Die deutsch-deutsche Integration: Ergebnisse, Aussichten und wirtschaftspolitische Herausforderungen. Bericht über den wissenschatlichen Teil der 54. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. in Bonn am 14. und 15. Mai [1 ed.] 9783428473151, 9783428073153

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Die deutsch-deutsche Integration: Ergebnisse, Aussichten und wirtschaftspolitische Herausforderungen. Bericht über den wissenschatlichen Teil der 54. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. in Bonn am 14. und 15. Mai [1 ed.]
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Beihefte der Konjunkturpolitik Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Begründet von Albert Wissler

Heft 39

Die deutsch-deutsche Integration Ergebnisse, Aussichten und wirtschaftspolitische Herausforderungen

Duncker & Humblot · Berlin

Die deutsch-deutsche Integration

Beihefte der K o n j u n k t u r p o l i t i k Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Begründet von Albert Wissler

Heft 39

Die deutsch-deutsche Integration Ergebnisse, Aussichten und wirtschaftspolitische Herausforderungen

Bericht über den wissenschaftlichen Teil der 54. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. in Bonn am 14. und 15. Mai 1991

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die deutsch-deutsche Integration : Ergebnisse, Aussichten und wirtschaftspolitische Herausforderungen ; Bericht über den wissenschaftlichen Teil der 54. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. in Bonn am 14. und 15. Mai 1991 / [Schriftl.: Herbert Wilkens]. — Berlin: Duncker und Humblot, 1992 (Beihefte der Konjunkturpolitik ; H. 39) ISBN 3-428-07315-0 NE: Wilkens, Herbert [Red.]; Konjunkturpolitik / Beihefte

Schriftleiter: Herbert Wilkens

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0452-4780 ISBN 3-428-07315-0

Vorwort

In diesem Beiheft wird über den wissenschaftlichen Teil der 54. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. berichtet, die am 14. und 15. Mai 1991 in Bonn stattfand und das Thema Die deutsch-deutsche Integration: Ergebnisse, Aussichten und wirtschaftspolitische Herausforderung zum Gegenstand hatte. Für die wissenschaftliche Vorbereitung ist dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin, und dem Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel zu danken. Referate hielten Karl Brenke (Berlin), Juergen B. Dönges (Köln), Hans-Hagen Härtel (Hamburg), Wilhelm Henrichsmeyer (Bonn), Georg-Hermann Milbradt (Dresden), Hilmar Schmidt (Berlin), Klaus-Dieter Schmidt (Kiel), Horst Schöberle (Bonn), Heinz Schrumpf (Essen), Klaus Werner (Berlin). Die abschließende Podiumsdiskussion wurde moderiert von Wolfram Baentsch (Düsseldorf), Teilnehmer waren Lutz Hoff mann (Berlin), Erhard Kantzenbach (Hamburg), Paul Klemmer (Essen), Karl Heinrich Oppenländer (München), Horst Siebert (Kiel), Christian Watrin (Köln). Die Schriftleitung besorgte Herbert Wilkens (Berlin). Die 55. Mitgliederversammlung soll am 14. und 15. Mai 1992 in Bonn stattfinden und das Thema Wirtschaftsreformen

in Mittel- und Osteuropa

behandeln. München, im September 1991

Karl Heinrich Oppenländer Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft

Inhalt

Horst Schöberle Finanzierung des Staatshaushaltes: Zielkonflikt zwischen Geld und Finanzpolitik? Zusammenfassung der Diskussion. Referat Schöberle Georg Milbradt Finanzausgleich nach der Vereinigung Zusammenfassung der Diskussion. Referat Milbradt

9 19

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Hilmar Schmidt Neustrukturierung durch Privatisierung — die Rolle der Treuhandanstalt

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Zusammenfassung der Diskussion. Referat Schmidt

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Karl Brenke Aktuelle Entwicklung in den Sektoren: Der Industriesektor

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Klaus-Dieter Schmidt Zur wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland: Der Dienstleistungssektor

73

Wilhelm Henrichsmeyer Aktuelle Entwicklungen in den Sektoren: Die Landwirtschaft

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Zusammenfassung der Diskussion. Referate Brenke, K.-D. Schmidt und Henrichsmeyer Juergen B. Dönges Arbeitsmarkt und Lohnpolitik in Ostdeutschland Zusammenfassung der Diskussion. Referat Dönges Heinz Schrumpf Engpässe in der Infrastruktur in den neuen Bundesländern

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101 118

127

8

Inhalt

Hans-Hagen Härtel Chancen und Hemmnisse für mehr Wettbewerb durch die deutsche Vereinigung

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Klaus Werner Die Handelsbeziehungen der ostdeutschen Länder mit dem ehemaligen RGW-Raum, Lage und Perspektiven 1991

149

Zusammenfassung der Diskussion. Referate Schrumpf, Härtel und Werner

165

Podiumsdiskussion

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Teilnehmerverzeichnis

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Finanzierung des Staatshaushaltes: Zielkonflikt zwischen Geld und Finanzpolitik? Von Horst Schöberle, Bonn

Meine Damen und Herren, Staatssekretär Dr. Köhler hatte anläßlich Ihrer 54. Mitgliederversammlung das Referat zum Thema „Finanzierung des Staatshaushaltes: Zielkonflikt zwischen Geldund Finanzpolitik?" übernommen. Zu seinem großen Bedauern kann er die Zusage nicht einhalten. In seiner Vertretung werde ich das Thema behandeln, das die Gelegenheit bietet, die Grundsätze der Finanzpolitik für einen erfolgreichen deutschen Vereinigungsprozeß darzulegen. Der wirtschaftliche und soziale Vereinigungsprozeß der neuen und alten Bundesländer stellt sicherlich die seit langem größte und wichtigste Herausforderung für die Wirtschafts-, Finanzund Geldpolitik dar. Es geht darum, die Folgen von 45 Jahren katastrophaler sozialistischer Mißwirtschaft in Ostdeutschland zu beseitigen, auf die der Zusammenbruch der Wirtschaft in den neuen Bundesländern zurückzuführen ist. Dies haben schon viele aus ihren Köpfen verdrängt. Umso wichtiger ist es, auf die eigentliche Ursache hinzuweisen, wie dies der Sachverständigenrat und die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute getan haben. Das wiedervereinigte Deutschland — als eine der größten Industrienationen — muß sich aber auch den gestiegenen Anforderungen des Auslands stellen und einen größeren Beitrag zur Lösung internationaler Aufgaben und Konflikte leisten. Dieses Zusammentreffen gewaltiger Aufgaben erfordert die Ausschöpfung aller Möglichkeiten und den Zusammenhalt aller Kräfte. Wichtig ist jetzt, daß sich die Wiederbelebung der wirtschaftlichen Aktivitäten und der Aufbau wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen und handlungsfähiger Verwaltungen in Ostdeutschland so schnell wie möglich und nachhaltig vollzieht. Dies erfordert in den nächsten Jahren auch einen beträchtlichen privaten und öffentlichen Kapitaltransfer in die neuen Bundesländer.

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Horst Schöberle

Es muß aber davor gewarnt werden, der Staat sei in der Lage, für alle Anpassungslasten einzutreten. Die staatlichen Finanzhilfen und Programme, die die Bundesregierung für den Umstrukturierungsprozeß in Ostdeutschland beschlossen hat, können den Investitionsaufschwung lediglich anschieben. Getragen werden muß er von den Unternehmen und ihren Arbeitskräften, den Selbständigen und den Verwaltungen in den neuen Bundesländern. Für diesen Zweck stehen einschließlich des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost nunmehr für 1991 Mittel von rd. 50 Mrd D M für öffentliche Investitionen (einschließlich Bahn und Post) und für Investitionsförderung zur Verfügung, namentlich zur Verbesserung der völlig vernachlässigten Infrastruktur. Mit ergänzenden Maßnahmen zur Gewährleistung einer ausreichenden Firianzausstattung der neuen Bundesländer — die zukünftig eine stärkere Béteiligung der Länder und Gemeinden erforderlich macht — und zur Umsetzung der einzelnen Programme sind nunmehr gute Rahmenbedingungen für einen baldigen Aufschwung gelegt. Hierzu zählt auch die Unterstützung zum Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und Justiz sowie eine großzügige Vorfahrtsregelung für Investoren beim Erwerb von Grundstücken und Unternehmen, die sich allerdings in der Praxis erst noch bewähren muß. Alle notwendigen und richtigen Maßnahmen zur gezielten Investitionsund Wirtschaftsförderung können jedoch nur greifen, wenn die Treuhandanstalt ihren Auftrag zur schnellen Privatisierung, zur entschlossenen Sanierung und — wo keine Überlebenschance mehr besteht — durch behutsame Stillegung wirksam bewältigen kann. Der Aufbau der Infrastruktur und die Modernisierung der Industrie ist aber selbst bei sehr hohen Investitionen nicht von heute auf morgen zu bewältigen. Das Entstehen neuer Produktionen ist an Investitionen gebunden, deren Planung und Durchführung ihre Zeit brauchen. Zur Finanzierung der Jahrhundertaufgabe „deutsche Einheit" verfolgt die Bundesregierung ein ausgewogenes Konzept, das weder die öffentlichen Kassen, die Kapitalmärkte noch die Steuerzahler überfordert. Umfangreiche Maßnahmen zur Haushaltsentlastung und Einnahmeverbesserung sollen die Nettokreditaufnahme des Bundes von 70 Mrd D M im Jahr 1991 stufenweise auf 30 Mrd D M im Jahr 1994 zurückführen. Dabei ist ein erster deutlicher Schritt für 1992 mit einer Rückführung der Nettokreditaufnahme des Bundes auf 50 Mrd D M und für 1993 eine weitere Verringerung auf 40 Mrd D M vorgesehen. Ziel ist es, das Defizit im öffentlichen Gesamthaushalt, das im Jahr 1991 etwa 5 bis 5 1/2 bis 4 v H des BSP (3 1/2 v H in VGR-Abgrenzung) betragen

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dürfte, bis 1994 auf unter 3 v H des BSP zu reduzieren, um damit auf jenen Weg zurückzukehren, der die anhaltende wirtschaftliche Dynamik seit 1982 ausgelöst hat. Damit dieses Ziel erreicht wird, sind beträchtliche Anstrengungen erforderlich. Die Verantwortung zur Erreichung dieses Ziels liegt aber nicht allein beim Bund. Die Länder und Gemeinden sind gefordert, ihren Beitrag hierfür durch eine maßvolle Ausgabengestaltung zu leisten. Es geht auch nicht an, daß der Bund die Hauptlast der Wiedervereinigung trägt, Länder und Gemeinden dagegen über ihr erhöhtes Steueraufkommen einen finanziellen Gewinn machen. Auch die neuen Länder und ihre Kommunen sind bei der Begrenzung der staatlichen Defizite gefordert. Sie tragen mit ihren Entscheidungen über Tempo und Ausmaß für den in ihrer Verantwortung stehenden Abbau der hohen Subventionen und des weit übersetzten Personalbestands zum Erreichen des gesamtstaatlichen Konsolidierungsziels bei. Zum Ausgleich der hohen Mehrbelastungen, insbesondere für den Bundeshaushalt, sind beträchtliche Ausgabeeinsparungen, Umschichtungen und der Abbau von Subventionen bereits verwirklicht oder vorgesehen. Insgesamt ergeben sich in diesem Jahr und nach dem Finanzplan auch in den nächsten Jahren — direkt und indirekt — aus der Wiedervereinigung Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt von rund 100 Mrd DM. Einen solchen Betrag kurzfristig vor allem durch Einsparungen auszugleichen, ist eine finanzund haushaltspolitische Illusion. Das gesamte Ausgabenvolumen des letzten rein westdeutschen Bundeshaushalts 1989 belief sich auf knapp 300 Mrd DM. Rund ein Drittel dieses Volumens hätte zur Disposition gestanden. Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, es würden nur unzureichende Einsparungen vorgenommen. Dabei wird verkannt, daß seit Beginn des Wiedervereinigungsprozesses Haushaltsentlastungen mit einem Gesamtvolumen von fast 50 Mrd D M beschlossen wurden, wobei mehr als die Hälfte davon Ausgabekürzungen sind. Schwerpunkte der Haushaltsentlastung im Haushaltsentwurf 1991 und im Finanzplan bis 1994 sind: — Kürzungen bei den Verteidigungsausgaben um 7,6 Mrd D M — Begrenzung des Bundeszuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit durch eine vorübergehende Anhebung der Beiträge und durch Minderausgaben mit einem Gesamtvolumen von 20,8 Mrd D M — Umlenkungen von Investitionen in einer Größenordnung von 2 Mrd D M Darüber hinaus sind Kürzungen in zahlreichen Einzelpositionen vorgesehen.

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A b kommendem Jahr sollen die Ausgabenzuwächse des Bundes wieder deutlich unter dem Zuwachs des Bruttosozialprodukts liegen. Für den Finanzplanungszeitraum 1992 — 1994 sind jahresdurchschnittlich weniger als 2 v H vorgesehen. Dies ist angesichts der Finanzerfordernisse in Ostdeutschland ein sehr ehrgeiziges Ziel. Auch beim Subventionsabbau sind enorme Anstrengungen unternommen worden. Nachdem mit der Steuerreform 1990 13 Mrd D M abgebaut wurden, werden nunmehr die Berlin- und Zonenrandförderung um 10 Mrd D M zurückgeführt. Der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages hat den entsprechenden Gesetzesentwurf beschlossen, über den das Plenum in dieser Woche zu befinden hat. Zusätzlich sollen Finanzhilfen und sonstige Steuervergünstigungen um 10 Mrd D M verringert werden. Im Rahmen der Koalitionsvereinbarungen vom 16. Januar 1991 ist der Abbau von Steuervergünstigungen um 5 Mrd D M beschlossen und die Kürzung von Finanzhilfen um rd. 500 Mio D M 1991 ansteigend auf 1,4 Mrd D M bis 1994 verwirklicht worden. Zusammen mit den Steuerbeschlüssen vom 26. Februar 1991 ist eine Gesamtkürzung — aufgestockt auf 10 Mrd D M — vereinbart worden. Hier steht die Realisierung zwar noch aus, aber bis zur Verabschiedung des Haushaltsentwurfs 1992 Anfang Juli 1991 werden die allgemeinen Ankündigungen durch vorgeschlagene Maßnahmen zu konkretisieren sein. Weitere Kürzungen von Steuervergünstigungen sind im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform ins Auge gefaßt (Abschreibungserleichterungen). Angesichts des weiter gestiegenen Finanzierungsbedarfs im Zusammenhang mit zusätzlichen internationalen Anforderungen (Golfkrieg, Osteuropa) sind Steuererhöhungen unausweichlich geworden, um die notwendige Reduzierung der Haushaltsdefizite sicherzustellen. Die beschlossenen Steuererhöhungen dienen letztlich der Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik. Die Entscheidung zur Finanzierung dieser unabweisbaren Mehraufwendungen durch Steuererhöhungen statt durch Kreditaufnahme war in der gegenwärtigen Lage angespannter Kapitalmärkte und hoher Kapazitätsauslastung unumgänglich. Eine höhere Staatsverschuldung hätte auf dem Kapitalmarkt „tendenziell zinssteigernd" gewirkt. Gleichzeitig hätte sie auch das Vertrauen des Auslands in die Stabilität der D-Mark untergraben und damit möglicherweise „negative Wirkungen auf den Außenwert der D-Mark und die Preisniveauentwicklung" gehabt. In der gegenwärtigen Situation dürften die negativen Begleiterscheinungen der Steuererhöhungen als weniger schädlich einzuschätzen sein. Der Preissteigerungseffekt sollte bei vernünftigem Verhalten aller Beteiligten begrenzt bleiben und die Entzugseffekte der Steuererhöhungen dürften bei

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dem generell expansiven Kurs der Finanzpolitik kurzfristig in diesem Jahr bei weitem ausgeglichen werden. Der auf ein Jahr befristete Solidaritätszuschlag ist keine Investitionsbremse. Die tarifliche Einkommenund Körperschaftsteuerbelastung steigt maximal um rund 2 Prozentpunkte. A b 1. Juli 1992 wird der Solidaritätszuschlag wieder entfallen. Wer neue Investitionen und die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze plant, kann sich deshalb weiterhin am linearen Reformtarif aus dem Jahr 1990, an der deutlich verringerten Belastung des Einkommenzuwachses orientieren. Erweiterte Einnahmespielräume werden auch nach dem Auslaufen des Solidaritätszuschlags nötig sein, wenn unsere gestiegenen nationalen und internationalen Aufgaben bei wieder rückläufiger öffentlicher Kreditaufnahme zu bewältigen sein werden. Sie könnten durch eine im Zusammenhang mit der Angleichung der Mehrwertsteuersätze in der EG notwendige Anpassung unserer Mehrwertsteuer geschaffen werden. Die getroffenen steuerpolitischen Maßnahmen sichern die Stabilität der öffentlichen Haushalte und stehen unter den veränderten Anforderungen für eine Weiterführung der erfolgreichen Politik der letzten Jahre, die die Grundlagen für hohes Wachstum bei stabilen Preisen geschaffen hat. Sie bedeuten auch keine Kursänderung der erfolgreichen Steuerpolitik. Wenn wir mit unserer leistungsfähigen Volkswirtschaft auch in Zukunft gegenüber den Volkswirtschaften unserer Konkurrenzländer bestehen wollen, bedeutet dies, den Wirtschaftsstandort Deutschland für in- und ausländische Investoren attraktiver zu machen. Damit i m bevorstehenden Binnenmarkt die Voraussetzungen für ein hohes Beschäftigungsniveau und für dauerhaft sichere Arbeitsplätze geschaffen werden, wird die Steuerreformpolitik fortgesetzt werden. Allerdings gibt es in den nächsten Jahren kaum eine Chance zur weiteren Rückführung der Steuerquote. Die bei allen Anstrengungen nicht zu vermeidende vorübergehend beträchtliche Ausweitung der Kreditfinanzierung für die wichtigste Investitionsaufgabe, die es in unserem Land je gegeben hat, ist ökonomisch richtig und sinnvoll. Vorübergehend höhere staatliche Defizite sind auch vertretbar, wenn durch einen konsequenten Konsolidierungskurs das Vertrauen in die Finanzpolitik gesichert wird. Eine Überforderung der Kapitalmärkte durch die staatliche Kreditaufnahme ist nicht zu erwarten. Das höhere deutsche Haushaltsdefizit ist nämlich nicht das Ergebnis struktureller Schwächen der öffentlichen Finanzen (wie beispielsweise in den USA und Italien), sondern die Folge einer Ausnahmesituation. Der Wiederaufbau Ostdeutschlands ist ein gewaltiges Investitionsprogramm, das neue Wachstumschancen und gute Investitionsrenditen ver-

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spricht. In Übereinstimmung mit der Auffassung der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute und des Sachverständigenrats ist davon auszugehen, daß der gegenwärtige Einbruch der ostdeutschen Wirtschaft bei richtiger Weichenstellung nicht in eine dauerhafte Strukturkrise münden wird. Die mittelfristigen Wachstumsaussichten in den neuen Bundesländern sind ebenso wie in den alten Bundesländern gut. Dabei entspricht es der ökonomischen Logik, daß der Zins bei starkem Wachstum höher ist als bei schwachem Wachstum. Die Kapitalmarktzinsen in Deutschland sind aber immer noch niedriger als in vielen Partnerländern, in denen das Wachstum auch in diesem Jahr deutlich niedriger als bei uns ausfallen wird. Der Kapitalmarktzins ist gegenwärtig mit 8 1 /2 v H um rd. 1 / 2 vH-Punkt niedriger als auf dem bisherigen Höhepunkt i m September 1990 (9,1 vH) und nicht höher als unmittelbar nach Ankündigung der Wirtschaftsund Währungsunion, obwohl der Kapitalbedarf für die neuen Bundesländer erheblich größer als erwartet ist. Dies ist als Vertrauensbeweis der Finanzmärkte in die deutsche Wirtschaftsund Finanzpolitik zu werten. Eine „künstliche" Senkung der Zinsen in Deutschland, die der Bundesbank insbesondere vom Ausland immer wieder empfohlen wird, würde die Stabilität des Geldwertes gefährden. Sie würde außerdem die D-Mark, die trotz eines hohen Zinsvorsprungs im kurzfristigen Bereich zeitweise unter Druck geraten ist, weiter an den Devisenmärkten und im EWS schwächen. Bei einer Überziehung des Zinssenkungsspielraums bestünde die Gefahr, daß aus der gegenwärtigen Situation eine generelle DM-Schwäche entstehen könnte: Die relativ ruhige Entwicklung im EWS könnte in Instabilität umschlagen und den Preisanstieg durch höhere Importpreise beschleunigen. Dies kann nicht im Interesse unserer Partner sein. Der beste Beitrag für niedrige Zinsen und hohes Wirtschaftswachstum ist eine glaubwürdige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf Preisstabilität, Haushaltskonsolidierung und Stärkung der privaten Initiative und der Marktwirtschaft. Die Geldpolitik muß deshalb ihr erfolgreiches Konzept der Vorjahre fortsetzen: Die interne Preisstabilität sichern und gleichzeitig genügend Liquidität für die Fortsetzung des realen Wachstums der Wirtschaft und für den Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern bereitstellen. Die jüngsten Zinsbeschlüsse der Deutschen Bundesbank, die den geldpolitischen Kurs stützen, wie er mit dem Geldmengenziel 1991 (4 bis 6 vH) festgelegt ist, fügen sich in dieses Gesamtkonzept ein. Die Zinsbeschlüsse führten deshalb auch nicht zu steigenden Marktzinsen, sondern haben mit dazu beigetragen, daß die Geldund Kapitalmärkte entspannt sind. Die i m internationalen Vergleich hohe deutsche Ersparnis und die seit 1982 erfolgreiche Konsolidierungspolitik des Staates haben gute Vorausset-

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zungen für die Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben geschaffen. Die Sparkapitalbildung der privaten Haushalte, die heute um fast 50 v H höher als 1982 ist, stand in den letzten Jahren wegen der niedrigen Kreditaufnahme der öffentlichen Haushalte und wegen hoher Eigenmittelfinanzierung der Unternehmen weitgehend dem Ausland zur Verfügung. Wenn sie jetzt stärker als bisher i m Inland benötigt wird, vor allem für den Aufbau der Infrastruktur und wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen in Ostdeutschland, dann ist auch ein angemessen hoher Zins unverzichtbar, damit das Angebot an Ersparnis auf die Nachfrage nach Kapital reagiert. Entzugserscheinungen für das Ausland sind damit nicht verbunden. Vielmehr stimuliert die hohe deutsche Binnennachfrage über eine verstärkte Importneigung die Auslandskonjunktur. Dies wird deutlich im Rückgang des deutschen Leistungsbilanzüberschusses von rd. 104 Mrd D M im Jahr 1989 auf rd. 72 Mrd D M in 1990. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist der Rückgang des deutschen Leistungsbilanzüberschusses kein Problem. Er dient dem Aufbau wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen in den neuen Bundesländern und ist deshalb kein Indikator für einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und kein Grund für Vertrauensverluste der Kapitalmärkte in die D-Mark. Die deutsche Wirtschaft kann sich mit dem Ausbau neuer Produktionskapazitäten in Ostdeutschland zukünftig auch wieder stärker auf die Auslandsmärkte orientieren. Vertrauensverluste in die D-Mark wären aus dem Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse dann zu erwarten, wenn die Preisstabilität gefährdet würde und sich die günstigen Wachstumsperspektiven für Gesamtdeutschland i m Zuge der wirtschaftlichen Vereinigung nicht realisieren ließen. Unmittelbarer Anlaß für solche Befürchtungen ist aus der aktuellen Wirtschaftsentwicklung nicht gegeben. Die mit der deutschen Währungsunion und Vereinigung von manchen befürchteten Gefahren für den Erhalt der Preisstabilität durch den Nachfragesog aus den neuen Bundesländern sind nicht eingetreten. In den neuen Bundesländern hat die Öffnung der Grenzen bei vielen Industriegütern schon unmittelbar vor und nach der Währungsunion erhebliche Preissenkungen gebracht. Dadurch war das Preisniveau bis zur Jahreswende 1990 noch deutlich niedriger als im Vorjahr. Die jetzt seit einigen Monaten kräftigen Preisanhebungen in den neuen Bundesländern sind im Zusammenhang mit Veränderungen der Preisstrukturen durch das Wirken der Marktwirtschaft in Verbindung mit dem notwendigen Abbau von Preisstützungen zu sehen. Eine Gefährdung der Preisstabilität, die eine restriktive Geldpolitik begründen könnte, ergibt sich

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daraus nicht. Die Veränderungen der Preisstrukturen sind notwendig, um das Güterangebot zu verbessern. In den alten Bundesländern ist die Preisentwicklung nach wie vor moderat, trotz der Beschleunigung der Lebenshaltungskosten im April 1991 auf 2,8 v H nach zuvor 2,5 v H im März 1991 und 2,7 v H im Gesamtjahr 1990. Bei verantwortungsbewußtem Verhalten aller Beteiligten dürfte der Preisanstieg i m Gesamtjahr 1991 auf 3 bis 3 1/2 v H beschränkt bleiben. Der immer noch verhaltene Verbraucherpreisanstieg in den alten Bundesländern ist umso bemerkenswerter, als die Konjunktur gegenwärtig vor allem wegen der starken Nachfrageimpulse aus Ostdeutschland sehr dynamisch ist. Das kräftige Sozialproduktswachstum des vergangenen Jahres ( + 4,5 vH) setzt sich nach den vorliegenden Indikatoren derzeit mit unverminderter Kraft fort. Wenn für das Gesamt jähr 1991 auch aus Sicht der Bundesregierung mit einem schwächeren Wirtschaftswachstum von knapp 3 v H gerechnet werden muß, dann ist dies in erster Linie auf die Abschwächung der Weltkonjunktur und auf die kräftige Aufwertung der D-Mark im vergangenen Jahr zurückzuführen, die eine vorübergehende „Konjunkturdelle" bewirken. Von den öffentlichen Haushalten jedenfalls gehen in diesem Jahr insgesamt expansive Einflüsse auf Konjunktur und Wachstum aus, obwohl die Steuererhöhungen den privaten Verbrauch dämpfen. Wenn diese dämpfenden Effekte i m nächsten Jahr auslauten und die wieder Tritt fassende Weltkonjunktur neue Impulse gibt, kann die Konjunktur — wie auch die Institute im Frühjahrsgutachten betonen — 1992 wieder stärker aufwärtsgerichtet sein. Erste Prognosen für 1992 rechnen mit einem Wachstumsergebnis für Westdeutschland von 2 bis 2 1/2 vH. Für die neuen Bundesländer geben die jüngsten Informationen berechtigte Hoffnungen, daß die Talsohle der wirtschaftlichen Entwicklung bald durchschritten wird. Nachfrageseitig werden insbesondere die Unternehmensinvestitionen bereits in diesem Jahr beachtliche Zuwachsraten aufweisen, wobei den Bauinvestitionen eine Vorreiterrolle zukommt. Hierfür sprechen die zahlreichen Neugründungen und das Engagement westlicher privater Firmen (ohne Bahn und Post), die für dieses Jahr laut Ifo-Institut Investitionen in Höhe von rd. 18 Mrd D M in Ostdeutschland planen. Auch i m öffentlichen Bau ist, forciert durch das „ Gemeinschaf tswerk Aufschwung-Ost", ab Jahresmitte mit beträchtlichen Zuwächsen zu rechnen. Die Bauwirtschaft wird bereits in diesem Jahr Schrittmacher der Gesamtkonjunktur sein und über Multiplikatoreffekte in den Zulieferbereichen einen wichtigen Beitrag zum Aufbau in den neuen Bundesländern leisten.

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Insgesamt sind die Aussichten günstig, daß der in vielen Dienstleistungsbereichen bereits in Gang gekommene Aufschwung bereits i m 2. Halbjahr 1991 auch in der Industrie einsetzt. Günstige Wachstumsperspektiven in Ostund Westdeutschland erfordern, daß die Finanzpolitik und Geldpolitik auch weiterhin konsequent auf Konsolidierung der Staatsfinanzen und Erhaltung der Preisniveaustabilität ausgerichtet bleiben. Zielkonflikte zwischen der Geldund der Finanzpolitik könnten vor allem bei lohnpolitischem Fehlverhalten auftreten. Die Gefährdung der Geldwertstabilität durch eine überzogene Lohnpolitik würde die Wachstumsperspektiven in Gesamtdeutschland beeinträchtigen und die Aufgabe der Finanzpolitik — die Haushaltsdefizite wie geplant zurückzuführen und Infrastrukturhemmnisse in Ostdeutschland zu beseitigen — erschweren. Beides kann zügig nur bei guter Konjunktur in Westdeutschland und rascher Aufwärtsentwicklung in Ostdeutschland gelingen. In den neuen Bundesländern besteht die Gefahr, daß die Löhne sich zu schnell an das westdeutsche Niveau angleichen, mit schwerwiegenden Problemen für die Finanzpolitik. Sie steht vor der Notwendigkeit, daraus resultierende hohe Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Außerdem wäre sie stärker als bisher öffentlichem Druck ausgesetzt, unrentable Arbeitsplätze zu subventionieren. Auch in Westdeutschland, wo die Tarifparteien in den letzten Jahren durch maßvolle Lohnabschlüsse die stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik unterstützten und damit ein dynamisches Wirtschaftswachstum bei stabilen Preisen ermöglicht haben, übersteigen die in diesem Jahr bisher abgeschlossenen Tarifverträge mit 6 bis 7 v H die 1991 zu erwartende Produktivitätsentwicklung deutlich. Obwohl „eine starke Dämpfung der Konjunktur (in Westdeutschland) als Folge der Lohnpolitik ... nach den bisherigen Tarifabschlüssen weniger wahrscheinlich geworden ist", betonen die Forschungsinstitute aber zu Recht, „daß die Lohnabschlüsse dieses Jahres die des kommenden Jahres auf keinen Fall präjudizieren dürfen." Ansonsten würde die Preisstabilität gefährdet. In Ostdeutschland ist als Folge der dramatischen Lohnentwicklung der Lohnkostendruck schon jetzt für die meisten Unternehmen beträchtlich größer als verkraftbar. Die ersten Abschlüsse der zweiten ostdeutschen Tariflohnrunde nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion legen eine Anhebung des ostdeutschen Tariflohnniveaus je nach Abschlußbereich auf 55 bis 70 v H des westdeutschen Tariflohnniveaus bereits in diesem Jahr fest. Für die nächsten Jahre gibt es erste Vereinbarungen, die eine relativ rasche vollständige Angleichung an die Tarifverdienste in den alten Bundesländern bis 1994 erreichen wollen. Dies bedeutet nicht nur in diesem 2 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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Jahr r sondern auch für die nächsten Jahre Lohnsteigerungen, die weit über den absehbaren Produktivitätsfortschritt hinausgehen. Es ist eindringlich davor zu warnen, wie dies die Institute und der Sachverständigenrat jüngst getan haben: Eine allgemeine Lohnangleichung in diesem Tempo an das westdeutsche Niveau würde sich von den realwirtschaftlichen Grundlagen der ostdeutschen Wirtschaft weit entfernen. Es müßte unweigerlich zu einer unnötigen Verschärfung der Arbeitsmarktprobleme kommen. Die politische Verantwortung hierfür darf nicht auf den Staat abgewälzt werden. Die Lohnpolitik in den neuen Bundesländern ist gefordert, den Weg einer leistungsgerechteren Differenzierung nach Betrieben und Branchen stärker als bisher zu gehen. Bei richtiger lohnpolitischer Weichenstellung wird der ostdeutsche Aufholprozeß auf mittlere Sicht zu einer markanten Besserung und Einebnung des Wohlstandsgefälles zum Westen führen. In der internationalen Öffentlichkeit wird kritisch beobachtet, wie wir mit den Problemen der deutschen Vereinigung fertig werden. Die Finanzpolitik steht in dieser Legislaturperiode vor der Aufgabe, deutliche Konsolidierungserfolge zu erzielen. Es kommt — auch im Hinblick auf die internationale Wirtschaftslage — darauf an, die öffentlichen Defizite rasch zurückzuführen. Wenn dies — wie in der Finanzplanung vorgesehen — umgesetzt wird, werden Restriktionsmaßnahmen im Sinne einer stabilitätsorientierten Politik der Bundesbank entbehrlich. W i r haben dann weiterhin günstige Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, die durch eine wachstumsorientierte Steuerpolitik unterstützt wird. Damit erfüllen wir auch die uns im Rahmen der weltwirtschaftlichen Entwicklung zugedachten Aufgaben.

Zusammenfassung der Diskussion

Referat Schöberle Siebert fragt, welche konkreten Belastungen für den Bundeshaushalt aus der Tätigkeit der Treuhand zu erwarten sind, und welches gesamtstaatliche Budgetdefizit daraus entstehen wird. Im Hintergrund stehe die Frage, ob die Finanzpolitik die Kraft haben werde, das Budgetdefizit in Höhe von 5 % in einer angemessenen Frist auf etwa 3 % zurückzufahren und auf diese Weise den Zielkonflikt zur Geldpolitik, aber auch die Auswirkungen etwa auf den Wechselkurs unter Kontrolle zu bringen. Schöberle erwidert, die Belastung, die sich durch die Treuhandanstalt ergeben werde, sei im Moment noch nicht genau abzuschätzen. Die Treuhandanstalt bilde ja sozusagen einen eigenen Kreislauf, der im Jahr 1991 sicherlich mit einem deutlichen Defizit verbunden sein werde. Auf Nachfragen räumt Schöberle ein, daß die Größenordnung bei etwa 23 Mrd. D M anzusetzen sei. Auf mittlere Frist würden insbesondere die Zinsbelastungen der Treuhand, die sich aus diesen Defiziten ergeben, eine maßgebliche Rolle spielen. Es werde entscheidend darauf ankommen, inwieweit die Verkaufserlöse zumindest einen angemessenen Teilausgleich für die erforderlichen Aufwendungen liefern. Probleme sieht Schöberle darin, daß gefordert wird, verschiedene „Investitionshemmnisse" zu beseitigen, nämlich Altlasten, seien es Kredite, seien es ökologische Altlasten. Das bedeute aber, daß die entsprechenden Belastungen schließlich auf jeden Fall irgendwann auf die öffentliche Hand zukommen, sei es über die Treuhandanstalt, sei es auf Wegen, über die ein früheres Eintreten für solche Belastungen vorgesehen wird. Insgesamt könne man zur Zeit keine konkreten Zahlen nennen. Bei allen Größenangaben sei viel Spekulation dabei. Im Bereich der ökologischen Altlasten komme es darauf an, was effektiv wird. Angesichts der Diskussion, die darüber in der Bundesrepublik schon seit einiger Zeit geführt wurde, hielten sich die tatsächlichen Belastungen der öffentlichen Hand — insbesondere der Länder, denen ja nach dem Grundgesetz diese Aufgabe zufällt — immer noch in einer relativ bescheidenen Größenordnung. Man dürfe aber nicht verkennen, daß hier ein durchaus beachtliches Risiko bestehe. Leibfritz weist auf einige andere Risiken in Schöberies mittelfristigem Bild hin. Milbradt habe am Morgen davon gesprochen, daß man mittelfristig 2*

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Zusammenfassung der Diskussion

damit rechnen muß, etwa 40 bis 50 Milliarden D M Transfer an die neuen Bundesländer zu leisten. Bei der von Schöberle mittelfristig dargestellten Konsolidierung des Defizits von jetzt 5 % Sozialprodukt unter 3 % innerhalb von vier Jahren werde aber unterstellt, daß über das hinaus, was im Fonds Deutsche Einheit bisher vorgesehen ist — mit stark degressivem Verlauf —, eigentlich nichts weiter an Belastungen hinzukommt. Wenn nun das von Milbradt bezüglich des Finanzbedarfs der neuen Bundesländer gezeigte Bild annähernd richtig wäre, bedeute das, daß das mittelfristige Konzept der Bundesregierung in zwei Punkten zu revidieren wäre, nämlich entweder hinsichtlich der Konsolidierung oder der Steuerpolitik. Leibfritz stellt also weniger auf den Konflikt zwischen der künftigen Geld- und Finanzpolitik ab als auf den zwischen der Konsolidierungsstrategie einerseits und der Steuerpolitik andererseits. Eine Mehrwertsteuererhöhung werde nach den Worten Schöberies zur Entlastung an anderer Stelle benötigt. Es würden also letzlich doch mehr Mittel benötigt, um den zusätzlichen Transfer zu bewältigen. Schöberle antwortet, sein Ministerium müsse sich auf diesem Gebiet häufig mit den neuen Bundesländern auseinandersetzen, ohne daß gesicherte Erkenntnisse vorlägen. Die neuen Bundesländer hätten den erforderlichen Überblick selbst nicht, und sie müßten ihn ja erst einmal weiter vermitteln. In den Arbeitsgruppen gemeinsam mit den Ländern — sowohl den neuen als auch den alten Bundesländern — sei zunächst noch festzustellen, wie hoch eigentlich der Finanzbedarf der neuen Länder einschließlich ihrer Gemeinden ist, und hier liege man weit auseinander. Der Bund habe eine Schätzung — auch von den westlichen Ländern mitgetragen —, die deutlich von den Vorstellungen der neuen Bundesländer differiere. Hier müsse zunächst die nötige Klärung herbeigeführt werden — eine schwierige Aufgabe. Immerhin werde der Haushalt 1991 eine vernünftige Basis bieten können für Überlegungen, wie es in der Zukunft weitergehen kann bzw. wie gut oder wie schlecht die Finanzausstattung ist. Für Schöberle ist mittlerweile unstreitig, daß für das Jahr 1991 eine Finanzausstattung gewährt wurde, die sicherlich ausreichend, wenn nicht gar reichlich ist. Möglicherweise würden aufgrund diverser Hemmnisse die Mittel gar nicht alle eingesetzt werden können — was bedauerlich wäre i m Hinblick auf das Ziel, den Anpassungsprozeß beschleunigt voranzubringen. Aber man könne sich über die Finanzerfordernisse der neuen Länder und Gemeinden sinnvoll erst unterhalten, wenn einigermaßen fundierte Kenntnisse über den Haushalt und die Abwicklung des Haushalts 1991 vorliegen. Schöberle stimmt Leibfritz zu, daß die Mittelzuführung aus dem Fonds Deutsche Einheit an die neuen Länder drastisch zurückgehen werde. Das werde auch sicherlich nicht kompensiert durch Steuermehreinnahmen, die sich aufgrund des Anpassungsprozesses ergeben, so daß Lücken bestehen

Zusammenfassung der Diskussion

bleiben könnten. Aber Schöberle sieht ein wesentliches Element in diesem Zusammenhang in der Rückführung der Subventionen und im Personalabbau. Wenn dieser Spielraum in den Haushalten genutzt werde, müsse der Finanzbedarf der neuen Länder nicht deutlich höher sein, als bisher an Mitteln zur Verfügung gestellt wird. Allerdings hänge vieles auch von den politischen Entscheidungen ab, und insofern bestehe hier natürlich ein Risiko, weil die Bundesregierung die Entscheidung ja nicht in der Hand hat und nur versuchen kann, diese Entscheidungen zu beeinflussen. Schöberle mag jedenfalls nicht die Finanzanforderungen bestätigen, wie sie vom sächsischen Finanzminister gestellt wurden. Im übrigen neige ohnehin das Land Sachsen in den öffentlichen Forderungen dazu, die Dinge etwas überzogen darzustellen. Es sei sicherlich möglich, daß zusätzliche finanzielle Mittel in den kommenden Jahren gegeben werden müßten, aber zumindest eine solche Größenordnung, wie sie hier dargestellt wurde, hält er für ausgeschlossen, nicht weil sie nicht geleistet werden könnte, sondern weil sie nicht dem tatsächlichen Bedarf entspräche, gemessen an dem, was insgesamt realisierbar wäre. Schrumpf weist auf die Sondervermögen außerhalb der Treuhand hin. Schätzungen sprächen davon, daß sich die kumulierten Verluste allein der Deutschen Reichsbahn bis 1995 auf einen dreistelligen Milliardenbetrag belaufen könnten. Im Gegensatz zur Treuhand gäbe es hier keine Hoffnung auf zusätzliche Erlöse. Diese Anforderungen müßten letztlich aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden, und daraus müßte sich die Planung herleiten. Schöberle stimmt zu, die Bundesbahn und die Reichsbahn stellten große Sorgenkinder für die Finanzplanung dar. Aber auch hier gehe es darum, daß die Politik dieser Sondervermögen darauf gerichtet sein müsse — und sie hätten auch entsprechende Auflagen im Rahmen der Kabinettsberatungen erhalten —, dafür zu sorgen, daß die Defizite nicht in dem Ausmaße auftreten, wie sie sich aufgrund von Wunschvorstellungen errechneten. Es handele sich also um ein Risiko, das man nicht so ohne weiteres hinnehmen muß, sondern es gebe durchaus die Möglichkeit, durch Handeln diese Risiken deutlich einzuschränken. Schatz bemerkt, die in Ostdeutschland anstehenden Aufgabe erfordere eine dauerhaft höhere Investitionsquote; entsprechend müsse der Konsum zurückgedrängt werden. Unter diesen Gesichtspunkten sei unklar, was eigentlich dafür gesprochen hat, die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer zu erhöhen, nicht aber die Mehrwertsteuer. Es sei ja auch von Schöberle zugegeben worden, daß die Senkung der Einkommen- und der Körperschaftsteuer einer der Gründe dafür war, daß sich das Wachstumstempo in der Bundesrepublik beschleunigt hat.

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Zusammenfassung der Diskussion

Schöberle bestätigt, daß man sinnvollerweise andere Lösungen hätte finden müssen, nur habe man i m politischen Entscheidungsprozeß nicht allein diesem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen. Im laufenden Jahr 1991 hätten nun einmal Mehreinnahmen erreicht werden müssen, und zwar zur Abdeckung einer vorübergehenden besonderen Spitze. Dies sei technisch schwer zu lösen gewesen. Wenn Ende Februar Entscheidungen getroffen werden, die dann noch gesetzestechnisch umzusetzen sind, könnten frühestens zur Jahresmitte wirksame Maßnahmen daraus werden — wie es ja auch tatsächlich realisiert werde. Konkret heiße das, daß man Mehreinnahmen nur im Bereich der Einkommen- und Körperschaftsteuer oder bei den speziellen Verbrauchsteuern erreichen kann. Eine Mehrwertsteuererhöhung zur Jahresemitte sei kompliziert; sie würde dann noch einen besonderen Effekt haben, der nicht den vollen Jahresbetrag erbringt — mit der entsprechenden Verzögerung —, und sie hätte auch nicht den Spitzenbedarf decken können, der 1991 zu decken war. Es handele sich zwar um rein praktische Erwägungen, aber auch die spielten natürlich im politischen Entscheidungsprozeß eine Rolle. Deshalb aber auch die Entscheidung, hier nicht eine dauerhaft höhere Belastung vorzusehen — die natürlich die Steuerreformpolitik von vornherein konterkariert haben würde —, sondern die Lösung so auszugestalten, daß der Mehrbedarf, der in diesem Jahr gegeben ist, damit abgedeckt werden kann. Schatz fragt ferner, ob unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten die große Vielfalt an Fördermaßnahmen in Ostdeutschland wirklich erforderlich gewesen ist. Sie mache es für Investoren fast schon unmöglich, das Paket zusammenzuschnüren, das sie am meisten begünstigt; sie hätten sogar dazu geführt, daß ausländische Investoren abgeschreckt wurden, weil die Landschaft für sie nicht zu durchschauen war. Hierzu antwortet Schöberle, es handele sich in der Tat um eine Vielzahl von Maßnahmen; bei der Durchführung von Fördermaßnahmen sei man aber auch an die grundgesetzlichen Bestimmungen gebunden. Wegen verwaltungsmäßiger Engpässe hätten auch Wege gesucht werden müssen, wo von Bundesressorts aus die Möglichkeit besteht, unmittelbar etwas in Gang zu setzen. Man habe nicht einfach alle Mittel überweisen und anderen die Ausführung überlassen können, weil damit die vorhandenen Kapazitäten überfordert gewesen wären — wie es sich ja in manchen Fällen jetzt zeige. Man habe einerseits die Mittel zur Verfügung stellen müssen, damit, wie es mit der Investitionspauschale geschehen ist, an Ort und Stelle unmittelbar die raschen Entscheidungen getroffen werden konnten, andererseits hätten aber da, wo gewisse Planungsprozesse notwendig sind, diese von Bundesressorts unmittelbar geleistet werden müssen, ζ. B. bei Umwelt-, Verkehrs- und ähnlichen Maßnahmen.

