« wirklich? Spanaus erwartete offenbar eine Krise und handelte dementsprechend. Wahrscheinlich ordnete er Spionage an, doch sind Um­ fang und Bedeutung solcher Aufträge unbekannt. Es dürfte unwahrscheinlich sein, daß er und seine Untergebenen wirklich etwas über die deutschen Angriffs­ pläne gewußt haben. Die Norweger wissen nichts über eine direkte Unterstützung der deutschen Operationen am 9. April12 . Quislings Staatsstreich hat Spanaus voll­ kommen überrascht. »Alles, alles ist über unseren Köpfen gemacht worden«, klagte er in einem Telefongespräch mit Berlin am 16. April, das die Schweden in Stockholm abhörten. Man sollte nicht die Möglichkeit ausschließen, daß Spanaus sich 1941 durch seinen Artikel vor dem Publikum zur Schau stellen wollte und deshalb seine militärischen Leistungen übertrieb. Wir sollten jedoch einsehen, daß mehr vorgekommen sein kann, als aus den jetzt vorhandenen Urkundenbeweisen hervorgeht. Das Oberkommando der Wehrmacht hatte politische Gespräche mit Quisling bis Ende März geführt3 —Admiral Canaris hat die norwegische Hauptstadt um jene Zeit besucht4 — und das einzige, was wir sicher zu wissen scheinen, ist, daß eine persönliche Begegnung zwischen Canaris und Quisling nicht stattgefunden hat5. Ebenso wissen wir nichts über die Spionagetätigkeit der Abwehr, deren Hauptvertreter Berthold Bennecke, der Gehilfe des deutschen Han­ delsattaches in Oslo, war. Wir wissen lediglich, daß in den wichtigsten Häfen an der norwegischen Westküste »erfahrene Beobachter« postiert worden waren, »die in einem täglichen Kontakt mit der sie führenden Stelle in Deutschland standen« und dadurch »eine fast lückenlose Erfassung aller Dampfer gewährleistet6 wurde«. Soweit unmittelbare Aktionen in Frage kamen, hatte die Sabotageabteilung der Abwehr im März Pläne ausgearbeitet, die den Eisenbahnverkehr von und nach Nar­ vik verhindern sollten und die Zerstörung der Kupfer- und Eisengruben durch Ge­ heimagenten für den Fall vorsahen, daß die Alliierten in Norwegen landen sollten. General von Lahousen, der Leiter dieser Abteilung, hatte hierüber am 11. März in Deutschland mit Hermann Harris Aall verhandelt. Aall hatte ihm nützliche Infor­ mationen gegeben und sogar versprochen, er würde Fühlung mit Quisling aufneh­ men, um eine Schutzorganisation auszubauen, welche wahrscheinlich aus aktiven Mitgliedern von Nasjonal Samling bestehen würde7. Es ist nicht sicher, ob diese 1 Die Arbeit des Landeskreises Norwegen der AO der NSDAP im Kriege. In: Jahrbuch der Auslandsorganisation der NSDAP 1942. I, S. 37—43. 2

Mitteilung Skodvins.

3

Rosenberg: Tagebuch, 9. 4. 1940.

4

Norw. Pari. Ber. Beiheft I, S. 23.

5

Mitteilung v. Lahousens.

6

Leverkühn a.a.O., S. 82.

7

KTB-Abwehr, 11. u. 16. 3. 1940.

174

Schutzorganisation jemals zustande kam. Am 19. März schickte Lahousen einen Hauptmann der Abwehr zu Aall als dessen Berater. Der Sprengstoff, den die Saboteure verwenden sollten, lag jedoch drei Wochen später, am Tage der deut­ schen Invasion, immer noch in der Deutschen Gesandtschaft in Stockholm1. Eine norwegische Untersuchung der Frage, ob irgendein führendes Mitglied von Nasjonal Samling bei der deutschen Invasion eine aktive Rolle gespielt habe, endete ergebnislos: es gibt keine Beweise dafür, und weder Quisling noch Hagelin oder Aall haben das Datum der Invasion gekannt12 . Hitler und die Generäle wünschten ihre Pläne vollständig geheimzuhalten, und das schloß den vollen Einsatz irgend­ einer militärischen Fünften Kolonne aus. Gewiß bestand bei Quisling, Spanaus und ihren Gefolgsleuten genug Bereitschaft, ihr Teil beizutragen3. Man soll aber berück­ sichtigen, daß die deutschen Streitkräfte in Narvik, Trondhijem, Bergen und Stavanger innerhalb weniger Stunden Herren der Lage waren und daß sie in Oslo trotz des dort herrschenden Chaos’ in einer Lage, die kurze Zeit hindurch vielleicht kritisch genannt werden konnte, kaum Schwierigkeiten gehabt haben, die Dinge in der Hand zu behalten. Angesichts der Tatsachen, wie wir sie jetzt kennen, und unter Berücksichtigung des allzu geringen Mißtrauens der Norweger muß der Erfolg der deutschen Invasion zweifellos in der Hauptsache der rein militärischen Seite der deutschen Operationen zugeschrieben werden. Betrachten wir jetzt die Ansichten, die im April 1940 und später bei Deutsch­ lands Gegnern über den deutschen Angriff zu finden waren. Nichts beweist, daß deutsche Attachés, Konsuln, Handelsreisende, Touristen, Seeleute oder Wanderer jahrelang gründlich in Norwegen spioniert haben. Nichts beweist, daß in allen eroberten Häfen deutsche Truppen und Waffen vor dem Angriff in Verstecke gebracht worden sind; nur der Tanker »Jan Wel­ lern« konnte Narvik planmäßig erreichen. Ebenso hat sich nichts gefunden, was das Gerücht bestätigen konnte, daß eine große Anzahl von Deutschen als Handlungsreisende und Touristen nach Nor­ wegen gingen, um den Angriff zu unterstützen. Daß die deutschen National­ sozialisten in Oslo eingeweiht waren, ist nicht sicher und wenig wahrscheinlich. Die Norweger haben Sabotage durch deutsche oder norwegische Angehörige einer Fünften Kolonne nicht nachweisen können4. Das Minenfeld im Oslo-Fjord, 1

Ebenda 19. 3. u. 9. 4. 1940.

2

Mitteilung Skodvins.

3

Am 21. 2.1940 berichtete Scheidt, auf seinen Vorschlag »und auf Ersuchen des deutschen Marineattachés baut Quisling jetzt mit der Hilfe seiner Parteimitglieder an der norwegischen Küste einen Nachrichtendienst auf... Soweit möglich, wird der Versuch gemacht, an Bord jedes Schiffes einen Agenten zu haben, der regelmäßig an Quisling berichtet. Dinge, die für uns von Interesse sind, werden dann von Quisling durch mich dem deutschen Marineattaché mit­ geteilt werden.« Doc. Ger. For. Pol., D VIII, S. 797. — Es gibt keine Beweise dafür, daß dieser Nachrichtendienst geschaffen wurde. (Mitteilung Skodvins.) 4

Mitteilung von Oberst Johannes Schiötz, vormals Leiter der kriegsgeschichtlichen Abtei­ lung des norwegischen Generalstabes.

175

dessen

elektrische

Leitungen

angeblich

zerschnitten

worden

waren,

war,

wie

wir wissen, überhaupt nicht gelegt worden. Hambro hat das schon 1940 betont1. Nicht in einem einzigen Fall ist bewiesen worden, daß das norwegische Militär brieflich oder telefonisch falsche Befehle erhalten hat12 . Ebensowenig ist erwiesen, daß in den Kämpfen unmittelbar nach der Landung deutscher Truppen unter den norwegischen Truppen deutsche Spione in norwegischen Uniformen auf­ getreten sind. Es ist richtig, daß im Mai in Mittel- und Nordnorwegen ein paar heimtückische Überraschungsangriffe auf norwegische Truppen und auf Objekte, die für ihre Operationen wichtig waren, von militärischen Abteilungen der Abwehr aus­ geführt wurden. Diese verkleideten sich wahrscheinlich in norwegische Uniformen oder auf andere Weise. Die Deutschen setzten zu diesem Zweck etwa 100 Mann ein, die zu einer besonderen Einheit gehörten, welche die Abwehr in Deutsch­ land ausgebildet hatte3. Es steht außer Frage, daß es unter den norwegischen Offizieren nicht zu Ver­ rat in größerem Umfang gekommen ist. »Kaum ein halbes Dutzend« legten die Waffen nieder, und selbst in diesen Fällen mag es sich eher um Mißverständnisse gehandelt haben, die auf Quislings Demobilmachungsbefehl zurückgingen4. Es ist nicht wahr, daß die deutschen Divisionen aus Wienern bestanden, die als Kinder nach dem ersten Weltkrieg in Norwegen freundlich aufgenommen worden waren; fünf der sieben Divisionen waren Deutsche, während die beiden österreichischen Divisionen aus den bäuerlichen Provinzen Tirol, Kärnten und Steiermark kamen5. Die Ansicht, die niemand deutlicher als der amerikanische Journalist Leland Stowe bekundet hat, daß die deutsche Invasion ihren Erfolg »der Bestechung und dem außergewöhnlichen Einsickern von nazistischen Agen­ ten sowie dem Verrat seitens weniger hoher norwegischer Beamter und Offiziere« verdanke, ist von der Wahrheit weit entfernt. Stowe, der ein guter Reporter und ein hellsichtiger Gegner des Nationalsozialismus war (ein 1934 erschienenes Buch von ihm heißt »Nazideutschland bedeutet Krieg«), gab noch vor Ende des Krieges groß­ zügig zu, daß seine Berichte aus Stockholm kein wahrheitsgetreues Bild der Lage gegeben hätten6. Allerdings war seine Darstellung zunächst von vielen Millionen Lesern verschlungen worden, während sein eigenes Dementi kaum beachtet wurde. 1

Hambro: I saw it happen in Norway, S. 100.

2

Es sind nur zwei »authentische Fälle« bekannt geworden. In dem einen erhielt eine nor­ wegische Jagdstaffel telegraphisch Weisung, eine Anzahl deutscher Schiffe am 9. April nicht zu bombardieren. Sehr wahrscheinlich kam dieser Funkspruch von den deutschen Schiffen selbst. Im zweiten Fall erhielt der Kommandant des Forts in Bergen Befehl, das Feuer einzustellen. Die Herkunft dieses Befehls ist unbekannt geblieben. (Mitteilung Schiötz’.) 3

KTB-Abwehr, 13., 24. u. 29. 4.; 1. u. 9. 5.; 17. 6. 1940.

4

Mitteilung Schiötz’.

5

Hubatsch: Besetzung, S. 412/3.

6

Mitteilung Skodvins.

176

XI

HOLLAND, BELGIEN, LUXEMBURG UND FRANKREICH 1. HOLLAND

Als die deutschen Armeen am 10. Mai 1940 in Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich einfielen, waren fast sechs Monate vergangen, seit Hitler seine politische und militärische Strategie den Befehlshabern von Heer, Marine und Luftwaffe in einer geheimen Ansprache dargelegt hatte. Er hatte damals gesagt: »Ich habe lange gezweifelt, ob ich erst im Osten und dann im Westen losschlagen sollte. Grundsätzlich habe ich die Wehrmacht nicht aufgestellt, um nicht zu schlagen. Der Entschluß zum Schlagen war immer in mir... Zwangsläufig wurde entschieden, daß der Osten zunächst zum Ausfall gebracht wurde1.« An jenem 23. November 1939 hatte Hitler Polen bereits vernichtet. Seine Worte verrieten die schrankenlose Angriffslust eines Mannes, der von Anfang an fest entschlossen war, daß er der Angreifer sein würde; zugleich verrieten sie, wie lange er geschwankt hatte, wo er anfangen sollte. Soweit man weiß, ist tat­ sächlich vor 1938 von den deutschen Stäben kein einziger konkreter Angriffs­ plan entworfen worden. Noch 1938 richtete sich Hitlers Interesse am Ausland ausschließlich auf Österreich und später auf die Tschechoslowakei. Er hatte jedoch seit den Anfängen seiner politischen Laufbahn die Revanche an Frankreich für unvermeidlich gehalten. Holland und Belgien tauchten in seinen Äußerungen erst auf, als der Würfel für den Angriff gegen Polen gefallen war und er voraussah, daß das Ergebnis ein Konflikt mit Frankreich und Eng­ land sein könne. Damals, am 23. Mai 1939, sagte er in einem Gespräch, an wel­ chem unter anderen Göring, Raeder, von Brauchitsch und Keitel beteiligt waren, daß im Kriegsfall Schlüsselstellungen für die Luftwaffe gewaltsam in den Nieder­ landen erobert werden müßten. Gegen Mitte Oktober befahl er die Ausarbeitung eines Angriffsplanes, auf Grund dessen das deutsche Heer in Holland zunächst nicht die Grebbe-Linie, das heißt die befestigte Zone in der Mitte des Landes, durchbrechen würde, welche die dicht­ bewohnten westlichen Provinzen schützte2. Um die holländischen Linien jen­ seits der Maas zu erreichen, erschien es weiter südlich wünschenswert, die Spren­

12

1

PS-789, IMT XXVI, S. 330.

2

L-079, IMT XXXVII, S. 550/1; C-062, IMT XXXIV, S. 268/9.

177

gung der Brücken zu verhindern. Hitler meinte, daß seine Generäle nicht genug Phantasie besäßen, und glaubte, er selbst habe einen guten Plan: eine Anzahl kühner Freiwilliger sollten in Uniformen der holländischen Militärpolizei oder Eisenbahn gesteckt werden und dann die Brücken im Überraschungsangriff nehmen. Admiral Canaris wurde als Chef der Abwehr beauftragt, solche Uniform­ muster zu besorgen1. Sein Vertreter in Den Haag mußte das erledigen12 . Dabei wurde, wie wir im ersten Teil gesehen haben, einer der Transporte schon im No­ vember 1939 entdeckt. Zu jener Zeit spielte Hitler auch mit anderen Gedanken. Außer der Luftlande­ division, die bereits an den Kämpfen in Polen teilgenommen hatte, wurde eine Fallschirmjäger-Division bereitgestellt. Gegen Ende November erwog er, mit ihr die Insel Walcheren zu besetzen3. Sechs Wochen später wieder ein anderer Plan: Die Fallschirmjäger würden vielleicht mitten in der Festung Holland in der Nähe von Amsterdam landen4, doch müßte in diesem Pall das deutsche Heer die GrebbeLinie so schnell wie möglich durchstoßen5. Am 17. Januar 1940 ging Hitler sogar noch weiter: »Ganz Holland« sollte Ziel des Angriffs werden6. Wieder zwei Wochen später wußte er noch genauer, was er wollte: Die Fallschirmjäger sollten das Regierungsviertel in Den Haag besetzen, während gleichzeitig ein Sondergesandter — hierfür fiel die Wahl auf den beim Militär befindlichen deutschen Diplomaten Werner Kiewitz — Königin Wilhelmina einen Brief mit der üblichen Mischung aus Drohungen und Schmeichelei überreichen sollte7. Am Vorabend der deutschen Offensive mißglückte der Auftrag an Kiewitz. Der Visumsantrag stieß in der holländischen Gesandtschaft in Berlin wie auch im Außenministerium in Den Haag auf Mißtrauen, weil Anzeichen für das Bevor­ stehen einer deutschen Offensive vorlagen. Kiewitz hatte ursprünglich mit der Bahn fahren und später auf dem Luftwege reisen sollen. Die holländischen Be­ hörden verweigerten die Landeerlaubnis und machten den Deutschen klar, daß ein unter so seltsamen Begleitumständen angekündigter Gast aufs schärfste beob­ achtet werden würde8. Am 9. Mai mußte Kiewitz unverrichteter Dinge zu seiner Truppe zurückkehren9. 1

Im KTB-Abwehr wird dieser Plan eines Überraschungsangriffs zuerst am 26. 10. 1939 erwähnt. 2

Abshagen a.a.O., S. 238.

3

Brief des OKW an die Oberkommandos des Heeres, der Marine und der Luftwaffe, 28. 11. 1939. C-010, IMT XXXIV, S. 161/2. 4

KTB-Abwehr, 10. 1. 1940.

5

Brief des OKW an OKH, OKM und OKL, 11. 1. 1940. C-072, IMT XXXIV, S. 294/5.

6

Halder: Tagebuch, 17. 1. 1940.

7

Jodl: Tagebuch, 1. 2. 1940. PS-1809, IMT XXVIII, S. 397/8. Im gedruckten Text heißt es »Kieritz«. 8

Aussage von J. G. de Beus. Holl. Pari. Ber. Ic, S. 628.

9

Vernehmung Werner v. Kiewitz’ durch Fred Rodell. Ebenda Hb, S. 130.

178

Mittlerweile hatten die Stäbe der deutschen Wehrmacht in den ersten Monaten des Jahres 1940 ihre Pläne ausgearbeitet. Fallschirmjäger und Luftlandetruppen sollten die drei Flugplätze Valkenburg, Ypenburg und Ockenburg in der Nähe von Den Haag erobern und von dort aus zum Regierungsviertel marschieren, um die Königin, die Regierung und das holländische Oberkommando gefangenzu­ nehmen. Ausgehend von der Möglichkeit, daß dieser Plan scheitern oder daß selbst im Erfolgsfalle die holländische Armee weiterkämpfen könnte, wurde eine Offensive mit starken Kräften eingeleitet. Um ihr den Weg zu bahnen, sollte eine Abteilung der Abwehr die Brücke über die Yssel bei Arnheim zu nehmen versuchen, während andere Abteilungen die Brücken über den Maas-Waal-Kanal, den Juliana-Kanal im südlichen Limburg und über die Maas zwischen Mook und Maastricht in die Hand zu bekommen versuchen sollten. Um die Brücken bei Nijmegen zu nehmen, sollten Kähne, in denen eine Infanterie-Kompanie ver­ steckt war, zur Stunde des Angriffs in die Nähe der Brücken zu gelangen ver­ suchen1. Eine starke Armee, unterstützt von vier Panzerzügen, würde zur Er­ öffnung des Angriffes die Brücken überqueren. Die Deutschen würden dann nördlich der großen Flüsse durch die Grebbe-Linie zu brechen und in einem wei­ teren Vorstoß über die Brücken bei Moerdijk, Dordrecht und Rotterdam, Den Haag vom Süden her zu erreichen versuchen. Die Sonderabteilungen der Abwehr, welche die Brücken im Grenzgebiet er­ obern sollten, zählten zusammen immerhin tausend Mann. Ihre Angehörigen stammten größtenteils aus Oberschlesien2, doch gab es außerdem zwischen 100 und

200

holländische

Staatsbürger.

Um

diese

zu

gewinnen,

hatten

Abwehr­

offiziere in Westdeutschland Verbindung mit Julius Herdtmann aufgenommen, der von Geburt Reichsdeutscher und 1924 holländischer Staatsbürger geworden war. Herdtmann war in den dreißiger Jahren nach Deutschland zurückgekehrt und dort Anführer einer getarnten Nachfolgeorganisation der wichtigsten hollän­ dischen Nazipartei geworden. (Nationaalsocialistische Bond van Nederlanders in Duitsland.) Die meisten Mitglieder waren zwar formell Holländer, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen. Gewöhnliche Mitglieder des NSB, die in Deutschland Arbeit gesucht hatten, waren jedoch ebenfalls Mitglieder des Bond; dieser hatte eine Art von SA mit dem Decknamen »Sport und Spiel«. Für sogenannte Polizeidienste und für den Einsatz als Dolmetscher und Weg­ weiser wurden Mitglieder von »Sport und Spiel« mit Herdtmanns Hilfe gewonnen. In aller Heimlichkeit erhielten sie in vier zwischen dem Rhein und der holländi­ schen Grenze gelegenen Lagern militärische Ausbildung. Die Abteilungen, die — als

Militärpolizei

mit

angeblichen

Kriegsgefangenen,

als Eisenbahnbeamte oder

auch als holländische Soldaten verkleidet — sich über die Grenze schleichen und 1

Halder: Tagebuch, 13. 3. u. 10. 5.1940 sowie weitere Mitteilungen Halders und von General V. E. Nierstrass von der kriegsgeschichtlichen Abteilung des holländischen Generalstabes. 2

Mitteilung v. Lahousens.

179

ihre Ziele nehmen sollten, verließen ihre Lager mitten in der Nacht auf den 10. Mai1. Die meisten dieser Überraschungsangriffe schlugen fehl. Der Angriff auf die Brücke bei Arnheim scheiterte unter anderem deshalb, weil das Abwehrkommando aus 25 Leuten mit seltsamen holländischen Uniformen und Papphelmen ausge­ rüstet war12 . Bei einigen anderen Brücken hatte die Abwehr Erfolg, und besonders wichtig war die Eroberung der Eisenbahnbrücke bei Gennep. Über diese fuhren nacheinander ein deutscher Panzerzug und ein Transportzug nach Holland hinein, die beide zu dem schnellen Zusammenbruch der vordersten Verteidigung bei­ trugen. Bei all diesen Angriffen wurden einige holländische Soldaten hinterrücks erschossen. Der Versuch, die Brücken bei Nijmegen zu nehmen — die Operation hatte den Decknamen

»Trojanisches

Pferd«

bekommen

—,

schlug

fehl.

Augenscheinlich

beobachteten die Holländer den Rhein so genau, daß die Deutschen es nicht wagten, die Kähne mit den darin versteckten Truppen flußabwärts zu schicken3. Bei den Brücken in Westholland hingegen hatten die Deutschen Erfolg. Bei Moerdijk

und

Dordrecht

überwältigten

die

Fallschirmjäger

die

Holländer,

die

außerstande waren, die Anlagen zu zerstören. Das holländische Oberkommando hatte diese Landung von Fallschirmjägern nicht vorausgesehen und wollte außer­ dem die Straßen über Moerdijk und Dordrecht für die erwarteten französischen Hilfstruppen offen halten. Aus diesem Grund waren an der Brücke keine Spreng­ ladungen angebracht worden4. Bei Dordrecht warfen die Deutschen Puppen ab, um dadurch die Verteidiger zu verwirren, was ihnen auch gelang: »Von überall her liefen falsche Meldungen ein5.« Ebensolche Störmanöver wurden bei Rotterdam angewendet, wo Puppen an Fallschirmen in der Nähe der Flugplätze herunterkamen6. Dort wurden die Brücken über die Maas von einer Kompanie, die in Wasserflugzeugen auf den Fluß nieder­ gegangen war, ohne Schwierigkeit genommen. Die Soldaten kletterten bewaffnet die Ufer hinauf. Die Brücken waren unbewacht. Wir haben im 1. Teil gesehen, daß der Überraschungsangriff mit Fallschirm­ jägern und Luftlandetruppen auf Den Haag fehlschlug. Die Deutschen konnten zwar die Flugplätze in kurzer Zeit besetzen, infolge schneller Gegenbewegungen der holländischen Reserven ihre Stellungen jedoch nicht befestigen und schon gar nicht nach der Residenz marschieren. Der Angriff auf das Herzstück des 1 Prozeß gegen J. Herdtmann und H. Köhler. Nederland in oorlogstijd. Amsterdam 1950. Nr. 3, S. 22-32. 2 De krijgsverrichtingen ten Oosten van de Yssel en in de Yssellinie, Mei 1940. Den Haag 1952. S. 13. 3

Mitteilungen der Generäle Nierstrass und Halder.

4

Beknopt overzicht van de krijgsverrichtingen der Koninklijke Landmacht 10—19 Mei 1940. Leyden 1947. S. 29. Künftig zitiert als: Beknopt overzicht. 5

Vernehmung von Oberst M. R. H. Calmeijer. Holl. Pari. Ber. Ic, S. 309.

6

Nierstrass: Rotterdam, S. 20.

180

Landes hatte jedoch für die Deutschen den Vorteil, daß das holländische Ober­ kommando außerstande war, starke Reserven in die östlichen Verteidigungs­ linien zu werfen. Das Gegenteil geschah: Diese Befestigungen mußten am vierten Tag der Offensive nach heftigen deutschen Angriffen aufgegeben werden. An diesem Tage erreichten die ersten deutschen Panzer in Rotterdam das Südufer der Maas. Am 14. Mai wurde das Zentrum der großen Hafenstadt von der Luft­ waffe

bombardiert.

Angesichts

der

Androhung

ähnlicher

Bombardements

in

andern Städten und angesichts der Erkenntnis, daß Hilfe von den Alliierten nicht zu erwarten war, beschloß General Winkelman, der Oberbefehlshaber der holländischen Streitkräfte, zu kapitulieren. Die besser ausgebildete, besser ausgerüstete und besser geführte deutsche Wehrmacht hatte in einem Feldzug von nur fünf Tagen einen schnellen und entscheidenden Sieg davongetragen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Reichs­ deutsche, die in Holland lebten, oder holländische Nationalsozialisten diesen Feld­ zug in organisierter Verbindung mit dem Militär oder in nennenswertem Umfang aktiv unterstützt haben. Zunächst verdient Beachtung, daß in keinem einzigen der deutschen Doku­ mente, die mit der Vorbereitung der Offensive zu tun haben, auch nur in einem einzigen Satz eine solche Fünfte Kolonne erwähnt wird1. Daß die Deutschen Abwehrkommandos aus Deutschland entsenden mußten, um die Brücken an der Grenze zu besetzen, beweist, daß sie an Ort und Stelle über solche Kommandos nicht verfügten. Wir erwähnten, daß bei diesen Operationen gegen die Brücken nachgemachte holländische Uniformen verwendet wurden. Es ist nie bewiesen worden, daß die Deutschen anderswo als in der Nähe der Grenze holländische Uniformen ver­ wendet haben. Nicht in einem einzigen Fall ist einwandfrei festgestellt worden, daß sie ihre Truppen in den westlichen Landesteilen in holländische, britische, belgische oder französische Uniformen gekleidet haben. Ebensowenig gibt es einen verbürgten Fall, in welchem ihre Fallschirmjäger, Luftlandetruppen oder deren Gehilfen als Bauern, Polizisten, Postboten, Schaffner, Lieferjungen, Priester, Nonnen, Dienstmädchen oder Krankenschwestern verkleidet operiert haben12 . Au­ ßerdem gibt es keine greifbaren Beweise dafür, daß deutsche Fallschirmjäger anderswo als bei Moerdijk, Dordrecht und Rotterdam sowie bei den drei Flug­ plätzen in der Umgebung von Den Haag abgesprungen sind. Möglich ist hin­ 1 Außer den schon erwähnten Quellen sind zu nennen: 1. Akten des OKH zum »Fall Gelb« vom 7. 10.-19. 11. 1939. PS-2329, IMT XXX, S. 200-36. 2. Befehle OKW zum »Fall Gelb« vom 7. 11. 1939-7. 5. 1940. C-072, IMT XXXIV, S. 284-98. 3. Befehl an die Luftwaffe, 17. 11. 1939. TC-058a, IMT XXXIX, S. 61/7. — General Jodl spricht in seinem Tagebuch von der Möglichkeit, besondere Agenten in Den Haag einzusetzen. (7. 3. 1940., a.a.O., S. 410.) Keine weiteren Notizen dieser Art stammen von ihm oder von General Halder. 2

Beknopt overzicht, S. XIII. »Notities van lt.-gen. van Voorst tot Voorst over de mobilisatie 1939—40 en de Meidagen 1940« in Holl. Pari. Ber. Ib, S. 107.

181

gegen, daß Vorräte für die vorrückenden deutschen Truppen an andern Stellen mit Fallschirmen abgeworfen worden sind. Da fast alle Teile des Landes und zumal die großen Städte wie Amsterdam, Den Haag und Rotterdam völlig ahnungslos überrascht wurden, glaubte man dort überall, daß zahlreiche Helfershelfer des Feindes auf die holländischen Truppen geschossen hätten. Auch hierfür haben sich keine Beweise gefunden. »Eine kleine Schießerei mag hier oder da vorgekommen sein«, erklärte der Chef der historischen Abteilung des holländischen Generalstabes nach dem Kriege, »aber wir haben keine Beweise. Wir kennen keinen nachgewiesenen Pall, daß irgendwo Soldaten in Häuser eingedrungen wären, wo die Bewohner in flagranti mit Waffen oder dergleichen angetroffen wurden1.« Für die ziemlich weit verbreiteten Geschichten von vergiftetem Wasser und Fleisch und von Deutschen und deren Komplizen, die vergiftete Schokolade und Zigaretten verteilt haben sollen, hat sich kein Beweis gefunden. Auch gibt es keine Anzeichen dafür, daß solche Geschichten von feindlichen Agenten spontan oder in Zusammenarbeit mit der Truppe verbreitet wurden, oder daß planmäßig Lichtsignale

gegeben

wurden,

oder

daß

»große

Figuren

in

Hakenkreuzform«

verbrannt oder »an besonderen Stellen, die augenscheinlich demnächst von den Deutschen angegriffen werden sollten«, in den Boden gegraben wurden, wie aus verschiedenen Teilen des Landes berichtet wurde12 . Was schließlich die Berichte angeht, daß deutsche Emigranten die deutsche Offensive unterstützt hätten — solche Berichte führten dazu, daß Zehntausende von Emigranten in England und Frankreich zum ersten oder zum wiederholten Male interniert wurden — so läßt sich auch dafür wieder kein Anhalt finden3. Es steht fest, daß den Deutschen bei ihrem Vorrücken vom Flugplatz Waalhaven südlich von Rotterdam der Weg von dort lebenden Reichsdeutschen gezeigt wurde4, doch sollte man daraus nicht schließen, daß eine solche Zusammenarbeit vorher vorbereitet worden war. Es gibt Beweise dafür, daß sich in Den Haag am 10. Mai noch vor Beginn der Offensive einige deutsche Agenten aufgehalten haben. Hitlers Absicht ging dahin, im Augenblick des Beginns seiner Offensive diejenigen auszuschalten, welche den bewaffneten Widerstand der Holländer zu leiten hatten. Die Königin, Minister­ 1

Vernehmung Generalmajor D. A. van Hiltens. Ebenda Ic, S. 320.

2

Poort und Hoogvliet: Slagschaduwen over Nederland, S. 283.

3 Die holländische Tages- und Wochenpresse hat diese negativen Ergebnisse beim ersten Erscheinen dieses Buches Mitte November 1953 im ganzen Lande verbreitet. Die Folge waren etliche Briefe an den Verfasser, in denen Beispiele dafür angeführt wurden, daß deutsche Militärpersonen als Priester (Amsterdam) oder in holländischen Uniformen (Den Haag) aufge­ treten seien, oder daß vergiftete Schokolade verteilt worden sei (Den Haag). Die Briefschreiber versicherten, dies sei wirklich geschehen. Bei eingehender Untersuchung erwies sich keiner dieser Berichte als stichhaltig. 4

Deutsche Schulpost (Rotterdam) Juli 1940.

182

Präsident

De

Geer,

Verteidigungsminister

Dijxhoorn

und der Oberbefehlshaber

von Heer und Marine, General Winkelman, sollten alsbald isoliert und das Haupt­ quartier in Den Haag besetzt werden. Der deutsche Spionagedienst versuchte so genau wie möglich zu ermitteln, wo sich diese Personen und Einrichtungen am Tage des überraschenden Angriffs vermutlich befinden würden. Die deutschen Verbände, die auf den Flugplätzen um Den Haag landen würden, sollten kleine Stoßtrupps in die Wohnungen der Königin, der wichtigsten Minister und des Oberbefehlshabers und ebenso in die Gebäude entsenden, in denen sich die verschiedenen Haupt­ quartiere befanden. Es kam auf schnelles Handeln an. Auch die geringste Ver­ zögerung konnte verhängnisvolle Folgen haben. Die Abwehr sorgte also dafür, daß von Deutschland aus einige Agenten nach Den Haag entsandt wurden, die imstande sein würden, diese Stoßtrupps unverzüglich an ihre Ziele zu führen. Diese Agenten sollten Zivilkleidung tragen und als wegkundige Führer dienen1. Sie waren nicht bewaffnet. Abgesehen von den jüdischen und sonstigen deutschen Flüchtlingen lebten am 10. Mai 1940 52000 Reichsdeutsche in Holland12 . Nur eine Minderheit von ihnen stand überhaupt mit nationalsozialistischen Organisationen in Verbindung. Zwei Monate vor der deutschen Invasion nahmen an 38 Orten 6348 Männer, Frauen und Kinder an den nationalsozialistischen Eintopfessen teil, für die viel Propaganda gemacht worden war3. Am 24. Mai 1940 behauptete Bohle, daß er in Holland 3000 Parteigenossen habe4. Die Zahl ist wahrscheinlich zu hoch, aber ungefähr richtig. Dr. Otto Butting, der die Führung der Reichsdeutschen Gemeinschaft übernommen hatte, war von der Kampflust seiner relativ kleinen Schar von Parteigenossen nicht allzu sehr angetan. Im Februar 1938 hatte er sie »größten­ teils ängstlich und furchtsam« genannt5. Angesichts dieser Zahlen schon erscheinen die nach der Invasion vertretenen Auffassungen, daß »Zehntausende

von

Reichsdeutschen« plötzlich zum Angriff

übergegangen seien und »wie wütende Derwische« auf ihre Gastgeber geschossen hätten, einigermaßen unwahrscheinlich. Daß Reichsdeutsche, die in Holland lebten, als Partisanen oder Saboteure aufgetreten seien, ist nicht in einem einzigen Fall bewiesen worden. Man hat nichts gefunden, was auf einen bewaffneten Widerstand gegen ihre Internierung schließen läßt. Andererseits ist es fraglos eine Tatsache, daß die nach Holland einrückenden deutschen Truppen von vielen Reichsdeutschen herzlich begrüßt wurden, und daß sich unter diesen etliche fanden, die gleich nach 1

Mitteilung General von Lahousens und General Werner Ehrigs, des Stabschefs der bei Den Haag gelandeten deutschen Division. 2 Angaben des Rijksvreemdelingendienst in Den Haag. Ferner Anlage zum Brief des General­ kommissars für Verwaltung und Justiz an verschiedene deutsche Behörden vom 23. 3. 1941. 3

Rechenschaftsbericht über das Kriegswinterhilfswerk 1939/40, 7. 4. 1940.

4

Bericht vom 24. 5.1940 über seine Besprechungen mit Rudolf und Alfred Heß. NG-4314.

5

Aus den Akten des Reichsschatzmeisters der NSDAP Franz Xaver Schwarz geht hervor, daß am 1. 2.1941 2341 reichsdeutsche Nationalsozialisten in Holland lebten.

183

den Kämpfen ihre Dienste als Dolmetscher oder Führer anboten oder Erfrischungen reichen wollten1. Butting war ein eifriger Anhänger der Partei und wurde verzehrt von dem Ver­ langen, das nationalsozialistische Deutschland zu vergrößern. Er verlangte von den führenden örtlichen Funktionären der Reichsdeutschen Gemeinschaft, daß sie ihm alles mitteilten, was militärische Bedeutung haben könne. Diese verarbeitete er zu Berichten an Heinz Cohrs, den Verbindungsoffizier der Abwehr im Büro der Auslandsorganisation. Unter dem Schutz seiner diplo­ matischen Immunität brachte er die Berichte über die Grenze nach Cleve und gab sie dort zur Post. Butting besaß in Cleve einen privaten Briefkasten. SchulzeBernett, der Abwehrvertreter in Den Haag, erhielt von Buttings Berichten nach Berlin Durchschriften. Einer dieser an Cohrs adressierten Briefumschläge wurde, wie wir bereits erwähnten, anfangs April in der Nähe von Den Haag auf der Straße gefunden. Der Inhalt dieses Umschlags läßt vermuten, daß die Zahl der Personen, die Butting zu Spionagediensten veranlassen konnte, kaum größer als ein paar Dutzend, vielleicht nicht mehr als zwanzig war. Unser allgemeiner Eindruck, daß nur eine relativ kleine Zahl der in Holland lebenden Reichsdeutschen an Spionage oder an Sabotage gegen ihr Gastland be­ teiligt war, wird durch das bestätigt, was wir über die Abwehr wissen. Die nor­ male Militärspionage gegen die Niederlande wurde von verschiedenen Abwehr­ stellen von Westdeutschland aus geleitet. Nach der holländischen Mobilmachung versuchten die Deutschen, unter den holländischen Staatsangehörigen in Deutsch­ land, die zum Militärdienst einrücken mußten, Agenten zu werben. In einigen Fällen hatten sie Erfolg; daraufhin begannen die holländischen Militärbehörden, um dieses offenkundige Leck zu verstopfen, in den ersten Monaten des Jahres 1940 alle eingezogenen Männer dieser Kategorie nach Deutschland zurückzuschicken12 . Die Spitzelberichte über Den Haag und seine Umgebung waren natürlich für die Luftlandedivision, welche die Stadt erobern sollte, von größter Bedeutung. Der Nachrichtenoffizier dieser Division bewahrte sie in einer Aktentasche auf, die den Holländern in die Hände fiel. Man stößt in diesen Berichten auf etliche Agenten. Die Zahl wird nicht genannt, doch erhält man den Eindruck, daß es höchstens ein paar Dutzend waren. Außerdem findet man dort reichlich Beweise dafür, daß ein großer Teil der Spionage von dem deutschen Militärattaché in Den Haag, von seinem Gehilfen und dem Luftattaché betrieben wurde. Auf Plänen, wie man sie in jeder Buchhandlung kaufen konnte, kennzeichneten diese Männer die Häuser der beiden Minister de Geer und Dijxhoorn, den Luftschutz­ bunker und die Residenz der Königin in Scheveningen, die wichtigsten Ver­ sorgungsanlagen und das militärische Oberkommando. Es ist jedoch nicht ein­ 1

Brief an den Chef der Auslandsorganisation vom 11.2. 1938.

2

Die Erinnerungen eines dieser Agenten wurden vom 6. 10.—6. 11. 1951 in den »Aachener Nachrichten« veröffentlicht. Er war u. a. am Uniformschmuggel und an dem Überraschungs­ angriff auf eine Brücke in Südostholland beteiligt gewesen.

184

deutig festgestellt worden, daß irgendein Angehöriger der Deutschen Gesandt­ schaft Tag und Stunde der deutschen Invasion gekannt hat. Außerdem ist wichtig, daß die Holländer nicht immer etwas unternahmen, vielleicht auch nichts unternehmen konnten, um die Deutschen an ihren Er­ kundungen zu hindern. Die wichtigsten Befestigungen wurden, weil kein Aus­ nahmezustand verhängt war, von »ganzen Gruppen, die manchmal vom Kom­ mandeur herumgeführt wurden1«, besichtigt, und »etliche Deutsche« lebten in der Befestigungszone oder besuchten diese12 . Schließlich unternahmen die Deut­ schen über holländischem Gebiet noch bis zum 8. Mai 1940 zahlreiche Auf­ klärungsflüge3. Man kann also in großen Zügen die Ortskenntnis der Deutschen während ihrer Offensive erklären, ohne zu der Theorie Zuflucht zu nehmen, daß Hunderte von in Holland lebenden Reichsdeutschen eine spionierende Fünfte Kolonne gebildet hätten — eine Theorie übrigens, die von den deutschen Originaldokumenten, die man gefunden hat, nirgends bestätigt wird4. Was Sabotage durch die Abwehr oder andere deutsche Stellen angeht, so hat man mit Sicherheit nichts feststellen können. Als man am 7. Mai 1940 entdeckte, daß eine Schleuse in der Nähe der holländischen Hauptverteidigungslinie zer­ stört worden war, dachte man zunächst an Sabotage. Eine Untersuchung durch Fachleute hat diese Vermutung nicht bestätigt5. Was die holländischen Nationalsozialisten angeht, so haben wir vorher er­ wähnt, daß 100 bis 200 Mitglieder der NSB, die in Deutschland lebten und größtenteils dort aufgewachsen waren, an den heimtückischen Überraschungs­ angriffen auf die Brücken am südlichen Teil der holländischen Grenze teilnahmen. Als Anton Mussert, der Führer der NSB, später davon erfuhr, war er sehr ver­ ärgert und sprach mehrmals von »einer schwarzen Seite in der Geschichte der Bewegung«. Dieses Maß von Verrat ging ihm zu weit. 1

Holl. Pari. Ber. Ia, S. 25.

2

Ebenda Ib, S. 22.

3

Halder: Tagebuch, 8. 5. 1940.

4

Der oben S. 136 zitierte »zuverlässige Bericht«, den das State Department 1943 veröffentlicht hat, besteht aus Auszügen eines längeren Berichts. Dieser war von einem amerikanischen Publi­ zisten aufgrund von Aussagen Wolfgang v. Putlitz’ verfaßt worden, der Gesandtschaftsrat an der Deutschen Gesandtschaft in Den Haag gewesen und am 14.9.1939 nach England geflohen war. In Nürnberg im Zeugenstand konnte Putlitz nur einen nicht näher beschriebenen Fall nennen, in welchem die Abwehr über Butting militärische Informationen erhalten hatte. (Militärgerichtshof Nr. IV Fall XI, engl. Protokoll S. 3681) Sein Bericht ist eine Mischung von Tatsachen und Phantasie. Hinsichtlich der Punkte, die für unsere Untersuchung wichtig sind, erhält der Leser einen Eindruck, der nicht mit den Tatsachen übereinstimmt. Putlitz, der wie jeder andere den Kampf in Holland nur in den Zeitungen verfolgt hat, gab dies am 7. 11. 1951 in einem Gespräch mit dem Verfasser zu. 5

Mitteilung General Nierstrass’. Der Untersuchungsausschuß des holländischen Parlaments bestätigte die Sabotagetheorie aufgrund unzureichenden Materials. Holl. Pari. Ber. Ia, S. 27.

185

Hingegen hoffte der Führer der NSB, daß er nach einer militärischen Ausein­ andersetzung in Westeuropa an die Macht kommen werde. Er sah die deutsche Offensive voraus. Zwei Agenten derjenigen Abteilung der Abwehr, welche die Verbindung zu unzufriedenen Minderheiten unterhielten, hatten im Januar 1940 bei ihm angefragt, was die NSB tun würde, falls die Deutschen die Grenze über­ quert hätten. Mussert hatte erwidert, die NSB würde Holland nicht in den Rücken fallen1. Das deutete auf die Möglichkeit passiven Verhaltens hin — eine Möglichkeit, die Mussert in dem berüchtigten Interview Ende April öffentlich andeutete12 . Privat ging der Führer der NSB weiter. Als ihn in der letzten April­ woche ein Doktor Scheuermann als Vertreter der Abwehr besuchte, sagte er, »er würde am liebsten mit den Waffen an deutscher Seite kämpfen... Bei einem deutschen Einmarsch in Holland müsse man die Erfahrungen mit Kuusinen und Quisling berücksichtigen, d. h. die neue Regierung müsse >als Retterin aus der Not< erscheinen. Er verfügte über eine feste Organisation von 50.000 Mann.3« Indessen gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß irgendeine amtliche deutsche Stelle Mussert auf irgendeine Weise in die deutschen militärischen Pläne ein­ geweiht hat. Butting hielt ihn für schwach und unentschlossen und nannte die Mehrzahl der Mitglieder seiner Bewegung »Bürger, die ihre ruhige Bequemlich­ keit nicht opfern, da es ihnen wirtschaftlich noch ziemlich gut geht4«. Rost van Tonningen, Musserts Verbindungsmann zu den Deutschen, war aus anderm Holze. Seit Mitte der dreißiger Jahre war er ständig mit Himmler in Verbindung gewesen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß er in die militärischen Pläne der Deutschen verwickelt war. Rost fürchtete, daß eine deutsche Invasion die Aussichten des Nationalsozialismus in Holland gründlich verderben werde. Es gibt mehrere ähnlich klingende Äußerungen, welche zeigen, daß er diese Ansicht Himmler selbst Anfang März 1940 vorgetragen hat5. Es ist keineswegs undenkbar, daß es in der NSB einige Leute gab, die im Falle kriegerischer Verwicklungen eine aktivere Rolle spielen wollten, als es Mussert und Rost van Tonningen wünschenswert erschien. Es gibt einzelne Anzeichen dafür,

daß

ähnliche

Gestalten

unter

den

extremen

Elementen

der

kleineren

nationalsozialistischen Bewegungen in Holland anzutreffen waren. Das alles bedeutete jedoch nicht viel. Wie schon festgestellt wurde, haben sich keinerlei Beweise dafür gefunden, daß holländische Nationalsozialisten in großer Zahl oder in organisierten Gruppen auf holländische Truppen geschossen haben. Hinsicht­ lich der Angehörigen der NSB, die zur Armee einberufen wurden, muß erwähnt 1 Brief Musserts an Generalkommissar Schmidt, 25. 11. 1940. Nederland in Oorlogstijd 1951. Nr. 3, S. 36/7. 2

Vgl. oben S. 73-74

3

KTB-Abwehr, 9. 5. 1940.