Zusammenfassung der Diskussion

Oppenländer bezweifelt die Kernthese Schöberies, daß es sich bei den erforderlichen Mehreinnahmen nur um einen einmaligen Spitzenbedarf handelt. A m Morgen habe man gehört — und das könnten die Institute bestätigen —, daß hier ein gewaltiger Bedarf an öffentlichen Investitionen in den nächsten Jahren auf den Staatshaushalt zukommt. Milbradt habe sogar davon gesprochen, daß öffentliche Investitionen im Westteil der Bundesrepublik gar nicht mehr durchgeführt werden sollten, um mehr öffentliche Investitionen im Ostteil zu ermöglichen — auch wegen des verfassungsmäßigen Anspruchs auf Gleichbehandlung. Oppenländer fragt nun, ob nicht eigentlich die Bundesregierung auch im Sinne der Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik einen Plan vorlegen müßte, in dem diese Anforderungen aufgelistet sind und mit dem sie glaubhaft darlegt, wie diese Anforderungen zu finanzieren sind. Zu den Steuererhöhungen merkt Oppenländer an, Einkommen- und Körperschaftsteuererhöhungen seien mit einmaligen Anforderungen (Golfkrise und die Zahlungen an die UdSSR) begründet worden. Angesichts der schon jetzt absehbaren Belastungen müßte die geplante Mehrwertsteuererhöhung durch die Einmaligkeit der Wiedervereinigung begründet werden; die vom Finanzminister angeführte EG-Harmonisierung stehe in Wirklichkeit nicht i m Vordergrund. Schöberle stellt klar, die im Jahr 1991 abzudeckende Spitze sei natürlich nicht nur im Zusammenhang mit den öffentlichen Investitionen in den neuen Ländern entstanden, sondern vor allem auch im internationalen Bereich. Die notwendigen zusätzlichen Verpflichtungen im internationalen, aber auch im nationalen Rahmen seien ja hinsichtlich ihrer Finanzierung auch in der mittelfristigen Finanzplanung ausgewiesen worden. Mit der Vorlage des Bundeshaushalts 1992 und der mittelfristigen Finanzplanung 1993 bis 1995 müsse deutlich gemacht werden, mit welchen Anforderungen, bezogen auf die Ausgaben, man in diesem Zeitraum rechnen müsse und wie die entsprechende Finanzierung erfolgen solle. Dabei seien die steuerpolitischen Maßnahmen einzurechnen, soweit sie bereits umgesetzt sind. Eine Mehrwertsteuererhöhung, die möglicherweise ansteht, könne darin noch nicht enthalten sein, einfach wegen der fehlenden rechtlichen Voraussetzungen. Aber in der Nettokreditaufnahme, die ausgewiesen wird, komme dann zum Ausdruck, daß der angestrebte Konsolidierungspfad ohne weitere Maßnahmen nicht erreicht würde. Insofern müsse ein Plan für die Anforderungen und die Finanzierung jährlich aufgestellt werden, und man werde sorgfältig darauf zu achten haben, daß die Ankündigungen auch eingehalten werden. Hinsichtlich der Begründung einer Mehrwertsteuererhöhung akzeptiert Schöberle keine einseitige Zuordnung entweder nur auf die europäische Harmonisierung oder nur den ostdeutschen Mehrbedarf. Der Minister be-

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Zusammenfassung der Diskussion

ziehe seine Begründung auf die insgesamt gestiegenen, aus den nationalen und internationalen Aufgaben resultierenden höheren Anforderungen. Aber er sage auch, daß zugleich ein Beitrag im Hinblick auf die Erfordernisse der Steuerharmonisierung in der EG geleistet werde. Thanner fragt, wie mit den Auslandsverbindlichkeiten der ehemaligen DDR verfahren werde, ζ. B. im Verhältnis zur Sowjetunion, zum ehemaligen COMECON-Bereich und zu anderen Ländern. Schöberle teilt dazu mit, die Arbeiten seien immer noch im Fluß. Über alles, was das Auslandsgeschäft mit den ehemaligen RGW-Staaten angeht, gebe es noch kein abschließendes Bild. Die Angelegenheit sei auf den Kreditabwicklungsfonds übertragen, der noch zwei Jahre existiere und dann gedrittelt auf Bund, Treuhandanstalt und neue Länder verteilt werde.

Finanzausgleich nach der Vereinigung Von Georg Milbradt, Dresden

Herr Vorsitzender, meine Herren! W i r haben ja schon i m vorigen Referat einiges von den unterschiedlichen Einschätzungen i m wirtschaftlichen Bereich gehört. Ich glaube, daß das Hauptproblem der Vereinigung im Augenblick nicht so sehr irgendwelche wirtschaftspolitische oder finanzpolitische Details sind, sondern schlicht die Tatsache, daß wir viel zu wenig voneinandner wissen und daß man mit Maßstäben, die aus der eigenen Erfahrung stammen, an das Problem heranzugehen versucht. Das gilt auch für das Problem des Finanzausgleichs. Dahinter verbirgt sich die Frage der adäquaten Finanzausstattung der neuen Länder und Gemeinden. Die Regelungen des Einigungsvertrages sind Ihnen bekannt. Bei der Steuerquellenverteilung werden die Regelungen des Grundgesetzes angewandt. Die Regelungen des Finanzausgleichs sind hingegen weitgehend ausgeschlossen und durch Sonderregelungen bis 1995 ersetzt. Das bezieht sich sowohl auf die steuerkraftausgleichende Wirkung der Umsatzsteuerverteilung, auf den vertikalen Finanzausgleich, also insbesondere die Ergänzungszuweisunge, als auch auf den horizontalen Finanzausgleich. Statt dessen hat man sich eines anderen Mittels bedient: des Fonds „Deutscher Einheit". Es ist klar, daß es angesichts der überraschenden Einigung nicht möglich war, ohne weiteres ein komplettes Finanzausgleichssystem zu konzipieren, vor allem weil — was sich mittlerweise als realistisch herausstellt — die Informationen über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder, besser gesagt, die wirtschaftlichen Unterschiede im Frühjahr 1990, als erstmals über dieses Thema diskutiert wurde, nicht vorhanden waren. Heute stellt man fest, daß wir im Osten eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben, die pro Kopf ungefähr bis 25 % des entsprechenden Wertes im Westen liegt. Natürlich ist jedem einsichtig, daß bei 25% des Wertes im Westen auch das Steueraufkommen eine entsprechend niedrigere Größe haben wird. Hinzu kommen administrative und sonstige Sachverhalte, auch die Tatsache, daß die Länder und Gemeinden stärker als der Bund von ertragsrelevanten

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Georg Milbradt

Steuern mit progressiver Wirkung abhängen. Somit liegt die zu erwartende Quote beim Steueraufkommen sicherlich deutlich unter diesen 25 %. W i r stellen fest, daß es nach wie vor außerordentlich schwierig ist, den Bedarf — der ja nicht nur eine objektive Größe, sondern vor allem eine politische Größe ist — abzuleiten und insoweit auch verbindliche Aussagen darüber zu machen, ob das, was bisher beschlossen ist, ausreicht oder nicht. Das war auch schon im letzten Jahr schwierig, denn im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion war klar, daß der Übergang zu einem marktwirtschaftlichen System in der DDR eine völlig andere Form der Staatsfinanzierung nach sich ziehen mußte, nämlich im wesentlichen basierend auf einem westlich orientierten Steuersystem. Es zeigte sich sehr schnell, daß die Steuerkraft sowohl von der Bundesregierung als auch von anderer Seite immer überschätzt wurde, weil man die Wirtschaftskraft überschätzt hatte. Die Regelungen und der Umfang des Fonds „Deutsche Einheit" — eines Finanzausgleiches zwischen zwei Staaten, vor allem finanziert durch Kredite und prozentual aufgeteilt auf die verschiedenen Ebenen im Verhältnis 50/30/20 —, wurden, so glaube ich, nicht aufgrund irgendwelcher objektivierter Bedarfsgrößen festgelegt, sondern eher unter dem Gesichtspunkt der Zahlungsbereitschaft auf westlicher Seite. Die 115 Milliarden mit den entsprechenden Abstufungen — sind nicht empirisch oder auch nur annähernd auf der Grundlage quantitativer Maßstäbe zustande gekommen. Hinzu kommt für uns in den neuen Ländern, daß mit dem 01.01.1991 auch die zentralistische Haushaltsführung der alten DDR aufgehört hat und wir jetzt Länderhaushalte und Kommunalhaushalte bilden. Man muß also, wenn man überhaupt einen Vergleich anstrebt, die alte DDR abschichten in einen zentralstaatlichen, einen Länder- und Gemeindeanteil. Der zentralstaatliche Teil entspricht dann dem Bundeshaushalt, der Länderanteil muß noch auf die 5 1/2 neuen Länder aufgeteilt werden. Entsprechendes gilt für den Gemeindeanteil. Die Tatsache, daß die Länderregierungen erst Ende Oktober/Anfang November gebildet wurden und daß auf der Ebene der Länder bisher keine eigene Finanz- und Haushaltsverwaltung existiert hatte — es hat nur haushaltsführende Behörden in den Bezirken gegeben —, hat die Situation natürlich nicht gerade verbessert. Es kommt weiter hinzu, daß es so gut wie unmöglich ist, sich auf Vorjahreszahlen zu stützen, denn die Verhältnisse im zweiten Halbjahr 1990 waren alles andere als regulär, und die Zahlen für die davorliegenden Zeitabschnitte waren aufgrund der anderen Strukturen — vor allem auch der Preisstrukturen — sowieso nur sehr begrenzt vergleichbar.

Finanzausgleich nach der Vereinigung

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W i r haben Anfang des Jahres versucht, die Finanzlage mit vorläufigen Zahlen hochzurechnen, und erlebten dabei zu unserem großen Erstaunen — viele hatten es schon immer befürchtet —, daß sich ein ziemliches Mißverhältnis zwischen Einnahmen auf der einen Seite und Bedarf auf der anderen Seite ergab. Ich will das exemplarisch an einer „Momentaufnahme" für Sachsen darstellen: Anfang Februar gingen wir von Gesamtausgaben in Höhe von 29 Milliarden D M aus, denen 15,7 Milliarden D M Einnahmen gegenüber standen, von denen der größte Teil, nämlich 8,8 Milliarden DM, Zahlungen aus dem Fonds „Deutsche Einheit" waren. Von den WestLändern kamen sofort Fragen: Warum sind die Ausgaben eigentlich so hoch? Wenn man die ganzen Ausgabenplanungen der Ost-Länder hochrechne, komme man ja auf höhere Zahlen, als sie z.B. für NordrheinWestfalen gelten, obwohl hinsichtlich der Kopfzahl Nordrhein-Westfalen und die alte DDR durchaus vergleichbar seien. Dies läßt sich wie folgt erklären: W i r haben durch die staatliche Vereinigung eine Rechtseinheit. Das bedeutet nichts anderes, als daß der Bürger im Osten — wenn man von gewissen Übergangs- und Ausnahmeregelungen absieht — dieselben Ansprüche gegen den Staat hat, wie der Bürger im Westen. Es wäre vermessen, anzunehmen, daß es dem Osten gelingen könnte, diese Ansprüche des Bürgers im Osten zu geringeren Kosten abzuwickeln als die des Bürgers im Westen. Vielleicht besteht im Augenblick noch ein Vorteil wegen der niedrigeren Löhne; dem steht aber die geringere Effizienz gegenüber. Mit anderen Worten: bei den laufenden Ausgaben wird sich — zumindest nach einer gewissen Normalisierungsphase — ergeben, daß die neuen Länder vergleichbare Ausgaben haben werden, wie die im Westen. Das kann man an einigen Beispielen klarmachen: Der Sozialhilfeanspruch ist im Osten im wesentlichen genauso hoch wie im Westen. Auch die Ansprüche auf Bundesausbildungsförderung oder Wohngeld sind vergleichbar. Wenn man die Einkommensstruktur betrachtet, wird man teilweise höhere Ausgaben unterstellen können. Die neuen Länder haben die Verpflichtung, die Krankenhäuser zumindest i m investiven Bereich zu finanzieren. Auch hier wird man sich am Weststandard mittelfristig orientieren müssen. Denn man kann nicht hinnehmen, daß im Westen ein Operationstermin binnen weniger Tage oder allenfalls weniger Wochen möglich ist, während man im Gebiet der alten DDR darauf ein oder mehrerer Jahre warten muß. Die Rechtsgleichheit und die nach dem Grundgesetz einklagbaren Rechtsansprüche werden dazu führen, daß der Staat i m Osten die Dinge genauso handhabt wie im Westen. Auf der anderen Seite haben wir zwei Sonderprobleme, die in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen sind. Die De-Maizière-Regierung hatte zwar am Ol. Juli 1990 die Preise freigegeben und die Preisstützungen

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Georg Milbradt

abgeschafft, allerdings mit drei wesentlichen Ausnahmen: dem Wohnungsbereich, dem Energiebereich und dem Verkehrsbereich. Die Preise und Tarife wurden nach dem Einigungsvertrag auf dem alten, subventionierten Niveau weiterhin beibehalten. Diese drei Bereiche waren Gegenstand von Forderungen der De-Maizière-Regierung bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag. Man war sehr stolz darauf, die Bebehaltung der Preisstützung — zusammen mit einigen Mitfinanzierungszusagen, z. B. Kindereinrichtungen oder Akademie der Wissenschaften — gegenüber dem Westen durchgesetzt zu haben. Man hatte das als eine Leistung verstanden, die der Westen dem Osten für die Übergangszeit finanzieren sollte. Es stellt sich nun heraus, daß die Bonner etwas cleverer waren. Sie sagen: Preisstützungsmaßnahmen sind, wenn nichts besonders festgelegt ist, Aufgabe der Länder — Vorrang der Landesexekutive — und von diesen zu bezahlen. Mit anderen Worten, die Verhandlungserfolge der alten DDRRegierung waren Verhandlungserfolge gegenüber ihren eigenen zukünftigen Ländern und Gemeinden; sie sollten aus dem normalen Aufkommen finanziert werden. Dies führt jetzt zu erheblichen Belastungen für die neuen Länder und ihre Kommunen. Wenn man die Subventionen des zweiten Halbjahres 1990 hochrechnet, dann sind das 35 Milliarden D M pro Jahr, von denen allein 25 Milliarden D M auf die Wohnungswirtschaft entfallen. Wenn man bedenkt, daß nach dem 01. Januar 1991 die Preise in der Wohnungswirtschaft, vor allem bei Abwasser und sonstigen öffentlichen Leistungen, angestiegen sind, dürfte bei unveränderten Mieten der Subventionsbedarf, sofern man ihn voll abdecken will, eher noch größer werden. Ein schlichtes Beispiel: 35 Milliarden D M dividiert durch ca. 16 Millionen Einwohner macht 2.200 D M im Jahr aus. Das sind für eine vierköpfige Familie 8.800 D M pro Jahr oder rund 700 D M pro Monat, — Subventionen, die noch zu zahlen sind oder politisch abgebaut werden müssen. Die Forderungen im Westen nach Subventionsabbau sind richtig, ich kann sie als Ökonom nur unterstützen; nur muß ich dem als Politiker folgendes entgegenhalten: Unterstellen wir einmal, es gelänge uns, binnen eines Jahres von diesen 2.200 D M pro Kopf 1.000 D M abzubauen — ein Betrag von 16 Milliarden D M über alle fünf Länder und den Ostteil Berlins — dann ist das eine Subventionsabbauleistung im privaten Sektor, die für die alte Bundesrepublik einem Subventionsabbau von 62 Milliarden D M entspräche. Ich möchte die Bundesregierung oder die Landesregierung sehen, die das politisch fertigbringt! Ich denke an die Koalitionsverhandlungen, wo man sich über 2 oder 3 Milliarden D M Stützung bei der Knappschaft streitet, oder daran, daß man es von seiten des Landes Nordrhein-Westfalen als völlig abwegig ansieht, die Subventionen im Ruhrkohlenbergbau von 75.000 D M pro Beschäftigten in Frage zu stellen. Hier wird offensichtlich, daß man mit zweierlei Maß mißt. — Soviel zu dem Subventionsthema.

Finanzausgleich nach der Vereinigung

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Leider hat die Bundesregierung und haben auch einige Länderregierungen dieses Thema der Subventionen politisch im Sinne eines „Verschiebens" behandelt. Die erste Anpassung bei dem finanzpolitisch größten Brocken — der Wohnungssubventionen — ist erst ab Ol. Oktober 1991 möglich. Bezüglich des Energiebereiches steht im Einigungsvertrag, daß bei den leitungsgebundenen Energien für Wärme eine Subventionierung angeblich aus abrechnungstechnischen Gründen bis zum 30. Juni 1991 weitergeführt werden soll — bei festen Brennstoffen nur bis zum 31. Dezember 1990. Zu Jahresbeginn kamen natürlich Leute, die sagten: „Gleichberechtigung! Wenn jemand einen Kohleofen hat, muß er auch subventioniert werden!" — Was passierte? Der inzwischen ausgeschiedene Bundeswirtschaftsminister Haussmann erließ nach dem Preisgesetz eine Höchstpreisverordnung, die den Kohlehändlern verbot, Kohle höher als zu einem Drittel ihres Einkaufspreises zu verkaufen, wobei eine Regelung darüber fehlte, wer die Differenz zu zahlen hat. Die Kohlehändler haben zunächst geliefert — weil sie das in der DDR ja so gewohnt waren —, und stellten dann fest, daß keiner für die Differenz aufkam. Dann wurde es kalt, und die Kohlehändler sahen die Chance gegeben, ihre Kohlelieferungen an die Bevölkerung einzustellen mit dem Hinweis, die Zahlung der Rechnungen sei nicht sichergestellt. Was blieb uns als Landesregierung anderes übrig — obwohl wir gesagt hatten, wir wollen diese „Vergünstigung" nicht —, als Subventionen zu zahlen?! Diese Kohlesubventionierung hat uns allein in Sachsen ein paar hundert Millionen D M gekostet. Ähnlich ist es in anderen Bereichen. Im Bereich Verkehr wurde uns freundlicherweise vom Bundesverkehrsministerium eine Musterverordnung erarbeitet, die wir doch bitteschön erlassen sollten, — mit einem Paragraphen, der Entschädigungen für diesen enteignungsgleichen Eingriff vorsah. Ich habe dann bei uns in die Verordnung schreiben lassen, jeder dürfe auch einen höheren Preis fordern, wenn er dies beantragt und die Kosten nachweist, um dem enteignungsgleichen Eingriff zu entgehen. Aber die Konsequenz wird wahrscheinlich die gleiche sein. Ich kann mich der Subventionszahlung politisch gar nicht entziehen. Das dritte Problem besteht darin, daß, wie auch immer man rechnet, enorme Infrastrukturdefizite bestehen. Wenn man will, daß die Wirtschaftsleistung von 25% pro Kopf sich in etwa an das westdeutsche Niveau angleicht, muß man vergleichbare Infrastrukturen schaffen. Dabei handelt es sich um enorme Beträge. Wenn man die Vereinigung wirklich will, benötigt man für eine Übergangszeit pro Kopf erheblich mehr Infrastrukturinvestitionen — selbstverständlich auf allen Ebenen Bund, Länder und Gemeinden — als im Westen. Die kurzfristig bestehenden Planungs- und Vollzugsdefizite sollten uns keine Illusionen über den wahren Bedarf vermitteln.

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Wenn es uns nicht gelingt, höhere Infrastrukturausgaben zu gewährleisten, dann werden wir die Abstände zu den Westländern nicht verringern können und damit die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die verteilungspolitisch motivierten Transfers perpetuieren. Es gibt Abschätzungen zum öffentlichen Infrastruktur-Nachholbedarf. Sie alle liegen in der Größenordnung von etwa 1 Billion DM. Wer kann das in zehn oder fünfzehn Jahren abarbeiten? Aber wie immer man dividiert, man kommt zu extremen Beträgen, die pro Jahr zusätzlich notwendig sind — neben den Subventionen und neben der Befriedigung von Rechtsansprüchen —, um den wirtschaftlichen Aufschwung im Osten sicherzustellen. Ich will die Situation, wie sie sich auf der Einnahmenseite darstellt, um diese Aufgaben, die ich eben skizziert habe, zu lösen, anhand einiger Schaubilder darstellen. Die Regelungen des Einigungsvertrages mit dem Fonds „Deutsche Einheit" und die Steuerschätzungen des Bundes, die meines Erachtens immer noch sehr optimistisch sind, führten vor den Regelungen von Ende Februar dazu, daß die Gesamteinnahmen der neuen Länder und Gemeinden — diese Zusammenfassung habe ich extra gewählt, um die Frage des Finanzausgleichs Länder/Gemeinden außer acht zu lassen — fallen würden. Die Aufgaben, die ich eben skizziert habe, waren und sind mit einer fallenden Einnahmekurve nicht zu erfüllen. W i r haben dann in den Verhandlungen von November 1990 bis Ende Februar 1991 erreicht, daß zunächst durch die Hundert-Prozent-Regelung bei der Umsatzsteuer ein gewisse Verbesserung herausgekommen ist, die allerdings — das ist aus dem Schaubild nicht zu ersehen — in ihrem Volumen abnimmt, da im Einigungsvertrag sowieso eine Anpassung nach oben vorgesehen war: 55 % im ersten Jahr, 60 % im zweiten Jahr usw. Da wir jetzt für alle Jahre 100 % haben, ist der Gewinn im letzten Jahr, also 1994, geringer als im ersten Jahr. Eine ähnliche Situation ergibt sich bei den Fonds-Einnahmen. Ich habe schon gesagt, daß der Fonds „Deutsche Einheit" zunächst als ein Finanzausgleichsinstrument zwischen zwei Staaten konzipiert worden war. Nach der Vereinigung wurde er das Finanzausgleichsinstrument innerhalb eines Staates. Der Bund hatte sich von diesem Fonds mit dem Argument, er habe ja auch zentralstaatliche Aufgaben im Osten, 15% reserviert, obwohl er selbst in den Fonds einzahlte. Auf diese 15 % hat er nun verzichtet. Da aber der Fonds sehr schnell zurückgeht, vermindert sich auch dieser „Gewinn" von Jahr zu Jahr. Für 1991 haben wir weiter erreicht, daß der Bund eine zusätzliche, mehr oder weniger zweckgebundene Investitionspauschale an die Gemeinden von 5 Milliarden D M zahlt. Daraus ergibt sich ein fallender Verlauf der Einnahme. W i r haben so zwar die Verbesserung unseres Finanzvolumens erreicht, haben aber jetzt eine noch stärkere Absenkung in den folgenden Jahren.

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Freie Finanzmittel der neuen Bundesländer und ihrer Kommunen insgesamt

1

40,00

20,00

0,00 1991

H Steuer- und Fondseinnahaen

1992

1993

1994

• Uaschichtungsvoluaen Β 15%-iger Verzicht des D Finanzhilfe des HPK-Beschluß (100%Bundes m Fonds Bundes für die Regelung "Deutsche Einheit" Ko—unen (Investitionspauschale)

Wenn man das nun mit den Pro-Kopf-Einnahmen (West) vergleicht, stellt man fest, daß für das Jahr 1991 nach den Finanzausgleichsverhandlungen vom Februar 1991 (wobei es hier nur um Steuern, Finanzausgleichsleistungen und Fonds „Deutsche Einheit" geht) vergleichbare Relationen hergestellt sind. Man kommt ungefähr auf 85 %, — allerdings nur, wenn man die Investitionspauschale als eine Finanzausgleichsleistung wertet; sonst ist der Prozentsatz niedriger.

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Georg Milbradt

Finanzkraftvergleich der Länder pro Kopf der Bevölkerung (Länder und Kommunen)

1991

1992

S A l t e Bundesländer

1993

1994

0 Neue Bundesländer

Natürlich stagniert der Westen nicht, sondern er wächst. Auf der anderen Seite ergeben sich fallende Einnahmen des Fonds. Daraus ergibt sich ein immer stärkeres Auseinanderklaffen der Einnahmenentwicklung zwischen West und Ost. Das sind nicht meine Zahlen, sondern die offiziellen Zahlen des Bundesfinanzministeriums, wobei ich davon ausgehe, daß die Ansätze für die Steuereinnahmen aufgrund unserer Erfahrungen des ersten Vierteljahres zu hoch angesetzt sind. W i r haben im ersten Vierteljahr zeitanteilig nur 75 % der Steuerschätzung erreicht. Noch schlimmer ist es bei den Gemeinden. Der Eingang an Gewerbesteuer macht bisher einen Bruchteil der Schätzungen aus. Die einheimischen Betriebe werden so gut wie keine Gewerbesteuer zahlen. Dort, wo Vorauszahlungsbescheide von den Finanzämtern ergangen sind, ergeben sich oft Rückerstattungen. Diese Unternehmen haben im Jahre 1990 zuviel gezahlt und müssen i m Jahre 1991 etwas zurückerhalten. Bei den Zerlegungsfällen

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Finanzkraft der Kommunen der neuen Bundesländer 30,00

25,00

20,00

^

15,00

10,00

5,00

0,00 1991

1992

1993

1994

• Koaaunalbeteili- Β Koaaunalbeteiligung an den gung an den Landeseinnahaen zusätzlichen UStFonds "Deutsche Einnhaaen (100%Einheit" Regelung) E3 Koaaunalbeteili- Β Koaaunalbeteili- Β Investitionspaugung an dea 15X- gung an den schale igen Fonds Landessteuerei nVerzicht de» nahaen Bundes Β Steuereinnahmen

— Banken und Versicherungen West — dauert es einige Zeit, bis sich die Dinge administrativ nach Osten verlagern. Dasselbe Bild also noch einmal für die Gemeinden, für die die Dinge noch etwas schwieriger aussehen. Sie sind die Hauptbegünstigten des Kompromisses vom Februar, durch den sie den größten Teil der Zuweisungen bekamen. Sie sind aber auch die Hauptverlierer im weiteren Verlauf, 3 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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nämlich dadurch, daß sie besonders stark auf den Fonds angewiesen sind. Ihr Anteil am Fonds beträgt 40 %, während ihr Anteil an den Steuern beim kommunalen Finanzausgleich nur bei 20 % liegt — neben ihren eigenen Steuern —. Das führt dazu, daß die Degression des Fonds bei ihnen besonders stark zu Buche schlägt. Sie sehen, auch für die Gemeinden ergibt sich eine ähnliche Entwicklung. Man kommt 1991 auf ungefähr 85 %, während man 1994 wieder bei ungefähr 50% liegt. Wenn man Gemeinden und Länder zusammennimmt, ist der Prozentsatz ein bißchen günstiger, aber er liegt in etwa in denselben Relationen. Trotz der zur Zeit geringen Aussagefähigkeit von Bedarfsangaben kann man aber zumindest sehen, daß die Tendenz dieser Entwicklung sicherlich nicht richtig ist. Über das absolute Niveau kann man streiten. Denn im Blick auf das Jahr 1994 wird man doch wohl annehmen müssen, daß sich erstens die Löhne im Osten noch weiter an den Westen angepaßt haben, also ein möglicher Vorsprung bei den Administrationskosten nicht mehr gegeben ist und daß zweitens spätestens bis 1994 die planerischen und sonstigen Hemmnisse beseitigt sind, die jetzt noch dazu führen, daß die staatlichen Investitionen noch nicht richtig in Gang gekommen sind und deswegen relativ wenig ausgegeben wurde. Ob es gelingt, bis 1994 das Subventionsproblem völlig zu lösen, wage ich zu bezweifeln, da das auch eine umfangreiche Veränderung von Strukturen in der Wohnungswirtschaft nach sich ziehen müßte. Anhand dieser Zahlen möchte ich folgendes festhalten: W i r können sicherlich davon ausgehen, daß für das Jahr 1991 die Finanzbeziehungen West-Ost in einer vernünftigen, akzeptablen Weise geregelt sind, wobei ich allerdings nicht weiß, wie sich die Entwicklung tatsächlich darstellt. Kommt es nicht in genügendem Umfang zu den politisch erwünschten Investitionen bei den Ostländern und -gemeinden — aufgrund planerischer und sonstiger Hemmnisse —, dann mag es sein, daß die Finanzsituation von Ländern und Gemeinden am Ende dieses Jahres relativ gut ist. Kommt es aber zu diesen Investitionen, dann sind die Prognosen des Bundes bedrohlich, daß allein die Länder ein kumuliertes Defizit von 17,5 Milliarden D M — wir nehmen an: über 20 Milliarden D M — machen. W i r müssen in einem Jahr rund 1000 D M pro Kopf der Bevölkerung an Schulden zur Finanzierung aufnehmen. Wenn wir jetzt prognostizieren, daß auf der einen Seite die Einnahmen in den nächsten Jahren heruntergehen und daß auf der anderen Seite die Investitionsleistungen und die Personalkosten weiter steigen, dann wird die Deckungslücke sich weiter vergrößern. Die im Finanzplanungsrat bestehende Vorstellung, den Ländern und Gemeinden im Osten könne eine absolut sinkende Ausgabenkurve zugemutet werden — um nämlich die Kreditaufnahme in den weiteren Jahren optisch gering zu halten —, halte ich für

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illusionär, wenn man wirklich das Ziel verfolgt, in absehbarer Zeit Gleichheit der Lebensverhältnisse herzustellen. W i r werden, wenn ich die 1000 D M pro Kopf — die ich als Minimum ansetze — hochrechne, relativ schnell Schuldenrelationen haben, wie sie sich in den westlichen Bundesländern allerdings bei ausgebauter Infrastruktur in 40 Jahren kumuliert haben. Außerdem geht es ja nicht nur um die Betrachtung der Pro-Kopf-Verschuldung, sondern man muß auch, um die Belastbarkeit mit Schulden zu analysieren, die Schulden im Vergleich zur Einnahmekraft betrachten. Wenn das Steueraufkommen bei ca. 20 % im Westen liegt, ist auch unsere Belastungsfähigkeit durch Zinsen der aufgenommenen Kredite geringer. Vom Bund wie auch von den westlichen Bundesländern wird immer gesagt: Das ist ja alles gar nicht so schlimm, ihr habt ja bisher keine Schulden, ihr fangt ja vom Punkt null an! — Bei Licht besehen stellt sich auch das als nicht ganz korrekt heraus. Denn nach dem Einigungsvertrag sind die alten DDR-Schulden, die im Augenblick im Kreditabwicklungsfonds geparkt sind, folgendermaßen aufzuteilen: Einen Teil wird die Treuhandanstalt bekommen, nämlich in dem Umfang, in dem sie es tragen kann. Bei der schwierigen Finanzsituation der Treuhandanstalt kann man unterstellen, daß sie nicht weiter belastet werden kann. Aus den Privatisierungseriösen wird man das ja wohl nicht regeln können. Momentan sind i m Kreditabwicklungsfonds 85 Milliarden DM. Ich gehe davon aus, daß noch wegen Außenhandelsgeschäften, Transferrubeln usw. nachgebucht wird. Rechnen wir mal großzügig aufgerundet 100 Milliarden DM, dann gehen 50 Milliarden an den Bund und 50 Milliarden an die neuen Länder im Osten. Durch 16 Millionen Einwohner geteilt, bedeutet das, daß wir schon jetzt eine Verschuldung von 3000 D M pro Kopf haben, die nur noch nicht ausgewiesen ist und versteckt im Kreditabwicklungsfonds schlummert. Ähnlich verhält es sich bei den Gemeinden. Die Gemeinden haben nach dem Kommunalvermögensgesetz und nach dem Einigungsvertrag das Wohnungsbauvermögen zugewiesen bekommen. Da bei der Währungsumstellung die Wohnungsbauschulden als werthaltig angesehen wurden — ähnlich wie das auch bei den Schulden in der Landwirtschaft oder bei den Schulden der VEBs war —, sind diese bilanziert worden und belasten in Höhe von 35 Milliarden D M den Wohnungsbestand. Diese 35 Milliarden D M sind durch den Einigungsvertrag Kommunalschulden geworden, was wiederum bedeutet, daß die Gemeinden schon 2.000 D M Verschuldung pro Kopf haben. Das ist etwa die Normalverschuldung einer westdeutschen Gemeinde. Man hat im Augenblick die Zinsen und Tilgungen dieses Bereiches ausgesetzt, weil ein Moratorium bis 1993 erlassen wurde. Aber 1994 kommt dieser Bumerang auf die Gemeinden mit Zins und Zinseszins zurück. 3*

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Nach Meinung kluger Leute im Westen ist dies nicht so schlimm, denn den Schulden steht das Vermögen „Wohnungswirtschaft" gegenüber. Bei näherer Betrachtung stellt sich aber heraus, daß ein Teil des Vermögens der Wohnungswirtschaft unter ökonomischen Kriterien schlicht abzuschreiben ist; denn es wird bei einem Teil des Wohnungsbestandes nicht gelingen, selbst mit einem Mietpreisniveau — inklusive aller Nebenkosten — nach westlichen Maßstäben eine vernünftige Kapitalverzinsung zu erreichen. A l l diese Fragen sind bisher nicht gelöst. Bei den Bürgermeistern, die die Situation natürlich kennen, besteht keine große Neigung, bei den Investitionen forsch voranzumarschieren, wenn ihr finanzieller Grundbedarf nicht geregelt ist. Es gibt natürlich auch andere Fälle, wo va banque gespielt wird und Kredite aufgenommen werden, was dazu führt, daß manche Gemeinden technisch völlig überschuldet sind. Bei der Bank wird hingegen als Erfolg gewertet, daß sie in großem Umfang Kredite gegeben und Auszahlungszusagen gemacht hat. Welche Lösung stellen wir uns vor? Da muß ich trennen zwischen dem Wissenschaftler und dem Politiker. Als Politiker sage ich: egal welche Lösung, — Hauptsache, es kommt mehr Geld; ich erhebe die Forderung, die die größte Realisierungschance hat. Man kann die Sache auch etwas systematischer angehen und sagen: W i r müssen als Länder im Osten erreichen, daß wir, wenn wir von dem Subventionierungsbereich absehen, im Prinzip genau so behandelt werden wie ein armes Bundesland im Westen. Denn wenn, wie immer behauptet wird, das Saarland oder Bremen mit seinem Geld nicht auskommt, dann wird man doch nicht unterstellen, daß das dem Land Sachsen mit seiner wesentlich schlechteren Ausgangslage gelingt. Es besteht auch nicht die Hoffnung, daß sich das Problem durch Wachstum löst. Man kann ein schlichtes Rechenexempel aufmachen: W i r liegen im Augenblick bei 25%; wenn man 10% Wachstum pro Jahr unterstellt — das entspräche in etwa den ersten Wachstumsraten in der Erhard-Zeit — und im Westen von einem weiteren jährlichen Wachstum von 3 % ausgeht, dann liegt das Land im Osten in zehn Jahren bei 50 %. Wenn man 17 % Wachstum unterstellt, dann ist man nach zehn Jahren bei 80%. Das wäre in etwa das Niveau, das ein armes Bundesland im Westen heute hat. Aber erstens sind wir im Augenblick noch auf dem Weg nach unten, und zweitens wäre es ein einmaliges Ereignis in der Wirtschaftsgeschichte, wenn es gelänge, über zehn Jahre eine Wachstumsrate von 17% durchzuhalten. Man wird also zumindest für dieses Jahrzehnt nicht damit rechnen können, daß sich die extremen Finanzkraftunterschiede, die auf extremen Wirtschaftskraftunterschieden beruhen, so weit nivellieren, daß das Finanzausgleichsproblem leicht gelöst werden kann.

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W i r müssen also einen, wie auch immer gearteten, dauerhaften Ausgleichsmechanismus anstreben. W i r würden natürlich den Ausgleichsmechanismus, wie er zwischen den Westländern besteht, sehr begrüßen. Damit würde eine Angleichung bis etwa 90 bis 95 % erfolgen. Das würde bedeuten, daß ein Transfervolumen von etwa 40 bis 50 Milliarden D M von den Westländern an die Ostländer pro Jahr zu zahlen wäre. Danach könnten wir auf das Auslaufen der Übergangsregelungen Ende 1994 hoffen. Angesichts der 40 bis 50 Milliarden D M sieht aber jeder, daß eine volle Einbeziehung der Ostländer in das westliche Ausgleichssystem zum Jahre 1995 nicht gelingt, wenn man sich nicht darauf vorbereitet. Die bisherigen Finanzausgleichsleistungen über den Fonds „Deutsche Einheit" haben ja bei den Ländern und beim Bund die Last des Ausgleichs verschleiert, da sie über Kredite finanziert sind. Dies läßt sich auf die Dauer nicht durchhalten. Dazu noch zwei Anmerkungen: Es gibt im Westen zwei Zauberformeln für die Finanzierung. Die eine heißt „Anschubfinanzierung": Der Westen gibt dem Osten einen Schub, dann läuft er, notfalls noch einen zweiten Schub. Das Saarland hat 30 Jahr lang Schübe bekommen und ist immer noch nicht beim Durchschnitt angelangt, sondern braucht weiter Hilfe. Das Problem läßt sich nicht mit Anschub allein regeln. Natürlich ist ein Anschub notwendig, aber trotzdem wird über längere Zeit ein erheblicher Transfer von reichen zu armen Regionen in Deutschland — in diesem Falle von West nach Ost — stattfinden müssen. Die andere Formel heißt „Liquiditätskredit" : W i r sind reich, nur haben wir i m Augenblick kein Geld, — nach dem Motto: „Wenn ich mal bei der Sparkasse vorbeikomme und Geld abhebe, kann ich dir den Kredit zurückzahlen". Das erinnert mich ein bißchen an die Wirtschaftspolitik zur Zeit der Französischen Revolution mit den Assignaten. Damals gab es ja auch verstaatlichtes Vermögen. Es wurde Vorgriff in Form von Geldschöpfung genommen, was dann zur Inflation führte. Glücklicherweise haben wir Kapitalmarktkredite genommen. Die Vorstellung, man könne aus den Erlösen dieses volkseigenen Vermögens — sprich Erlöse der Treuhandanstalt — den nach den Vereinigung aufgehäuften Schuldenberg abtragen, ist illusionär. Das Problem ist über Kredite also nicht zu lösen. Es kann nur gelöst werden, wenn es entweder im Westen wirklich zu einer Umorientierung der Ausgabenprioritäten kommt, insbesondere im investiven Bereich, möglicherweise auch zu einer Absenkung des Standards, oder wenn andernfalls die Steuern erhöht werden. Andere Möglichkeiten sehe ich nicht. Denn man kann die Wiedervereinigung ja nicht rückgängig machen. Die Länder und Gemeinden i m Osten haben nach irgendeiner Zeit einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf die Gleichbehandlung. Wenn man das nicht über

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Länder-Länder-Transfers machen will, also durch horizontalen Finanzausgleich, dann bleibt nur — was ich politisch für einfacher halte — der vertikale Finanzausgleich übrig. Die ostdeutschen Länder würden so behandelt, wie früher Westberlin. Man hat Westberlin — aus gutem Grunde — aus dem Finanzausgleich West herausgehalten, weil man die Strukturunterschiede als zu groß ansah. Diese Lösung führt zu denselbe Ergebnissen wie die erste: Der Bund muß sich dann das Geld von den Ländern oder über Steuererhöhungen direkt beschaffen. Aber es fließt nicht durch die Länderhaushalte; die Länder haben nicht das Gefühl, es würde ihnen etwas weggenommen. Daher mögen die politischen Widerstände geringer sein. Das Problem der Nachholinvestitionen müßte man durch weitere zweckgebundene Transfers, insbesondere des Bundes, finanzieren; mit dem bisherigen Finanzausgleich ist es nicht zu machen. Denn wenn man, sagen wir, im Jahre 1997 bei 90 % Ausgleichswirkung für den Osten angelangt ist, dann wird man mit diesen 90 % nicht in der Lage sein, das Doppelte dessen an Investitionen zu tätigen, was ein armes Bundesland im Westen heute abwickelt. Die neuen Länder haben immer wieder zugestanden, daß sie natürlich selber auch erhebliche eigene Anstrengungen unternehmen müssen, um die Ineffizienzen in ihren Verwaltungsapparaten, die Ineffizienzen auch in er Mittelausgabe und insbesondere die Personalüberhänge zu beseitigen. Nur, das ist auch leichter gesagt als getan. Der Bund hat sich des Personalproblems relativ einfach entledigt duch die „Abwicklung". Er hat schlicht die Ministerien in Berlin geschlossen, weil er eine Verwaltung im Westen hatte. Im Länderbereich liegen die Dinge anders. Man kann ja nicht ganze Universitäten „abwickeln", wenn es Studenten gibt, die Examen machen wollen. Man kann nicht die Schulen „abwickeln" — obgleich es da personelle Überbesetzungen gibt —, ohne an die Schüler zu denken. Man kann vielleicht bestimmte, sehr exponierte Teile von Instituionen oder Teile von Verwaltungen, die nicht mehr benötigt werden, „abwickeln". Man konnte auch nicht zwischen Oktober und Dezember 1990 solche Abwicklungsentscheidungen vernünftig treffen, da ja voll funktionsfähige Landesregierungen noch nicht existierten. Das Problem der Personalanpassung verbleibt bei den Ländern und Gemeinden Ost und ist jetzt in Form von Einzelankündigungen — im wesentlichen nach Regelungen des westdeutschen Arbeitsrechtes — zu lösen. Dies wird eine sowohl politisch wie auch juristisch sehr schwierige Aufgabe sein, die im Westen noch niemand bewältigt hat.