4

Brief Buttings an den Gauleiter der AO, 2. 1. 1939.

5

Mitteilung von Frau E. Fraenkel-Verkade, die im Auftrage des Niederländischen Staats­ instituts für Kriegsdokumentation Rost van Tonningens Korrespondenz herausgibt.

186

werden, daß »keine sicheren Angaben dafür bekannt geworden sind, daß Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten in der holländischen Armee Verrat begangen haben1*6. Abgesehen von »der schwarzen Seite« an der Grenze werden auch in der Literatur jener Zeit nur wenig Beispiele dafür genannt, daß Mitglieder der NSB den deut­ schen Truppen als Wegweiser gedient haben12 .

2. BELGIEN In den Vorstellungen der Menschen über die große deutsche Offensive in Bel­ gien und Frankreich spielte die Fünfte Kolonne eine weniger wichtige Rolle als in ihren Vorstellungen über die deutschen Operationen in Norwegen und Holland. In der westlichen Welt galt vor allem Norwegen als das Opfer einer verschlage­ nen und sorgfältig vorbereiteten Verschwörung, die den deutschen Truppen die Tore weit geöffnet habe, so daß sie nur einzumarschieren brauchten. Auch in Holland habe, meinten die Leute, Verrat, Spionage und Sabotage eine entschei­ dende Rolle gespielt. Aus Belgien und Frankreich hingegen klangen zwar die Nachrichten im Mai und Juni 1940 höchst verworren, doch lag der Akzent nicht so sehr auf der schwer zu greifenden Fünften Kolonne als auf den militärischen Operationen im eigentlichen Sinne. Viele Menschen erkannten, daß die Deutschen, mochten sie auch, wie man glaubte, von Helfershelfern wichtige Unterstützung bekommen, ihren Sieg dennoch ihrer militärischen Überlegenheit verdankten. »Die Fünfte Kolonne bestand nur aus wenigen Personen, und ihre Operationen kamen nicht zur Wirkung«, erklärte die belgische Regierung kurz nach ihrer An­ kunft in London3. Schon am 1. Juni 1940 erschien in der Londoner »Times« ein Aufsatz, dem die Erlebnisse mehrerer belgischer Offiziere zugrunde lagen, die darin übereinstimmten, daß »die Tätigkeit der Fünften Kolonne im allge­ meinen unbeachtlich war«. Was Frankreich angeht, so fällt auf, daß man in seriösen Arbeiten über die Kämpfe von 1940 nicht mehr auf die Fünfte Kolonne stößt, die im Mai und Juni 1940 in Presse und Rundfunk täglich erwähnt wurde. Schon am 24. Mai 1940 faßte ein französischer Stabsoffizier, der dem französischen Kriegskabinett über seine Eindrücke berichtete und sie zugunsten des schwerhörigen Marschalls Petain wiederholen mußte, seine Eindrücke in den Satz zusammen: »Herr Marschall, die deutsche Armee von 1939 hat die französische Armee von 1920 besiegt4.« In den wichtigsten Arbeiten der Nachkriegszeit über die Kämpfe ist diese Ansicht immer häufiger vertreten worden. Je mehr das französische Volk über 1

Beknopt overzicht, S. XIV.

2

In Goes. Nie. J. Karhof: Bezet, verzet, ontzet. Goes en omgeving in de bewogen jaren 1940—1944. Goes o. J. S. 20. — Ferner in Workum. Leixner: Lemberg bis Bordeaux, S. 142. 3

Belgie. Officieel overzicht van de gebeurtenissen 1939—1940. S. 29.

4

Jacques Mordal: La bataille de Dunkerque. Paris 1948. S. 102/3.

187

seine Niederlage nachdachte, um so mehr erkannte es, daß diese ihre Wurzeln in Frankreichs Geschichte im 20. Jahrhundert hatte. Sie war eben das unver­ meidliche Ergebnis einer Anzahl allgemeiner Mängel, die sich im gesamten Leben der Nation eingenistet hatten. Raoul Dautry, der energische Versorgungsminister im Kabinett Reynaud, erklärte vor der Untersuchungskommission des fran­ zösischen Parlaments: »Ich bin überzeugt, daß es nur wenige Franzosen gibt, die an der Niederlage und dem Waffenstillstand nicht mehr oder minder mitschuldig sind1.« Wie Frankreichs Kraft im Innern durch viele Faktoren geschwächt wurde, und wie die Deutschen, die nach einem kühnen strategischen Plan mit besser ausgerüsteten Truppen angriffen, in Westeuropa innerhalb von fünf Wochen den Sieg erringen konnten — das alles wollen wir hier nicht näher behandeln. Es würde zu weit führen. So einleuchtend es jedoch bereits sein mag, daß die öffent­ liche Meinung 1940 und später die Bedeutung der Fünften Kolonne für die deutsche Offensive in Westeuropa weit überschätzt hat, so fühlen wir uns doch noch nicht von der Pflicht entbunden, das Beweismaterial für die Vorstellungen von der Fünften Kolonne, wie sie 1940 in Belgien, Luxemburg und Frankreich im Schwange waren, eingehend zu untersuchen. Wir beginnen mit Belgien. Nach dem ersten Weltkrieg mußte Deutschland die Grenzbezirke von Eupen und Malmedy an Belgien abtreten, deren Bevölkerung größtenteils deutsch sprach. In den zwanziger Jahren entstand dort aus verschiedenen Gründen eine prodeutsche Bewegung, die sich nach Hitlers Machtergreifung »Heimattreue Front« nannte und bei verschiedenen Wahlen, zuletzt im Sommer 1939, mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen erhielt. In der »Heimattreuen Front« gab es einen Kern von aktiven jungen Nationalsozialisten. Zur Tarnung hatten diese einen Segelflug­ verein gegründet. Mitglieder dieses Vereins desertierten nach dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach Deutschland, wo sie von der Abwehr empfangen wurden. Sie dienten als Wegweiser der deutschen Truppen und bildeten auch eigene Sturm­ abteilungen, die stellenweise in heftige Kämpfe gegen die Belgier gerieten. Außer­ dem versuchte in Eupen eine Gruppe von etwa 80 deutschen Kriegsteilnehmern des ersten Weltkrieges, die wichtigsten Amtsgebäude in den Morgenstunden des 10. Mai zu besetzen. Angehörige des Segelflugvereins bemächtigten sich des Rathauses12 . 1 Les événements survenus en France de 1933 à 1945. Témoignages et documents recueillis par la Commission d’enquête parlementaire (Künftig zitiert als Franz. Pari. Ber.) Interrogations VII, S. 2036. Die Veröffentlichungen der französischen Parlamentskommission sind etwas ent­ täuschend: zu wenig Untersuchung, zu viel weitschweifige Apologie. 2

Organisations secrètes du pangermanisme et du nazisme dans les cantons rédimés avant le 10 mai 1940 (Auditorat-général, Service central de documentation, doc. Nr. 370). Dieser Bericht enthält das Protokoll der Untersuchung gegen Dr. Peter Dehottay, Juli-September 1946. Dehottay war der Sohn von Joseph D., der lange Zeit hindurch Führer der prodeutschen Be­ wegung in Eupen und Malmedy gewesen war.

188

Über solche Unternehmungen wird aus andern belgischen Bezirken in der Nähe von Luxemburg, wo ebenso wie in Eupen und Malmedy eine volksdeutsche Minderheit lebte, nichts berichtet. Ebensowenig gibt es zuverlässige Angaben über verräterisches Verhalten von Nationalsozialisten unter den mehr als 10.000 Reichsdeutschen, die in Belgien lebten. Nach dem Kriege haben sich keine klaren Hinweise dafür gefunden, daß sie als Agenten »in hellbraunen Uniformen mit Hakenkreuzknöpfen und Ab­ zeichen mit den Buchstaben DAP« operiert hätten, wie die amtliche Beschreibung lautete. Es ist unwahrscheinlich, daß die Mitglieder einer geheimen Vereinigung, falls diese existierte, sich so leicht erkennbar gemacht haben sollen. Nach Beginn der Offensive schickte die Abwehr eine Anzahl von Agenten hinter die Front der belgischen, französischen und britischen Armeen. Sie waren als Flüchtlinge verkleidet und mischten sich unter die nach Westen ziehenden Zivilisten. Im Schutze ihrer Verkleidung führten sie in Kinderwagen und Last­ wagen oder unter Matratzen Maschinengewehre bei sich. Es waren insgesamt 100 bis 200 Mann. Sie waren in Gruppen aufgeteilt und sollten Objekte, die für die deutschen Truppen wichtig waren — große Brücken und den Schelde-Tunnel bei Antwerpen —, überraschend besetzen und ihre Zerstörung verhindern. In der letzten Phase des Kampfes in Belgien wurden dieselben Kommandos verwendet, um die Überschwemmung im Gebiet der Yser zu verhindern1. Mehrere dieser Operationen waren erfolgreich. Über eine Zusammenarbeit deutscher Fallschirm­ jäger mit reichsdeutschen Nationalsozialisten oder Agenten der Abwehr ist Zuver­ lässiges nicht bekannt. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß solche als Arbeiter, Priester, belgische Soldaten, Polizisten oder Frauen verkleidete Fallschirmjäger mit oder ohne kleine Funkstationen tatsächlich im Hinterland operiert haben. Hingegen haben sie wirklich nachgemachte Maschinengewehre, die das Geräusch von Schüssen nachahmten, abgeworfen12 , und der Aussage des deutschen Fall­ schirmgenerals Student zufolge wurde auch eine große Zahl von Puppen abge­ worfen3. Das geschah besonders in den Ardennen4. Hierdurch wurde der Eindruck verstärkt, es seien Fallschirmjäger überall und sogar im Schloßpark der Königin­ mutter Elisabeth abgesprungen. Dieser Park wurde übrigens gründlich untersucht, aber nichts Verdächtiges gefunden. Die Posten waren jedoch so nervös, daß einer einen andern niederschoß, weil er ihn für einen deutschen Fallschirmjäger hielt5. Hinsichtlich der Möglichkeit einer Zusammenarbeit der Deutschen mit belgi­ schen

Faschisten

und

Nationalsozialisten

sollte

man

zunächst

beachten,

1

Mitteilung v. Lahousens. KTB-Abwehr, 31. 5. 1940.

2

Generalleutnant Oscar Michiels: Dix-huit jours de guerre en Belgique. Paris 1947. S. 58.

3

B. H. Liddell Hart: The Other Side of the Hill. London 1951. S. 163.

daß

4

Mitteilung von Oberst R. Lutens von der kriegsgeschichtlichen Abteilung des belgischen Generalstabes. 5

Henri de Man: Cavalier seul. Genf 1948. S. 221/2.

189

Léon Degrelles rexistische Bewegung, deren Anhänger sich vor allem im fran­ zösischsprechenden Teil Belgiens befanden, mehr zu Mussolini als zu Hitler ten­ dierte. Degrelle erhielt aus Rom beträchtliche Hilfsgelder1, was er auch nach dem Kriege zugab12 . Außerdem trat er im Januar 1940 an den deutschen Botschafter in Brüssel heran, um eine monatliche Unterstützung von annähernd 13.000 Reichsmark zu bekommen, die es ihm ermöglichen sollte, eine getarnte Abend­ zeitung herauszugeben3. Bisher liegen keine Beweise dafür vor, daß seine Bitte erfüllt wurde. Andererseits unterhielten die Deutschen Verbindung zu flämischen Nationalsozialisten, was in der Hauptsache eine Frucht der Beziehungen war, die während der deutschen Besetzung Belgiens im ersten Weltkrieg geknüpft worden waren. Staf de Clercq, der Führer des »Vlaams Nationaal Verbond« stand ständig mit Offizieren der Abwehr in Verbindung. Er wurde von ihnen unterstützt (seine Wochenzeitung erhielt 1939 monatlich 800 Reichsmark aus Berlin)4. Nach Aus­ bruch des Krieges schuf er in Verbindung mit der Abwehr in der belgischen Armee eine Organisation, die defaitistische Propaganda trieb. Ein Teil des Materials wurde in Deutschland gedruckt. Die erste Lieferung solchen Materials, die auch schon Ansätze zu Sabotage erhielt, wurde Mitte Januar 1940 von einem Offizier der Abwehr nach Belgien geschmuggelt und nach Brüssel gebracht5. Im März und April hatte Staf de Clercq eine Unterhaltung mit Dr. Scheuer­ mann, den wir bereits als Besucher der holländischen Nationalsozialisten kennen­ gelernt haben6. Die Deutschen waren der Ansicht, die demoralisierende Propa­ ganda der sogenannten Regimentsklubs des VNV habe ihre Wirkung getan. Daß der VNV sich »gewisse Verdienste erworben hat«, wurde in einer amtlichen deutschen Verlautbarung im Sommer 1940 anerkannt7. Die entscheidend wichtigen Brücken über den Albert-Kanal gingen nicht, wie damals behauptet wurde, infolge der Tätigkeit flämischer Nazi verloren, sondern als Ergebnis des Überraschungsangriffs und eines unglücklichen Zufalls. Der Offizier, der den Befehl zur Brückensprengung geben mußte, fiel in dem Augenblick, als die deutschen Segelflugzeuge in der Nähe der Brücken landeten. Die Boten, die sein Stellvertreter ausschickte, konnten nicht bis zu den Brücken durchdringen, und die überraschend angegriffenen Wachtposten brachten die 1 Am 8. 9. 1937 schrieb Ciano in sein Tagebuch: »Ich habe beschlossen, den Rexisten noch­ mals ihre Unterstützung zu zahlen (250.000 Lire monatlich).« Das waren in der Vorkriegszeit etwa 37000 RM. Galeazzo Ciano: Journal Politique 1937—1938. Paris 1949. S. 28. 2

Léon Degrelle: La cohue de 1940. Lausanne 1950. S. 34.

3

Telegramm des deutschen Botschafters in Brüssel an Auswärtiges Amt, 1. 2. 1940. Doc. Ger. For. Pol., D VIII, S. 724/5. 4

ADAP, D V, S. 537, Anm. 1.

5

Mitteilung v. Lahousens und KTB-Abwehr, 10. u. 16. 1. 1940.

6

KTB-Abwehr, 14. u. 17. 3. und 9. 5. 1940.

7

Bericht General v. Falkenhausens, Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich, an das OKH über die politische Lage in Belgien, 31. 7. 1940. NG-2381.

190

Sprengladungen nicht zur Explosion, da die Deutschen sofort die Leitungsdrähte zerschnitten hatten. »Es hat keinen Verrat gegeben1.« Auch gibt es keinen Beweis dafür, daß belgische Bahnbeamte mit den Deut­ schen zusammengearbeitet haben. Die Franzosen vermuteten Verrat besonders angesichts der Unordnung, die am 16. Mai 1940 auf dem Güterbahnhof von Soignies entstanden war und als deren Folge französische Panzer angeblich nicht rechtzeitig ausgeladen worden waren. Eine genaue Untersuchung durch die belgi­ schen Eisenbahnbehörden ergab, daß der in Frage stehende Schienenabschnitt am 15. Mai von Bomben getroffen wurde, daß am 16. Mai die Strecke jedoch wie­ der in Ordnung war. An eben diesem Tag waren französische Panzer wie gewöhn­ lich ausgeladen worden. Von Sabotage war keine Rede12 . Es bedarf kaum der Erwähnung, daß König Leopolds Entschluß zu kapitu­ lieren, nicht durch Eingreifen der Gestapo veranlaßt worden war, wie im Juni 1940 behauptet wurde. Diese Anschuldigung ist später nicht wiederholt worden. Was das planmäßige Ausstreuen von Gerüchten angeht, so ist denkbar, daß Mitglieder des VNV, soweit sie nicht verhaftet worden waren, unter der Zivil­ bevölkerung dieselbe defaitistische Propaganda trieben wie früher bei der Truppe. Schließlich wurde im Mai 1940 behauptet, daß auf der Rückseite der Plakate für »Pascha«-Cichorie Geheimzeichen zur Unterstützung der deutschen Fall­ schirmjäger angebracht worden waren; daß durch das Hin- und Herbewegen von Vorhängen, durch das Anbringen von Vorhängen von verschiedener Farbe oder durch Lichtsignale der deutschen Luftwaffe irgendwelche Hinweise gegeben wurden; daß Helfershelfer des Feindes merkwürdige Pfeile »mit drei Grammo­ phonplatten am Ende« auslegten, um den Sitz militärischer Stäbe mitzuteilen, oder daß sie den Deutschen durch das Inbrandstecken bestimmter Heuschober oder durch das Ausbreiten von Landkarten oder Papier in bestimmten Mustern Hinweise gegeben haben. Es haben sich keine Beweise dafür gefunden, daß diese von Belgiern, Fran­ zosen oder Briten mitgeteilten Beobachtungen als Tätigkeit deutscher Agenten oder Werkzeuge betrachtet werden müßten, die mit den deutschen militärischen Operationen in Zusammenhang standen. Es ist bezeichnend, daß in der amtlichen britischen Geschichte des Krieges in Flandern der Ausdruck »Fünfte Kolonne« überhaupt nicht vorkommt und keinerlei Handlungen erwähnt werden, die 1940 jenen unheimlichen Gruppen feindlicher Agenten zugeschrieben wurden3.

1

Michiels a.a.O., S. 86.

2

Rapport aan de secretaris-generaal van de Nationale Maatschappij der Belgische Spoor­ wegen. — Mitteilung von C. Pierard, Pressechef der Belgischen Staatsbahnen. 3

Major L. F. Ellis: The War in France and Flanders 1939—1940. London 1953.

191

3. LUXEMBURG

Für das deutsche Oberkommando war es überragend wichtig, daß das Gebiet des Großherzogtums Luxemburg schnell durchquert würde: die deutschen Panzer mußten zwischen Namur und Sedan so schnell wie möglich durch die Ardennen hindurch an die Maas vorstoßen. Zu diesem Zweck wurden einige Agenten der Abwehr in Zivilkleidung auf Motorrädern über die Grenze gebracht. Sie hatten die Aufgabe, Telefonverbindungen außer Betrieb zu setzen und zu verhindern, daß gewisse Objekte, die für die deutschen Operationen wichtig waren, zerstört wurden. Ferner sollten sie dafür sorgen, daß das wichtigste Kraftwerk nicht gesprengt wurde1. Eine luxemburgische Quelle erklärt, diese Agenten seien bei Tage an einem orange­ farbenen Taschentuch — solche Taschentücher sind uns schon in Polen begegnet und bei Nacht durch grüne Lichtsignale einer Taschenlampe erkennbar gewesen12 . Es Hegen Anzeichen dafür vor, daß ähnliche Handlungen, also Störung von Telefonan­ schlüssen bei den Grenzposten, Überfälle auf solche Posten und die Verhinderung von Straßensperren, von anderen Personen als Abwehragenten begangen wurden. Eine nationalsozialistische Gruppe, die »Luxemburgische Volksjugend«, war 1936 entstanden. Im Januar 1940 erhielt sie aus Deutschland die Aufforderung, sie möge ihre Propaganda einstellen, »da andere, nicht näher genannte Aufgaben wichtiger

seien3«.

Es

ist

daher

wahrscheinlich,

daß

einige

deutschfreundliche

Luxemburger in diesen Dingen eine aktive Rolle gespielt haben. Andere traf man am Morgen des 10. Mai in ihren Häusern an. Sie wurden verhaftet und nach Frankreich gebracht4. Die Kämpfe in Luxemburg dauerten nur sehr kurz und waren nicht sehr heftig; nur 75 Angehörige der luxemburgischen Streitkräfte wurden gefangengenommen, sechs Polizisten und ein Soldat wurden verwundet und niemand getötet5. Nur eine Minderheit der in Luxemburg lebenden Reichsdeutschen — 1936 waren es 17.000 — waren Nationalsozialisten. Über 2000 gehörten der Auslandsorgani­ sation und deren Gliederungen an. 3700 machten sich am 29. März 1936 die kleine Mühe, an den Wahlen in Deutschland teilzunehmen, die Hitler nach der Besetzung des Rheinlandes angeordnet hatte6. 1

Mitteilung v. Lahousens. KTB-Abwehr, 23. 3. 1940.

2

Paul Weber: Geschichte Luxemburgs im zweiten Weltkrieg. Luxemburg 1946. S. 17. Weber berichtet, diese Unternehmungen seien von der Gestapo organisiert worden. 3 »Die bisherige Arbeit und die zukünftige Zielsetzung der Luxemburger Volksjugend«. Teil des Berichts von Prof. R. Csaki vom 12. 7. 1940: »Volkspolitische Grenzfahrt durch die deutschbesiedelten Teile der besetzten Gebiete im Westen.« Dieser Bericht ist eine Anlage zu dem Brief der Abwehrstelle Münster an das Amt Ausland-Abwehr vom 7. 8. 1940. 4 Hermann Bickler: Widerstand. Jungmannschaft. Straßburg 1943. S. 255.

Zehn

Jahre

Volkstumskampf

der

Elsaß-Lothringischen

5

Livre d’or de la résistance luxembourgeoise de 1940—1945. Esch s. Alzette 1952. S. 480.

6

Wir Deutsche in der Welt 1937. Berlin 1936. S. 93/5.

192

Die Berichte, daß ein paar tausend deutsche Agenten als Touristen oder Ange­ stellte eines deutschen Zirkus nach Luxemburg eingeschmuggelt worden seien, haben sich nicht bestätigt, ebensowenig die Behauptungen, daß Frauen vom Fenster aus auf französische Truppen geschossen oder daß Kinder deutschen Soldaten Signale gegeben hätten. In Luxemburg ist hierüber nichts bekannt.1

4. FRANKREICH

Wenn wir in Frankreich wiederum mit der Arbeit der Abwehr beginnen, so müssen wir zugeben, daß uns die Angaben fehlen, die eine angemessene Vorstel­ lung von der Aufklärungs- und Spionagetätigkeit geben könnten, die vor und nach Ausbruch des Krieges in Frankreich stattgefunden hat. Daß diese Tätigkeit intensiv war, kann man jedoch aus der Tatsache schließen, daß das deutsche Oberkommando schon im Herbst 1938 der deutschen Luftwaffe die notwendigen Unterlagen für eventuelle Luftangriffe zur Verfügung stellen konnte. Dieses Mate­ rial enthielt genaue Angaben über die in der Nähe von Paris gelegenen franzö­ sischen Flugplätze, Ölraffinerien, Munitionsfabriken, Waffenlager, Kraftwerke und Flugzeugmotorenwerke12 . Die Annahme, daß die Deutschen intensiv spioniert haben müssen, wird weiter durch die Tatsache gestützt, daß das deutsche Ober­ kommando über das französische Mobilmachungssystem völlig unterrichtet war3. Eine Anzahl von deutschen Spionen wurde verhaftet und verurteilt; die Namen von etwa dreißig von ihnen wurden von September 1939 bis Juni 1940 in der franzö­ sischen Presse veröffentlicht. In demselben Zeitraum wurde vor und nach Beginn der deutschen Offensive in Frankreich Sabotage verübt, die von der Abwehr gelenkt wurde. Eine dieser Operationen hatte die Brandstiftung in den Baumwollspeichern von Marseille zum Ziel, die in Italien vorbereitet worden war4. Genau wie in Belgien und Luxemburg waren in Frankreich nach Beginn der deutschen Offensive kleine Agententrupps der Abwehr in Zivilkleidung durch die Linien hindurchgeschickt worden. Sie sollten auf eigene Faust ins Hinterland ge­ langen oder sich unter die Flüchtlinge mischen, um zu verhindern, daß die Fran­ zosen Zerstörungen vornähmen, welche den deutschen Vormarsch hindern könn­ ten, oder um Sabotage zu begehen. Aus deutschen Anweisungen, welche die Fran­ zosen gefunden haben, geht hervor, daß diese Agenten sich bei Tage durch ein gelbes Taschentuch und nachts durch ein grünes Licht zu erkennen geben sollten5. 1

Mitteilung von Prof. Paul Weber in Luxemburg.

2

Brief des Generalstabes an den Chef des Luftwaffe-Führungsstabes, 25. 8. 1938. PS-375, IMT XXV, S. 386/7. 3

13

Peter Bor: Gespräche mit Halder. Wiesbaden 1950. S. 144.

4

KTB-Abwehr, 29. 3. 1940.

5

Le Temps, 6. 6. 1940.

193

Außerdem warf die Abwehr eine kleine Zahl von Agenten mit Fallschirmen ab. Diese waren mit Mitteln zur Brandstiftung ausgerüstet1. Ferner muß erwähnt werden, daß die Abwehr in Frankreich mit einer kleinen Gruppe bretonischer Nationalisten Fühlung hatte, die schon seit Anfang der zwan­ ziger Jahre gegen die französische Regierung Widerstand leisteten. Diese Bretonen waren für den deutschen Nachrichtendienst deshalb wichtig, weil viele Angehörige der französischen Marine aus bretonischen Fischerdörfern stammten. Die Ergeb­ nisse waren jedoch enttäuschend12 . Es gibt keinen Beweis dafür, daß diese extremen Elemente während der deutschen Offensive irgendwie tätig geworden sind. Das gilt auch für die deutschfreundlichen Autonomisten im Elsaß, die seit Versailles mit Deutschland Fühlung gehabt hatten. Als sich der aggressive Charak­ ter des Nationalsozialismus deutlich abzeichnete, schmolz ihre Bewegung zu einer Sekte von Fanatikern zusammen. Schon im April und Mai 1939 begannen die Fran­ zosen damit, die Anführer der Autonomiebewegung zu verhaften. Nach Kriegs­ ausbruch folgten weitere 300 Verhaftungen3. Irgendeine nennenswerte Unter­ stützung der deutschen Truppen durch die elsässischen Autonomisten ist nicht zu­ tage gekommen. Dabei sollte man auch bedenken, daß ein großer Teil der elsässi­ schen Bevölkerung im Herbst 1939 evakuiert worden war, und daß die Deutschen das Land erst besetzten, als der Kampf bereits entschieden war. In jener letzten Phase kurz vor der Entscheidung waren Personen, die der Deutschfreundlichkeit verdächtigt wurden, verhaftet und ins Innere Frankreichs transportiert worden. Dasselbe Schicksal erlitten einige unschuldige Menschen. Es mag sein, daß in einzelnen Fällen Autonomisten, die sich noch in Freiheit befanden, deutschen Truppen den Weg gezeigt haben. Ein solcher Fall wird aus Colmar berichtet4. Dort schien die deutsche Sicherheitspolizei auch eine Liste mit den Adressen der angesehensten jüdischen Familien zu besitzen5. Die Abwehr hatte freundschaft­ liche Beziehungen zu gewissen Autonomisten unterhalten, doch sind Einzelheiten nicht bekannt6. Hiervon abgesehen, weiß man nichts Genaues über die Tätigkeit der deutschen militärischen Fünften Kolonne in Frankreich. Die dort lebenden Reichsdeutschen hatten gar keine Möglichkeit, eine schädliche Tätigkeit zu entfalten. Wer am Vor­ abend des Krieges der Aufforderung der Reichsregierung, Frankreich so schnell wie möglich zu verlassen, nicht Folge geleistet hatte, wurde interniert. Die Ge­ samtzahl der Reichsdeutschen ist nicht bekannt. 1931 waren es etwa 30.000, doch 1

Ebenda, 25. 5. 1940. Durch v. Lahousen bestätigt.

2

Mitteilung v. Lahousens. Daß es im April 1940 in Brest deutsche Agenten gab, erhellt aus den »Meldungen der Wehrmacht über die Lage am 13. 4. abends«. Hubatsch: Besetzung S. 284/5. 3

M. J. Bopp: L’Alsace sous l’occupation allemande 1940—45. Le Puy 1946. S. 42.

4

Ebenda, S. 47.

5

Ebenda, S. 50.

6

KTB-Abwehr, 4., 5., 17. 7. u. 30. 8. 1940.

194

ging die Zahl später zurück1. 1937 gehörten in ganz Frankreich knapp 3000 Per­ sonen der »Deutschen Gemeinschaft« an, welche die Auslandsorganisation der NSDAP für diejenigen Deutschen geschaffen hatte, die eine gewisse Verbindung mit dem Dritten Reich aufrechterhielten12 . In demselben Jahr nahmen in Paris, wo mehr als die Hälfte aller Reichsdeutschen lebte, etwa 130 Personen (Männer, Frauen und Künder) an dem demonstrativen Eintopfessen teil3. Über eine Be­ teiligung deutscher und österreichischer Flüchtlinge an der Tätigkeit einer Fünften Kolonne ist nichts bekannt geworden. Der im Mai 1940 entstandene Eindruck, daß der Verlust der wichtigsten Brücken über die Maas zwischen Sedan und Namur auf den Verrat einer Fünften Kolonne in der französischen Armee zurückzuführen sei, ist unzutreffend. Doumenc zu­ folge, der die Geschichte der französischen IX. Armee geschrieben hat, sind alle Brücken über die Maas rechtzeitig gesprengt worden4. Nördlich von Dinant konn­ ten die Deutschen das Westufer über ein Wehr erreichen5. Überall sonst mußten sie den Fluß in gewöhnlichen Fahrzeugen oder Gummibooten, auf Flößen oder schwimmend überqueren6. Nach dem Kriege gab Reynaud offen zu, daß er General Corap, den Kommandierenden General der IX. Armee, versehentlich im Zusammen­ hang mit dem Bericht genannt hatte, daß die Brücken nicht zerstört worden seien7. Schon 1940 hatte eine amtliche französische Untersuchung ergeben, daß Corap nichts vorzuwerfen war8. Nirgends hat sich gezeigt, daß die Fünfte Kolonne falsche Befehle ausgegeben hat. Die Menschen brachten solche Befehle vor allem mit der überstürzten Evaku­ ierung großer Teile der französischen Zivilbevölkerung in Verbindung. Tatsäch­ lich haben die französischen Militär- und Zivilbehörden diese Evakuierung ange­ ordnet. Sie wollten der nordfranzösischen Bevölkerung eine Wiederholung der Leiden ersparen, welche diese während der deutschen Besetzung von 1914—18 erduldet hatte. Die Räumung eines beträchtlichen Teils dieses Gebietes wurde vom französischen Oberkommando am Abend des 10. Mai 1940 angeordnet9. Nicht in einem einzigen Fall haben wir Beweise dafür, daß die Flucht der Bevölkerung durch falsche, von feindlichen Agenten verbreitete Befehle veranlaßt worden ist. Eine gründliche Untersuchung nach dem Kriege hat lediglich ans Tageslicht ge­ 1

HWB II, S. 551.

2

Ebenda, S. 552.

3

Deutsche Zeitung in Frankreich (Paris), 15. 4. 1937.

4

A. Doumenc: Ilistoire de la neuvième armée. Grenoble 1945. S. 60.

5

Ebenda, S. 83.

6

Ebenda, S. 99, 102/3, 116.

7

Reynaud: La France a sauvé l’Europe. Paris 1947. II, S. 80.

8

Aussagen von General Georges. Franz. Pari. Ber. III, S. 717; von General Lacaille, ebenda IV, S. 937/8; von General Véron. Ebenda V, S. 1289/90, 1293/4 und 1307. 9

M. Lerecouvreux: Huit mois d’attente, un mois de guerre. Paris 1946. S. 144.

195

bracht, daß in einem einzigen mittelfranzösischen Ort, Chaumont an der Loire, ein Friseur, der die Bevölkerung mehrmals zur Flucht drängte, mit den Deutschen tatsächlich

unmittelbar

nach

ihrem

Eintreffen

Verbindung

aufgenommen

hat1.

Vielleicht hat es auch noch andere Leute gegeben, die aus eigener Initiative oder in Ausführung eines deutschen Planes die allgemeine Verwirrung zu vergrößern versucht haben; Beweise dafür haben wir jedoch nicht12 . Schließlich hatte man damals geglaubt, daß während des Feldzuges eine große Zahl von Verrätern im Hinterland den Deutschen geholfen habe; daß feindliche Agenten, die bereits in Frankreich waren oder als belgische Flüchtlinge einge­ schmuggelt worden waren, den Deutschen an die Hand gegangen seien, und zwar vornehmlich als Priester, Mönche oder Nonnen verkleidet; daß sie auf franzö­ sische Truppen geschossen, umherspioniert, absichtlich alarmierende Gerüchte verbreitet, der deutschen Luftwaffe Signale gegeben — die »Morsezeichen über ganz Paris«, die ein englischer Romanschriftsteller bemerkt hatte — oder vergiftete Süßigkeiten verteilt hätten. Für keine dieser Vorstellungen haben sich irgendwelche Beweise gefunden. In der französischen militärischen Literatur über die Kämpfe von 1940 wird nicht ein einziger wirklich überzeugender Fall von Tätigkeit einer Fünften Kolonne dieser Art beschrieben. Es ist typisch, daß diejenigen Offiziere, welche sich aus der alles durchdringenden Atmosphäre der Panik heraushielten, nichts Verdäch­ tiges bemerkt haben. Der ruhige Cheynel, der in seinem Tagebuch den Rückzug seiner Einheit nach Mittelfrankreich beschreibt, hat selbst von der Fünften Kolonne nur das eine bemerkt, daß er und seine Leute in der Gegend von Nancy von einem Verrückten, den er sofort verhaften ließ, als Angehörige der Fünften Kolonne be­ schimpft wurden3.

1 Prof. Jean Vidalenc: L’Exode de 1940. Méthodes et premiers résultats d’une enquête. In: Revue d’histoire de la deuxième guerre mondiale. Paris Juni 1951. 1,3 S. 51—55. Durch Mitteilungen des Verfassers ergänzt. 2

Mitteilung von Vidalenc.

3

Henri Cheynel: Carnet de route d’un médecin de l’avant. Paris 1946. S. 133.

196

XII

ENGLAND UND AMERIKA 1. ENGLAND

Soweit die Urkunden über die deutschen Pläne für eine Landung in England bekanntgeworden sind, gibt keine zu der Vermutung Anlaß, daß Hitler dort eine größere Zahl von Menschen anzutreffen glaubte, die ihm behilflich sein würden. Am 21. Juli 1940 sagte er: »Wir können nicht darauf rechnen, daß uns in England irgendwelche Vorräte zur Verfügung stehen werden1«. Es ist bezeichnend, daß er in den Wochen, in denen er ernstlich an eine Invasion in England dachte, keiner­ lei Vorstellung davon hatte, was er mit seinen Fallschirmjägern und Landungs­ truppen machen sollte, die schließlich, wenn es eine Fünfte Kolonne gab, mit dieser hätten Zusammenarbeiten müssen. Am 16. Juli und am 26. August bat er zweimal die Wehrmachtsteile um Vorschläge, wie diese Sondereinheiten operieren sollten12 . Ob solche Vorschläge gemacht wurden, ist nicht bekannt. Selbst falls der große Angriff auf England nicht stattfinden würde, hatten die deutschen Militärs vor dem Kriege sich doch große Mühe gegeben, um Nachrichten über das Inselland zu sammeln, die ihnen im Falle eines Konflikts zustatten kom­ men sollten. Im August 1938 waren über die meisten britischen Flugplätze, soweit sie den Deutschen bekannt waren, Kartenskizzen angefertigt worden; auch hatte der deutsche Generalstab Pläne sowie Luft- und Bodenfotografien von Häfen, Dockanlagen, Lagerhäusern und Öltanks in der Nähe von London und Hull ge­ sammelt. Man rechnete damals damit, daß die ganzen Bezirke von London und Hull noch vor Ende September 1938 kartographisch erfaßt sein würden3. Die Sammlung von Einzelheiten ging weiter. Im Juni 1939 wurde die Reichs­ regierung aufgefordert, ihren Generalkonsul in Liverpool abzuberufen; er war als Mittelsmann für deutsche Spionage aufgetreten, die ein Munitionsarbeiter be­ trieben hatte, der mit einer deutschen Köchin in Manchester Verbindung aufge­ nommen hatte. Ferner wurden noch vor dem Kriege drei Arbeiter in dem großen Arsenal von Woolwich verurteilt, weil sie den Deutschen Mitteilungen gemacht 1

Führer Conferences 1940, S. 72.

2

Ebenda, S. 68 u. 86.

3

Brief vom Generalstab des Heeres an Luftwaffe-Führungsstab, 25. 8. 1938. PS-375, IMT XXV, S. 387/8.

197

hatten. Man darf annehmen, daß andere Spitzel in Freiheit blieben. Als der große Kampf begann, besaßen die britischen Sicherheitsbehörden eine Adressenliste von 350 Personen, die als verdächtig galten. Soweit sie noch in England waren, wurden sie alle in den ersten Septembertagen interniert1. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die deutsche Spionage sich vor Kriegsaus­ bruch in größerem Umfang deutscher Touristen, der Besucher von Jugendherbergen oder der Hausangestellten bedient hat. Es ist denkbar, daß sie in einzelnen Fällen tatsächlich mit Hilfe solcher Personen Material zu sammeln versucht hat; nähere Beweise fehlen jedoch, und die Schriftsteller, die insoweit verschwenderisch mit Anklagen umgehen, widersprechen sich12 . Aus den verfügbaren Angaben, die allerdings unvollständig sind, gewinnt man nicht den Eindruck, daß die deutsche Spionage während des Krieges in England großen Umfang gehabt hat. Soviel man weiß, war an dem größten Erfolg der Ab­ wehr die Tätigkeit des amerikanischen Beamten Tyler Kent beteiligt. Dieser Mann war ein fanatischer Faschist, der als Mitglied der amerikanischen Botschaft in London vom Herbst 1939 bis zu seiner Verhaftung am 18. Mai 1940 der Abwehr über die italienische Botschaft nicht weniger als 1500 chiffrierte Mitteilungen auf Mikrofilmen zuspielte. Darunter befanden sich Noten, die Whitehall und Washing­ ton ausgetauscht hatten, und Berichte des amerikanischen Botschafters Kennedy3. Im übrigen war bis zum Ende des Krieges »die Zahl der deutschen Agenten in Großbritannien klein, ihre Mitteilungen unzuverlässig und zudem wurden die meisten ihrer Verbindungen überwacht4«. Auf verschiedenen Wegen wurden Agenten nach England hineingeschmuggelt. 18 von ihnen wurden, größtenteils sehr bald, verhaftet und gehängt5. In den Dokumenten, die über die Vorbereitun­ gen für eine deutsche Landung veröffentlicht worden sind, findet man nur einen einzigen Fall von Spionage mit den teilweise unzutreffenden Beobachtungen »eines Geheimagenten6«. Die Qualität der Mitteilungen eines andern Agenten, die Goebbels im September 1940 erreichten, war nicht besser. Diesem Mann zufolge 1

F. Lafitte: The Internment of Aliens. London 1940. S. 65.

2

Nach Kriegsausbruch wurde eine gewisse Mrs. Ingram verhaftet, eine deutschbürtige Frau, die seit 1922 in England lebte und Sir Oswald Mosley glühend bewunderte. Sie hatte die Absicht, den deutschen Truppen zu helfen. Sie war als Haushälterin bei einem Marineoffizier beschäftigt. Diese impulsive Dame erzählte jedem, der es hören wollte, die Juden hätten den Krieg angefangen und Churchill sei für England ein Unglück. Siehe bei E. H. Cookridge: Secrets of the British Secret Service. S. 84. 3

Ebenda, S. 122-5.

4

Ian Colvin: Chief of Intelligence. London 1951. S. 75.

5

Cookridge a.a.O., S. 104.'

6

Führer Conferences 1940, S. 89. — Ciano schrieb am 11. 9. 1940 in sein Tagebuch: »Es erscheint unglaublich, doch haben wir in Großbritannien nicht einen einzigen Informanten. Die Deutschen hingegen haben viele. In London selbst befindet sich ein deutscher Agent, der bis zu neunundzwanzigmal am Tage Funksprüche übermittelt. Das erklärt jedenfalls Admiral Canaris.« Ciano: Tagebücher, S. 291.

198

herrschte in London eine solche Aufregung, daß adelige Damen ihre Bedürfnisse im Hyde-Park verrichten mußten1. Einige der hier erwähnten Agenten, die alle von der Abwehr ausgeschickt wur­ den, hatten auch Aufträge zu Sabotageakten. Übrigens versuchten nicht nur Deutsche, nach England zu gelangen. Im Herbst 1940 wurde ein spanischer Falangist ausgebildet, der über Irland eingesetzt werden sollte12 , und kurze Zeit später ver­ suchte ein Fischdampfer mit drei kubanischen Agenten an Bord, von Brest aus England zu erreichen3. Die Bemühungen der Abwehr richteten sich besonders darauf, die Aktivisten nationalistischer Bewegungen anzuspornen, die sich gegen die britische Regierung auflehnten. Im Frühling 1940 stellte sich eine Gruppe walisischer Nationalisten für solche Störarbeit zur Verfügung. Sechs Monate später (am 14. November) stellte man in Berlin »rege Tätigkeit im Sinne der von Abwehr II gestellten Aufgaben« fest4. Die Abwehr versuchte auch mit schottischen Nationalisten Fühlung aufzu­ nehmen, doch ist über den Erfolg nichts bekannt5. Hingegen hatten die Deut­ schen Erfolg bei der Fühlungnahme mit Führern und Angehörigen der Irischen Republikanischen Armee. Einige von diesen hatten in der Zeit vor Ausbruch des Krieges Bombenanschläge verübt. Im Januar 1940 ereignete sich in einem elek­ trischen Kraftwerk in Lancashire eine Explosion. Es handelte sich um Sabotage, die, wie man in Berlin feststellte, »auf die mit derartigen Aufträgen betrauten irischen Aktivisten zurückzuführen« war6. Ein Jahr später erfuhr die Abwehr über Spanien, daß Angehörige der IRA einen Munitionszug in der Grafschaft Leicester in die Luft gesprengt hatten7. 1940 gab sich die Abwehr große Mühe, um die Tätigkeit der IRA in Eire zu steigern. Dort mußten die irischen Agenten rekrutiert werden, die in England und Nordirland operieren sollten. Die Beziehungen, die Berlin zu den irischen Extre­ misten unterhielt, rissen kurz nach Kriegsausbruch ab, wurden jedoch im Oktober 1939 wiederhergestellt8. Die Deutschen ließen den Extremisten aus Amerika einen Rundfunksender schicken. Als diese nach einiger Zeit anfingen, den Sender für Propaganda zu benutzen, wurde er bald ermittelt und beschlagnahmt9. Im Kriegs­ tagebuch der Abwehr wird ein gewisser Jim O’Donovan als Führer dieser Extre­ misten genannt. Anfang Mai schickten die Deutschen Leutnant Goertz als Ver­ 1

Wilfred von Oven: Mit Goebbels bis zum Ende. Buenos Aires 1950. II, S. 43.

2

KTB-Abwehr, 11. 9. 1940.

3

Ebenda, 6. 11. 1940.

4

Ebenda, 17. 2., 27. 4., 15. 8., 11. u. 14. 11. 1940.

5

Ebenda, 11. 11. 1940.

6

Ebenda, 27. 1. 1940.

7

Ebenda, 7. 1. 1941.

8

Ebenda, 30. 3. und 20. 4. 1940.

9

Ebenda, 4. 2. 1940.

199

bindungsoffizier, der einen neuen Sender und Geld mitbrachte. Das alles wurde von der irischen Polizei sehr bald in dem Hause seines Gastgebers entdeckt1. Mitte Januar berichtete Leutnant Goertz, seine Arbeit gehe gut voran, bat aber dringend um mehr Hilfe12 . Einige Zeit später führten die Schwierigkeiten, auf die er stieß, zu einem Nervenzusammenbruch, und bald darauf wurde er verhaftet3. Inzwischen hatte sich die Abwehr energisch darum bemüht, ihre Zusammenar­ beit mit Irland zu verbessern. Im Januar 1940 schlug Sean Russell, Adjudant des früheren Führers der IRA (er war nach Amerika geflohen), über das deutsche Konsulat in Genua der Abwehr vor, sie solle ihn nach Deutschland bringen, damit er sich dort auf seine Tätigkeit in Irland vorbereiten könne. Russell hatte einen Steward auf einem amerikanischen Schiff als Mittelsmann benützt. Die Abwehr akzeptierte diesen Vorschlag, Russell wurde entsprechend unterrichtet und konnte gegen Ende April als blinder Passagier nach Genua gelangen. In Berlin erhielt er eine Notausbildung als Saboteur4. Es war geplant, daß er in einem U-Boot an die irische Küste gebracht und dabei von Frank Ryan begleitet werden sollte. Dieser, ebenfalls ein irischer Extremist, war schon seit einiger Zeit als Agent der Abwehr tätig gewesen5. Sie sollten einige Begleiter erhalten, die sie unter den irischen Kriegs­ gefangenen des britischen Expeditionskorps gefunden hatten, und ferner mit einem Sender und Sabotagematerial ausgerüstet werden. Russell sollte keine bestimmten Aufträge erhalten, sondern selbst entscheiden, was er am besten tun könne. Er sollte jedoch vor allem versuchen, seine Aktionen mit einer eventuellen deutschen Invasion in England abzustimmen. Wenn es dazu käme, sollte er im letzten Augen­ blick »durch ein noch zu verabredendes Zeichen (z. B. roter Blumenstock in einem bestimmten Fenster der Deutschen Gesandtschaft in Dublin)« unterrichtet werden. Russells Unternehmen wurde vom Auswärtigen Amt finanziert, welches die Ab­ wehr zu einer Einrichtung zu machen hoffte, die nur noch auf technische Hilfe­ leistung beschränkt sein würde. Am 8. August 1940 ging ein U-Boot mit Russell und Ryan in See. Das Unternehmen scheiterte kläglich. Noch ehe sie Irland erreich­ ten, starb Ryan an einem Herzanfall, und daraufhin wurde das Unternehmen abgeblasen6. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Deutschen außerdem Anschläge auf das Leben Churchills, General de Gaulles und Präsident Beneschs planten, doch sind dafür niemals eingehende Beweise veröffentlicht worden7. 1

Ebenda, 25. 5. 1940.

2

Ebenda, 13. 1. 1941.

3

Leverkühn a.a.O., S. 86.

4

KTB-Abwehr, 30. 1., 22. 2., 19. u. 30. 3., 26. 4., 1. u. 20. 5. 1940.

5

Ebenda, 13. u. 17. 7. 1940. Dazu Aussage von Kurt Haller in: Militärgerichtshof Nr. IV Fall XI, engl. Protokoll, S. 20 u. 442/3. 6

KTB-Abwehr, 23. u. 25. 5., 3. 8. u. 15. 8. 1940. — Abshagen a.a.O., S. 275/8.

7

Cookridge a.a.O., S. 185.

200

Über das wirkliche Ausmaß der hier skizzierten Operationen — die Arbeit deut­ scher Agenten und von Extremisten aus Wales, Schottland und Irland — gibt es keine sicheren Nachrichten. Zudem endet unsere wichtigste Quelle, das Kriegs­ tagebuch von Abwehr II, leider im April 1941. Aus dem vorhandenen Material gewinnt man den Eindruck, daß bis zu diesem Zeitpunkt nur die Tätigkeit relativ kleiner Gruppen von Fanatikern erwähnt worden ist. Im Jahre 1940 galten jedoch in England drei große Gruppen als mögliche oder wirkliche Fünfte Kolonnen: die Reichsdeutschen, die deutschen Emigranten und die britischen Faschisten. Wir müssen die Tätigkeit und die Gesinnung dieser Gruppen etwas genauer schildern. Über den Einfluß der Auslandsorganisation der NSDAP auf die Reichsdeut­ schen sind keine Zahlen veröffentlicht worden. 1931 gab es in England, Schottland und Wales 15 500 Reichsdeutsche, von denen fast zwei Drittel in London lebten1. 1934 gaben die Deutschen zu, daß die meisten Reichsdeutschen, die lange in Eng­ land gelebt hatten, mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben wollten12 . Berücksichtigen wir die allgemeinen Verhältnisse in Westeuropa, so dürfen wir wohl annehmen, daß die Zahl der Reichsdeutschen, die etwas mit der Auslands­ organisation und deren Gliederungen zu tun hatten, etwa bei tausend lag. Eine Schätzung, daß bei Kriegsausbruch nicht weniger als 20.000 organisierte deutsche Nationalsozialisten in England gelebt hätten, erscheint viel zu hoch3. Jedenfalls wurden bei Kriegsausbruch nur 7400 deutsche Staatsangehörige von den Ausländer­ tribunalen als nicht völlig zuverlässig angesehen, und von diesen behaupteten 4300, sie seien richtige Emigranten4. Unter den übrigen 3100 befanden sich die in England lebenden Reichsdeutschen, von denen man annahm, daß sie mit dem National­ sozialismus sympathisierten. 350 von ihnen, die als Spitzel bekannt oder verdächtigt waren, waren bei Kriegsausbruch verhaftet worden. Es ist nur wahrscheinlich, daß sich unter ihnen Mitglieder der Auslandsorganisation befanden. Unter den Emigranten aus Deutschland sind möglicherweise einige wenige ge­ wesen, die wie Dr. Hans Wesemann bereit waren, der Gestapo auf mancherlei Weise behilflich zu sein, beispielsweise durch Mitteilungen über Devisenschmuggel aus Deutschland. Es ist jedoch eine Tatsache, daß zu der Zeit, als 30.000 Emigran­ ten interniert wurden, zu ihren Ungunsten nicht mehr bekanntgeworden war als »ein oder zwei kleine vereinzelte Fälle wie der des Studenten Solf, der ein brennen­ des Flugzeug fotografiert hatte« (nicht ein Fall von Spionage, sondern von foto­ grafischem Übereifer), »und ein oder zwei Verstöße gegen die Verdunkelung5«. In einer Unterhausdebatte am 22. August 1940 gab der Staatssekretär im Innenmini­ sterium abermals zu, daß ihm »kein ernsthafter Fall feindlichen Verhaltens« unter 1

Zahlenangaben des Central Office of Information in London.

2

C. R. Hennings: Vom Deutschtum in England. Der Auslandsdeutsche 1934. S. 508.

3

Churchill: The Gathering Storm. S. 313.

4

Lafitte a.a.O., S. 63.

5

Auskunft der Regierung im Unterhaus, 10. 7. 1940. 362 H. C. Deb. 5s, 1236.

201

den

Emigranten

bekanntgeworden

war.

Er

vermutete

jedoch,

daß

in

einigen

Fällen als Emigranten getarnte Deutsche nach England zu kommen versucht hätten, weshalb es »nicht unmöglich« sei, daß auch ein paar wirkliche Emigranten tatsächlich deutsche Agenten seien1. Es gibt keinen Beweis dafür, daß es sich tat­ sächlich so verhalten hat. Die meisten Emigranten nahmen vielmehr, als sie nach und nach entlassen wurden, begeistert an der allgemeinen Kriegsanstrengung teil. Viele traten in militärische Hilfsorganisationen ein, und über tausend meldeten sich zu den Kommando- und Luftlandetruppen. Nach dem Krieg wurden mehr als 34.000 von ihnen in rascher Folge naturalisiert12 . Was die britischen Faschisten angeht, die in Organisationen wie der »British Union of Fascists«, »Link« und dem »Right Club« organisiert waren, so kann man annehmen, daß etliche von ihnen bereit gewesen wären, England in Hitlers »neue Ordnung« einzugliedern. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, daß der wichtigste Faschistenführer Sir Oswald Mosley irgendeine enge Verbindung mit Berlin hatte. Im Oktober 1936 besuchte er Goebbels3. Nach Ausbruch des Krieges verbreiteten Mitglieder seiner Organisation und ähnliche Gruppen faschistische Propaganda, aber »mit wenigen Ausnahmen gibt es kaum Beweise dafür, daß irgendeiner von ihnen jemals wirklich versuchte, für die Nazi zu spionieren, oder sich bemühte, nützliche militärische oder andere Nachrichten zugunsten des deutschen Geheim­ dienstes außer Landes zu bringen4«. Der Leser mag sich erinnern, daß im 1. Teil erwähnt wurde, der Britische Rund­ funk habe am 12. Mai 1940 irrigerweise einen Gestellungsbefehl verbreitet. Das galt damals als eine jener »Falschmeldungen«, wie sie von feindlichen Agenten ver­ breitet wurden — Berichte jener Art, so meinte man, mit denen die Deutschen in Holland, Belgien und Frankreich so große Erfolge errungen hatten. Woher der fragliche Befehl kam, ist niemals entdeckt worden. Eine Untersuchung, die einge­ leitet wurde, ergab, daß innerhalb des britischen Rundfunks die Zusammenarbeit nicht klappte5. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es einfach ein Versehen war.

2. AMERIKA Zur Zeit seiner großen Siege in Westeuropa verfügte Hitler nicht über einen einzigen Angriffsplan gegen England. Das gilt um so mehr im Hinblick auf Amerika — um so mehr, weil der »Führer«, den der Kanal von England trennte, zunächst England besiegen und dann den Atlantik überqueren mußte, wenn er auf dem ame­ 1

364 H. C. Deb. 5s, 1579.

2

The Refugee in the Post-war World. Genf 1951. S. 352.

3

F. Mullaly: Fascism inside England. London 1946. S. 75.

4

Firmin: They came to Spy. S. 30.

5

Mitteilung des Leiters der Luftgeschichtlichen Abteilung im Britischen Luftfahrtministe­ rium und der Britischen Rundfunkgesellschaft in London.

202

rikanischen Kontinent militärische Operationen vornehmen oder eine Fünfte Kolonne unterstützen wollte, die in seinem Auftrag operieren sollte. Nicht als ob Hitler eine Offensive gegen die Neue Welt für unmöglich gehalten hätte! Im Herbst 1940 beschäftigte er sich »im Hinblick auf eine spätere Kriegsführung gegen Amerika« mit der Frage einer Besetzung der Azoren und der Kanarischen Inseln1.

»Amerika,

wenn

überhaupt,

nicht

vor

42«,

notierte

Generalstabschef

Halder am 4. November 1940 in seinem Tagebuch. Einen Monat vor dem Angriff auf Rußland spielte Hitler immer noch mit dem Plan, die Azoren zu besetzen, um sie als Stützpunkt für Bombenangriffe auf die Vereinigten Staaten zu benutzen. »Die Gelegenheit dazu kann sich vor dem Herbst ergeben«, sagte er hoffnungsvoll zu Raeder12 . Der Kampf in Rußland hatte kaum drei Wochen gedauert, als Hitler seinen wichtigsten militärischen Mitarbeitern zu verstehen gab, die deutsche Armee könne nach der völligen Besiegung der Sowjet­ union sehr wohl verringert werden. Zu jener Zeit solle dann die Rüstung der Flotte auf Maßnahmen beschränkt werden, »die unmittelbar der Kriegsführung gegen England und eintretendenfalls gegen Amerika dienen3«. Als nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour die Gelegenheit sich tat­ sächlich bot und Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte, war Deutsch­ lands Kraft durch das tödliche Ringen im Osten so sehr beansprucht, daß für einen offensiven Krieg größeren Umfangs gegen Amerika nichts mehr übrig war. Den Gedanken, die Großstädte an der amerikanischen Ostküste zu bombardieren, ließ Hitler im Sommer 1943 bedauernd fallen4. Nur durch den Einsatz von Sabo­ teuren würde er imstande sein, seinen industriell stärksten Gegner im eigenen Lande zu treffen. Bald nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte die Abwehr Pläne entworfen, um durch Agenten in Amerika Sabotage zu üben und in der Armee defaitistische Propaganda zu treiben. Ferner erörterte die Abwehr, ob es nicht möglich sein würde, an Bord britischer Schiffe in amerikanischen Häfen Sprengstoff zu schmug­ geln. Hitler widersetzte sich der Ausführung solcher und ähnlicher Pläne. Er war der richtigen Ansicht, daß der materielle Vorteil, der dadurch zu erlangen war, die politischen Nachteile nicht aufwiegen würde. Im April 1940 befahl er Admiral Canaris, er solle die Vereinigten Staaten in Ruhe lassen. Der Befehl wurde im Juni wiederholt, als zugleich Anweisung gegeben wurde, »die Rückberufung des einzigen noch in Betracht kommenden V-Mannes zu veranlassen5«. 1 Brief des Majors i. G. Frhr. v. Falkenstein an einen unbekannten General, 29. 10. 1940. PS-376, IMT XXV, S. 393. 2 Konferenz des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine mit dem Führer am 22. 5. 1941. Füh­ rer Conferences 1941. S. 57. 3

Brief Hitlers an die Wehrmachtsteile, 14. 7. 1941. C-074, IMT, XXXIV, S. 299.

4

Protokoll der Konferenz des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine mit dem Führer, 8. 7. 1943. Führer Conferences 1943. S. 54. 5

KTB-Abwehr, 25. 4. u. 4. 6. 1940.

203

Als die Vereinigten Staaten im Herbst 1940 anfingen, England in ständig wachsendem Maße militärisch zu unterstützen, wurden neue Sabotagepläne ent­ worfen und diesmal auch ausgeführt. Ob das mit Hitlers Zustimmung geschah, ist nicht bekannt. Der deutsche Agent Rekowski, der als Kaufmann auftrat und damals gerade in Mexiko war, hatte mit einer Gruppe irischer Extremisten in den Vereinigten Staaten Fühlung genommen1. Er war angewiesen, in Munitionsfabriken und auf Schiffen Sabotage treiben zu lassen12

. Das Verbot, in den Vereinigten

Staaten selbst zu operieren, blieb in Kraft. Deutsche Agenten wie Rekowski mußten ihre Vorbereitungen in Kanada oder Mexiko treffen3. Rekowski konnte Berlin mitteilen, daß er mittels hoher Verbindungen einige Schiffe sprengen und ein Gummilager in der Nähe von Cleveland und Ohio in Brand stecken konnte4. Es hieß, er habe in Mexiko geradezu Sabotagelager errichtet5. Man traute Rekowski in Berlin jedoch nicht, sondern hatte bei der Abwehr den Eindruck, seine »Erfolge« beruhten hauptsächlich auf seinem Streben, von der Abwehr möglichst viel Geld zu erhalten6. Außerdem geriet er gegen Ende April 1940 in Mexiko in Schwierig­ keiten ; mexikanische und amerikanische Behörden waren ihm auf der Spur, so daß er außer Landes floh. Sein Nachfolger wurde Carlos Vogt, ein 1934 in Mexiko naturalisierter Deutscher7. Inzwischen hatten Telegramme, die über den Fall Rekowski im Auswärtigen Amt eintrafen, Ribbentrop beunruhigt. Er fürchtete, daß ein Fortdauern der Sabotage Amerika an den Rand des Krieges führen könne, und ersuchte daher Admiral Canaris, diese Tätigkeit einzustellen. Dieser ging, wenn wir seinem Bio­ graphen Abshagen glauben wollen, mit Vergnügen darauf ein; sollten künftig Parteifanatiker ihm vorwerfen, er habe die Vereinigten Staaten allzusehr in Ruhe gelassen, würde er sich auf Argumente berufen können, die der Außenminister selbst gebraucht hatte8. Als Amerika in den Krieg eintrat, verlangte Hitler die Wiederaufnahme der Sabotage. Im Januar 1942 erhielt Canaris Weisung, er solle die amerikanische Aluminiumerzeugung lahmlegen. Da es eine deutsche Sabotageorganisation in den Vereinigten Staaten nicht mehr gab, sollten Agenten aus Deutschland entsandt werden. Canaris und Lahousen, der Chef der Sabotageabteilung der Abwehr, hatten wenig Zutrauen zu dem Unternehmen, waren aber nicht in der Lage, Hitlers An­ weisungen rückgängig zu machen. Es wurde befohlen, das Verzeichnis der Amerika­ 1

Ebenda, 5. 9.1940.

2

Telegramm der Deutschen Gesandtschaft in Mexiko an Auswärtiges Amt, 23. 4. 1941. NG-4398. 3

KTB-Abwehr, 20. 9. 1940.

4

Zeuge Kurt Haller in: Militärgerichtshof Nr. IV, Fall XI, engl. Protokoll, S. 20, 432—42.

5

KTB-Abwehr, 14.1. 1941.

6

Abshagen a.a.O., S. 278/9.

7

Telegramm von »Richard« (Rekowski) an Haller, 2. 5. 1941. NG-4398.

8

Abshagen a.a.O., S. 280.

204

Deutschen im Deutschen Auslandsinstitut in Stuttgart sowie Pläne und Foto­ grafien von amerikanischen Fabriken, Eisenbahnen, Kanälen und Häfen, die dort aufbewahrt wurden, durchzusehen. Außerdem mußte man Agenten finden. Dieses Problem wurde gelöst, als ein Offizier der Abwehr, Walter Kappe, der lange in Amerika gelebt und dort im Deutsch-Amerikanischen Bund und dessen Vor­ läufern eine führende Rolle gespielt hatte, sich meldete und sagte, daß einige Mit­ glieder des Bundes, die nach Deutschland zurückgekehrt waren, bereit seien, den Auftrag zu übernehmen. Admiral Dönitz war bereit, für diesen Zweck U-Boote zur Verfügung zu stellen, so daß die Saboteure an der amerikanischen Ostküste an Land gesetzt werden konnten1. Neun Freiwillige erhielten eine gründliche Ausbildung. Ende Mai 1942 machten sich acht von ihnen von Bordeaux aus auf die Reise. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt, deren eine auf Long Island und deren andere in Florida landen sollte. Ein Mitglied der für Long Island bestimmten Gruppe, ein ehemaliger Sozialist, hatte sich nur in der Absicht beteiligt, unmittelbar nach seiner Landung in den Vereinigten Staaten die Behörden zu warnen. Er führte seine Absicht aus, und innerhalb zwei Wochen saßen alle Saboteure hinter Schloß und Riegel. Mit Aus­ nahme von zweien, die lange Freiheitsstrafen erhielten, starben alle auf dem elektrischen Stuhl und zogen Dutzende von Verwandten und Freunden, mit denen sie Fühlung aufgenommen hatten, mit sich ins Unglück12 . Dieses war »der einzige Versuch einer aktiven Sabotagetätigkeit, der vom Amt Ausland-Abwehr nach Kriegsausbruch in den Vereinigten Staaten unternommen wurde3«. »Es war der größte Fehlschlag, der je in meiner Abteilung vorgekommen ist«, sagte General von Lahousen seufzend nach dem Kriege. Wir haben früher erwähnt, daß 1938 dem Spionagering von Dr. Ignaz Griebl, der es besonders darauf abgesehen hatte, Angaben über die amerikanische Marine zu sammeln, das Handwerk gelegt wurde. Wahrscheinlich hat die Abwehr auch weiterhin Nachrichten über die Marine gesammelt, doch fehlen Einzelheiten. Von der amerikanischen Luftwaffe wissen wir, daß der Leiter der Luftfahrt­ abteilung der Abwehrstelle Hamburg, Nikolaus Ritter, lange als Ingenieur in Amerika gearbeitet und 1937 mit dem Aufbau eines Agentennetzes in den Ver­ einigten Staaten begonnen hatte. Das Auswärtige Amt hatte zwar Spionage jeg­ licher Art verboten, doch hatte Admiral Canaris dem Druck des Generalstabes der

Luftwaffe

nachgegeben.

Ritter

schickte

zunächst

Leute

zur

Untersuchung

nach Amerika; »das waren gewöhnliche Reisende, die ohne jeden Spionageauftrag neben ihrer Berufsarbeit feststellen sollten, wo sich Leute befänden, mit denen ich Verbindungen

anknüpfen

könnte«.

Gegen

Ende

1937

besuchte

Ritter

selbst

Amerika. Dort erwarb er unter anderem Zeichnungen von einem deutschen Arbei­ 1

v. Lahousen, zitiert in »Der Stern« (Hamburg), 22. 3. 1953, S. 12—14.

2

Jürgen Thorwald: Der Fall Pastorius. Stuttgart 1953.

3

Abshagen a.a.O., S. 283.

205

ter in der Norden-Fabrik, der seinem Vaterlande einen Dienst erweisen wollte. Es waren Zeichnungen des geheimen Norden-Zielgerätes für Bomber1. 1939 wurde William G. Sebold für Ritters Agentennetz gewonnen. Sebold, der als Techniker bei der Consolidated Aircraft Corporation in San Diego in Kalifor­ nien beschäftigt war, verbrachte damals seine Ferien in Deutschland. Die Abwehr nahm Verbindung mit ihm auf. Er erklärte sich bereit, als Agent zu arbeiten, warnte aber gleichzeitig den amerikanischen Konsul in Köln. Die Bundespolizei (FBI) forderte ihn über den Konsul auf, er solle scheinbar alle Aufträge der Deut­ schen entgegennehmen. Sebold wurde als Agent in Hamburg ausgebildet und reiste dann nach Amerika zurück. Er sollte auf Long Island einen geheimen Sender errichten, der dann vom ersten Tage an von Beauftragten des FBI bedient wurde. Das wußte man in Deutschland nicht und unterließ es auch, darauf zu achten, ob die Sendungen in Sebolds chiffrierter »Handschrift« erfolgten. Alle Besucher in Sebolds Büro wurden von einem benachbarten Raum aus fotografiert. Jedes Wort, das sie sprachen, wurde aufgezeichnet. Unter den Besuchern befand sich auch Ritters Verbindungsmann, der als Metzger verkleidet auf dem ameri­ kanischen Passagierdampfer »America« durch die britische Blockade geschlüpft war. Sebold war der einzige deutsche Agent, der mit Deutschland Funkverbindung unterhielt. Daher wurden alle wichtigeren Mitglieder der andern deutschen Agen­ tennetze in Amerika angewiesen, ihre Berichte über Sebold zu übermitteln12 . Alle diese Agenten wurden in den vier letzten Junitagen 1941 vom FBI ver­ haftet. Das Auswärtige Amt protestierte energisch, und die Abwehr rief ihren »einzigen nicht ergriffenen Agenten« aus den Vereinigten Staaten zurück. Deutsch­ land erhielt ferner ein paar Mitteilungen aus Kanada und Mexiko, »aber das be­ deutete so gut wie nichts3«. Zwei Agenten wurden in Mexiko beschäftigt. Der eine gab sich als Kaufmann aus und arbeitete gleichzeitig für die Japaner. Der andere, ein »Bankangestellter«, hatte sich in einem Kaffeehaus, das von amerikanischen Abwehragenten beobachtet wurde, unter den Tisch getrunken4. Auch

der

Sicherheitsdienst

unterhielt

Agenten

in

den

Vereinigten

Staaten5.

1941 riefen einige von ihnen das deutsche Konsulat in Los Angeles um Hilfe an. Einer von ihnen, der angewiesen wurde, nach Deutschland zurückzukehren, zog es vor, mit einer Freundin nach Mexiko zu reisen. »Er sprach nur schlecht englisch und hatte von den allgemeinen Verhältnissen in Los Angeles nicht die geringste Ahnung.« Da konnte das deutsche Konsulat bessere Angaben machen! Der deutsche Luftattaché in Washington erhielt täglich alles, was sich über die amerikanische 1

Nikolaus Ritter zitiert in »Der Stern«, 15. 3. 1953, S. 11/12.

2

Ebenda, S. 16.

3

v. Lahousen. Ebenda, 22. 3. 1953, S. 12.

4

S. Anm. 2 S. 204.

5

Fernschreiben Sonnleithners an Leg. Rat. Kramarz, 11. 7. 1941. PS-4053, IMT XXXIV, S. 114.

206

Rüstung in der kalifornischen Presse fand. Seit 1941 pflegte ein Angehöriger des Konsulats die in Betracht kommenden Flugzeugfabriken zweimal in der Woche zu beobachten, um zu sehen, wie viele Exemplare von jedem Flugzeugtyp in Bau waren. Das konnte von der öffentlichen Straße aus unschwer festgestellt werden. Ähnliche Angaben wurden für den Marineattaché in Washington gesammelt, ob­ wohl er nach einer Aufzeichnung des Auswärtigen Amts vom 4. November 1941 über einen eigenen Agenten in Südkalifornien verfügte1. Einen Monat später befanden sich die Vereinigten Staaten im Kriege. Wir haben keine Angaben über die deutsche Spionage während des Krieges. In den veröffentlichten deutschen Urkunden findet man davon nicht eine Spur. Sie scheint nicht sehr umfangreich gewesen zu sein, ganz zu schweigen davon, daß die deutsche Spionage »wahrscheinlich über das bestorganisierte, das am besten finanzierte, das einfallreichste und leistungsfähigste System verfügte, das die Welt je gesehen hat«, wie eine New Yorker Zeitung 1942 schrieb. Unser Eindruck, daß die deutsche Spionage in Amerika verhältnismäßig unbe­ deutend war, deckt sich mit dem, was wir über den Anklang wissen, den der Natio­ nalsozialismus unter den in den Vereinigten Staaten lebenden Reichsdeutschen und unter Personen deutscher Abkunft fand. Die Zahl der Reichsdeutschen in der Zeit vor dem Kriege ist nicht bekannt. Im Auswärtigen Amt in Berlin wußte man nicht, ob es 100.000 oder 200.000 waren12 . Die Amerikaner selbst schätzten die Zahl während des Krieges auf 264 0003. Die Ungewißheit über die Anzahl ame­ rikanischer Staatsbürger deutscher Abkunft wurde niemals beseitigt. In Deutsch­ land gefielen sich Leute in Berechnungen, denen zufolge einige Dutzend Millionen Amerikaner mehr oder minder ausschließlich deutsches Blut in den Adern haben sollten. Schätzungen von 25 Millionen waren nicht ungewöhnlich4. Entscheidend war die Frage, wie viele von ihnen sich innerlich mit Deutschland verbunden fühlten, doch nahm der deutsche Chauvinismus diese Frage leicht. Wurde sie ernsthaft gestellt, so ergaben sich sofort sehr viel kleinere Zahlen. Die Deutsch-Amerikaner, »die noch wirklich deutsch sprechen, lesen und schreiben, deutsch denken und sich ihrer deutschen Abkunft voll bewußt sind«, schätzte der deutsche Botschafter Dieckhoff 1938 auf 4 bis 5 Millionen5. Ein deutscher Schrift­ steller, der die Vereinigten Staaten bereist hatte, schätzte die Zahl auf etwa zwei Millionen6. Nur ein paar Prozent von ihnen waren an Organisationen wie dem Deutsch-Amerikanischen Bund interessiert. Beispielsweise lebten 1938 in Chikago 1

PS-4054. Ebenda S. 115/16.

2

Denkschrift Wörmanns, 20. 11. 1938. ADAP. D IV, S. 567.

3

Ernest Puttkammer: Alien Enemies and Alien Friends in the United States. Chicago 1943. S. 15. 4

So z. B. Hugo Grothe: Die Deutschen in Übersee. Berlin 1930. Karte 1.

5

Botschafter Dieckhoff an Ausw. Amt, 7. 1. 1938. ADAP. D I, S. 541.

6

H. Kloss: Gegenwart und Zukunft des Deutschtums in den Vereinigten Staaten. In: Deutschtum im Ausland 1938. S. 490.

207

rund

700.000

Menschen

deutscher

Herkunft,

von

denen

40.000

irgendwelchen

deutschen Vereinen angehörten; nur 450 waren dem Bund beigetreten1. Das ame­ rikanische Justizministerium schätzte die Mitgliederzahl des Bundes 1938 im ganzen Land auf 650012 . Die höchste Schätzung von Anhängern belief sich auf weit über 90 0003. 1942 galten etwa 7000 Mitglieder und Anhänger des Bundes als staatsgefährlich und wurden interniert. Innerhalb eines Jahres wurde die Hälfte von ihnen als Ergebnis weiterer Nachforschungen wieder in Freiheit gesetzt4. Man würde zu weit gehen, wollte man behaupten, der Bund habe überhaupt keine mögliche Gefahr dargestellt. Hier ist nur von Bedeutung, festzustellen, daß er niemals in der Lage war, sich zu einer aktiven Fünften Kolonne von irgend­ welchem Gewicht zu entwickeln. In diesem Zusammenhang verdient erwähnt zu werden, daß sich die deutschen Emigranten in den Vereinigten Staaten ebenso wie in England mit sehr wenigen Ausnahmen durch ihre unbedingte Loyalität auszeichneten5 und daß, wie aus deutschen Urkunden hervorgeht, »die Zusam­ menarbeit zwischem dem Dritten Reich und den amerikanischen Isolationisten sehr begrenzt war6«. Aus den hier genannten Zahlen und Tatsachen kann man schließen, daß es dem

nationalsozialistischen

Deutschland

nicht

gelungen

ist,

in

Großbritannien

und den Vereinigten Staaten in größerem Umfang Fünfte Kolonnen einzusetzen. Dieser Schluß gründet sich weiter auf die Tatsache, daß während des ganzen Krieges die deutsche militärische Führung über die Operationen der sehr schlecht unterrichtet war. In den westlichen Ländern waren die jedoch von der Vortrefflichkeit der deutschen Spionage so überzeugt daß man nach Deutschlands Kapitulation beinahe mit Entsetzen

Alliierten Menschen gewesen, feststellte,

wie sehr man die Abwehr und den Sicherheitsdienst überschätzt hatte. Die deutschen Dokumente und die deutschen Militärs selbst berichten alle dasselbe: Hitler und seine Generäle waren im großen und ganzen über die in Washington und London getroffenen Entscheidungen in Unkenntnis geblieben. Sie waren ständig durch falsche Berichte, daß britische und amerikanische Truppen in Südfrankreich oder Norwegen oder Holland oder Dänemark landen würden, verwirrt und daher von den wirklichen Landungsoperationen immer wieder überrascht worden. Die Geleitzüge, die Ende Oktober und Anfang No­ vember 1942 nach Marokko und Algier unterwegs waren, sollten nach Ansicht der Abwehr Malta anlaufen7. Die Landungen in Nordafrika kamen den führenden 1

Wie Anmerkung 5 S. 205, S. 670.

2

Dies Report 1939. S. 92.

3

Dies Report 1940. S. 1446.

4

Vgl. oben S. 121

5

G. L. Warren: The Refugee and the War. Annals of the American Academy of Political and Social Sciences. Philadelphia Sept. 1942. S. 96. 6

H. L. Trefousse: Germany and American Neutrality 1939—1941. New York 1951. S. 133.

7

Colvin a.a.O., S. 157.

208

Männern des Dritten Reiches »als völlige Überraschung1«. Im Mai 1943 hatten geschickte britische Fälschungen Hitler und seine militärischen Mitarbeiter zu der Annahme veranlaßt, daß nach der Eroberung von Tunis Sardinien und der Peloponnes als Ziel des nächsten alliierten Angriffs ausersehen seien2. Tatsäch­ lich erfolgte dieser dann in Sizilien. Goebbels erfuhr in Berlin die Kapitulation Italiens aus dem britischen Rundfunk3, und vier Monate später kam die alliierte Landung in Anzio »für uns als große Überraschung4«. Es ist zuzugeben, daß in einzelnen Fällen die Deutschen tatsächlich wichtige Informationen erhielten, und zwar gewöhnlich durch Verrat unzufriedener Ele­ mente im feindlichen Lager. Wir erinnern an den Fall Tyler Kent und ebenso an die berüchtigte Operation Cicero, den Verrat des albanischen Kammerdieners des britischen Botschafters in Ankara5. Dabei spielt keine Rolle, daß die Deut­ schen in den Fällen, in denen ihnen die Tatsachen in den Schoß fielen, kaum etwas damit anzufangen wußten. Hier mag genügen, daß alles, was über die deutsche Spionage — und ebenso über die wenigen Sabotageversuche — in Großbritannien und Amerika bekanntgeworden ist, der Auffassung widerspricht, es habe in diesen beiden Ländern während des Krieges eine mächtige Fünfte Kolonne gegeben. Damit kommen wir zu Südamerika. Es gibt nicht einen einzigen Hinweis darauf, daß Hitler jemals konkrete Pläne für einen militärischen Angriff auf Südamerika erwogen, geschweige denn ausgearbeitet hat. Seine konkreten Pläne reichten nicht über die Azoren hinaus, und nicht einmal diese ließen sich ver­ wirklichen. Nur mit U-Booten griff er nach dem August 1942 Länder wie Brasi­ lien an, weil sie sich seinen Feinden angeschlossen hatten6. Soweit bekannt ist, hat sich in keinem der deutschen Archive irgendein Beweis dafür gefunden, daß sich in irgendeinem Lande Süd- oder Mittelamerikas eine deutsche Minderheit allein oder mit Unterstützung des Dritten Reiches auf einen Staatsstreich vor­ bereitet habe. Wahrscheinlich hätte Hitler solche Versuche angeregt, wenn es ihm gelungen wäre, sich die Sowjetunion und Großbritannien zu unterwerfen. Daher muß im Hinblick auf Uruguay gesagt werden, daß es keine Anzeichen dafür gibt, daß die Menschen dort im Mai und Juni 1940 mit Recht um die Sicher­ heit ihres Landes besorgt waren. Dort lebten etwa 8000 Reichsdeutsche. Wie viele von ihnen Mitglieder der Auslandsorganisation waren, ist nicht bekannt. Wenn die Verhältnisse in Uruguay etwa denjenigen in Argentinien, Brasilien und Chile entsprachen, so waren es höchstens ein paar hundert. Das Schrift­ stück, in welchem Gero Fuhrmann seinen Plan für die militärische Besetzung 1

14

Zeuge General Warlimont in: Militärgerichtshof Nr. V, Fall XII, engl. Protokoll, S. 6403.

2

Ewen Montagu: The Man who never was. London 1953.

3

Goebbels Tagebücher S. 393.

4

Zeuge General Westphal im Prozeß gegen die deutschen Generäle, S. 8866.

5

L. C. Moyzisch: Operation Cicero. London 1950.

6

Führer Conferences 1942, S. 45/6.

209

ganz Uruguays und für die Umwandlung des Landes in eine Agrarkolonie darlegt, darf als ein Zeichen für die aggressive Veranlagung seines leicht pathologischen Verfassers, nicht jedoch als Beweis für eine wirkliche Verschwörung angesehen werden. Fuhrmann war nicht ein altbewährter Nazi, sondern erst 1937 Partei­ mitglied geworden1. Von den beiden einzigen andern Dokumenten, »welche von Deutschlands Fünfter Kolonne in Uruguay verwendet wurden«, war das eine eine Quittung vom 28. Januar 1939 über einen halben Dollar zugunsten des Winter­ hilfswerks und das andere eine Quittung über 1,10 Dollar, die im April 1939 an die Deutsche Arbeitsfront als Mitgliedsbeitrag gezahlt worden waren. Damit ist jedoch noch nicht alles gesagt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß einige in Uruguay lebende Reichsdeutsche wirklich den Tag herbeisehnten, an welchem sie die Macht ergreifen könnten. Die Auslandsorganisation förderte im allgemeinen eine aggressive Geisteshaltung durch halbmilitärische Ausbildung in Sportvereinen und Segelflugklubs. Solche Vereinigungen gab es auch in Uru­ guay. Daraus darf man jedoch ohne sonstige Beweise nicht schließen, daß im Mai und Juni 1940 ein Staatsstreich zu erwarten war. Solche Beweise fehlen. Was der Untersuchungsausschuß des Parlaments von Uruguay hierüber berichtet hat, ist nicht überzeugend12 . Es wurde schon gesagt, daß keine überzeugenden Beweise dafür vorliegen, daß in anderen Ländern Süd- oder Mittelamerikas während des Krieges Reichs­ deutsche oder deutsche Einwanderer die Machtergreifung vorbereitet hätten. Allerdings gab es Spionage für Deutschland und gegen England und Amerika in mehreren Staaten, und vielerlei Intrigen wurden gesponnen. Auch gab es Handlungen von Deutschen, die kaum mit den Verpflichtungen der ihnen gewähr­ ten Gastfreundschaft oder ihren Bürgerrechten in Einklang zu bringen waren. In Brasilien sammelten sie insgeheim Angaben über die alliierte Schiffahrt. Wahrscheinlich wurden auch von dort aus bei verschiedenen Gelegenheiten Nach­ richten

an

deutsche

U-Boote

gesandt,

die

im

südlichen

Atlantik

operierten.

Funktionäre der Auslandsorganisation sorgten dafür, daß Offiziere der »Graf Spee«, die aus der Internierung in Uruguay entflohen waren, in Rio de Janeiro mit falschen Pässen ausgerüstet wurden3. In Argentinien setzte die Landesgruppe der Auslandsorganisation allen Ver­ boten zum Trotz ihre Arbeiten fort. Abwehr und Sicherheitsdienst betrieben 1 Vgl. oben S. 114-115. Dazu das Mitgliederverzeichnis der NSDAP im amerikanischen Docu­ ment Center in Berlin. 2

»Ich habe den damaligen amerikanischen Botschafter in Montevideo, Edwin C. Wilson, und den Verfasser des Buches »The Nazi Octopus in South America«, den Publizisten Professor H. F. Artucio, gefragt, ob sie, abgesehen von dem 1940 veröffentlichten Material, irgendwelche Beweise kennen, welche neues Licht auf die Verschwörung4 in Uruguay werfen könnten. Aus Mr. Wilsons Antwort ging hervor, daß dem nicht so ist. Professor Artucio hat nicht geantwortet.« 3

Telegramm der deutschen Botschaft in Rio de Janeiro an Auswärtiges Amt, 24. 9. 1940. NG-2244.

210

Spionage in beträchtlichem Ausmaß. Das hing damit zusammen, daß deutsche Agenten, denen der Boden in andern Teilen Südamerikas zu heiß geworden war, in Argentinien gelandet waren. Dort besaßen die Deutschen geheime Sender und schickten einen Teil ihrer Nachrichten über Spanien nach Deutschland. Militäri­ sche, politische und wirtschaftliche Informationen sammelte man beispielsweise »durch Abhören von Rundfunksendungen aus kriegführenden Ländern, durch eine Analyse schriften und

der amerikanischen Presse (Zeitungen, Illustrierte, Fachzeit­ Wirtschaftsblätter), durch persönliche Beobachtung und durch

Spionage in der amerikanischen Botschaft1«. Außerdem unterstützte die Deutsche Botschaft mehrere argentinische Zeitungen mit beträchtlichen Mitteln, die ihr von deutschen Firmen in Argentinien zur Verfügung gestellt wurden12 . Schließ­ lich bemühten sich einige Deutsche planmäßig darum, die antiamerikanischen Kräfte in der argentinischen Regierung zu verstärken. Im Sommer 1943 veran­ stalteten sie eine getarnte Friedenspetition zugunsten der Achse und versuchten, Präsident Castillo dazu zu veranlassen, daß er sich mit Deutschland und Italien verbündete und das argentinische Gebiet auf Kosten von Staaten vergrößerte, die eng mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiteten. Castillo forderte deutsche Waffen, die Berlin nicht entbehren konnte, und so wurde nichts daraus. Zudem wurde im Herbst 1943 der deutsche Unterhändler, ein Agent von Himm­ lers Sicherheitsdienst, von den Alliierten verhaftet und interniert. Ribbentrop hatte gegen solche und ähnliche Unternehmungen des Sicherheitsdienstes heftig, aber ohne Erfolg protestiert3. Auch in Chile gab es dem damaligen deutschen Gesandten zufolge ein deut­ sches Spionagenetz, für dessen Dienste Mitglieder der Auslandsorganisation gewonnen worden waren. Der Gesandte durfte von alledem nichts wissen4. Er war sogar oft selbst Gegenstand solcher Spionage und war davon überzeugt, daß sich die Auslandsorganisation in Chile »unglaublich dumm« verhalten habe; er hielt es jedoch für äußerst unwahrscheinlich, daß reichsdeutsche National­ sozialisten oder Chilenen jemals an einen Staatsstreich gedacht haben5. Es ist nicht unmöglich, daß sich die Abwehr der deutschen Luftverkehrs­ gesellschaften bedient hat, um in einigen anderen lateinamerikanischen Staaten von gewissen Objekten Luftaufnahmen zu machen. Urkundliche Beweise dafür fehlen, und wahrscheinlich ist das Ausmaß solcher Vorkommnisse überschätzt worden. Aus Kolumbien, einigen mittelamerikanischen Staaten und Mexiko wurde 1 Undatierter Bericht der argentinischen Polizei. Anlage zum Brief der Amerikanischen Botschaft in Buenos Aires an State Department, 21. 2. 1944. NI-10922. 2 Consultation among the American Republics with respect to the Argentine Situation. Memorandum of the United States Government (Department of State). Washington 1946. S. 36/7, 49, 51. 3

Ebenda, S. 6/7, 16, 35.

4

Schriftliche Aussage Wilhelm v. Schoens. NG-3402.

5

Zeuge v. Schoen in: Militärgerichtshof Nr. IV, Fall VI, engl. Protokoll. S. 3204, 3212.

211

berichtet, daß Flugplätze oder ebenes Gelände bereits für den Fall von Landungs­ operationen für die Deutschen vorbereitet worden seien. Es gibt keine Beweise dafür. Hingegen gelang es der Abwehr tatsächlich, im Süden Südamerikas zwei Organi­ sationen zu schaffen, welche Sabotageakte vorbereiten sollten. Wahrscheinlich soll­ ten britische und in britischen Diensten fahrende Schiffe die wichtigsten Ziele sein. Die eine dieser Organisationen hatte ihre Zentrale in Valparaiso, die andere in Rio de Janeiro. Im August 1940 gingen die deutschen Anweisungen immer noch dahin, Südamerika nicht zu beunruhigen. Am 13. August befahl Canaris hinsichtlich von Sabotage: »Von Südamerika aus und in Südamerika darf nichts unternommen werden1.« Es ist nicht sicher, daß später andere Anweisungen ergingen und aus­ geführt wurden, doch wäre das zumal für 1942 und später einleuchtend. Im Gegensatz zu dem, was selbstverständlich hielten, hatte in Mittel- und Südamerika und Ländern nur geringen Einfluß.