Zusammenfassung der Diskussion

Referat Milbradt Hoffmann spricht die Schuldenbelastung der Gemeinden durch die Wohnungswirtschaft an und fragt, warum es eigentlich dort nicht mit der Privatisierung voran geht. Es werde immer wieder gesagt, die Wohnungen seien nicht verkaufbar, sie seien zum Teil in sehr schlechtem Zustand. Aber das alles sei doch eine Frage des Preises. Zum Bespiel würden Renovierungskosten von durchschnittlich 500 D M pro m 2 genannt. Hiervon ausgehend, lasse sich dann wohl auch ein ungefährer Maßstab für den Preis finden, den man möglicherweise erzielen kann. Jedenfalls könnte man hier rascher vorankommen, indem man die Wohnungen zu Preisen anböte, die vom Markt getragen werden. Die Gemeinden könnten sich auf diese Weise zumindest dieses Problems entledigen. Siebert weist auf die Möglichkeiten privater Finanzierung der staatlichen Ausgaben hin und wundert sich, daß Milbradt hierzu nichts sagte. Bei der deutschen Vereinigung hätte man mehr Chancen gehabt, gewisse Dinge noch einmal neu zu überdenken. Stattdessen würde nun das westdeutsche Regulierungssystem, das Planungsrecht und auch das Ausgabengebaren auf die ostdeutschen Länder übergestülpt. Es sei hier eine Chance zur Modernisierung des gesamten institutionellen Bereichs im Prinzip nicht in der Diskussion aufgegriffen und damit vergeben worden. Die Privatisierung von Staatsausgaben sei nun unter dem Aspekt, daß die Infrastruktur schnell erstellt werden muß, um so dringlicher. Man sehe aber, wieviel Zeit man gerade im Zusammenwirken von staatlichen Entscheidungseinheiten, von budgetären Prozessen braucht, bis irgendein Vorhaben überhaupt erst einmal in einen Staatshaushalt aufgenommen ist. Schatz fragt, warum man nicht dazu übergeht, die Mietsubventionen zu streichen und völlig durch Wohngeld zu ersetzen, um auf diese Weise die Wohnungen auch für die jetzigen Mieter interessant zu machen. Es sei viel von dem geringen Wert des Wohnungsbestandes die Rede, es gehe aber natürlich auch um die Grundstücke. Viel werde über die Privatisierung von alten Betrieben gesprochen, aber die Treuhand halte ja auch etwa ein Drittel des Territoriums der ehemaligen DDR. Davon sei bisher nur ein winziger Bruchteil privatisiert worden. Hier liege doch eine enorme finanzielle Quelle für die Treuhandanstalt und wohl auch für die Kommunen, die ja ebenfalls

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viel Grundbesitz hätten oder bekommen würden. Von daher könnten sich die Schulden je Einwohner relativieren. Leibfritz fragt zunächst nach Einzelheiten zur Ermittlung der von Milbradt vorgestellten Schaubilder. Insbesondere merkt er an, die Referenzperiode 1990/91 bringe möglicherweise Verzerrungen in die Betrachtung, weil es eine Umbruchsituation war. Auch auslaufende Subventionen müßten berücksichtigt werden, um eine Art normativen, bereinigten Finanzbedarf für die Ostländer zu berechnen. Hinzu komme auch die Beschäftigung. Man werde ja in Zukunft nicht die Beschäftigung haben können und haben wollen, die jetzt gegeben ist. Auch hier sei eine Bereinigung vorzunehmen. Leibfritz meint, daß nach all diesen Bereinigungen mit einer nicht ganz so krassen Verschlechterung der Finanzlage zu rechnen sei. Er stimmt aber mit Milbradt überein, daß der sehr degressive Verlauf des Fonds Deutsche Einheit mit Sicherheit so nicht zu halten sein werde. Leibfritz stellt weiterhin eine grundsätzliche Frage: Die Ostländer wollten 1994/95 zumindest so behandelt werden wie die armen Westländer; es sei aber fraglich, ob dieser Ehrgeiz realistisch ist. Hier handele es sich um eine Verteilungsrechnung, und man gehe davon aus, daß man in vier bis fünf Jahren — ebenso wie übrigens auch bei den Löhnen — auf West-Niveau sein werde, wohl wissend, daß man es im Osten von der Wirtschaftskraft her nicht sein kann. Es müsse schon jetzt überlegt werden, ob der gesamte Finanzausgleich nicht dahingehend geändert werden muß, daß die reichen die armen Länder nicht auf 90 bis 95 % hochziehen können, sondern nur auf 70 %. Auch dann komme man noch zu stolzen Transferzahlungen. Leibfritz befürchtet, daß man, um eine sehr schnelle Angleichung (in fünf Jahren) zu erreichen, sehr viele Mittel in den Staatsbereich und in den Konsumbereich stecken müßte und zu wenig Transfers für den eigentlichen investiven Bereich übrig blieben. Auch Fuest bezweifelt, daß es realistisch wäre, anzunehmen, daß man 1994 in den neuen Bundesländern einen Länderfinanzausgleich auf horizontaler Ebene nach Art. 107 Grundgesetz in Höhe des Vorwegausgleichs — Auffüllung auf 90 % — installieren könnte. Es sei eine Zahl genannt worden: 40 Milliarden D M müßten dann die alten Bundesländer abgeben. Es wäre wohl sinnvoller, stattdessen darüber nachzudenken, wie man den Länderfinanzausgleich modifizieren könnte. Die alten Bundsländer hätten sich lange über vergleichsweise triviale Größenordnungen gestritten und stritten sich immer noch darum — bis hin zu Normenkontrollklagen. Das alles seien Haarspaltereien gegenüber den zukünftigen Zahlen. Fuest verlangt stattdessen eine größere Lösung; es reiche nicht aus, nur irgendwelche Steuern zu erhöhen. Man könnte natürlich auch fragen, warum man den Fonds nicht weiter aufstockt, um zumindest die Degression zu verhindern.

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Milbradt nimmt zunächst zum Problem der Finanzierung von Wohnungsbesitz Stellung: Das sei oft außerordentlich schwierig; er habe einmal versucht, in Westdeutschland 40 Wohnungen in einem Haus einzeln zu verkaufen. Das sei ihm nicht gelungen. Er habe dann aufgegeben und an einen einzigen privaten Investor verkauft. Übrigens könne man auch Schwierigkeiten haben, drei Wohnungen zu verkaufen und die anderen 37 zu behalten. — Das nur zu dem technischen Problem. — Auf die speziellen Probleme im Osten eingehend, weist Milbradt zunächst darauf hin, daß offen ist, wie es mit den Mieten weitergehen wird. Es sei außerordentlich schwer, jemandem zu raten, eine Wohnung zu kaufen oder zu verkaufen. Je schneller die Mietsubventionierung abgebaut wird, je eher sich Marktpreise bilden, müßte ein Anreiz zur Privatisierung gegeben sein. Es gelte aber ein weiteres Moment zu bedenken: Die Zahlen bei den Objekten, die bisher im Zusammenhang mit der Renovierung — und zwar auf niedrigem Standard — untersucht worden sind, gingen weit über jene 500 D M je qm hinaus, die gelegentlich genannt würden. Nach seinen Rechnungen sei ein großer Teil der Wohnungen ökonomisch Schrott. Der einzige Grund, die Wohnungen weiter zu erhalten, bestehe darin, zu verhindern, daß die Bewohner obdachlos werden. Wenn man die spezifischen Wärmekosten, die spezifischen Reparaturkosten, die Lebensdauer und auch die sehr hohen spezifischen Verwaltungskosten in Rechnung stellte, dann ergäbe sich selbst bei Unterstellung einer Bruttomiete wie im Westen — etwa im sozialen Wohnungsbau — dort keine Eigenkapitalverzinsung, schon jetzt nicht! Und nun sollte noch jemand investieren! Wenn man unterstelle, daß — wie vielfach üblich — die Investitionen mit 11 % auf die Miete umgelegt werden, dann komme man auf Miethöhen wesentlich über westdeutschem Niveau, bei trotz aller Renovierung immer noch schlechteren Wohnungen. Bei allen Anstrengungen in Richtung auf Privatisierung sei abzusehen, daß in drei oder vier Jahren nur ein Bruchteil der Wohnungen privatisiert sein werde. Privatisierung im Wohnungsbau sei nur über zwei Wege erreichbar: Einmal über die Restitution. Da ist Milbradt allerdings auch sehr skeptisch. Es seien Zahlen genannt worden: in Dresden 40.000 Anträge und 700 Entscheidungen. Für Leipzig gebe es eine vergleichbare Zahl, wobei der Anteil der Entscheidungen noch niedriger sei. Ein großer Teil der Restitutionen laufe also nicht an, und jeder Restitutionsfall sei auch ein potentieller Investorfall; denn entweder werde das Grundstück instand gesetzt, oder es gehe auf die Märkte. Das Hauptproblem im Immobilienbereich — auch ein Problem der Treuhand — sei, daß keine Märkte existieren. Die Organisation von Immobilienmärkten sei somit die Hauptaufgabe in diesem Bereich. Ein Beispiel aus Dresden: Büroräume in schlechtester Qualität seien zu einer Miete zwi-

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sehen 30 und 50 D M pro Quadratmeter erhältlich. Bei diesen Preisen müßte normalerweise jeder Investor nach Dresden gehen, um Bürogebäude zu bauen und zu vermieten. Diese Funktion des Preises wirke jedoch nicht, solange das Angebot administrativ behindert ist. Das gleiche sei im Mietwohnungsbereich zu verzeichnen. Es würden praktisch keine Miethäuser mehr gebaut, weder von den Gemeinden noch von privaten Investoren, selbst zu West-Niveau nicht — mit Ausnahme ganz weniger Fälle —, weil dort Eigentumsfragen und Planungsfragen eine Rolle spielten. — (Siebert : Um so wichtiger wäre die Privatisierung, auch für die Bauwirtschaft!) — Wenn es gelänge, genügend vernünftige Wohnungen zu bauen, würde sich ja sehr schnell herausstellen, daß man mit Neubauten sehr viel besser wohnt und bessere Mieten erzielen kann als mit Altbauten. Dann würde sich auch ein Druck auf die alten Wohnungsverwaltungen ergeben, aktiv zu werden. Das Problem der MißWirtschaft der Neuen Heimat habe ja auch nicht in Zeiten des Mangels gelöst werden können, sondern erst dann, als es einen Wohnungsleerstand gab. Man könne also einen Teil dieses Problems nur über die Mobilisierung des Angebots lösen. Zur privaten Finanzierung spricht Milbradt Siebert direkt an: Gern dort, wo es möglich ist, wo auch eine private Refinanzierung gegeben ist, etwa im Abwasserbereich. Nur, eine normale Infrastruktur privat zu finanzieren, etwa mit Leasingmodellen, sei ja im Grunde auch eine versteckte Staatsverschuldung, und dann sei es eine Rechenfrage, was billiger ist. Entsprechendes gelte etwa für die Vorstellung, die Autobahnen in Ostdeutschland mit Maut zu belegen. Man könne natürlich Privatisierung auch anders machen: nicht nur durch Neubau, sondern auch durch Verkauf aus dem Bestand. Er empfiehlt die Strecke Köln-Frankfurt. (Heiterkeit und Beifall) Und erst dann Bautzen-Görlitz! (Erneute Heiterkeit) Zu den Mietsubventionen merkt Milbradt an, auch seiner Meinung nach müßten sie so schnell wie möglich abgebaut werden. Nur handele es sich hier nun einmal um politisch sehr schwer handhabbare Größen. Er stellt die rhetorische Frage, wie lange der Abbau von Subventionen im westlichen Deutschland gedauert hat, und zwar auch in den Bereichen, wo man die Notwendigkeit eingesehen hat. Also würden auch massive Aktivitäten in Richtung eines Subventionsabbaus nicht dazu führen, daß man in ein oder zwei Jahren von dem Thema herunter wäre. Hinzu komme, daß eine Umstellung auf Wohngeld auch wieder administrative Erfordernisse nach sich zieht. Bei voller Überwälzung würden etwa 80 % der Familien wohngeldberechtigt. Zur Frage der Bedarfsmessung und den von ihm im Schaubild gezeigten Kurven merkt Milbradt an, er habe sich bewußt, um immer auf der sicheren Seite der Argumente zu sein, auf die Einnahmenseite beschränkt. Man könnte sagen, die Schätzungen seien falsch; allerdings hätte dann auch der Arbeitskreis Steuerschätzungen falsch gelegen. Das Problem sei jedenfalls,

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daß die Steuereinnahmen selbst bei maximalem Wachstum nicht die Degression des Fonds Deutsche Einheit kompensieren könnten. Die Frage, was in Zukunft geschieht — Einbeziehung in den Länderfinanzausgleich bzw. den vertikalen Finanzausgleich, wie auch immer —, stehe spätestens 1994 an. Eine weitere Finanzieurng über Kredit halte er nicht für sinnvoll. Denn das tatsächliche Problem, das sich hinter dem Finanzausgleich verbirgt, sollte der Realtransfer sein, und der würde verschleiert werden. Hinsichtlich des Bedarfs müsse davon ausgegangen werden, daß es nicht möglich sein werde, unter Beibehaltung der Rechtseinheit i m Osten völlig andere Ausgabestrukturen zu haben als im Westen. Die Rechtseinheit aufzugeben und unterschiedliche Sozialhilfeniveaus vorzusehen, wäre möglicherweise ökonomisch sinnvoll, ζ. B. um die Anpassung der Löhne nicht zu beschleunigen. Viele Bürger im Osten wüßten ja gar nicht, daß sie sozialhilfeberechtigt sind. Das würden die Gewerkschaften ihnen aber vorrechnen, und dann werde von da aus ein Druck in Richtung auf Anpassung entstehen, wenn Sozialhilfe auf westdeutschem Niveau vorgesehen ist. Die Vereinigung sei aber bekanntlich anders durchgezogen worden; sie sei als Vereinigung im Sinne von Rechtseinheit konzipiert. Jetzt anschließend die Rechtseinheit aufzugeben, weil sie zu teuer würde, sei indiskutabel. Wer darüber nachdenkt, müsse sich auch fragen lassen, ob das Sozialhilfeniveau im Saarland richtig ist, oder ob es nicht auch abgesenkt werden müßte. Im übrigen müsse man bei dem Thema auch berücksichtigen, daß durch den Wegfall der Grenzen und die Herstellung der Rechtseinheit sich in vielen Bereichen ein einheitlicher Arbeitsmarkt gebildet hat. Für den Arbeiter und Angestellten stelle sich gar nicht so sehr die Frage, wieviel sein Betrieb zu zahlen in der Lage ist, sondern er müsse sich fragen: Wieviel bin ich auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt wert? Das stelle er fest, indem er am Samstag die Zeitung liest, und auch die Ost-Zeitungen brächten viele Angebote aus dem Westen. So ergäben sich nach wie vor Abwanderungen von 10- bis 20.000 Einwohnern pro Monat. Hier handele es sich also wohl nur noch um eine theoretische Diskussion. Die Rechtseinheit sei in Wirklichkeit nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn es stimme, daß die Ostdeutschen den schlechteren Teil der Geschichte mitbekommen haben, dann gebe es auch einen gewissen moralischen Anspruch auf Transfers, unabhängig von der Frage der Leistungsfähigkeit. Sicherlich könne man sich über 10 oder 20% nach unten oder oben — je nach den örtlichen Bedingungen — unterhalten. Aber das Problem der Finanzierung der Infrastruktur sei auf diese Weise jedenfalls nicht zu lösen. Die Vorstellung, man könne pro Kopf im Osten auf Dauer mit weniger auskommen als im Westen und gleichzeitig eine Infrastruktur aufbauen, ist für Milbradt naiv.

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Zu der Frage von Siebert, warum man nicht auch andere Möglichkeiten der Finanzierung anstrebt, erwidert Milbradt, er würde das gern tun, nur stehe man unter einem enormen Zeitdruck und müsse mit schlecht ausgebauten Verwaltungen auskommen, die kaum über Kräfte verfügten, die etwas von der Sache verstehen, insbesondere in diesem Bereich. Man habe natürlich jede Menge West-Berater. Es handele sich dabei aber um Beamte, die meist „verdammt viel Staat" gewöhnt seien. Die Reformdiskussion, die der Westen nicht geschafft hat, intern im Osten lösen zu wollen in einer Situation, wo man nicht die entsprechenden Leute hat, sei Harakiri. Es bleibe also nichts anderes übrig, als schlicht Modelle zu kopieren, die bisher halbwegs funktioniert haben. Alles andere gehe an der Realität vorbei, einmal abgesehen von privaten Leistungen in Bereichen, wo Refinanzierungsmodelle bestehen, also Abwasser usw., wo es ja auch im westlichen Ausland Beispiele gibt. Im weiteren geht Milbradt auf einige generelle Fragen ein, zunächst auf die 100 Milliarden DM, die im Bundeshaushalt für die Ostländer vorgesehen sind. Dazu gehöre ζ. B. auch der Bundesgrenzschutz an der Neiße, die Bundeswehr i m Osten, auch die Ergebnisse der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Es handele sich also nicht um das Transfervolumen des Bundes, sondern um alle auf den Ostteil entfallenden Ausgaben. Das seien 25 % des Etats, und die ostdeutsche Bevölkerung mache 20 % aus. Natürlich sei auch Umverteilung enthalten, aber eben nicht im Betrage von 100 Milliarden. Zweitens: Bei den für den Aufbau im Osten anzusetzenden Mitteln handele es sich nur um kleine Prozentsätze des Sozialprodukts, die in einigen Jahren durch Wachstum aufgebracht werden könnten. Auch die Größenverhältnisse müßten dabei beachtet werden: Der großen Alt-Bundesrepublik mit 80 % der Bevölkerung stehe die kleiner Ex-DDR mit 20 % der Bevölkerung gegenüber bzw. 94 % Wirtschaftspotential auf der einen Seite und 6% Wirtschaftspotenial auf der anderen Seite. Der Staatssektor im Westen unter Einbeziehung der Sozialversicherung liege im übrigen bei 750 bis 800 Milliarden DM. Milbradt versichert, die Aufgabe, jenen Prozentsatz in den Etats im Westen einzusparen, sei durchaus lösbar, ohne daß die Bevölkerung schlechter gestellt würde. Es brauche schließlich nicht jede Straße i m Westen verkehrsberuhigt zu werden, solange die Infrastruktur im Osten darniederliegt. Es sei auch nicht nötig, die Reinigungsleistung von Kläranlagen i m Westen von 95 auf 97 % zu steigern, wenn mit dem gleichen Geld in Dresden überhaupt erst einmal eine grundständige Kläranlage geschaffen werden kann, mit der man von Null auf 40 % kommt. (Zustimmung) Auch im Blick auf die Fische in der Nordsee sei sicherlich die Investition in Dresden rentabler als jene andere i m Westen. Es gelte ja auch i m Westen das Gesetz

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des abnehmenden Grenznutzens. Wenn man also rein ökonomisch rechnete, müßten viele Investitionen eher i m Osten statt im Westen stattfinden. Im übrigen handele es sich bei vielem, über das im Westen diskutiert wird, um herbeigeredete Befindlichkeiten. Ihn erfüllte immer größere W u t angesichts der Diskussionen, die Politiker führen müßten mit Administratoren in der Bundesverwaltung, die eigentlich nie im Osten gewesen sind, die sich vielleicht mal die Semper-Oper in Dresden anschauen, dann aber schnell wieder mit dem Flugzeug verschwinden. (Heiterkeit) Man sollte also die enormen Struktureinbrüche nicht unterschätzen. Milbradt erinnert an die Situation in Rheinhausen, als dort ein Stahlwerk geschlossen werden sollte. Es sei damals nur um potentielle Arbeitslosigkeit gegangen, um einen Anstieg der regionalen Arbeitslosigkeit auf 20 bis 25%. Damals sei ein politischer Sturm losgebrochen, aber heute sage man den Ostdeutschen: Stellt euch bitte nicht so an! Wenn man jetzt über Subventionen rede, dürfe man vielleicht auch die 75.000 D M pro Kopf im Steinkohlenbergbau erwähnen, während gleichzeitig der Braunkohlenbergbau im Osten mehr oder weniger stillgelegt werden soll. Es handele sich um Arbeitsplätze für die gleiche Energie, nur liege die Braunkohle weiter östlich. Wenn von Kohle als nationaler Energiereserve gesprochen werde, müsse das für die Braunkohle wie für die Steinkohle gelten. Wenn man sagte, es sei beides nicht subventionswürdig, dann solle man bitte auch im Westen die Konsequenzen ziehen. — Entsprechendes gelte in vielerlei anderer Hinsicht. Die Lösung des Transferproblems sei die wichtigste politische Führungsaufgabe überhaupt für die nächsten vier bis acht Jahre. Nicht die Unternehmensbesteuerung oder die Pflegeversicherung seien jetzt das Hauptthema. Übergeordnet sei das von ihm aufgezeigte Problem, und es sei lösbar, weil die Zahlen beherrschbar seien. Wenn man sich diesem Thema nicht stellte und es sozusagen dahindümpeln ließe, dann könnte sich im Osten wie im Westen soviel Sprengstoff ansammeln, daß eine vernünftige Regelung nicht mehr möglich wäre. Schließlich beklagt Milbradt auch einige praktische Schwierigkeiten. Zwar sei jetzt das Geld für Investitionen an die neuen Länder überwiesen, doch bestehe die Gefahr, daß erhebliche Mittel verfielen. Es sei erst kürzlich die Verwaltungsvereinbarung über die Städtebauförderung und die Wohnungsbauförderung unterschrieben worden. Bis dahin hätten also überhaupt keine Aufträge herausgegeben werden können. Im Umweltbereich sei die entsprechende Vereinbarung bis dato nicht unterschrieben, in anderen Bereichen auch noch nicht. Es werde bald Sommer sein bis der Vorgang dann an die Gemeinden ginge; mit den Bescheiden sei allenfalls im August zu rechnen. Die Zeit, in der man draußen noch bauen kann, sei dann bald zu Ende. Es sei also nicht zu erwarten, daß die für 1991 geplanten Mittel bei den

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Zweckzuweisungen auch abfließen könnten. Denn das hätte vorausgesetzt, daß am Anfang des Jahres Finanzklarheit herrschte; sie herrschte aber teilweise i m Mai noch nicht.

Neustrukturierung durch Privatisierung — die Rolle der Treuhandanstalt Von Hilmar Schmidt, Berlin

Sehr geehrte Herrn, für die Einladung der Treuhandanstalt zur Jahresversammlung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute darf ich mich — auch im Namen von Frau Breuel — herzlich bedanken. Die Einladung bietet Gelegenheit, in dem wichtigen Kreis wissenschaftlicher Multiplikatoren, die die Herausbildung der Sozialen Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern intensiv forschungsseitig begleiten, einige Ergebnisse der Privatisierung vorzustellen und Probleme bei der weiteren Realisierung des Treuhandauftrages anzusprechen. Mein heutiges Thema war vor einem Jahr noch nicht denkbar. Die Treuhandanstalt existiert zwar bereits seit März 1990, aber sie ist unter ganz anderen Voraussetzungen — als Anstalt zur Bewahrung des Volkseigentums — gegründet worden. Tatsache ist, daß erst mit dem Treuhand-Gesetz „Privatisierung" vom Fremd- und Feindwort zum Inhalt des Treuhand-Auftrags wurde. Aus den Anfängen vom März bis Juni 1990 ist ein einziges Element geblieben — die Umwandlung ehemals volkseigener Betriebe in rechtsfähige Formen einer privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung. Aber bereits dieser weit von der tatsächlichen Privatisierung des volkseigenen Produktiwermögens entfernt liegende Prozeß hatte seine Schwierigkeiten. Faktisch über 40 Jahre war in der ehemaligen DRR das Gesellschaftsrecht verschüttet. Es ist nicht gelungen, bis zum 1. Juli 1990, d. h. bis zum Tage der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion diesen Formwandel ehemaliger volkseigener Betriebe und Kombinate auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage zu vollziehen. Per Treuhandgesetz wurden am 1. Juli noch etwa viereinhalbtausend Kombinate und Betriebe in Kapitalgesellschaften umgewandelt. Eine zweite Schwerpunktaufgabe der Treuhandanstalt ergab sich aus der Tatsache, daß mit der Währungsumstellung über 7.000 Kapitalgesellschaften an den Tropf der Treuhandanstalt gehängt wurden. Das heißt, aufgrund

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akuter Zahlungsschwierigkeiten der Unternehmen wurden Liquiditätsbürgschaften in einem bisher wohl nicht dagewesenen Ausmaß vergeben. Es sei daran erinnert, daß bereits in jener Phase gefordert wurde, stillzulegen, was marktwirtschaftlich nicht überlebensfähig ist. Das aber zu einem Zeitpunkt, wo beim besten Willen niemand sagen konnte, ob es sich tatsächlich um Rentabilitätsfragen des Unternehmens handelt oder um Probleme, die sich aus akuten Zahlungsschwierigkeiten, aus der organisatorischen Umstellung auf veränderte Zahlungsbedingungen ergaben. Diese Aktivität hat die Treuhandanstalt damals in höchstem Maße gefordert, so daß im Grunde die eigentliche Privatisierung und auch die Ausrichtung auf die Dimension des Auftrages erst begann mit der Übernahme der Präsidentschaft durch Dr. Rohwedder und mit der damit unmittelbar einsetzenden Privatisierung im Laufe des Oktobers. Die Treuhandanstalt hat im zweiten Halbjahr 1990 insgesamt 400 Privatisierungen vorgenommen. Der aktuelle Stand ist so, daß etwa 1.600 Unternehmen privatisiert sind — bei insgesamt über 15.000 abgeschlossenen Privatisierungsfällen. Bezogen auf industrielle Unternehmen konnte damit im Verlauf diesen Jahres — bis 30. April — die Anzahl der Privatisierungen etwa verdreifacht werden. Vereinfacht gesagt: 1991 wurde in der Hälfte der Zeit bisher die dreifache Anzahl von Unternehmen an neue Eigentümer übertragen. Bei objektiver Bewertung kann gesagt werden: Es ist eine deutliche Beschleunigung bei der Privatisierung erreicht. Die quantitativen Ergebnisse belegen das. Gleichzeitig wird daraus deutlich, daß eine Vielzahl von Aktivitäten eingeleitet wurden, um den Entstaatlichungsauftrag qualitativ ausfüllen zu können. Hier wird bewußt vom „Entstaatlichungsauftrag" gesprochen; denn die Privatisierung von Unternehmen ist zwar die Hauptschiene der Realisierung des Treuhand-Auftrags; aber darüber hinaus stehen noch eine Reihe anderer Aktivitäten an, die genauso wie die Privatisierung erst die Schaffung von Voraussetzungen verlangten. Zum Entstaatlichungsauftrag gehört insbesondere auch die Übertragung von Vermögenswerten aus dem Treuhandvermögen in das Eigentum der Kommunen bzw. der Länder. Hinsichtlich der Vorstellungen der Kommunen darüber, was ihnen an Eigentum zusteht, was die Treuhand übertragen sollte, waren die Voraussetzungen und Bedingungen nicht weniger kompliziert und von der Problematik her nicht geringer einzuschätzen als ζ. B. die Frage der offenen vermögensrechtlichen Probleme im Zusamenhang mit den rechtsstaatswidrigen Enteignungen. Ein weiteres Problem: Die Treuhandanstalt hat bereits Ende Oktober 1990 gesetzgeberischen Handlungsbedarf angemahnt, um die Privatisierungshemmnisse abzubauen. Es liegen über 1,2 Millionen Restitutionsansträge vor. Die Treuhandanstalt geht davon aus, daß die Restitutionsgläubiger auch berechtigte Antragsteller sind. Aber bis zum heutigen Tage ist es nicht

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möglich, genau zu quantifizieren, welcher Anteil des Treuhandvermögens diesen Restitutionsansprüchen unterliegt. Da geht es einmal darum, daß bisher § 3 Abs. 3 des Vermögensgesetzes der Treuhandanstalt eine Art Notgeschäftsführung zugewiesen hatte. Eine solche Beschränkung des Privatisierungsauftrages wurde im Grunde erst mit dem Artikelgesetz Ende März aufgehoben, mit dem der Grundsatz des Gesetzes über besondere Investitionszwecke, Grundstücke und Gebäude an einen interessierten Dritten auch bei vorliegenden Restitutionsanträgen unter bestimmten Bedingungen veräußern zu können, auf Unternehmen ausgedehnt wurde. Hinzu kommt, daß die Entscheidungen über Restitutionsanträge nicht bei der Treuhand lagen, sondern von den Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen zu treffen sind. Die Treuhandanstalt hat praktisch — das war das Leben — Privatisierungsverhandlungen mit Investoren geführt, obwohl von den Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen, die im Aufbau waren, also gerade eingerichtet wurden, im Grunde noch keine Entscheidungen getroffen waren. Heute ist die Treuhandanstalt auf der Grundlage des Artikelgesetzes in der Lage, die Privatisierung voranzutreiben, indem sie insbesondere investierenden Erwerbern eine A r t Investitionsbescheinigung ausstellt, d. h. der Grundsatz angewandt werden kann, daß eine Privatisierung an einen unternehmerisch aktiven Eigentümer vor Restitution ergeben darf. Hinzu kommt die Tatsache, daß die Treuhandanstalt erheblich mit den 72er Enteignungen belastet war. Bis zum 3. Oktober wurden etwa 3.000 Anträge entschieden. Über 9.000 Entscheidungen stehen noch aus. Hier ist wiederum der Gesetzgeber gefordert, denn eine Reihe von Anspruchsberechtigten oder Geschädigten aus Enteignungen machen im Grunde die Entscheidung über die Naturalrestitution von der Regelung der Entschädigung abhängig. Der Bundesjustizminister hat deutlich gemacht, daß intensiv an der Frage der Entschädigung gearbeitet wird, so daß der seit 3. Oktober eingetretene Stau bei Rückgabeentscheidungen bezüglich 72er Geschädigter dann auch zügig beseitigt werden kann. Um es deutlich zu sagen: Unseres Erachtens hat bei der Bewertung der Tätigkeit der Treuhandanstalt in der Vergangenheit eine zu geringe Rolle gespielt, daß sie sich auf verschiedene Vermögenssegmente und ihre unterschiedlichen Rückgabebedingungen einstellen mußte, wobei ζ. T. auch die gesetzlichen Regelungen erst zu schaffen waren. Um das nur an einem Beispiel darzustellen: Beim Kommunalvermögensgesetz gab es zahlreiche Anfragen, die auf sehr überzogene Vorstellungen dessen hinausliefen, was zu kommunalisieren ist. Das reichte von Objekten der sowjetischen Streitkräfte — die nach wie vor von ihnen genutzt werden 4 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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— über ganze Eisenbahnlinien bis zu einer Vielzahl von betrieblichen Ferieneinrichtungen, die zum Vermögen von Kapitalgesellschaften gehören. Damit soll das Problem nur angedeutet werden, in welchem Spektrum von Restrukturierungsaufgaben und Transformationsfragen der Eigentumsverhältnisse die Treuhandanstalt sich real bewegt hat und bewegen mußte. Zu der Hauptfrage gehört stets, daß die Treuhandanstalt nicht durch ein inkonsistentes Zielbündel überlastet wird, sondern daß die Privatisierung im Sinne der Übernahme von Treuhand-Unternehmen durch aktive neue Eigentümer die Priorität bleibt und die Treuhandanstalt alles unternimmt, ihre Tätigkeit so auszubauen, daß sie den quantitativen und qualitativen Dimensionen dieses Auftrages gerecht wird. Es sollen hier einige Aktivitäten der letzten Wochen und Monate genannt werden, die belegen sollen, wie die Treuhandanstalt intensiv darum ringt, die notwendige marktwirtschaftliche Professionalität bei der Privatisierung zu erreichen: Da ist erstens die Tatsache, daß die Treuhandanstalt selbst tiefgreifend reorganisiert wurde, indem praktisch sechs Vorstands- bzw. Unternehmensbereiche Verantwortung tragen für die Privatisierung in Kombination jeweils mit Funktionalverantwortung. Das heißt, von dem ursprünglichen Vorstandsbereich „Privatisierung" sind die Privatisierungsaufgaben auch auf andere Vorstandsbereiche ausgedehnt worden, womit die Treuhandanstalt ihre Aufnahmefähigkeit für Privatisierung im Grunde vervielfacht hat. Zweitens ist eine massive Dezentralisierung von Entscheidungen herbeigeführt worden. Bis Ende des Jahres 1990 wurden etwa zwei Drittel der Unternehmen an die Niederlassungen übergeben, die im Rahmen einheitlicher Grundsätze eigenverantwortlich die Unternehmen treuhänderisch begleiten. Fakt ist auch, daß, gemessen an der Anzahl der Privatisierungsfälle, die Privatisierungsaktivitäten heute besonders in den Niederlassungen vorangetrieben werden, daß sich also die Masse der Privatisierungsfälle zunehmend auf die Niederlassungen verlagert. Insofern gibt es eine massive Dezentralisierung von Entscheidungen durch den Aufbau von 15 Niederlassungen, die bezüglich der Privatisierung im Grunde die selbe Kompetenz haben wie die Treuhandanstalt-Zentrale selbst. Drittens gehört dazu — was von Ihnen vielfach angemahnt wurde — die größtmögliche Nutzung externen Sachverstands. Ausdruck dessen ist ζ. B. der Einsatz externer Verkaufsteams in den Niederlassungen. Das betrifft auch die Einbeziehung von Investmentbanken, Investmentberatern und Beteiligungsgesellschaften in die Privatisierung. Die Treuhandanstalt verspricht sich davon eine weitere marktwirtschaftliche Durchdringung des Privatisierungsprozesses, indem zu großzügigen Konditionen — weltweit exklusiv — Investmentbanken Angebotspakete übergeben werden, um damit den Privatisierungsprozeß zu beschleunigen.

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Nicht zuletzt soll erwähnt werden — was ja auch Anerkennung gefunden hat — die Vergrößerung der Transparenz dessen, was zum Verkauf durch die „Treuhand-Börse" steht. Gemeint ist das Angebot an Kaufinteressenten, sich praktisch aus der Treuhand-Datenbank ihr Kaufobjekt auswählen zu können. So kann heute Kaufinteressenten insofern eine erste Offerte gemacht werden, indem ihnen per Computer — bei Hoppenstedt, bei den IHKs, bei den Außenhandelskammern — ein Überblick gegeben wird, was im Privatisierungsangebot der Treuhand ist. Weit über 6.000 Unternehmen sind im öffentlichen Angebot — und es wird genutzt! Von der Frühjahrsmesse über die Hannover-Messe — d. h. innerhalb weniger Wochen — sind dadurch weitere zweieinhalbtausend Kaufinteressenten bekannt geworden bzw. haben potentielle Erwerber ihre Kaufabsichten erklärt. In der Vergangenheit war die Privatisierung für die Treuhandanstalt ein Abtragen von Anforderungen. Die Treuhandanstalt hat sich zunehmend darauf eingestellt, zu einem aktiven Marketing zu kommen. Aktives Marketing heißt nicht nur öffentliches Anbieten, sondern auch, die Privatisierungsfähigkeit des Unternehmensbestandes durch Zergliederung, Zerlegung, Spaltung und Entflechtung auch für mittelständische Erwerber attraktiver zu machen. Mit einem solchen aktiven Marketing hofft die Treuhandanstalt auch, ausländische Investoren stärker bewegen zu können, Treuhand-Untemehmen zu kaufen. Der Anteil ausländischer Investoren liegt bisher — das ist durch die Presse gegangen — unter 10 %. Es geht darum, daß man ein Unternehmen nicht identifizieren kann — das ist weitgehend ausgeräumt bzw. wird vom ausländischen Kaufinteressenten anerkannt — sondern es sind folgende zwei Gründe, die ausländische Interessenten abhalten: Da ist erstens die Tatsache der ungeklärten eigentumsrechtlichen Fragen, bis hin zur Grundbucheintragung. Die Treuhandanstalt hatte äußerste Schwierigkeiten in dieser Frage, weil ja nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen auch grundpfandrechtliche Besicherungen durch die Treuhand-Unternehmen nicht möglich waren. Die Treuhandanstalt hat bei der finanziellen Begleitung gesagt: erst Ausschöpfung aller eigenen Besicherungsmöglichkeiten! Aber durch den Nichtvollzug der Grundbuchberichtigungen taten sich die Betreffenden schwer, eigene Besicherungsmöglichkeiten der Treuhand-Unternehmen zu akzeptieren. Für ausländische Investoren besteht das Problem natürlich in gleicher Weise. Es gibt jetzt Bewegung, vor allem auch dadurch, daß die Länderregierungen alles unternehmen, um das Liegenschaftswesen auf die Höhe der Anforderungen zu bringen, wie sie gestellt werden müssen. Aber auch hier gibt es ein riesiges Mengenproblem.

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Es gibt eine zweite Tatsache: Ausländer empfinden die Vielzahl von Förderangeboten und staatlichen Sonderhilfen zwar als hilfreich. Aber es besteht zum Teil Unsicherheit, ob ausländische Investoren in bezug auf die Inanspruchnahme staatlicher Sonderhilfen und Förderangebote mit inländischen Unternehmen gleichgestellt sind. Was den Privatisierungsauftrag der Treuhandanstalt betrifft, sollen hinsichtlich der künftigen Absichten vor allem drei Aspekte hervorgehoben werden: Privatisierung hatte für die Teuhandanstalt stets Priorität, und zwar aus dem Grund, weil davon auszugehen ist, daß die Übertragung eines Unternehmens an einen unternehmerisch aktiven neuen Eigentümer auch gesamtwirtschaftlich die beste Sanierungslösung ist. Aus diesem Grund ist auch zu bedenken — so wie es mehrfach angesprochen wurde —, daß öffentliche Versteigerungen von Unternehmen zwar das Tempo der Privatisierung erhöhen würden, aber auch kritisch bewertet werden müssen. Die Treuhandanstalt geht davon aus, daß im Bieterwettbewerb, den sie organisieren will, das unternehmerische Konzept der Weiterführung eines Unternehmens — natürlich bei weitgehender Restrukturierung — zum TreuhandAuftrag gehört. Anders ausgedrückt: Es gibt m. E. berechtigte Vorbehalte, das Höchstpreisangebot allein gelten zu lassen. Die Erfahrungen besagen, daß nicht der Meistbietende den Zuschlag erhalten sollte, sondern derjenige, der von den investiven Zusagen, von der Erhaltung von Arbeitplätzen und letztlich von einem schlüssigen Konzept her für die Weiterführung des Unternehmens das beste Angebot macht und insofern gewährleistet, daß das Unternehmen weitergeführt wird. Anders ausgedrückt: Wenn die Frage nach der Rolle der Treuhandanstalt bei der Restrukturierung gestellt wird, so ist unter Restrukturierung auch zu verstehen, daß in den konkreten Privatisierungsverhandlungen das unternehmerische Konzept des Erwerbers ein wichtiger Vertragsgegenstand ist. Wenn beispielsweise ein potentieller Erwerber in den Vertragsverhandlungen klipp und klar sagt, daß er sich von diesen und jenen Geschäftsfeldern trennen will, daß er sie gewissermaßen der Treuhandanstalt zurücklassen will, um nur einen Kernbereich des Unternehmens zu übernehmen, den er durch Modernisierung wettbewerbsfähig machen will, dann ist das ein Schwerpunkt der Verkaufsverhandlungen. Das unternehmerische Konzept muß also auch mit der Treuhandanstalt erstritten werden, weil sie natürlich nicht interessiert ist, eine Vielzahl unwirtschaftlicher Reste zurückzubehalten, sondern das Ziel nach wie vor darin besteht, Unternehmen möglichst komplett an einen unternehmerisch aktiven Eigentümer zu verkaufen. Derjenige, der ein unternehmerisches Konzept vorlegt, aus dem deutlich wird, welche Höhe von Anschubfinanzierung notwendig ist, um den Break-

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even-point zu erreichen, welche Aufwendungen erforderlich sind, um bei dem durch die Restrukturierung erfolgenden Abbau von Arbeitsplätzen Sozialplankosten zu übernehmen, kann ebenso wie bei den Fragen der Altschulden oder ökologischen Lasten mit flexibler Reaktion der Treuhandanstalt, auch hinsichtlich des Kaufpreises, rechnen. Es ist klar, daß sich die Treuhandanstalt hier einer Gefahr aussetzt — nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer künftigen Entschädigungsregelung —, weil de facto in nicht wenigen Fällen, wo das unternehmerische Konzept und nicht der Höchstpreis im Mittelpunkt steht, ein Restitutionsgläubiger fordern könnte, die Differenz zwischen tatsächlich erzieltem Erlös und Verkehrswert herauszugeben, die Treuhandanstalt also daraufzahlen müßte. Aber Tatsache ist, daß an Altkrediten, an Altlasten kein unternehmerisches Konzept scheitern soll. Natürlich sind dabei zwei Dinge zu überlegen. Einmal geht es um die Frage der Ablösung ökologischer Altlasten. Es wird immer massiver die Forderung nach der Übernahme der Altlasten durch die Treuhandanstalt gestellt. Wenn von vorliegenden Unternehmenskonzepten ausgegangen wird, dann läuft das im Grunde auf eine Luxussanierung hinaus, die die Treuhandanstalt auch aus gesamtwirtschaftlicher Vernunft nicht übernehmen kann und will. Insofern ist heute Gegenstand der Vertragsverhandlungen nach wie vor die Übernahme eines Selbstbehalts bei Altlasten durch den Erwerber, wobei dieses Risiko für den Erwerber begrenzt wird. Die Treuhandanstalt tritt mit in dieses Risiko ein, im Unterschied zu früher, ohne daß sie generell eine Altlastenentschuldung zusagen kann. Das gleiche Problem besteht hinsichtlich der Altkredite. Es wird zunehmend die Forderung gestellt, Altkredite voll zu übernehmen. Die Treuhandanstalt hat in 85 % aller Privatisierungsfälle industrieller Unternehmen Altkredite mit unterschiedlichen Anteilen übernommen. Das heißt, hier wird in der Öffentlichkeit ein nicht richtiges Bild gezeichnet. Fakt ist, daß die Treuhandanstalt nach wie vor gehalten ist, die Altkreditentschuldung einzelfallbezogen zu prüfen. Aber die Sanierungsfähigkeit eines Unternehmens oder auch der Unternehmensverkauf scheitert nicht an der Frage der Übernahme der Altschulden. Die Treuhandanstalt ist verstärkt dazu übergegangen, die mittelstandsbetonte Komponente der Privatisierung zu verstärken, was auch Existenzgründungen betrifft. Im Zuge des Übergangs zu einer solchen mittelstandspräferierenden Privatisierung wird die Treuhandanstalt — bei Gleichwertigkeit des unternehmerischen konzeptionellen Angebots gegenüber anderen — mittelständischen Erwerbern bzw. Existenzgründern den Vorzug geben und hier vor allem auch in der Frage der Altschulden großzügig verfahren. Anders ausgedrückt: Die Treuhandanstalt ist sich der Notwendigkeit be-