Deutschlands Gegner vor und in der Nationalsozialismus auf die auf Personen deutscher Herkunft Die antideutsche Presse brachte

dem Krieg für Reichsdeutschen in den meisten oft Mitglieds­

zahlen, die in die Zehntausende gingen: 43 626 Nationalsozialisten allein in Argen­ tinien, 30.000 in Buenos Aires, von denen 20.000 zur SA gehören sollten. Im Herbst 1941 sprach Martin Dies, Mitglied des amerikanischen Repräsentanten­ hauses, von »etwa einer Million in Kompanien und Bataillonen zusammengefaßten künftigen Soldaten«, auf die das Dritte Reich in Südamerika rechnen könne. Es ist nicht leicht, diese Zahlen auf ihre wirklichen Größenverhältnisse zurück­ zuführen. Unsere Angaben sind unvollkommen. Will man den Einfluß des National­ sozialismus in Zahlen ausdrücken, so ergibt sich als erste Schwierigkeit, daß die Statistik gewöhnlich die Frage, wie viele Menschen deutscher Abkunft in einem bestimmten Lande lebten, ganz verschieden beantwortet. Für

Argentinien

schwanken

die

Schätzungen

der

Volksdeutschen

zwischen

80.000 und 240 00012 . Die Zahl der Reichsdeutschen wurde von dem damaligen deutschen

Botschafter

auf

50.000

geschätzt,

von

denen

2.000

Parteimitglieder

waren3. Im allgemeinen beteiligten sich an nationalsozialistischen Demonstrationen weniger als 2000 Menschen, am 1. Mai 1934 jedoch über 12.000 und zwei Jahre später 16 0004. Die Mitgliederzahl der Gewerkschaft der Auslandsorganisation wurde von dem Taborda-Ausschuß 1941 mit 11.000 angegeben, wobei Reichs­ deutsche und Volksdeutsche zusammen gezählt wurden5. Nationalsozialistische Elemente hatten den »Deutschen Volksbund für Argentinien«, der seit 1916 bestand, in die Hand bekommen, um Einfluß auf die Volksdeutschen zu gewinnen. Sie benutzten ihn, um unter Personen deutscher Abkunft, die im ganzen Lande 1

KTB-Abwehr, 10. 2., 10. u. 17. 6., 23. 11. 1940. Ferner 13. 8. 1940.

2

HWB I, S. 125.

3

Schriftliche Aussage Botschafter v. Thermanns, 22. 10. 1947.

4

Der Auslandsdeutsche 1938. S. 37. Dazu W. Lütge: Deutsche Kulturarbeit in Argen­ tinien. In: Wir Deutsche in der Welt 1935. S. 119. 5

212

The Times, 26. 11. 1941. — Gemeint ist vermutlich die DAF (D.Übers.).

lebten, NS-Propaganda zu vertreiben. Man gründete Ortsgruppen, die ihre eige­ nen Zeitschriften veröffentlichten. Gegen Ende der zwanziger Jahre zählte der Volksbund fast 5000 Mitglieder, 1935 noch 2800 und 1938 weniger als 40001. In Brasilien waren von 80.000 Reichsdeutschen etwa 1700 Parteimitglieder2. Der »Verband deutscher Vereine« hatte unter seinen 15.000 Mitgliedern (1935) Reichsdeutsche und Volksdeutsche3. Insgesamt schätzte man die Volksdeutschen gewöhnlich auf 600.000. In Chile lebten während des Krieges rund 7000 Reichsdeutsche. Die Schätzun­ gen

chilenischer

Staatsbürger

deutscher

Herkunft

schwankten

zwischen

15.000

und 50.000. Der damalige deutsche Gesandte hielt 30.000 für eine zuverlässige Zahl. Von den Reichsdeutschen waren etwa 600 Parteimitglieder4. 1940 waren 2600 von den 30.000 Deutsch-Chilenen dem Deutsch-Chilenischen Bund beige­ treten, der etwa dem Deutschen Volksbund für Argentinien verglichen werden kann5. In Paraguay lebten etwa 9000 Menschen deutscher Abkunft, von denen 1937 1700 Mitglieder des Deutschen Volksbundes für Paraguay waren6. Diese Zahlen zeigen, daß gewöhnlich nur eine kleine Minderheit der Reichs­ deutschen in Südamerika Mitglieder der NSDAP war und daß von der großen Anzahl

Volksdeutscher

nur

eine

kleine

Minderheit

den

nationalsozialistischen

Organisationen beigetreten war. In Argentinien waren es 1,7 bis 5 Prozent, in Brasilien höchstens 2,5 Prozent, in Chile 9 Prozent. Die deutsche »Fünfte Kolonne« in Südamerika bestand aus relativ kleinen Gruppen und Einzelpersonen, die für den Erfolg ihrer vielfältigen Bemühungen viel mehr von den internationalen und nationalen Gegensätzen in jenem Teil der Welt abhingen als von der Unter­ stützung und der Sympathie, die ihnen aus Kreisen der Reichsdeutschen und Volksdeutschen zuteil wurden. Das zeigte sich am deutlichsten in Argentinien, wo während des Krieges die deutschen Diplomaten und die Agenten von Abwehr und Sicherheitsdienst sich den Neid gegenüber den Vereinigten Staaten und die Furcht

vor

Brasilien

zunutze

machen

konnten,

die

beide

in

argentinischen

Regierungskreisen eine wichtige Rolle spielten. Aus den bisher veröffentlichten Dokumenten geht nicht hervor, daß es ihnen gelungen ist, die große »deutsche« Minderheit in Argentinien für ihre Ziele zu interessieren. Organisatorisch hatte das Dritte Reich die große Masse der vielen hunderttausend in Südamerika lebenden »Deutschen« genauso wenig in der Hand wie die paar Millionen in den Vereinigten Staaten. / Otto Boelitz: Das Grenz- und Auslandsdeutschtum. Seine Geschichte und seine Bedeu­ tung. München 1930. S. 228. Dazu: Der Auslandsdeutsche 1936, S. 860, sowie Deutschtum im Ausland 1938, S. 605. 1

2

Schriftliche Aussage von Hans Harnisch. NG-2548.

3

Das Braune Netz, S. 297.

4

Wie S. 211 Anm. 5.

5

Deutschtum im Ausland 1941. S. 134.

6

Vgl. Anm. 590. Dazu: Der Auslandsdeutsche 1938. S. 39.

213

XIII

JUGOSLAWIEN, GRIECHENLAND UND DIE SOWJETUNION 1. JUGOSLAWIEN

Die Jugoslawen behaupteten 1945, daß einige Führer des »Kulturbundes«, einer volksdeutschen Organisation in Slowenien, Hitler bei dessen Besuch in Graz im März 1938 vorgeschlagen hätten, er solle, falls es zwischen Deutschland und Jugoslawien zum Krieg käme, die gesamte slowenische Bevölkerung aus Slowe­ nien deportieren1. Das Dokument über diese Begegnung, das dem Archiv der Gestapo in Breslau entstammt, ist niemals veröffentlicht worden. Die Behauptung ist nicht unwahrscheinlich und stimmt jedenfalls mit einem Brief des »Steierischen Heimatbundes« vom August 1941 überein, der eine bald nach der Besetzung Sloweniens geschaffene Organisation der Volksdeutschen war. In diesem Brief wird berichtet, daß Deportationen von Slowenen aus dem frag­ lichen Gebiet, die bald nach dem Einmarsch der Deutschen begannen, hauptsäch­ lich mit Hilfe von Namenslisten stattfanden, »die lange vor der Besetzung von volks­ deutschen Agenten und andern vertraulichen Quellen in Untersteiermark auf Grund jahrelanger Beobachtungen und politischer Erfahrungen aufgestellt worden waren12 «. Ein Teil dieser Listen wurde von dem Südostdeutschen Institut in Graz auf dem laufenden gehalten. Dort fand man nach dem Kriege Listen aus den Jahren 1938—41, in denen man hinter den slowenischen Namen Bemerkungen fand wie »muß sofort verhaftet werden«, »Feind Deutschlands«, »muß beobachtet wer­ den3«. Ferner gab es in Graz und Klagenfurt die sogenannten Gaugrenzland­ ämter, die unter anderem mit Hilfe von den in Jugoslawien lebenden Volksdeut­ schen Angaben sammelten. Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin erhielt aus Graz eine Liste mit den Namen und Adressen von etwa 4000 jugoslawischen Staatsangehörigen, die im Falle einer deutschen Besetzung sofort verhaftet werden sollten. Außerdem stand der Sicherheitsdienst von Graz aus mit kroatischen Faschisten, den sogenannten »Ustaschi« unter Ante Pawehtsch, in Verbindung4. 1

Auszug aus dem Ber. der amtl. jugoslawischen Kommission f. Kriegs verbrechen. NG-4557.

2

Zitiert in: Report on the crimes of Austria and the Austrians against Yugoslavia and her peoples. Belgrad 1947. S. 21. 3 4

Ebenda, S. 16.

Ebenda, S. 19/20. Das Original dieser Liste ist dem IMT in Nürnberg vorgelegt, jedoch, so­ weit bekannt, nicht veröffentlicht worden.

214

Angesichts alles dessen besteht hinreichender Grund für die Vermutung, daß die Aufstellung von Listen mit den Namen von Slowenen, die deportiert werden sollten, tatsächlich 1939 begonnen hat. Das Jahr 1939 brachte den Beginn einer weiteren neuen Entwicklung. Junge Volksdeutsche, die zur jugoslawischen Armee einberufen wurden, überquerten heimlich die Grenze und meldeten sich als Freiwillige »bei verschiedenen Wehrmachtstruppenteilen1«. Weder 1939 noch 1940 legte die Wehrmacht auf diese ausländischen Freiwilligen besonderen Wert;

sie

machten

viele

Sondervorschriften

erforderlich,

und

die

Wehrmacht

hatte Soldaten genug. Anders die SS, die bei ihrem seit dem Herbst 1939 energisch vorangetriebenen Aufbau der Waffen-SS volksdeutsche Freiwillige sehr gut gebrauchen konnte. Im Herbst 1940 begab sich »eine ganze Gruppe Freiwilliger« heimlich zum Dienst in der Waffen-SS und in der »Leibstandarte Adolf Hitler« nach Deutschland12 . Unter ihnen befanden sich junge Volksdeutsche, die in der jugoslawischen Armee 1941 wehrdienstpflichtig wurden. Neben den Stellen der SS war auch die Abwehr 1939 und in den ersten Mo­ naten des Jahres 1940 in Jugoslawien tätig gewesen. Im Frühling 1940 wurde eine Geheimorganisation geschaffen, welche die für Deutschland im Kriegsfalle entscheidend wichtige Donauschiffahrt schützen sollte. Der Leiter Major Fried­ rich wurde zur Tarnung im deutschen Konsulat in Agram beschäftigt. Im März 1940 nahm der Abwehroffizier in Belgrad hundert Pistolen »als plombiertes Kuriergepäck im eigenen Wagen« mit. Diese Waffen sollten in Notzeiten zum »Transportschutz« dienen. Ende Mai baten Vertreter der volksdeutschen Organi­ sationen aus Furcht, daß ein Krieg von blutigen Ausschreitungen begleitet sein würde, Berlin über die Abwehr, sie mit Waffen zu versorgen. Im Hinblick auf die damalige politische Lage wurde diesem Ersuchen nicht stattgegeben3. Im Herbst 1940 und im nachfolgenden Winter setzte Deutschland Jugosla­ wien mehr und mehr unter Druck, um seine politische Mitarbeit, beispielsweise durch Beitritt zum Antikomintern-Pakt, zu erreichen. Die Spannung wuchs. Im Dezember 1940 und Januar 1941 begannen die Volksdeutschen, halbmilitärische Verbände nach dem Muster der SA zu bilden, um im Falle eines Konflikts ihre Dörfer zu schützen. Gegen Ende März kam die Krise. Am 25. März unterzeichneten Prinzregent Paul und seine Regierung in Wien den Vertrag, durch den sich Jugoslawien der Achse Berlin-Rom-Tokio anschloß. Zwei Tage später wurden der Prinzregent und seine Regierung gestürzt. Hitler war wütend, rief sofort seine wichtigsten politi­ schen und militärischen Ratgeber zusammen und teilte ihnen mit, er habe, ohne weiterhin

auf Treuekundgebungen

der

Regierung

1

Deutschtum im Ausland 1944. S. 33.

2

Ebenda.

3

KTB-Abwehr, 28. 12. 1939, 29. 2., 13. 3. u. 30. 5. 1940.

Simowitsch

zu

warten, be­

215

schlossen, »alle Vorbereitungen zu treffen, um Jugoslawien militärisch und als Staatsgebilde zu zerschlagen«, einem Blitzuntemehmen1«.

und

zwar

»mit

unerbittlicher

Härte«

und

»in

Über fünf Monate vorher hatte General Halder Weisung bekommen, eine Offensive gegen Jugoslawien auszuarbeiten12 . Seither hatten jedoch die militäri­ schen Vorstellungen der Deutschen eine ganz andere Wendung genommen; alle Vorbereitungen richteten sich auf eine Invasion der Sowjetunion, der ein schneller Angriff auf Griechenland durch Bulgarien hindurch vorausgehen soll­ te. Mussolini hatte seit Oktober 1940 vergeblich versucht, Griechenland zu über­ wältigen, und mußte Hilfe bekommen. Für Jugoslawien war noch nichts vor­ bereitet. Es gab nicht einmal genügend Generalstabskarten und auch keinen Operationsplan. Am 27. März 1941 trug Halder in der Reichskanzlei einen im­ provisierten Plan vor, demzufolge man von Österreich und Bulgarien aus in Jugoslawien eindringen und damit die jugoslawische Armee in beiden Flanken packen wollte. Hitler billigte den Plan3, doch mußten, wie General Keitel sagte, alle daraus sich ergebenden Truppenbewegungen in Österreich, Ungarn und Bulgarien »vollständig improvisiert« werden4. Der Plan wurde ferner dadurch behindert, daß die Kenntnisse der deutschen Militärs über die jugoslawische Armee unvollständig waren. Sie hatten keine klare Vorstellung von den Mobil­ machungsplänen und überschätzten die zahlenmäßige Stärke bei weitem5. In Kroatien war es am 27. März ruhig geblieben. Die kroatischen Mitglieder der Regierung befürworteten eine Abmachung mit Hitler. Widerstand gegen Deutschland erschien ihnen sinnlos. Das war auch die Meinung des kroatischen Bauernführers Matschek. Der Reichsdeutsche Dorffier hatte am 28. März eine Unterhaltung mit ihm, in der Matschek fragte, was Deutschland von einer kroatischen

Unabhängigkeitsbewegung

hielte,

und

ob

er

auf

Unterstützung

hoffen dürfe. Dorffier konnte darauf keine Antwort geben, reiste jedoch mit der Bahn nach Wien und von dort auf dem Luftwege nach Berlin, wo er am Abend des 29. März eintraf. Dort erhielt er noch am selben Abend von einem Beamten des Auswärtigen Amts die Mitteilung: »Für seinen Freimd lagen keine Bestellungen vor.« Dies mußte er Matschek berichten, setzte jedoch hinzu, daß er glaube, weitere Nachrichten seien zu erwarten. Matschek erkannte, daß Deutschland ihn nur hinhalten wolle, und war dann angesichts der abschlägigen Antwort »seelisch vollkommen zusammengebrochen«. Schließlich konnte er einen Auf­ stand nicht allein mit seiner schwachen Leibwache ins Werk setzen, die mit 1 Bericht vom 27. 3. 1941: Besprechung über Lage Jugoslawiens. PS-1746. IMT XXVIII, S. 21-23. 2

Halder: Tagebuch, 18. 10. 1940.

3

Peter Bor a.a.O., S. 180.

4

Aussage Keitels. IMT X, S. 524.

5

Helmuth Greiner: Die Oberste Wehrmachtführung 1939—1943. Wiesbaden 1951. S. 278.

216

Waffen zu beliefern Deutschland bisher abgelehnt hatte! Zudem hatte Belgrad gerade begonnen, Kroatien mit zuverlässigen serbischen Truppen zu besetzen1. So verpaßten die Deutschen die Gelegenheit, in Kroatien einen Aufstand an­ zuzetteln. Sie versuchten, Matschek in der Hand zu behalten. Rosenberg schickte Malletke, und Ribbentrop entsandte Veesenmeyer am 1. April als ihre beson­ deren Beauftragten nach Jugoslawien, damit sie gemeinsam mit dem deutschen Konsul in Agram Matschek überredeten, er möge nicht mit der Regierung Simo­ witsch Zusammenarbeiten12 . Matschek verschloß sich Malletkes Argumenten3, reiste nach Belgrad und rief die kroatischen Reservisten auf, sie sollten der Mobilmachung Folge leisten4. Deutschland bewies jedoch, daß es mehr Pfeile im Köcher hatte. Veesenmeyer nahm sofort Verbindung mit Pawelitsch auf. Gemeinsam mit ihm sollte nach Beginn des deutschen Angriffs die Unabhängigkeit Kroatiens proklamiert wer­ den5. Inzwischen gab Ribbentrop Weisung, »Hilferufe aus Jugoslawien, und zwar von Volksdeutschen, Kroaten, Mazedoniern und Slowenen zu organisieren«. Das sollte ohne Wissen des Sicherheitsdienstes und der Volksdeutschen Mittelstelle geschehen, obwohl dieses Amt in den letzten Märztagen »die Organisation solcher Hilferufe angeboten« hatte6. Auf eine Frage aus Jugoslawien antwortete Hitler, diejenigen Volksdeutschen, die mobilgemacht wurden, sollten sich verstecken, »da sie sonst angegriffen oder erschlagen werden könnten«. Die Volksdeutsche Mittelstelle übernahm es, diese »Führerweisung« den Volksdeutschen zur Kenntnis zu bringen, hatte aber keinen Erfolg7. Die Verbindungen waren unterbrochen worden. Die Abwehr sprang dafür ein. Ihre Geheimorganisation in Jugoslawien, die unter dem Namen »Jupiter« operierte, besaß in Agram eine Funkstation mit Empfänger und Sender. Auf diesem Wege wurde Hitlers Anweisung nach Agram gefunkt, wo sie dem deutschen Konsul und den Volksdeutschen zur Kenntnis gebracht wurde8. Die Abwehr entwickelte überhaupt während der jugoslawischen Krise beträcht­ liche Tätigkeit. General von Lahousen flog am 28. März nach Budapest, um den Waffenschmuggel über die ungarisch-jugoslawische Grenze zu organisieren, was ihm innerhalb von drei Tagen gelang. Gleichzeitig bereitete man in Jugoslawien 1 Undatierter Bericht des Parteigenossen Malletke über seine Reise nach Agram. Anlage zu Rosenbergs Bericht an den Chef der Reichskanzlei Dr. Lammers vom 23. 4. 1941. NG-2449. 2 Telegramm von Auswärtigem Amt an Deutsches Konsulat Agram, 1. 4. 1941, sowie Tele­ gramm von AA an Deutsche Gesandtschaft Belgrad vom selben Tag. NG-3260. 3

Vgl. Anm. 635.

4

Constantin Fotitch: The War We Lost. New York 1948. S. 98.

5

KTB-Abwehr, 6. u. 10. 4. 1941.

6

Brief Gottlob Bergers an Himmler, 3. 4. 1941. NO-5615.

7

Denkschrift an Staatssekretär v. Weizsäcker, 28. 3. 1941. NG-3243.

8

KTB-Abwehr, 2. 4.1941.

217

selbst Maßnahmen vor, um die Mobilmachung zu verzögern. Es wurde in großem Umfang spioniert. Marschall Göring hatte befohlen, an den modernen Messer­ schmitt-Jägern, die Deutschland kurz zuvor an Jugoslawien geliefert hatte, Sabotage zu üben. Einige von diesen Jägern waren auf einem Flugplatz bei Agram stationiert, schienen jedoch verschwunden zu sein. Andere befanden sich auf dem Flugplatz Semlin unmittelbar nördlich von Belgrad. Gründliche Nach­ forschungen galten auch dem Standort der Donauflottille der jugoslawischen Marine.

Alle

diesbezüglichen

Meldungen

wurden

über

den

Jupiter-Sender

in

Agram nach Deutschland gefunkt. Schließlich wurden Vorkehrungen getroffen, um die jugoslawische Seite des Eisernen Tores an der Donau überraschend mit einem Teil der Truppe der Abwehr zu besetzen, welche in Rumänien zum Schutz der Ölfelder gegen Sabotage der Alliierten aufgestellt worden war. Dies wurde vorgesehen, weil die Jugoslawen an jener Stelle die Donauschiffahrt leicht unter­ brechen konnten1. Als die Deutschen am 6. April 1941 ohne Warnung angriffen, weigerte sich ein Teil der kroatischen Truppen zu kämpfen. »Mehrere kroatische Verbände gingen einfach nach Hause oder griffen sogar die serbischen Einheiten an, die mit den Deutschen im Kampf lagen.« Das Hauptquartier der nördlichen Heeresgruppe der Jugoslawen wurde von kroatischen Soldaten besetzt. Anderswo riefen kom­ munistische

Flugblätter

zum

»Aufstand

gegen

die

serbischen

Chauvinisten«

auf12 . An wieder anderen Orten griffen die Volksdeutschen ein. Ehe noch die deutschen Truppen kamen, bemächtigten sie sich in mehreren Städten des slowenischen

Grenzgebietes

wichtiger

Punkte

mit

Waffengewalt3.

In Marburg glaubten die Volksdeutschen, sie könnten am Morgen des zweiten Kriegstages die Macht übernehmen. Um halb drei Uhr in der Frühe begannen sie, die öffentlichen Gebäude zu besetzen. Es kam zu Kämpfen mit jugoslawischen Truppen, die von der nahe gelegenen Grenze zurückfluteten. Die deutsche Hauptstreitmacht, die bald eintraf, entschied den Kampf. An andern Orten Sloweniens waren die jugoslawischen

Abteilungen,

welche

rechtzeitig

die

Brücken

sprengen

sollten,

überraschend von volksdeutschen Stoßtrupps angegriffen und beseitigt worden. Weiter ostwärts in den schon im 18. Jahrhundert besiedelten Gebieten war die »politische Auslese der Volksgruppe« überall auf dem Posten4. Am 6. April hatte Dr. Janko, der Führer der deutschen Minderheit, »die Volksgruppe in militärischer Hinsicht der Organisation Jupiter unterstellt«. Volksdeutsche Männer wurden mobilgemacht und »gewaltsame Vorstöße zu S(abotage)-zwecken und zur Beunruhigung unternommen«. Am 7. April drangen weitere Mitglieder der Organisation Jupiter von Ungarn her in das Gebiet ein, verteilten Waffen an 1

Ebenda, 28., 29., 31. 3., 1. u. 3. 4. 1941.

2

Fotitch a.a.O., S. 100.

3

Vgl. S. 214 Anm. 2, S. 120.

4

Deutschtum im Ausland 1944. S. 33.

218

die Volksdeutschen und verübten Störmanöver. »Sie erhielten Zulauf von teil­ weise schon bewaffneten Volksdeutschen.« Sie kämpften gegen serbische Trup­ pen1. Zwei große Brücken über die Drau wurden genommen und gehalten, bis die ersten deutschen Truppen eintrafen, und der Flugplatz Semlin mit den wert­ vollen Messerschmitts wurde von Volksdeutschen angegriffen und erobert12 . Es ist nicht sicher, daß die in Jugoslawien lebenden Reichsdeutschen, deren Zahl nicht bekannt ist, zu dem raschen Zusammenbruch des Königreichs bei­ getragen

haben.

In

Belgrad

blieb

von

dem

Gesandtschaftspersonal

nur

der

Militärattaché zurück. Er hatte Befehl, sich zu verstecken. Als die ersten deut­ schen Soldaten die schwer bombardierte Stadt erreichten, trat er als Bürger­ meister auf und konnte die Übergabe der Stadt bewirken3. Viele Reichsdeutsche hatten Jugoslawien kurz vor dem Blitzunternehmen verlassen, das Hitler am 27. März angeordnet hatte.

2. GRIECHENLAND

Bei Griechenland, das ebenfalls am 6. April 1941 von der deutschen Wehr­ macht angegriffen wurde, können wir uns kurz fassen. Die Abwehr besaß dort eine Organisation, um auf alliierten Fahrzeugen, die griechische Häfen anliefen, Sprengladungen anzubringen4. Außerdem wurden 1940 zwei Abwehroffiziere nach Griechenland geschickt, »die als Geschäftsleute getarnt mehrere Wochen in einem führenden Athener Hotel zubrachten. Ihre Aufgabe bestand darin, In­ formationen zu sammeln und mit eventuellen Agenten Verbindung aufzunehmen5.« Drei Tage vor Beginn der deutschen Offensive wurden drei Sabotagekommandos der Abwehr, insgesamt 16 Mann, aus Bulgarien nach Griechenland eingeschmug­ gelt. Sie sollten im Grenzgebiet Brände legen und telegraphische Verbindungen zerstören6. Weil der deutsche Gesandte die Offensive kommen sah — wer tat es nicht? — hatte er Vorkehrungen getroffen, um die Arbeit der Gesandtschaft im Kriegs­ fälle in seinem Privathaus fortzusetzen. Dorthin hatte er auch die Funkstation des Militärattaches gebracht. Die Reichsdeutschen in Athen sollten in drei deutschen Gebäuden Wohnung nehmen7. 1

KTB-Abwehr, 6., 7. u. 9. 4. 1941.

2

Vgl. S. 218, Anm. 4.

3

Mitteilung Halders und Fernschreiben von SS-Gruppenführer Heydrich an Auswärtiges Amt, 13. 4. 1941 NG 2315. 4

KTB-Abwehr, 9. 12. 1939. Ferner Mitteilung v. Lahousens.

5

Leverkühn a.a.O., S. 113.

6

KTB-Abwehr, 4. 4. 1941.

7 Telegramm

des deutschen Gesandten Prinz Erbach an AA, 11. 3. 1941. NG-3519.

219

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden zunächst alle Mitglieder der Auslandsorganisation herangezogen, um der Wehrmacht als ortskundige Führer und Dolmetscher zu dienen. Knaben und Mädchen der Hitlerjugend fuhren »stolz und strahlend« auf Motorrädern und Lastwagen der deutschen Truppe mit1.

3. DIE SOWJETUNION Im Februar 1938 mußten die letzten deutschen Konsulate in der Sowjetunion geschlossen werden. Für den deutschen Militärattaché in Moskau, zu dessen Auf­ gaben es gehörte, sich ein Urteil über das russische Militärpotential zu bilden, war das ein Unglück; denn mit ihnen verschwand, wie er sagte, »eine seiner letzten Informationsquellen«. Was der diplomatische Kurier, der einmal im Monat zwischen Berlin und Tokio hin und her reiste, »unterwegs sah und ihm dann berichten würde, war unter den jetzigen Umständen tatsächlich die letzte verbleibende Informationsquelle außerhalb Moskaus12

«. Natürlich machten der

Militär- und der Marineattaché selbst die Augen auch weiterhin auf. So konnte der Marineattaché im September 1940 über »wertvolle Beobachtungen« berichten, die er auf den Werften bei Leningrad gemacht hatte3. Die Deutschen versuchten, auch Angaben über die Sowjetunion in den an Rußland angrenzenden neutralen Staaten zu sammeln4, besonders in Finnland und in der Türkei5. Im Frühjahr 1941 hatten sie in den baltischen Staaten und in dem östlichen Teil Polens, den die Sowjetunion besetzt hatte, einige Agenten6. Um dieselbe Zeit gelang es ihrem Vertreter in Teheran dadurch, daß er Fühlung mit Gegnern des Sowjet­ regimes in Armenien und Aserbeidschan aufnahm, wertvolle Informationen über die Ölfelder von Baku zu erhalten. Auf seinen Reisen durch die Sowjetunion hatte dieser Vertreter auch mit eigenen Augen wertvolle Beobachtungen machen können7. Schließlich versuchten die Deutschen mit schnellen Flugzeugen, die in großer Höhe in sowjetisches Gebiet einflogen, Luftaufnahmen zu machen, vor allem von wichtigen militärischen Objekten, von Verkehrsverbindungen und Grenzbefesti­ gungen. Diese Flugzeuge gehörten zum Geschwader »Rowehl«, das auf den Flug­ 1

Wrede: Unser Kriegstagebuch. In: Jahrbuch der AO der NSDAP 1942. I. S. 66.

2

Aktennotiz von Staatssekretär v. Mackensen, 22.2.1938. ADAP. D I, S. 743.

3

Admiral Assmann: Die Seekriegsleitung und die Vorgeschichte des Feldzuges gegen Ruß­ land (August 1943). C—170, IMT XXXIV, S. 690. Künftig zitiert als: Assmann: Seekriegs­ leitung. 4

Ebenda, S. 680.

5

Aussage Halders im Prozeß gegen Weizsäcker u.a., S. 20., 718.

6

Assmann: Seekriegsleitung, S. 700 und Mitteilung v. Lahousens.

7

Schultze-Holthus: Frührot in Iran. Abenteuer im deutschen Geheimdienst. Eßlingen 1952. S. 9-47.

220

platzen um Budapest stationiert war1. Die Generäle von Brauchitsch und Halder wollten mit diesen Aufnahmen schon im September 1940 anfangen, doch lehnte Hitler das ab, weil die Russen dann seine Pläne zu früh durchschauen könnten12 . So begann die Aktion erst 1941. Die Ergebnisse waren nicht ohne Bedeutung. Im März verzeichnete Halder, daß, nach diesen Aufnahmen zu urteilen, das russische Verkehrsnetz viel besser war, als die Deutschen vermutet hatten. Zu­ nächst wagte sich das Geschwader »Rowehl« nicht sehr weit nach Rußland hinein; erst 14 Tage vor der Invasion begann es mit Langstreckenflügen3. Im allgemeinen Sowjetunion und

waren die Deutschen über die damalige Militärmacht der ihre Entwicklungsmöglichkeiten erstaunlich schlecht unter­

richtet. 1941 rechneten die Deutschen mit 200 russischen Divisionen. Sechs Wochen nach Beginn des Feldzuges waren sie bereits auf 360 Divisionen gestoßen. Ebenso hatten sie die russische Luftwaffe erheblich unterschätzt4. Über die Stärke der russischen Panzerwaffe hatte Hitler überhaupt keine Vorstellungen. Später sagte er zu einem deutschen Diplomaten: »Als wir nach Rußland zogen, erwartete ich ungefähr 4000 Panzer, aber wir trafen auf 12 0005.« Allerdings hatte der deutsche Panzerfachmann Guderian schon 1937 von 10.000 russischen Panzern gesprochen, doch hatte ihm niemand geglaubt6. Es besteht Grund für die Ver­ mutung, daß die deutsche Abwehr 1941 eine vernünftige Vorstellung von der Größe der russischen Panzerproduktion hatte7, doch maß Hitler ihren Berichten ebenso wenig Wert bei wie den Warnungen des deutschen Botschafters in Moskau, Graf von der Schulenburg, und des Militärattaches General Köstring — zwei von den wenigen Deutschen, welche die Sowjetunion aus eigener Anschauung kannten und eine richtige Vorstellung von ihrer militärischen Macht hatten. Nicht nur Hitler, sondern die Mehrzahl seiner führenden Generäle empfanden tiefe Verachtung für die Slawen. Vermutlich hätten selbst die ausführlichsten Einzelheiten Hitlers Vorurteil nicht zu erschüttern vermocht. Was jedoch Männer wie Brauchitsch und Halder angeht, die hervorragende Militärtechniker und kühle, ja kalte Rechner waren, so kann man sich nicht dem Eindruck entziehen, daß ihre völlig falschen Urteile über die Sowjetunion mit der relativen Dürftig­ keit an zuverlässigem Tatsachenmaterial zusammenhingen, das die Deutschen hatten sammeln können. Es gibt keine Angaben, die den Schluß rechtfertigen würden, daß die deutsche Spionage in der Sowjetunion vor Ausbruch des Krieges umfangreich und wirksam gewesen sei. 1

Aussage v. Lahousens. IMT II, S. 467.

2

Greiner a.a.O., S. 312/3.

3

Halder: Tagebuch, 11. 3. u. 7. 6. 1941.

4

Ebenda, 1. 7. u. 11. 8. 1941.

5

Rudolf Rahn: Ruheloses Leben. Düsseldorf 1949. S. 190.

6

Heinz Guderian: Erinnerungen eines Soldaten. Heidelberg 1949. S. 171/2.

7

The Goebbels Diaries. S. 246.

221

Als die Deutschen in der Sowjetunion einmarschierten, wurde es für Hitler und seine Generäle äußerst wichtig, genau zu erfahren, was hinter der russischen Front vorging. Zu diesem Zweck wurden den Hauptquartieren der deutschen Heeresgruppen mehrere sogenannte V-Mann-Kolonnen attachiert. Sie bestanden jeweils aus 25 oder mehr Angehörigen der einheimischen Bevölkerung, also Russen, Polen, Ukrainer, Grusinier, Kosaken, Finnen, Esten usw. Jede dieser Kolonnen unterstand einem deutschen Offizier. Offiziere und Mannschaften trugen russische Uniformen. Sie benutzten eroberte russische Militärfahrzeuge und hatten zur Aufgabe, 50 bis 300 km vor der deutschen Front in die Sowjetunion einzudringen Straßennetz

und und

ihre

Beobachtungen

»sämtliche

Maßnahmen,

über

russische

die

vom

Reserven,

Feinde

Eisenbahnen,

getroffen

werden«,

auf dem Funkwege zu melden1. Während der ersten Kriegsphase, als von einer zusammenhängenden russischen Front nicht gesprochen werden konnte, gelang es diesen V-Mann-Kolonnen tat­ sächlich, weit über das Kampfgebiet hinaus vorzudringen und wertvolle Angaben zu sammeln. Die Lastwagen erhielten manchmal das Aussehen von Verwundeten­ transporten. Diejenigen Männer, die nicht oder nur schlecht russisch sprachen, lagen mit Verbänden stöhnend da; so brauchten sie gegebenenfalls keine Fragen zu

beantworten.

Die

Unteroffiziere

waren

Ruthenien

sowie

Einwanderer

aus

und

größtenteils

dem

Ukrainer

kaukasischen

aus

Bergland.

Galizien Für

die

Ausbildung dieser Leute war schon 1938 in Bayern ein Lager geschaffen worden, in dem sich etwa 50 Männer befanden. Diese vorbereitende Arbeit war von Hitler nach der Unterzeichnung des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes offiziell ver­ boten worden, wurde jedoch von den Japanern mit finanzieller Unterstützung von deutscher Seite fortgesetzt12 . Neben diesen spionierenden V-Mann-Kolonnen schuf Abwehr II kleine Kampf­ gruppen, die dem Lehrregiment »Brandenburg« angehörten und, wiederum in russischen Uniformen und weit vor den deutschen Truppen, Brücken, Tunnels und Ausrüstungslager erobern sollten. Sie bestanden hauptsächlich aus Deut­ schen3. Im Oktober 1941 sprach der Stabschef der Heeresgruppe Nord mit höchster Anerkennung von der Tätigkeit dieses Lehrregiments4. In Lettland hatte es die wichtige Brücke über die Düna schützen können5. Ebenfalls Abwehr II war es, die mit Nationalsozialisten in den baltischen Staaten und der Ukraine Fühlung aufnahm, um dadurch im Rücken der russi­ schen 1

Armeen

Aufstände

anzuzetteln6.

In

den

baltischen

Staaten

nahm

Vortragsnotiz von Admiral Canaris, 4. 7. 1941. PS-882.

2

Mitteilung v. Lahousens und KTB-Abwehr, 25. 10. u. 21. 12. 1939.

3

Schriftliche Aussage von Oberst Erwin Stolze, 25. 12. 1945. USSR-231, IMT VII, S. 273.

4 Bericht v. Lahousens über seine Dienstreise an die Ostfront, 24.—30. 10. 1941. NOKW 3146 (26. 10. 1941). 5

Leverkühn a.a.O., S. 134.

6

Halder: Tagebuch, 21. 2. u. 17. 5. 1941. Dazu Anm. 671.

222

die

Abwehr im Frühling 1941 mit dem früheren lettischen Gesandten in Berlin und dessen Militärattaché und mit dem früheren Nachrichtenchef des estnischen General­ stabs Verbindung auf. In der Ukraine arbeiteten die Deutschen mit Männern wie Andrej Melnyk und Stepan Bandera zusammen, was General Lahousen nach dem Krieg »ein wahres Martyrium« nannte. Seine Klagen sind begreiflich. Alle Versuche der Deutschen, zwischen den beiden Nationalistenführern in der Zeit vor der Invasion eine Versöhnung herbeizuführen, führten zu nichts1. Kaum hatten die Deutschen Lemberg erobert, als Bandera dort auf eigene Faust eine ukrainische Regierung bildete und gleichzeitig eine eigene Streitmacht aufzustellen versuchte. Melnyk tat dasselbe von Kiew aus. Die Tätigkeit beider Parteien, die gegenseitig ihre Führer zu ermorden versuchten, wurde von den Deutschen nach kurzer Zeit ver­ boten12 . Diese versuchten dann zwar, Agenten unter den ukrainischen Nationalisten zu gewinnen, doch liefen viele von diesen wie übrigens auch andere Agenten zu den Russen über. Das galt besonders für die russischen Kriegsgefangenen, die im weiteren Verlauf des Krieges von Abwehr und Sicherheitsdienst für die Arbeit in der Sowjetunion ausgebildet wurden3. In deutschen Quellen wird hin und wieder erwähnt, daß Agenten aus Rußland wissenswerte Dinge berichtet hätten. Halders Nachfolger General Zeitzler konnte Hitler am 7. November 1942, eine Woche vor Beginn der großen russischen Gegenoffensive bei Stalingrad, mitteilen, daß »nach Agentenmeldungen« der Kreml am 4. November beschlossen habe, noch vor Ende des Jahres 1942 ent­ weder an der Don-Front oder in der Mitte anzugreifen4. Gegen Ende November 1943 erhielt Goebbels Agentenberichte aus Moskau, die eine Vorstellung von den schwierigen Verhandlungen zwischen Cordell Hull, Eden und Molotow gaben und eine »elektrisierende Wirkung« auf ihn hatten5. Man hat den Eindruck, daß solche Neuigkeiten selten waren, und wird darin von der Tatsache bestätigt, daß während des ganzen zweiten Vierteljahres 1942 nur an einer einzigen Stelle des Kriegstage­ buches des Oberkommandos der Wehrmacht mit einiger Sicherheit Nachrichten er­ wähnt werden, die Hitler von hinter der russischen Front gelegenen Stellen erhalten hatte. Dort ist die Rede von »Nachrichten aus Kuibyschew, denen zufolge die Russen den Plan verfolgen, unsere Angriffsabsichten zu durchkreuzen, indem sie selbst überall die Offensive ergreifen6«. Diese Nachricht war übrigens unzutreffend. 1

KTB-Abwehr, 18. 10., 3. u. 7. 11. 1940; 15. 2. u. 12. 3. 1941.

2

Tätigkeits- und Lagebericht Nr. 2 der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in der UdSSR (Berichtszeit 1. 1.—31. 1. 1942). PS-3876. S. o.: Jlnytzkji, Deutschland und die Ukraine 1939-1945, Osteuropa-Institut München 1956, Bd. II, insbes. S. 173 ff, 238 ff; ferner: Alexander Dallin, German Rule in Russia 1941-1945, London 1957, S. 119 ff. 8 Mitteilung v. Lahousens. Ferner Zeuge Walter Schellenberg im Prozeß gegen Weizsäcker u. a» S. 5147-54. 4

Greiner a.a.O., S. 417.

5

Von Oven a.a.O. I, S. 153/5.

6

PS-1807 (12. 5.1942).

223

Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß die Abwehr bei keiner der ziemlich eingehend

beschriebenen

Operationen

die

Mitwirkung

der

Volksdeutschen

er­

reicht hat. Diese lebten so tief im Innern Rußlands, daß es unmöglich gewesen wäre, mit ihnen in Verbindung zu treten. Zudem waren manche von ihnen, be­ sonders die Jüngeren, dem Kommunismus wohlgesonnen1. Was man in Berlin über die Volksdeutschen wußte, war sehr unvollkommen; man kannte nicht ein­ mal mit Sicherheit die Dörfer, in denen sie lebten12 . Zwar befahl Himmler drei Wochen nach Beginn des Feldzuges der Volksdeutschen Mittelstelle, »alle Maß­ nahmen zu treffen, um das Volksdeutschtum in der besetzten Sowjetunion zu erfassen

und

durch

Aufstellung

nicht-bolschewistischer

Vertrauensmänner

den

Grundstein zu einer deutschen Führung zu legen3«, doch waren die praktischen Ergebnisse gering. Zuerst schenkte überhaupt niemand den Volksdeutschen in der Ukraine beachtung. Gauleiter Koch, der dort das Zepter schwang, duldete keine Einmischung. Im August 1942 wurde die Lage der Volksdeutschen in der Ukraine folgender­ maßen beschrieben: »Sie hungerten. Sie wurden mit einer doppelten Steuer belegt. Die bereits eröffneten Schulen wurden geschlossen. Jedes völkische Leben ist tot4.« Etwas günstiger war die Lage der Volksdeutschen im östlichen Teil Wolhy­ niens und in Transnistrien, dem 1941 von Rumänien annektierten Gebiet am Schwarzen Meer. Dort wurden neue Schulen eröffnet und ein Teil der waffen­ fähigen Männer in einer sogenannten volksdeutschen Mannschaft zusammen­ gefaßt, damit sie ihre Dörfer gegen Angriffe von Partisanen verteidigen konnten5. In Transnistrien sah ein reisender deutscher Nationalsozialist, daß die volks­ deutschen Bauern kurz nach der Ankunft der deutschen und rumänischen Trup­ pen »überall« aus den Sowjetfahnen Hakenkreuzfahnen gemacht hatten, die von ihren Häusern wehten6. Augenscheinlich gefiel es ihnen unter dem neuen Regime besser als unter dem alten. Man sollte hierin jedoch nicht einen Beweis dafür sehen, daß vorher irgendeine Verbindung mit einer amtlichen Stelle im Dritten Reich bestanden hatte. Im Oktober 1941 wurde aus diesem Gebiet ein amtlicher Bericht erstattet, demzufolge die Volksdeutschen, auch soweit sie nicht Kom­ munisten waren, »ein vollkommen verzerrtes Bild von den Verhältnissen im Reich und von der nationalsozialistischen Führung« hatten; »z.B. kennt ein großer Teil 1

Mitteilung v. Lahousens.

2

Die deutschen Siedlungen in der Sowjetunion. Ausgearbeitet und herausgegeben von der Sammlung Georg Leibbrandt. Berlin 1941. S. 4. 3

Brief Himmlers an die SS-Gruppenführer Lorenz u. Heydrich, 11. 7. 1941. NO-4274

4

Aktennotiz über Besprechung im Führerhauptquartier, 17. 8. 1942. NO-2703.

5

Ebenda.

6

C. v. Kügelgen: Von den deutschen Kolonisten in Wolhynien und in der Ukraine westlich des Dnjepr. In: Deutsche Post aus dem Osten. Dez. 1941, S. 5. — Der Artikel enthält einen Bericht über die Reisen Dr. Karl Stumpps.

224

von ihnen den Führer kaum dem Namen nach.« Die Angehörigen der Intelligenz — Lehrer, Techniker, Beamte — hatten angeblich keinerlei politisches Bewußtsein oder Urteilsvermögen. Sie standen den Juden »überwiegend indifferent« gegen­ über. »Bezeichnend für dieses Moment ist die Tatsache«, so heißt es bedauernd, »daß die Volksdeutschen nach dem Einmarsch der deutschen Truppen gegen die verbliebenen Juden keinerlei Maßnahmen ergriffen und sie als harmlose Leute und ungefährliche Menschen bezeichnet hatten1.« Es gibt keine Angaben, aus denen hervorginge, daß Volksdeutsche in der Ukraine oder im Wolgagebiet die russischen Truppen im Rücken angegriffen oder zu diesem Zweck insgeheim Vorbereitungen getroffen hätten. Ebensowenig sind Beweise dafür veröffentlicht worden, daß es unter den Wolgadeutschen »Tausende und Zehntausende von Saboteuren und Spionen« gegeben habe. Die Sowjetunion schweigt, und aus deutschen Archiven sind bisher keine Urkunden veröffentlicht worden, aus denen man schließen könnte, daß es zwischen dem Dritten Reich und den Volksdeutschen am Dnjepr, am Schwarzen Meer, am Don oder an der Wolga Verbindungen zum Zwecke einer Verschwörung gegeben habe.

1

Tätigkeits- und Lagebericht Nr. 6 der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in der UdSSR (Berichtszeit 1.-31.10.1941). R-102, IMT S. 301. 15

225

XIV

DIE MILITÄRISCHE FÜNFTE KOLONNE

Die hier zusammengetragenen Tatsachen, die, wie wir sagten, die Frage auf­ klären könnten, ob es eine militärische Fünfte Kolonne der Deutschen gegeben hat und wie mächtig und wichtig sie gegebenenfalls gewesen ist — diese Tatsachen sind nicht vollständig. Sie können nicht vollständig sein. Nur ein Teil der deutschen Akten ist gefunden worden, und bisher sind nur Bruchstücke davon veröffent­ licht worden. In allen Ländern sind nicht genügend Berichte erstattet und zu­ verlässige Studien angefertigt worden, um daraus endgültige Schlüsse ziehen zu können. Manche Zeugen sind für immer vom Schauplatz abgetreten, andere hüllen sich in undurchdringliches Schweigen. Gleichwohl scheint uns, daß sich aus dem gesamten Tatsachenmaterial, das hier vorliegt, ein Bild ergibt, das zwar keineswegs vollständig, aber doch in seinen wichtigsten Zügen alles andere als willkürlich ist. Es ergibt sich die merkwürdige Tatsache, daß diese Angaben, die aus den verschiedensten Quellen stammen und niemals auf vollständige Akten zurück­ gehen, sondern meistens nur auf verstreute Stücke und Fetzen von Dokumenten, manchmal sogar nur auf kleine Ausschnitte, trotzdem eine gewisse innere Über­ einstimmung besitzen und sich im Einklang miteinander befinden, wenn jedes Land für sich allein betrachtet wird. Sie berichten uns immerhin in großen Zügen, was geschehen ist. Ehe wir uns insoweit an eine Betrachtung jedes einzelnen Landes machen, mag es nützlich sein, einen Blick auf das zu werfen, was uns als die wesentlichen Charakterzüge des ursprünglichen Bildes der militärischen Fünften Kolonne der Deutschen erscheint, wie es große Teile der Bevölkerung in allen Ländern ge­ sehen haben. Diese Fünfte Kolonne wurde als eine riesige Verschwörung angesehen, die von den Führern des Dritten Reiches nach einem festen Plan geleitet wurde. Man glaubte, daß nahezu alle Einrichtungen von Partei und Staat in Deutschland aktiv daran teilhatten und eng miteinander zusammenarbeiteten. Ferner vermutete man, daß diese Verschwörung außerhalb Deutschlands alle oder doch wenigstens sehr viele Reichs­ deutsche, Volksdeutsche und einheimische Nationalsozialisten und Faschisten um­ faßte. (Diese beiden letzten Gruppen werden wir der Einfachheit halber in diesem Kapitel »Faschisten« nennen.) Dieser Apparat von Verschwörern würde, so glaubte

226

man, gleichzeitig mit der Aggression von außen auf breiter Front als Teil jener Aggression von innen her zum Angriff übergehen. Daß diese Vorstellung von der deutschen Fünften Kolonne sich mit der Wirk­ lichkeit deckte, hat unsere Untersuchung nicht ergeben. Hingegen hat sich ergeben, daß Hitler selbst von Anfang an geradewegs auf den Krieg zugegangen ist. (»Der Entschluß zum Schlagen war immer in mir.«) Es hat sich nicht ergeben, daß er bei der Verwirklichung dieses Zieles irgend­ einem festen Plan gefolgt ist. Er hat lange gezögert, ob er im Osten oder im Westen anfangen sollte. Seine Strategie war ohne System und infolge seiner impulsiven Art häufig voreilig und eigensinnig. Für die Vorbereitung einer Offensive gegen Polen nahm er sich fünf Monate Zeit. Unmittelbar danach forderte er eine Offen­ sive, um Frankreich, Belgien und einen Teil der Niederlande zu besetzen. Als nächstes ließ er sich durch eine hastig vorbereitete Offensive gegen Dänemark und Norwegen ablenken. Für eine Invasion in England war im entscheidenden Augen­ blick nichts vorbereitet. Nord- und Südamerika lagen außerhalb seiner Reich­ weite. Griechenland griff er an, um seinen italienischen Verbündeten zu ent­ lasten. Der Angriff auf Jugoslawien mußte in anderthalb Wochen improvisiert werden. Die Offensive gegen die Sowjetunion war zwar gründlich, aber mit so geringer Kenntnis des Gegners und so geringem Verständnis für die Schwierig­ keiten, die ihn erwarteten, vorbereitet worden, daß Hitler vier Monate nach ihrem Beginn zugab, er würde sie vielleicht niemals angefangen haben, wenn er gewußt hätte, was ihm bevorstand1. Es hat sich ergeben, daß in Deutschland verschiedene Stellen von Partei und Staat daran beteiligt waren, die militärische Widerstandskraft anderer Länder zu untergraben. Es hat sich nicht ergeben, daß das für die meisten Behörden gilt. Außer zwei einigermaßen regulären Stellen — dem Amt Ausland-Abwehr des Ober­ kommandos der Wehrmacht und dem Auswärtigen Amt — sind wir insbesondere auf vier Einrichtungen von wesentlich politischem Charakter gestoßen: die Aus­ landsorganisation der NSDAP, das Außenpolitische Amt der NSDAP, die Volks­ deutsche Mittelstelle und den Sicherheitsdienst. Diese vier Einrichtungen waren besonders typisch für das nationalsozialistische Deutschland. Außenministerien und militärische Stellen für Spionage, Spionageabwehr und Sabotage gab es auch bei allen andern kriegführenden Mächten. Es hat sich nicht ergeben, daß zwischen den eben erwähnten sechs deutschen Stellen eine enge und harmonische Zusammenarbeit bestanden hat, bei der sich aus gemeinsamen Beratungen bestimmte Aufgaben ergeben hätten. Die Beziehun­ gen zwischen ihnen waren gespannt, häufig arbeiteten sie sich entgegen, und sie mißgönnten sich gegenseitig jeden Erfolg. Auch Hitler förderte nicht die harmo­ nische Zusammenarbeit. 1

Bericht über ein Gespräch zwischen Hitler und Ciano, 25. 10. 1941. Ciano’s Diplomatic Papers. London 1948. S. 455.

227

Es hat sich ergeben, daß im Ausland lebende Reichsdeutsche, größtenteils Mit­ glieder der Auslandsorganisation, in mehreren Fällen die deutsche Aggression mitvorbereitet oder unterstützt haben. Es hat sich nicht ergeben, daß diese ver­ hältnismäßig zahlreich waren. Nur ein kleiner Prozentsatz der Reichsdeutschen waren Mitglieder der Auslandsorganisationen: in Brasilien 2 Prozent, in der Schweiz 3 Prozent, in Norwegen und Argentinien 4 Prozent, in Holland 6 Prozent, in Chile 9 Prozent, in Luxemburg 12 Prozent und in Polen 15 Prozent. Die Gesamtzahl der außerhalb Deutschlands lebenden Reichsdeutschen war vor dem Kriege nicht zuverlässig bekannt. 1937 schwankten die deutschen Schätzun­ gen zwischen zwei und drei Millionen1. Eine niedrigere und wahrscheinlich ge­ nauere Schätzung aus dem Jahre 1929 nennt anderthalb bis zwei Millionen12 . Wie dem auch sein mag, so gehörten zu Beginn des Jahres 1933 nur 3300 Reichs­ deutsche im Ausland der Auslandsorganisation an3. Am 30. Juni 1937 waren es 30 203, am 30. Juni 1938 30 289 und am 31. März 1939 30 2734. Spätere Zahlen liegen nicht vor. Es hat sich ergeben, daß Angehörige volksdeutscher Minderheiten in mehreren Fällen die deutsche Aggression aktiv unterstützt haben. Es hat sich nicht ergeben, daß ihre Tätigkeit, abgesehen von Polen und Jugoslawien, irgendeinen größeren Umfang gehabt hat. In den beiden genannten Ländern wurde das Gemeinschafts­ leben der Volksdeutschen nach 1938 von nationalsozialistischen Elementen be­ herrscht. In Nord- und Südamerika hatte der Nationalsozialismus auf die Ein­ wohner deutscher Abkunft wenig oder überhaupt keinen Einfluß gewonnen. Mit den Volksdeutschen der Sowjetunion hat überhaupt keine Verbindung bestanden. Es hat sich ergeben, daß sich in mehreren Fällen »Faschisten« der deutschen Aggression als Werkzeuge zur Verfügung gestellt haben. Es hat sich nicht er­ geben, daß diese zahlreich waren. Manchmal waren es nur die Anführer oder einige führende Leute (bei den norwegischen, flämischen, bretonischen, irischen, kroa­ tischen und ukrainischen »Faschisten«), die zu diesem Zwecke regelmäßige Ver­ bindungen zu deutschen Stellen in Staat oder Partei unterhielten. Manchmal waren diese Stellen mit bestimmten Mitgliedern in Verbindung getreten, ohne daß dies deren Führern bekannt war (Dänemark, Holland). Es hat sich nicht ergeben, daß diese Reichsdeutschen, Volksdeutschen und »Faschisten«, soweit sie die deutsche Aggression aktiv unterstützt haben, plan­ mäßig gehandelt und eng zusammengearbeitet haben. Man braucht nur an Nor­ wegen zu denken, wo weder Quisling noch der Landesgruppenleiter genau wußten, was geschehen würde. Es zeigt sich also, daß die militärische Fünfte Kolonne der Deutschen sehr viel 1

Ehrich: Die Auslandsorganisation der NSDAP. S. 7.

2

H. W. Herold: Die deutschen Kolonien im Auslande und das Einwanderungsdeutschtum. Jahrbuch des Bundes der Auslandsdeutschen. Berlin 1929. S. 42. 3

Bohles Aussage in Nürnberg. IMT X, S. 12.

4

Aus verschiedenen Statistiken des Reichsschatzmeisters der NSDAP.

228

weniger umfangreich und wichtig war, als man außerhalb Deutschlands in und nach dem Kriege geglaubt hat. Es hat sich aber auch gezeigt, daß diese Fünfte Kolonne tatsächlich existiert hat. Dementis führender Personen im national­ sozialistischen Deutschland sollte insoweit keinerlei Bedeutung beigemessen wer­ den. Uns scheint es vielmehr eine bemerkenswerte Tatsache zu sein, daß es dem Dritten Reich gelungen ist, eine solche Fünfte Kolonne in nur sechs oder sieben Jahren aufzubauen. Verrat

und Mißbrauch

der Gastfreundschaft wurden vom

Dritten Reich in bemerkenswertem Umfang gefördert. Noch vor den deutschen Aggressionsakten

haben

sich,

wie

wir

gesehen

haben,

Reichsdeutsche,

Volks­

deutsche und »Faschisten« dem bewaffneten Kampf auf Seiten des Angreifers zur Verfügung gestellt; sie haben Spionage und Sabotage getrieben, haben dazu bei­ getragen, den Widerstand von Armee und Nation im angegriffenen Lande zu unter­ graben, und haben dem Angreifer während der Kämpfe und nachher unmittelbar Beistand geleistet. Dieses Tätigwerden der militärischen Fünften Kolonne ist jedoch, wie wir ge­ sehen haben, in den verschiedenen Ländern in verschiedener Gestalt und wechseln­ dem Ausmaß aufgetreten. Die Fünfte Kolonne hat nicht immer auf dieselbe Weise operiert. Für das angegriffene Volk war es gleichgültig, ob die Sprengung einer für die Deutschen wichtigen Brücke von Volksdeutschen verhindert wurde, welche bereits vor Beginn des Angriffs in dem anzugreifenden Lande gewesen waren, oder ob das durch Angehörige der Abwehr geschah, die in Zivilkleidung, aber mit Kenn­ zeichen ausgerüstet und als Einheit organisiert, von der deutschen Seite unbemerkt durch die Front an ihren Bestimmungsort gelangt waren. In beiden Fällen spra­ chen die überfallenen Völker von Angehörigen der Fünften Kolonne. Wir möchten hier hervorheben, daß der Begriff dieser Fünften Kolonne offenbar zwei verschiedene Dinge umfaßte. Man könnte von einer inneren und einer äußeren Fünften Kolonne sprechen. Die innere Kolonne war im Augenblick des Angriffs bereits in dem Lande, das angegriffen werden sollte, vorhanden, während die äußere Kolonne erst im Augenblick des Angriffs oder nachher das betroffene Land betrat. Die Angehörigen der inneren Kolonne verrieten den Staat, dessen Bürger oder Gäste sie waren. Sie waren die wirkliche Fünfte Kolonne, wie sie dem geschichtlichen Ursprung des Begriffes entsprach. In der äußeren Fünften Kolonne fehlt das Element des Verrats, soweit ihre Mitglieder Deutsche und nicht Bürger des anzugreifenden Landes waren. Gewiß verstieß diese äußere Fünfte Kolonne oft gegen die allgemeinen Gesetze und Bräuche des Krieges, doch handelte es sich dabei eher um unerlaubte Schachzüge oder unerlaubte Arten der Kriegführung. Auf dem Gebiet des Völkerrechts sind viele Schriftsteller sogar der Meinung, daß es bis zum Beginn der eigentlichen Kämpfe erlaubt sei, sich als Kriegslist der Symbole und Uniformen eines Gegners zu bedienen1. Das ist auf deutscher Seite wiederholt vorgekommen, doch wurden 1

L. Oppenheim: International Law. A treatise (7th edition, edited by H. Lauterpacht). II: Disputes, war and neutrality. London 1952. S. 429.

229

solche Kriegslisten auch von andern Mächten im zweiten Weltkrieg verwendet. Die Operationen britischer und amerikanischer Kommandotruppen zeigten ähn­ liche Elemente wie die äußere Fünfte Kolonne. Sabotageversuche durch Agenten wurden auf beiden Seiten unternommen. Es überrascht jedoch nicht, daß die Völker, die Opfer eines Angriffs wurden, zwischen der inneren und äußeren Fünften Kolonne nicht unterschieden und sich nicht um die Frage gekümmert haben, was völkerrechtlich erlaubt oder verboten sei. In gewissem Sinne war diese Gleichgültigkeit gerechtfertigt. Schließlich waren innere und äußere Fünfte Kolonne verräterische Kundgebungen eines unzweifel­ haft aggressiven Deutschlands. Während des Krieges wurden jedoch die innere und äußere Fünfte Kolonne häufig in einen Topf geworfen und Handlungen der zweiten wurden der ersten, der »wirklichen« Fünften Kolonne zur Last gelegt. Es erscheint fragwürdig, die Tätigkeit im Sinne der Fünften Kolonne, soweit sie von reichsdeutschen Beamten im Ausland mit gewöhnlichem diplomatischem Status verübt wurde, als wirkliche Handlungen einer Fünften Kolonne anzu­ sehen. Solche Fälle trafen wir in Dänemark (Luftattaché), Norwegen (Marine­ attache, Luftattaché, Gehilfe des Handelsattaches), Holland (Militärattaché und sein Gehilfe, Luftattaché), Großbritannien (Generalkonsul in Liverpool), in den Ver­ einigten Staaten (Marineattaché, Generalkonsul in San Franzisko), Jugoslawien (Konsulatsangestellter und Konsul in Agram) und in der Sowjetunion (Konsulate, Militärattaché, Marineattaché). Sehr wahrscheinlich war die Spionage durch Diplo­ maten viel verbreiteter als durch die vorhandenen Urkunden nachgewiesen werden kann, doch sollte man das unserer Meinung nach, so ungesetzlich und unerträglich es sein mag, als normale Erscheinung ansehen. Es bleibt die innere Fünfte Kolonne, die aus gewöhnlichen Reichsdeutschen, Volksdeutschen und »Faschisten« bestand. Das wichtigste Kennzeichen für das Vorhandensein einer größeren inneren Fünften Kolonne war deren Teilnahme am bewaffneten Kampf und die Bildung von Kampfgruppen, die der Armee des ange­ griffenen Landes in den Rücken fielen. Anzeichen dafür, daß dies tatsächlich ge­ schehen ist, haben wir nur in Polen und Jugoslawien feststellen können. In diesen beiden Ländern besaß der Nationalsozialismus starken Einfluß auf die volks­ deutschen Organisationen. Ferner war in Polen der Anteil der Reichsdeutschen, die Mitglieder der Auslandsorganisation waren, mit 15 Prozent höher als in irgendeinem andern Lande. Andererseits liegen keine Beweise dafür vor, daß die innere militärische Fünfte Kolonne in Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien (mit Ausnahme von Eupen-Malmedy), Luxemburg, Frankreich, England, den Ver­ einigten

Staaten,

Lateinamerika,

Griechenland

und

der

Sowjetunion

nennens­

werten Umfang gehabt hat. Der Gegensatz ist bemerkenswert. Augenscheinlich hatten die Volksdeutschen und die Deutschen überhaupt in Polen und Jugoslawien eine ganz andere Stellung als in Ländern wie Norwegen, Holland, Uruguay und der Sowjetunion. Die Tat­ sachen, die wir über die Tätigkeit der Fünften Kolonne in Kriegszeiten dargelegt

230

haben, möchten wir des besseren Verständnisses halber noch in ihren geschicht­ lichen Zusammenhang bringen. Es wird ferner noch nötig sein, die organisatori­ schen Einrichtungen sowohl der inneren wie der äußeren Fünften Kolonne näher zu betrachten. Aus zwei verschiedenen Gründen wäre es falsch, bei dieser näheren Untersuchung die politische Fünfte Kolonne außer acht zulassen. Zunächst ist es nur natürlich, anzunehmen, daß die Bereitwilligkeit reichsdeutscher und volksdeutscher Gruppen und Parteien zur Unterstützung der militärischen Aggression der Deutschen nur die Folge, vielleicht die letzte Folge ihrer politischen Entwicklung war. Zum andern war die sichtbare Tätigkeit der politischen Fünften Kolonne vor dem Kriege eine wichtige Quelle der Furcht vor der militärischen Fünften Kolonne, die während des Krieges Millionen von Menschen befiel. Damit berühren wir ein weiteres Problem, das unsere Aufmerksamkeit verlangt. Es besteht ein auffallender Unterschied zwischen den Vorstellungen von der deut­ schen Fünften Kolonne, die wir im ersten Teil dieses Buches geschildert haben, und der wirklichen Tätigkeit jener Fünften Kolonne, wie wir sie hier im zweiten Teil darzustellen

versucht

haben.

Jene

Vorstellungen

enthielten,

wie

sich

heraus­

stellte, gewisse Elemente, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Es hat sich jedoch gezeigt, daß sie viele andere Elemente enthielten, für die wir bei unserer Untersuchung nicht die Spur eines Beweises gefunden haben, oder deren Irrigkeit wir bereits haben nachweisen können. Ganz allgemein ist in fast allen Ländern der Umfang der deutschen militärischen Fünften Kolonne enorm überschätzt worden. Warum?

231

DRITTER TEIL

ANALYSE

XV

DIE EINGEBILDETE FÜNFTE KOLONNE

Jedesmal, wenn Deutschland in den Jahren 1939—41 eine neue Aggression be­ ging, tauchte im Fühlen und Denken der tatsächlich angegriffenen oder sich unmittelbar bedroht fühlenden Menschen folgendes Leitmotiv auf: »In unserem Lande gibt es zahlreiche feindliche Agenten, von denen manche schon so lange unter uns gelebt haben, daß sie sehr wohl unauffällig durch Spionage und scheinbar harmlose Mittel dem Angriff, dessen Opfer wir nun geworden sind, den Weg hätten bereiten können. Außerdem gibt es feindliche Soldaten,

die

jetzt,

da

der

Angriff

begonnen

hat,

unsere

Uniformen

oder

Zivilkleidung angezogen oder sich als Geistliche oder Frauen verkleidet haben. Die eine wie die andere Gruppe dieser Agenten spioniert und versucht außerdem, unsere Verteidigung auf mancherlei Weise, beispielsweise durch Vergiften unserer Nahrungsmittel, zu stören. Schließlich versuchen sie dadurch, daß sie bestimmte, scheinbar harmlose Handlungen vornehmen, die für den eindringenden Feind Signale oder Mitteilungen enthalten, mit diesem Verbindung aufzunehmen.« Das Merkwürdigste ist nun, daß in völlig andersartigen geschichtlichen Situa­ tionen, in denen von einer nationalsozialistischen Fünften Kolonne der Deutschen keine Rede sein konnte, dieses Leitmotiv trotzdem im Fühlen und Denken des Gemeinwesens wiederkehrt, das tatsächlich angegriffen wurde oder sich unmittel­ bar bedroht fühlte. So behauptete der amerikanische Marineminister nach dem Angriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941, daß etwa 160.000 auf Hawaii lebende Japaner (von denen die meisten amerikanische Staatsbürger waren) »vielleicht mit Ausnahme von Norwegen die wirksamste Arbeit einer Fünften Kolonne im ganzen Krieg ge­ leistet« hätten1. Man berichtete, sie hätten auf amerikanische Soldaten geschossen, Straßensperren errichtet und in die Zuckerrohrfelder große Pfeile eingeschnitten, die auf militärische Einrichtungen hinwiesen. Außerdem hätten ihre Gemüsehänd­ ler sorgfältig die Einkäufe der amerikanischen Flotte notiert, um deren Bewegun­ 1

Zitiert von Generalmajor J. F. C. Fuller in: The Second World War 1939—1945. London 1948. S. 124.

235

gen daraus ableiten zu können1. Der Abgeordnete Rankin »verfluchte« sie im Repräsentantenhaus ausdrücklich12 . Bald nachdem die Japaner Amerika angegriffen hatten, wurden ähnliche An­ schuldigungen gegen die etwa 110.000 in Kalifornien lebenden amerikanischen Staatsbürger japanischer Abkunft, die sogenannten Nisei, erhoben. Es wurde be­ hauptet, daß sie Nacht für Nacht japanischen U-Booten, die vor den Häfen auf der Lauer lägen, Hunderte von Lichtsignalen gäben; daß sie mittels geheimer Funk­ stationen Fühlung mit diesen U-Booten hätten; daß sie Blumenbeete oder Toma­ tenpflanzen oder Heuschober als Hinweise auf Flugplätze und Flugzeugfabriken angelegt und daß sie das Gemüse, das sie amerikanischen Hausfrauen verkauften, vergiftet hätten. Die Stimmung gegen die Nisei wurde so erregt, daß die Behörden sie im Frühjahr 1942 ihrer Freiheit gänzlich beraubten und in Lagern im Landesinnern internierten3. Betrachten wir die Zeiten der Spannung vor dem zweiten Weltkrieg, so treffen wir auf ähnliche Vorstellungen. Als 1938 die Tschechoslowakei einen Krieg mit Deutschland für wahrscheinlich hielt, erzählte man sich in Prag, die Deutschen hätten in ihrem dortigen Krankenhaus Tausende von Typhuskulturen angelegt, um bei Kriegsausbruch das Trinkwasser zu vergiften. Weiter wurde behauptet, daß Angehörige der Henlein-Bewegung den Namen der Hauptstadt mit Leuchtfarbe auf das Dach der deutschen Universität geschrieben hätten, um den deutschen Bombern den Weg zu weisen4. Im spanischen Bürgerkrieg sah ein ausländischer Besucher, daß in der Nähe von Saragossa hinter der Front der Regierungstruppen dem Gegner Lichtsignale übermittelt wurden. Das geschah, wie er gehört hatte, »jede Nacht5«. Kurz vor Ausbruch des Krieges wurden Hunderte von Frauen in Madrid von einer Panik erfaßt, als sie das Gerücht vernahmen, »daß Nonnen an die Madrider Kinder vergiftete Süßigkeiten verteilt hätten und daß die Krankenhäuser der Stadt eben jetzt mit den kleinen Opfern überfüllt seien6«. Wie war es im ersten Weltkrieg gewesen? Überall stoßen wir auf unser Leitmotiv. Im August 1914 hörte man in Frankreich das Gerücht, viele deutsche Offiziere in französischer Uniform hielten sich in Paris und Umgebung auf, um Brücken zu zerstören. Eine besondere Kampagne richtete sich gegen die Schweizer Firma »Maggi«, die teilweise mit deutschem Kapital arbeitete und beschuldigt wurde, vergiftete Milch zu liefern. Als im Herbst 1914 die starke Festung Maubeuge an der belgischen Grenze fiel, suchte man das damit zu erklären, daß die deutschen Ge­ 1 Das wurde auf Grund eines Berichts von United Press am 30. u. 31. 12. 1941 in fast der gesamten amerikanischen Presse gemeldet. Morton Grodzins: Americans Betrayed. Politics and the Japanese Evacuation. Chicago 1949. S. 399. 2

Am 19. 2. 1942. Ebenda, S. 86.

3

Ebenda, S. 139, 193, 290, 402/3.

4

Alexander Henderson: Eyewitness in Czechoslovakia. London 1939. S. 102.

5

Franz Borkenau: The Spanish Cockpit. London 1937. S. 99.

6

John Langdon-Davies: Fifth Column. London 1940. S. 5.

236

schütze, welche die Festung bombardiert hatten, in Betonstellungen gebracht worden waren, die von dort lebenden Deutschen lange vor dem Kriege unauffällig in Gestalt von Tennisplätzen oder Garagenböden angelegt worden waren1. Die Geschichte von den Betonanlagen in Maubeuge fand auch in England bereitwillig Glauben. Dort meinten die Menschen überall ähnliche Vorberei­ tungen scheinbar harmloser Art zu erkennen, die in Wirklichkeit äußerst ge­ fährlich

seien:

Einfahrten

aus

Beton,

Tennisplätze

aus

Beton,

Hofplätze

aus

Beton. Außerdem waren viele Leute davon überzeugt, daß die Deutschen seit Jahren in England planmäßig in großem Stile Spionage getrieben hatten. Ebenso glaubte man, daß das Wasserleitungsnetz in London »von einer Musikantentruppe, die zwar auf den Straßen traurige Weisen spielte, aber in Wirklichkeit eine Gruppe sehr aufmerksamer deutscher Offiziere war«, erkundet worden sei. Deutsche Friseure und Juweliere hatten allenthalben im Lande, auch dort, wo sie vermutlich niemals ihr Brot verdienen konnten, Läden eröffnet. Die Zahl der deutschen Kellner war beunruhigend groß: Spione! Allgemein nahm man an, daß alle diese Leute ihr heimtückisches Geschäft nach Ausbruch des Krieges fortsetzen würden. An Hun­ derten von Stehen hatte man Lichtsignale beobachtet. Ein geheimnisvoller Wagen, so behaupteten die Leute, fuhr durchs Land und verbreitete Funkmeldungen. Im schottischen Hochland hatten die Deutschen angeblich Benzinlager angelegt, um ihre Zeppeline mit Treibstoff versorgen zu können. Die Behörden setzten Be­ lohnungen dafür aus, daß ihnen Mitteilungen gemacht würden, die zur Entdeckung solcher Lager führen würden. In jener ersten Phase des Krieges wurden zahllose Menschen als feindliche Agenten verdächtigt, darunter ganz gewöhnliche Eng­ länder, »nur weil sie ungewöhnlich aussahen«, weil man sie flüstern hörte oder weil sie »Stimmen wie Deutsche« hatten12 . In Deutschland glaubte man in den ersten Augusttagen 1914, es befänden sich viele französische und russische Agenten im Lande, teils in deutschen Uniformen, teils als Priester oder Nonnen verkleidet, um zu spionieren oder Überfälle auszu­ führen. »Zahllose deutsche Offiziere und Soldaten wurden belästigt und verhaftet, weil man sie für verkleidete Spione hielt3.« In Berlin und anderswo wurden Priester und Nonnen auf der Straße belästigt und von der Menge verfolgt. Berichte, denenzufolge große Goldtransporte aus Frankreich quer durch Deutschland nach Ruß­ land unterwegs waren, führten dazu, daß allenthalben Autos angehalten und durch­ sucht wurden. Der gesamte Militärverkehr drohte zum Stillstand zu kommen4. Ein paar Offiziere und Bürger, die sich weigerten, ihre Wagen anzuhalten, wurden 1

Vincent Baracs-Deltour: Pariser Selbsterlebnisse während des Krieges. München 1917. S. 46/48. 2

William Le Queux: German Spies in England. London 1915, S. 89.

3

Wilhelm Mühlon: Die Verheerung Europas. Aufzeichnungen aus den ersten Kriegsmonaten. Zürich 1918. S. 21. 4

W. Nicolai: Nachrichtendienst, Presse und Volksstimmung im Weltkrieg. Berlin 1920.

S. 31.

237

erschossen

oder

verwundet.

»Die

harmlosesten

Persönlichkeiten

wurden

für

Spione gehalten, wenn sie in ihrem Aussehen von dem ihrer Nachbarn etwas ab­ weichen«, schrieb die englische Frau eines deutschen Adeligen1. Die Jagd nach französischen Agenten, welche in unauffälligen Wagen Gold nach Rußland transportierten, griff auch nach Österreich über. In Rußland wurden die Volksdeutschen verdächtigt, daß sie mit dem Feinde in Verbindung ständen. Der Eindruck, daß die einberufenen Volksdeutschen Verrat begingen, war so stark, daß sie 1915 aus der russischen Westfront herausgezogen und in den Kaukasus geschickt wurden, um dort schwere und gefährliche Arbeiten im Hochgebirge zu verrichten. Jede neue russische Niederlage galt als Folge ihrer ausgedehnten Spionage12 . In den Vereinigten Staaten fanden während des ersten Weltkrieges viele Ge­ schichten Glauben, die sich mit den finstern Machenschaften der Deutschen im Ausland beschäftigten. Als der Krieg mit Deutschland im April 1917 Tatsache ge­ worden war, wurde die Öffentlichkeit allmählich überzeugt davon, »daß alle Deut­ schen, die sich von 1914 bis 1917 in Amerika aufgehalten hatten, nur Anschläge, nichts als Anschläge geschmiedet hatten3«. In Lateinamerika sprachen die Men­ schen damals bis in den brasilianischen Dschungel hinein von der deutschen Ge­ fahr. »Die deutschen Siedler wurden als verkleidete Soldaten angesehen, die als wohlorganisierte Einheit eines Tages imstande sein würden, ihr neues Vaterland zu erobern und dem deutschen Reich zu unterwerfen4.« In Uruguay wurden alle Deutschen, die in Fleischkonservenfabriken arbeiteten, entlassen, weil man fürch­ tete, daß sie das für England bestimmte Fleisch vergiften würden5. Das Leitmotiv, das im ersten Weltkrieg so deutlich erklang (»Der Feind hat unter uns Verräter und getarnte Agenten!«), ist nicht erst eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Man stößt schon früher darauf. Während des deutsch-franzö­ sischen Krieges von 1870/71 begann in Paris eine wahre Jagd auf preußische Spione, welche man allenthalben zu sehen glaubte. Häuser wurden gestürmt, aus denen angeblich dem Feind Lichtsignale gegeben wurden. Der »Figaro« berichtete, eine Sendung französischer Uniformen, die an den König von Preußen adressiert und für den Gebrauch seiner Agenten bestimmt gewesen sei, sei entdeckt und im letzten Augenblick festgehalten worden6. Droschkenkutscher und Kohlenträger wurden als Spitzel verdächtigt — »den einen erkannte man daran, daß er mit der Linken 1

Evelyn Blücher von Wahlstatt: Tagebuch. München 1924. S. 13.

2

Adolf Eichler: Die Deutschen in Kongreßpolen. Berlin 1919. S. 9.

3

F. v. Rintelen: The Dark Invader. London 1933. S. 204. Zitiert nach der Penguin Edition von 1940. 4

W. von Hauff: Auslandsdeutschtum. Karlsruhe 1925. S. 4. Zitiert von Georg Schreiber in: Das Auslandsdeutschtum als Kulturfrage. Münster 1929. S. 106. 5

W. Nelke: Das Deutschtum in Uruguay. Stuttgart 1921. S. 142.

6

Le siege de Paris, 19. 9. 1871. Zitiert von L. Graux: Les fausses nouvelles de la grande guerre. Paris 1918. I, S. 170.

238

leitete, wie ein Deutscher; den andern, weil seine Hände zu schwarz waren1«. Einige Menschenalter zuvor hieß es am Vorabend der Massenmorde vom Septem­ ber 1792, daß Paris erfüllt sei von als Priester getarnten Aristokraten und von als Bürger getarnten Soldaten. Am Tage vor dem Sturm auf die Bastille wurde das Kartäuserkloster erobert, weil man glaubte, daß die Mönche unter ihren Kutten Waffen versteckt hielten. Es wurde jedoch nichts gefunden12 . Während wir im 1. Teil die Vorstellungen der Menschen über das vermeintliche Treiben der militärischen Fünften Kolonne der Deutschen aufgezeichnet haben, um dann die Tatsachen über das wirkliche Treiben jener militärischen Fünften Kolonne im 2. Teil aufzuführen, können wir jetzt daran gehen, die mehr oder minder ähnlichen Anschuldigungen zu untersuchen, die während des zweiten Weltkrieges und einiger früherer Kriege gegen gänzlich anders geartete Gruppen gerichtet worden sind. Wir werden uns dabei jedoch sehr kurz fassen. Den japanischen Bürgern auf Hawaii hat weder vor noch während oder nach dem Angriff auf Pearl Harbour ein einziger Akt von Spionage, Sabotage oder anderer Art nachgewiesen werden können, der als Tätigkeit einer Fünften Kolonne gelten könnte. Spionage trieben nur die Konsulate. Ebensowenig ist etwas darüber bekanntgeworden, daß die in Kalifornien lebenden Nisei Spionage und Sabotage getrieben oder den Versuch gemacht hätten, Widerstandsgruppen zu bilden. Alle Personen, in deren Häuser die Bundespolizei »Waffen« (oftmals nur Schrotflinten) oder Sprengstoff beschlagnahmt hatte, konnten deren Besitz befriedigend erklären. Ferner zeigte sich bei Untersuchungen, daß die Gerüchte über Lichtsignale und geheime Funkstationen ausnahmslos unbegründet waren. Schließlich hat sich nirgends bestätigt, daß amerikanische Landwirte japanischer Abkunft auf ihren Besitzungen »Zeichen« zugunsten der japanischen Luftwaffe gemacht hätten3. Die Geschichten aus dem ersten Weltkrieg darf man ebenso unbegründet nennen. Deutsche wie Alliierte überschätzten zu Beginn der Feindseligkeiten Ausmaß und Wirkung der gegen sie gerichteten Spionage bei weitem. Vor Kriegsausbruch hatte der deutsche Geheimdienst jährlich höchstens eine halbe Million Reichsmark zur Verfügung. Immerhin konnte man selbst mit diesen bescheidenen Mitteln den Ablauf der russischen und französischen Mobilmachung feststellen. Ebenso wur­ den insgeheim Tatsachen über die britische Flotte gesammelt4. Das deutsche Spionagenetz in England, das von den Engländern seit Jahren sorgfältig beobach­ tet worden war, wurde jedoch am Tage der Kriegserklärung liquidiert. Für Sabo­ tageakte von in England lebenden Reichsdeutschen oder anderen Personen deut­ scher Abkunft haben sich keine Beweise gefunden5. 1

Tagebuch des Francisque Sarcey. Zitiert von Baracs-Deltour a.a.O., S. 86.

2

Graux a.a.O., S. 72 u. 90.

3

Grodzins a.a.O., S. 130/2.

4

Nicolai a.a.O., S. 6.

5

Erklärung des Innenministeriums, zitiert von Le Queux a.a.O., S. 100, 174/5, 183. Ferner Churchill: The World Crisis 1911—1918. S. 170/1. Zitiert nach der zweibändigen Ausg. von 1939.

239

»Die bewußten und unbewußten Strömungen in den Köpfen der Menschen lassen sich nicht genau aufzeichnen«, haben wir weiter oben einmal geschrieben. Vielleicht lohnt es sich, den Leser jetzt daran zu erinnern, wenn wir zu der Frage kommen, wie die Vorstellung von einer allgegenwärtigen, überall tätigen Fünften Kolonne überhaupt entstehen, und wieso diese Vorstellung in verschiedenen Län­ dern und zu verschiedenen Zeiten ähnliche Gestalt annehmen kann. Vielleicht läßt sich das folgendermaßen erklären: Der Ausbruch eines Krieges ruft bei den meisten Menschen eine starke Furchtempfindung hervor. Niemand weiß genau, was der Krieg ihm bringen wird. Das Leben selbst steht auf dem Spiel. Vielleicht wird man auf dem Schlachtfeld fallen oder bei einem Luftangriff schwer verwundet werden. Vielleicht wird man Verwandte und Freunde verlieren. Das gewohnte tägliche Leben, das in festen Bahnen verläuft, wird plötzlich abgeschnit­ ten. Eine gewaltige Umwälzung, eine unermeßliche Katastrophe steht bevor. Welche Waffen wird der Feind verwenden? Alles, was man von Kindertagen an über die Schrecken des Krieges gehört oder gelesen hat, alle Berichte, Vermutun­ gen und was man in den Jahren vor dem Kriege sich vorgestellt, aus Zeitungen oder Büchern entnommen hat — Kämpfe mit Flammenwerfern, Bakterien und »Todesstrahlen« — das alles und mancherlei ähnliche Erinnerungen steigen auf und drohen das Bewußtsein zu überfluten. Nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität solcher Befürchtungen ist geistig schwer zu bewältigen; sie sind einiger­ maßen unbestimmt und verschwommen. Niemand weiß, welches Unheil einem wirklich droht und welche Katastrophe wirklich eintreten wird. Neben die Furcht tritt von Anfang an eine aggressive Haltung. Der Feind ist der Angreifer. Er hat den Krieg begonnen. Sein Fehler ist es, daß der Friede des täg­ lichen Lebens zerstört worden ist. Er verbreitet Unheil und Zerstörung. Der Haß wächst ständig. Alle aggressiven Gefühle, die innerhalb einer Gruppe vorhanden sind, richten sich gegen den Feind. Nur zu gern würden die Menschen sich auf ihn stürzen, ihn schlagen, zerschmettern und vernichten! Zu Furcht und Aggressivität tritt ein Gefühl der Hilflosigkeit. Im Kriege wird ein gigantischer Mechanismus in Bewegung gesetzt, neben dem der einfache Mensch ein Nichts ist. Die Arbeit, die man im Frieden getan hat, fortzusetzen, er­ scheint nutzlos, aber was kann man Nützliches tun? Außerdem herrscht Ungewiß­ heit. Niemand weiß, was an der Front geschieht oder vielleicht schon geschehen ist. Die Nachrichten sind dürftig und wenig aufschlußreich. Die innere Spannung, die von den heftigen und dennoch unbestimmten Be­ fürchtungen, von der Aggressivität, die doch kein unmittelbares Ziel hat, und von dem Gefühl der Hilflosigkeit und Ungewißheit erzeugt wird, könnte sich lösen, sobald man im eigenen Kreise eine Person entdecken würde, die als feindlich abge­ stempelt werden könnte. Dann würde die Furcht ihren geheimnisvollen und unbe­ stimmten Charakter verlieren, die unbestimmte Aggressivität würde ein Ziel finden, und Hilflosigkeit und Ungewißheit würden durch eine unmittelbare Auf­ gabe aufgeschoben werden: durch einen Angriff auf den Feind in den eigenen

240

Reihen. Mit einem solchen Angriff würde man »etwas tun«, »den Krieg gewinnen helfen«. Die starke Neigung, dadurch ein Ventil und einen Ausgleich für die innere Spannung zu finden, daß man ohne weiteres an das Vorhandensein von Feinden im eigenen Kreise glaubt, ist unter solchen Umständen bei vielen Menschen vor­ handen. Es brauchen zunächst nur wenige zu sein, die den angeblichen Feind namhaft machen. Der Ruf eines einzigen wird von Tausenden aufgegriffen und rasch an Zehntausende weitergegeben. Presse und Rundfunk sorgen dafür, daß ihn Milhonen zu hören bekommen. Der auslösende Funke springt von einer Person auf die andere über. Viel wichtiger ist jedoch, daß die meisten Menschen so gespannt sind, daß sie gleichsam auf den Funken warten. Daher entzünden sich die Funken an vielen Orten zugleich und verbreiten sich ungeheuer schnell, so daß das, was ein Mensch nur vermutet, vom nächsten bereits als absolute Gewißheit weiterge­ geben wird. Ist es dann erst einmal gedruckt oder vom Rundfunk gesendet worden, so hat es die Endgültigkeit eines Dogmas angenommen1. Die meisten Menschen empfinden gar nicht das Bedürfnis, Dinge, die sie hören, ruhig und kritisch ab­ zuwägen. Zudem ist die Nachprüfung unmöglich, da die Verbindungen unter­ brochen worden sind, so daß niemand eine verläßliche Vorstellung von den Kämpfen hat. Das Namhaftmachen, die »Schöpfung« von »Feinden im eigenen Kreis« ist eine Methode, ein inneres Bedürfnis im Sinne der hier skizzierten Gedankenreihe zu befriedigen. Es ist ein irrationaler, aber natürlicher Prozeß; ja, eine verständliche Art und Weise, eine als unerträglich empfundene Wirklichkeit innerlich zu ver­ arbeiten. Es ist ein Prozeß, der in Zeiten starker Spannung beinahe unvermeidlich ist. Es scheint, als ob das Gemeinwesen, das angegriffen wird, seine Lage dadurch noch schwieriger macht, daß es annimmt, es gebe Feinde in seiner Mitte; in Wirk­ lichkeit geschieht jedoch in dem Augenblick, in dem diese Feinde erschaffen werden, das Gegenteil. Welchen Inhalt die Anschuldigungen haben — Gerüchte, Behauptungen und Verlautbarungen, welche die innere Spannung lösen und die Feinde im eigenen Kreise aussondern — ist von zweitrangiger Bedeutung. Bis zu einem gewissen Grade wird dieser Inhalt sich jeweils nach der besonderen geschichtlichen Situation richten. Geht man davon aus, daß die Menschen von dem Vorhandensein feind­ licher Helfershelfer in ihren Reihen überzeugt sein wollen, so ist es nur natürlich, daß sie annehmen, solche Gehilfen verübten Spionage und Sabotage und schössen auf die Truppen ihres Gastlandes. Dann wird diese Auffassung in die Vergangenheit 1 Die Empfindungen, die den hier beschriebenen Prozeß auslösen, brauchen keineswegs nur Furcht, Aggressivität, Hilflosigkeit oder dergleichen zu sein. Innige Sehnsucht, innig-freudige Erwartung können die gleiche Reaktion auslösen. Man braucht, was Holland angeht, nur an den »verrückten Dienstag« (5. 9. 1944) zu denken, als in nahezu allen von den Deutschen besetzten Städten auf Grund eines Berichts, daß Breda im Süden des Landes befreit worden sei, das Gerücht aufkam, daß die Befreiungsarmee nahe sei.