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wußt, i m Sinne der Herausbildung mehr wettbewerblicher, mittelstandsfreundlicher Strukturen Präferenzen zu setzen. Es gibt einen Beschluß des Vorstands über die mittelstandsorientierte Privatisierung, der insbesondere drei wesentliche Schritte vorsieht: Erstens eine weitere Ausgliederungsoffensive, und zwar aus zwei Gründen. Einmal, um Nebenbetriebe, die aus der hypertrophierten Fertigungstiefe von Treuhandunternehmen resultieren, aber als eigenständige Betriebe fortführbar sind, Existenzgründern und mittelständischen Bewerbern anzubieten. Das betrifft insbesondere Bauhaupt- und Nebengewerbe, Bau- und Ingenieurbüros und ähnliches, wo das Interesse mittelständischer Bewerber sehr groß ist, und zwar auch in den alten Bundesländern. Erst unlängst hat der Vorstand der Treuhandanstalt nachdrücklich darauf gedrungen, daß von allen Unternehmensgruppen, die privatisieren, verlangt und auch durchgesetzt wird, daß die Ausgliederung dieser Nebenbetriebe erfolgt. Dabei geht die Treuhandanstalt nicht zuletzt auch davon aus, daß dadurch die Sanierungsfähigkeit der verbleibenden Substanz erhöht wird. Hier gab es Schwierigkeiten. Erst mit dem Artikelgesetz — d. h. konkret mit dem Spaltungsgesetz — bietet sich der notwendige Handlungsspielraum, der voll genutzt werden wird. Dazu gehört zweitens der Übergang zu einer aktiven Entflechtung. Da das Thema Restrukturierung ansteht, soll anhand einiger Zahlen deutlich gemacht werden, was es bei der Restrukturierung der Wirtschaft noch zu tun gibt. Die Wirtschaft der ehemaligen DDR war in ca. 430 zentral- und bezirksgeleiteten Kombinaten mit jeweils etwa 1.000 bis 70.000 Beschäftigten organisiert. Ca. 90 % der Beschäftigten in der Industrie waren in diesen Kombinaten tätig. Das sind mehr Arbeitsnehmer als in den größeren AGs der alten Bundesrepublik zusammengenommen. Nur 20 % der Arbeitnehmer in der Wirtschaft der ehemaligen DDR waren in Betrieben beschäftigt, die von ihrer Betriebsgröße her als mittelständische angesprochen werden können. In der alten Bundesrepublik sind es dagegen 80 %. W i r haben hier also i m Grund genau umgekehrte Verhältnisse. Insofern ist der Ausbau einer ausgewogenen Betriebsgrößenstruktur mit einem großen Spektrum kleiner und mittelständischer Unternehmen eine Schlüsselfrage beim wirtschaftlichen Neuaufbau in den neuen Bundesländern. Dieser notwendige Entflechtungs- und Restrukturierungsprozeß muß vor allen Dingen auch durch Privatisierung bewältigt werden. Tatsache ist, daß mit der ersten Umwandlungswelle aus hundert Kombinatsbetrieben 125 Kapitalgesellschaften entstanden sind, daß aber dieser erste Entflechtungsprozeß mehr oder weniger sporadischen Charakter trug. Es handelt sich in der Regel um Kombinatsbetriebe, die, ehemals selbständig, in Kombinate hineingepreßt wurden und dann praktisch mit der Umwandlung die Chance sahen, aus der Holding herauszukommen. Tatsache ist, daß bis zum 30. Juni

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nur dreieinhalbtausend Kombinatsbetriebe umgewandelt wurden und viereinhalbtausend Unternehmen per Gesetz in der alten Kombinatsstruktur übernommen wurden. Die Treuhandanstalt sieht die Notwendigkeit, hier einen aktiven Entflechtungsprozeß einzuleiten, und zwar in zwei Richtungen: Erstens, allen Tendenzen aktiv entgegenzuwirken, wo Konzernmütter oder die Vorstände von Holdings, also von ehemals zentralgeleiteten Kombinaten, die Privatisierung dadurch bremsen, daß sie auf betriebswirtschaftlich nicht notwendigen und zweckmäßigen konzernrechtlichen Verbindungen bestehen. Insbesondere über die Aufsichtsräte, die in diesen Holdings bestehen, wird die Treuhandanstalt veranlassen, daß der Verkauf einer Konzerngesellschaft nicht behindert wird. Das ist auch eine wichtige Verantwortung der Aufsichtsräte. Zweitens dadurch, daß mit den Konzepten der Unternehmen zugleich auch notwendige Entflechtungsschritte gefordert werden. Das heißt, daß bei der Prüfung der Unternehmenskonzepte, also bei der Prüfung der Sanierungsfähigkeit, auch die Frage eine maßgebende Rolle zu spielen hat, inwieweit Möglichkeiten genutzt werden, Sanierungsfähigkeit durch aktive Entflechtung von Konzernen oder Holdings zu erreichen. Die Treuhandanstalt verspricht sich davon, daß damit mehr privatisierungsfähige Einheiten entstehen, und daß sie hier auch wegkommt von den überkommenen Strukturen der Planwirtschaft, wie sie in den Konzernholdings zum Teil noch existieren. Die Treuhandanstalt gibt den Sanierern in den Unternehmen auch großen Spielraum und nutzt das Spaltungsgesetz voll, um zu aktiven Entflechtungen zu kommen. Die Treuhandanstalt ist bereit, solche entflochtenen Unternehmen, also die Beteiligungen, direkt zu übernehmen, um sie dann über Hoppenstedt und andere Wege für die Öffentlichkeit transparent zu machen. Diese Aufgabe kann durch die Treuhandanstalt nicht administrativ gelöst, sondern das muß zu einem qualifizierten Bestandteil von Unternehmenskonzepten werden. In dieser Richtung gibt es also sehr viel zu tun, um voranzukommen, so daß wirklich ein aktiver Entflechtungsprozeß in Anlehnung an wettbewerbliche Strukturen in den alten Bundesländern erreicht wird. Anschließend soll noch folgender Problemkreis gestreift werden: Meine Herren, Sie können versichert sein, daß es für die Treuhandanstalt nie einen Widerspruch zwischen Privatisierung und Sanierung gab. Privatisierung bleibt die vordringliche Aufgabe. Die Treuhandanstalt versteht unter Sanierung nicht, daß sie sich anmaßt, selbst als Sanierer aufzutreten, sondern hier brauchen die Unternehmen, brauchen die Unternehmenssanierer mit Sach-

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und Fachkompetenz größten Handlungsspielraum. Worum es der Treuhandanstalt geht, ist die Frage der finanziellen Begleitung bei sanierungsfähigen Unternehmen. Nehmen Sie das bitte genau so: nicht sanieren, sondern sanierungsfähige Unternehmen auf dem Wege der Privatisierung begleiten, und das zumindest in dreierlei Hinsicht: Erstens will die Treuhandanstalt in sehr enger Zusammenarbeit, insbesondere auch mit den Länderregierungen, in solchen Fällen, wo Stillegungen mit erheblichen sozialen, vor allem auch arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen unvermeidlich erscheinen, als Dienstleister wirken. Es sollen koordinierte Schritte abgestimmt werden, um unvermeidliche Stillegungen so sozial verträglich wie nur möglich zu machen. Vor allem geht es auch um eine unmittelbare Abstimmung mit der regional- und strukturpolitischen Verantwortung der Länder. Die Treuhandanstalt maßt sich nicht an, regional- oder strukturpolitisch wirksam zu werden, sondern sie will eingepaßt in die Länderverantwortung und natürlich in enger Abstimmung mit den Ländern vorgehen, wobei es auch um eine längerfristige Vorbereitung geht, damit die Länder in der Lage sind, die notwendigen flankierenden Maßnahmen, die notwendige Abfederung einzuleiten. Zweitens spielt eine wesentliche Rolle die finanzielle Begleitung der Unternehmen im Zusammenhang mit der DM-Eröffnungsbilanz und dem Unternehmenskonzept. Es gilt bei sanierungsfähigen Unternehmen Entscheidungen zu treffen, die von der Eigenkapitalausstattung her vergleichbaren westdeutschen Maßstäben nahkommen, um bis hin zu Gesellschafterdarlehen sanierungsfähige Unternehmen zu unterstützen. Das betrifft drittens auch die Unterstützung von Unternehmen, die aus verschiedenen Gründen Sozialplankosten nicht tragen können. Die Treuhandanstalt hat hier mit dem Sozialpakt die Möglichkeit geschaffen, Sozialplanaufwendungen in bestimmter Höhe zu übernehmen, wenn TreuhandUnternehmen dazu nicht in der Lage sind. Es kann unzweifelhaft davon ausgegangen werden, daß nach wie vor viele Möglichkeiten und eine relativ sichere Perspektive bestehen, den Privatisierungsprozeß im bisherigen Tempo weiterzutreiben und damit auch das Mengenproblem zu verringern. Für die Treuhandanstalt ist jedes privatisierte Unternehmen auch ein strukturpolitischer Beitrag, ein Beitrag zur Restrukturierung. Das gilt auch, wenn Stillegungen in enger Abstimmung mit den Ländern zeitweilig gestreckt werden. Dabei steht die Treuhandanstalt unter Druck von verschiedenen Seiten. Sie ist sich auch der Gefahr bewußt, daß sie nicht auf Dauer in eine Subventionswirtschaft rutschen darf, die nichterhaltungsfähige Strukturen konservieren würde. Die Treuhandanstalt darf mit ihrem Mandat nicht strukturkonservierend, sondern muß i m Gegenteil strukturerneuernd wirksam werden.

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Über eines muß man sich allerdings im klaren sein: Durch Privatisierung kann die Treuhandanstalt im Moment die Talfahrt in den neuen Ländern nicht aufhalten. Der Time-lag zwischen dem Abbau von unrentablen Arbeitsplätzen und der Schaffung neuer Dauerarbeitsplätze hält an, auch wenn es zunehmend positive Anzeichen einer sektoralen produktionsseitigen Belebung gibt. Tatsache ist, daß der De-Industrialisierungsprozeß noch nicht das Ende erreicht hat und auf Grund vor allem der arbeitsmarktpolitischen Dimension der Druck, der damit bei der Treuhand liegt, sehr groß ist. Die Treuhandanstalt muß also in dieser Frage — nicht zuletzt angehalten durch ihre Aufsichtsorgane — zu Kompromissen bereit sein. Aber wie gesagt: Sie erkennt klar die Gefahr, daß es nicht zu einer Strukturkonservierung oder einer Dauer-Subventionswirtschaft kommen darf. Auch aus dieser Sicht bleibt eine zügige Privatisierung die wichtigste Aufgabe.

Zusammenfassung der Diskussion Referat H. Schmidt Siebert geht auf die Bemerkungen von Schmidt zum § 3a Vermögensgesetz ein: Die Treuhand könne heute privatisieren, wenn sie eine Investitionsbescheinigung ausstellt. Im Prinzip sei die Privatisierung dann immer noch ein administrativer, ein rechtlicher Akt, der gerichtlich überprüft werden könne. Siebert fragt nach den Erfahrungen in dieser Beziehung und ob damit zu rechnen ist, daß diese Investitionsbescheinigung — und alles, was damit zusammenhängt und was danach kommt, nämlich die Übergabe der Verfügungsgewalt über die Firma oder das Grundstück — in die Gerichtssäle hineingetragen werden könnte. Wenn das so wäre, hätte man das Problem der Privatisierung nicht gelöst. Im übrigen sei ja offenbar die Frage der Restitution der alten Eigentümer durch die Ämter für offene Vermögensfragen noch offen. Siebert spricht auch die Alternative Privatisierung versus Sanierung an: Er sehe im Moment — vielleicht bringe das aber einfach das Problem mit sich — noch kein klares Konzept, wie die Treuhand hier verfahren wolle. Er wüßte gern Antwort auf drei Fragen: 1) Gibt es Vorstellungen über die Größenordnung derjenigen Betriebe, die möglicherweise nicht sanierungsfähig sind? 2) W i e sieht das Kriterium der Sanierungsfähigkeit aus? 3) Warum kann die Sanierungsfähigkeit nicht letzten Endes auf den Märkten festgestellt werden? Siebert befürchtet, daß die Treuhand in eine Falle gerät: Durch eine Serie von Entscheidungen mit finanzieller Begleitung der Unternehmen und in Zusammenarbeit mit den Landesregierungen, also bedrängt von ihnen, werde die Treuhand veranlaßt, ineffiziente Einheiten zu erhalten und damit für Ostdeutschland ein Szenario heraufzubeschwören, das eine Modernisierungschance ausläßt. Siebert plädiert dafür, zu unterscheiden zwischen der Erhaltung der alten ineffizienten Unternehmen und dem Schutz der Menschen. Man müsse die Menschen schützen — darüber gebe es keinen Zweifel —, aber man könne die Menschen nicht schützen, indem man die ineffizienten Einheiten erhielte. Die Prozesse, die damit verbunden wären, seien hinlänglich bekannt: Die Subventionen verfestigten sich, wirtschaftliche Entscheidungen würden politisiert; man kenne die Rent-seeking-Prozesse, die zwangsläufig ablaufen würden. Hier sei dann auch das weithin akzeptierte optimistische mittelfristige Szenario nicht mehr zu halten.

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Kantzenbach geht auf die Absicht der Treuhand ein, daß bei der Privatisierung der Preis nicht die höchste Priorität haben soll, sondern daß das unternehmerische Konzept der Weiterführung des Unternehmens geprüft wird und daß dieses das wichtigste Kriterium für die Entscheidung der Treuhand zu sein habe. Er fragt nun, wie sichergestellt werden kann, daß die vorgelegten Pläne auch tatsächlich eingehalten werden. Er verweist auf die Ähnlichkeit des Problems mit der Zusammenschlußkontrolle innerhalb der Wettbewerbspolitik, wo ja der Bundeswirtschaftsminister die Möglichkeit hat, Zusammenschlüsse aus gesamtwirtschaftlichen Gründen zuzulassen. Auch hier würde sehr häufig das Argument der Erhaltung der Arbeitsplätze vorgetragen — ebenfalls ein Kriterium, das man nach einiger Zeit nicht mehr überprüfen könne und wo vor allen Dingen das Gesetz auch ausdrücklich ausschließe, daß zur Einhaltung derartiger Versprechen wirtschaftspolitische Mittel eingesetzt werden. L. Hoffmann ergänzt die Frage von Kantzenbach: Wenn die Treuhand ein Management-Konzept beurteile, müsse sie ja die dem Konzept zugrunde liegenden Annahmen — beispielsweise über die Verkaufsmöglichkeiten von Produkten — beurteilen. Das sei ja schon für einen Unternehmer außerordentlich schwierig, und wie darüber aus der Treuhand-Perspektive ein Urteil abgegeben werden sollte, sei ganz unverständlich. L. Ho ff mann fragt des weiteren nach dem Anteil der Auslandsverkäufe. Schmidt habe erwähnt, 10 % der verkauften Unternehmen seien an Ausländer gegangen. In der Presse sei eine Zahl von 1.600 Verkäufen insgesamt berichtet worden. Andererseits habe man in den Zeitungen gelesen, daß die Auslandsverkäufe knapp über 50 lagen. Er bittet also um Aufklärung über die tatsächliche Größenordnung. Thanner fragt nach der Rechtsverbindlichkeit all der Beschäftigungs- und Investitionszusagen — eine Frage, die bereits in anderem Zusammenhang gestellt worden war. Fuest macht auf einen offenbaren Zielkonflikt zwischen Gesamtkonzept und Betriebsbestandteilen aufmerksam. Einerseits sei gesagt worden, daß die Privatisierung nur nach Vorlage bestimmter Entflechtungskonzepte erfolgen könne und daß entsprechende Konzepte ausgearbeitet werden müßten. Andererseits müsse die Treuhandanstalt aber auch darauf achten, daß nur ganze Betriebe veräußert werden, also nicht Teilbetriebe oder Betriebsbestandteile. Fuest fragt ferner nach genaueren Angaben über die Altschulden. Schmidt habe zwar gesagt, er hätte sich zu den in der Presse genannten 102 Milliarden Mark nie geäußert, aber die Treuhandanstalt habe von diesen Altschulden inzwischen einiges übernommen. Fuest interessiert sich auch unter dem fiskalischen Gesichtspunkt dafür, auf welche Höhe die Treuhand-

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anstalt zum Ende des Jahres ihre Privatisierungserlöse und ihre Kosten schätzt. Ihm geht es darum herauszufinden, was tatsächlich auf die Allgemeinheit zukommt. K.-D. Schmidt geht ebenfalls auf den Zielkonflikt zwischen Privatisieren, Sanieren und Stillegen ein. Während die Treuhand einen Konflikt zwischen Privatisieren und Sanieren herunterspiele, sehe sie offensichtlich durchaus einen solchen Konflikt zwischen Privatisieren und Stillegen. Das komme schon in dem von ihr selbst formulierten Leitsatz zum Ausdruck „rasch privatisieren, aber behutsam stillegen". K.-D. Schmidt fragt, ob es die Arbeit der Treuhand nicht enorm erleichtern würde, wenn sie diese beide Geschäfte, nämlich das Privatisieren und das Nicht-Stillegen, voneinander trennte, etwa dergestalt, daß alles, was nicht privatisiert werden kann, stillgelegt wird. Wenn jemand intervenierte — zu denken wäre etwa an die ZeissJena-Lösung —, dann sollte man das Problem dem übergeben, der auch die finanzielle Verantwortung trägt. Das könne eine klare Abkoppelung der nicht privatisierungsfähigen Fälle in Richtung auf eine Extra-Holding bedeuten. Oppenländer gibt zu überlegen, ob es nicht auch Unternehmen gibt, die gar nicht der Privatisierung zugeführt werden sollten. Auch in Westdeutschland existiere ja keine hundertprozentig privatisierte Wirtschaft; es gebe auch Unternehmen mit gemischtem privatem und Staatseigentum. Oppenländer fragt nach der diesbezüglichen Philosophie der Treuhand und nach den Quantitäten. In seiner Antwort geht H. Schmidt zunächst auf die Möglichkeiten des Artikelgesetzes ein: Es sei im Grunde eine Anmahnung der Treuhandanstalt gewesen, daß der Grundsatz des Gesetzes über besondere Investitionszwecke auf die Treuhand-Unternehmen ausgedehnt wurde. Die Investitionsbescheinigung sei im übertragenen Sinne nichts anderes als eine Bescheinigung der Treuhandanstalt, falls sie an einen investierenden Dritten veräußert trotz vorliegenden Restitutionsantrags. Dies müsse vor dem Hintergrund gesehen werden, daß mit dem Artikelgesetz die Restitutionsberechtigten die Möglichkeit bekamen, das Institut der vorläufigen Besitzeinweisung in Anspruch zu nehmen. Der Restitutionsberechtigte, der direkt oder über einen Dritten unternehmerisch aktiv tätig werden will, könne unmittelbar seinen Restitutionsanspruch durchsetzen. Das werde die Treuhand akzeptieren. Ja, es sei im Grunde von ihr auch gewollt gewesen, weil sie sich davon einen Wettbewerb zwischen Restitutionsgläubigern und dritten investierenden Erwerbern versprach. Inwieweit das funktioniert, lasse sich i m Moment schwer abschätzen. Aber im Grunde sollten Restitutionsansprüche durch diese administrative Regelung nicht blockiert werden, sondern ganz im Gegenteil: Im Zusammenhang mit der vorläufigen Besitzeinweisung — alle anderen Dinge würden später geklärt — komme

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der Restitutionsberechtigte schneller zu seinem Recht als bisher, aber er müsse sich natürlich bemühen. Dort, wo bestandswirksam die Besitzeinweisung vorgenommen wird, gehe der Restitutionsanspruch vor. Dadurch werde die Privatisierung nicht behindert, sondern eigentlich durchgeführt. Nur in den Fällen, wo die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen die Entscheidung treffen müssen und der Restitutionsberechtigte sich nicht entscheiden kann bzw. zu erkennen gegeben hat, daß er nicht die Gewähr bietet, unternehmerisch aktiv zu werden, könne die Treuhandanstalt die entsprechende Entscheidung treffen und einem unternehmerisch aktiven Dritten den Zuschlag geben. Die Treuhand schütze sich selbst, indem sie vor einer solchen Entscheidung zunächst den Restitutionsberechtigten hört. Auf die Zwischenfrage von Siebert, ob denn die Restitutionsberechtigten überhaupt der Treuhand bekannt sind, erläutert H. Schmidt, zu jedem zu vergebenden Betrieb würden die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen gefragt, ob es dort Restitutionsansprüche gibt. In jedem Falle würde der Restitutionsberechtigte vor der Entscheidung von der Treuhand angehört. Da sich die Treuhand juristisch exakt verhalte, könne keiner der Abgewiesenen die Entscheidung auf dem Rechtsweg mit aufschiebender Wirkung anfechten. Es handele sich wohl um einige tausend Fälle, und das sei noch überschaubar, zumal die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen diese Fälle mit Vorrang bearbeiteten. Es müsse dann abgewartet werden, ob später von Restitutionsberechtigten Klagen auf Wiedereinsetzung kommen. Das könne man generell nicht ausschließen, er würde aber immer davon ausgehen, daß man dann zwar zahlreiche gerichtliche Streitigkeiten hätte, daß aber die Entscheidungen der Treuhand kaum bestandskräftig aufgehoben werden könnten. Anschließend geht H. Schmidt auf die Frage ein, ob nicht der Markt über die Sanierungsfähigkeit einzelner Unternehmen entscheiden müßte. Im Grunde sei diese Forderung ordnungspolitisch voll berechtigt. Zum Teil handele die Treuhand auch entsprechend: Die Übergabe der Angebote an Investmentbanken, befristet auf ein halbes Jahr, will H. Schmidt als einen Beleg dafür verstanden wissen. Allerdings würden die Betriebe, die auch die Investmentbanken nicht loswerden, dann die Frage aufwerfen, was man damit machen sollte. Diese Frage werde sich zukünftig — wenn die Ergebnisse der Investmentbanken-Aktion vorliegen — verstärkt stellen. H. Schmidt weist nochmals auf die reale Situation hin, vor der man gegenwärtig stehe. Durch den Beitritt und die Konditionen des Beitritts sei über die fünf neuen Bundesländer das an Strukturkrisen hereingebrochen, was zu verkraften die Bundesrepublik 40 Jahre Zeit hatte. Das heißt, in Westdeutschland seien die Strukturprobleme zeitlich nie so hart zusam-

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mengeprallt wie gegenwärtig in den fünf neuen Bundesländern. Auch die regionalen Probleme seien äußerst schwierig. Zu denken sei etwa daran, daß in Mecklenburg die Küstenindustrie — also die einzige Branche, die dort überhaupt den industriellen Bereich ausmacht — in einer tiefen Krise stecke. Ähnliches sei bis hinein nach Sachsen und Thüringen zu beobachten, bei den Stahl-Standorten wie bei der Schuhindustrie sowie der Textilund Bekleidungsindustrie. Die Länder müßten erst einmal Zeit haben, ihre Kompetenz für regionale Strukturpolitik und überhaupt für Regionalpolitik zu entwickeln. Sie müßten erst einmal die sachliche Kompetenz erwerben, das, was jetzt an finanziellem Rahmen — nicht zuletzt durch das Gemeinschaftswerk Ost — und durch Ausstattung der Kommunalhaushalte mit zusätzlichen Mitteln anläuft, wirksam zu machen. Es sei gar nicht so einfach — wie sich zeige —, diese Mittel regional und strukturell richtig wirksam einzusetzen. Das sei ein Prozeß, der auch etwas mit dem notwendigen Vertrauensschutz zu tun habe, den der Aufbau der Verwaltung in den neuen Ländern genießen müsse, — genauso wie sich die Treuhand als Anstalt einen solchen Vertrauensschutz gewünscht hätte. In der gegenwärtigen Situation gelinge es noch nicht, den massiven Abbau von Produktion und Beschäftigung annähernd zu kompensieren. Solange diese Kompensation noch nicht greift, müsse man Kompromisse machen. Die Treuhand trete für solche Kompromisse ein. H. Schmidt pennt als Beispiel das Problem Märkische Faser: Aus der internationalen Situation in der Faserindustrie sei klar, daß die Kapazität so nicht zu erhalten ist. Achteinhalb tausend Beschäftigte machten wesentlich das Wirtschaftsleben der Stadt Premnitz aus. M i t der Stillegung der Märkischen Faser sei man heute in einer Situation, wo weder die Treuhand noch die Landesregierung noch beide gemeinsam unmittelbar eine Kompensation schaffen können. Man gehe davon aus, daß Stillegungen zu Kristallisationspunkten neuer Aktivitäten werden sollen. Aber diesen Prozeß müsse man erst einmal in Gang bringen. Als die Treuhand Pentacon stillgelegt hatte, waren die Proteste groß. Heute wisse man, daß Pentacon als Markenname weiterbestehen wird, da sich ein neuer Betreiber gefunden hat, — aber alles im Grunde aus der Stillegung heraus! Hier müsse man noch Erfahrungen sammeln. Es gelte auch, gemeinsam mit den Länderregierungen Vertrauen zu schaffen, daß aus Stillegungen etwas Positives entstehen kann. Dinge wie Liquidation, Stillegung und Gesamtvollstreckung seien für die Menschen wie ein dunkles Loch, in das sie hineingestoßen werden, mit der Folge sozialer Ängste und sozialer Konflikte. Hier brauche die Treuhand gemeinsam mit den Länderregierungen noch Zeit, um Beispiele dafür zu schaffen, daß Stillegungen zum Ausgangspunkt neuer Aktivitäten werden, daß sie nicht das Aus für eine Region bedeuten. Durch den Einsatz des zur Verfügung stehenden Instrumentariums könne dies gelingen.

Zusammenfassung der Diskussion

Anschließend geht Schmidt auf die Frage ein, wie denn bei einem Untemehmensverkauf ein positives Ergebnis sichergestellt werden soll, wenn der Preis nicht die höchste Priorität hat. Die Treuhand stelle das sicher, indem sie a) verbindliche Zusagen über Investitionen fordert und b) zwar von einem weitgehenden Verzicht auf die Nachbewertungsklausel für Grund und Boden ausgeht, aber nach wie vor die Inanspruchnahme einer Mehrerlösklausel vorsieht, aufgrund derer bei einer kurzfristigen Weiterveräußerung der Mehrerlös eingefordert werden kann. Dadurch wolle sie verhindern, daß Grund und Boden bzw. offenstehende Immobilien als Spekulationsobjekt verwendet werden. Hinzu komme, daß in dieser Frage das Artikelgesetz hilft, weil die Investitionsbescheinigung nur dann gilt, wenn die Zusagen, die der Investor gemacht hat, auch eingehalten werden, und zwar innerhalb der Fristen, die das Artikelgesetz festgelegt hat. Diese Fristenlösungen gäben der Treuhand auch die gesetzliche Grundlage, solche Investitionszusagen rechtlich einzuklagen, während sonst der Rückfall an die Treuhandanstalt bzw. an den ursprünglich Restitutionsberechtigten eintreten würde. Zur Auslandsquote bemerkt Schmidt, die Zahl von 10 % beziehe sich auf die industriellen Unternehmen, d. h. nicht auf die gesamten 17.000 Privatisierungsfälle. In der Industrie seien etwa 9 % der Verkäufe an ausländische Investoren gegangen. H. Schmidt erkennt den bei der Privatisierung bestehenden Zielkonflikt zwischen Entflechtung und Verkauf kompletter Unternehmen an. Die Treuhandanstalt könne einerseits nicht daran interessiert sein, bei jedem Unternehmen mehr oder weniger eine Minderheitsbeteiligung zu behalten, — obwohl das manchmal gefordert werde. Insofern müsse es ein Ziel sein, die Unternehmen möglichst komplett zu verkaufen. Andererseits solle ein solches Ziel die Erwerber nicht abschrecken. Daher werde dort, wo Geschäftsfelder von einem ernsthaften Interessenten aufgrund seines unternehmerischen Konzepts nicht übernommen werden können, durch die Treuhand eine Ausgliederung auf Vorrat mit einer Aufteilung in privatisierungsfähige kleine Einheiten angestrebt, um damit vor allen Dingen auch mittelständische Erwerber zu interessieren. Kompromisse würden dabei durchaus eingegangen. Zum Teil zeige es sich, daß Unternehmen nur dadurch privatisierbar sind, daß man sie von vornherein zerlegt und unterschiedliche Geschäftsfelder an unterschiedliche Interessenten vergibt. Was das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben betrifft, bemerkt H. Schmidt, es gebe ein eindeutiges Ansteigen der Kostenbelastung der Treuhandanstalt. Bei Privatisierungseriösen von rund 14 Milliarden DM, wie sie der Wirtschaftsplan vorgebe, würden die Kosten voraussichtlich doppelt so hoch sein — ganz vorsichtig prognostiziert.

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Zusammenfassung der Diskussion

Zu dem Zielkonflikt zwischen Privatisieren und Stillegen merkt H. Schmidt an, die Treuhand erwarte sich Auftrieb nach Ablauf der verlängerten Fristen des D-Mark-Bilanzgesetzes, d. h. der Feststellung der D-MarkEröffnungsbilanzen. Eine Entscheidung, nicht privatisierungsfähige Einheiten stillzulegen, setze nun einmal ein bestimmtes Mengengerüst an Entscheidungshilfen voraus. Das habe man zur Zeit nicht, sondern die Treuhand sei erst dabei, sich mit der Einforderung von Unternehmenskonzepten einen Überblick zu verschaffen. Dann würden die Unternehmen in einer Skala von Sanierungsfähigkeit bis hin zur Stillegung bewertet. Stillzulegende nicht zu privatisieren, sei das nächste Problem. Man könne heute noch nicht sagen, welche Unternehmen nicht privatisiert werden können. H. Schmidt spricht von Beispielen, wo die Entscheidung zur Stillegung getroffen war und die Treuhand dabei war, diesen Stillegungsbeschluß durchzusetzen. Plötzlich sei ein ausländischer Investor aufgetaucht, dem die Absicht, stillzulegen, durchaus entgegen kam und der den Betrieb kaufte wie er stand und lag, mit der Absicht, dort eine ganz andere Produktion aufzunehmen. Die Treuhand sei ohnehin erst am Anfang der Privatisierungsphase. Es gebe derzeit eine steigende Zahl von Erwerbsinteressenten. Man könne deshalb gegenwärtig nicht sagen, daß man Betriebe, für die es heute noch keinen Käufer gebe, stillegen müßte. Die Praxis beweise eigentlich das genaue Gegenteil. Vergessen solle man bei alledem nicht: Die Treuhandanstalt habe einen Entstaatlichungsauftrag, sie sei also verpflichtet alles zu unternehmen, um soviel staatliche Beteiligungen wie möglich in private Hände zu übertragen. Zu der Frage, inwieweit Unternehmen etwa grundsätzlich nicht einer Privatisierung zugeführt werden sollten, bemerkt H. Schmidt, solche Überlegungen gebe es im Vorfeld tatsächlich. Die Treuhandanstalt habe davon auszugehen, daß sie einen klaren Verkaufsauftrag hat. Es wäre sehr gefährlich für die Treuhandanstalt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestimmte Beteiligungen auszuwählen, um sie lange Zeit im Sinne von Staatsunternehmen zu behalten. Vielmehr müsse zunächst einmal alles das, was sich zu wettbewerblichen Bedingungen verkaufen läßt, verkauft werden. Die Treuhand werde sich nicht anmaßen, hier Entscheidungen für den Bund zu treffen und Felder für Staatsunternehmen abzustecken. Außerdem würde dadurch die Gefahr, daß Dauer-Subventionslösungen geschaffen würden, stark gesteigert.

Aktuelle Entwicklung in den Sektoren: Der Industriesektor Von Karl Brenke, Berlin

Anhaltende Talfahrt Die Umstellung der ostdeutschen Wirtschaft auf die Mechanismen des Marktes macht bei der Industrie wohl die größten Schwierigkeiten. Gerade in diesem Bereich wurden die Mängel des alten Systems schnell und drastisch spürbar; die Betriebe wurden abrupt und auf breiter Front mit der westlichen Konkurrenz konfrontiert, der sie in den allermeisten Fällen nichts entgegenzusetzen hatten. Das Dilemma ist, daß die ostdeutsche Industrie jetzt massiv unterstützt werden muß, will man nicht einen enormen Anstieg der Massenarbeitslosigkeit mit nicht kalkulierbaren sozialen und politischen Folgen riskieren. Immerhin sind in der Industrie noch reichlich zwei Millionen Personen angestellt — das ist knapp ein Drittel aller Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern. Schon vor der Wirtschafts-und Währungsunion zeichnete sich die kommende Krise deutlich ab. Die Industrieproduktion ging bereits ab April 1990 merklich zurück, besonders kräftig war die Abschwächung bei den Konsumgütern. Offenbar ersetzten vor allem die privaten Haushalte bei einem Umtauschkurs im Verhältnis 1 : 3 bzw. 1 : 2 von D-Mark zu Mark der DDR heimische Waren durch Westprodukte oder sie schoben in Erwartung des angekündigten Mark/D- Mark-Umtausches ihre Käufe auf. Im Juli brach die Industrieproduktion regelrecht ein; mit geringerem Tempo setzte sich auch in den folgenden Monaten die Talfahrt der ostdeutschen Industrie weiter fort. Anfang 1991 war das Niveau der Bruttowertschöpfung um etwa 60vH niedriger als vor Jahresfrist. Daß der Niedergang nicht noch stärker war, liegt einmal am Export in die Staatshandelsländer. Die Ausfuhr in den RGW-Bereich konnte i m letzten Kalenderhalbjahr sogar gesteigert werden, so daß die schweren Einbußen i m Handel mit den westlichen Industriestaaten nahezu ausgeglichen wurden. Maßgeblich begünstig wurde der Osthandel dadurch, daß er noch bis Ende 1990 auf Basis des Transferrubels abgerechnet werden konnte und daß der Kurs des Transferrubels um die Hälfte abgewertet wurde. Aufgrund der künstlichen Verbilligung gewann der Bezug ostdeutscher Waren für die Staatshandelsländer an Attraktivität. Es wurden deshalb auch Produkte 5 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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Karl Brenke

nachgefragt, die früher nicht gekauft worden waren. Die Kehrseite der Medaille ist, daß den Herstellern ihre abwertungsbedingten Verluste durch hohe Subventionen kompensiert werden mußten. Überdies hat die Ausgleichsregelung zu Mißbräuchen eingeladen. Zum anderen wurde die Produktion auch dadurch gestützt, daß ein nicht geringer Bestand an noch vorhandenen inländischen Aufträgen abgearbeitet werden konnten. Außerdem wurden nach der Wirtschafts-und Währungsunion wohl nicht selten Waren auch ohne Bestellungen und unter Rückgriff auf Vorräte an Rohstoffen oder Vorprodukten hergestellt. Vielfach hat das aber nur zu einer Aufstockung der Läger und zu einer zeitlichen Streckung der Probleme geführt. Angesichts der fallenden Produktion ging die Beschäftigung ebenfalls zurück; im Verlauf des letzten Jahres sank die Zahl der Erwerbstätigen um rund ein Viertel. Das ist aber weitaus weniger als im Hinblick auf die Entwicklung der Wertschöpfung und den Produktivitätsrückstand der ostdeutschen Industrie zu erwarten gewesen wäre. Die Betriebe versuchen, Entlassungen soweit wie möglich zu vermeiden. Freilich war eine Personalreduzierung nicht zu umgehen. In erster Linie orientierte sich der Beschäftigungsabbau an dem Kriterium, soziale Härten für die heimischen Arbeitskräfte gering zu halten; entsprechend wurde der Personalstand zunächst verringert durch — die Entlassung der ausländischen Arbeitskräfte, — die Kündigung der Arbeitskräfte, die trotz erreichten Rentenalters noch beschäftigt waren und der Personen mit Anspruch auf Vorruhestandsgeld, — die Aufgabe oder Ausgliederung peripherer Bereiche der Unternehmen, wie Berufsausbildungsstätten, Bauabteilungen, soziale Einrichtungen (Kindergärten, Ferienheime), Wach- und Brandschutz, Fuhrpark und KFZ-Werkstätten u. ä. Ein großer Teil der ausgegliederten Unternehmensteile wurde in kommunale Trägerschaft überführt oder privatisiert. Im Zuge wachsender wirtschaftlicher Schwierigkeiten wurden zunehmend auch weitere Teile der Belegschaften in die Entlassungen einbezogen. Betroffen waren insbesondere die Beschäftigten in den sogenannten „unproduktiven" Betriebsteilen, also die Personen im in der Regel überdimensierten Verwaltungsbereich, aber auch Arbeitskräfte in Forschungs-und Entwicklungsfunktionen. Zunehmend wird jetzt auch die Zahl der Erwerbstätigen im Produktionsbereich reduziert. Zu halten ist der hohe Personalstand indes nur mit Hilfe von außen: durch die von der Treuhandanstalt verbürgten Liquiditätskredite und durch das zum größten Teil von der Bundesanstalt für Arbeit finanzierte Kurzarbeiter-

Aktuelle Entwicklung in den Sektoren: Der Industriesektor

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geld. Zu Jahresbeginn war reichlich die Hälfte aller Arbeiter und Angestellten von Kurzarbeit betroffen. Der Anteil der Kurzarbeiter an allen Beschäftigten ist in fast allen Industriezweigen sehr hoch. Die Metallindustrie mit ihren Kündigungsschutzvereinbarungen fällt insgesamt nicht aus dem Rahmen. Offensichtlich muß auf breiter Front die Kurzarbeiterregelung in starkem Maße in Anspruch genommen werden, um Entlassungen zu vermeiden. Die aktuelle Entwicklung der Industrie läßt sich nicht nachzeichnen, da die bisherigen Statistiken nur bis Dezember geführt wurden, aber noch keine Zahlen aus der auf westdeutschen Standard umgestellten Industrieberichterstattung vorliegen. Generell ist aber davon auszugehen, daß sich die Situation weiter verschlechtert. Ein Grund ist, daß der Handel mit den osteuropäischen Staaten i m laufenden Jahr an Stützkraft verlieren wird. Mit der Sowjetunion — dem weitaus wichtigsten Handelspartner der früheren DDR — ist bisher vereinbart worden, daß sie für knapp 10 Mrd. D M Waren aus Ostdeutschland bezieht. Aber selbst dann, wenn das gesamte angekündigte Liefervolumen vollständig und rasch in produktionswirksame Bestellungen umgesetzt würde, könnte 1991 allenfalls die Hälfte des letzt jährigen Exports erreicht werden. Zudem hat es bisher aus den anderen Ländern des sich auflösenden RGW keine Bestellungen in größerem Umfang gegeben. Es zeichnet sich daher ab, daß schon wegen des nachlassenden Osthandels die Problemlage der Industrie in den neuen Bundesländern immer schlechter wird. Immerhin entfiel im zweiten Halbjahr 1990 etwa ein Drittel des gesamten Industrieumsatzes auf die Ausfuhr nach Osteuropa. Zum Vergleich: Die Exporte der DDR-Industrie in den RGW- Raum machten vor dem Umbruch nur etwa ein Siebtel der Warenproduktion aus. Das Exportgeschäft mit den osteuropäischen Staaten ist für die Betriebe zwischen Elbe und Oder vor allem deswegen schwieriger geworden, weil seit Jahresbeginn der Osthandel in konvertibeler Währung abzurechnen ist. Das bedeutet, daß die Betriebe der neuen Bundesländer sich jetzt auch hier mit der westlichen und fernöstlichen Konkurrenz auseinandersetzen müssen. Die Bundesregierung unterstützt zwar den Export ostdeutscher Produkte in die RGW-Länder durch günstige Kreditbedingungen (Hermes-Bürgschaften), angesichts ihrer prekärer Wirtschaftslage und zur Wahrung ihrer Kreditwürdigkeit werden die ostdeutschen Staaten aber diese Möglichkeit nur für den Bezug der nötigsten Investitionsgüter nutzen. Dabei handelt es sich vorrangig um Produkte zum Ersatz oder zur Ergänzung früher bezogener Ausrüstungen. Belebende Impulse für die ostdeutsche Industrie sind auch nicht vom Export ins übrige Ausland zu erwarten. Zum einen hatte dieser Markt schon 5'

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Karl Brenke

früher nur ein geringes Gewicht, 1 zum anderen ist er im zweiten Halbjahr 1990 weitgehend zusammengebrochen. Auch auf dem inländischen Markt ist die Situation schwierig. Die Auftragseingänge aus dem Inland haben sich zum Ende des letzten Jahres zwar stabilisiert, sie sind aber weitaus geringer als die Produktionsleistung. Die Folge ist, daß die Bestände an inländischen Bestellungen dahinschmelzen. Sie waren zu Jahresbeginn um 60vH niedriger als i m Juli 1990. Problem der ostdeutschen Betriebe ist, daß sich in den neuen Bundesländer schnell ein Markt gebildet hat, auf dem sich aber ebenfalls rasch die westliche Konkurrenz etablieren konnte. Alte Lieferbeziehungen wurden vielfach aufgelöst. Die Betriebe in den neuen Bundesländern müssen das ostdeutsche Absatzgebiet praktisch erst erschließen. In Westdeutschland haben bisher nur sehr wenige überhaupt Fuß fassen können. Zusammenfassend läßt sich die aktuelle Misere der ostdeutschen Industrie am Verhältnis von Umsatz und Auftragsbestand — eines leider in der Industriestatistik der alten Bundesrepublik nicht erhobenen Wirtschaftsindikators — gut illustrieren. Während im Juli letzten Jahres in den Auftragsbüchern noch Bestellungen in Höhe von knapp fünf Monatsproduktionen standen, betrug die Reichweite der Auftragsbestände Ende Dezember nur noch rund zwei Monatsproduktionen.

Die Schwierigkeiten bei der Umstrukturierung Das Ausmaß der Krise und das Tempo des Niedergangs der Industrie in den neuen Bundesländern hat selbst pessimistische Erwartungen des letzten Jahres übertroffen. Im zweiten Teil der Betrachtung soll daher auf die Gründe eingegangen werden, die den Anpassungsprozeß so schwierig machen. Erstens: Vielfach wurde angenommen, daß die dortigen Betriebe des verarbeitenden Gewerbes ihre Wettbewerbsfähigkeit schneller verbessern könnten, als dies tatsächlich der Fall war. Zurückblickend war die Reaktion der ostdeutschen Industrie hauptsächlich aber nur reaktiv. Die Unternehmen beschränkten sich weitgehend — und dabei nicht einmal konsequentauf die Einsparung von Kosten: durch Personalabbau bzw. Kurzarbeit sowie durch Straffung der Produktpalette. Dieses Vorgehen wurde aber konterkariert durch zusätzliche Belastungen, insbesondere schnell steigende Löhne. Eine weitere — richtige — Reaktion war, daß mit der Entflechtung und funktionalen Aufgliederung von Unternehmen begonnen wurde -allerdings häufig nur zögerlich. 1

1989 ging — kammert man die Bundesrepublik aus — nur reichlich ein Viertel der gesamten Ausfuhr der DDR in Nicht-Staatshandelsländer.

Aktuelle Entwicklung in den Sektoren: Der Industriesektor

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Notwendig gewesen wäre aber stattdessen vorrangig eine aktive Strategie zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, die auf die Modernisierung der Produktionsverfahren und die Entwicklung neuer Produkte ausgerichtet ist. Abgesehen davon, daß eine solches Vorgehen viel Zeit braucht, waren bzw. sind die ostdeutschen Unternehmen häufig gar nicht in der Lage, eine aktive Sanierung erfolgreich durchzuführen. Ein Grund ist die nicht ausreichende Kompetenz und marktwirtschaftliche Erfahrung der Betriebsführungen. A m wichtigsten ist aber das Ausmaß der zu bewältigenden Schwierigkeiten, daß wohl nicht selten auch westliches Management überfordern würde. So reicht zur Verbesserung der Produktivität vielfach nicht nur eine Erneuerung des Anlagenbestandes aus, sondern häufig sind auch viel kleinere Betriebsgrößen, eine erhebliche Verringerung der Fertigungstiefe und entsprechend der Aufbau eines neuen, weitaus differenzierteren Geflechts von Zulieferer- und Abnehmerbeziehungen nötig. Die Aufgabe ist also, angesichts der allseits präsenten westlichen Konkurrenz in kaum verfügbarer Zeit die Gegebenheiten zu überwinden, die sich i m planwirtschaftlichen System über Jahrzehnte entwickelt haben. So war früher die Arbeitsteilung im nationalen Rahmen wie auch zwischen den RGW-Ländern ganz anders als in der Marktwirtschaft strukturiert. Viele Betriebe hatten für ihr Produktprogramm quasi ein Angebotsmonopol. Dies erforderte große — nach westlichem Standard häufig überdimensionierte — Produktionsstätten. Dazu kam, daß nicht zuletzt wegen der Unzuverlässigkeit bei den Vorlieferungen, die Betriebe oder Kombinate bemüht waren, die benötigten Vorprodukte selbst herzustellen. Das Resultat war eine extrem große Fertigungstiefe. Folge der früheren Mißwirtschaft ist gleichfalls, daß der ostdeutschen Industrie heute marktfähige Produkte weitgehend fehlen. „High-tech-Produkte" sind überhaupt nicht vorhanden, aber auch die übrigen Produkte entsprechen vielfach nicht den Kundenwünschen nach Haltbarkeit, Funktionalität, Design und Ausstattung. Dazu kommt die Unerfahrenheit der ostdeutschen Betriebe in der Vermarktung ihrer Waren. Dieses Manko ist inzwischen selbst auf dem ostdeutschen Markt nur noch schwer abzugleichen, da die Hersteller aus dem Westen hier schnell große Marktanteile errungen haben. Im Hinblick auf die erforderliche Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit war es rückblickend fatal, daß nicht wenige ostdeutsche Unternehmen aus Kostenerwägungen oder in Antizipation vermeintlicher Wünsche potentieller westlicher Investoren ihre Forschungs- und Entwicklungskapazitäten verringert haben. Ohnehin ist es eine schwere Hypothek, daß die besonders qualifizierten Arbeitskräfte zu Unternehmen nach Westdeutschland oder West-Berlin abgewandert sind. Das hat die Innovationsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe nachhaltig geschwächt. Vermutlich werden sich

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von den dortigen Unternehmen nur diejenigen behaupten können, die einfache — "low-tech" — Güter herstellen, die allein durch eine zu bewältigende Verbesserung der Produktionsverfahren und nur geringfügiger Änderungen am Produkt (beispielsweise bei der Verpackung) sowie durch geschicktes Marketing wettbewerbsfähig werden können. Dazu könnte eine Reihe derjenigen Firmen kommen, die sich mittlerweile auf Lohnfertigung konzentriert haben. Deren Wettbewerbsvorteil und Zukunftschancen haben sich aber bereits beträchtlich wegen der stark steigenden Lohnkosten verringert. Ansonsten zeichnet sich ab, daß der Niedergang der ostdeutschen Industrie nur durch unternehmerische Aktivitäten aus den alten Bundesländern und dem westlichen Ausland gebremst werden kann — also dadurch, daß Prozeß- und Produktinnovationen quasi „importiert" werden. Zweitens: Das Engagement westlicher Unternehmer in den neuen Bundesländern ist — sieht man von den zahlreich entstehenden Vertriebseinrichtungen ab — aber geringer als noch im letzten Jahr erwartet worden war. Ein wichtiger Grund hierfür sind sicherlich die inzwischen niedriger gewordenen Hindernisse beim Erwerb von Grundstücken sowie die ökologischen Altlasten, arbeitsrechtliche Hürden und die Mängel bei der öffentlichen Verwaltung. Dazu kommen die vielfach übermäßig großen Anlagen, die für potentielle Investoren keinen Nutzen haben. Sie schrecken gerade mittelständische Unternehmen von einer Übernahme ostdeutscher Betriebe ab. Bei der aktuellen Diskussion über solche Investitionserschwernisse muß aber auch gesehen werden, daß es wohl für die allermeisten, auch westdeutschen Unternehmen keinen hinreichenden Grund gibt, in Ostdeutschland zu produzieren. Der Markt ist infolge des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs in der DDR und deren Beitritt zur „alten" Bundesrepublik zwar größer geworden, die zusätzliche Nachfrage ist aber in der Regel durch eine bessere Auslastung oder Erweiterung der vorhandenen Produktionskapazitäten zu befriedigen. Das gilt umso mehr, als die allgemein stark exportabhängige Industrie der alten Bundesländer aktuell ein nachlassendes Auslandsgeschäft ausgleichen muß. Motive für westliche Investitionen für ein Engagement in Ostdeutschland sind daher nur: — Erhebliche Kapazitätsengpässe in den eigenen Produktionsbetrieben. Für den Investor bietet es sich an, schnell und kostengünstig zusätzliche Kapazitäten in Ostdeutschland durch den Kauf eines bestehenden Betriebes oder der Investition auf der „grünen Wiese" zu schaffen. Wichtig bzw. von entscheidender Bedeutung ist dabei vielfach, daß das benötigte Personal, insbesondere Fachkräfte, verfügbar ist. Subventionen können die Investitionsneigung zusätzlich beeinflussen. — Erschließung des Marktes in den neuen Bundesländern. Das Interesse richtet sich dabei auf die für bestimmte Produktionen erforderliche

Aktuelle Entwicklung in den Sektoren: Der Industriesektor

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räumliche Nähe zum Absatzmarkt. Auch die Erwartung, in den Genuß öffentlicher Aufträge in den neuen Bundesländern zu kommen, ist ein Investitionsmotiv. Dazu zählen Reparaturbetriebe, Druckereien, baunahe Produktionen und Teile des Nahrungs-und Genußmittelgewerbes. Für den Investor lohnend und bereits weitgehend privatisiert sind zudem die Betriebe, die von der Bevölkerung in den neuen Bundesländern anerkannte Markenprodukte herstellen. Ein Beispiel ist die Zigarettenindustrie. — Imagegründe bzw. Investitionen aus „gesellschaftlicher Verantwortung". Gerade bei Großunternehmen dürfte i m Hinblick auf ihre Absatzchancen in den neuen Bundesländern das Image eine große Rolle spielen. Dazu kommt sicherlich auch, daß westliche Konzerne aus eigener gesellschaftspolitischer Verantwortung in den neuen Bundesländern investieren oder daß sie von der Politik „sanft" (mit dem Hinweis auf die künftige öffentliche Auftragsvergabe oder die Subventionierung von Großprojekten) dazu bewegt worden sind.

Schlußfolgerungen Die Krise der ostdeutschen Industrie wird sich im laufenden Jahr weiter zuspitzen. Angesichts der schlechten Auftragslage zeichnet sich ab, daß Produktion und Beschäftigung stark zurückgehen. Entlastende Faktoren haben ein zu geringes Gewicht, um die Talfahrt aufzuhalten. Der von westlichen Investoren angekündigte Aufbau neuer Produktionsstätten ist in den meisten Fällen noch nicht abgeschlossen und die Privatisierung der Unternehmen in Treuhandbesitz ist trotz einer Beschleunigung in den ersten Monaten dieses Jahres nur wenig vorangekommen. Bisher wurde nur ein Achtel aller Industriebetriebe in Treuhandanstaltbesitz in private Hände übergeben. Davon dürfte der weitaus größte Teil auf kleine und mittlere Unternehmen entfallen. Aber selbst wenn das Tempo der Privatisierung im weiteren Jahresverlauf infolge rechtlicher Änderungen (Aufhebung der Verfügungssperre nach § 3a Vermögensrecht) und der jetzt größeren Leistungsfähigkeit der Treuhandanstalt zunähme, würde das nicht ausreichen, soziale Verwerfungen großen Umfangs zu verhindern. Zwangsläufig müssen daher die noch nicht privatisierten Betriebe weiter unterstützt werden. Subventionen sollten aber nur diejenigen Betriebe erhalten, bei denen die Aussicht besteht, daß sie sich künftig am Markt behaupten können. Eine entsprechende Selektion ist aber zur Zeit nicht möglich, da die allermeisten Industrieunternehmen bisher nicht oder nur mangelhaft über ihre Lage und Planungen Rechenschaft abgelegt haben. Es ist dringend erforderlich, die Berichterstattung rasch zu

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verbessern, um die knappen Mittel sinnvoll einzusetzen. Die Subventionen dürfen auch keine überkommenen Struktur konservieren. Sie können daher nur für eine festgelegte Zeit gewährt werden und die Förderung muß an noch festzulegende Kriterien gebunden werden, die die Betriebe zu unternehmerischem Handeln zwingt. Dies stellt die Politik, namentlich die Treuhandanstalt, vor schwer zu lösende Aufgaben. Sie kann nicht nur die Sanierung der infragekommenden Unternehmen wie geplant „begleiten", sondern muß sie kontrollieren. Dazu können ihre Kapazitäten aber kaum ausreichen. Generell ist in Anbetracht der beschriebenen Zukunftschancen der ostdeutschen Betriebe und der Investitionsmotive westlicher Unternehmen zu erwarten, daß in den neuen Bundesländern die Industrie künftig ein weit geringes Gewicht als bisher haben wird und daß sie sich größtenteils aus Produktionsstätten und Filialen von Unternehmen aus dem Westen zusammensetzen wird. Wichtige dispositive Unternehmensfunktionen werden kaum in Ostdeutschland angesiedelt sein. Die strukturschwache Industrie wird auch negative Konsequenzen für die Entwicklung anderer Wirtschaftsbereiche haben.

Zur wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland: Der Dienstleistungssektor Von Klaus-Dieter Schmidt, Kiel

1. Prognosen über den strukturellen Wandel in den neuen Bundesländern gehen davon aus, daß in der Landwirtschaft und in der Industrie bis zu zwei Millionen Arbeitsplätze abgebaut werden müssen, für die sich — wenigstens teilweise — im Dienstleistungssektor Ersatz schaffen läßt. „Während im Rahmen der Wirtschaftslenkung die Landwirtschaft und insbesondere der Warenproduzierende Sektor Priorität hatten, führte das Dienstleistungsgewerbe in der ehemaligen DDR eher ein Schattendasein." (Bode, Krieger-Boden 1990, S. 84). Bisher sieht es allerdings nicht danach aus, als könne das Dienstleistungsgewerbe bald die Rolle eines Arbeitsplatzbeschaffers übernehmen, die ihm langfristig sicherlich zukommt. Seit Ende 1989 sind dort (nach den bisher noch recht lückenhaften Informationen) rund 400 000 Arbeitsplätze verlorengegangen, darunter 170 000 im Handel, 80 000 im Verkehrsgewerbe und 200000 beim Staat und bei gesellschaftlichen Organisationen (Tabelle 1). Nur bei den Kreditinstituten und Versicherungsunternehmen sowie den Dienstleistungsunternehmen im engeren Sinne sind zusätzliche Arbeitsplätze entstanden (60000), doch fallen diese bislang nicht ins Gewicht. Zudem ist in vielen Bereichen der Arbeitsplatzabbau noch nicht abgeschlossen. So befinden sich im öffentlichen Dienst schätzungsweise 200000 Personen in der „Warteschleife", von denen vermutlich nur ein kleiner Teil eine Weiterbeschäftigungschance hat. 2. Die Annahme, daß sich im Dienstleistungssektor rasch ein großes Arbeitsplatzpotential ausschöpfen läßt, beruht auf einer falschen Einschätzung der Ausgangssituation. Es gab in der früheren DDR mehr Arbeitsplätze mit Dienstleistungsfunktionen, als es aus den Statistiken ersichtlich ist: — Die DDR-Wirtschaft besaß zwar ein niedriges Versorgungsniveau bei den meisten Dienstleistungen für die individuelle Konsumtion wie bei Leistungen des Handels, des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes sowie der Reparatur- und Dienstleistungshandwerke. Aber sie besaß ein hohes Niveau bei Dienstleistungen zur Deckung der sogenannten gesellschaftlichen Konsumtion — etwa bei der gesundheitlichen, sozialen und kulturellen Betreuung der Bevölkerung.

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Klaus-Dieter Schmidt

Tabelle 1 Entwicklung der Erwerbstätigen a> im Dienstleistungssektor in den neuen Bundesländern nach Wirtschaltsbereichen b) von Ende 1989 bis Ende 1990 (in 1 000)

Wirtschaftsbereiche

31.12.89

30.06.90

30.09.90

31.12.90

Handel Großhandel Einzelhandel

730 252 478

700

640

560

Verkehr u· Nachrichtenübermittlung Eisenbahnen Schiffahrt, Wasserstraßen, Häfen Nachrichtenübermittlung Sonstiger Verkehr

673 269 34 138 232

650

630

590 232 28 129 201

Kreditinstitute und Versicherungen Kreditinstitute Versicherungen

50 38 12

52 40 12

61 48 13

72 58 14

458 185 3

470

485

500 190 10

Sonstige Dienstleistungsunternehmen Gastgewerbe, Heime Gesundheits- und Veterinärwesen Wissenschaft, Kunst und Kultur, Pressewesen Übrige Dienstleistungen darunter Dienstleistungshandwerk Staat darunter: Gesundheits- u. Veterinärswesen Bildungswesen Sozialwesen Kunst, Kultur, Sport Private Organisationen ohne Erwerbszweck Alle Wirtschaftsbereiche im Dienstleistungssektor Nachrichtl.: Produzierendes Handwerk (ohne Bauhandwerk) a)

50 220 70 2.210

45 300 2.180

2.139

2.036

380 630 158 135 185 4.306

150 4.227

4.120

3.908

282

Erwerbstätige im Inland (Arbeitssortkonzept). Nach der Systematik der Wirtschaftszweige, Fassung für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Quelle: Statistisches Amt der DDR; Gemeinsames Statistisches Amt der neuen Bundesländer; eigene Schätzung. b)

Wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland

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— Die DDR-Wirtschaft besaß zwar große Defizite bei fremdbezogenen Dienstleistungen für Produktionszwecke wie Leistungen des Handels, des Transportgewerbes, der Banken und Versicherungen oder der Freien Berufe. Solche Dienstleistungen wurden aber, soweit sie in der sozialistischen Planwirtschaft von Bedeutung waren, meistens von den Kombinaten und Betrieben in Eigenproduktion erbracht. Das heißt, der Fehlbedarf war in quantitativer Hinsicht nicht so groß wie es häufig angenommen wurde. Einige Bereiche wie das Verkehrsgewerbe waren sogar vergleichsweise überdimensioniert. Die Struktur der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor war somit eine andere. Es geht folglich nicht nur um den Aufbau einer neuen Struktur, sondern auch um den teilweisen Abbau der bisherigen. 3. Die Unterschiede zwischen der Struktur der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor in der DDR und in der Bundesrepublik sind augenfällig (Tabelle 2). Die DDR besaß große Arbeitsplatzdefizite in den Bereichen Handel, Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen sowie Sonstige Dienstleistungen, und sie hatte zu viele Arbeitsplätze beim Verkehrsgewerbe, bei der Nachrichtenübermittlung sowie beim Staat und den gesellschaftlichen Organisationen. Zwar spiegeln sich in den Zahlen auch unterschiedliche statistische Abgrenzungen — so waren die Beschäftigten im Gesundheitswesen allesamt beim Staat verbucht, während sie in der Bundesrepublik zum großen Teil bei den Sonstigen Dienstleistungen erfaßt sind. 1 Aber dadurch wird das Gesamtbild allenfalls modifiziert und nicht grundlegend verändert. 4. Zudem war die Dienstleistungsproduktion (wie jede A r t von Produktion) in der DDR wenig effizient organisiert. Der Rückstand bei der Produktivität etwa gegenüber der Bundesrepublik im Dienstleistungssektor war größer als in der Landwirtschaft und Industrie. So hatte der DDR-Konsumgüterhandel mit fast 800 000 Arbeitskräften, bezogen auf die Wohnbevölkerung, etwa ein Drittel mehr Beschäftigte als in der alten Bundesrepublik — und dies bei nur einem Drittel der Verkaufsfläche. Auch andere Dienstleistungsbranchen waren überbesetzt, so daß dort ein Personalabbau unumgänglich ist.

1 Abgrenzungsproblem gibt es freilich auch wegen der unterschiedlichen organisatorischen Zuordnung von Teilen der Dienstleistungsproduktion zu Unternehmen. So waren in der DDR weitaus mehr Personen mit Handelsfunktionen betraut, als in den staatlichen und genossenschaftlichen Handelsunternehmen beschäftigt waren. Im Transportgewerbe wiederum waren auch Personen erfaßt, die keine Transportaufgaben wahrnahmen, sondern ζ. B. Eisenbahnwaggons produzierten. Die Zuordnung der Beschäftigten nach Produktionsbereichen kommt der Wirklichkeit näher als die Zuordnung nach Wirtschaftsbereichen.

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Klaus-Dieter Schmidt

Tabelle 2 a)

Erwerbstätige im Dienstleistungssektor nach Wirtschaftsbereichen b) und Produktionsbereichen c ) in der DDR und in der Bundesrepublik im Jahre 1989d> (in 1 000)

Wirtschaftsbereich (A) Produktionsbereich (B)

DDR

Bundesrepublik

Relation^

Handel A) B) Verkehr und Nachrichtenübermittlung A) B) Kreditinstitute und Versicherungen A) B) Sonstige Dienstleistungen A) B) Staat und Private Organisationen ohne Erwerbszweck A) B)

731 920

3.600 3.840

0,78 : 1 0,91 : 1

677 535

1.559 1.479

1,66 : 1 1,37 : 1

50 40

852 845

0,22 : 1 0,23 : 1

463 740

4.126 4.519

0,42 : 1 0,62 : 1

2.506 2.210

5.478 5.441

1,75 : 1 1,55 : 1

4.427 4.660

15.615 16.124

1,08 : 1 1,06 : 1

Insgesamt A) B) a) b)

Erwerbstätige im Inland (Arbeitsortkonzept). Nach der Systematik der Wirtschaftszweige, Fassung für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. c) Nach der Systematik d. Input-Output-Rechnungen. d) Jahresdurchschnitt. e) Bezogen auf die Wohnbevölkerung. Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Amt der DDR; eigene Berechnungen.

5. Bei alledem darf nicht vergessen werden, daß die DDR-Wirtschaft den Konsumenten preisgünstig Dienstleistungen offerierte, die hierzulande schon lange nicht mehr existieren: Da wurden noch Strümpfe repassiert, Schirme und Tauchsieder repariert oder Scheren und Sägeblätter geschärft. Ein großes Berliner Dienstleistungskombinat betrieb auch eine Puppenklinik. Es ist also nicht so, daß die bislang existierenden ostdeutschen Dienstleistungsbetriebe alle Expansionschancen besitzen. Es gibt zahlreiche Betriebe, die ihre Tätigkeit über kurz oder lang einstellen oder ihr Leistungsprofil stark verändern müssen.

Wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland

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Umbruch beim Dienstleistungsangebot 6. Der Umbruch auf der Angebotsseite zeigt sich nicht nur darin, daß bisherige Dienstleistungsbetriebe verschwinden und neue entstehen, sondern daß sich nun eine vorwiegend mittelständische Struktur herauszubilden beginnt. In der früheren DDR war der Dienstleistungssektor mehr oder weniger von Monopolanbietern dominiert. Im Bereich des Einzelhandels existierten praktisch nur zwei Anbieter, die volkseigene HO-Handelsorganisation (mit einem Anteil am Einzelhandelsumsatz von zwei Dritteln) und der genossenschaftlich organisierte Handel in Form von knapp 200 Konsumgenossenschaften. Beide dominierten auch im Gastgewerbe. Bei den Dienstleistungen im engeren Sinne, vor allem bei den Dienstleistungen für die Bevölkerung, beherrschten große Dienstleistungskombinate und handwerkliche Produktionsgenossenschaften das Feld. So gab es 16 Dienstleistungskombinate mit 122 Betrieben (meistens mit Sitz in den Bezirkshauptstädten) mit teils speziellem, teils sehr heterogenem Angebot. Inzwischen ist aber viel Bewegung in die Angebotsseite gekommen: Die Kombinate lösen sich auf; sie befinden sich entweder in der Liquidation oder formieren sich in Teilbereichen neu. Und auch bei den Produktionsgenossenschaften sind Veränderungen i m Gange wie die Umwandlung in andere Rechtsformen, die Aufgabe unrentabler Produktionen und vor allem der Abbau von Arbeitsplätzen. Zudem entstehen neue Unternehmen, vorwiegend kleine und mittlere. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamts hat im Jahre 1990 die Anzahl der Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen in Ostdeutschland um rund 240 000 zugenommen. Man kann davon ausgehen, daß der überwiegende Teil der „neuen Selbständigen" auf den Dienstleistungssektor (einschließlich Produzierendes Handwerk) entfällt. Alles in allem dürften im Jahre 1990 etwa 100 000 neue Dienstleistungsunternehmen gegründet worden, und bis zur Jahresmitte 1991 dürften — nach der Entwicklung bei den Gewerbeanmeldungen zu urteilen — noch einmal 50 000 hinzugekommen sein. 7. Die große Anzahl von Existenzgründungen ist gleichwohl zu relativieren. Sie schließt auch zahlreiche „Kümmerexistenzen" ohne Überlebenschance ein. Nach einer detaillierten Auszählung der Gewerbeanmeldungen in Ost-Berlin entfielen dort fast ein Drittel der Existenzgründungen i m ersten Quartal 1991 auf „mit dem Kredit- und Versicherungsgewerbe verbundene Tätigkeiten" (Tabelle 3). Es handelt sich dabei nahezu ausschließlich um Tätigkeiten im Bereich der Versicherungsvermittlung, die meistens nur nebenberuflich ausgeführt werden. 8. Es ist nicht möglich, auf die Entwicklungstendenzen in allen Dienstleistungsbereichen einzugehen. Beispielhaft für den Umbruch und für die Probleme, die er mit sich bringt, sei deshalb die Situation i m ostdeutschen

78

Klaus-Dieter Schmidt

Einzelhandel skizziert. Für den Aufbau einer mittelständischen Handelsstruktur in den neuen Bundesländern ist die Entflechtung und Privatisierung der ehemaligen staatlichen Handelsorganisation (HO) von entscheidender Bedeutung. Beides ist weitgehend abgeschlossen. Die Treuhandanstalt hatte in einer ersten Runde 8 500 kleinere Läden (bis 1 000 m 2 ) und in einer zweiten Runde 2 000 größere Läden ausgeschrieben und die meisten davon veräußern können. Die 14 großen Centrum-Warenhäuser wurden an drei westdeutsche Kaufhausketten (Karstadt, Kaufhof, Hertie) verkauft. Die Treuhandanstalt besitzt noch einen Rest von 2000 Geschäften (mit 10000 Beschäftigten), die keinen Käufer gefunden haben oder die von ihren Käufern zurückgegeben wurden. Die Geschäfte sollen, falls sie nicht an den Mann zu bringen sind, zur Jahresmitte geschlossen werden (Forschungsstelle für den Handel, 1991). Obwohl sich auffallend viele Interessenten aus den neuen Bundesländern an den Ausschreibungen beteiligten, gingen die lukrativen (wenngleich häufig sanierungsbedürftigen) Objekte ganz überwiegend an westdeutsche Bieter. So haben vier Lebensmittel-Ketten — Spar, Rewe, Edeka und Tengelmann — rund 4 000 Kaufhallen und kleinere Geschäfte übernommen (die freilich teilweise in Privathand überführt werden sollen). Aber auch andere Handelsketten haben sich stark engagiert — etwa die AllkaufGruppe, die auf der „grünen Wiese" bereits 18 großflächige Supermärkte errichtet hat. Kleinere Objekte sind meistens an private Betreiber übertragen worden. Häufig kam dabei früheres Personal von Verkaufsstellen zum Zuge, dessen Bewerbung von der Treuhand vorrangig berücksichtigt wurde. Schließlich führen ehemalige Kommissionshändler ihr Geschäft nun selbständig weiter, nachdem die Kommissionsverträge gekündigt wurden. Wegen der Dominanz westdeutscher Großunternehmen — i m FoodBereich haben diese den Markt praktisch unter sich aufgeteilt — tut sich der neue mittelständische Einzelhandel allerdings schwer. Es ist schon von „neuen Monopolen" die Rede, die die ostdeutsche Handelszene prägen. Zu schaffen macht den mittelständischen Einzelhändlern vor allem der aggressive Preiswettbewerb der Großunternehmen. Daneben gibt es für diese eine Fülle weitere Probleme, wie — zu kleine Verkaufsflächen — ein attraktives und übersichtliches Angebot ist oftmals nicht möglich; — zu hohe Mieten und zu kurze Mietverträge — die Rentabilität ist damit nicht immer gewährleistet und eine langfristige Planung wird erschwert; — zu hoher Bestand an schwer verkäuflicher Altware — das bindet Kapital und behindert den Bezug aktueller Ware; — große Anzahl an Verkaufspersonal — die bei einer Kündigung (nach Tarifvertrag) zu zahlenden Abfindungszahlungen sind für viele Betriebe zu hoch.

Wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland

79

Tabelle 3 Gewerbeanmeldungen in Ost-Berlin nach Dienstleistungszweigen im 1. Quartal 1991 (Struktur in vH)

Gewerbeanmeldungen Dienstleistungszweige Insgesamt Handel Großhandel Handelsvermittlung Einzelhandel Verkehr und Nachrichtenübermittlung Verkehr, Nachrichtenübermittlung (ohne Sepdition etc.) Spedition, Lagerei, Verkehrsvermittlung Kreditinstitute und Versicherungsgewerbe Kreditinstitute Versicherungsgewerbe Kredit- und Versicherungsvermittlung Dienstleistungsunternehmen Gastgewerbe, Heime Wäscherei, Körperpflege, Fotoateliers, persönliche Dienstleistungen Gebäudereinigung, Abfallbeseitigung Bildung, Wissenschaft, Sport, Unterhaltung Verlagsgewerbe Gesundheits- und Veterinärwesen Rechtsberatung, Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung etd. Andere Dienstleistungen Alle Wirtschaftsbereiche

darunter: Neugründungen

Nachrichtlich: Gewerbeabmeldungen

32,5 2,7 7,4 22,4

32,6 2,6 8,2 21,7

35,9 2,3 6,8 26,9

5,5

5,8

6,6

4,9

5,3

6,0

0,6

0,5

0,6

27,7 0,2

31,0 0,2

-

-

9,5 -

27,5

30,8

9,5

27,7 2,8

23,8 1,4

32,4 5,7

2,7 1,1

2,6 1,1

3,8 4,1

2,8 1,8 1,6

2,9 1,8 1,8

4,4 0,2 0,1

11,2 4,0

11,6 4,1

11,1 3,0

100,0

100,0

100,0

Quelle: Statistisches Landesamt Berlin.

Zudem läßt die Umsatzentwicklung noch sehr zu wünschen übrig. Der ostdeutsche Einzelhandel setzt derzeit schätzungsweise ein Drittel weniger um als vor der Wende — trotz deutlich höherer Haushaltseinkommen.

80

Klaus-Dieter Schmidt

Einbruch bei der Dienstleistungsnachfrage 9. Obgleich der Einbruch beim Einzelhandelsumsatz spezifische Ursachen hat — er beruht auf der anhaltenden Vorliebe der ostdeutschen Bevölkerung, i m Westen einzukaufen (beim stationären Handel wie beim Versandhandel), so ist er doch symptomatisch für die Situation des gesamten Dienstleistungssektors: Die Nachfrage ist spürbar zurückgegangen. Für die meisten Dienstleistungsunternehmen ist der Start in die Marktwirtschaft somit recht mühsam. Das·gilt gleichermaßen für Unternehmen, die Dienstleistungen vorrangig für Konsumenten erbringen, wie die Branchen, die vorrangig Dienstleistungen für Produzenten erbringen: — Bei den Dienstleistungen für Konsumenten schlägt vor allem der Wandel im Nachfrageverhalten zu Buche. Der Anteil der Ausgaben privater Haushalte an den gesamten Verbrauchsausgaben ist seit Einführung der Marktwirtschaft deutlich gesunken. Vor allem die Haushalte von Arbeitnehmern geben wesentlich weniger Geld für Dienstleistungen aus als vorher (Tabelle 4). Das hat vor allem zwei Ursachen: Die kräftige Anhebung der Preise für Dienstleistungen und — nicht unabhängig davon — die Veränderung in den Präferenzen der Konsumenten weg von Dienstleistungen und hin zu hochwertigen Gebrauchsgütem. So wird inzwischen weit weniger Wäsche als früher außer Haus gewaschen, obwohl sich die vormals extrem langen Lieferfristen längst normalisiert haben. Die Inanspruchnahme (teurer gewordener) Fremdleistungen wird also durch vermehrte Eigenleistung, häufig in Verbindung mit dem Kauf einer (inzwischen spürbar billiger gewordenen) Waschmaschine, ersetzt. Tabelle 4 Anteil der Ausgaben für Dienstleistungen (ohne Miete) an den gesamten Verbrauchsausgaben ausgewählter Privater Haushalte in den neuen Bundesländern (1990)

l.Vj.

2. Vj.

3. Vj.

4. Vj b )

Haushalte von Arbeitern und Angestellten Familien ohne Kinder Familien mit zwei Kindern

16,3 14,3

14,3 10,3

13,7 10,7

13,9 11,0

Haushalte von Rentnerna) Einpersonen-Haushalte Zweipersonen-Haushalte

23,8 14,2

22,5 8,9

21,7 11,5

a) Ohne Haushalte mit Arbeitseinkommen. b) Oktober/November. Quelle: Statistisches Bundesamt.

Wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland

81

— Bei den Dienstleistungen für Produzenten macht sich die allgemein schlechte wirtschaftliche Lage und insbesondere der tiefe Einbruch der Industrieproduktion bemerkbar. So ist das Transportaufkommen auf Schiene und Straße kräftig gesunken, trotz eines sprunghaft gestiegenen Warenaustausches zwischen neuen und alten Bundesländern.

Strukturwandel als asymmetrischer Prozeß 10. Die Strukturanpassung, wie sie die ostdeutsche Wirtschaft derzeit durchmacht, ist ein asymmetrischer Prozeß: Die alten Strukturen brechen rasch weg, die neuen bilden sich erst langsam heraus. Das erklärt den anhaltend hohen Arbeitsplatzabbau, auch in jenen Dienstleistungsbereichen, die auf lange Sicht Arbeitskräfte einstellen werden. Zudem ist nicht zu übersehen, daß derzeit Strukturen entstehen, die auf Dauer keinen Bestand haben können. Viele Menschen, die sich jetzt in Ostdeutschland als Würstchenverkäufer, Taxifahrer, Versicherungsvertreter oder Getränkehändler versuchen, werden schon bald wieder enttäuscht aufgeben. Das ist gewiß kein Argument, das jemanden davon abhalten sollte, sich selbständig zu machen. Im Gegenteil, die Marktwirtschaft ist ein „Entdeckungsverfahren" (Hayek), und für den Übergang von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft gilt das erst recht. Weil dies so ist, braucht es noch viel mehr (und nicht etwa weniger) Menschen, die den Sprung in die Selbständigkeit wagen. Nur darf man sich keine übertriebenen Hoffnungen über die Erfolgschancen machen: Der konstant großen Anzahl von Geschäftsgründungen (nach der Statistik der Gewerbeanmeldungen etwa 25 000 pro Monat) steht mittlerweile eine steigende Anzahl von Geschäftsschließungen aus wirtschaftlichen Gründen gegenüber. 11. Alles in allem spricht vieles dafür, daß sich der Dienstleistungssektor in Ostdeutschland noch geraume Zeit im Schlepptau der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung befinden wird. Er wird keinesfalls schon bald ein starkes Zugpferd sein, wie es da und dort prognostiziert wurde — und wie es an sich wünschenswert wäre. Literatur Bode, Eckhart/Krieger-Boden, Christiane: „Sektorale Strukturprobleme und regionale Anpassungserfordernisse der Wirtschaft in den neuen Bundesländern". Die Weltwirtschaft, 1990, Heft 2, Tübingen 1990, S. 84-97. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Institut für Weltwirtschaft: Gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsprozesse in Ostdeutschland, Zweiter Bericht. Kieler Diskussionsbeiträge 169, Juni 1991. Forschungsstelle für den Handel: „Der Handel in der ehemaligen DDR—Bestandsaufnahme und Entwicklung —Berlin, Februar 1990. 6 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

Aktuelle Entwicklungen in den Sektoren: Die Landwirtschaft Von Wilhelm Henrichsmeyer, Bonn

Zur Ausgangssituation der Landwirtschaft in der ehemaligen DDR Die landwirtschaftlichen Betriebsformen und -strukturen in der ehemaligen DDR sind das Ergebnis einer über vier Jahrzehnte hinweg betriebenen Politik der Kollektivierung der Landwirtschaft, die zur Herausbildung sehr großer Produktionseinheiten, überwiegend in der Form landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften, geführt hat. Die Betriebe waren fast vollständig entweder auf pflanzliche oder tierische Produktion spezialisiert und umfaßten neben der direkten landwirtschaftlichen Produktion auch ein breites Spektrum handwerklicher, sozialer und kommunaler Dienstleistungen. Die LPGen und Staatsbetriebe waren im Vergleich zu den landwirtschaftlichen Betrieben in der westlichen Welt, auch in Übersee, außerordentlich groß: die Ackerbaubetriebe bewirtschafteten im Durchschnitt etwa 4.500 ha und beschäftigten rund 350 Arbeitskräfte. In den Viehhaltungsbetrieben wurden durchschnittlich etwa 1.500 Vieheinheiten gehalten und 120 Arbeitskräfte beschäftigt. Die Landwirtschaft der ehemaligen DDR war trotz der Größe der Betriebe und einer besonderen Förderung im alten System nach westlichen Maßstäben nur wenig effizient. Die Gründe für die geringe Effizienz sind vielfältig: — Mängel des zentralen Planungssystems, — eingeschränkter Zugang zu moderner Technologie und westlichem know-how, — vor allem aber aus der Rechts- und Organisationsform der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften resultierende Mängel. Diese bestehen insbesondere in: — einem zu breiten Spektrum landwirtschaftlicher, handwerklicher und kommunaler Funktionen, — geringen Leistungsanreizen für die einzelnen Mitglieder, — geringer Anpassungsfähigkeit des Arbeitskräftebesatzes,

84

Wilhelm Henrichsmeyer

— geringer Bereitschaft, für die Zukunftssicherung des Betriebes Opfer zu bringen, — sowie komplizierten und aufwendigen Organisations- und Verwaltungsstrukturen. Aus dem Zusammenwirken aller dieser Faktoren resultieren vergleichsweise niedrige Erträge und hohe Aufwendungen in der pflanzlichen und tierischen Produktion, eine nicht dem heutigen Stand der Technik entsprechende Maschinen- und Gebäudeausstattung, und vor allem ein erheblicher Überbesatz an Beschäftigten, insbesondere im Bereich der Administration. In dem alten Planungssystem wurden diese Mängel dadurch verdeckt, daß die Erzeugerpreise nach den hohen Produktionskosten bemessen wurden und damit völlig von den Verbraucherpreisen abgehoben waren. Auf diese Weise wurden umfangreiche Subventionen an die Landwirtschaft transferiert. Übersicht la: Ausgangssituation (LGR) der DDR-Landwirtschaft (allein landw. Produktion) in DDR-Preisen (Mengen- und Preisgerüst als Durchschnitt der Jahre 1986 bis 1989; alle Werte in Mark der DDR)

Pflanzenprod. Mio. M a i

Tierprod. Mio. M a i

Mio. M a )

Produktionswert

24831.8

53343.1

78174.9

Vorleistungen

14105.6

35324.2

49429.8

10726.2

18018.9

28745.1

515.9 933.9

208.1

724.0 933.9

10308.2

18227.0

28535.2

Abschreibungen

1817.4

1305.8

3123.2

NWSm NWSf

8908.8 8490.8

16713.1 16921.2

25621.9 25412.0

Löhneb) Zinsen

3875.0 773.2

4741.7 583.2

8616.7 1356.4

Nettoeinkommen

3842.6

11596.3

15438.9

Wertschöpfungsberechnung

BWSm Subventionen Steuern BWSf

Gesamt

85

Aktuelle Entwicklungen in den Sektoren: Die Landwirtschaft

Das ganze Ausmaß der Ineffizienz der Landwirtschaft in der ehemaligen DDR wird erkennbar, wenn man die Faktoreinsatz- und Produktionsmengen mit bundesdeutschen Preisen bewertet. Wenn man dieses im Rahmen einer globalen sektoralen Gesamtrechnung vornimmt, so ergibt sich, daß die Bruttowertschöpfung auf einen Bruchteil ihres früheren Wertes absinkt und nur hinreicht, um etwa ein Drittel der Lohnsumme für die Beschäftigten aufzubringen, selbst wenn man von Abschreibungen, Zinszahlungen und Steuern absieht. Übersicht lb: Situation der ostdeutschen Landwirtschaft zu bundesdeutschen Preisen (Mengengerüst als Durschnitt von 1986 bis 1989, Preise von 1990 in DM)

Pflanzenprod. Mio. M a )

Tierprod. Mio. M a )

Mio. Ma>

Produktionswert

13237.7

18921.7

32159.4

Vorleistungen

10061.1

19102.7

29163.8

3176.6

-181.0

2995.6

515.9 933.9

208.1

724.0 933.9

BWSf

2758.6

27.1

2785.7

Abschreibungen

1817.4

1305.8

3123.2

NWSm NWSf

1359.2 941.2

-1486.8 -1278.7

-127.6 -337.5

Löhneb) Zinsen

3875.0 773.2

4741.7 583.2

8616.7 1356.4

Nettoeinkommen

-3707.0

-6603.6

-10310.6

Wertschöpfungsberechnung

BWSm Subventionen Steuern

Gesamt

a) b)

Berechnung nach Bruttokonzept Einschließlich der Arbeitsentlohnung der LPG-Mitglieder Quelle: Berechnung des Instituts für Agrarpolitik der Universität Bonn und des Instituts für Agrarökonomie Berlin; im Rahmen des Forschungsauftrags des BMELF: „Entwicklung eines differenzierten Simulations- und Monitoringsystems für den Agrarbereich der ehemaligen DDR" (SIMONA)

Bereits diese globalen sektoralen Werte lassen erkennen, daß nicht nur eine starke Reduzierung der Anzahl der Beschäftigten, sondern auch grund-

86

W i l h e l m Henrichsmeyer

legende Verbesserungen der technischen Produktionseffizienz und der Betriebsorganisation notwendig sind, um auch nur den durchschnittlichen Produktivitätsstand der kleinstrukturierten westdeutschen Landwirtschaft zu erreichen und im Gemeinsamen Agrarmarkt wettbewerbsfähig zu werden. Hinter diesen Durchschnittszahlen für die gesamte DDR-Landwirtschaft verbergen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Betriebszweigen und Standortbedingungen. Bei einem Vergleich der Betriebszweige zeigt sich, daß der Produktivitätsrückstand im Bereich der Tierhaltung noch deutlich größer ist als im Bereich der pflanzlichen Produktion. Von den Zweigen der pflanzlichen Produktion ist die Getreideproduktion unter den Preisverhältnissen der EG noch am ehesten wettbewerbsfähig. Sehr starke Unterschiede in der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit bestehen auch zwischen den Produktionsstandorten. Dieses ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die natürlichen Standortbedingungen in den neuen Bundesländern noch stärker differieren als in den alten Bundesländern. Das Spektrum reicht von den bundesweit besten Standorten der Magdeburger Börde bis zu extremen Grenzstandorten im Sandgürtel Brandenburgs. Aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Standortfaktoren resultiert eine außerordentlich starke regionale Differenzierung der Wertschöpfung je ha L N bzw. pro AK, wenn man auch hier (wie bei der globalen sektoralen Rechnung) die jeweiligen Produktions- und Aufwandsmengen mit bundesdeutschen Preisen bewertet. In Schaubild 1 sind die so errechneten Beträge der Bruttowertschöpfung pro ha für die einzelnen Landkreise der neuen Bundesländer abgebildet. Derartige Berechnungen und Vergleiche lassen sich nicht ohne weiteres aus den in der ehemaligen DDR vorliegenden Statistiken und Buchführungsergebnissen ableiten, da diese nicht den in der EG üblichen Grundsätzen und Regeln betrieblicher Buchführung und Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung entsprechen. Es war daher notwendig, Daten aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen im Rahmen eines differenzierten Systems sektoraler Gesamtrechnung zusammenzuführen und damit vergleichbar zu machen. Diese umfangreichen konzeptionellen und empirischen Arbeiten wurden in enger Zusammenarbeit von Mitarbeitern des hiesigen Instituts für Agrarpolitik und des Ostberliner Instituts für Agrarökonomie in einem Intensivprogramm in wenigen Monaten bewältigt, und bilden die datenmäßige Grundlage für ein differenziertes Simulations- und Monitoring System für die neuen Bundesländer (in der Abkürzung SIMONA), das i m Auftrag und in enger Abstimmung mit den Referenten des BMELF zur laufenden Diagnose der Einkommens- und Liquiditätssituation in der Landwirtschaft sowie zur Abschätzung möglicher künftiger Entwicklungen eingesetzt wird.

Aktuelle Entwicklungen in den Sektoren: Die Landwirtschaft

87

Schaubild 1: Bruttowertschöpfung (zu Marktpreisen) je ha landwirtschaftlicher Nutzfläche in den fünf neuen Ländern (Kreisdurchschnitt, 1989 umbewertet)

in D M je ha LN

ϋ ϋ ϋ

]

unter

]

-400. - -200.

-400.

• • •

200. - 400.

-200. -

· Η ·

über

0.

Vmmm

0. - 200. 400.

Quelle: Institut für Agrarökonomie Berlin; Institut für Agrarpolitik der Universität Bonn; SIMONA.

88

W i l h e l m Henrichsmeyer

Zum bisherigen Verlauf des Anpassungsprozesses in der Landwirtschaft W i e nach den vorgetragenen Ergebnissen der Effizienzanalysen nicht anders zu erwarten war, geriet die Landwirtschaft der neuen Bundesländer unmittelbar nach der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion unter enormen Anpassungsdurck. Dieser wurde noch dadurch verstärkt, daß die Agrarpreise in den neuen Bundesländern aufgrund der Präferenz der Bevölkerung für Westprodukte, des weitgehenden Zusammenbruchs des Verarbeitungs- und Vermarktungsbereiches und des noch nicht voll funktionierenden Interventionssystems besonders in den ersten Monaten stark gedrückt waren und auch heute noch teilweise deutlich unter den Preisen in den westlichen Bundesländern liegen. Unter diesen Bedingungen war die Agrarpolitik in der zweiten Hälfte des letzten Jahres zunächst einmal darum bemüht, akute Liquiditätsengpässe und, dadurch ausgelöst, einen allgemeinen Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern zu verhindern. Auf dem Wege verschiedener Programme wurden daher von der Bundesregierung erhebliche finanzielle Zuschüsse gewährt, die die erste Phase nach der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Wiedervereinigung überbrücken halfen. Dem Betrag nach entsprachen die im Jahre 1990 geleisteten, direkt erlöswirksamen Zuschüsse in Höhe von rd. 3,5 Mrd D M ziemlich genau der Liquiditätslücke, die mit Hilfe des obengenannten Monitoring-Systems identifiziert wurde. Für unser Thema interessiert insbesondere, in welchen Bereichen durch die veränderten Rahmenbedingungen und staatlichen Anpassungshilfen Strukturanpassungen ausgelöst wurden, und ob sich bereits eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit abzeichnet. Hierzu ist die Zwischenbilanz zwiespältig: Die betrieblichen Strukturen und Organisationsformen haben sich in den meisten Unternehmen aus verschiedenen Gründen bislang nur wenig verändert, während in der kurzen Zeit bereits ein erheblicher Abbau des überhöhten Arbeitskräftebestandes und in einem vergleichsweise großen Umfang Flächenstillegungen vorgenommen wurde. Im einzelnen ergibt sich in Stichworten folgendes Bild: — Die Anzahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist aufgrund von altersbedingtem Ausscheiden und Vorruhestand, Kurzarbeit und Umschulung, teilweise auch durch Arbeitslosigkeit bislang um etwa 1/3 vermindert worden. Ein weiterer Abbau muß in Verbindung mit einer Auslagerung von Funktionen und einer Rationalisierung der ArbeitsWirtschaft durch Umstrukturierung und bessere Mechanisierung der Betriebe erfolgen. Um i m Gemeinsamen Markt wettbewerbsfähig werden zu können, ist eine Reduzierung der Anzahl der Beschäftigten auch

Aktuelle Entwicklungen in den Sektoren: Die Landwirtschaft

89

innerhalb des engeren Bereichs der landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf allenfalls ein Drittel der Anzahl der bisherigen landwirtschaftlichen Beschäftigten notwendig. — Der Umfang der Flächenstillegungen war in den neuen Bundesländern mit gut 600.000 ha etwa doppelt so groß, wie ursprünglich veranschlagt war. Der Anteil der stillgelegten Flächen an der gesamten L N ist mit annähernd 10 % schon im ersten Jahr um ein Vielfaches höher als in jedem anderen EG-Land, obwohl die Prämien in der Übergangszeit deutlich nieriger sind als in den alten Bundesländern. Dieses ist einmal auf den hohen Anteil marginaler Böden, vor allem jedoch auf die drängenden Einkommens- und Liquiditätsprobleme zurückzuführen. In Abhängigkeit von der weiteren Entwicklung der agrarpolitischen Rahmenbedingungen ist mittelfristig mit Flächenstillegungsanteilen in Größenordnungen von bis zu 25 % zu rechnen.