16

241

übertragen: diese Spitzel müssen natürlich seit Jahren dort gewesen sein, nur waren sie unsichtbar — genau so unsichtbar, wie die feindlichen Agenten werden, sobald der Angriff begonnen hat. Das kann aber kaum anders geschehen als da­ durch, daß sie Zivilkleidung oder die Uniformen der angegriffenen Truppen anlegen. Alle Anschuldigungen dieser Art sind ohne weiteres einleuchtend. Das hängt mit der Tatsache zusammen, daß die Zahl der von der Wirklichkeit gebotenen Möglichkeiten begrenzt ist. Manchmal tauchen alte, längst vergessene Anschul­ digungen wieder auf. Das konnte man in Belgien feststellen, wo die Menschen im ersten Weltkrieg die Reklameschilder von Maggi und im zweiten Weltkrieg die Pascha-Plakate daraufhin untersuchten, ob der Feind in ihren Reihen geogra­ phische Angaben darauf angebracht hatte. Häufiger noch bringen die Menschen Bestandteile von neueren Erlebnissen hinein, die dann die Anschuldigungen wesent­ lich einleuchtender oder sogar völlig selbstverständlich erscheinen lassen. So wurde in Holland die Meinung, daß Mitglieder der holländischen Nazipartei über­ all auf die eigenen Truppen schössen, wesentlich dadurch untermauert, daß Mussert nur zwei Wochen vorher angekündigt hatte, seine Anhänger würden im Falle einer Invasion keinen Widerstand leisten. Die Frage, warum dem Feind in den eigenen Reihen so oft Anschläge mit Gift zugeschrieben werden, wollen wir nicht beantworten. Wahrscheinlich spielen dabei viele verschiedene Faktoren mit. Wollten wir sie im einzelnen in psychologischer, ethnologischer und historischer Hinsicht untersuchen, so wäre das eine Arbeit für sich. Das gilt vielleicht bis zu einem gewissen Grade auch für die ebenso auffällige Tatsache, daß die Menschen oft geglaubt haben, sie hätten den Feind in den eige­ nen Reihen als Priester, Mönche und Nonnen verkleidet gesehen. Diese alle tragen Kleidungsstücke, unter denen sich Waffen besonders leicht verbergen lassen. Wahrscheinlich spielt der Umstand eine Rolle, daß in den Augen vieler Menschen die Diener der Kirche stets mit einem Furcht und Ehrerbietung weckenden Ge­ heimnis umgeben sind1. Solche Zusammenhänge mit der Vergangenheit sind jedoch nicht wesensnot­ wendig. Eine völlig unwichtige, alltägliche Kleinigkeit genügt, damit einer als Feind in den eigenen Reihen betrachtet werde. Wer auf irgendeine Weise auffällt, ist manchen Menschen verdächtig. Sofort richtet sich dann weiterer Verdacht gegen ihn. 1914 galten in Deutschland ganz gewöhnliche Menschen als Spitzel, wenn sie sich äußerlich ein wenig von ihren Mitmenschen unterschieden. In Eng­ land widerfuhr dasselbe Personen, die ungewöhnlich aussahen, flüsterten oder Stimmen wie Deutsche hatten. 1940 wurden viele Leute verhaftet, die, soweit man feststellen kann, nur deshalb festgenommen wurden, weil in ihrer äußeren Er­ scheinung etwas Auffälliges, Ungewohntes war, was sie von der großen Menge unterschied; ungewohnt war aber dasselbe wie feindlich geworden. Gegen Ende 1 In ihrer Studie »Myths of War« (London 1947, S. 84/7), in der sie auch einiges über die Fünfte Kolonne schreibt, spricht Prinzessin Marie Bonaparte von dem »in den Massen stets latent vorhandenen Antiklerikalismus«.

242

Mai 1940 wurde ein französischer Leutnant von einigen Mitbürgern mißhandelt, »weil er etwas rötliches Haar hatte, was ihnen verdächtig vorkam1«. Als in jenen Maitagen 1940 in Brüssel einige Gefangene in der Straßenbahn unter Bewachung von drei Soldaten und einem Leutnant zum Bahnhof gebracht wurden, sah der Offizier einen Mann mit seiner Frau, die ein Kind erwartete, auf der Straße gehen. Beide waren brünette Typen. Ausländer! Die Straßenbahn muß halten, und der Mann wird vor den Leutnant gebracht. In der Tat, es waren Ausländer. Befehl: Der Mann soll mit den übrigen Gefangenen mitkommen. Protest: »Ich wohne hier so und solange und hier sind meine Papiere. Alles ist in Ordnung!« — »Papiere?« Der Leutnant lacht. »Ja, und meine Frau ist bald soweit!« — »Das alles müssen Sie dort erklären, wohin Sie kommen werden12 !« Der Verdacht kann sich also auf vergleichsweise zufällige Personen richten. Begreiflicherweise richtet sich der Verdacht häufiger auf Personen oder Personen­ gruppen, die bereits in der Zeit vor dem feindlichen Angriff in gewissem Umfang Furcht und Aggressivität ausgelöst haben. Diese früheren Empfindungen mögen andere Motive gehabt haben und unabhängig voneinander oder auch gemeinsam aufgetreten sein. Manchmal sind sie sozialer und wirtschaftlicher Art, häufiger aber

politischer

Natur.

Wenn

ein

Gemeinwesen

vom

nationalsozialistischen

Deutschland angegriffen wird und das Bedürfnis entsteht, Spitzel und Saboteure in den eigenen Reihen zu suchen — was ist dann natürlicher als die Vermutung, daß Spionage und Sabotage von denen verübt werden, die sich seit Jahren zu dem nationalsozialistischen Deutschland bekannt haben: Reichsdeutsche, Volks­ deutsche und »Faschisten«, die allesamt die bestehende Ordnung planmäßig untergraben haben? Nachdem nun der Krieg gekommen ist, wissen plötzlich manche und vermuten viele andere, daß diejenigen, welche dem politischen Geg­ ner in Friedenszeiten geholfen haben, ihm jetzt auch auf militärische Weise helfen werden. Die Mitglieder der politischen Fünften Kolonne werden angeklagt, inter­ niert, verurteilt und häufig auch hingerichtet. »Allesamt Verräter!« Die Schimpf­ wörter, mit denen sie überschüttet werden, und die Schläge, die auf sie niederfallen, sind die Mittel, mit denen Menschen in ihrer Ratlosigkeit Furcht und Zorn abzu­ reagieren suchen. Nicht alle Angehörigen des angegriffenen Gemeinwesens sind davon in gleichem Maße betroffen. Viele persönliche Faktoren spielen dabei eine Rolle. Manche können, obwohl die allgemein herrschende Spannung auch in ihnen selbst vor­ handen ist, trotzdem immer noch den Geboten von Vernunft und Commonsense und den Forderungen des Gewissens Folge leisten: In Polen wurde die Erschießung von

Volksdeutschen

als

Mitglieder

der

Fünften

Kolonne

verschiedentlich

von

polnischen Offizieren verhindert. Ihr Mut verdient Bewunderung; denn wer immer in einem solchen Augenblick höchster Spannung für einen »Verräter« eintritt, läuft 1

R. Lefèvre: Raz de maree. Paris 1944. S. 90.

2

Das wurde ein französisches Konzentrationslager am Fuß der Pyrenäen. Lagrou: Wij verdachten. S. 51.

243

Gefahr, selbst als Verräter angesehen und behandelt zu werden. Erfahrungen in einem Amt und auch Pflichtgefühl spielen eine Rolle: häufig verteidigt die Polizei die ver­ hafteten Mitglieder der Fünften Kolonne unter großen Schwierigkeiten und eigener Lebensgefahr gegen die aufgebrachte Menge. In jener Menge aber finden sich häufig Leute, die sozusagen als Werkzeuge der kollektiven Furcht und Aggressivität auf­ treten. Sie beginnen, um sich zu stechen und totzuschlagen, und diese Handlungen werden in diesem Augenblick von vielen Angehörigen der Gruppe, die sich bedroht fühlt, geduldet, von manchen sogar bewundert und beifällig aufgenommen. Sobald jedoch die angegriffene Gruppe Rückschläge erleidet, setzt die Suche nach einem Sündenbock ein, durch die neue Feinde in den eigenen Reihen ge­ schaffen werden. Die Erkenntnis, daß sie, die Angehörigen der Gruppe selbst, ebenfalls für die Mängel und Fehler verantwortlich sind, aus denen die Rück­ schläge hervorgehen, darf nicht ins Bewußtsein treten: besondere Personen werden mit der allgemeinen Schuld beladen. Ihre Nachlässigkeit hat dem Feind den Sieg geschenkt. War das nicht wahrscheinlich beabsichtigt? In kürzester Zeit nimmt die Anschuldigung ernsteren Charakter an; sie haben »Verrat begangen«. Das Ausfindigmachen von Sündenböcken — das wiederum ursprünglich Sache einiger weniger ist, obwohl Hunderttausende sich blitzschnell »die Anklagen« zu eigen machen — hat noch einen weiteren Vorzug: daß nämlich die Rückschläge nicht mehr

als

Ergebnis

tief

verwurzelter,

relativ

dauerhafter

Faktoren

wirtschaft­

licher und politischer Art angesehen zu werden brauchen. Nein, jetzt kann sie ausschließlich als die Folgen des zeitweiligen Wirkens einer begrenzten von Personen ansehen, die nun, nachdem man sie entdeckt hat, leicht aus Wege geräumt werden können. Die Namen bekannter Männer — Politiker,

man Zahl dem be­

kannte Generäle, führende Industrielle — liegen in der Luft: sie sind die Ver­ räter. Kennt man sie erst einmal, so werden auf die alten Anklagen neue gehäuft. So geschah es im Mai 1940 in Frankreich, als im Norden die Brücken über die Maas angeblich infolge böser Nachlässigkeit — »des Verrats« — einiger weniger französischer Offiziere von den Deutschen genommen worden waren und die Front zusammengebrochen war. Da hieß es von General Corap, dem Komman­ dierenden General der IX. Armee, den Reynaud als einzigen namentlich genannt hatte, »daß er sich in dem kritischen Augenblick in die Luxusvilla eines stein­ reichen Industriellen zurückgezogen und dort seine Gebebte einquartiert hatte, um sich selbst vergnügte Stunden zu bereiten1«. Kein Tier hat einen breiteren Rücken als der Sündenbock. Kehren wir für einen Augenblick zu dem Zeitpunkt zurück, in welchem der Feind in unseren Reihen zum erstenmal namhaft gemacht wird. Vernünftiges Denken spielt bei dem inneren Prozeß, der zu diesem Namhaftmachen führt, eine sehr untergeordnete Rolle. Es spielt sozusagen die Rolle des Staatsanwaltes, der vom Richter Befehl bekommen hat, Beweise zu beschaffen, welche das 1

Zitiert vom früheren Minister Landry. Franz. Pari. Ber. Vernehmungen VIII, S. 2433.

244

schärfste Urteil rechtfertigen werden. Diesen Beweis liefert es im entscheidenden Augenblick. Dazu ist nichts weiter nötig, als daß vergleichsweise belanglose Sinneswahrnehmungen als verdächtig abgestempelt werden. Alle Signale für den Feind, denen wir im Laufe unserer Untersuchung so oft begegnet sind — Zeichen auf den Dächern, angemalte Kamine, Kornfelder, die in Mustern oder in Gestalt von Pfeilen gesät oder gemäht wurden, Licht- und Rauchsignale, Spiegel, Vor­ hänge, Kreidestreifen, Landkarten und Zeitungen, Aufschriften auf der Rück­ seite von Reklameschildern und Plakaten — sie alle waren Beobachtungen, die objektiv überhaupt keine Beziehungen zu den Operationen des Feindes hatten, die aber subjektiv von demjenigen, der die Beobachtung machte, mit elemen­ tarer Gewalt als verdächtig abgestempelt wurden. Sie waren die phantomartigen Beweise, welche das Gefühl benötigte1. In Kriegszeiten, oder wann immer ernste Gefahr droht, erscheinen viele nor­ male Sinneswahrnehmungen plötzlich verdächtig. »Ein anfahrendes Auto ist eine Sirene, eine zuschlagende Tür eine Bombe12 .« Um wieviel verdächtiger sind dann Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Personen, gegen die bereits eine gewisse Animosität besteht, oder wenn solche Wahrnehmungen zu einer Zeit gemacht werden, da der Feind jederzeit auftauchen kann. Jeder Schuß, den man hört, ist dann vom Feinde abgefeuert worden; falls er nicht in der Nähe ist, müssen es seine Helfershelfer gewesen sein. Der Eindruck, daß diese Helfers­ helfer von allen Seiten auf einen schießen, ist besonders stark, wenn in den Straßen einer Stadt Kämpfe stattfinden, so daß die Querschläger allenthalben umherfliegen. Offiziere und Mannschaften steigern sich gegenseitig in Aufregung hinein und schießen, um ihre Furcht zu überwinden. Gewöhnlich schießen sie aufeinander, was auch zu Beginn eines Krieges häufig an der Front vorkommt. Jeder Schuß, den man hört, ist ein neuer Beweis dafür, daß ein Angehöriger der Fünften Kolonne hinter der nächsten Ecke lauert. In einer solchen Lage kam es während der deutschen Invasion im Mai 1940 vor allem in den westholländischen Großstädten zu ungeheurer Verwirrung. Diese Verwirrung wurde noch vermehrt durch Berichte, daß der Feind holländische Uniformen mißbrauche (ein Bericht, der sich nur für einen bestimmten Abschnitt 1 Es hat sich herausgestellt, daß neun Zehntel der Lichtsignale, die in Holland im Februar und März 1940 in großer Zahl beobachtet wurden, ganz natürliche Erklärungen gefunden haben: Autoscheinwerfer, die infolge einer Straßensteigung für einen Augenblick in die Höhe schienen, Flackern von Lichtreklamen usw. In ein paar Fällen machten sich Halb­ wüchsige einen Spaß daraus, ihre Nachbarn durch Lichtsignale zu beunruhigen, in andern Fällen geschah desgleichen durch Neurotiker, die sich interessant machen wollten. Für eine kleine Zahl von Fällen hat sich keine Erklärung gefunden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß an ihnen Leute beteiligt waren, die Interesse daran hatten, die Nervosität in Holland zu stei­ gern. Ferner haben wir die merkwürdige Tatsache, daß die deutschen Behörden während der ersten Zeit der deutschen Besetzung die holländischen Militärbefehlshaber aufforderten, sie sollten sofort damit aufhören, den Engländern in großem Umfang Lichtsignale zu geben. 2

Fabre-Luce: Journal de la France, S. 319.

245

der Front als richtig erwies). In Den Haag gab es Soldaten, die daraufhin von ihren Uniformen die Rangabzeichen entfernten. Darauf würden die Deutschen bestimmt nicht vorbereitet sein! Die Folge war jedoch, daß sie von andern Soldaten, die das nicht getan hatten, für verkleidete Deutsche gehalten wurden. Die Ordnung wurde erst wieder hergestellt, als die Truppen am vierten Tage des Krieges aus den Straßen zurückgezogen wurden. Kein Wunder: damit hörte das Aufeinanderschießen auf. Es brauchen nur sehr wenige zu sein, die zuerst den Feind in den eigenen Reihen namhaft machen. Dasselbe gilt, wenn es darum geht, Beweise in Worte zu fassen. Einer formuliert — alle greifen es auf. Das kann sich in einer kleinen Gruppe ereignen (»Hier ist eine deutsche Zeitung! Also ist dieser Volksdeutsche ein Spitzel!«). Es kann auch im ganzen Lande vor sich gehen. Berichte, die gefühlsbetont sind, ungenügend nachgeprüft werden oder ganz oder teilweise um Schlußfolgerungen bereichert werden und von unten her Militär- und Zivilbehörden erreichen, werden in öffentliche Ankündigungen, Verlautbarungen und Heeres­ berichte verwandelt, die mit fürchterlichen Ungenauigkeiten gespickt sind und nun ihrerseits wieder die Neigung fördern, neue »Verbrechen« zu entdecken. Besteht erst einmal der Verdacht, daß das Wasser vergiftet sei, so schmeckt es alsbald merkwürdig, dann ist es auch vergiftet. Die allgemeine Furcht erzeugt immer wieder neue Beweise. So bemerkte während der Kämpfe in Rotterdam ein Gasoffizier einer Gruppe, die ein Schulgebäude besetzte, Gasgeruch: »Andere meinten, sie hätten das Gas schon vorher gerochen. Wer Granatsplitter anfaßte, empfand an den Fingern sofort ein Jucken: Senfgas! Das Wort Gas rief eine schreckliche Wirkung hervor, sofort tauchten Gasmasken auf. Die Leute, deren Finger juckten, bekamen riesige Verbände mit chlorsaurem Kali um ihre Hände1.« Der Verdacht erwies sich als grundlos12 . Während der Kämpfe in Den Haag schenkte ein hoher Regierungsbeamter dem Militärposten hundert Zigaretten, die sein Monogramm trugen. Der Posten sollte das Regierungsgebäude (in welchem die Minister voll Spannung den Gang der Ereignisse verfolgten) gegen die Fünfte Kolonne verteidigen. »Ein paar Stunden später kamen die Zigaretten zurück und dazu das Gerücht: sie sind vergiftet. Ich sagte darauf, ich würde sie gern sehen. Daraufhin zeigte man mir Zigaretten mit meinem eigenen Monogramm3!« Wie gänzlich absurd solche Beweise sind, 1 Die Erinnerungen des Heereskaplans R. Verhoeven in B. Mol: Vrij! Utrecht 1945. S. 89. — Wir sind geneigt, auch den oben auf S. 54 erwähnten Fall des polnischen Leutnants Ko­ walski für Einbildung zu halten; er erhielt von einer Volksdeutschen Wasser »mit Senfgas, glücklicherweise in verdünnter Form«. 2 An dem Tag, als die Deutschen Rotterdam besetzten, waren ihre militärischen Stellen so fest überzeugt, daß das Trinkwasser vorsätzlich vergiftet worden sei, daß ein Polizei­ inspektor schriftlich das Gegenteil versichern mußte. Auch in ihnen lebte die Furcht. De Jong: De Rotterdamse politie gedurende de oorlogsjaren 1939—1945. S. 155. 3

Vernehmung von Dr. H. M. Hirschfeld. Holl. Pari. Ber. IIc, S. 367.

246

läßt sich manchmal auf diese Art nachweisen. Lichtsignale erweisen sich bei näherer Prüfung als das Flackern einer Kerze, als Folge eines im Wind flattern­ den Vorhangs, als eine Lampe, die aus ganz harmlosen Gründen ein paarmal an- und ausgeschaltet wurde, oder vielleicht auch als Spiegelung der Sonne in einem offenen Fenster, das sich bewegt. Oder man besetzt ein Haus und stellt fest, daß das vermeintliche Maschinengewehr eine Fahnenstange ist. »Stoff­ streifen zur Warnung von Flugzeugen« sind ganz gewöhnliche Bettbezüge. Häufig kommt es jedoch vor, daß Personen, welche ein bestimmtes Beweis­ stück als absurd erkannt haben, trotzdem nicht sofort bereit sind, andere Be­ weisstücke für ebenso absurd zu halten. Das kritische Denkvermögen der meisten Menschen treibt auf dem Strom der Empfindungen und Überzeugungen dahin. Sehr häufig kommt es vor (zumal unter Zivilisten und Soldaten, viel seltener bei Richtern und Polizisten), daß jede kritische Nachprüfung von Beweisen von vornherein abgelehnt wird. Es gibt keine Berufung gegen das Urteil, welches die Gefühle auf Grund einiger verstreuter Beobachtungen gefällt haben. Häufig ist eine Verteidigung dagegen unmöglich. Schlimmer noch: alle Argumente, welche die verdächtige Person als Beweis ihrer Unschuld vorbringt, werden in neue Beweise für die Anklage umgewandelt. Man braucht sich nur des Korre­ spondenten der »New York Times« zu erinnern, der in Frankreich fast erschossen worden wäre, nachdem er wegen seiner blauen Augen und blonden Haare ver­ haftet worden war. Anklagen gegen eine eingebildete Fünfte Kolonne sind keineswegs eine Er­ scheinung, der wir nur in Kriegszeiten begegnen. Dann ist sie allerdings besonders hartnäckig und verbreitet. Daß wenige Personen solche erdichteten Anklagen vorbringen, und daß viele andere sie bereitwillig aufgreifen, geschieht jedoch auch in Friedenszeiten. Ähnliche Zusammenhänge kann man bei allen Verfolgungen von Menschen und Gruppen in Zeiten internationaler Spannungen beobachten. Man braucht sich nur der Hexenprozesse und Judenpogrome zu erinnern. Dabei handelt es sich um primitive Verhaltensweisen, denen man nicht wirklich auf den Grund kommt, wenn man nur darauf hinweist, daß die vorgebrachten Anklagen absurd sind. In dem jeweiligen Augenblick erscheinen solche Anklagen als die Ursache der Verfolgung, doch liegen die wirklichen Ursachen viel tiefer. Die Opfer können meistens diese tieferen Ursachen nicht begreifen. Sie fühlen die Schläge und fragen sich nicht, was es sei, das ihre Verfolger so handeln läßt. Oft sind sie völlig unschuldig, man denke nur an die Nisei im zweiten Weltkrieg in Kalifornien. Anders lagen die Dinge bei den »Faschisten«, die in Westeuropa verhaftet und häufig hart angefaßt wurden. Mußten sie nicht, wenn sie nach­ dachten, zugeben, daß sie nicht ohne eigenes Zutun in diese Lage geraten waren? Aber die wenigsten ließen zu, daß diese Frage in ihr Bewußtsein eindrang. Sie hatten weder aus Häusern geschossen, noch beabsichtigten sie, das zu tun: daher hielten sie sich für unschuldig. Sie verstanden nicht die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt wurden.

247

Ebensowenig begriffen die Deutschen die psychologischen Zusammenhänge, die den Anschuldigungen bezüglich einer umfangreichen militärischen Fünften Kolonne der Deutschen zugrunde lagen. Es entging ihnen, daß die Menschen ehrlich daran glaubten. Sie betrachteten die Meldungen über eine solche Fünfte Kolonne als den teuflisch schlauen, bewußt ausgedachten Plan ihrer Gegner, eine »Waffe der englisch-französischen Kriegsführung1« oder auch als »eine Propa­ ganda- und Abwehrthese, welche vom englischen Informationsministerium in kritischen Augenblicken der Kriegsführung unter geschickter Spekulation auf die stets vorhandene Furcht vor Spionage und >aliens< aufgeworfen wird12 «. Die Tatsache, daß die wirklichen Ursachen für die Anschuldigung und Ver­ folgung einer solchen eingebildeten Fünften Kolonne im Gefühlsbereich liegen, ist einer der wichtigsten Gründe dafür, daß es so schwierig war, die Verfolger auch nur einen Augenblick darüber nachdenken zu lassen, ob nicht viele Anklagen vielleicht imaginär seien. Ein weiterer Grund scheint uns zu sein, daß es nicht immer möglich ist, die objektive Unrichtigkeit dieser Anklage zu beweisen oder auf rationale Weise einleuchtend zu machen. Wenn es darum geht, nachzuweisen, daß es nicht wahr ist, »daß die Hexe nichts wiegt«, dann braucht man eine gute Waage. Die Anklagen bezüglich der militärischen Fünften Kolonne der Deutschen waren jedoch Teil eines unendlich verwirrten und verwickelten Ganzen, welches aus Tatsachen und Ereignissen auf politischem, militärischem, wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet bestand, die dem menschlichen Verstand in Gestalt von Gerüchten, Erzählungen, Nachrichten, Aufsätzen und Büchern zur Kenntnis kamen. Es war also ein wahrer Rattenkönig äußerer und innerer Fak­ toren, die sich gegenseitig auf alle mögliche Art und Weise beeinflußten und ins­ gesamt die »menschliche Geschichte« bilden, die schon nicht in Friedenszeiten, geschweige denn im Kriege, hinlänglich überschaubar ist. Nun werden jedoch diese Anschuldigungen nicht

immer

aufrechterhalten,

sondern verschwinden oft zusammen mit den Gefühlen, deren Ausdruck sie sind. Der Mensch versteht sich dem Kriege anzupassen. Er stellt fest, daß die Wahr­ scheinlichkeit, ihm zum Opfer zu fallen, relativ klein ist. Die Kämpfe an der Front nehmen einen klareren Verlauf. Ein großer Teil des täglichen Lebens verläuft auf verhältnismäßig normale Weise. Das führt dazu, daß seine Furcht abnimmt und an Unbestimmtheit verliert. Seine Aggressivität findet ein bestimmtes Ziel: den Feind, dessen Macht sich als keineswegs schrankenlos erweist. Jeder­ mann erhält eine nützliche Aufgabe. Auf solche Weise gewinnt das Gemeinwesen allmählich seinen Gleichmut zurück, was natürlich nichts daran ändert, daß im späteren Verlauf des Krieges Situationen eintreten können, in denen die allge­ meine Unsicherheit des täglichen Lebens wieder unerträglich groß wird. 1

Hans Gracht: Die Fünfte Kolonne. Berlin 1941. S. 44.

2

Einführung zur Übersetzung von Auszügen aus F. Lafitte: The Internment of Aliens. Verfaßt vom Rundfunkreferat, Vertreter des Auswärtigen Amtes im Stabe des Reichskommissars in den Niederlanden.

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Wie rasch die normalen Bedingungen zurückkehren, hängt von einer ganzen Reihe von Umständen ab. Das kann ziemlich schnell geschehen. Ein schönes Bei­ spiel dafür liefert England, das einem Teil der deutschen Emigranten, die im Sommer 1940 als ausgebildete Angehörige einer Fünften Kolonne interniert worden waren, schon nach wenigen Monaten die Freiheit zurückgab. Die übrigen konnten die Lager später in Etappen verlassen. Viel hängt in solchen Fällen von der Macht der Zivilbehörden ab, die, wie die Erfahrung gelehrt hat, in manchen Ländern viel besser imstande sind, die wirkliche Gefahr einer Fünften Kolonne zu erkennen, als die Militärbehörden. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten wurden die zivilen Stellen gegen ihre bessere Erkenntnis von den Militär­ behörden (die zeitweilig die öffentliche Meinung hinter sich hatten) gezwungen, bei der Internierung der Flüchtlinge und der Nisei mitzuwirken. Die allgemein übertriebene Vorstellung von der deutschen Fünften Kolonne im zweiten Weltkrieg hielt die Menschen auch in den späteren Phasen des Krieges und nach dem Kriege gefangen. Wie läßt sich das erklären? Außer den schon genannten Umständen möchten wir auf zwei weitere Faktoren hinweisen. Im ersten Weltkrieg verloren sich die Berichte über die eingebildete Fünfte Kolonne ziemlich bald in den überwältigenden Nachrichten von einem blutigen Kampf, der vier Jahre dauern sollte und bei dem Sieg oder Niederlage offensichtlich von ganz andern Kräften als von spionierenden Dienstmädchen, Sabotage treibenden Mönchen und »mit Gold beladenen, pfeilschnellen Autos« bestimmt wurden. Der Verlauf des Krieges selbst zeigte, wie töricht die Berichte über die Fünfte Kolonne gewesen waren, die in den ersten Tagen und Wochen die Schlagzeilen aller Zeitungen beherrscht hatten. Anders war es im zweiten Weltkrieg. In Polen, Skandinavien und Westeuropa blieb den Menschen keine Zeit, die Unrichtigkeit der meisten Berichte zu er­ kennen. Dort trafen die deutschen Feldzüge zeitlich mit der Entstehung der übertriebenen Vorstellungen von der Fünften Kolonne in den Köpfen der ange­ griffenen Völker zusammen. Die Deutschen hatten schon gesiegt und mit der Besetzung begonnen, ehe noch irgendeine Richtigstellung möglich gewesen war. Danach wurde es doppelt schwierig, das Bild in den Köpfen zu korrigieren. Hatten nicht Quisling, Mussert und Degrelle, die mit dem deutschen Unterdrücker zu­ sammenarbeiteten, ihm wahrscheinlich auch militärische Hilfe geleistet? Ein Narr, nein schlimmer noch: ein Verräter war jeder, der das nicht glaubte! Noch wichtiger war vielleicht ein anderer Faktor. So übertrieben die allgemeine Vorstellung von der militärischen Fünften Kolonne auch gewesen war, so war sie doch teilweise zutreffend. In Polen hatten Volksdeutsche auf polnische Truppen geschossen, in Dänemark hatten deutsche Nationalsozialisten den Invasions­ truppen geholfen, in Holland hatten die Deutschen holländische Uniformen zu ihrem Vorteil benutzt, in Belgien hatten Deutsche als Flüchtlinge getarnt ope­ riert, in Amerika waren Saboteure gelandet. Daß die Menschen diese und ähn­ liche Unternehmungen im Stil der Fünften Kolonne nicht in ihren wirklichen

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Proportionen sahen, sondern nur als den sichtbaren Teil eines zweifellos viel größeren Ganzen, kann uns nicht überraschen. Die Gruppe, die als eingebildete Fünfte Kolonne verfolgt wird, braucht in Wirklichkeit gar nichts getan zu haben, um ein Opfer der Volkswut zu werden. Uns scheint jedoch, daß man die Macht und die Hartnäckigkeit des Glaubens an eine übertriebene militärische Fünfte Kolonne der Deutschen nicht von den wirklichen Unternehmungen trennen kann, die wir im einzelnen untersucht haben. So begrenzt die Tätigkeit jener militärischen Fünften Kolonne der Deutschen verhältnismäßig auch gewesen sein mag, so trug sie doch in außerordentlich starkem Maße dazu bei, die anfänglichen Vorstellungen von der Fünften Kolonne zu verewigen. Die Kraft und Dauerhaftigkeit jenes Bildes sollte uns ein Beweis dafür sein, wie sehr sich Millionen von Menschen von dem nationalsozialistischen Deutschland bedroht fühlten, auf welch teuflische Weise die Gestalt Hitlers sie berührte, und wie beunruhigt sie von den Intrigen beispielsweise der AuslandsOrganisation der NSDAP waren. In der Geschichte mancher Nationen waren das neue Empfindungen, aber für andere Völker war es nur ein neuer Ausdruck tief eingewurzelter Gefühle, die schon seit Generationen oder schon gar seit Jahr­ hunderten den Kampf gegen die Deutschen begleitet hatten. Die Furcht der Menschen vor der Fünften Kolonne beruhte in beträchtlichem Umfang auf wirk­ lichen Tatsachen. Dem können wir auch nur in geschichtlicher Perspektive ge­ recht werden, und von den geschichtlichen Voraussetzungen her wird auch erst vollends verständlich, daß sich einer Fünften Kolonne der Deutschen in einigen Ländern sehr reale, in anderen dagegen nur sehr geringfügige Ansatzpunkte boten.

250

XVI

GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK

Die Furcht vor der deutschen Fünften Kolonne wurde während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in starkem Maße durch die Tatsache vermehrt, daß fast überall in der Welt größere oder kleinere Gruppen von Deutschen an­ sässig waren. In den baltischen Staaten, in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn,

Rumänien,

Jugoslawien,

Dänemark,

Holland,

Belgien,

Frankreich,

in

der Schweiz, der Sowjetunion, in Palästina, Kanada, den Vereinigten Staaten, in Mexiko, Brasilien, Argentinien, in Chile, Australien, Neuseeland, SüdwestAfrika — in allen diesen Ländern befanden sich beträchtliche Gruppen von Deut­ schen — entweder reichsdeutsche Staatsangehörige oder (in viel größerer Zahl) Menschen deutscher Abstammung und Sprache. Das Schicksal und die teilweise bis ins frühe Mittelalter zurückreichende Geschichte dieser verschiedenen aus­ landsdeutschen und volksdeutschen Gruppen im einzelnen zu verfolgen, kann nicht unsere Aufgabe sein. Betrachtet man den Prozeß der sich durch Jahrhunderte hinziehenden Aus­ wanderung und Kolonisation der Deutschen insgesamt, so läßt sich jedoch eine grundlegende Unterscheidung zwischen der deutschen Ostkolonisation, den Volksdeutschen in Osteuropa einerseits und der westlichen, meist überseeischen Auswanderung und Ansiedlung von Deutschen andererseits treffen. In letzterem Fall siedelten die Deutschen in einer Umwelt an, oder wurden (durch Grenzverschiebungen) Teil einer staatlich-kulturellen Umwelt, deren wirtschaftliches und zivilisatorisches Niveau im allgemeinen nicht niedriger war als in Deutschland. Die nach Übersee ausgewanderten Deutschen ebenso wie die Deutschen in Dänemark, im Elsaß, in Holland, Belgien oder der Schweiz nahmen folglich auch in sozialer Hinsicht als Deutsche nicht eine höhere, privilegierte Stellung gegenüber der übrigen Gesellschaft ein, sondern paßten sich im allge­ meinen ihrer neuen Umgebung rasch an, und nicht selten verloren sie schon nach wenigen Generationen ihre deutsche Eigenart, oft auch die deutsche Sprache. Von diesem »Assimilationstyp« der Auslandsdeutschen unterschieden sich die im Laufe einer langen Geschichte im Osten Deutschlands weit bis nach Rußland hinein entstandenen und mehr oder weniger geschlossenen deutschen Siedlungen und Siedlungsgebiete.

251

Wo immer hier Deutsche aus eigener Initiative als Eroberer (Deutscher Orden) oder auf Einladung örtlicher Fürsten in dem weiten Gebiet, das sich vom finnischen Meerbusen in einem großen Bogen zur Adria erstreckt, siedelten, kamen sie gewöhnlich als Träger einer überlegenen Kultur. Sie hatten bessere Waffen, sie verstanden sich auf den Erzbergbau, sie hatten landwirtschaftliche Geräte aus Eisen, sie wußten, wo und wie man Dörfer baut und wie man Städte plant. Ganz natürlich nahmen sie eine privilegierte Stellung ein, sei es als bevorrechtigte Gruppe (Polen, Wolgagebiet, Südrußland und Siebenbürgen) oder als harte Ge­ bieter (Baltikum, Krain). In beiden Fällen fühlten sie sich der einheimischen Bevölkerung überlegen. Sie schlossen sich von den »rückständigen« Esten, Letten, Tataren, Kosaken, Ukrainern, Polen, Slowaken, Rumänen und Serben ab. Es entstand ein traditionelles, von Generation zu Generation vererbtes Überlegen­ heitsgefühl: sie waren tüchtiger, wohlhabender und begabter, die geborenen Kolonisatoren und Herren. Der soziale Kontrast zwischen den Deutschen und der einheimischen, meist slawischen Bevölkerung bewirkte auch psychologisch auf beiden Seiten eine tiefverwurzelte Trennung und Gegensätzlichkeit. In der stürmischen und revolutionären Nationalbewegung der kleinen slawischen Nationen in Osteuropa, die im 19. Jahrhundert einsetzte, entlud sich schließlich mit der nationalen auch die lang aufgestaute soziale Dynamik und führte zum Kampf gegen die fremden »Eindringlinge«, zur Beseitigung ihrer ständischen Privilegien und zur Parzellierung ihres Großgrundbesitzes. Es handelte sich hier­ bei um einen allgemeinen Prozeß, von dem nicht nur die Deutschen betroffen wurden. Er richtete sich z. B. in Litauen und der Ukraine auch gegen die dortige privilegierte polnische Aristokratie, in Estland und Lettland auch gegen schwe­ dische und russische Besitz- und Rechtstitel, gegen die magyarische Herrschafts­ stellung in Siebenbürgen, die Italiener in Slowenien. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Deutschen in den ethnischen Grenz- und Mischgebieten der Donaumonarchie und Preußens wie den entfernten deutschen »Volksinseln« sich in ihrer bisherigen Stellung, ihrer sprachlichen und kulturellen Eigenart bedroht fühlten, begann sich allmählich bei ihnen ein volksdeutsches politisches Gemeinbewußtsein und zugleich das Bedürfnis nach staatlichem Schutz durch das »Reich« herauszubilden. Das Gefühl der Zu­ sammengehörigkeit zwischen den Volksdeutschen jenseits der Grenzen und dem Mutterland, das vordem kaum nennenswert bestanden hatte, wurde dann entschei­ dend intensiviert durch die Ereignisse des ersten Weltkrieges und seiner Folgen. Es ist unmöglich, die Ereignisse nach 1933 und zumal die Tatsache zu verstehen, daß manche deutsche Volksgruppen sich von Hitler als dessen politische oder gar militärische Werkzeuge benutzen ließen, wenn man nicht mit einigen Einzel­ heiten schildert, wie sich nach dem Ende dieses Weltkrieges die Lage in den verschiedenen Ländern und Gebieten entwickelte, in denen deutsche Volksgrup­ pen lebten. Wir werden uns dabei kurz fassen und nur den Allgemeinzustand der fraglichen Gruppen schildern.

252

Im Frieden von Versailles mußte Deutschland vier Grenzgebiete abtreten, die überwiegend oder ausschließlich deutsch waren: das Saargebiet, Eupen-Malmedy, Danzig und Memel. Bei Abhaltung freier Wahlen würden sich das Saargebiet mit etwa 800.000 Deutschen1, Danzig mit 350.000 Deutschen und das Memel­ gebiet mit 150.000 Einwohnern schon zu Beginn der zwanziger Jahre mit über­ wältigender Mehrheit für den Anschluß an Deutschland erklärt haben. Im Grenz­ gebiet von Eupen-Malmedy, das Belgien annektiert hatte, war die deutsche Volks­ gruppe von 50.000 Personen, die zunächst die Mehrheit gehabt hatte, infolge der vielen belgischen Einwanderer zur Minderheit geworden. Im Elsaß war die Bevölkerung nach Herkunft und Sprache überwiegend deutsch, fühlte jedoch französisch. Mit Freuden hatten sie die »Preußen« 1918 abziehen gesehen. Ihre Freude blieb jedoch nicht ungetrübt. Die französische Regierung förderte, ermutigt von der ultra-französischen Partei unter den Elsässern, den französischen Unterricht mit aller Macht. Proteste ließen nicht lange auf sich warten. Etwa von 1925 an entstand eine starke Bewegung für kulturelle Auto­ nomie. Von sehr viel größerem Umfang waren jedoch die Grenzgebiete mit gemischt­ nationaler Bevölkerung, welche Deutschland nach dem ersten Weltkrieg an seine Nachbarn abtreten mußte: Nordschleswig an Dänemark und — vor allem — West­ preußen, Posen und Ostoberschlesien an Polen. Die rund 30.000 Menschen zählende deutsche Minderheit in Dänemark erfuhr in diesem Staat eine im allgemeinen korrekte Behandlung. Die Deutschen Nordschleswigs waren zwar mit ihrem Los nicht einverstanden, eine gewisse Unzufriedenheit war daher auch unvermeidlich, doch sie nahm nicht die heftige Form des erbitterten Volkstumskampfes an, wie z. B. in Polen. Dort, in den Abtretungsgebieten in Posen, Westpreußen und Ober­ schlesien hatte sich die deutsche Bevölkerung mit Händen und Füßen gegen die Einverleibung in den polnischen Staat gewehrt. In Oberschlesien und vorher schon in kleinerem Umfang in Posen war es zu erbitterten Kämpfen gekommen, bei denen Hunderte von einheimischen Deutschen und Freiwillige aus dem Reich getötet worden waren. Nach der Annexion dieser Gebiete ging der Kampf mit anderen Mitteln weiter. Innerhalb von zehn Jahren waren mehr als drei Fünftel der deutschen Stadtbevölkerung Westpreußens, Posens und Ostoberschlesiens, teils freiwillig, teils unter dem Druck wirtschaftlichen Boykotts in das Reich abgewandert. Vier Fünftel der deutschen Landgüter waren verstaatlicht worden. Daß diejenigen Volksdeutschen, die trotz aller Unterdrückung in Polen geblieben waren, von einem Geist der Auflehnung und Verbitterung beseelt wurden, ist zu verstehen. Noch eine andere Gruppe von Deutschen hatte infolge des Friedensvertrages von Versailles die Verbindung mit Deutschland verloren: die Kolonialdeutschen in Südwestafrika (ca. 12.000). Auch sie waren unzufrieden, weil sie ihre bevor­ 1

Hier und im folgenden werden stets die gezählten oder geschätzten Bevölkerungszahlen etwa für das Jahr 1930 angegeben.

253

rechtigte

Stellung

als

Siedler

mit

weißen

Einwanderern

aus

Südafrika

teilen

mußten, denen sie in vieler Beziehung untergeordnet wurden. Sie waren der An­ sicht, daß Südafrika erntete, was Deutschland gesät hatte. Bei allen diesen Volksdeutschen lebte, schon ehe Hitler zur Macht kam, der Wunsch, auf Wiederherstellung der deutschen Herrschaft. In ähnlicher psychologischer Verfassung befanden sich die deutschen Volksgrup­ pen, die Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen waren, also in Österreich selbst, im Sudetengebiet und in Südtirol. Die Vereinigung des nach der Auflösung des Habsburger Reiches verbleibenden deutsch-österreichischen Rest­ staates mit dem Deutschen Reich war nach dem Zusammenbruch von 1918 in beiden deutschen Staaten von allen großen Parteien spontan gefordert und erstrebt worden. Daß dieser Anschluß von den Alliierten verboten wurde, rief insbesondere in Österreich, wo man auch wirtschaftlich durch eine Union mit dem Deutschen Reich zu gewinnen hoffte, starke Verbitterung und nationale Ressentiments her­ vor. Ihnen verdankte die spätere nationalsozialistische Bewegung in Österreich ein gut Teil ihrer Stärke und Werbekraft. Nicht minder war bei den Sudetendeutschen das Gefühl lebendig, gegen den eigenen Willen einem Staat einverleibt worden zu sein, dessen Existenz man nie gewollt hatte. Die Begründung der Tschechoslowakei erschien ihnen als ein Akt des »Verrats«, und spätere tschechische Maßnahmen, wie die Aufteilung deutschen Großgrundbesitzes — allerdings gegen angemessene Geldentschädigung — oder die fortgesetzte Einschleusung tschechischer Beamter und Angestellter in die sudeten­ deutschen Randgebiete, schufen zahlreiche Konflikte und Reibungsflächen. Wenn dennoch ein erheblicher Teil der mehr als drei Millionen Sudetendeutschen in den 20er Jahren allmählich begann, sich mit seinem Schicksal abzufinden und die politische Protesthaltung aufzugeben, so geschah dies doch eher aus Resignation als aus innerem Loyalitätsgefühl gegenüber dem tschechischen Staat. Noch unvergleichlich schlechter erging es den Deutschen in Südtirol. Schon die Abtretung dieses gesamten ehemals österreichischen Landesteiles an Italien war mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht schwerlich in Einklang zu bringen. Sie wurde von den Deutschen Südtirols jedoch erst vollends als unerträglich empfunden, als mit der faschistischen Herrschaft eine rücksichtslose und gewalt­ same Italienisierung einsetzte. Die 280.000 Deutschen bildeten nach Mussolinis Ansicht »nicht eine Minderheit, sondern ein völkisches Überbleibsel, den Rest barbarischer Invasionen in früheren Kriegen1«. Ihre Behandlung entsprach dieser Auffassung. Aber nicht nur für die Grenzlanddeutschen, die erst durch die Abtretungen nach dem ersten Weltkrieg aus dem staatlichen Zusammenhang mit Deutschland oder Österreich herausgelöst worden waren, bedeutete das Jahr 1918 eine spürbare Wende. Auch diejenigen Volksdeutschen, die schon seit Generationen und teils 1

Rede vom 6. 2. 1926. Zitiert in: Die Nationalitäten in den Staaten Europas. Wien 1931. S. 512.