Weitgehende Konsequenzen für die ländlichen Räume Diese groß dimensionierten Anpassungen des Arbeitskräftebestands und marginaler landwirtschaftlichen Nutzflächen sind zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Landwirtschaft unerläßlich, führen aber für weite Teile des ländlichen Raumes zu nur schwer lösbaren Problemen. Die Schwierigkeiten liegen insbesondere darin, daß sich die Freisetzungen von Beschäftigten und Flächen vor allem auf solche Regionen konzentrieren, in denen — auch abgesehen von den akuten Arbeitsmarktproblemen — nur wenig außerlandwirtschaftliche Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Ein Rückzug der Landwirtschaft gefährdet daher auch die Funktionsfähigkeit dieser Räume und erfordert besondere regionalpolitische Maßnahmen, auf die im Rahmen dieses Referats jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Schleppender Gang der Umstrukturierung von LPGen Für die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der neuen Bundesländer ist von entscheidender Bedeutung, wie der Prozeß der Umstrukturierung der LPGen vorankommt. Bis heute läuft dieser nur sehr zögernd an. Vielfach wurde nur die Rechtsform geändert, meistens erfolgte eine Umwandlung der landwirtschaftlichen Betriebe in eine eingetragene Genossenschaft und ausgelagerter Teilbetriebe in eine GmbH. In einer Reihe von Fällen wurden Genossenschaften der Pflanzenproduktion und Tierproduktion zusammengelegt und teilweise anschließend verkleinert. Nur in relativ geringer Zahl

90

W i l h e l m Henrichsmeyer Schaubild 2: Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten an den in der Gesamtwirtschaft Beschäftigten (Kreisdurchschnitt 1989)

in % I

I

unter

10.

mmm

20. -

25.

1

I

10. -

15.

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25. -

30.

NWfe I

15. -

20.

WÊBÊÊ

über

30.

Quelle: Institut für Agrarökonomie Berlin; Institut für Agrarpolitik der Universität Bonn; SIMONA.

Aktuelle Entwicklungen in den Sektoren: Die Landwirtschaft

91

entstanden bislang durch Neugründung landwirtschaftliche Einzelunternehmen, und wenn, dann meistens in Grenznähe zu den alten Bundesländern und an günstigen Standorten. Die Gründe für den schleppenden Gang des Umstrukturierungsprozesses sind vielfältig. Bedeutende Hemmnisse sind die vielfach noch nicht geklärten Eigentumsverhältnisse, Probleme bei der Vermögenserfassung und -aufteilung, eine unzureichende Ausbildung für eine eigenständige Unternehmensführung sowie Schwierigkeiten der Kreditaufnahme. Darüber hinaus bestehen nicht hinreichende Informationen und Beratung über rechtliche und organisatorische Gestaltungsmöglichkeiten, insbesondere hinsichtlich der steuerlichen Behandlung und der staatlichen Förderungsmöglichkeiten bei den verschiedenen Rechtsformen. Und nicht zuletzt sind es die Unsicherheiten der künftigen Ausrichtung der EG-Agrarpolitik, die nicht nur die westdeutschen Bauern verunsichern, sondern auch in den neuen Bundesländern manchen Interessierten zögern lassen, gerade zu diesem Zeitpunkt die Risiken des Neuaufbaus eines landwirtschaftlichen Betriebes auf sich zu nehmen.

Wettbewerbschancen der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wie die künftige Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern zu beurteilen ist. Bereits in den ersten 5 Monaten des Jahres 1990 haben sich die ernährungswirtschaftlichen Lieferungen in die ehemalige DDR gegenüber dem Vorjahreszeitraum nahezu verdreifacht. Diese Tendenz hat sich nach der Einführung der Währungs- und Wirtschaftsunion durch die starke Nachfrage der Verbraucher nach Westprodukten noch wesentlich verstärkt. Dadurch ist schließlich in den neuen Bundesländern der Anteil der heimisch erzeugten Nahrungsmittel am Verbrauch zeitweise auf nur 30 % gesunken. Ein Teil der Agrarprodukte konnte anfänglich gar nicht oder nur zu sehr niedrigen Preisen abgesetzt werden. Die Auswirkungen auf westliche Agrarmärkte wurden zwar spürbar, konnten jedoch durch ein Vorziehen der Getreideintervention und umfangreiche Exporte von Kartoffeln, Rind- und Schweinefleisch, insbesondere in die UDSSR, gemildert werden. Die Agrarwirtschaft der neuen Bundesländer steht damit in den nächsten Jahren zunächst einmal vor der mühevollen Aufgabe, schrittweise Versorgungsanteile am heimischen Markt wiederzugewinnen. Hier sind bereits jetzt, auch durch die starke Unterstützung der CMA, sichtbare Erfolge zu verzeichnen. Schließlich ist zu fragen, wie die langfristigen Perspektiven der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern zu beurteilen sind. Hier ist die entschei-

92

Wilhelm Henrichsmeyer

dende Frage, ob die Produktionsgenossenschaften im neuen Rechtsgewand einer e.G. in der Lage sein werden, ihre Organisationseffizienz entscheidend zu steigern und den Mitgliedern größere Leistungsanreize und Mitverantwortung zu geben. Nach den bisherigen Erfahrungen — auch in anderen Ländern der westlichen Welt — muß man eher skeptisch sein. Es ist daher wohl davon auszugehen, daß sich auf die Dauer vor allem landwirtschaftliche Einzelunternehmen und überschaubare Personengesellschaften mit Eigenverantwortung der einzelnen Gesellschafter im Wettbewerb durchsetzen werden, die jedoch im allgemeinen im Vergleich zu den westlichen Bundesländern wesentlich größer sein dürften. Art, Ausmaß und Geschwindigkeit des Umstrukturierungsprozesses der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern werden wesentlich von der Gestaltung der agrarpolitischen Rahmenbedingungen abhängen. Eine wichtige Frage wird dabei sein, wie die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften neuen Stils hinsichtlich Besteuerung und staatlicher Förderungsmöglichkeiten behandelt werden. Von unmittelbarer und akuter Bedeutung ist darüber hinaus, in welchem Maße auch im laufenden Jahr Liquiditätshilfen an die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gezahlt werden. Wenn diese stark zurückgenommen werden, dürften viele der Genossenschaften schon sehr kurzfristig illiquide werden und in Konkurs gehen, so daß dann zwangsläufig ein beschleunigter Umstrukturierungsprozeß eingeleitet würde. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß sich langfristig an den günstigen Produktionsstandorten der neuen Bundesländer hoch wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Betriebe — auch an internationalen Maßstäben gemessen — herausbilden werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß nicht nur Umstrukturierungen in der Landwirtschaft, sondern auch Verbesserungen der allgemeinen Infrastruktur (Verkehr, Telekommunikation) und vor allem des Verarbeitungs- und Vermarktungssystems erfolgen. Dieses alles wird einige Zeit in Anspruch nehmen, so daß mit einer längeren Anpassungsphase zu rechnen ist. Das gilt auch deshalb, weil die Anpassung an die Rahmenbedingungen in der EG nicht einen einmaligen Kraftakt darstellt, sondern sich auch diese aufgrund der anstehenden Reformen der EG-Agrarpolitik im Verlaufe der nächsten Jahre grundlegend verändern dürften. Literatur Böse, Ch./Henrichsmeyer, W.: Preis- und Einkommenspolitik: Auswirkungen der veränderten Rahmenbedingungen und Anforderungen an die Politikgestaltung, in: Merl, S./ Schinke, E. (Hrsg.): Agrarwirtschaft und Agrarpolitik in der ehemaligen DDR im Umbruch. Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen Reihe 1. Berlin 1991. S. 203-222.

Aktuelle Entwicklungen in den Sektoren: Die Landwirtschaft

93

Henrichsmeyer, W.: Anpassungsprobleme und Perspektiven der DDR-Landwirtschaft, in: Agrarwirtschaft Nr. 8/90, S. 233-234. — Vernachlässigte Aspekte des agrarwirtschaftlichen Strukturwandels in den neuen Bundesländern. In Agrarwirtschaft Nr. 3/91, S. 65-66. Heruichsmeyer, W./Schmidt, K. (Hrsg.): Die Integration der Landwirtschaft der neuen Bundesländer in den europäischen Agrarmarkt; Agrarwirtschaft Sonderheft 129, Frankfurt 1991. Henrichsmeyer, W./Welschof, J./Böse, Ch.: Überlegungen zur Gestaltung zukünftiger Unternehmensrechtsformen und Betriebsstrukturen im Bereich der Landwirtschaft der neuen Bundesländer, Agrar-Europe Nr. 43/90, Markt und Meinung, S. 12-15.

Zusammenfassung der Diskussion

Referate Brenke, K.-D. Schmidt und Henrichsmeyer Wegner fragt Brenke, ob er sich getrauen würde zu sagen, wann die von ihm vorausgesagte Schrumpfung aufhören werde und was von den Potentialen der Industriebetriebe in der ostdeutschen Wirtschaft übrigbleiben könnte. Er zitiert den deutschen McKinsey-Chef Henseler, der davon gesprochen habe, es könnten zwischen 600.000 und 800.000 Menschen sein, wobei rund 300.000 aus den Betrieben ausgelagert werden und in die Dienstleistung gehen könnten. Das wären 20 bis 25 % der 3,2 Millionen Beschäftigten in der Industrie. Brenke erwidert, es handele sich zum Teil um ein statistisches Problem, eine Frage der Abgrenzung. Die Zahl der Beschäftigten sei mittlerweise deutlich kleiner: Er schätzt sie auf 2,1 bis 2,2 Millionen. Im übrigen komme es nicht nur auf das Ausmaß, sondern auch auf den Termin des Beschäftigungsabbaus an. Zu einer exakten Quantifizierung des eventuellen Abbaus sieht er sich nicht in der Lage, auf jeden Fall werde er aber immens groß. Allein für das Osteuropa-Geschäft seien mindestens 800.000 Erwerbstätige in der ostdeutschen Industrie engagiert. Wenn die Zukunft hier noch schlechter werde, bedeute das natürlich massenhafte Entlassungen. Über die Hälfte der Beschäftigten sei zudem derzeit in Kurzarbeit, und die Kurzarbeit werde immer weiter zunehmen in der Weise, daß immer mehr Leute immer weniger Stunden arbeiten. Hier existiere also noch ein ebenso großes Potential der Arbeitslosigkeit. In den staatseigenen Betrieben seien das schon fast anderthalb Millionen. Auch der zeitliche Aspekt sei für ihn schwierig zu quantifizieren. Er kenne einige Investitionsgrößen, wisse aber nicht, wann diese Investitionen wirksam werden. Gegenwärtig seien noch rund 4.600 Industriebetriebe in Treuhandbesitz, und dabei handele es sich im wesentlichen um die größeren. Hier solle selektiert werden zwischen denen, die saniert und denen, die geschlossen werden. Bis zum 31. März hätten sämtliche Betriebe Sanierungskonzepte vorlegen sollen. Die Frist sei verstrichen und der Termin auf Mitte Mai verschoben worden. Aber auch dieser Termin werde kaum zu halten sein, weil der allergrößte Teil der Unternehmen die Sanierungskonzepte noch nicht vorgelegt hat. Der Prozeß, in dem die Selektion stattfindet, werde sich also noch über das ganze Jahr hinziehen, so daß weiterhin massiv

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subventioniert werden müsse. Ende des Jahres, wenn die Kurzarbeiterregelung ausläuft, könne es zu einem drastischen Einbruch kommen. Viele Betriebe könnten den Zeitpunkt für gekommen halten, die überzähligen Arbeitskräfte zu entlassen. Willgerodt geht auf die These ein, es werde eine „Primitivierung" der Industrie stattfinden. Er empfiehlt eine gewisse Vorsicht; berühmte Institute hätten einmal für die Bundesrepublik eine bestimmte Entwicklung in der Textilindustrie prognostiziert, wo ähnliches vorausgesagt und außerdem eine katastrophale Schrumpfung prophezeit wurde. Die Textilindustrie habe sich aber im Gegenteil zu einer Qualitätsbranche entwickelt und sei keineswegs in der Weise geschrumpft, wie das prognostiziert war. Nun sei jede Prognose ja eine bedingte Prognose, und es wäre wichtig, die Bedingungen zu nennen, unter denen das eintritt, was prognostiziert wird. Bisher sei ein großer Teil der Forschungsaktivitäten drüben darauf gerichtet gewesen, die COCOM-Liste zu umgehen. Das habe dort erhebliche technologische Fähigkeiten herausgefordert. Daß das an sich eine völlige Fehlinvestition war, sei klar, nur sei das technologische Potential erheblich größer — auch an den Technischen Hochschulen —, als man im Westen normalerweise annehme. Die Qualifikation der dortigen Naturwissenschaftler sei mit der an den westdeutschen Technischen Hochschulen durchaus vergleichbar. Man könne natürlich im Wege der westdeutschen Arroganz die dortigen Forschungseinrichtungen kaputtmachen und sie alle „abwickeln". Damit würde aber eine Innovationsvoraussetzung abgeschafft. Die dortige sogenannte Akademie der Wissenschaften habe doch wohl nicht nur Unsinn gemacht. Es stelle sich die Frage, ob wirklich ein „koloniales" Gebilde entstehen müßte, wo alles Gescheite im Westen und alles weniger Gescheite i m Osten gemacht wird. Man könne ja sicherlich so viele Fehler machen, daß das alles so eintritt. Willgerodt möchte nur genau wissen, welche Fehler gemacht werden müssen, damit es derartig schiefgeht. (Heiterkeit) Brenke nimmt das Beispiel der Textilindustrie auf, denn hier handele es sich um einen bedeutsamen Strukturunterschied. Die Textilindustrie sei i m Westen durch bestimmte Größenklassen gekennzeichnet gewesen und habe über ein großes unternehmerisches Potential verfügt. Das sei aber in den neuen Bundesländern weitgehend zu vermissen. (Willgerodt: Jetzt!) Es sei im Westen über 40 Jahre gewachsen, und dort sei kaum etwas vorhanden. Bei offenen Märkten könne ein Wachsen dieses Potentials sehr schwierig sein. Hoffmann ergänzt, ihn wundere schon, daß Willgerodt ausgerechnet die Textilindustrie anführte. Er wisse selbst, daß das Welt-Textilabkommen der deutschen Textilindustrie einen gesicherten Garten beschert hat. Hoffmann

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verweist auf seine Erfahrungen bei Verhandlungen auf der anderen Seite; er habe erlebt, wie rigoros die Importe von Entwicklungsländern abgeschnitten wurden. Aber man wolle und könne nicht einen gesicherten Garten für die ostdeutsche Industrie schaffen. Das Problem sei nun einmal, daß sie ständig unter vollem Wettbewerb steht. Henrichsmeyer merkt zu dem „Primitivierungs"-Disput an, in einigen Bereichen — etwa in der Zucker- und der Milchindustrie — entstünden gegenwärtig im Rahmen von Joint ventures technologisch sehr hochstehende, also keineswegs primitive, sondern nach neuestem Standard arbeitende Einheiten. Die Hauptquartiere blieben im Westen — das sei richtig —, aber der technologische Stand der Betriebe sei sehr hoch. Er sei teilweise so günstig, daß man sich im Westen frage, wie es mit der relativen Konkurrenzsituation in fünf oder acht Jahren aussehen werde. Zu der Frage der „Abwicklung" von Hochschulen und Forschungseinrichtungen merkt Brenke an, es gehe nicht so sehr darum, daß ein naturwissenschaftliches Potential vorhanden ist, sondern darum, wo dieses naturwissenschaftliche Potential seinen Arbeitsplatz findet. Insofern müsse man feststellen, daß vor allem die qualifizierten Mitarbeiter abgewandert sind. In Berlin habe man mittlerweise 80.000 Pendler. In früheren Befragungen zum Fachkräftebedarf in der Westberliner Industrie habe man regelmäßig festgestellt, daß Ingenieure und Facharbeiter fehlten. Nach der laufenden Befragung zeichne sich ganz deutlich ab, daß dieser Fehlbestand nicht mehr gegeben ist. Man könne das auch erkennen, wenn man sich die Anzeigen der Wochenendausgaben der ostdeutschen Zeitungen ansieht: viele Unternehmen aus dem alten Bundesgebiet versuchten, die qualifizierten Leute abzuziehen. Leibiritz betont, man müsse zwischen der Momentaufnahme und der mittelfristigen Perspektive unterscheiden. Gerade die Pendler seien ein Beispiel dafür, daß später, wenn diese erste Phase überwunden ist, wieder sehr geeignete Arbeitskräfte in den neuen Bundesländern zur Verfügung stehen werden. Wenn die heutigen Investitionen produktionswirksam würden, seien es genau diese Leute, die dann mit der entsprechenden Ausbildung, die sie jetzt bekommen, drüben die Facharbeiter sein würden. Die drei Referate zusammengenommen stimmten sehr pessimistisch, und in der augenblicklichen Situation sei das ja sicher nicht unberechtigt. Es stelle sich die Frage, wo eigentlich mittelfristig die Chancen in diesen Sektoren sind. Bezüglich der Landwirtschaft sei zweifelhaft, ob nicht auch durch die Politik vom Westen Chancen — komparative Vorteile — verschüttet werden, ähnlich wie das Willgerodt für den Forschungsbereich angesprochen hatte. Die heutige Agrarpolitik mache nicht immer den Eindruck der Angemessenheit. Zu denken sei an Selbstversorgungsgrade, die ja letztlich auf die neuen Bundesländer beschränkt sein sollten. Zu

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denken sei auch an die Stilllegungen: Obstgärten würden abgeholzt, und gleichzeitig werde Apfelsaft aus Westdeutschland herantransportiert. Henrichsmeyer erläutert, daß für ein Jahr zusätzliche Maßnahmen über das hinaus, was der EG-Rahmen an Grundmaßnahmen abdeckt, wirksam sind, bisher insbesondere im Rahmen der allgemeinen Liquiditätsunterstützung, um ein Zusammenbrechen der Betriebe zu vermeiden. Aber vom nächsten Jahr an müßten sich die neuen Bundesländer in dem Rahmen wie die anderen Länder, die der EG beigetreten sind, bewegen und versuchen, unter den gegebenen Bedingungen wettbewerbsfähig zu werden. Sonderunterstützungen seien auf die Anpassungsphase begrenzt und darüber hinaus nicht möglich. Zu den längerfristigen Perspektiven im Agrarsektor versichert Henrichsmeyer, das agrarische Potential sei im Verhältnis zu den westlichen Bundesländern relativ groß — von den natürlichen Voraussetzungen her wie auch bei der Relation Fläche/Beschäftigte —, so daß man davon ausgehen könne, daß sich dort eine effiziente Landwirtschaft herausbilden wird. Trotzdem rangiere im Gesamtkontext der wirtschaftlichen Entwicklung der landwirtschaftliche Sektor als ein Sektor, der hinsichtlich der Arbeitsplätze in allen westlichen Industrieländern und tendenziell natürlich auch in den neuen Bundesländern rückläufige Zahlen aufweisen werde und der daher nicht künftige Entwicklungen tragen könne. Ziel könne es lediglich sein, diesen Sektor so zu entwickeln, daß er einer relativen Schrumpfung nur in etwa dem Ausmaß unterliegt, wie es in anderen westlichen Ländern gegeben ist. Die Wachstumsimpulse würden somit sicherlich vom industriellen Bereich — insbesondere speziellen Sparten — und vom Dienstleistungsbereich ausgehen. Hoffmann ist pessimistisch, was die erforderliche kurze Zeitspanne zur Realisierung der Investitionen angeht, wenn die Talsohle rechtzeitig überbrückt werden soll. Wenn tatsächlich bis 1994 in Ostdeutschland ein gleiches Lohnniveau wie in Westdeutschland erreicht werden sollte, dann müsse man auch in der verarbeitenden Industrie cum grano salis die gleiche Kapitalausstattung pro Arbeitsplatz haben wie im Westen. Man könne ziemlich schnell ausrechnen, was das für Investitionen erfordert, und dies sei nicht zu schaffen. Daß man mittelfristig optimistisch sein kann, will er durchaus zugestehen. Allerdings stelle sich die Frage — und das sei momentan das zentrale Problem —, ob mittelfristig dann noch das Qualifikationspotential vorhanden ist, das gerade in der Diskussion angesprochen wurde. Brenke weist in diesem Zusammenhang nochmals auf die Schwierigkeiten für den Mittelstand hin, der sich jetzt wegen des Wettbewerbsdrucks vom Westen her sehr schlecht entwickeln könne. Darüber hinaus sei es für den Mittelstand sehr schwierig — abgesehen von Bäckern, Fleischern, 7 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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Kraftfahrzeugmechanikern und ähnlichen —, in die Privatisierung einzusteigen, weil die vorhandenen Anlagen nur abschrecken könnten; sie seien meist gar nicht rentabel zu übernehmen. Weiterhin müßten im Grunde Produkte und Verfahren aus dem Westen importiert werden. Tatsächlich würden es aber nur die Verfahren sein. Es sei aus der Regionalforschung bekannt, daß Headquarter-Funktionen, dispositive Unternehmensbereiche sowie Forschung und Entwicklung eben nicht standort-mobil sind. Schrumpf weist auf die Bedeutung des Mittelstandes — auch im Vergleich zur Industrie — hin. Der Kern-Mittelstandsbereich sei aber an der regionalen Nachfrage orientiert, d. h. vom Einkommensniveau und von Zulieferungen an eine funktionierende Großbetriebsbasis abhängig. Dementsprechend sei der Mittelstand in Ostdeutschland behindert, weil sich ein Zulieferwesen aufgrund der Schwierigkeiten der Großbetriebe überhaupt erst gar nicht entwickeln konnte. Demgemäß hieße es das Pferd vom Schwanz aufzäumen, wollte man jetzt auf den Mittelstand setzen. Siebert bestreitet, daß der Mittelstand nur als Zulieferer zu sehen sei. Die mittelständischen Betriebe im baden-württembergischen Bereich ζ. B. produzierten eigentlich für den ganzen Weltmarkt. Man sollte es auch nicht so eng sehen, daß ein Mittelständler in Ostdeutschland unbedingt an ein ostdeutsches Unternehmen zuliefern müßte, denn es stehe ja zumindest der gesamte deutsche Markt offen. In der Diskussion der industriellen Umstrukturierung müsse auch bedacht werden, daß sich ein starker intraindustrieller Handel zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland entwickeln werde, ein Handel mit ähnlichen Produkten. Dieser Aspekt spiele auch eine Rolle, wenn es der Treuhand darauf ankomme, international zu privatisieren. Denn westdeutsche Unternehmen seien daran interessiert, in Ostdeutschland ein Vertriebssystem aufzubauen, möglicherweise für den lokalen ostdeuschen Markt zu arbeiten oder die verlängerte Werkbank zu benutzen. Ein internationaler Bieter sei dagegen daran interessiert, in Ostdeutschland nicht nur für den ostdeutschen, sondern auch für den westdeutschen Markt und für den Weltmarkt zu produzieren. Diese Absichten könnte die Treuhand nutzen und damit auch ein verstärktes Interesse der westdeutschen Firmen an ostdeutschen Firmen generieren, allein um die internationalen Bieter aus dem Markt zu halten. Hier sei für die Treuhand ein Strategiekonzept erkennbar, das für die Umstrukturierung des industriellen Bereiches erhebliche Bedeutung haben könnte. Thanner zieht aus den drei relativ skeptischen Vorträgen zumindest eine Schlußfolgerung: daß man letztlich eine ganze Region nicht nur durch Umlenkung von Investitionen aus anderen Gebieten wieder reindustrialisieren kann, sondern daß es auch notwendig ist, gewissen industrielle Schwerpunkte im Lande selber am Leben zu erhalten.

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Miilhaupt schließt die Frage an, ob eingeschätzt werden kann, welche Impulse die Ansiedelung von westdeutschen Großbetrieben auch gerade auf neu entstehende Mittelstandsbetriebe in Zulieferfunktion ausüben würde. Brenke bedauert, daß die Informationen über eine Branchengliederung der angekündigten Investitionstätigkeit zur Beantwortung dieser Frage nicht ausreichen. Informationen aus der Ifo-Befragung, und die Informationen über das geplante Investitionsvolumen der privatisierten Unternehmen, seien dazu zu unsicher.

Arbeitsmarkt und Lohnpolitik in Ostdeutschland Von Juergen B. Dönges

Die Ausgangslage: Massenarbeitslosigkeit Seit der Vereinigung Deutschlands verzeichnen die neuen Bundesländer starke Beschäftigungseinbußen. Sie sind erstmals in der Nachkriegsgeschichte mit offener Arbeitslosigkeit konfrontiert, Ende April 1991 waren es 837.000 Menschen, was einer Arbeitslosenquote von 9,5 v H entspricht (Westdeutschland: 5,5 vH); hinzu kommen 2 Millionen Kurzarbeiter. Der Sachverständigenrat (1991) rechnet mit 1,7 Millionen Arbeitslosen und weiterhin 2 Millionen Kurzarbeitern bis zum Jahresende (insgesamt knapp 40 v H aller dortigen Erwerbspersonen); ein ebenso dramatisches Bild zeichnen die fünf großen Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer jüngsten Gemeinschaftsdiagnose (DIW u.a., 1991). Eine gewisse Entlastung bringen die Pendlerströme von Ost-nach Westdeutschland (etwa eine Viertelmillion Erwerbstätige), wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß dies konjunkturbedingt ist und bei einer Abschwächung der Konjunkturentwicklung in Westdeutschland den Berufspendlern der Arbeitsplatz hier nicht mehr sicher ist. In der ehemaligen DDR war dieses Problem unbekannt. Niemand war arbeitslos gewesen. Den staatlichen Planvorgaben entsprechend wurden allen Erwerbstätigen Arbeitsplätze zugewiesen, Kündigungen waren weitgehend ausgeschlossen. Mit Vollbeschäftigung im ökonomischen Sinne hatte dies freilich nichts zu tun. Praktisch alle Betriebe und die öffentliche Verwaltung „beschäftigten" weitaus mehr Personal als sie wirklich brauchten, bei vielen Arbeitnehmern lag das Wertgrenzprodukt deutlich unterhalb des Lohnes. Vor dem Inkrafttreten des Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion war das Ausmaß der verdeckten Arbeitslosigkeit auf 15 v H der Erwerbstätigen und mehr geschätzt worden (Gürtler u.a., 1990). Daß mit dem Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung die ehemals verdeckte Arbeitslosigkeit unweigerlich in offene Arbeitslosigkeit transformiert würde, war zu erwarten. Die Chance für eine „sanfte" Anpassung des ostdeutschen Arbeitsmarktes an die neuen ordnungspolitischen Bedingungen gab es nicht, bedenkt

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man, wie wenig marktfähig im freien Wettbewerb große Teile des Gütersortiments der Unternehmen aus Gründen unzureichender Qualität und Kundendienstleistungen waren und als wie vergreist sich der gesamtwirtschaftliche Kapitalstock technologisch und ökonomisch entpuppte. Bei drastischen Absatzverlusten geht die Produktion zurück und bricht auch die Beschäftigung zusammen, bevor i m Zuge der Revitalisierung der Wirtschaft positive Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt dominant werden. Horst Siebert (1990) hat in diesem Zusammenhang treffend von der „J-Kurve der Beschäftigung" gesprochen. Die Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ist freilich prekärer als zu Beginn des Einigungsprozesses gedacht. Möglicherweise ist der Anpassungsdruck verschärft worden, weil die Währungsumstellung 1 zu 1 bei den Löhnen die Arbeitskosten erhöhte und die neuen kollektiven Tarifverträge zu kräftigen Lohnsteigerungen in der Breite führten. Vermutlich sind stabilisierende Gegenkräfte im Anpassungsprozeß, das heißt das Entstehen neuer, rentabler Arbeitsplätze in Ostdeutschland zu langsam zum Tragen gekommen, weil westdeutsche und ausländische Investoren wegen der vielfach ungeklärten Eigentumsverhältnisse, der schwer kalkulierbaren Risiken aus ökologischen Altlasten, des großen Rückstandes in der Infrastrukturausstattung einschließlich der bekannten Unzulänglichkeiten der wirtschaftsnahen Verwaltung und wegen der bei Betriebsübernahmen drohenden Personalkosten aus Beschäftigungsgarantien verunsichert waren oder weil mancher unter ihnen angesichts der politischen Debatten um die angemessene Wirtschaftsförderung auf weitere staatliche Hilfen setzte. Doch all dies ändert nichts an der Diagnose, daß das Hochschnellen der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern zu einem großen Teil Übergangsprobleme widerspiegelt und insoweit hinzunehmen ist. Notabene, eine vielleicht mildere Form des Übergangs — durch die Abwertung der DDR Mark gegenüber der D-Mark oder durch ein langsameres Tempo beim Einigungsprozeß — schied unter den obwaltenden politischen Verhältnissen im Inund Ausland aus. Dies übersehen, oder verschweigen, die damaligen Kritiker der beiden Staatsverträge, die sich heute angesichts der desolaten Lage in Ostdeutschland so bestätigt fühlen. Die entscheidende Frage ist jetzt, wie lange der Übergang währt, wann die Talsohle am Arbeitsmarkt durchschritten wird, ob nach einer spürbaren Trendwende bestimmte Personengruppen von Arbeitslosigkeit besonders bedroht bleiben. Prognosen hierzu gibt es zwar deren viele, aber viel besagen sie nicht, jedenfalls können sie nicht für sich beanspruchen, auf theoretisch solidem Grund zu bauen oder durch Erfahrungswissen erhärtet zu sein. Wenn die ganze Volkswirtschaft (der ehemaligen DDR) zu einem Sanierungsfall geworden ist und vollkommen transformiert werden muß, versagen die herkömmlichen Prognosetechniken. Wie auch immer: für die

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künftige Beschäftigungsentwicklung in Ostdeutschland wird viel davon abhängen, wie die Tarif partner lohnpolitisch verfahren und wie funktionsfähig der Arbeitsmarkt gemacht wird. Hierzu einige Anmerkungen.

Das Dilemma der Lohnpolitik Die Nachfrage nach Arbeitskräften wird maßgeblich vom Lohn, von den Lohnrelationen und vom Lohn-Zins-Verhältnis gesteuert. Gewiß: die staatliche Wirtschaftspolitik übt auch Einfluß auf die Arbeitsmarktentwicklung aus, und insoweit machen die Förderprogramme zugunsten der neuen Bundesländer, macht besonders die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt Sinn (was nicht heißt, daß alles, was hier geschieht, ökonomisch vernünftig ist). Aber: die Hauptverantwortung für den Beschäftigungsstand tragen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zuallererst die Tarifvertragsparteien. Stellten sie sich dieser Verantwortung nicht, so käme dies einem Versagen der Tarifautonomie gleich. Von der Tarifautonomie verantwortungsbewußt Gebrauch machen hieße, in den Tarifverträgen Lohnsteigerungen vereinbaren, die mit der Zunahme der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität im Wirtschaftsgebiet der ehemaligen DDR im Einklang stehen (von den schwierigen Meßproblemen sei hier abgesehen). Preissteigerungserwartungen könnten in Form eines Aufschlags berücksichtigt werden, doch aus stabilitätspolitischen Gründen müßte dieser Aufschlag unterhalb der für die Laufzeit des Tarifvertrages prognostizierten Inflationsrate bleiben. Einen Lohnausgleich für Steuererhöhungen oder für durch die Erhöhung indirekter Steuern bewirkten Preissteigerungen kann es nicht geben (die reale Einkommensumverteilung zum Fiskus hin ist vom Staat gewollt), auch nicht eine Kompensation in den Löhnen für die Anhebung der Wohnungsmieten (die erforderlich ist, sollen die Sanierung und der Neubau von Wohnungen in Gang kommen). Wenn sich die Terms of Trade verbessern (zum Beispiel als Folge sinkender Ölpreise) vergrößert sich der Spielraum für (kostenniveauneutrale) Lohnanhebungen; er verringert sich freilich in dem Maße, wie die Kapitalkosten je Produkteinheit langfristig, das heißt wachstumsbedingt steigen und gewährleistet sein muß, daß Sachinvestitionen, die selbst wiederum eine Voraussetzung für weiteren Produktivitätsfortschritt bei wieder zunehmenden Beschäftigungsstand sind, im gebotenen Umfange stattfinden. Soweit die Leitvorstellung. Ökonomen haben für möglichst produktivitätsgerechte Lohnabschlüsse geworben, Gehör fanden sie nicht. In den neuen Bundesländern haben die Löhne den Konnex mit der Arbeitsproduktivität vollkommen verloren, in der Lohnpolitik „scheinen alle Dämme gebrochen zu sein", wie es in der

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jüngsten Gemeinschaftsdiagnose der Institute heißt (DIW u.a., 1991). Für die Unternehmen sind die Löhne zu hoch, entsprechend schwach ist die Arbeitsnachfrage. Produktivitätsgerechte Löhne, die zur Wettbewerbssituation der ostdeutschen Wirtschaft paßten, wären freilich zu niedrig aus der Sicht der Arbeitnehmer, die qualifiziert und mobil sind und deshalb ihre Arbeitsleistung im Westen zu den hiesigen Löhnen anbieten können, sie wären auch zu niedrig, um bei dem einzelnen Arbeitnehmer die Leistungsmotivation zu steigern, was für die Revitalisierung der ostdeutschen Wirtschaft unverzichtbar ist, und produktivitätsgerechte Löhne wären schließlich zu niedrig unter dem Gesichtspunkt der sozialen Verträglichkeit i m geeinten Deutschland, bedenkt man, wie kraß der Einkommensrückstand in den neuen Bundesländern gegenüber den alten ist (selbst wenn man berücksichtigt, daß wegen des im Osten niedrigeren Preisniveaus bei den überregional nicht-handelbaren Gütern die Reallohnunterschiede kleiner waren und sind als die Nominallohnunterschiede und daß aus Gründen der Steuerprogression der Abstand bei den Nettoverdiensten geringer ist als bei den Brutto Verdiensten). W i e sich die im Falle einer produktivitätsorientierten Lohnentwicklung zu erwartende Abwanderung von Arbeitskräften auf die ostdeutsche Wirtschaft auswirken würde, läßt sich schwer sagen. Einerseits: Wandern Arbeitskräfte ohne oder mit nur geringer Qualifikation, die zudem arbeitslos sind, ab, steigt unter sonst gleichbleibenden Bedingungen das gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsniveau in den neuen Bundesländern. Es würden weniger Arbeitsuchende um die noch knappen neuen Arbeitsplätze konkurrieren, die Wertgrenzproduktivität der Beschäftigten stiege, und der Spielraum für Realeinkommenserhöhungen vergrößerte sich entsprechend. Soweit die Abwanderung temporär ist und die Übersiedler sich in Westdeutschland beruflich fortbilden, würden die neuen Bundesländer später, bei der Rückwanderung, sogar einen Gewinn in Form vermehrten Humankapitals erzielen. Andererseits: Wandern qualifizierte Arbeitskräfte ab, auch wenn sie einen Arbeitsplatz in einem ostdeutschen Betrieb haben, kann das allgemeine Wohlfahrtsniveau in den neuen Bundesländern sinken, zumal wenn das Angebot an gleichgut qualifizierten Ersatzfachkräften unelastisch ist. Je komplementärer die Tätigkeit der Übersiedler zu der der daheimgebliebenen Arbeitskräfte ist, um so wahrscheinlicher werden Effizienzeinbußen im Einsatz dieser Arbeitskräfte und weitere (angebotsseitige) Einbrüche in der Produktion. Die Perspektiven für eine aktive Sanierung der ostdeutschen Wirtschaftsregionen würden sich noch mehr eintrüben, weil aus der Sicht potentieller westdeutscher und ausländischer Investoren die Standortqualität dieser Regionen sinkt, wenn durch einen Übersiedlerstrom die dortige Ausstattung mit Wissenschaftlern und Forschern, Ingenieuren und Technikern, Managern und Facharbeitern, Ärzten und Lehrern leidet. Was Ostdeutschland an bereits vorhandenem Humankapital entzo-

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gen würde, könnte gesamtwirtschaftlich stärker zu Buche schlagen als der Zuwachs an Wissen und Fertigkeiten durch Rückwanderung. Zwar sollte die Sorge nicht übertrieben werden; die Mobilität der ostdeutschen Arbeitnehmer ist nicht unbeschränkt hoch. Aber ein schwieriges Problem ist die Übersiedlerfrage auf mittlerer Sicht allemal 1 . Das Dilemma für die Lohnpolitik ergibt sich also daraus, daß sie unter Bedingungen der freien Ost-West-Wanderung in unserem Lande betrieben werden muß (Frankfurter Institut, 1990). Konzentriert sie sich auf die Angebotsseite des Arbeitsmarktes, das heißt drängt sie auf rasche Anpassung der Löhne und Arbeitsbedingungen an das westdeutsche Niveau trotz des auf absehbare Zeit bestehenden Produktivitätsgefälles, so verteuert sie den Produktionsfaktor Arbeit, sie zwingt die (sanierungsfähigen) Betriebe zu Entlassungen, sie schreckt neue Investoren ab und sie gibt denen, die gleichwohl investieren wollen, Anreize, Fehlanreize wohlgemerkt, zur Errichtung übermäßig kapitalintensiver Produktionsstätten. Fürwahr, die Arbeitsproduktivität paßt sich derzeit an die Reallohnansprüche an, aber nur als statistisch gemessenes Aggregat, kurzum: auf besonders schmerzhafte Weise, im Spiegel hoher Arbeitslosigkeit. Diese Arbeitslosigkeit zwingt dann ihrerseits wieder zur Abwanderung von Teilen der Bevölkerung nach Westen. Damit schließt sich ein Teufelskreis. Es war wohl unvermeidlich, daß vor und nach der deutsch-deutschen Währungsunion die Löhne in zwei Schüben kräftig erhöht wurden (um etwa 40 vH). Das waren politische Lohnrunden. Es ist aber ein Fehler, ein ganz und gar nicht verantwortungsvolles Gebrauchmachen von der Tarifautonomie, daß in den diesjährigen Lohnrunden der Angleichungsdruck kollektiv verstärkt wird, auch noch mit dem öffentlichen Dienst und anderen Dienstleistungsbereichen als Vorreiter. In verschiedenen Branchen ist bereits fest vereinbart worden, daß bis 1994 die tariflichen Löhne und Gehälter in den neuen Bundesländern voll an die vergleichbaren westdeutschen Tarifentgelte herangeführt werden. Dies wird dort nur jenen Arbeitnehmern nützen, die privilegiert sind, weil sie einen entsprechend rentablen Arbeitsplatz haben; in ihren Beschäftigungschancen stark beeinträchtigt sind dagegen die vielen anderen, die Arbeit suchen2. Angesichts der vielfältigen Hemm1

An Hand eines Simulationsmodells illustriert Raffelhüschen ( 1991 ) : daß bis zum Jahre 1995 bis zu 1,5 Millionen Personen (15,6 vH des ostdeutschen Erwerbspersonenpotentials von 1988) in die alten Bundesländer abwandern könnten, wenn nicht bald die aktive Sanierung der ostdeutschen Wirtschaftsgebiete in Gang kommt. 2 Ein entsprechender Stufenplan ist derzeit fest vorgesehen für die Elektroindustrie, die Metallindustrie und die Stahlindustrie. In anderen Branchen sind ähnliche Bestrebungen im Gange. Wird dies allgemeine Praxis, so werden die ostdeutschen Nominallöhne bis 1994 um 20 bis 30 vH je Jahr steigen (je nach Ausgangsniveau und unter der Annahme, daß der jahresdurchschnittliche Tariflohnanstieg in den alten Bundesländern 5 vH beträgt).

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nisse für einen anhaltenden Investitionsanstieg in der Breite (ungeklärte Eigentumsfragen, Infrastrukturmängel, Umweltaltlasten, Verwaltungsmängel und andere Standortnachteile), die zu beseitigen Zeit braucht, kann nicht als sicher gelten, daß das Produktivitätsgefälle zwischen West und Ost binnen weniger Jahre eingeebnet sein wird. Die Produktivitätslücke wird kleiner sein als heute, aber eine deutliche Kluft wird es noch geben. Wenn dann trotzdem demnächst in den östlichen Bundesländern Westlöhne zu zahlen sind, programmiert man schon heute für dort eine relative Verteuerung des Produktionsfaktors Arbeit. Obwohl bei den Lohnnebenleistungen (noch) keine volle Anpassung an die westdeutschen Regelungen vereinbart wurde, wird sich wegen des Produktivitätsrückstandes im Osten eine Lohnlücke herausbilden, die dann in einem langwierigen und schmerzhaften Prozeß abgebaut werden muß. Die Erfahrungen in der alten Bundesrepublik nach der Lohnexplosion der siebziger Jahre, die zu einer Überhöhung des allgemeinen Lohnniveaus geführt hatte, sind ein warnendes Beispiel. Es entstand damals eine hohe Arbeitslosigkeit, und trotz lohnpolitischer Zurückhaltung und der guten Konjunktur in den achtziger Jahren ist die Arbeitslosenquote immer noch deutlich höher als damals und es verharrt die Arbeitslosigkeit bei bestimmten Gruppen von Arbeitnehmern auf hohem Niveau (Paqué, 1989). In den neuen Bundesländern ist die Gefahr akut, daß sich als Folge der flächendeckenden Stufentarifverträge die derzeit bereits bestehenden Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt verspannen, daß also „Hysterese-Effekte" auftreten und aus einer transformationsbedingten Übergangsarbeitslosigkeit Langzeitarbeitslosigkeit wird. Für die kräftigen Lohnanhebungen werden im allgemeinen zwei Argumente ins Feld geführt: — Die Massenkaufkraft solle gestärkt werden, damit die Nachfrage expandiere mit der Folge einer wieder steigenden Kapazitätsauslastung und zunehmenden Beschäftigung (Kaufkrafttheorie des Lohnes). — Die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer solle erhöht werden, damit die Umstrukturierung der Wirtschaft möglichst rasch vorankommt und auf diese Weise neue Arbeitsplätze geschaffen werden können (Theorie des Effizienzlohns). Das Kaufkraftargument, das vor allem von den Gewerkschaften vorgebracht wird, läßt wesentliche Aspekte außer acht: Lohnerhöhungen, die über den Produktivitätszuwachs hinausgehen, führen immer auch zu einer Kostensteigerung. Kommt es daraufhin zu Preissteigerungen, so gibt es keinen oder keinen nennenswerten Anstieg der realen Kaufkraft der Lohnempfänger, wohl aber insoweit eine Minderung derselben bei den Sparern, den Rentnern und anderen Empfängern von Transferleistungen, wie diese Einkommen nicht an die Inflationsrate angepaßt werden. Der Kaufkrafteffekt der Lohnsteigerung verpufft weitgehend unter diesen Bedingungen.

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Kommt es nicht zu Preissteigerungen, etwa weil der Wettbewerb oder die Geldpolitik die Überwälzungsspielräume klein halten, ist auch nicht mit einer nachhaltigen Stimulierung der Beschäftigung zu rechnen. Denn bei den Unternehmen verbleibt die Kostenbelastung. Diese liegt derzeit schon über dem Bruttolohn (als Folge der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung), und die Schere zwischen den Arbeitskosten und dem ausgezahlten Lohn wird sich weiter öffnen (sobald die Unternehmen von Gesetzes wegen oder durch Tarifvertrag gehalten die im Westen üblichen Zusatzleistungen an die Beschäftigten zu finanzieren haben). Lohnkostendruck zählt zu den maßgeblichen Faktoren, die Unternehmen zur Einsparung von Arbeitskräften, sprich Rationalisierungsinvestitionen, drängen. Im übrigen ist der Kosteneffekt einer Lohnsteigerung bei den Unternehmen in der Regel höher als deren Einkommenseffekt (bei den Arbeitnehmern). Auch die Arbeitnehmer in Ostdeutschland sparen einen Teil ihrer Nettoeinkommen, besonders aber geben sie viel für den Kauf von Gütern aus Westdeutschland und dem Ausland aus; dies gilt namentlich für Ge-und Verbrauchsgüter (DIW/IfW, 1991). Im ganzen ist von dem Kaufkraftargument beschäftigungspolitisch wenig zu halten. Dies belegt auch die Erfahrung 3. So wie in der Alt-Bundesrepublik und anderswo Versuche, die Nachfrage durch Lohnerhöhungen zu stimulieren, keine tragfähige Strategie waren, sind auch in den neuen Bundesländern auf diese Weise kaum Dauerarbeitsplätze zu schaffen. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß der Auslastungsgrad der Sachkapazitäten niedrig ist. Denn diese Unterauslastung ist nicht das Ergebnis einer konjunkturellen Nachfrageschwäche, sie ist nicht keynesianisch, sie ist vielmehr im wesentlichen angebotsbedingt, gleichsam Ausdruck der technischen und ökonomischen Obsoleszenz des Kapitalstocks im Verarbeitenden Gewerbe und in der Bauwirtschaft. Es wird statistisch als Kapazität gezählt, was für die Herstellung marktfähiger Produkte kaum noch geeignet ist. Daher werden, soweit überhaupt Lohnerhöhungen ostdeutschen Unternehmen als zusätzliche Nachfrage zufließen, Preisanhebungen nicht ausbleiben — mit entsprechenden Realeinkommenseinbußen als Folge. Daß die starken Lohnerhöhungen anreiztheoretisch legitimiert werden könnten, ist auch nicht einleuchtend. Unstreitig ist, daß der Lohn nicht nur eine Marktausgleichsfunktion hat, sondern auch eine Motivierungsfunktion. Die Motivierungsfunktion ist vor dem Hintergrund des Umstandes zu sehen, daß die Arbeitsverträge typischerweise unvollständige ("relationale") Verträge sind, das heißt die zu erbringende Arbeitsleistung kann nicht i m 3 Unter bestimmten modelltheoretischen Konstellationen läßt sich zwar der Nachfrageeffekt von Lohnerhöhungen als dominant abbilden, doch realitätsnah sind diese Konstellationen nicht. Vgl. Schuster/Weiß (1991) und die dort angegebene Literatur.

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voraus detailliert festgelegt werden und eine kontinuierliche Abstimmung von Arbeitsleistung und Entlohnung ist nicht oder nur unter Inkaufnahme sehr hoher Überwachungskosten möglich. Arbeitnehmer könnten zu „Bummelei" und „Drückebergerei" neigen. Arbeitgeber, die dieses Risiko ausschalten wollen, werden bei der Entlohnung einen „Vertrauensvorschuß" gewähren, eben Effizienzlöhne, die deutlich über den markträumenden Löhnen liegen. Wenn freilich der einzelne Arbeitgeber, sagen wir eine westdeutsche Bank, die in den Osten des Landes expandieren will, aus eigenem Kalkül heraus Effizienzlöhne bieten kann, bedarf es nicht der Lohnanhebungen in der Breite durch den kollektiven Tarifvertrag. Überhaupt gibt es verschiedene unternehmerische Strategien, um mit dem Motivationsproblem fertig zu werden — von der Kündigungsdrohung nach geltendem Recht (im Falle der Leistungsverweigerung), über die Eröffnung von Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb (bei guter Arbeitsleistung), bis hin zu Senioritätsregelungen (unter denen den Arbeitnehmern einen mit der Betriebszugehörigkeit steigender Lohn versprochen wird). Kollektive Tariflohnerhöhungen sind hierbei eher ein Hindernis, zumal sie, anreiztheoretisch betrachtet, zu wenig Rücksicht darauf nehmen, daß auch in der Arbeitswelt der neuen Bundesländer die Wirksamkeit und Kosten der Überwachung von Arbeitsleistungen erheblich differenzieren dürften von Branche zu Branche, von Unternehmen zu Unternehmen und von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz.

Der Bedarf an Lohndifferenzierung Man kann von der Lohnpolitik nicht Unmögliches fordern. Insbesondere kann man nicht verlangen, daß sie den ostdeutschen Wirtschaftsraum zu einem dauerhaften „Niedriglohngebiet" macht (das dann im Wettbewerb mit südeuropäischen Standorten das international mobile Kapital anzulocken versucht). Was man aber von den Tarifvertragsparteien erwarten kann, ja muß, ist, daß sie den realwirtschaftlichen Gegebenheiten in den neuen Bundesländern so weit wie irgendwie möglich Rechnung tragen. Die Tarifautonomie wird strapaziert, wenn die Sozialpartner in den Tarifverhandlungen auf die gewaltigen Beschäftigungsprobleme in den einzelnen Branchen und Regionen Ostdeutschlands zuwenig Rücksicht nehmen, nur die (privilegierten) Arbeitsplatzinhaber im Auge haben und die von Entlassung bedrohten Arbeitnehmer bzw. die bereits Arbeitslosen dem Staat, sprich Steuerzahler, überantworten: durch das Einfordern von allgemeinen Lohnsubventionen, großzügigen Kurzarbeiterregelungen, pauschalierten Sozialplanzahlungen, speziellen Beschäftigungsprogrammen, flächendeckenden Beschäftigungsgesellschaften u.dgl.m. Ökonomisch gesehen ist dies sehr bedenklich — wegen der vielfältigen unerwünschten Nebenwir-

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kungen, „moral hazard"-Probleme eingeschlossen. Dies gilt auch für Forderungen, die nicht-sanierungsfähigen und deshalb unverkäuflichen Unternehmen i m Staatsbesitz zu halten, statt sie stillzulegen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sollten einen Konsens darüber anstreben, daß der wichtigste Maßstab für Tariflohnanhebungen nicht (mehr) die Lohnentwicklung in Westdeutschland sein darf. Orientierung muß jetzt stärker von den sektoralen, regionalen und betrieblichen Unterschieden im Produktivitätsniveau, in den Wachstumsaussichten, im Beschäftigungsstand und in den Knappheitsverhältnissen im Osten Deutschlands kommen. Abgesehen davon, daß bei Manteltarifverträgen das westdeutsche Regelwerk fürs erste nicht übernommen werden sollte (um von dorther keinen zusätzlichen Kostendruck zu erzeugen), muß vor allem Raum geschaffen werden für eine ökonomisch vernünftige Lohndifferenzierung nach Regionen, Branchen, Unternehmen und beruflichen Qualifikationen der Arbeitnehmer 4 . — Ein geeigneter Weg hierzu ist der betriebsnahe Tarifvertrag. Er ermöglicht es, die Marktsituation des jeweiligen Unternehmens angemessen zu berücksichtigen und im beiderseitigen Interesse (von Arbeitgeber und Arbeitnehmer) Vereinbarungen zu treffen, die Entlassungen vermeiden helfen und Neueinstellungen möglich machen. — Hält man am System der flächendeckenden Verbandstarifverträge fest, so besteht die Aufgabe darin, die Tariflöhne nur moderat ansteigen zu lassen, so daß sich über die Lohndrift eine möglichst marktgerechte Differenzierung der Effektivlöhne herausbilden kann. „Marktgerecht" heißt: knappen, qualifizierten und mobilen Arbeitskräften müssen hohe Löhne (gleichsam „Bleibelöhne") gezahlt werden, während die reichlich vorhandenen und immobilen Arbeitskräfte vergleichsweise weniger verdienen. Sobald der wirtschaftliche Aufholprozeß in den neuen Bundesländern beginnt und der dann zu erwartende Produktivitätsschub einsetzt, hätten die Gewerkschaften den Spielraum, die Tariflöhne wieder stärker an die Effektiwerdienste heranzuführen, ohne die Beschäftigung zu gefährden; sie könnten damit vor ihren Mitgliedern bestehen. Es muß freilich auch möglich sein, daß ein Unternehmen, das in eine Notsituation gerät, übertarifliche Lohnzahlungen ganz oder teilweise zurücknimmt, wenn dadurch die Krise abgewendet und Arbeitsplätze erhalten werden können. — Sowohl beim betriebsnahen Tarifvertrag als auch beim Verbandstarifvertrag kann vorgesehen werden, daß neben dem (reduzierten) Festlohn ein erfolgsabhängiges, variables Zusatzentgelt gezahlt wird, dessen 4 Hierzu haben nachdrücklich u.a. auch der Sachverständigenrat (1990) und die Wirtschaftsforschungsinstitute (DIW u.a., 1991) geraten.

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Juergen Β. Dönges Höhe sich an der Ertragsentwicklung des einzelnen Unternehmens orientiert. Der Festlohn stellt sicher, daß der Arbeitnehmer und seine Familie wirtschaftlich abgesichert ist. Die Zusatzentgeltkomponente verhindert, daß die Arbeitskosten im Unternehmenskalkül fixe Kosten sind. Dies könnte sich positiv auf personalpolitische Entscheidungen auswirken: bei günstiger Absatzentwicklung hat das Unternehmen einen Anreiz, zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen (der durchschnittliche Gesamtlohn aller seiner Beschäftigten sinkt), bei rückläufigem Absatz braucht es nicht gleich zu entlassen.

— Eine zweigliedrige Entlohnung kann auch dadurch erfolgen, daß die Tarifvertragsparteien vereinbaren, die Arbeitnehmer am Branchen-bzw. Unternehmensgewinn zu beteiligen und ihnen diese Beteiligung durch Anteile am Eigenkapital des Unternehmens abzugelten. Der Tariflohnanstieg wäre entsprechend geringer anzusetzen. Für das Unternehmen wird das Investitionsrisiko kleiner, so daß die Investitionsbereitschaft zunimmt. Arbeitnehmer tragen an einem Einkommensrisiko, doch mindert sich ihr Arbeitsplatzrisiko. Bei gegebenem Einkommensrisiko wird der Einkommensanstieg in wachstumsträchtigen (und gewinnstarken) Branchen bzw. Unternehmen größer sein als in schrumpfenden (und gewinnschwachen). Diese Einkommensdifferenzierung fördert die Mobilität der Arbeitnehmer und verbessert die Beschäftigungsperspektiven in der Breite. Modelle dieser A r t sind seit langem bekannt. In der Fachliteratur sind die Vorteile ebenso wie die Schwächen eingehend diskutiert worden. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wären mit der Aufgabe, konkrete Lösungen zu finden, nicht überfordert. Zwar wissen wir aus Erfahrung im Westen, daß organisationspolitische Interessen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände gegen den betriebsnahen Tarifvertrag und die Lohndrift stehen. Und bezüglich einer Zweiteilung der Lohneinkommen durch Gewinnbeteiligung und Vermögensbildung liegen die Positionen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden weit auseinander. Aber die Solidarität mit den Arbeitslosen, von der so viel die Rede ist, braucht die lohnpolitische Zurückhaltung an der Basis und die individuelle Differenzierung im tatsächlich Verdienten. Gewerkschaftsführer und Arbeitgeberpräsidenten von staatsmännischem Format würden bestimmt die Weichen in der Lohnpolitik so stellen — ganz nach der Devise: Beschäftigung hat Vorrang vor Lohnangleichung. Zur Solidarität mit den Arbeitslosen in Ostdeutschland gehört auch eine maßvolle Lohnpolitik im Westen. Verteilungskämpfe an der Lohnfront passen überhaupt nicht in die gegenwärtige schwierige Übergangszeit, sie versprechen nur Pyrrhussiege und erschweren unnötigerweise den Anpassungsprozeß. Wenn hierzulande hohe Tariflohnsteigerungen vereinbart

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werden, werden die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern den Angleichungsdruck bei den Löhnen über ihre Gewerkschaften verstärken. Dies ist bei den diesjährigen Tarifabschlüssen praktisch ignoriert worden. Sind die westlichen Tarifabschlüsse bis zum Frühjahr 1991 schon unter stabilitätspolitischen Gesichtspunkten bedenklich (DIW u.a., 1991), so gilt dies erst recht i m Hinblick auf die dringende Aufgabe, im Osten allen Arbeitsuchenden eine faire Beschäftigungschance zu geben.

Deregulierung am Arbeitsmarkt Faire Beschäftigungschancen müssen nicht nur von der Lohnpolitik kommen, sondern sie müssen auch durch die Arbeitsmarktordnung möglich gemacht werden, was wiederum besagt, daß der Arbeitsuchende nicht wegen arbeitsrechtlicher Regulierungen vor geschlossene Marktzutrittsschranken gerät. Dies kann ihm jetzt widerfahren, nachdem mit der Vereinigung Deutschlands das Arbeits-und Sozialrecht der alten Bundesrepublik auf die neuen Bundesländer übertragen worden ist (mit gewissen Übergangsregelungen). W i e die Deregulierungskommission in ihrem Zweiten Bericht an die Bundesregierung (1991) ausführt, trägt unsere Arbeitsmarktordnung dem Flexibilitätsbedarf der Arbeitsmärkte schon in Westdeutschland nicht genügend Rechnung. Insbesondere geht der Bestandsschutz von normalen Arbeitsverhältnissen zu weit, und es werden deshalb und wegen der Unabdingbarkeit der Tarifverträge in Verbindung mit dem Günstigkeitsprinzip und der Allgemeinverbindlichkeit, vom staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopol ganz abgesehen, die Chancen des einzelnen, sein Recht auf Arbeit zu verwirklichen, beeinträchtigt. Überdies hindert das staatliche Arbeitsvermittlungsmonopol Arbeitslose daran, sich bei der Suche nach einem Arbeitsplatz helfen zu lassen, von wem sie wollen, also auch von Privaten gegen Entgelt, wenn sie dies für aussichtsreicher halten, als dem Arbeitsamt zu vertrauen. Kurz: die Arbeitsmarktordnung diskriminiert Arbeitslose. Besonders schwer wiegen die Regulierungen in Ostdeutschland, können sie doch den tiefen Strukturwandel, den dort auch die Arbeitsmärkte bewerkstelligen müssen, behindern mit der Folge, daß in den bedrängten Branchen und Regionen noch weniger Beschäftigung rentabel gehalten werden kann als so schon und daß in anderen Bereichen, sprich den nach Inschwungkommen der Investitionstätigkeit wachstumsträchtigen Bereichen, zu wenig neue Arbeitsplätze angeboten und besetzt werden. Wenn die Vorschläge der Deregulierungskommission zur Deregulierung und Umregulierung in verschiedenen Bereichen der Arbeitsmarktordnung politisch umgesetzt würden, könnte von daher der beschäftigungspolitische Problemdruck in den neuen Bundesländern gemildert werden. Ob es dazu kommt, muß man abwarten; die Gewerkschaften haben bereits ihren massi-

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ven Widerstand angekündigt. Selbst bei Reformbereitschaft würde es nicht schnell gehen, da der Gesetzgeber an vielen Stellen der Arbeitsmarktordnung Hand anlegen müßte. Der für Gesetzesänderungen übliche Zeitbedarf könnte sich angesichts der drängenden Beschäftigungsprobleme in Ostdeutschland als zu groß erweisen. Deshalb muß man auch hier neue Wege gehen: über einen wenigstens temporären Dispens von westdeutschem Arbeitsrecht, gleichsam im Vorgriff auf eine Deregulierung und Umregulierung am Arbeitsmarkt für die gesamte Bundesrepublik. Vordringlich erscheinen fünf Ausnahmeregelungen 5 : — Die spezielle Abdingbarkeit von Verbandstarifverträgen durch Betriebsvereinbarung. „Speziell" heißt: im Notfall und nur für eine bestimmte Zeit. Die Erwartung ist, daß das bedrängte Unternehmen, das im Einvernehmen mit dem Betriebsrat tarifliche Leistungen vorübergehend herabsetzt, die Sanierung mit möglichst wenigen Entlassungen erreicht. Durch Lohnzugeständnisse helfen die Arbeitnehmer nicht nur, ein sanierungsfähiges Unternehmen wieder flottzumachen, sie helfen auch, ihre eigenen Arbeitsplätze sicherer zu machen. — Die Lockerung des Kündigungsschutzes bei Betriebsübernahmen. Hier geht es darum, das Interesse westdeutscher und ausländischer Investoren an dem Erwerb der von der Treuhandanstalt zu privatisierenden Betriebe dadurch zu stärken, daß sie nicht in alle bestehenden Arbeitsverträge eintreten müssen. Es werden dann zwar Arbeitskräfte entlassen, was angesichts der personellen Überbesetzung in den Betrieben unvermeidlich ist, es können aber andere Arbeitsplätze erhalten werden, die ohne die Betriebsübernahme ebenfalls in ihrem Bestand gefährdet wären. Die von der Bundesregierung ins Auge gefaßte Aussetzung des § 613a BGB in den neuen Bundesländern bis Ende 1992 zielt in die richtige Richtung; die in der Öffentlichkeit gelegentlich geäußerte EGrechtlichen Bedenken lassen sich ausräumen (Deregulierungskommission, 1991, Ziffer 616). — Mehr Spielraum für den Abschluß von Zeitverträgen ohne Begründungserfordernis. Zu erwägen wären die Erlaubnis, daß die nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz zulässigen befristeten Arbeitsverträge einmal um bis zu 18 Monaten verlängert werden dürfen. Eine solche Regelung senkt die Schwellenkosten der Einstellung von Personal. Besonders Unternehmensneugründer brauchen diese Flexibilität im Arbeitsvertragsrecht, weil für sie am Anfang die Expansionsmöglichkeiten unsicher sind und sie erst nach einiger Zeit überblicken können, mit welcher Belegschaftsstärke (und entsprechend unbefristeten Arbeitsverträgen) 5

Vgl. auch Sachverständigenrat (1990): Frankfurter Institut (1990) und Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1991).

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sie am Markt bestehen können. Für die Arbeitsuchenden, vor allem die weniger qualifizierten Arbeitnehmer, ist es besser einen Arbeitsplatz, wenn auch zunächst nur befristet, zu haben als keinen, und die Chance, später in ein Dauerarbeitsverhältnis übernommen zu werden, dürfte sich positiv auf die Motivation und Qualifizierungsbereitschaft auswirken. — Der weitestgehende Verzicht auf eine Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (durch den Arbeitsminister des Bundes oder eines Bundeslandes). Größte Zurückhaltung ist geboten, um die von der Lohnpolitik zu leistende Lohndifferenzierung wirksam werden zu lassen. Es macht keinen Sinn, Unternehmen tarifvertragliche Pflichten aufzubürden, die sie in der gegenwärtigen Umbruchphase nicht erfüllen können. Es macht auch keinen Sinn, Arbeitsuchenden das Recht zu nehmen, durch die individuelle Vereinbarung untertariflicher Arbeitsbedingungen Beschäftigung zu finden. W i r d von Staats wegen das Kartell der Tarifparteien vor Außenseiterkonkurrenz (der verbandsungebundenen Arbeitgeber und der Arbeitsuchenden) geschützt, so werden noch mehr Betriebe vom Konkurs bedroht und verlieren noch mehr Menschen ihren Arbeitsplatz als ohnehin schon. — Die Zulassung gewerblicher Arbeitsvermittlung. Die staatlichen Arbeitsämter sind in Ostdeutschland erst im Aufbau begriffen, und es ist ohnehin zweifelhaft, daß sie als Monopol die Arbeitsvermittlung effizient betreiben können, ganz gleich wie großzügig sie personell und finanziell ausgestattet sind. Wenn neben den Arbeitsämtern private Vermittler im Wettbewerb miteinander tätig werden, dürften sich die Beschäftigungschancen für Arbeitsuchende verbessern. Soweit solche Ausnahmeregelungen in das Tarifvertragsrecht (einschließlich das durch richterliche Rechtsschöpfung geprägte) eingreifen, wird der Spielraum für differenzierte Betriebsvereinbarungen und Einzelarbeitsverträge erweitert. Der kollektive Tarifvertrag wird dadurch nicht entbehrlich, er soll es auch gar nicht, hilft er doch häufig, am Arbeitsmarkt Transaktionskosten zu sparen und Opportunismusgefahren zu begrenzen. Es wird auch nicht die Tarifautonomie in Frage gestellt, wie die Anwälte der bestehenden Arbeitsmarktordnung argwöhnen werden, sie kann es auch nicht, steht sie doch als Eckpfeiler der freiheitlichen, auf Interessenausgleich zielenden Gesellschaftsordnung in unserem Lande unter grundrechtlichen Schutz. Es soll aber ein größerer Druck auf die Sozialpartner bestehen, bei Tarifabschlüssen die Auswirkungen auf die Beschäftigung — regional, sektoral, individuell — zu bedenken und zu berücksichtigen. Daß dies von selbst geschieht, ist alles andere als selbstverständlich. Natürlich würde eine flexiblere Arbeitsmarktordnung, für sich genommen, die gewaltigen Beschäftigungsprobleme in den neuen Bundesländern nicht lösen. Aber sie könnte, neben einer Lohnpolitik mit Augenmaß, das ihre dazu beitragen, 8 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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den Beschäftigungsrückgang abzubremsen und die Erwerbschancen für viele Arbeitsuchenden verbessern.

Flankierung durch Arbeitsmarktpolitik? Eine Verbesserung der Beschäftigungslage erhoffen sich viele von der staatlichen Arbeitsmarktpolitik. Worauf sich diese Hoffnung stützt, bleibt i m dunkeln. Es trifft zwar zu, daß in der Alt-Bundesrepublik (und in anderen Industrieländern) der Staat mit vielfältigen Maßnahmen Arbeitslose davor bewahrt hat, ohne Betätigung zu sein, sei es, daß sie eine zeitlich befristete Arbeitsgelegenheit erhalten (z.B. im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), sei es, daß sie an Programmen der beruflichen Fortbildung und Umschulung teilnehmen. Es trifft aber nicht zu, daß auf diesem Wege mit Sicherheit zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten auf Dauer entstehen. Sobald Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auslaufen, entscheidet sich wieder am Markt, also an den Löhnen und den sonstigen tarifvertrags-und arbeitsrechtlichen Bedingungen, ob die Betreffenden vom bisherigen Arbeitgeber übernommen werden oder anderswo einen Arbeitsplatz finden. Sobald eine Qualifizierungsmaßnahme abgeschlossen ist, muß sich erst noch zeigen, ob die richtigen, daß heißt knappheitsgerechten Qualifikationen erworben wurden und ob das erhöhte Qualifikationsniveau des einzelnen zu seinen Einkommensansprüchen paßt. Trotz aktiver Arbeitsmarktpolitik mag sich später herausstellen, daß die geförderten Personen doch offen arbeitslos werden. Diese Erfahrung haben in der alten Bundesrepublik viele Arbeitnehmer machen müssen. Angesichts des großen Problemdrucks auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt kann, bei aller Skepsis, die staatliche Arbeitsmarktpolitik gleichwohl nicht untätig bleiben. Es gilt freilich, der Versuchung zu widerstehen, hierin das beschäftigungspolitische Allheilmittel zu sehen, bei den Arbeitnehmern falsche Hoffnungen zu wecken und die gesamtwirtschaftlichen Kosten auszublenden. Man kann diese Kosten begrenzen, indem die bereits bestehenden Instrumente je nach Lage differenzierter eingesetzt werden. Bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beispielsweise muß es möglich sein, daß die Entlohnung unterhalb des bei vergleichbarer regulärer Arbeit bezahlten Lohnes erfolgt; auch so wäre die finanzielle Lage für den Betroffenen besser, als sie wäre, wenn er nur Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung erhielte oder gar Sozialhilfe in Anspruch nehmen müßte. Bei Qualifikationsprogrammen wiederum sollte der Weg für möglichst viel Wettbewerb unter den Anbietern von Qualifizierungsmaßnahmen freigemacht werden. Die Arbeitskräfte, mit Qualifizierungsgutscheinen auf Zeit ausgestattet, können selbst am besten entscheiden, welche Fortbildung für sie am geeignetsten ist; der Wettbewerb unter den Qualifizierern würde dafür sorgen, daß

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angeboten wird, was nachgefragt wird (Klodt, 1990). Bei der beruflichen Qualifizierung der Arbeitskräfte einen arbeitsmarktpolitischen Schwerpunkt zu setzen, ist auf jeden Fall vernünftig. Die Chance für Arbeitsuchende, einen dauerhaften Arbeitsplatz zu finden, steigt. Aber es kommt nicht nur auf höhere Qualifizierung an, sondern vor allem auf eine Qualifizierung, die zu den künftigen beruflichen Anforderungen paßt, und diese hängen entscheidend von Tempo und Richtung des künftigen Strukturwandels ab. Behörden haben es schwer, die marktgerechten Qualifikationsprofile für den Einzelfall und vorwärtsorientiert zu definieren.

Schlußbemerkungen Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage muß wohl lauten: „rasch", in wenigen Monaten, kann die Beschäftigung in den neuen Bundesländern nicht steigen. Selbst wenn die Beschäftigung steigt (es geschieht bereits in einigen Bereichen wie Bauwirtschaft, Banken, Versicherungen, Freie Berufe), wird der Anstieg in der Breite zunächst nicht so stark sein, daß die Arbeitslosigkeit wieder spürbar zurückgeht. Die dortige Arbeitslosigkeit ist nicht konjunkturell bedingt, sondern im weitesten Sinne strukturell, gleichsam eine Erblast der sozialistischen Kommandowirtschaft. Daher ist sie auch nicht rasch zu beheben, mit welchem Rezept auch immer (ein Patentrezept gibt es ohnehin nicht). Der Transforma tionsprozeß braucht nun einmal seine Zeit, neue rentable Arbeitsplätze fallen nicht wie Manna vom Himmel, sie lassen sich auch nicht auf "Montagsdemonstrationen" und an "runden Tischen" herbeizaubern, sie müssen vielmehr über Investitionen entstehen. W i e arbeitsplatzschaffend die neuen Investitionen sind, hängt nicht zuletzt von den Arbeitskosten ab. Daher liegt die Hauptverantwortung für den Beschäftigungsstand bei den Tarifvertragsparteien. Aber sie wären überfordert, wenn sie allein das Beschäftigungsproblem in den neuen Bundesländern bewältigen müßten. Der Staat hat auch Verantwortung zu übernehmen. Eine beschäftigungspolitische Verantwortung des Staates konstatieren, heißt freilich nicht, alles für gut zu halten, was von ihm gefordert wird und unter diesem Etikett geschieht. Man muß schon sehen, daß staatliche Maßnahmen der Beschäftigungspolitik schnell an Grenzen stoßen — an Grenzen der Haushaltsbelastung, soweit es die Finanzierung betrifft, an Grenzen der ökonomischen Wirksamkeit, soweit es um die Faktorallokation und die Geldwertstabilität geht. Die Aufgabe ist nicht, einfach Arbeit zu beschaffen — das kann der Staat, freilich unter Inkaufnahme unerwünschter Folgekosten; es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen, möglichst viele, die rentabel und dauerhaft sind, im Wettbewerb also bestehen können und zu steigenden Realeinkommen verhelfen — da kann der Staat schon sehr viel weniger tun. 8*

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Raten kann man unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten eigentlich nur zu Maßnahmen, die die private Investitionsbereitschaft in Ostdeutschland positiv beeinflussen. In dieser Hinsicht sind wichtige Entscheidungen bereits getroffen worden (zum Beispiel Privatisierung, Existenzgründungsprogramme, Zuschüsse und Steuerhilfen für Privatinvestitionen, öffentliche Investitionen im Verkehrsbereich und in der Telekommunikation, Programme zur beruflichen Qualifizierung, Vereinfachung der Verwaltungsverfahren). Wegen der üblichen Wirkungsverzögerungen braucht die Wirtschaftspolitik einen langen Atem, muß sie ordnungspolitisch Kurs halten, darf sich nicht aus Gründen der politischen Opportunität zu einem Krisenmanagement hinreißen lassen, das vielleicht einen kurzfristigen Erfolg (Erhaltung von unrentablen Betrieben und Arbeitsplätzen für eine Zeitlang) bringt, diesen Erfolg aber zu Lasten vieler Arbeitsuchender heute und auf Kosten der Arbeitsplätze und Realeinkommen von morgen erkauft. Durch das Kurieren an Symptomen sind noch nie realwirtschaftliche Probleme gelöst worden. Auch in der alten Bundesrepublik haben sich Erhaltungssubventionen immer wieder als Scheinlösung entpuppt; früher oder später kam doch das Aus für die vorher geschützten Arbeitsplätze, die unvermeidlichen Anpassungszwänge waren dann um so schmerzlicher, der wachstumsnotwendige Strukturwandel wurde nur unnötig verzögert. Der geeignete Ort, die Anpassungslasten abzufedern, ist die Sozialpolitik. Dies müßte eigentlich den Arbeitnehmern in den neuen Bundesländern klarzumachen sein. Jedenfalls würden alle, die beschäftigungspolitische Verantwortung tragen, dem schwierigen Übergangsprozeß besser gerecht, wenn sie diese Aufklärung überzeugend betreiben, als wenn sie eine Politik der Lohnangleichung verfolgen, das Tarifvertrags-und Arbeitsrecht tabuisieren und im übrigen darauf setzen, daß die hierbei gemachten Fehler mit öffentlichem Geld korrigiert werden. Je mehr Fehler in der Lohnpolitik gemacht werden, um so länger wird es dauern, bis die Beschäftigung in den neuen Bundesländern in der Breite steigt, selbst wenn in den anderen Bereichen der Wirtschaftspolitik alles gut geht.

Literatur Deregulierungskommission (1991): Marktöffnung und Wettbewerb (Berichte 1990 und 1991). Stuttgart. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung u.a. ( 1991 ) : „Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 1991 " (Gemeinschaftsdiagnose). Essen (April). — Institut für Weltwirtschaft ( 1991 ) : „ Gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsprozesse in Ostdeutschland" (Erster Bericht an den Bundesminister für Wirtschaft). DIW- Wochenbericht, Nr. 12/91, und Kieler Diskussionsbeiträge, Nr. 168 (März).

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Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung e.V.( Kronberger Kreis) (1990): Wirtschaftspolitik für das geeinte Deutschland. Bad Homburg v.d.H. Gürtler; Joachim u.a. (1990): „Verdeckte Arbeitslosigkeit in der DDR". Ifo-Studie zur Arbeitsmarktforschung, Nr. 5, München. Klodt, Henning (1990): „Arbeitsmarktpolitik in der DDR: Vorschläge für ein Qualifizierungsprogramm". Die Weltwirtschaft, Heft 1, S. 78-90. Paqué, Karl-Heinz (1989): „Wage Gaps, Hysteresis and Structural Unemployment — The West German Labour Market in the Seventies and Eighties". Institut für Weltwirtschaft, Kieler Arbeitspapiere, Nr. 358 (Februar). Raffelhüschen, Bernd (1991): „Wanderungen von Erwerbspersonen im Vereinigten Deutschland — Einige Educated Guestimates". Diskussionsbeiträge aus dem Institut für Finanzwissenschaft, Universität Kiel, Nr. 32. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1990): Auf dem Wege zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands. Jahresgutachten 1990/91. Stuttgart. — (1991): Marktwirtschaftlichen Kurs halten — Zur Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer. Sondergutachten, 13. April 1991. Schuster, Helmut/Weiß, Christoph (1991): „Lohnhöhe und Beschäftigung. Kaufkraftund Kostenargument". Zeitschrift für Wirtschafts-und Sozialwissenschaften, 111. Jg., Heft 1, S. 55-64. Siebert, Horst (1990): „Lang-und kurzfristige Perspektiven der deutschen Integration". Die Weltwirtschaft, Heft l f S. 49-59. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1991): Probleme der Privatisierung in den neuen Bundesländern. Bonn (März).

Zusammenfassung der Diskussion

Referat Dönges Auch in der Diskussion wird auf Fragen von Storm noch einmal der von Dönges dargestellte Zusammenhang zwischen Lohnentwicklung und Produktivität im Beitrittsgebiet erörtert. Zunächst geht es dabei um die Folgen, die befürchtet werden, wenn es nicht zu einer Lohndifferenzierung, sondern zu der vorgesehenen raschen Anhebung der Löhne auf Westniveau kommt. Für die alten Unternehmen, die mit niedrigerer Produktivität arbeiten und trotzdem im Jahre 1993 die gleichen Löhne zahlen müssen wie die jetzt neu geschaffenen Unternehmen, die mit ähnlicher Produktivität wie in Westdeutschland produzieren, wird mit unzureichender Wettbewerbsfähigkeit gerechnet. Dönges antwortet, dies sei einer der Gründe dafür, weshalb ihm so sehr an der Lohndrift und an sehr moderaten Tariflohnerhöhungen liegt. Er kritisiert insofern nochmals die derzeitigen Tendenzen der Lohnpolitik. Bezüglich der Produktivitätsebene schlägt er vor, mehr in Kategorien der Knappheit zu sprechen und nicht immer von Produktivitäten. Sonst tauchte in Diskussionen immer wieder das Problem der Kassiererin in Magdeburg und der Kassiererin in Hamburg auf: Beide haben die gleiche „Produktivität", und trotzdem soll die Frau in Magdeburg nur ein Drittel von dem verdienen, was ihre Kollegin in Hamburg verdient. Das sei niemandem klarzumachen. Man könne das Problem aber verständlich machen, wenn man sagte, daß es bestimmte Berufe gibt, die übermäßig besetzt sind; da werde eben weniger Geld gezahlt. In anderen Berufen, wo es bei den Bewerbern knapp aussieht, werde dagegen mehr Lohn geboten. Aber wie auch immer man diese Übersetzungsarbeit leiste, die Differenzierung über die Lohndrift könne — wenn auch die Lohndifferenzen nicht alle Schwierigkeiten beseitigen könnten — zur Lösung des Problems beitragen. Man müsse herunterkommen von jenen Angleichungsverträgen, die derzeit zum falschen Ergebnis führten. Storm befürchtet, daß durch eine rasche Anhebung der Löhne auf Westniveau eine sehr kapitalintensive Produktion gefördert wird. Das Wachstum der Produktion würde sich dann fast ausschließlich in einem Zuwachs der Arbeitsproduktivität niederschlagen statt beim Zuwachs der Beschäftigten.

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Dönges bestätigt dies und fügt hinzu, damit werde sich dann auch insofern ein Teufelskreis schließen, als man eine übermäßig kapitalintensive Produktion dann wieder in Form von Arbeitslosigkeit auf den Arbeitsmärkten zu spüren bekommen werde und von daher die Abwanderungen nach dem Westen Auftrieb erhielten. Siebert greift das Stichwort „Qualifizierungsscheine" noch einmal auf, weil er darin eine interessante Möglichkeit sieht, wie man mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen vielleicht etwas erreichen könnte. Dem Arbeitslosen würde ein Qualifizierungsgutschein gegeben, der aus zwei Komponenten besteht, einmal in der Arbeitslosenzahlung und zum anderen einem Coupon, den er einreichen kann bei einer Firma, die ein Qualifizierungsprogramm anbietet. Dabei werde natürlich die Frage auftreten, wie man das Qualifizierungsrecht der Firma feststellt. Wenn man das sehr bürokratisch machte, würde es recht kompliziert, aber man könnte dies ja sehr breit interpretieren, u.a. als „training on the job". Das hätte den Vorteil, daß man durch eine solche Coupon-Wirtschaft — die im Grunde so etwas wie eine Lohnsubvention für die Firma, die die Betreffenden qualifiziert, darstellt — ein dezentrales Angebot von Qualifizierungsmöglichkeiten zuwege bringen würde, wie es Dönges angedeutet hatte. Das Angebot könne von allen Arten von Unternehmen in Ostdeutschland gemacht werden — auch von Handwerksbetrieben, ebenso aber auch von Unternehmen im Westen. Bei diesem Ansatz ergäbe sich ein Vorteil gegenüber den ABM-Aktivitäten, die ja teilweise von den Kommunen und von den Wohlfahrtsverbänden veranstaltet werden, wobei bekannt sei, daß etwa nur 16 % derjenigen, die ein ABMProgramm wahrnehmen, letztlich auch einen Arbeitsplatz fänden. Die Erfahrungen, die in Westdeutschland damit gemacht wurden, seien doch sehr ernüchternd. Sicherlich wäre es vorteilhaft, neben diesem dezentralen Prozeß durch „training on the job" eine echte Arbeitsplatzvermittlung, d.h. eine Vorwärtsorientierung in der Qualifizierung zu erreichen. Dönges weist in seiner Antwort darauf hin, daß dieser Vorschlag aus dem Institut für Weltwirtschaft kommt. Ihm kommt es auf die Zukunftsorientierung der Qualifizierung an. Er bekräftigt, daß die Arbeitsämter diese Aufgabe erfahrungsgemäß nicht zufriedenstellend erledigten, weil sie sich in der Regel an bestehenden Qualifikationsprofilen und an der Vergangenheit orientierten. Klaus-Dieter Schmidt habe das in seiner Kieler Studie über Bildungspolitik und Arbeitsmarkt in allen Facetten dargelegt. Behörden und Bürokratien hätten nun einmal kein spezifisches Zukunftswissen. Dönges unterstellt, daß die meisten Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden wüßten, daß es ganz entscheidend auf Qualifizierung ankommt, und zwar nicht auf irgendeine, sondern auf die richtige, die möglichst knapp und komplementär zu anderen Qualifizierungen ist. Jeder einzelne suche für sich selbst besser und gezielter. Manchem möge es dann geraten scheinen,

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zu einer Qualifizierungsgesellschaft nach Köln oder nach Kiel zu fahren und sich dort ein On-the-job-Training anzueignen, statt in Ostdeutschland zu bleiben und zu einem Arbeitsamt zu gehen, wo oft nur etwas vermittelt werde, mit dem man nachher nicht allzuviel anfangen kann. Die einzige für Dönges noch ungeklärte Frage ist, ob man mit den Qualifizierungsscheinen eine Rückzahlungspflicht oder zumindest eine teilweise Rückzahlungspflicht bei den Arbeitnehmern verbinden sollte, um den Druck noch etwas zu verstärken. Man könnte an das BAföG-Modell denken, d.h. kleine Rückzahlungsraten, wenn ein ordentliches Einkommen erreicht ist. Dönges neigt unter den aktuellen Bedingungen dazu, keine Rückzahlungspflicht vorzusehen, weil die Anpassungsprobleme ohnehin schon groß genug zu sein scheinen. Hoffmann fragt, worin bei dem System der Qualifizierungsscheine der Anreiz für den Qualifizierer bestünde. Noch vor wenigen Jahren habe ja ein enormes Problem darin bestanden, eine hinreichende Zahl von Lehrstellen zu bekommen. Hierzu bemerkt Dönges, man müsse vergleichen mit dem, was bisher geschieht. Sicherlich gebe es auch bisher schon viele Anbieter, die Qualifizierungsmaßnahmen durchführen. Überwiegend seien es einmal die schon erwähnten öffentlichen Stellen, zum anderen aber große Unternehmen, die gezielt ihre zukünftigen Beschäftigten ausbilden. Darüber hinaus könnten aber auch mittelständische Unternehmen, die mit dem Gedanken spielen, einen Produktionsstandort in einem der neuen Bundesländer zu errichten, durchaus zu derartigen Anreizen greifen. Zumindest könnte das Angebot breiter werden, als es jetzt ist. Kroker findet das vorgeschlagene System von Qualifizierungsscheinen von der Idee her eigentlich interessant und bedenkenswert, jedoch befürchtet er Mißbrauch: Arbeitgeber und Arbeitnehmer könnten sich zusammentun: Es wird jemand entlassen, er ist arbeitslos und kommt dann mit einem Qualifizierungsschein wieder. Das liefe auf eine nicht beabsichtigte Lohnsubvention hinaus. Dönges erwidert, gerade deswegen habe er die Frage der Rückzahlungspflicht aufgeworfen. Denn dann gäbe es kein Interesse auf Arbeitnehmerseite, einen solchen Deal zu machen. Wahrscheinlich müßten die Qualifizierungsscheine zumindest zeitlich befristet werden, und außerdem gebe es die normalen Überwachungsmechanismen. Auch bei dem jetzigen Qualifizierungs- bzw. Beschäftigungsprogramm gebe es ja Mitnahmeeffekte, die man wohl in Kauf nehmen müsse. Kroker gibt zu bedenken, immerhin könnte jemand für ein ganzes Jahr eine vollständige Lohnsubvention kassieren. Das müsse man auf irgendeine Weise verhindern. Bei dem vorgestellten dezentralen Konzept sei eine Kontrolle natürlich schwer zu handhaben.

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Frau Neifer-Dickmann kritisiert diese Qualifizierungsdebatte. Sie gehe an der Realität in den neuen Bundesländern vorbei. Einmal treffe die Idee, daß die Arbeitnehmer — mit einem Qualifizierungscoupon ausgestattet — auf der Suche nach einem Weiterbilder sind, die Mentalitätslage drüben überhaupt nicht. Dort wolle man mit einer Perspektive auf einen bestimmten Ausbildungs- oder Beschäftigungsplatz wissen, was man machen soll. Die Menschen dort seien hoffnungslos überfordert, wenn sie Ausschau halten sollten, wo sie ein passendes Qualifizierungsangebot finden können. Das sei ja auch für viele Leute im Westen schon schwierig; es gehe aber drüben völlig an der bestehenden Mentalität vorbei. In den neuen Bundesländern herrsche vielmehr weitgehend Ratlosigkeit — sogar bei den Unternehmen oder Bildungseinrichtungen selbst — in der Frage, bei welchen Berufen in Zukunft mit einem erhöhten Bedarf zu rechnen sei. Es sei also völlig absurd, zu glauben, die Betroffenen wüßten von sich aus, in welcher Richtung sie sich qualifizieren sollten. Zum Angebot an Qualifizierungsleistungen bemerkt Frau Neifer-Dickmann, es sei durchaus nicht so, daß die Arbeitsämter die einzigen Anbieter von Qualifizierungsmaßnahmen wären. Es gebe mittlerweile ein breites Spektrum von Anbietern im Bereich der Weiterbildung, Bildungseinrichtungen aller möglicher Couleur, von Arbeitgeberverbänden über Gewerkschaften bis zu Wohlfahrtsträgern. Es bestehe dort kein Mangel an Angebot. Es tummelten sich dort bereits viele, die nur absahnen wollten und Unseriöses anböten. Man sollte also nicht mehr darauf drängen, das Angebot in voller Breite noch weiter auszudehnen. Dies wäre eine Verschleuderung von Mitteln, die durch nichts zu rechtfertigen wäre. Es fehle hingegen an speziellen, firmenspezifischen Ausbildungsplätzen, zum Teil deshalb, weil die Bildungseinrichtungen der Betriebe im Moment organisatorisch, personell und teils auch finanziell in der Luft hingen. Man sei aber dabei, bestimmte Punkte wieder in den Griff zu bekommen. Dönges entgegnet, Hinweise auf Mentalitäten hätten ihn noch nie überzeugt. Es sei immer so: wenn nichts geht, dann sagt man „Mentalität". Diese Mentalität werde sich halt ändern müssen, ganz einfach! Es dürfe doch nicht so weitergehen wie bisher, nur nach einem anderen System. Im übrigen gelte der Einwand von Frau Neifer-Dickmann bei weitem nicht für alle Betroffenen. Es gebe durchaus Leute, die sehr genau wissen, daß man etwas ganz anderes tun muß, die sich sehr wohl auf die Zukunft orientieren, die sich sehr wohl über das informieren, was geschieht. Daß nicht jeder so handelt, sei i m Westen genauso. Jedenfalls gehe es doch darum, mehr Bewegung in die Qualifizierung zu bringen. Auch wenn nur wenige damit anfingen, derartige Anstrengungen auf ihre eigene Kappe zu nehmen, dann sei das schon ein Fortschritt.