254

seit Jahrhunderten im Baltikum und im Südosten in fremdnationaler Umgebung gelebt hatten, fühlten sich in erhöhtem Maße in ihrer nationalen und sozialen Stellung bedroht, seit sie als Minderheiten den neu entstandenen Nationalstaaten in Ostmitteleuropa angehörten. In Estland (18.000 Deutsche) und Lettland (65.000 Deutsche) wurden ihre gesellschaftlichen und politischen Vorrechte beseitigt. In Lettland hatte sich etwa die Hälfte des Bodens im Besitz von ungefähr tausend Großgrundbesitzern befunden. Die junge Republik begann die Güter in großem Umfang aufzulösen und das Land an lettische Landarbeiter zu verteilen. Deutsche Barone, die 1000 oder auch 10.000 Hektar besessen hatten, konnten sich glücklich schätzen, wenn sie als Besitzer von 50 Hektar in ihrem Kutscherhaus wohnen bleiben durften. Auch das deutsche Bürgertum in den Städten verlor seine Privilegien. Viele Deutsche zogen fort, und die Zurückbleibenden fügten sich resigniert, aber un­ glücklich in die neue Lage. In Ungarn litten die 550.000 Volksdeutschen unter dem kulturellen Druck, der auf sie ausgeübt wurde. Man billigte ihnen keine Minderheitsrechte zu. Sie besaßen ein paar eigene Volksschulen, aber keine höheren Schulen. Eine besondere politische Vertretung wurde ihnen nicht gewährt. Auch in Rumänien mußten die 750.000 Volksdeutschen Opfer bringen. Ein Teil ihres Landbesitzes wurde ihnen genommen, und der Unterricht in deutscher Sprache stieß auf Schwierigkeiten. Ähnlich verhielt es sich bei den 600.000 Volksdeutschen in Jugoslawien. Zwar gab es noch Volksschulen, in denen in deutscher Sprache unterrichtet wurde, aber keine deutschen höheren Schulen oder Lehrerseminare. Die Volksdeutschen kämpften um »jede Klasse, jeden Lehrer, jedes Kind, jedes Lehrbuch und selbst um jede Deutschstunde1«. Zu besonders heftigen Auseinandersetzungen kam es in Slowenien, wo die Slowenen, die lange Zeit unter der sozialen und politischen Vorherrschaft einer kleinen deutschen Minderheit gestanden hatten, alle deutschen Einrichtungen zu beseitigen versuchten, zumal da sie darüber empört waren, daß der slowenischen Minderheit jenseits der österreichischen Grenze keine Kultur­ autonomie gewährt wurde. In der Sowjetunion waren es die Ereignisse der Revolution und ihre Folgen, die tief in das Leben und die Struktur der volksdeutschen Siedlungsgebiete eingriffen. Aus den Städten verschwanden zahlreiche Angehörige des deutschen Mittelstan­ des, viele flohen nach Deutschland. Die wohlhabenden deutschen Bauernsiedlun­ gen in der Ukraine und im Wolgagebiet standen dem Kommunismus in der Mehr­ zahl ablehnend gegenüber. Im Bürgerkrieg kämpften nicht wenige Volksdeutsche auf Seiten der Gegenrevolutionäre. Die reservierte Haltung gegenüber dem Kommunismus blieb bestehen. So gab es in der Wolgarepublik unter den Russen siebenmal soviel Kommunisten wie unter den Deutschen. Der schließliche Sieg 1

Richard Bahr: Volk vor den Grenzen. Hamburg 1933. S. 444.

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der Roten Armee brachte deshalb harte Bedrängnis für sie. Später folgten Hun­ gersnöte und die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft. Von den 1,1 Millionen Volksdeutschen an Wolga, Don, Dnjepr und Schwarzem Meer waren 1926 noch 760.000 übrig, als der Kampf gegen die Kulaken begann, in dessen Verlauf zahllose Volksdeutsche nach Sibirien verbannt wurden; einem englischen Reisenden zufolge, der 1936 das Gebiet besuchte, ein Fünftel der ganzen Bevölkerung1. Betrachten wir nun, wie sich die Stellung der Deutschen in den Gebieten ent­ wickelt hat, in denen sie sich im allgemeinen ihrer Umwelt angepaßt haben. In den Vereinigten Staaten war die Zahl der Deutschen, die noch deutsch sprachen, in raschem Abnehmen begriffen. In der Mehrzahl der deutschen Vereine wurde Englisch die gebräuchliche Sprache. 1890 hatte es noch 1000 deutsche Zeitungen und Zeitschriften gegeben, 1926 waren es nur 275. Schon nach dem ersten Weltkrieg gab es Deutsche, die betrübt prophezeiten, daß nach hundert Jahren in Amerika nur noch die Grabsteine deutsch sprechen würden. Die Deut­ schen, die vor 1914 eingewandert waren, hatten sich in der Tat weitgehend ameri­ kanisiert. Dagegen sollte die Amerikanisierung der neuen deutschen Einwan­ derer, die in der Weimarer Republik ihr Auskommen nicht gefunden hatten, erst noch beginnen. In Südamerika vollzog sich die Assimilierung langsamer. Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise sahen sich Zehntausende deutscher Einwanderer vor große Schwierigkeiten gestellt. Als enttäuschte und gescheiterte Kolonisten zogen sich viele in die großen Städte (Buenos Aires, Rio de Janeiro) zurück. Aus ihnen rekru­ tierten sich später die ersten Auslands-Ortsgruppen der NSDAP. Es konnte kaum ausbleiben, daß das Schicksal der Auslandsdeutschen, das vor 1914 in Deutschland nur wenig Beachtung gefunden hatte, infolge der Gebiets­ abtrennungen und der allgemeinen sozialen, kulturellen und nationalen Bedroht­ heit der Deutschen jenseits der Grenzen, das nationale Gefühl und Denken auch innerhalb des Deutschen Reiches nach 1918 in stärkstem Maße beschäftigte. Die Grenzkämpfe in Oberschlesien und in Slowenien mobilisierten Tausende von jun­ gen Freiwilligen aus Deutschland und Österreich. Mit brennendem Interesse nahmen Millionen am Ausgang der Abstimmungen Anteil, die in den Jahren 1920—1922 in einigen umstrittenen Gebieten abgehalten wurden. Man fühlte sich den Grenzdeutschen verbunden, beklagte ihr Los und bedauerte ihren Verlust. Die Verbreitung des Auslandsdeutschtums über die Welt galt als Reflex vergangener deutscher Größe und wurde zugleich zum Anspruch auf künftige Revision der Grenzen. Die Vorstellung, von der Weltgeschichte benachteiligt und bei der »Ver­ teilung der Welt« zu spät gekommen zu sein, fand hierbei neue Nahrung. Die­ jenigen, welche aus den Abtretungsgebieten nach Deutschland gekommen waren, verstärkten dieses Gefühl noch. Sie schlossen sich zusammen und warben für die 1

The Times, 25. 11. 1936.

256

Heimat und die finanzielle und politische Unterstützung ihrer Brüder jenseits der Grenze. Auch die Wissenschaft wurde mobilisiert, um den historischen »Rechts­ anspruch« auf die verlorenen Gebiete zu unterbauen. An den Universitäten be­ gannen Volkstumskunde und Studien zum deutschen Grenz- und Auslands­ deutschtum erheblichen Raum einzunehmen. Das Deutsche Auslandsinstitut in Stuttgart, das 1917 gegründet worden war und 60 Angestellte hatte, war am aktivsten und hatte schon 1932 gegen fünfzig Veröffentlichungen drucken lassen. Der 1881 gegründete Verein für das Deutschtum im Ausland erlebte eine bei­ spiellose Blüte. Er gab jährlich 2,5 Millionen Reichsmark aus. Die Bücher und Broschüren, die sich mit dem Schicksal der Auslandsdeutschen beschäftigten, gingen in die Tausende. In all diesem Interesse steckte ein Teil aufrichtigen Mitgefühls mit dem Schick­ sal der Minderheiten, ein Teil wirkliche Empörung über die Gleichgültigkeit des Völkerbundes, der die anständige Behandlung dieser Minderheiten garantiert und ihre Beschwerden und Proteste untersucht hatte — eine Untersuchung, die wegen der widerspenstigen Haltung der beteiligten Regierungen fast niemals zu etwas führte. Wie können Deutsche jemals Chauvinisten sein, fragte der Histori­ ker Oncken 1926. Gegenüber den Zerrbildern eines engstirnigen Nationalismus sei es die Aufgabe der Deutschen, die unsterbliche Sache der Gerechtigkeit, der Kulturautonomie und der Rechte der Minderheiten zu vertreten und dadurch eine sittliche Mission unter den Völkern der Welt zu übernehmen1. Doch solches Maßhalten war nicht jedermanns Sache. Für große Teile des deutschen Volkes wurde die stark emotionale und in aggressiver Form geführte Auseinandersetzung über das deutsche Volkstum jenseits der Grenzen und seine mißliche Lage, Ausgangspunkt einer einseitig völkisch-nationalen Ideologie und Quell eines zügellosen Nationalismus. Man gewöhnte sich daran, vom Hundert­ milhonenvolk der Deutschen zu sprechen und die 35 Millionen Auslandsdeutschen gleichsam als politische Potenz zu betrachten. Hinzu kam noch, daß man unter den deutschen Nationalisten begann, Volkstumskampf und Grenzkampf zu ver­ absolutieren und somit im Kampf die einzige erfolgreiche Art des Verhältnisses der Völker zu sehen. Nicht zufällig hatten führende Männer der NSDAP, die selbst Grenz- oder Auslandsdeutsche waren, ihre geistige Heimat in der provinziellen Stickluft nationalistischer Überheblichkeit und Leidenschaften, die durch den Volkstumskampf erweckt worden waren. Hitler selbst war entscheidend von den alldeutsch-völkischen und antisemitischen Sektierern geprägt worden, die um die Jahrhundertwende staates

fruchtbaren

in

der

Boden

Wiener der

Metropole

Verbreitung

des fanden.

Habsburger Sein

Nationalitäten­

Stellvertreter

Rudolf

Heß war in Ägypten als Sohn eines Kaufmanns aufgewachsen, der seine ganze Habe im Weltkrieg verloren hatte. Hermann Göring hatte seine Jugend zur Hälfte in Österreich verbracht, sein Vater war Gouverneur von Deutsch-Südwest1

Hermann Oncken: Nation und Geschichte. Reden und Aufsätze 1919—1935. Berlin 1935. S. 303. 17

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afrika gewesen. Alfred Rosenberg stammte aus dem baltischen Reval. Walter Darre der nationalsozialistische Landwirtschaftsexperte, war in Argentinien geboren. Sein Rivale und Nachfolger Herbert Backe erblickte im Kaukasus das Licht der Welt. Wenn auch der Nationalsozialismus in Deutschland ein Konglomerat aus sehr verschiedenen ideologischen Strömungen war und seine ihm eigentümliche Aus­ prägung erst unter Hitler und unter den besonderen Bedingungen der Nach­ kriegszeit und der Weimarer Republik erfuhr, so hatte er doch in der österreichisch­ ungarischen Monarchie, vor allem in Wien und den Sudetenländern, in der bereits seit 1903 bestehenden Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP) erste deutliche Vorläufer1. Hier wurden Vorstellungen und Programme, die dem späteren Nationalsozialismus eng verwandt waren, erstmals zur Kampfideologie einer Minderheit, die sich national und sozial in ihrer bisherigen Stellung bedroht fühlte. Es war eine Ideologie, welche Millionen von Deutschen in ihren Bann zog, als diese sich in einer ähnlichen gefühlsmäßigen Lage befanden wie die öster­ reichischen und sudetendeutschen Handwerker und Kaufleute um die Jahr­ hundertwende. Zu Beginn der zwanziger Jahre waren nationalsozialistische Bestrebungen sowohl in Österreich wie auch im Sudetengebiet stärker als in Deutschland. Als Hitlers Partei nach dem Scheitern des Münchner Putsches im November 1923 zerbrochen war, kamen erste Mittel für den Wiederaufbau von sudetendeutschen Nationalsozialisten12 . Der Nationalsozialismus hatte aber auch in anderen deutschen Volksgruppen Wurzeln geschlagen, ehe Hitler an die Macht kam. Im Saargebiet bildeten die Mitglieder der NSDAP einen kleinen, aber aktiven Kern. Nicht anders war es in Eupen-Malmedy. Im Freistaat Danzig hatte die NSDAP im Herbst 1932 ein Sechstel aller Stimmen erobert. 1928 waren im Memelgebiet erste Zellen einer nationalsozialistischen Bewegung entstanden, die auf Weisung der deutschen Parteiführung bis 1933 im geheimen arbeiteten. Im Elsaß standen die jungen Führer der Autonomiebewegung schon 1925 mit der deutschen NSDAP in Ver­ bindung. Auch in Südwestafrika waren ein paar Ortsgruppen der NSDAP ge­ gründet worden. In Österreich war nach der Spaltung der alten DNSAP 1926 eine hitlertreue Zweigorganisation der NSDAP entstanden, die ihre Weisungen aus München erhielt. 1932 hatte sie etwa den fünften Teil der österreichischen Be­ völkerung hinter sich. In Südtirol fanden nationalsozialistische Bestrebungen zwar ebenfalls Widerhall. Doch mit Rücksicht auf das faschistische Italien, in dem Hitler von Anfang an einen potentiellen Bundesgenossen sah, wurde hier auf eine stärkere nationalsozialistische Aktivität der Volksdeutschen verzichtet. Im Baltikum, in Polen, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien bildeten sich seit dem sensationellen Aufstieg der NSDAP in Deutschland im Jahre 1930 ebenfalls erste

Ansätze

sogenannter

nationalsozialistischer

Erneuerungsbewegungen

1

inner­

Darauf hat Elizabeth Wiskemann bereits 1939 hingewiesen: Undeclared War. London 1939. S. 220/1, 311. 2

Vgl. G. W. Luedecke: I knew Hitler. London 1938. S. 175—179.

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halb der einzelnen deutschen Volksgruppen. Sie fanden vornehmlich bei der jungen Generation Anklang und vermochten sich dank der Fernwirkung von Hitlers Machtergreifung und infolge aktiver Unterstützung von Berlin aus nach 1933 rasch nach vorn zu spielen. Unter der halben Million Reichsdeutscher, die nach Deutschlands Niederlage in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren, gab es viele jüngere Männer, die eine gefestigte bürgerliche Stellung in der Gesellschaft nicht erreichen konnten oder wollten. Manche von ihnen waren Angehörige der Freikorps gewesen. Da die große Gruppe der deutschen Vorkriegseinwanderer gegenüber allen Versuchen, Begeisterung für die NSDAP oder ähnliche Bewegungen zu wecken, wenig Inter­ esse zeigten, schufen sich die rechtsradikalen Nachkriegseinwanderer ihre eigenen Organisationen, beispielsweise 1924 in Chikago die »Teutonia«, die in kleinem Kreise nationalsozialistische Propaganda trieben. Ihr Führer Fritz Gissibl, ein Anhänger von Julius Streicher, wurde 1926 Mitglied der NSDAP. Dieses Unter­ nehmen fand in anderen Städten ein gewisses Echo. Als Hitler im Herbst 1930 plötzlich als Führer der zweitstärksten Partei in Deutschland hervortrat, wuchs die Bewegung noch weiter. Im September 1932 ernannte Hitler einen gewissen Heinz Spanknoebel zum Führer der nationalsozialistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten. Diese war damals noch klein und hatte Reichsdeutsche sowie naturalisierte Amerikaner als Mitglieder. Sie hatte den Charakter einer fanatischen Sekte. Ungefähr 1930 waren auch in Südamerika nationalsozialistische Gruppen ent­ standen. 1928 gründeten zwölf Reichsdeutsche in Paraguay eine Ortsgruppe der NSDAP. 1931 schlossen sich verschiedene Ortsgruppen zu einer Landesgruppe zusammen, welche die erste ihrer Art in der Welt war. Solche Ortsgruppen wurden auch in andern Ländern gegründet, so in der Schweiz, in Spanien, Belgien und anderswo. Gewöhnlich blieben sie auf eine kleine Zahl beschränkt, da die große Masse der Deutschen im Ausland sich für Hitler nicht interessierte. Es gab jedoch in der NSDAP Leute, die begriffen, daß ihre politischen Freunde im Ausland ihnen wichtige Dienste leisten könnten. Im Herbst 1930 hatte ein Reichsdeutscher, Willy Grothe, in Hamburg ein Büro gegründet, welches mit allen reichsdeutschen Parteigenossen im Ausland Fühlung halten sollte. Grothe hatte zwanzig Jahre lang in Afrika gelebt und war dort im ersten Weltkrieg von den Briten interniert worden. Sein Büro wurde am 1. Mai 1931 von der

Parteiführung

anerkannt

und

erhielt

den

Namen

Auslandsabteilung

der

Reichsleitung der NSDAP. Zur Zeit von Hitlers Machtergreifung waren in dem kleinen Stab dieses Büros etwa 3000 Mitglieder der NSDAP im Ausland erfaßt. Das Büro hatte keine große Bedeutung, da die Parteiführung keine klare Vor­ stellung davon hatte, welchen Nutzen die Mitglieder im Ausland haben könnten. Hitler interessierte sich damals nicht für diese Sache, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Festigkeit seiner Macht in Deutschland. Die Parteileitung in München erwog sogar die Auflösung der Auslandsabteilung, doch ein junger Funktionär der Abteilung, Ernst Wilhelm Bohle, konnte das verhindern.

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Bohle war durch Geburt britischer Sohn eines deutschen Lehrers und späteren Professors der Elektrotechnik, der 1906 als Professor nach Kapstadt ging. Der Sohn wuchs also in Südwestafrika auf. Vater Bohle war entschiedener Nationalist. Er erlaubte seinen Kindern nicht, zu Hause auch nur ein Wort Englisch zu sprechen. Während des ersten Weltkrieges war der junge Bohle der einzige deutsche Junge in der Schule und bezog aus diesem Grunde von seinen Mitschülern häufig Prügel. Nach dem Friedensschluß bot man ihm die Teilhaberschaft in einer Familienfirma in England an, die ein gutes Einkommen versprach. Er lehnte ab und ging nach Deutschland, wo er Volkswirtschaft studierte und von 1924 an für verschiedene Firmen tätig war. 1931 las er eine Zeitungsanzeige, durch welche die Auslandsabteilung einen Mitarbeiter für ihr Afrikareferat suchte. Das war reizvoll! Wenn es nur gelänge, den Reichsdeutschen im Auslande das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit und angeborener Überlegenheit zu verleihen, das er an den Briten so neidvoll bewunderte. Er bewarb sich und wurde angestellt. Am 1. März 1932 wurde er Mitglied der NSDAP. Ihm gelang es, die Führer der Partei von den Möglichkeiten der Auslandsabteilung zu überzeugen. Damals gab es bereits 160 Ortsgruppen, und es bestanden, wie er im April 1933 schrieb, große Ausbaumög­ lichkeiten ; die Organisation sei unzweifelhaft in der Lage, den Parteistellen wert­ volles Material zu besorgen, »besonders politische Informationen und Spionage­ berichte1«. Vielleicht hätte Bohle niemals etwas ausgerichtet, wenn es ihm nicht möglich gewesen wäre, mit Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß durch dessen Bruder Alfred in Verbindung zu kommen. Es folgte eine Konferenz in der Parteileitung, bei der die Entscheidung fiel, die Auslandsabteilung beizubehalten und sogar zu ver­ größern. Alle Parteistellen im Ausland mit Ausnahme derer in Österreich, Dan­ zig und Memel sollten ihr unterstellt werden. Im März 1934 wurde auch die Zu­ ständigkeit für die Parteimitglieder unter den deutschen Seeleuten der Auslands­ abteilung übertragen. Die Auslands-Organisation der NSDAP oder AO, wie sie nach 1935 gewöhnlich genannt wurde, wuchs rasch. Aus 3300 Mitgliedern zu Anfang des Jahres 1933 waren vier Jahre später 28.000 geworden, zu denen die 23.000 Mitglieder der Ab­ teilung Seefahrt hinzukamen. 1937 gab es Stützpunkte mit mindestens 6 oder Ortsgruppen mit mindestens 12 Mitgliedern an mehr als 500 Orten im Ausland. Die Zentralverwaltung in Berlin beschäftigte über 700 Personen, einen Funktionär für je 75 Mitglieder. Das war ein stattlicher Stab, doch gab es mehr als genug Arbeit. Seit 1933 hatte die AO systematisch versucht, die politische Führung der Reichs­ deutschen im Ausland in die Hand zu bekommen. Diejenigen Reichsdeutschen, die sich gegenüber dem Dritten Reich reserviert oder feindlich verhielten, wurden aus ihren Ämtern in deutschen Vereinen herausgedrängt. Häufig wurde eine ganze deutsche Kolonie gezwungen, sich neu zu organisieren, wobei eine neue »nationale« 1

Brief Bohles an Schmeer, 4. 4. 1933. NG-5557.

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Organisation geschaffen wurde, deren wirkliche Führer hinter den Kulissen die Mitglieder der AO waren. Bohles Meinung war, man müsse taktvoll vorgehen. Trotzdem gab es in vielen deutschen Kolonien Schwierigkeiten. Nicht wenige Deutsche, die seit Jahren Vorstandsmitglieder in deutschen Schulen, Kranken­ häusern oder Vereinen gewesen waren, weigerten sich, zugunsten der Fanatiker von der AO abzudanken, die häufig gescheiterte Existenzen waren und jetzt auf der gesellschaftlichen Stufenleiter emporsteigen wollten. Innerhalb weniger Jahre jedoch hatte die AO fast überall ihr Ziel erreicht. Die AO legte es darauf an, die deutschen Kolonien im Ausland mit national­ sozialistischem Geist zu erfüllen. Alle deutschen Staatsangehörigen im Ausland mußten sich geschlossen hinter den »Führer« stellen. Daher bestand ein großer Teil der Tätigkeit der AO in Schulung und Propaganda. Ein anderer Teil ihrer Arbeit war geheim. Die Funktionäre der AO überwach­ ten die Überzeugung und das Verhalten deutscher Diplomaten und Journalisten. Sie bespitzelten deutsche Emigranten, sammelten deren Publikationen und ver­ suchten festzustellen, ob sie an Devisenschmuggel beteiligt waren. Sie verfaßten Berichte über Deutsche oder andere Personen, die Deutschland besuchen oder dort Arbeit suchen wollten. Sie meldeten die Namen deutscher Emigranten, die gegen das Naziregime auftraten, damit diese ihrer deutschen Staatsbürgerschaft beraubt würden. Sie berichteten über abfällige Äußerungen, die Deutsche im Ausland über Hitler oder das Dritte Reich machten. Gelegentlich übernahm die AO auch aktive Gestapoaufträge. Sie wurden im Ausland entweder von den dortigen höchsten Funktionären der AO oder von besonderen Amtswaltern ausgeführt, die häufig dieselben waren, welche für die Verbindung zu nationalsozialistischen Gruppen unter

deutschen

Schiffsbesatzungen

verantwortlich

waren.

Für

diesen

letzten

Zweck wurde mit dem Hafendienst eine besondere Abteilung innerhalb der AO geschaffen. Die Angehörigen dieses Dienstes schmuggelten verbotenes Propaganda­ material durch den Zoll, hielten Fühlung mit der Gestapo und halfen in gewissen Fällen mit, um politisch aktive deutsche Emigranten oder andere Gegner des Naziregimes gewaltsam an Bord heimkehrender deutscher Schiffe zu bringen und damit auf den Weg ins Konzentrationslager1. 1 Über einzelne Fälle, wo deutsche Emigranten mit Hilfe des Hafendienstes der AO »heimgeschafft« wurden, berichten: das Schwarz-Rot-Buch. Dokumente über den HitlerImperialismus (Barcelona 1937), S. 122 und Frank Spielhagen, Spione und Verschwörer in Spanien (Paris 1936), S. 37 f. — Auch aus den »streng vertraulichen« Mitteilungsblättern der AO, die den Leitern der einzelnen AO-Gruppen zugesandt wurden, ist ersichtlich, daß die AO dergleichen Aufträge erhielt. So wird z. B. in Folge 27 (Anfang Juni 1935) dieses Blattes mitgeteilt: »Einige Landes- und Ortsgruppen unterhalten einen ausgezeichneten Warnungs­ dienst, wodurch es uns gelungen ist, einen größeren Prozentsatz von vagabundierenden und das Deutschtum im Ausland schädigenden Volksgenossen festzustellen, abzuschieben oder ding­ fest zu machen.« In Folge 29 (Anfang August 1935) werden die politischen Leiter der AO auf­ gefordert, eine Gruppe aus Frankfurt emigrierter Studenten zu lokalisieren und »mit Hilfe der zuständigen Reichsvertretung die Heimschaffung auf sicherem Wege« einzuleiten.

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Die Zentrale der AO, die offiziell als »Gauleitung« firmierte, hatte ein besonderes Außenhandelsamt, das mit Hilfe örtlicher Funktionäre Informationen über die Auslandsvertreter deutscher Firmen sammelte. Waren diese Vertreter hin­ reichend aktiv? Annoncierten sie genug in deutschen Zeitungen oder zuviel in anti­ deutschen Blättern? Beschäftigten sie Juden? 1939 gab es Akten über 110.000 Handelsvertreter im Ausland. Eine andere Abteilung verrichtete dieselbe Arbeit für ausländische Anwaltsbüros, damit deutsche Staatsangehörige oder Gesellschaf­ ten, die im Ausland Rechtsbeistand benötigten, lediglich den »Weltverband arischer Juristen« beschäftigten. Schließlich wurde 1937 der Gauleitung der AO eine Verbindungsstelle der Abwehr angegliedert, deren Leiter Heinz Cohrs war, damit die vielen Zweige der AO auch für die Sammlung von Nachrichten für die militärische Spionage verwendet werden könnten. Alle solchen Angaben wurden insgeheim

gesammelt.

Proteste

ausländischer

Regierungen wurden ignoriert. Wurde eine Landesgruppe verboten, so setzte sie ihre Arbeit unter anderem Namen fort. So geschah es in Holland, in Südwest­ afrika, in Ungarn und in Venezuela. In einzelnen Fällen gelang es, deutsche Kon­ suln oder Gesandte zu Landesgruppenleitern der AO zu machen, in anderen Fällen teilte man Funktionäre der AO den deutschen Gesandtschaften oder Konsulaten zu, wodurch sie diplomatischen Status bekamen. Bedenkliche Akten wurden nach Möglichkeit ebenfalls in Diplomatenbüros untergebracht. Es überrascht nicht, daß schon vor dem zweiten Weltkrieg viele Länder sich durch das Treiben der AO bedroht fühlten. In nahezu allen reichsdeutschen Kolonien im Ausland schien die Gleichschaltung innerhalb von zwei Jahren voll­ zogen zu sein. Sie waren bis zu einem gewissen Grade Stützpunkte des Dritten Reiches geworden. Die Gleichgültigkeit vieler Angehöriger fiel Außenstehenden nicht auf. Ebensowenig bemerkte man, daß beispielsweise viele große deutsche Firmen zwar die AO unterstützten, aber gar keinen Wert darauf legten, daß sich die Partei um ihre Geschäfte kümmerte; einige von ihnen ließen ihre jüdischen Ver­ treter noch nach Kriegsausbruch Weiterarbeiten. Durch die immer wiederholte Behauptung, daß sie und nur sie allein für die im Ausland wohnenden Staatsbürger sprechen können, vermochte die AO jedoch vor der Außenwelt zu verbergen, wie es im Innern der deutschen Kolonien wirklich aussah. In Wirklichkeit hatte die AO verhältnismäßig wenige Mitglieder. Nur die eigentlichen Funktionäre waren wirklich gefährlich, und deren Arbeit richtete sich im allgemeinen mehr gegen ihre eigenen Landsleute als gegen fremde Staaten. Nur in wenigen Fällen hat die AO außenpolitisch als Fünfte Kolonne mit einigem Erfolg größere Aktivität entwickelt z. B. in Spanien, wo Funktionären der AO bei der geheimen Unterstützung Francos während des Bürgerkrieges eine Mittlerrolle zufiel. Auch sprechen ge­ wisse Anzeichen dafür, daß Angehörige der AO in Brasilien die Anschläge der faschistischen Integralisten 1937/38 unterstützten1. Im übrigen hat die AO, soweit 1 Vgl. Bericht Botschafter Ritters v. 18. 3. 38 in Akten zur Dt. Ausw. Politik 1918-1945, Serie D, Bd. V, Seite 709

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man weiß, wenig getan, was die Welt erschüttern konnte. Ihr Gauleiter Bohle hatte in Deutschland nur begrenzten Einfluß. Seine Ernennung zum Staatssekretär be­ deutete sehr wenig; Freiherr von Neurath hatte gehofft, er werde durch Fragen der AO weniger belästigt werden, wenn er Bohle ins Auswärtige Amt nähme. Sein Nachfolger Ribbentrop wollte nichts mit Bohle zu tun haben, und in kurzer Zeit standen sich die beiden wie Kampfhähne gegenüber. Ribbentrop hängte Bohle den diplomatischen Brotkorb höher und erlaubte nicht, daß ihm irgendwelche Schrift­ stücke von Bedeutung zu Gesicht kamen. Die anderen Gauleiter, alte Haudegen der Partei, schätzten Bohle nicht, weil seine Art zu reden ihnen zu intellektuell und der ganze Mann zu fein war. Mit Hitler hat Bohle niemals privat gesprochen. Der »Führer« interessierte sich für ihn und seine Organisation nicht. Das Außenpolitische Amt der NSDAP, dem wir bei der Beschreibung der mili­ tärischen Fünften Kolonne ebenfalls begegnet sind, unterschied sich grundlegend von der AO, die eine Massenorganisation mit 50.000 Mitgliedern und einer Zentral­ verwaltung war, wo es wie in einem Bienenkorb zuging. Das Außenpolitische Amt unter Leitung von Alfred Rosenberg war ein relativ kleines Institut mit einem jährlichen Haushalt von einer halben Million Mark. Es war am 1. April 1933 ge­ gründet worden. Rosenberg hatte Außenminister werden wollen, und die Erlaub­ nis, das Außenpolitische Amt zu gründen, war Hitlers Trostpreis für ihn gewesen. Krupp von Bohlen und Halbach hatte sich mit anderen Mühe gegeben, Geld­ mittel für das neue Amt aufzutreiben. 1933 waren die deutschen Industriekapitäne ebenso wie unter der Weimarer Republik mit Stiftungen großzügig: wer links und rechts Geschenke machte, war sicher. Innerhalb weniger Wochen hatte Rosenberg eine halbe Million beisammen und machte sich an die Arbeit. Er richtete ein Büro ein, engagierte sprachkundige Leute und ließ aus 300 aus­ ländischen Zeitungen Auszüge machen. Er sammelte Material über die wichtigeren Ausländskorrespondenten. Er gab Gesellschaften und beschäftigte Assistenten damit, Berichte über die Entwicklung des Außenhandels zu verfassen. Er gründete ein Schulungshaus und richtete Abteilungen ein, die das politische Leben in be­ stimmten Ländern sorgfältig beobachten sollten: zuerst in England, Skandinavien, auf dem Balkan und im mittleren Osten, später auch in der übrigen Welt. Er ver­ suchte einflußreiche Ausländer zum Besuch Berlins anzuregen und schickte seine engen Mitarbeiter, darunter viele Volksdeutsche aus Rußland, ins Ausland, um dort die Segnungen des Dritten Reichs bekanntzumachen und von England bis Afghanistan mit faschistischen Kreisen Fühlung aufzunehmen. So weitgesteckt seine Ziele auch waren, so gering war doch im allgemeinen die Wirkung seiner Tätigkeit. Nur bei Quisling gewann sie wirkliche Bedeutung, und auch dann nur infolge einer merkwürdigen Verknüpfung von Umständen. Im allgemeinen hatte Rosenberg zu wenig Einfluß, als daß er wichtige Anregungen geben oder auch nur entgegennehmen konnte. Er selbst hielt sich für einen zweiten Bismarck, für einen Staatsmann von einzigartigem Wissen und Feingefühl und zudem mit einer Gabe für geschickte Intrigen, die kaum ihresgleichen hatte. Die

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führenden Männer in Partei und Staat betrachteten ihn als einen wunderlichen Wirrkopf, diesen Verfasser von Büchern und Berichten, die alle Welt laut pries, die aber niemand las. Die Militärs hielten ihn für einen Träumer, Ribbentrop haßte seine Anmaßung (der Haß beruhte auf Gegenseitigkeit), nur Hitler machte sich nichts daraus, ihm hin und wieder für eine halbe Stunde zuzuhören. Dann pflegte Rosenberg seine eigenen Verdienste aufzuzählen, das Auswärtige Amt zu kritisieren und zu beweisen, daß er selbst alles viel besser gemacht haben würde. Danach durfte er gehen. Wichtiger war die Volksdeutsche Mittelstelle. Nach dem Ende des ersten Welt­ krieges hatte die Reichsregierung deutsche Einrichtungen und Vereine in den Grenzbezirken, die Deutschland auf Grund des Vertrages von Versailles abtreten mußte, heimlich unterstützt. Das war teilweise über die Deutsche Stiftung und ihre hierfür gegründeten Firmen geschehen. Außerdem ließen auch Verbände wie der Verein für das Deutschtum im Ausland viel Geld ins Ausland fließen. Hitler beschloß 1936, die Aufsicht über die Unterstützung volksdeutscher Ein­ richtungen und Vereine sowie über alle mit volksdeutschen Fragen befaßten Insti­ tutionen und Verbände zusammenzufassen. Für diesen Zweck gründete die Partei die Volksdeutsche Mittelstelle als besonderes Amt, das zunächst von einem hohen Beamten des Kultusministeriums geleitet wurde und Rudolf Heß unterstellt war. 1937 gelang es Himmler, das Amt seinem wachsenden Reich als neue Provinz einzuverleiben. Die Leitung übernahm damals SS-Gruppenführer Werner Lorenz. Lorenz war zwar äußerlich eine imposante Erscheinung, aber hatte in volks­ deutschen Angelegenheiten keine Ahnung. Doch das war kein Hindernis, da Himmler auf seine Bitten den damaligen Rechtsanwalt Dr. Hermann Behrends zu seinem Stellvertreter machte. Behrends war ein erfahrener Jurist, ein gründ­ licher Kenner von Volkstumsfragen und verrichtete die eigentliche Arbeit. Die Volksdeutsche Mittelstelle (Vomi) begann ihre Tätigkeit zunächst mit 30 Mann und bescheidenen Mitteln als bloße Koordinierungsstelle. Mit der Beseitigung des Reichsführers des VDA, Dr. Steinacher, im Juli 1938 und der Ernennung eines Vomi-Angehörigen zum Geschäftsführer des VDA begann sie jedoch energisch die gesamte Volkstumsarbeit gleichzuschalten und in eigene Regie zu nehmen. Auch der Bund Deutscher Osten kam 1938 unter Vomi-Leitung und wurde 1941 als eigener Verband aufgelöst. War die Subventionspolitik des VDA und der Deut­ schen Stiftung gegenüber den Volksdeutschen bisher noch einigermaßen liberal gewesen, so degenerierten die Beziehungen zwischen den volksdeutschen Organi­ sationen und der Vomi immer mehr zu einem reinen Befehlsverhältnis. Im Herbst 1940 fuhr Lorenz persönlich nach Siebenbürgen, setzte den bisherigen Führer der Rumäniendeutschen ab, um an seiner Stelle einen fast unbekannten Siebenbürger Sachsen, der bei den Berliner Dienststellen der SS den nötigen Rückhalt hatte, ohne Befragen der Volksdeutschen zum Volksgruppenführer zu ernennen. Auch schon vor dem Krieg hatte die Vomi wesentlich dazu beigetragen, in den deutschen Volksgruppen der benachbarten osteuropäischen Staaten entschiedene National­

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Sozialisten in die maßgeblichen Stellen der Volkstumsorganisationen zu bringen und so die Gleichschaltung zu fördern. Bisweilen wurden auch das Auswärtige Amt und (mehr noch) der Auslandsnachrichtendienst des SD hierbei vermittelnd eingesetzt. Mit dem Beginn der Umsiedlung von Volksdeutschen in die eroberten polnischen Gebiete, deren Durchführung ebenfalls unter die Kompetenz der Vomi fiel, und der Betreuung der Rußlanddeutschen durch spezielle Kommandos der Vomi (seit Sommer 1941) wuchsen der ursprünglich kleinen Dienststelle immer größere Aufgaben zu. 1941 zum Hauptamt der SS erhoben, verfügte sie zuletzt allein in der Berliner Zentrale über elf Unterabteilungen. Die Monopolstellung der Vomi in allen volksdeutschen Angelegenheiten be­ wirkte schließlich, daß die Volksdeutschen in wachsendem Maße in den Bann und die Abhängigkeit der SS gerieten. Die Bildung von Waffen-SS-Einheiten aus den volksdeutschen Wehrpflichtigen Ungarns, Rumäniens, Jugoslawiens und der Slowakei in den letzten Kriegsjahren war die äußerste Konsequenz dieser Entwick­ lung. An Wirksamkeit als politische Fünfte Kolonne war die volksdeutsche Mittel­ stelle zweifellos der AO und dem Außenpolitischen Amt der NSDAP weit über­ legen. Dies gilt nicht minder für jene andere Organisation aus dem Machtbereich Himmlers, die im Ausland aktiv wurde: dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD). — Der SD war aus kleinen Spitzelgruppen entstanden, welche die SS schon in den zwanziger Jahren gehabt hatte, um dadurch über die Tätigkeit der Gegner der NSDAP und hauptsächlich der Kommunisten auf dem laufenden zu bleiben. 1931 hatte Himmler diese Gruppen aus ihrer regionalen Bindung an die SS gelöst und dadurch den zentral geleiteten Sicherheitsdienst geschaffen. Sein Leiter war Reinhold Heydrich, ein ehemaliger Marineoffizier, der aus dem Dienst entlassen worden war. Zur Zeit der Machtergreifung hatte der Sicherheitsdienst nur ein paar Dutzend Angehörige, doch wuchs er schnell. Im Juli 1934 bestimmte Hitler, daß alle anderen inländischen Nachrichtendienste der NSDAP — beispiels­ weise besaß Rosenbergs Außenpolitisches Amt einen solchen inneren Spionage­ dienst — im Sicherheitsdienst aufgehen sollten. Um 1937 beschäftigte der SD zwischen 3000 und 4000 Agenten. Neben dem SD/Inland stand der Auslandsnachrichtendienst des SD, die spätere Abt. VI im Reichssicherheitshauptamt. Ihr letzter Chef seit Juni 1941 war SSBrigadeführer Schellenberg, dessen Memoiren1 über das weitgespannte Feld der Tätigkeit des SD im Ausland Einblick geben. Als politischer Geheimdienst neben dem militärischen Geheimdienst der Wehrmacht übernahm der SD außer der üblichen

Spionagetätigkeit

bei

einer

Reihe

von

Gelegenheiten

hochpolitische

Spezialaufträge, durch die er entscheidend mithalf, die Außen- und Kriegspolitik Hitlers in das gewünschte Geleis zu bringen. Hierzu gehörten z. B. die im Auftrag Hitlers durchgeführten Verhandlungen von Vertretern des SD mit führenden 1

The Schellenberg Memoirs. London 1956.

265

slowakischen Politikern der Hlinkapartei im Februar/März 1939. Sie erbrachten termingerecht den bestellten Hilferuf der Slowakenführer Tiso und Tuka an Hitler und lieferten diesem damit den gewünschten Vorwand zur Zerschlagung der Resttschechoslowakei Mitte März 1939. Auch der vorgetäuschte Angriff polnischer Truppen auf den Sender Gleiwitz in der Nacht zum 1. September 1939, der Hitler vor der Welt eine letzte Rechtfertigung für den längstgeplanten Angriff auf Polen verschaffen sollte, stand unter der Regie des SD1. Von sehr viel größerem Gewicht als die Aktivität des Rosenbergschen Außenpolitischen Amtes war auch die Wirk­ samkeit des SD bei der Kontaktaufnahme mit faschistischen oder sonst kollabo­ rationsbereiten Kräften in den Nachbarstaaten des Dritten Reiches. So geht z. B. die revolutionäre Tätigkeit der Eisernen Garde in Rumänien in den Jahren 1939/40, die Anfang September 1940 zum Sturz König Carols und zum achsentreuen Kurs unter Antonescu führte, nicht unwesentlich auf das Konto des SD zurück. Ähnliches gilt für die Inthronisierung des ungarischen Pfeilkreuzlerführers am 15. Oktober 1944 nach dem Sturz des Reichsverwesers Horthy. Aus der Agenten­ tätigkeit des SD gingen auch die »Schwarzen Listen« hervor, nach denen beim Ein­ marsch deutscher Truppen in Polen, Frankreich, Jugoslawien und der Sowjetunion die Festnahme politischer Gegner und gefährlich erscheinender Personen erfolgte. Eine besonders verderbliche Rolle hat der SD hierbei im Rußlandfeldzug übernom­ men, wo unter der Leitung alter SD-Führer die Liquidierung von Juden und Kom­ missaren durch die »Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD« stattfand. Neben dem SD ist ferner das Amt Ausland-Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht als Träger unterirdischer Aktivität im Ausland zu nennen. Es war aus dem militärischen Spionagedienst entstanden, der bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik geschaffen worden war. Nach 1933 wuchs diese Abteilung entsprechend der Vermehrung der deutschen Streitkräfte. Ihre Leitung wurde am 1. Januar 1935 dem Seeoffizier Wilhelm Canaris anvertraut. 1938 wurde Canaris dem neu geschaffenen Oberkommando der Wehrmacht unterstellt. Das Amt hatte eine Abteilung Ausland, welche die Beziehungen zum Auswärtigen Amt, zu den deutschen Militärattaches in anderen Ländern und zu den ausländischen Militär­ attaches in Deutschland pflegte. Außerdem gab es drei Abwehrabteilungen: I—Spionage, II—Sabotage, III—Spionageabwehr. In Deutschland hatte jeder Wehrkreis seine Abwehrstelle. Im Ausland hatte die Abwehr in den meisten deutschen Botschaften und Gesandtschaften einen Vertreter. Bei Kriegsausbruch gehörten der ganzen Organisation 3000 bis 4000 Offiziere an12 . Die Spionage bezog sich auf militärische, wirtschaftliche und politische Dinge. Zwar hatte Canaris mit Heydrich verabredet, daß er sich auf Militärspionage beschränken würde, doch hielt er sich nicht an diese Verabredung. Zuständigkeitsgrenzen bestanden im Dritten Reich nur auf dem Papier. 1

Vgl. hierzu Schellenberg Memoirs, S. 68 ff. sowie Aussage von Helmut Naujocks, IMT XXXI, S. 90-92. 2

Laut Mitteilung von General a. D. Lahousen v. 2. 8. 1952 an den Verfasser.

266

Chef der Abteilung I war Oberst Piekenbrock, dem wir begegnet sind, als er im letzten Augenblick vor der Invasion Norwegens alles Mögliche aus Quisling heraus­ zuholen versuchte. Oberst Erwin von Lahousen wurde Anfang 1939 Chef der Abteilung II. Lahousen war vorher Chef des österreichischen Geheimdienstes ge­ wesen und hatte mit Canaris zusammen gegen die Tschechen gearbeitet. Im sude­ tendeutschen Gebiet hatte Abwehr II zahlreiche Freiwillige geworben, die eine deutsche Offensive gegen die Tschechoslowakei durch umfangreiche Sabotage unterstützen sollten. Es stellte sich dann heraus, daß man sie nicht benötigte. Lahousen behielt sie jedoch und bildete daraus die Kampf- und Sabotagetrupps, die in Polen als äußere Fünfte Kolonne tätig wurden. Es waren verwegene Gestal­ ten, über die während der ersten Phase der deutschen Besetzung Polens viele Be­ schwerden einliefen. Aus diesem Grunde beschloß Abwehr II, sie in einer dauern­ den militärischen Einheit zusammenzufassen. Zu diesem Zweck wurde im Herbst 1939 die sogenannte Bau- und Lehrkompanie Brandenburg gegründet, die nach ihrer Garnison benannt wurde. Aus der Kompanie wurde ein Regiment und 1942 sogar eine Division. Angehörige dieser Einheit haben wir in vielen Ländern als Vertreter der äußeren Fünften Kolonne angetroffen. Viele von ihnen waren Volks­ deutsche. Im allgemeinen stand die Abwehr nicht in politischer Verbindung mit den volks­ deutschen Gruppen, den anderen unzufriedenen Minderheiten (Ukrainer, Kauka­ sier, Bretonen) und den nationalsozialistischen und faschistischen Bewegungen in anderen Ländern. Gewöhnlich beschränkten sich ihre Bemühungen darauf, unter Ausnutzung der Beziehungen zu jenen Gruppen ein eigenes Agentennetz aufzu­ bauen. Sie vermochte allerdings einen Informationsaustausch und enge Zusammen­ arbeit mit den Geheimdiensten befreundeter oder verbündeter Länder herzustellen (Rumänien, Ungarn u. a.). Ein zusammenfassendes Urteil über die Tätigkeit der Abwehr zu fällen, ist besonders schwierig. Sie hat unter Canaris’ Leitung einerseits mit Bravour zahlreiche Einzelaufträge ausgeführt, die Hitlers Expansion und Kriegsführung zugute kamen. Andererseits stellte sie ein Zentrum der aktiven Verschwörung gegen Hitler dar und arbeitete in einigen Fällen — man denke nur an Oberst Osters Mitteilung an den holländischen Militärattaché über den bevor­ stehenden Westfeldzug — auch außenpolitisch und sogar auf die Gefahr hin, des Landesverrats bezichtigt zu werden, den Kriegsplänen Hitlers direkt entgegen. Am Falle der Abwehr wird in besonders sinnfälliger Weise der tragische Konflikt sichtbar, vor dem Staatsorgane eines verwerflichen Regimes stehen, wenn sie zum Widerstand entschlossen sind. Nur als Träger wichtiger Staatsfunktionen haben sie ein Fundament, um mit Aussicht auf Erfolg Widerstand leisten zu können. Aber um diese Machtstellung zu behaupten, müssen sie dem insgeheim bekämpften Regime fortlaufend treue Dienste leisten, und — im Falle der Abwehr — als Fünfte Kolonne des Dritten Reiches tätig werden. Schließlich bleibt die Frage zu beantworten, ob nicht auch der diplomatische Dienst der offiziellen deutschen Auslandsmissionen selbst sich in nationalsozia­

267

listischer Zeit zu einer Art politischer Fünften Kolonne entwickelte. Gewiß haben nicht wenige Auslandsvertreter des Dritten Reiches ihren diplomatischen Status insofern verletzt, als sie direkt oder indirekt konspirativ tätig waren, oder es nolens volens zuließen, daß die staatliche Institution der Diplomatie für Propa­ ganda der NSDAP benutzt und die deutschen Gesandtschaften zu Agenturen des Nationalsozialismus im Ausland wurden. Dieser Gesichtspunkt ist allerdings außerhalb Deutschlands vielfach überbewertet worden. Man vergißt allzu leicht, daß der Stamm von Hitlers Diplomaten nur zu einem minimalen Teil aus alten Nationalsozialisten bestand. 1933 gab es noch nicht ein Dutzend Pg’s im Auswär­ tigen Amt. Bekannt ist, daß Hitler von den Beamten der Wilhelmstraße eine denkbar schlechte Meinung hatte; sie seien »ein wahrer Müllhaufen der Intelli­ genz«,

ein

»Haufen

seltsamer

Gestalten«1

und

wenig

talentiert,

seine

Politik

durchzuführen. Hitlers außenpolitische Erfolge trotz aller sachlichen und berech­ tigten Einwände der zur Vorsicht mahnenden Fachdiplomaten übten allerdings auf die Dauer eine korrumpierende Wirkung auch auf altgediente Beamte der Wilhelmstraße aus. Ein weiteres Einschwenken des Auswärtigen Amtes auf den Stil Hitlerscher Außenpolitik und ihrer unbedenklichen Methoden brachte die Ablösung v. Neuraths durch v. Ribbentrop im Februar 1938 mit sich. Als ehe­ maliger Chef des »Büros Ribbentrop«, das gleichsam ein zweites Außenpolitisches Amt der NSDAP darstellte, brachte der neue Leiter des Auswärtigen Amtes eine Garnitur von neugebackenen Diplomaten in Amt und Würden, die schon eher Hitlers Wünschen entsprochen haben mögen. Eigens zu ihrer Verwendung schuf Ribbentrop ein Ministerbüro unter seiner direkten Leitung. Auch die Einsetzung eines Staatssekretärs »zur besonderen Verwendung« (W. Keppler) diente dem Zweck, unter Ausschaltung des normalen Geschäftsganges zuverlässige National­ sozialisten mit außenpolitischen Sonderaufträgen zu versehen, die ihrem Charak­ ter nach mitunter der Arbeit des SD bedenklich nahe kamen. Gleichzeitig wurde im Jahre 1939 mit der Schaffung der Sonderreferate »Deutschland« und »Partei«, sowie einer besonderen Informationsabteilung das Aufgabengebiet des Auswärti­ gen Amtes auf NS-Propaganda, Judenpolitik und Parteiarbeit im Ausland aus­ geweitet. Die Ernennung von alten Haudegen der SA zu Gesandten bei den mehr oder weniger von Berlin abhängigen Regierungen in der Slowakei, Rumänien, Ungarn, Kroatien und Bulgarien (Ludin, v. Killinger, v. Jagow, Kasche, Beckerle) wirkte in die gleiche Richtung einer Vermischung von diplomatischen und partei­ politischen Punktionen. Die Tatsache, daß schließlich in Preßburg, Agram und Bukarest Experten des Reichssicherheitshauptamtes als Berater in Judenfragen oder als Polizeiattaches bei den deutschen Gesandtschaften akkreditiert waren, macht deutlich, daß die Diplomatie des Dritten Reiches für Zwecke eingespannt wurde, die über den normalen Aufgabenbereich von Auslandsvertretungen weit hinausgingen. Auch hier muß jedoch davor gewarnt werden, die Gradlinigkeit 1

Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941—1942, S. 106, 365.

268

der nationalsozialistischen Außenpolitik zu überschätzen. Wie in Bohles Auslands­ organisation, so sah Ribbentrop auch im Reichssicherheitshauptamt, das vielfach mit dem SD Außenpolitik auf eigene Faust zu treiben versuchte, einen lästigen Rivalen. Wie in zahlreichen innerpolitischen Bereichen des nationalsozialistischen Staates, bewirkte der Kompetenzhunger rivalisierender Staats- und Partei­ ämter auch auf außenpolitischem Gebiet vielfach ein ständiges Gegeneinander­ arbeiten,

das

letztlich

die

Effektivität

auch

der

konspirativen

Auslandspolitik

erheblich beeinträchtigt hat. In diesem Zusammenhang ist es auch angebracht, auf ein technisches Faktum hinzuweisen,

das

die

spezielle Frage der Beschaffung

von Geheimnachrichten

betrifft, welche man fälschlich fast immer irgendwelchen »Fünften Kolonnen« zugeschrieben hat. Wenn bei einer deutschen Invasion Soldaten oder Zivilisten des angegriffenen Landes bemerkten, daß die Deutschen den Aufenthalt ihrer Verstärkungen, ihre Truppenansammlungen und die Lage ihrer Hauptquartiere kannten, so nahmen sie gewöhnlich an, die Deutschen hätten die Kenntnis dieser Tatsachen mittels dessen erlangt, was man »altmodisch« Spione nennen könnte. Diese Vorstellung muß berichtigt werden. Seit Beginn des ersten Weltkrieges ist das Sammeln geheimer militärischer Informationen zum großen Teil ein mechanischer Vorgang geworden. Jede Groß­ macht hat Einrichtungen, welche in Friedenszeiten die Telefonleitungen auslän­ discher Vertreter anzapfen und deren Telegramme abfangen und im Kriege dann dasselbe mit dem politischen und militärischen Funkverkehr des Feindes tun. Was man auffängt, versucht man zu entziffern. Manchmal mißlingt das, aber oft hat man Erfolg. Schon die Weimarer Republik hatte für diese Aufgaben eine besondere Dienststelle, und das Dritte Reich hatte deren fünf, die sich alle gegenseitig das Leben möglichst schwer machten. Die größte von ihnen, Görings Forschungsamt, war 1933 gegründet worden und beschäftigte schließlich mehr als 3000 Menschen. Während der Kämpfe in Rußland gelang es ihm täglich, von den hunderttausend Funksprüchen, die zwischen dem russischen Oberkommando und Heeresgruppen, Armeen, Divisionen und kleineren Einheiten ausgetauscht wurden, 20.000 zu ent­ ziffern. Hitler brauchte nicht einen einzigen Spion in der Sowjetunion zu haben, um genau zu wissen, welche Einheiten ihn angriffen oder angreifen würden. Dieses Dechiffrieren von aufgefangenen Funksprüchen war für die gesamte deutsche Kriegführung äußerst wertvoll. Die Deutschen hatten fast alle feindlichen Codes »erbrochen«. »Militärische Informationen über den Feind gründeten sich größten­ teils, zu gewissen Zeiten sogar überwiegend, auf die Beobachtung des feindlichen Funkverkehrs1. « Wichtig war auch die Luftaufklärung. Andere Angaben geographischer und historischer oder militärischer und wirtschaftlicher Art erhielt man durch die Zusammenarbeit mit Einrichtungen wie dem Deutschen Auslandsinstitut oder mit Mitteilung Halders.

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großen deutschen Firmen wie IG-Farben, Krupp, Zeiss und Rheinmetall-Borsig. Manchmal waren diese Firmen bereit, Agenten der Abwehr zum Schein in ihre Dienste zu nehmen, damit diese im Ausland ihre Arbeiten verrichten konnten. Im allgemeinen taten sie das jedoch nicht gern, da es ihnen zu gefährlich erschien. Häufiger kam es vor, daß die politischen und wirtschaftlichen Berichte, welche diese Firmen für ihren Hausgebrauch bekamen, der Abwehr zur Verfügung ge­ stellt wurden oder daß die Verfasser dieser Berichte Sonderberichte für die Ab­ wehr anfertigten, wobei sie jedoch Angaben verwerteten, die in wissenschaftlichen Organen oder Fachzeitschriften veröffentlicht worden waren. Dies hat mit Spio­ nage im üblichen Sinne nichts mehr gemein. Hitler dachte nicht daran, diese Institute oder Firmen in seine Pläne einzu­ weihen. Ferner muß erwähnt werden, daß das Sammeln von Informationen, wie wir es hier geschildert haben, keineswegs typisch deutsch war. Die öffentliche Meinung jedoch hatte von dieser ganzen mechanischen und offenen Nachrichten­ arbeit keine Ahnung. Sie sah deutsche Spione, wo in Wirklichkeit häufig Tat­ sachen nur durch Funkempfänger und schnelle Jagdflugzeuge, aus Börsenberichten und vergilbten Fachzeitschriften zusammengetragen worden waren. Die Wirkung, welche die Tätigkeit einzelner Funktionäre der Auslandsorgani­ sation, einzelner Diplomaten und Agenten des Außenpolitischen Amtes des SD und der Abwehr gehabt hat, läßt sich schwerlich konkret umreißen. Daß diese Tätigkeit Hitlers Zwecke in den Jahren bis 1939 begünstigt hat, versteht sich von selbst. Die politische Fünfte Kolonne der Deutschen war keine Sage. Auch viele einheimische nationalsozialistische und faschistische Gruppen und Bewegungen von unzufriedenen, nichtdeutschen Minderheiten haben Hitlers Politik gefördert. Im allgemeinen betrieben sie jedoch ihre Agitation selbständig. Ihre Beziehungen zu Deutschland waren weniger eng, als man oft glaubte. Hitler persönlich

zeigte

gegenüber

seinen

ausländischen

Nachahmern

eine

deutliche

Zurückhaltung und Mißtrauen. Nicht zu Unrecht fürchtete er wohl, er könne durch solche Nachahmer allzusehr verpflichtet werden, während er lieber freie Hand be­ halten und Europa und die Welt nach seinem Beheben beherrschen wollte. Und schließlich: was waren diese Leute schon wert, diese Clausen, Quisling, Mussert, Degrelle, de la Rocque, Pawelitsch, Codreanu, Mosley und Kuhn? Sie waren Anfänger, die nicht einmal in ihrem eigenen Lande an die Macht zu kommen ver­ mocht hatten! Die Protektion und Förderung der faschistischen Hilfstruppen aus den benachbarten Ländern ging vielfach ohne, z. T. sogar gegen Hitlers Willen vom Außenpolitischen Amt und vor allem dem SD aus. Sie hatte deshalb letztlich keine volle Durchschlagskraft, sie blieb zwiespältig und widerspruchsvoll und verstimmte damit nicht selten gerade die ideologisch dem Nationalsozialismus am nächsten stehenden politischen Kräfte in anderen Ländern. Sehr viel mehr gelang es — im ganzen gesehen — die deutschen Minderheiten im Ausland zu Werkzeugen der Politik des Dritten Reiches zu machen. Von den besonderen, seit 1918 bestehenden Bedingungen ihrer Lage, die zu dieser Ent­

270

wicklung beitrugen, ist schon die Rede gewesen. Im Rahmen dieses Überblicks ist es unmöglich, alle jene Faktoren genau zu analysieren, die bei den einzelnen Grup­ pen von Volksdeutschen nach 1933 den Prozeß der Gleichschaltung begünstigten, bremsten oder auch verhinderten. Für den überwiegenden Teil der Volksdeutschen gilt, wie bereits dargelegt worden ist, daß sie sich schon vor 1933 infolge nationaler und sozialer Deklassie­ rung gleichsam als Deutsche in der Diaspora fühlten. Sie werteten den Machtauf­ stieg Hitlers in Deutschland vornehmlich unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen Hilfs- und Erlösungsbedürftigkeit. Die vielfach ganz unpolitische Haltung ins­ besondere

bei

der

überwiegend

agrarischen

Bevölkerung

der

Volksdeutschen

begünstigte solche illusionäre Verkennung des Nationalsozialismus nicht unwesent­ lich. Dort, wo größere Teile der deutschen Volksgruppen politisch profiliert waren und parteipolitische Traditionen bestanden, wie in Danzig, in Ostoberschlesien oder im Sudetenland, wurde der ideologischen Gleichschaltung in nationalen Einheitsfronten und nationalsozialistischen Erneuerungsbewegungen erheblicher Widerstand geleistet. Auch der Einfluß der — nicht an Nationalitäten gebundenen — katholischen Kirche wirkte vielfach in ähnlicher Weise, etwa bei den Donau­ schwaben in Ungarn oder im Banat. Anders als in Westeuropa und Übersee, wo die Gleichschaltung der Volks- und Auslandsdeutschen infolge ganz anderer Umweltsbedingungen kaum irgendwo recht gelang, gab es unter den deutschen Minderheiten in Osteuropa (mit Ausnah­ me der gänzlich isolierten Rußlanddeutschen) vor Ausbruch des zweiten Welt­ krieges überall genügend starke Gruppen, die als Fünfte Kolonne des Dritten Reiches in größerem oder geringerem Maßstab brauchbar und geeignet waren. Ob und in welcher Weise sie tatsächlich politisch oder militärisch als Fünfte Kolonne aktiv und von Bedeutung wurden, hing letztlich vor allem von der jeweiligen Lage sowie davon ab, ob Hitler sie als dergleichen Werkzeuge in sein Kalkül eingesetzt hatte oder nicht. Beim Anschluß von Österreich und bei der tschechischen Krise operierte Hitler noch ganz unter Berufung auf das nationale Selbstbestimmungsrecht. Der öster­ reichischen NSDAP und Henleins Sudetendeutscher Partei fielen deshalb als Motor für Hitlers Politik wichtige Aufgaben zu, wobei hinzukam, daß es sich hier auch rein zahlenmäßig um die weitaus größten und deshalb gewichtigsten deut­ schen Gruppen außerhalb des Reiches handelte. Aber auch bei der Rückgliederung des Memelgebietes spielte die seit Ende 1938 ungehindert agierende nationalsozia­ listische Führungsgruppe der Memeldeutschen eine erhebliche Rolle. Zwischen ihr und dem Auswärtigen Amt waren alle Schritte der gemeinsamen Prozedur gegen­ über der eingeschüchterten litauischen Regierung genauestens abgesprochen. Gegenüber Polen und Jugoslawien, wo es nicht um politisches Aushandeln von Gebietsansprüchen sondern um militärische Gewaltlösungen ging, spielten Teile der Volksdeutschen als militärische Fünfte Kolonne eine — allerdings wenig ent­ scheidende — Rolle. — Seit 1940, als Hitler die politische Vormundschaft im ganzen

271

ostmitteleuropäischen

Raum

erlangt

hatte,

wurden

die

noch

nicht

»befreiten«

oder umgesiedelten deutschen Volksgruppen in Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und der Slowakei in zunehmendem Maße und immer ausschließlicher von Berlin aus domestiziert und organisiert, so daß von »Fünften Kolonnen« im eigentlichen Sinne dann kaum mehr gesprochen werden konnte. Die betreffenden deutschen Volksgruppen waren schließlich selbst nur noch Objektiv und Potential unter Hitlers und Himmlers Verfügungsgewalt.

272

SCHLUSSBETRACHTUNG

Die Furcht vor einer weltumfassenden Fünften Kolonne breitete sich, wie wir in der Einleitung zum 1. Teil schon erwähnten, über den größten Teil des Erdballs erst nach dem Anschluß Österreichs und der sudetendeutschen Gebiete, und zwar wegen dieser Ereignisse, aus. Sie waren die beiden größten und eigent­ lich die beiden einzigen wichtigen Erfolge, die Hitler dadurch errang, daß er auf Massenbewegungen in anderen Ländern Einfluß nahm. In beiden Fällen waren die Ursachen sowohl geographische als auch soziale, wirtschaftliche und geschicht­ liche Faktoren. Diese hatten besonderes Gewicht im sudetendeutschen Gebiet. Außerhalb Deutschlands hatten die Menschen kaum einen Blick

für

diese

Faktoren. Wenige nur verspürten das Bedürfnis, sich in die komplizierten Be­ ziehungen zwischen Deutschen und Slawen in Mitteleuropa zu vertiefen. Ein einziges, alles überragendes Ereignis war eingetreten: in einem bestimmten Staat hatte sich eine Gruppe von Bürgern als Hitlers Werkzeug und Brecheisen be­ nutzen lassen. Diese Bürger waren Deutsche und Nationalsozialisten. Es ist nicht verwunderlich, daß die Menschen in allen Ländern anfingen, gegen Deutsche und Nationalsozialisten Verdacht zu hegen zumal der Umstand, daß diese Gruppen Hitler ständig und stetig unterstützten, dem Verdacht immer neue Nahrung gab. Man beachtete weder die verschiedenen geschichtlichen Bedingungen der volks­ deutschen Gruppen noch die relative Gleichgültigkeit, mit der viele im Ausland lebende Reichsdeutsche dem Nationalsozialismus gegenüberstanden. Die Menschen konnten die Verhältnisse, unter denen alle die deutschen Ämter und Institutionen arbeiteten, die wir im vorigen Kapitel geschildert haben, nicht mehr im richtigen Maßstab sehen. Sie fühlten sich bedroht, und das mit Recht! Hitlers Politik bestand aus einer Mischung von politischer und militärischer Aggression. Die innere militärische Fünfte Kolonne verwendete er weniger, als außerhalb Deutsch­ lands im allgemeinen angenommen wurde. Das war auch nicht anders möglich, weil hier die erforderliche Geheimhaltung enge Grenzen des Erreichbaren setzte. Hingegen benutzte er die Waffe der inneren politischen Fünften Kolonne seit 1933 mit höchster Meisterschaft, teuflischer Phantasie und gänzlicher Verachtung für Verträge und Gebote des Anstandes. Wenn er sein Ziel nicht immer erreichte, so lag das nicht an ihm, sondern an dem Widerstand, den seine Bestrebungen 18

273

hervorriefen. So sehr die Vorstellungen über eine politische Fünfte Kolonne der Deutschen, die in den Jahren 1933 bis 1939 entstanden, auch übertrieben oder im einzelnen verkehrt gewesen sein mögen, so hatten sie doch einen erheblichen Wahrheitskern. War es daher nicht unvermeidlich, daß die Menschen, nachdem Hitler den Krieg einmal entfesselt hatte, bei jeder neuen Aggression annahmen, jene Grup­ pen, die ihn so lange politisch unterstützt hatten, würden ihn bestimmt nicht im Stiche lassen, wenn es darauf ankäme, ihm militärische Hilfe zu leisten? Die militärische Fünfte Kolonne, welche die Menschen wahrzunehmen meinten, war oft ganz oder doch wenigstens größtenteils eine verwandelte politische Fünfte Kolonne. Man verhaftete und verfolgte Gegner, von denen man oft mit Recht annahm, daß sie mit dem Feind im besten Einvernehmen ständen und grund­ sätzlich bereit wären, ihm zu helfen. Die Furcht vor der militärischen Fünften Kolonne war übertrieben, aber nicht gänzlich abwegig. Argwohn und Kopflosigkeit führten gewiß in manchen Ländern zu bedauerlichen Fehlgriffen, so z. B. gegenüber den Emigranten aus Deutschland und Österreich. Viele französische Behörden behandelten sie, nachdem der Krieg begonnen hatte, mit kaum verhüllter Feindseligkeit. Die Engländer machten sich die Mühe, die politische Einstellung dieser Menschen zu untersuchen; die Untersuchung be­ mühte sich, fair zu sein, und war ein kostspieliges und langwieriges Verfahren. Daß dann die Untersuchungsergebnisse in einem Augenblick tödlichster Gefahr, als die Engländer durch unzutreffende Berichte vom europäischen Kontinent irregeführt wurden, schließlich doch über Bord geworfen wurden, war für die Betroffenen ein harter Schlag. Wenn solches Versagen nicht verschwiegen werden soll, so muß jedoch auch gebührend berücksichtigt werden, in welcher gespannten Situation die Behörden, die für die Internierung der Flüchtlinge verantwortlich waren, im Sommer 1940 die Arbeit zu verrichten hatten. Wieviel leichter sind solche Dinge für den Historiker, der nach Jahren, wenn die Gefahr vorüber ist, in der Stille seines Arbeitszimmers das Für und Wider gewisser Unternehmungen abwägen kann — wieviel leichter sind die Dinge für ihn als für den Staatsmann, der aller Ungewißheit zum Trotz und von tausend Drohungen umgeben in dem geschicht­ lichen Augenblick selbst Entscheidungen treffen muß, von denen Wohl und Wehe eines ganzen Volkes abhängt! Es wäre aber ebenso unfair, wollten wir nicht auch auf das hinweisen, was bei­ spielsweise die Haltung der Sudetendeutschen und der Volksdeutschen in Polen und Jugoslawien verständlich machen kann. Sie wurden als Minderheit unter­ drückt und manchmal kleinlich oder sogar hart behandelt. Das war das Ergebnis einer Entwicklung von Jahrhunderten, deren einzelne Stadien häufig dem Blick dieser Minderheiten entzogen waren. Für Nationen gilt ebenso wie für einzelne Menschen, daß das, was den einen tief bewegt, vom anderen gewöhnlich nur sehr wenig verstanden wird. Was kümmerte schon die Geschichte der Tschechen, der Polen und der Slowenen die Sudetendeutschen oder die Volksdeutschen in Polen

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oder Jugoslawien? Sie fühlten nur sich bedroht und vernachlässigt, und in ihrem Zorn waren sie nur zu bereit, auf Führer zu hören, die ihnen die Wiederkehr ihrer bevorrechtigten oder führenden Stellung versprachen. Im Glauben, daß sie das ihnen zugefügte Unrecht beseitigen könnten, rüsteten sie sich, um anderen noch größeres Unrecht zuzufügen. Alte und verständige Führer erhoben ihre Stimme und warnten vor dem gefährlichen Weg, auf den Hitler die volksdeutschen Gruppen zu locken versuchte. Auch in den volksdeut­ schen Kolonien in Südamerika fehlte es nicht an Warnungen. Schließlich lag auf der Hand, daß alle diese Gruppen und Gemeinschaften, kleine Inseln in einem Meer andersdenkender Völker, eine Welle von Haß auslösen würden, wenn sie sich in den Dienst einer Ideologie stellen würden, die von jenen Völkern als tödliche Bedrohung empfunden wurde; diese Welle aber würde sie selbst als erste ver­ schlingen. Die Warnungen nützten nichts. Gewiß waren jene einfachen deutschen Bauern, Industriearbeiter und Handwerker aus dem Korridor, Ostoberschlesien, aus dem Sudetengebiet, Rumänien und Slowenien wahrhaftig nicht Mann für Mann Spione, politische Agitatoren oder Partisanen. In der Regel waren es viel­ leicht nur ganz wenige von ihnen, die in solchen Rollen auftraten. Die Gesamtheit jedoch geriet in den Verdacht der Mittäterschaft, weil sie die wenigen ihr Treiben unbehindert fortsetzen ließ. Aus diesem Grunde identifizierte man sie — und das­ selbe gilt für die im Ausland lebenden Reichsdeutschen — mehr und mehr mit Anführern, welche der Treupflicht entsagten, die sie der Gemeinschaft schuldeten, in deren Mitte sie als Bürger oder Gäste lebten. Viele Angehörige der auslandsdeutschen Gruppen haben diese Vorgänge nie recht begriffen. Sie waren in soziale Verhältnisse hineingeboren, die sie nicht selbst geschaffen hatten und wurden in einen Kampf mitgerissen, der ihr Verständnis überstieg und daher erst recht ihrer Kontrolle entzogen war. Das ist die Tragik der Geschichte.

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INDEX

Aall, Hermann Harris 174, 175 Abbeville (Gefängnis) 87 Abshagen, Karl Heinz 204 »Abwehr« (Amt Ausland-Abwehr des Ober­ kommandos der Wehrmacht) 136, 137, 149-152, 156, 169, 174, 176, 180, 184-186, 188, 190, 192-194, 199-201, 212, 217, 219, 221-224, 227, 229, 262, 266, 267, 270 Accao Integralista Brasileira 39 Ägypten 31, 107 Afghanistan 263 Albany 109 Albert-Kanal 83, 135, 200 »Altmark« 61, 167 Amsterdam 79 Anderson, John 104, 105 Antonescu, Jon 266 »Arandora Star« 106 Argentinien 31, 38, 40, 118, 121, 210-213 Armour, Norman 116 Artuccio, Hugo Fernandez 113—115, 118 Athen 123, 219 Ausländer-Tribunale (England) 103 Auslandsorganisation der NSDAP (AO) 18, 21, 24, 25, 26, 30, 31, 33, 37, 41, 72, 73, 114, 118, 123, 136, 137, 138, 139, 141, 146, 163, 168, 173, 184, 195, 201, 210, 220, 227, 228, 250, 260, 261, 262, 263, 265 Außenpolitisches Amt der NSDAP 24, 164, 227, 263, 265, 270 Australien 19, 107 Auswärtiges Amt 136, 137, 150, 227, 264, 265, 266, 268, 271 Azoren 203 Backe, Gerhart 258 Balbaud, René 85

Baltische Staaten 220 Bandera, Stepan 223 Barcelona 25 Barlone, D. 95 Beals, Carleton 35 Beck, Josef 44 Beckerle, Adolf Heinz 268 Behrends, Hermann 264 Belgien 31, 82ff., 137, 187-191 Belgrad 125, 126, 218, 219 Belmonte, Elias 119 Benesch, Eduard 250 Bennecke, Berthold 174 Bergen 66, 69, 170 Bessonow 128 Bismarck, Otto von 263 Bloch, Marc 83 Bloomington 109 Bohle, Ernst Wilhelm 26, 30, 137—139, 146, 173, 183, 259-261, 263, 269 Bolivien 41, 119 Borjas, Filemon 119 Boulogne 86 Brasilien 35, 39, 118, 122, 210, 262 Brauchitsch, Walter von 145, 177, 221 Bräuer, Kurt 64, 171—173 »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror« 22 Breckinridge 73, 74 Brena, Tomas 114—117 Bretonische Faschisten (Frankreich) 20 Britischer Rundfunk (BBC) 100, 113, 129, 202 British Union of Fascists 102, 202 Brüssel 83, 85 Bucharin, Nikolai Iwanowitsch 128 Buenos Aires 38

277

Buffalo 110 Bulgarien 219 Bund der Deutschen in Polen 147 Bund des Deutschtums in Australien und Neuseeland 19 Burton 104 Busch, German 41 Butting, Otto 73, 136, 183, 184, 186 Canaris, Wilhelm 137, 152, 174, 178, 203205, 212, 266, 267 Cardozo, Josef 114 Carls, Rolf 163 Carlson, John Roy 34 Carol II., König v. Rumänien 266 Castillo, Ramon S. 211 Chamberlain, Arthur Neville 67 Cheynel, Henri 196 Chicago 259 »Chicago Daily News« 68, 135 Chile 41, 118, 121, 211, 213 Christian X., König von Dänemark 60 Churchill, Winston 101, 105, 138, 200 Clausen 270 Clemenceau, Georges 92 Clercq, Staf de 87, 190 Cleveland (Ohio) 204 Codreanu, Zelea 270 Cohrs, Heinz 72, 184, 262 Cooper, Alfred Duff 101 Corap, General 92, 195, 244 »Cossack« 167 Cossel, von 38 Costa Rica 119, 121 Courtrai 82 Dänemark 20, 25, 58ff., 155ff" »Daily Express« 98, 104 »Daily Herald« 105 »Daily Mail« 105 »Daily Telegraph« 98, 104 Danmarks National Socialistika Arbejder Parti (Dänemark) 20 Danzig 18, 43, 50, 153, 253, 258 Darre, Walter 258 Dautry, Raoul 188 Degrelle, Léon 20, 86, 190, 249, 270 Derry, Thomas Kingston 138 »Deutsch-Amerikanischer Bund« 33, 120, 121, 205, 207

278

Deutsch-Chilenischer Bund 213 Deutsche Akademie 24 Deutscher Volksbund für Argentinien 212, 213 Deutscher Volksbund für Paraguay 213 Deutsches Auslandsinstitut (Stuttgart) 24, 269 Dickmann, Enrique 40 Dickstein, Samuel 34 Dieckhoff, Hans Heinrich 207 Dies, Martin 34, 120, 212 Dijxhoorn 183, 184 Dirschau (Brücke von) 153 Dönitz, Karl 205 Dollfuß, Engelbert 17, 20, 134 Dono van, William 134, 135, 136 Dorffier 216 Doumenc, A. 195 Edelman, Maurice 131 Eden, Robert Anthony 101, 223 Egersund 66 »Eiserne Garde« (Rumänien) 20, 266 Ekuador 119 Elsaß 31, 194, 253, 258 Engelbrecht, General 173 Esbjerg 157 »Estampa« 119 Estland 255 Eupen-Malmedy 18, 86, 188, 189, 253, 258 Falkenhorst, Nikolaus von 155, 156, 167— 169, 171, 173 Fichtebund, Hamburg 34, 114 »Figaro« 31 Finnland 220 Florida 121, 205 Flynn, John T. 109 Foch, Marschall 92 »Forschungsamt« 269 Forster, Albert 59 Franco, Francisco 15, 16, 262 Frankfurter, David 22 Frankreich 20, 29, 31, 82ff., 193-196 »Freikorps« 259 Friedrich, Major 215 Fuhrmann, Gero Arnulf 114—116, 118, 209, 210 Gamelin, General 91, 92, 94 Gaulle, Charles de 200 Geer, Jan Dirk de 183, 184

Geheime Staatspolizei (Gestapo) 22, 23, 25, 35, 44, 97, 103, 104, 135, 136, 261 Georges, General 92 Gissibl, Fritz 259 Gjedser 158 Gleason, S. Everett 137 Glein, Major 159 Gleiwitz 266 Goebbels, Joseph 33, 45, 202, 209, 223 Göring, Hermann 139, 145, 164, 177, 218, 257, 269 Goertz, Leutnant 199, 200 Graudenz (Brücke von) 153 Griebl, Ignaz 32, 205 Griechenland 123, 219, 220 Grinkow 128 Grothe, Willy 259 Guatemala 119 Guderian, Heinz 221 Gustloff, Wilhelm 22 Den Haag 76ff., 79, 80, 182, 184, 246 Hagelin, Albert Viljam 164, 165, 167-169, 175 Hague, Frank 109 Halder, Franz 145, 155, 166, 203, 216, 221, 223 Hambro, Carl 137, 138, 176 Hellman, Florence 134 Henlein, Konrad 18, 28, 29, 31, 35, 132, 134, 137, 236, 271 Herdtmann, Julius 179 Hess, Alfred 139, 260 Hess, Rudolf 24, 33, 128, 138, 257, 260, 264 Heydrich, Reinhard 265, 266 Himer, General 160, 162 Himmler, Heinrich 23, 35, 147, 164, 186, 211, 224, 264, 265, 272 Hitler, Adolf 9-11, 17-19, 24-30, 32, 33, 35, 39, 40, 45-47, 52, 54, 57-59, 64, 67-69, 78, 92, 96, 100, 106-111, 116, 120, 127, 128, 130, 132-135, 138, 145, 147, 150-153, 155, 157, 164, 166-169, 173, 175, 177, 178, 182, 190, 192, 197, 202-204, 208, 209, 214-217, 221-223, 227, 250, 252, 254, 257-261, 263-275 Hitlerjugend 21, 149, 220 Hodson, J. L. 85 Holland 20, 71 ff, 136, 139, 177-187 Holzweber 17 Horthy, Admiral Mikles v. 266

Hull, Cordell 112, 223 Huntington, Thomas W. 134 I. G. Farben 138, 270 Imperial Fascist League (England) 20 Internationaler Rat für philosophische und humanistische Studien 9 Irische Republikanische Armee (IRA) 199, 200 Irland 199, 200 Jacob, Berthold 20 Jagoda 128 Jagow, Dietrich von 268 Janko, Dr. 218 Jersey City 109 Jugoslawien 18, 70, 106, 123ff, 214ff, 255 Jungdeutsche Partei (Polen) 44 Jürges, Enrique 40 Kamenew, Leo Borissowitsch 127 Kanarische Inseln 36, 203 Kappe, Walter 205 Kasche, Siegfried 268 Kattowitz 50, 152 Kaupisch, General 60, 155, 156, 160, 162, 163 Keitel, Wilhelm 145, 177, 216 Kennedy, Joseph 135, 198 Kent, Tyler 198, 209 Keppler, Wilhelm 268 Kiewitz, Werner von 178 Killinger, Manfred von 268 Kirow, Serge 127 Kleffens, E. N. van 76, 91, 137 Knox, Frank 135, 136 Koch, Erich 224 Koestler, Arthur 94, 95 Köstring, General 221 Kolumbien 111, 119 Koht, Halvdan 64, 169 Kopenhagen 60ff., 159ff. Korsör 158 Kowalski, Leutnant 54 Krestinsky 128 Krim 131 Kristiansand 66, 171 Kroatien 216—219 Krupp von Bohlen und Halbach, Alfred 263 Ku-Klux-Klan 34 Kuhn, Fritz 270 »Kulturbund« 214

279

La Guardia, Fiorello 109 Lahousen, Erwin von 174, 175, 204, 205, 217, 223, 267 Langer, William L. 137 La Pasionaria 16 Lebrun, Albert 91 Leopold III., König von Belgien 83, 97, 191 Lessing, Theodor 17 Lettland 20, 222, 255 »Link« 202 Litauen 21 Llano, Queipo de 16 Lodz 46 Löwen 85 Long Island 121, 205 Lorenz, Werner 264 Ludin, Hans 268 Lufthansa 172 Luxemburg 89, 192 Mackworth, Cecily 94 Malletke, Walther 217 »Manchester Guardian« 58, 103, 104 Mandel, Georges 92, 96 Marburg (Kroatien) 218 Marchwood, Lord 105 Marseille 193 Marshall, George C. 110—112, 116 Massachusetts 109 Matschek, Ivar 216, 217 McCallum, R. B. 12 McCormack 34 Melnyk, Andrej 152, 223 Memel 18, 21, 253, 258 Mexiko 111, 119, 121, 204 Miklas, Wilhelm 28 Mitrany, David 137 Möller, Jens 157 Mola, Emilio 15, 16, 19 Molotow, Wladislaw 223 Montevideo 113, 116, 117, 118 Moskau 129 Mosley, Oswald 20, 102, 202, 270 Mowrer, Edgar Ansei 135, 136 Müller, Alfred 40 Munch, Peter 62 »Mundo Obreso« 15 Mussert, Anton 20, 73, 78, 102, 185, 186, 242, 249, 270 Mussolini, Benito 25, 190, 216, 254

280

Narvik 66, 67, 168, 169, 170 Nasjonal Samling 164, 174, 175 Nationaal Socialistische Beweging (NSB) 71, 72, 73, 77, 79, 185, 186 Nationaalsocialistische Bond van Nederlan­ ders in Duitsland 179 Nationaalsocialistische Nederlandse Arbeiderspartij (Holland) 20 »Netz, Das braune« 23, 25 Neumann, Ernst 21 Neurath, Konstantin von 26, 263, 268 Neuseeland 19 »New Republic« 109 New York 109 »New York Times« 94, 108, 132, 247 »New York World Telegram« 109 »New Yorker« 93 »News Chronicle« 105 Niederländisch-Indien 70, 107 Nikaragua 117 Norwegen 26, 63ff., 163—176 Nyborg 157 Nygaardsvold, Johan 64, 66 »Observer« 98 O’Donovan, Jim 199 Österreich 17, 27, 28, 254, 258 Oncken, Hermann 257 Operation Cicero 209 Oslo 65ff., 171 ff. Oster, Hans 267 Palästina 31 Panamakanal 36 Paraguay 259 Paris 94 Patagonien 40 Paul, Prinzregent von Jugoslawien 124, 215 Pawelitsch, Ante 214, 270 Pennsylvanien 109 Peru 37 Petain, Philippe 92, 187 Peter II., König von Jugoslawien 124 Petersen, Oberstlt. 156, 160 »Petit Parisien« 23 Pflug-Hartung, Horst von 63 Philip, Percy J. 94 Pieckenbrock, Oberst 169, 267 Pierlot, Hubert 91 Pjatakow, J. L. 128

Planetta 17 Pohlmann, Oberstlt. 171—173 Polen 42ff., 47ff., 145ff., 266 Polnay, Peter de 94 Posen 50, 51, 53 Quisling, Vidkun 26, 66, 72, 81, 102, 133, 135, 138, 164-169, 172-176, 228, 249, 263, 267, 270 Radek, Karl 128 Raeder, Erich 145, 164-167, 177, 203 Rankin 236 Rauschning, Hermann 27, 100 Reichsdeutsche Gemeinschaft 73, 136, 183, 184, 195 Reichssicherheitshauptamt 214 Rekowski 204 Renthe-Fink, Cecil von 62, 155, 160, 171 Reuß, Prinz 51 Rexisten 86, 87, 190 Reynaud, Paul 67, 92, 96, 97, 99, 188, 195, 244 Ribbentrop, Joachim von 44, 64, 137, 139, 156, 204, 211, 217, 263, 264, 268, 269 Ridgway, Matthew B. 112 Right Club 202 Rio de Janeiro 38 Ritter, Nikolaus 205 Rocque, Francois de la 20, 270 Rollins, Richard 34 Roos, Karl 31 Roosevelt, Franklin D. 16, 33, 37, 101, 108, 111, 112, 116, 118, 120, 121, 135 Rosenberg, Alfred 24, 34, 128, 164-167, 172, 173, 217, 258, 263-266 Rosengoltz 128 Rost van Tonningen, Meinoud Marinus 73, 186 Rotterdam 75, 76, 180, 182, 246 Rumänien 18, 70, 106, 255, 258 Russell, Sean 200 Rykow 128 Ryan, Frank 250 Saargebiet 18, 253, 258 Salgado, Plinio 39 Salisbury, Harrison E. 132 Sandler, Karl 31 Sarajewo 125

Saß, Frh. v. 21 Schäfer 26, 160, 162 Schdanow, Andrei 128 Scheidt, Wilhelm 164, 166, 167, 171, 172 Scheffer, Paul 128 Scheuermann, Dr. 186, 190 Schlitter, Leg.-Sekr. 160 Schreiber, Marine-Attaché 164, 171, 172 Schubert 40 Schulenburg, Werner von der 221 Schulze-Bernett 184 Schuschnigg, Kurt von 27, 28, 36 »Schwarz-Rotbuch-Dokumente über den Hitler-Imperialismus« 25 Schweden 20, 30, 69, 106 Schweiz 21, 22, 30, 70, 106 Sebold, William G. 206 Sedan 89, 90 Seton-Watson, Hugh 138 Seyss-Inquart, Arthur 27, 28, 31, 35, 134, 139, 165 Sicherheitsdienst (SD) 147, 148, 206, 211, 217, 223, 227, 265, 266, 268, 269, 270 Simowitsch, Durchan 215, 217 Simoview 127 Snyder, Louis L. 138 Solf 201 Sowjetunion 126ff., 220—225, 255, 256 Spanien 15, 25, 236, 262 Spanknoebel, Heinz 259 Spanaus, Carl 173—175 Spiller, Luftwaffen-Attaché 171, 172 Sponeck, Graf 80 Stalin, Josef 25, 127, 128, 129, 130, 152 Stark, Admiral 111, 112 Stauning, Thorwald 62, 63 Stavanger 66, 175 Steirischer Heimatbund 214 Steinacher, Hans 264 Stowe, Lelard 68, 69, 176 Streicher, Julius 259 Student, Kurt 189 Sudetendeutsche 28, 152, 254, 258, 267, 274 Südafrika 107, 254 Südtirol 254, 258 Südwestafrika 18, 21, 253, 258, 260 »Sunday Express« 68, 104 »Sunday Times« 129 Sundlo, Oberstlt. 26, 67, 81, 170

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Taborda, Damonte 118 »Temps« 31, 89, 91 »Teutonia« 259 Thiele, Werner 160, 161 »The Times« 58, 68, 98, 101, 103, 118 Tiso, Josef 266 Tolischus, Otto D. 9, 10, 108, 141 Toynbee, Arnold Joseph 137 Trondhijem 67, 170 Trotzki, Leo 128 Tschechoslowakei 18, 28, 236 Tschernow 128 Tuchatschewski, Marschall 128 Türkei 106, 220 Tuka, Bela 266 Undset, Sigrid 65 UNESCO 9 Ungarn 18, 20, 218, 255 Urugay 41, 113ff., 209, 210 USA 29, 31, 33 ff., 36, 108ff., 202ff, 235, 236, 239, 256, 259 Vanderbilt, Cornelius 119 Vargas, Getulio 39 Veesenmayer, Edmund 217 Venezuela 262 Vlaams Nationaal Verbond (VNV) 86, 190

Vogt, Carlos 204 Volksbund für das Deutschtum im Ausland 24, 137, 138, 264 Volksdeutsche 18, 19, 34, 43-56, 130-135 146-154, 156, 157, 212-215, 217, 218, 224226, 228-230, 238, 243, 246, 251, 253-257 263-265, 267, 271 Volksdeutsche Mittelstelle 149, 217, 224, 227 264, 265 Waffen-SS 215 Warschau 52 Welles, Sumner 36, 88, 110, 112, 116 Werth, Alexander 92, 97, 129, 131, 132 Wesemann, Hans 22, 23, 201 Weygard, Maxime 92 Wiegand, Karl von 107 Wight, Martin 138 Wilhelmina, Königin der Niederlande 74, 178 182-184 Wilson, Edmund C. 115, 116 Winkelman, H. G. 73, 181, 183 Woroschilow, Kliment 127 Zeitzler, Kurt 223 Zimmermann, von 160, 161 Zypern 107