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Werner streitet ab, daß die Lohnangleichung übereilt durchgeführt wird. Bei den noch bestehenden Abständen in den Reallöhnen — einschließlich der Lohnnebenkosten — müsse man diese Aussagen relativieren. Bezüglich der Arbeitsproduktivität warnt Werner davor, das Jahr 1991 als typisch anzusehen. Man müsse sich doch fragen, welche Betriebe im Jahre 1992 oder gar 1993 in den ostdeutschen Ländern überhaupt noch existieren werden, die eine so extrem niedrigere Arbeitsproduktivität als westdeutsche Betriebe haben. Die werde es dann kaum noch geben, weil sie in der Zwischenzeit beseitigt würden. Auch deshalb sei letztlich eine Anpassung der Tarife in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren unvermeidlich. Auch im Blick auf die Verhältnisse in Berlin — also einem eng verflochtenen Wirtschaftsraum — könnten starke Lohnunterschiede sowohl aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen nicht aufrechterhalten werden. Die konkreten wirtschaftlichen Erscheinungsformen in den übrigen neuen Bundesländern müßten ebenfalls mehr unter diesem Gesichtswinkel gesehen werden. Forndran fragt Dönges, für wie realistisch er denn selbst die Realisierungschance seiner Vorschläge (Deregulierung des Arbeitsmarktes, produktivitätsorientierte Lohnfindung usw.) hält, und was seines Erachtens die Folgen wären, wenn die Vorschläge nicht realisiert würden. Aumann stellt fest, Dönges habe der Versammlung alle Utopien zur Deregulierung des Arbeitsmarktes vorgetragen, die im Westen noch nie funktioniert hätten. Er fragt, wie derartiges nun in einem im Prinzip einheitlichen Arbeitsmarkt in der erweiterten Bundesrepublik Deutschland funktionieren sollte. Zu dem von Frau Neifer angesprochenen Kritikpunkt und der Erwiderung von Dönges merkt Aumann an, es sei unklar, woher Dönges die Gewißheit nehme, daß der einzelne Arbeitslose im Gebiet der ehemaligen DDR oder auch im Westen eine größere Markttransparenz hat als irgendeine darauf spezialisierte Institution. Dönges entgegnet auf die von Werner vorgebrachte Kritik, sie beruhe auf dem Szenario, das die totale Anpassung der Produktivität an die Reallohnansprüche unterstellt, nicht umgekehrt. Durch Stillegung alles wegzuräumen, was unproduktiv ist, sei passive Sanierung. Wenn man aber auf aktive Sanierung setzte, also regionalpolitisch gesprochen auf Gesundwachsen dadurch, daß Kapital dorthin geht, wo Betriebe sanierungsfähig sind, dann spielten die Lohnkosten neben den anderen bereits erwähnten Dingen doch eine Rolle. Dönges befürwortet diese zweite Variante. Auf die kritischen Fragen zu „Utopien" und „wie realistisch ist das" erwidert Dönges, es sei immer wieder das gleiche: Wenn man von den ausgetretenen Pfaden abweichen und Besitzstände tangieren wolle, dann

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heiße es gleich, das gehe nicht, da gebe es das Grundgesetz, und das Verfassungsgericht habe auch gesagt „Einheit der Lebensverhältnisse" und was alles einem da einfällt. Er habe es bezeichnend gefunden, was die Vorsitzende der ÖTV, Frau Wulf-Mathies, kurz zuvor vor der Fernsehkamera sagte. Als sie danach gefragt wurde, ob sie denn nicht meine, daß die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst — bezogen zwar auf die alte Bundesrepublik, im Hintergrund aber auch auf die Folgewirkungen für die neuen Bundesländer — zu hoch gegriffen seien, habe sie gesagt, sie fühle sich voll im Konsens mit den Beschäftigen. Die Journalisten hätten eigentlich fragen müssen: Und was ist mit den Arbeitslosen? Man habe sich schon daran gewöhnt, daß diese Seite einfach weggelassen wird. Dönges bestreitet, daß seine Vorschläge Utopien seien. Die Arbeitsvermittlung in der bisherigen Form werde fallen. Das sei nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zwei Wochen zuvor nicht mehr aufzuhalten. § 613 a BGB könne auch ausgesetzt werden. Das sei übrigens auch mit dem Europa-Recht vereinbar, weil hier gar kein rechtsgeschäftlicher Betriebsübergang stattfindet, sondern ein hoheitlicher A k t vorliegt, wenn die Treuhand verkauft. Es sei ja schön, daß das auch einmal eine Behörde tut. Da greife auch Europa-Recht nicht; die Richtlinien über Massenentlassungen der EG spielten nicht hinein. Zur Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge sei zu fragen, wieso man von einem Landesminister oder vom Bundesarbeitsminister nicht verlangen könnte, daß sie nichts tun, vor allem wenn es unvernünftig wäre. Dönges erinnert daran, wie in Hamburg verfahren wurde, als die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen versucht hatte, die Ladenschlußgesetzgebung durch tarifvertragliche Vereinbarungen wieder einzukassieren. Dort hätten die Arbeitsminister nicht mitgespielt; es gehe also doch im Rahmen der jetzigen Rechtsordnung. Die wirklich schwierige Frage sieht Dönges in der Abdingbarkeit von Tarifverträgen. Die Gewerkschaften seien nicht daran interessiert, daß die unmittelbar Betroffenen durch ihren Betriebsrat mit der Unternehmensleitung verhandeln. Für Dönges unverständlich: Die unmittelbar Betroffenen sähen, daß sie dadurch ihre Arbeitsplätze sicherer machen könnten — warum sollten sie da nicht verhandeln können? Sicherlich stehe das organisationspolitische Interesse entgegen. Er glaubt jedoch nicht, daß man mit den Vertretern der Gewerkschaften nicht darüber reden könnte. Zur Markttransparenz gesteht Dönges zu, daß der einzelne i m Osten wahrscheinlich keine gute Übersicht über bestehende Möglichkeiten hat — ebensowenig wie im Westen. Bisher habe man versucht, das über die Arbeitsverwaltung — sprich Arbeitsvermittlungsmonopol — zu lösen. Das sei bekanntlich nicht besonders effizient. Deshalb sollte man auch hier Private zulassen, die sich auf das Produzieren von Informationen spezialisie-

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ren. Es sei ja nicht so, daß man die staatliche Arbeitsvermittlung beseitigen wollte. Sie könne weiterhin sogar ihre Dienste kostenlos anbieten — im Unterschied zu den anderen, die ein Entgelt verlangen müßten. Jeder sollte die Möglichkeit haben, private Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, also die staatliche Arbeitsvermittlung abzuwählen, wenn er sieht, daß sie ihm nicht hilft. Daran sei gar nichts revolutionär. Dönges erwartet nicht, daß dadurch alle Probleme gelöst würden, nur begebe man sich möglicherweise einer Chance, wenn man derartige Möglichkeiten weiterhin verböte. Die Erfahrungen in anderen Ländern, wo man mit solchen Modellen arbeitet (z.B. Schweiz), seien ermutigend. Hoffmann spricht die in den westlichen Ländern der Bundesrepublik bestehenden Probleme der Langzeitarbeitslosigkeit und die Schwierigkeiten bezüglich der Reintegration an. Nun befürchtet er ähnliche Entwicklungen im Osten. Selbst wenn man mehr Flexibilität im Arbeitsrecht bekäme, könne man die Eigendynamik der Lohnsteigerungen wohl nicht mehr aufhalten. Es werde sehr starke Lohnsteigerungen und infolgedessen auch lohnkostenbedingt eine relativ hohe Arbeitslosigkeit geben. Gleichzeitig werde es bei allen Anstrengungen nicht gelingen, die Investitionen schnell genug in Gang zu setzen. Man müsse sich fragen, was man unter diesen Umständen noch tun könnte, um das Entstehen eines hohen Sockels an Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Dönges setzt Hoffnungen auf die Gestaltung der Manteltarifverträge, da bei den Lohnnebenkosten ja noch nicht eine volle Anpassung erfolgt sei. Im Arbeitskostenvergleich werde man bei der beabsichtigten Lohnangleichung bei etwa 70 bis 80 %, also nicht vollen 100 % ankommen, wenn man die Lohnnebenkosten mit einrechnet. Man müsse den Tarifvertragsparteien jetzt ins Stammbuch schreiben, daß sie auf diesem Gebiet zunächst kurz treten und nicht auch noch mit Arbeitszeitverkürzungen und allen möglichen tarifvertraglichen Zusatzleistungen wie Urlaubsgeld usw. gleichziehen sollten. Das beseitige natürlich das Problem nicht ganz, aber man dürfe wohl auch darauf setzen, daß inzwischen die Investitionen in Gang kommen, so daß die Lohnentwicklung nicht das dominante Investitionshemmnis sein werde. Gleichzeitig müsse man die anderen großen Probleme wie Eigentumsfragen, Infrastruktur usw. in den Griff bekommen. Willgerodt stellt die Arbeitsmarktfragen in einen theoretischen Zusammenhang: Wenn in Westdeutschland Mindestlöhne vereinbart würden und die Tariflöhne als solche gälten, wirke das geographisch als Zugangssperre. Die Anhebung auf dasselbe Niveau in den neuen Bundesländern bedeute nicht eine Fusion des Marktes; sie sei nur ein optisches Symbol für die Einheit, weiter nichts. Tatsächlich bewirke dies mehr Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, ohne einen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz im Westen zu schaffen, der für Zuwanderungen in Frage käme. Auch in der

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Europäischen Gemeinschaft bestehe ja kein einheitlicher Arbeitsmarkt, und man würde ihn auch nicht dadurch bekommen, daß man Mindestlöhne auf europäischer Ebene dem hohen deutschen Niveau einrichtete. So würde ein gespaltener Markt entstehen, nämlich insofern, als viele aus dem Markt ausgeschlossen würden, die den Mindestpreis nicht verdienen. Das lehre schon die allgemeine Mindestpreistheorie.

Engpässe in der Infrastruktur in den neuen Bundesländern Von Heinz Schrumpf, Essen

1. Vorbemerkungen Mit der Wiedervereinigung sind die ökonomischen Probleme Ostdeutschlands zu dem größten regionalpolitischen Problem Gesamtdeutschlands geworden. Benötigt wird ein Konzept, durch das ein Gebiet, welches im Vergleich zu den alten Bundesländern einen eher nach Jahrzehnten zu bemessenden Entwicklungsrückstand aufweist, möglichst schnell an das durchschnittliche Niveau der alten Länder herangeführt werden kann. Aus mehreren Gründen handelt es sich dabei um eine Herausforderung an die Wirtschaftspolitik, die sich in dieser Form in noch keinem anderen europäischen Staat gestellt hat: — die gesamte Wirtschaftsstruktur der ehemaligen DDR hat sich nach dem 2. Weltkrieg aufgrund von Vorgaben der Planbürokratie, ausgerichtet am Autarkiestreben 1 der damaligen Staatsführung und damit unter Abkoppelung von der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung 2 , entwickelt und weist damit, bewertet nach den Kriterien einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, erhebliche Verzerrungen auf. — durch eine Arbeitsproduktivität bei Vollauslastung 3 der Produktionsfaktoren, die nach Schätzungen nur bestenfalls 40 v H der westdeutschen betrug, heute dagegen, wenn die erhebliche personelle Überbesetzung der Betriebe bei gleichzeitig extrem niedrigen Auslastungsgrad in die Betrachtung einbezogen wird, eher bei 25 v H liegt, ergibt sich in Gesamtdeutschland ein besonders krasses innerstaatliches Einkommensgefälle 4 , das in dieser Form in Westeuropa unbekannt ist; 1

Beispiele stellen die Chipsproduktion in der DDR und Teile des Maschinenbaus dar. Vgl. Rheinisch- Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung Essen, Übertragbarkeit der regionalpolitischen Konzepte und Instrumente der Bundesrepublik Deutschland und der EG auf die DDR. Vorstudie. S.82. 2 Beispiele stellen die Textil- und die Stahlindustrie dar. Zur letzteren vgl. Rheinisch- Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung Essen. 3 Dieses Kriterium war letztmalig 1989 erfüllt. 4 Vgl. Institut für Wirtschaftswissenschaften (Hrsg.), Wirtschaftsstandort DDR. Wirtschaftsreport Nr. 1. Bearb. von N. Peche, D. Walter. Berlin 1990, S. 10 ff.

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— im Gegensatz z.B. zu Süd- und Norditalien ist Ostdeutschland nur äußerst schlecht über die vorhandene Infrastruktur mit Westdeutschland verbunden; — die Wirtschaftsstruktur in den klassischen Fördergebieten der EG, z.B. in den britischen Midlands, weist zwar ebenfalls gravierende Schwächen aus, ist jedoch weitgehend unter marktwirtschaftlichen Bedingungen entstanden und hat somit zumindest in Teilen ihre Überlebensfähigkeit unter Beweis gestellt 5 . Diesen Markttest haben faktisch alle Betriebe in den neuen Bundesländern noch zu bestehen; — die Proportionen zwischen dem tertiären und dem sekundären Sektor sind in den neuen Bundesländern, gemessen an den Maßstäben der westlichen Industrieländer, völlig verzerrt. Die Industrie zeichnet sich durch einen hohen, ökonomisch nicht vertretbaren Grad an vertikaler Produktionstiefe aus. Produktions-, aber auch haushaltsorientierte Dienstleistungen sind völlig unterrepräsentiert; — die Bevölkerung, insbesondere die im erwerbsfähigen Alter, hat seit mehr als fünfzig Jahren keine Erfahrungen mehr mit den Bedingungen des Wirtschaftens in marktwirtschaftlichen Systemen; — die staatlichen Behörden sind durch die Umstellung auf ein völlig anderes, zudem hochkomplexes Rechtssystem völlig überfordert. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, daß durch den Zusammenbruch der ehemaligen RGW-Märkte, bedingt durch den eklatanten Devisenmangel der Staaten, die früher den Ostblock bildeten, der wichtigste Standortvorteil der ehemaligen DDR verloren gegangen ist. Positiv wirkt sich dagegen aus, daß eine Arbeiterschaft mit hohem Leistungswillen, die mit einem relativ großen, wenn auch nach westlichen Maßstäben in Teilbereichen veralterten, Humankapital ausgestattet ist und über große Erfahrungen in industriellen Produktionsweisen verfügt, vorhanden ist. Diese Feststellungen erklären, warum die Betriebe und damit die Regionen Ostdeutschlands sich in einer schweren Krise befinden. Schließlich sind diese nicht nur schlagartig mit einem völlig anderen Wirtschaftssystem konfrontiert gewesen, sondern wurden mit dem Tag der Wirtschafts- und 5 Diese Aussage ist zwar in Hinblick auf die Stahlindustrie, weite Teile der Landwirtschaft, die Schiffsbauindustrie und den Steinkohlenbergbau zu relativieren. Das Überleben dieser Branchen hängt heute überwiegend von der Subventionsbereitschaft der zentralen Gebietskörperschaften ab und weist somit Parallelen zu planwirtschaftlichen Systemen auf. Immerhin existieren in diesen Gebieten aber auch nicht subventionierte, vor allem mittelständische Unternehmen, die in die interegionale Arbeitsteilung integriert sind und eine Basis für die weitere Entwicklung darstellen.

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Währungsunion auch voll dem Wettbewerbsdruck der westeuropäischen Industrie ausgesetzt. So sehr diese Probleme aber auch das politische Alltagsgeschäft beherrschen: Mittelfristig ist die Frage, welche Determinanten die zukünftigen Entwicklungschancen der Regionen Ostdeutschlands prägen und wie diese politisch beeinflußt werden können, von größerem Interesse. So kann davon ausgegangen werden, daß sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen in relativ kurzer Zeit jene Regionen herauskristallisieren werden, die im Standortwettbewerb mit westdeutschen und westeuropäischen Regionen mithalten können, andererseits aber auch jene Gebiete, die längerfristig zum „Sorgenkind" der Regionalpolitik zu werden drohen. Damit sich derartige Entwicklungsprozesse aber herausbilden können, ist eine von Westdeutschland ausgehende Initialzündung notwendig, die, da der Nachholbedarf in den neuen Bundesländern eine mittelfristig kaum zu bewältigende Dimension hat, an ausgewählten strategischen Punkten mit möglichst großer Breitenwirkung ansetzen muß. In den folgenden Abschnitten soll belegt werden, daß zur Förderung der aufgezeigten Anpassungsprozesse in Ostdeutschland mittelfristig — eine angebotsorientierte Wachstumspolitik notwendig ist, die sich auf jene potentiellen Wachstumspole in Ostdeutschland konzentriert, die in Zukunft die größten Wachstumschancen haben; — in diesem Kontext der Infrastruktur eine hervorragende Rolle zukommt, da der Staat durch Investitionen in diesem Bereich nicht nur aktuelle Engpässe beseitigt, sondern auch zukünftiges Wachstum erst möglich macht; — neben einer räumlichen Schwerpunktsetzung aber auch eine sachliche notwendig ist, die nicht nur durch das Diktat knapper Mittel, sondern auch durch die unterschiedlichen Planungs- und Ausreifungszeiten konkurrierender Infrastruktureinrichtungen erzwungen wird.

2. Ansatzpunkte der Theorie der regionalen Entwicklung zur Ableitung regionaler und sachlicher Schwerpunkte des Infrastrukturausbaus Überblickt man die vielfältigen Beiträge, die sich auf die Erklärung regionaler Entwicklungsvorgänge, insbesondere aber auf die Zusammenhänge zwischen den sektoralen und regionalen Veränderungen i m Sekundärbereich 6 beziehen, so existiert in der Zwischenzeit als Weiterentwick6 Vgl. etwa im deutschsprachigen Raum B. Gerlach/K. Liepmann, Konjunkturelle Aspekte der Industrialisierung peripherer Regionen, „Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik", Jg. 1987 (1972), S. 1 ff. ; J. Strunz, Die Industrialisierung der Oberpfalz in den Jahren 1957-1966, Regensburg 1974; H. D. Hoppen, Industrieller

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lung dieser einfachen Modelle ein beachtlicher Hypothesenvorrat, ohne daß jedoch von einer in sich geschlossenen und konsistenten Theorie räumlicher Industrieentwicklung bzw. regionalen Wachstums gesprochen werden kann. Versucht man die verschiedenen Theorien, die sich mit der Erklärung des wirtschaftlichen bzw. industriellen Entwicklungsrückstandes von Regionen beschäftigen, trotz ihrer Heterogenität zu gliedern, kann man in einer gewissen Vereinfachung etwa vier Gruppen, in deren Mittelpunkt jeweils eine zentrale Komponente steht, unterscheiden 7 : — siedlungsstrukturelle Defizite,· — Lagedefizite; — Erklärung über institutionelle Rahmenbedingungen bzw. Defizite; — Ressourcenengpässe, insbesondere bei Flächen, Humankapital und Infrastruktur.

Strukturwandel. Eine empirische Untersuchung der sektoralen und regionalen Veränderungen im Sekundärbereich der Bundesrepublik Deutschland 1960-1972, Berlin 1979; E. Nieth, Industriestruktur und regionale Entwicklung. Eine theoretische und empirische Untersuchung der Bundesrepublik 1960-1972, Berlin 1980; W. Reimers, Produktionswachstum und Raumstruktur. Eine Literaturstudie ökonometrischer Ansätze und empirische Untersuchung für Skandinavien und die Bundesrepublik Deutschland, München 1981 ; K. Peschel, Der strukturelle Wandel der Industrie in den Regionen der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1976, in: J.H. Müller (Hrsg.), Determinaten der räumlichen Entwicklung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 131, Berlin 1983, S. 125 ff.; J. Müller, Sektorale Struktur und Entwicklung der industriellen Beschäftigung in den Regionen der Bundesrepublik Deutschland, Beiträge zur angewandten Wirtschaftsforschung, Bd. 12, Berlin 1983; FJ. Bade, Die Standortstruktur großer Industrieunternehmen. Eine explorative Studie zum Einfluß von Großunternehmen auf die regionale Wirtschaftsentwicklung, „Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik", Jg. 196 (1981), S. 341 ff.; ders., Regionale Beschäftigungsentwicklung und produktionsorientierte Dienstleistungen, Sonderheft DIW, Berlin 1986; ders.: Funktionale Arbeitsteilung und regionale Beschäftigungsentwicklung, in: Bundesanstalt für Landeskunde und Raumordnung (Hrsg.), Neuorientierung der regionalen Wirtschaftspolitik?, „Informationen zur Raumentwicklung", Jg. 1986, Heft 9/10,1986, S. 695 ff. ; H.P. Canibol/D.Porschen, Zur regionalen Identifikation sektoraler Anpassungsprozesse, in: Bundesanstalt für Landeskunde und Raumordnung (Hrsg.), Neuorientierung der regionalen Wirtschaftspolitik?, „Informationen zur Raumentwicklung", Jg. 1989,Heft 9/10, S. 715 ff. ; H. Gräber/M. Holsi/K.-P. Schackmann-Fallis/H. Spehl, Zur Bedeutung der externen Kontrolle für die regionale Wirtschaftsentwicklung, in: Bundesanstalt für Landeskunde und Raumordnung (Hrsg.), Neuorientierung der regionalen Wirtschaftspolitik?, Informationen zur Raumentwicklung, Jg. 1986, Heft 9/10, S. 679ff.; dies., Externe Kontrolle und regionale Wirtschaftspolitik, 2 Bde., Berlin 1987. 7

Vgl. auch P. Klemmer, Institutionelle Hemmnisse und wirtschaftlicher Niedergang: Immissionsschutz und altindustrielle Regionen, in: J.H. Müller (Hrsg.), Determinanten der räumlichen Entwicklung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 131, Berlin 1983, S. 75 ff.

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Im folgenden sollen diese Theorien daraufhin überprüft werden, ob sich aus ihnen Ansätze für eine räumliche und sachliche Schwerpunktbildung bei den Investitionen der öffentlichen Hand ableiten lassen.

2.1 Infrastrukturdefizite als sachliche Schwerpunktbildung im Rahmen einer Wachstumsförderung für Ostdeutschland 2ΛΛ Ansatzpunkte Die letzte Erklärungsgruppe lehnt sich in starkem Maße an das überkommene Konzept der Produktionsfunktion an und stellt darum vor allem die regionale Ressourcenausstattung in den Vordergrund. Man kennzeichnet die in ihr enthaltenen Ansätze häufig auch als Engpaßmodelle 8 . Sehen diese Ansätze doch die Ursachen örtlicher oder regionaler Wachstumsdefizite primär im Fehlen bestimmter, für das wirtschaftliche oder industrielle Wachstum von Räumen erforderlicher Gegebenheiten bzw. Ressourcen. Besondere Aufmerksamkeit ist in diesem Zusammenhang der Infrastruktur, dem regionalen Arbeitskräftevolumen, dem Humankapital, den verfügbaren Flächenreserven sowie neuerdings den Umweltengpässen zu widmen. Unter dem Aspekt der Strategiefähigkeit, d.h. der förderungspolitischen Beeinflußbarkeit, steht vor allem die Infrastruktur im Vordergrund. Ihr ist darum mit Blick auf Ostdeutschland besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der Begriff der Infrastruktur umfaßt die für ein befriedigendes Funktionieren der räumlich- arbeitsteiligen Wirtschaft erforderlichen langlebigen Basiseinrichtungen materieller, institutioneller und personeller Art. Zumeist blickt man hierbei auf den materiellen Unterbau der Volkswirtschaft unter Betonung der Sachbereiche — Telekommunikation, — Verkehrswesen, — technische Ver- und Entsorgung, — Bildungswesen, — Sozialwesen, — Sport und Erholung, — allgemeine Verwaltung und — Wohnungswesen 9 . 8

Vgl. auch H.-F. Eckey, Regionale Engpaßfaktoren, in: Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.), Nordrhein-Westfalen in der Krise — Krise in Nordrhein-Westfalen?, Berlin 1985, S. 7 ff. 9*

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Die meisten Infrastrukturtatbestände vermögen aufgrund ihrer Langlebigkeit, Kapitalintensität, Unteilbarkeit, Immobilität und Polyvalenz standortprägend zu wirken und werden als Potentialfaktoren bezeichnet, da sie das regionale Entwicklungspotential entscheidend beeinflussen 10 . Die regionale Wirtschaftspolitik hat darum die Förderung der wirtschaftsnahen Infrastruktur zu einem ihrer zentralen Ansatzpunkte erklärt, wobei vor allem die Kommunen Zuwendungsempfänger von Fördermitteln sind. Letzteres setzt aber voraus, daß es funktionsfähige Gebietskörperschaften gibt, welche in der Lage sind, die örtliche und überörtliche Infrastrukturplanung vorzunehmen, das Förderangebot umzusetzen und die Planungen zu verwirklichen. 2.7.2 Sachliche Schwerpunktbildung Infrastrukturkategorien

innerhalb der

Überblickt man die Literatur, wird der Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur immer noch die größte Bedeutung zugemessen. Zumindest widmet sich ihr der überwiegende Teil jener Literatur, der die Zusammenhänge zwischen regionaler oder lokaler Entwicklung und Infrastruktur analysiert 11 . Dies gilt auch für den kleinräumigen Bereich, wo der Ausbau der Verkehrswege einen beachtlichen Einfluß auf die Erreichbarkeitsverhältnisse ausübt. Viele Gründe sprechen dafür, daß die Infrastruktur, und zwar insbesondere die Bereiche Telekommunikation, Verkehr, Ver- und Entsorgung sowie Ausbildung, unter regionalpolitischen Überlegungen wieder an Bedeutung gewinnen wird. Es zeigt sich nämlich, daß der Einfluß standortrelevanter Tatbestände — vor allem im Rahmen von Regressionsanalysen — erst dann sichtbar wird, wenn sie fehlen, regional stark divergieren oder aufgrund von 9

Vgl. P. Klemmer, Infrastruktur, in: E. Dichtl/O. Issing (Hrsg.), Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, Bd. 1, München 1987, S. 877. Siehe auch R. Frey, Infrastruktur. Tübingen/Zürich 1970; R. Jochimsen, Theorie der Infrastruktur. Grundlagen der marktwirtschaftlichen Entwicklung, Tübingen 1966. U.E. Simonis (Hrsg.), Infrastruktur. Theorie und Politik, Köln 1977. 10 Vgl. D. Biehl/E. Hussmann/K. Rautenberg/S. Schnyder/V. Südmeyer, Bestimmungsgründe des regionalen Entwicklungspotentials. Kieler Studien, Nr. 133, Tübingen 1975, S. 14 ff.; D. Biehl, Die Grundzüge des Potentialfaktorkonzepts, „Die Weltwirtschaft", Kiel, Jg. 1976, S. 60 ff. 11 Vgl. die Literatur in G. Aberle u. Mitarb. v. L. Kaufmann, Verkehrspolitik und Regionalentwicklung. Gesellschaft für Regionale Strukturentwicklung, Bd. 6, Bonn 1981; P. Klemmer, Wandlungen der sektoralen und regionalen Produktionsstruktur als Problem der Verkehrspolitik, in: DVWG (Hrsg.), Schwachstellen in der Verkehrsbedienung, Bd. Β 84, Bergisch-Gladbach 1985, S. 1 ff; ders., Verkehrsinfrastruktur. Funktion und Bedeutung in der entwickelten Industriegesellschaft, „Internationales Verkehrswesen", Jg. 33. (1981), Heft 6, S. 389 ff.

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Überauslastung nicht mehr leistungsfähig sind. Solche regionalen Divergenzen und Kapazitätsengpässe sind in fast allen Regionen Ostdeutschlands zu verzeichnen. Hinzu tritt, daß der allgemein erkennbare Trend der Internationalisierung der Wirtschaft, der Ausweitung der betrieblichen Absatz- und Beschaffungsmärkte sowie der Herausbildung neuer Formen zwischenbetrieblicher Arbeitsteilung eine funktionsfähige Infrastruktur voraussetzt. Mit abnehmender betrieblicher Fertigungstiefe, einem intensivierten zwischenbetrieblichen Lieferungsverbund, der „just in time" bzw. produktionssynchron sein muß, benötigt die Wirtschaft als dringlichste Voraussetzung eine gut ausgebaute Telekommunikation sowie eine kapazitätsmäßig ausreichende Verkehrserschließung. Hierbei lassen sich manche Defizite i m Verkehrsbereiche noch mit Zeitverlusten ausgleichen, das Fehlen einer Telekommunikation wird jedoch zum entwicklungslimitierenden Faktor. Diese Aussage muß vor allem deshalb betont werden, weil bezüglich der Telekommunikation in allen neuen Bundesländern erschreckende Defizite vorliegen. Sie werden zur neuralgischen Engpaßkomponente und müssen mit absoluter Priorität angegangen werden. Unter dem regionalwirtschaftlichen Aspekt nimmt vor allem die großräumige Erschließung (Flugverkehr, Schienenverkehr, Straßenverkehr, Binnenwasserstraßenverkehr) eine besondere Vorrangstellung ein. Dabei muß in Erinnerung gerufen werden, daß bei den langen Ausreifungszeiten i m Bereich der Wasserstraßen und der Schiene sowie dem für die neuen Bundesländer zu erwartenden sektoralen Strukturwandel in den ersten zehn bis 20 Jahren vor allem der Straßenverkehr und damit die Straßenverkehrsinfrastruktur zur entscheidenden regionalen Engpaßkomponente werden kann. Die nächsten Rangpositionen werden von der Ver- und Entsorgung eingenommen. Dies betrifft die Wasserversorgung, die Abwasserentsorgung und die Energieversorgung also die leitungsgebundenen Energieträger, sowie die Abfallentsorgung. Danach folgt der Bildungsbereich. Die Rolle der Bildungseinrichtungen geht hierbei über die Ausbildungs- und Qualifizierungsaufgabe hinaus und weist vor allem den Hochschulen eine „motorische Funktion" zu 12 . Neben der Infrastruktur muß bei den Engpaßmodellen vor allem den Flächenengpässen sowie der regionalen Umweltbelastung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Gerade die Erfahrungen mit den alten 12 Vgl. die Beiträge in E. Giese, (Hrsg.), Aktuelle Beiträge zur Hochschulforschung, Gießener Geographische Schriften, Bd. 62, Gießen 1987; Arbeitsgruppe Fortbildung im Sprecherkreis der Hochschulkanzler (Hrsg.), Hochschule und Region, Fortbildungsprogramm für die Wissenschaftsverwaltung, Materialien, Nr. 17, Essen 1984; Städtetag (Hrsg.), Zusammenarbeit Stadt/Hochschule, Neue Schriften des Städtetags, H. 46, Stuttgart 1982.

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Industriegebieten zeigen, daß Flächenengpässe — samt Engpässen bei den Gewerberäumen für gründungs- bzw. ansiedlungswillige Dienstleistungsunternehmen — dringend notwendige Umstrukturierungsprozesse zu blockieren vermögen. Die bereits vorliegenden Informationen über die regionale Umweltbelastung in einzelnen ostdeutschen Regionen lassen auch die Umwelt in den Vordergrund rücken. Dies gilt insbesondere bezüglich der Luft-, Gewässerund Bodenbelastung. Hierbei ist zu erwarten, daß im Bereich der Luftreinhaltung und der Gewässergütepolitik häufig schon die gezielte Beeinflussung von wichtigen Großemittenten ausreicht, um Sanierungseffekte zu erzielen und damit Spielraum für eine Regionalentwicklung zu eröffnen. Zusammenfassend zeigt dieser Abriß der regionalen Entwicklungstheorie, daß die Stärke von Regionen nicht ausschließlich über die Sektoralstruktur und historische Faktoren zu erklären ist. Der Staat bestimmt über seine Infrastrukturentscheidungen wesentlich über die in einer Region erzielbare Produktivität des privatwirtschaftlichen Kapitals mit. Insofern sind Infrastruktur- und privatwirtschaftliche Investitionen als komplementär anzusehen, d.h. Engpässe in der Infrastruktur können trotz staatlicher Fördermaßnahmen zu einem regionalen Investitionsattentismus führen. Für die Regionalpolitik ergibt sich daraus, daß eine Beschränkung der Förderung auf einen von der Exportbasistheorie geprägten Ansatz in den alten Bundesländern tragfähig sein mag, wenn man das hier erreichte relativ gleichmäßige Ausstattungsniveau mit Infrastruktur berücksichtigt 13 . Für die neuen Bundesländer wäre ein derartiger Ansatz jedoch in Anbetracht der eklatanten Mängel der Infrastruktur völlig unzureichend.

2.2 Zur räumlichen Schwerpunktbildung innerhalb einer Wachstumsstrategie für die neuen Bundesländer — der Einfluß der Siedlungsstruktur und der Lage 2.2.1 Siedlungsstrukturelle

Einflüsse

Die Regionalforschung geht von der Hypothese aus, daß zwischen der Siedlungsstruktur auf der einen und dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand bzw. den Entwicklungschancen des durch sie geprägten Raumes auf der anderen Seite ein funktionaler Zusammenhang besteht 14 . Die regionale Siedlungsstruktur wird hierbei durch 13 Allerdings zeigt die Ruhrgebietsdiskussion, daß zumindest in altindustrialisierten Ballungsgebieten Infrastrukturengpässe noch eine gravierende Bedeutung haben. 14 Vgl. zum folgenden insbesondere P. Klemmer; Wissenschaftliche Bestandsaufnahme des Schwerpunktorteprinzips, a.a.O. ; H.-F. Eckey/P. Klemmer/J. Lauterbach/

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— die Größe der die Regionen bestimmenden Zentren, — die regionale Einwohnerdichte sowie — die Lage der Regionszentren im volkswirtschaftlichen Regionennetz geprägt 15 . In der Literatur lassen sich bezüglich der Rolle der Ortsgröße als Determinante des räumlichen Wachstums zwei Untergruppen unterscheiden. Eine erste 16 stellt auf die einzelnen Gemeinden ab und geht von der Hypothese aus, daß die wirtschaftliche Entwicklung bzw. der Industrialisierungsgrad einer solchen Beobachtungseinheit ganz entscheidend von der Größe dieser Gemeinden selbst bestimmt wird. Eine zweite Gruppe, auf die die regionalpolitische Praxis überwiegend abstellt 17 , betont demgegenüber den Zusammenhang zwischen dem regionalen Wirtschaftswachstum und der Ortsgröße. Eine Region und ihre Zentren werden in wechselseitiger Verflechtung gesehen, wobei das Umland von den Überschwapp-Effekten der Zentren profitiert. B. Bremicker et al., Überprüfung des Systems der Schwerpunktorte im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", a.a.O.; K. Eckerle/K. Roesler/H. Wolff, Überprüfung des Systems der Schwerpunktorte .., a.a.O. 15 P. Klemmer, Siedlungsstrukturelle Erfordernisse von Entwicklungsschwerpunkten im Nahbereich, Bochum 1977; P. Klemmer!H.-F. Ecke y u. Mitarb. v. N. Schwarz, Wachstumspole in Niedersachsen, Hannover 1976, S. 15; H.W. Richardson, The Economics of Urban Size, Lexington (Mass.) 1973; E. ν. Böventer/K.D. Zillum/S . Kopp/H.-D. Teske, Entwicklung der sozialen Kosten in Verdichtungsräumen und zurückgebliebenen Gebieten, Gutachten, Heidelberg 1968; E. v.Böventer/J. Hampe/ S. Kopp/V. Russig, Funktionenteilung und optimale Raumstruktur innerhalb der Ballungsräume und innerhalb ländlicher Gebiete, Gutachten, Heidelberg/München 1970. 16 Vgl. etwa L. Wingo, (jr.), Transportation and Urban Land, Washington 1961; derss., Cities and Space. The Future Use of Urban Land, Baltimore 1963; W. Alonso, Location and Land Use. Toward a General Theory of Land Rent, Cambridge (Mass.) 1964; I.S. Lowry, A Model of Metropolis, Santa Monica (Cal.) 1964; J.W. Forrester, Urban Dynamics, Cambridge (Mass.) 1969; H.W. Richardson, a.a.O.; P. Klemmer, Ursachen des Verstädterungsprozesses. Der Beitrag der Ökonomie, in: Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 92, Berlin 1977, S. 265 ff.; G.S. Goldstein/LS. Moser, A Survey in Urban Economics, „Journal of Economic Literature", Jg. 1973, Bd. 11, S. 121 ff.; W. Buhr/ R. Pauck, Stadtentwicklungsmodelle, a.a.O. 17 Vgl. W. Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland, Jena 1933; E. v. Böventer, Die Struktur der Landschaft. Versuch einer Synthese und Weiterentwicklung der Modelle J.H. von Thünens, W. Christallers und A. Löschs. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Optimales Wachstum und optimale Standortverteilung, N.F., Bd. 27, Berlin 1962, S. 6 ff. ; Gl. Mulligam, Agglomeration and Central Place Theory. A Review of Literature, „International Regional Science Review", Jg. 1984, Vol. 9, S. 1 ff.

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Für die alte Bundesrepublik Deutschland wurde kürzlich von Eckey und Klemmer geprüft, ab welcher Größe des Zentrums positive regionale Impuls· bzw. Verstärkereffekte beobachtet werden konnten, und wo sie ihr Optimum erreichten 18 . Dabei wurde empirisch nachgewiesen, daß die optimale Wachstumspolgröße für den gesamten Industriebereich bei 206.000 Einwohnern mit einem Konfidenzintervall zwischen 176.000 und 241.000 Einwohnern lag, Die erforderliche Mindestgröße schwankte je nach Branche zwischen 20.000 und 61.000 Einwohnern, wobei sich insgesamt ein Durchschnittswert um 35.000 Einwohner ergab. Dieses Ergebnis legt es nahe, die Infrastruktur schwerpunktartig zunächst in jenen Regionen auszubauen, die über ein von der Einwohnerzahl her attraktives Zentrum verfügen. Geht man nämlich davon aus, daß für eine wirtschaftliche Gesundung der neuen Bundesländer eine industrielle Basis unverzichtbar ist, von der Multiplikatoreffekte auf die (produktions- und haushaltsorientierten) Dienstleistungsbereiche ausgehen, so sind schwerpunktmäßig zunächst jene Regionen zu erschließen, die bei Betriebsneuansiedelungen oder -übernahmen eine Vörreiterrolle spielen könnten. Diese Schwerpunktsetzung räumlicher A r t widerspricht zunächst den in den alten Bundesländern angewendeten Prinzipien der Raumordnungs- und Regionalpolitik, auch Infrastrukturmaßnahmen möglichst so durchzuführen, daß im Standortwettbewerb zurückgefallende Regionen begünstigt werden. Zu bedenken ist aber, daß es in den neuen Bundesländern insgesamt um einen möglichst schnellen Anpassungsprozeß geht, der die Abwanderung von Bevölkerung in die alten Bundesländer und damit ein Ausbluten dieser Regionen verhindert. Dies wird nur gelingen, wenn sich schnell eine Reihe motorischer Regionen herausbilden, die neben den damit verbundenen Ausstrahlungseffekten auf das Umland auch eine Vorbildfunktion für andere Regionen Ostdeutschlands übernehmen. Psychologisch wäre dies nicht zuletzt mit dem Vorteil verbunden, daß der ökonomische Dualismus zwischen Ost- und Westdeutschland aufgehoben würde und man zu einheitlichen Diagnosekriterien für alle Regionen Gesamtdeutschlands zurückkehren könnte. 2.2.2 Die Lage einer Region als Selektionskriterium Auch dem Lagekriterium muß im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. So stellt die Öffnung der RGW- Staaten sowie die Beendigung der Teilung Deutschlands eine gravierende Datenänderung zur Beurteilung der Lagegunst dar. Auch der europäische Integrationsprozeß tangiert die großräumigen Erreichbarkeits18 Vgl. H.-F. Eckey/P. Klemmer/J. Lauterbach/B. Bremicker et al., Überprüfung des Systems der Schwerpunktorte im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur 1'.

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Verhältnisse. Lagevorteile werden jedoch erst dann zu einem Standortfaktor, wenn sie von einer entsprechenden Verkehrserschließung begleitet werden. Insofern kann die Regionalpolitik, wenn sie koordinierend auf die Verkehrspolitik einwirkt, einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der neuen Bundesländer beisteuern. Hierbei kann es — was zu betonen ist — nicht primär um die Entfernung zwischen einzelnen Orten gehen, im Mittelpunkt dieses Kriteriums steht vor allem die Einbindung in ein ganzes Verkehrsnetz. Die Regionalpolitik muß sich somit für die Frage interessieren, über welche Streckenausbauten die besten Netzeffekte (Verbesserung der Erreichbarkeitsverhältnisse eines mit den Einwohnerzahlen gewichteten Netzes) erzielt werden können. Die Lagekriterien lassen sich nur durch Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur verbessern und weisen damit auf die überragende Bedeutung der Infrastruktur hin. Langfristige Modifikationen der Siedlungsstruktur sind in demokratischen Systemen dagegen der direkten staatlichen Beeinflußung entzogen. Allerdings wird sie indirekt über Wettbewerbsstärken bzw. schwächen von Regionen beeinflußt, die wiederum nicht unwesentlich durch Infrastrukturentscheidungen des Staates geprägt werden. Aus diesen Überlegungen wäre abzuleiten, daß es bei verkehrspolitischen Maßnahmen vor allem um eine möglichst schnelle, interregionale Anbindung jener Wachstumspole an das westdeutsche und westeuropäische Verkehrsnetz geht, die im vorhergehenden Abschnitt umschrieben wurden.

2.3 Beseitigung institutioneller Defizite Das regionale Flexibilitätspotential rückte erst in neuester Zeit als eigenständige Erklärungskomponente in den Vordergrund. Auslösendes Element waren vor allem die Anpassungskrisen alter Industriegebiete, die sich mit Ressourcenengpässen allein nicht erklären ließen 19 . Hier wurde deutlich, 19 Vgl. P. Klemmer, Problemregion Ruhrgebiet — Ursachen und Besonderheiten der Arbeitslosigkeit, RUFIS-Beiträge, Bochum 1983; G. Tichy, A Sketch of a Probabilistic Modification of the Product Cycle- Hypothesis to Explain the Problems of Old Industrial Areas. UNIDO (Hrsg.), International Economic Restructuring and the Territorial Community, Wien 1985, S. 83 ff.; M. Steiner, Probleme der steirischen Industriestruktur im österreichischen und internationalen Vergleich, Universität Graz, Research Memorandum 8001, Graz 1980; N. Geldner, The Case of „Old Industrial Areas" — the Blocking of Indigenous Renewal, Mimeo, Wien 1982; M. Koppel, „Alte" Industrieregionen: Ein internationaler Vergleich. Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.), Nordrhein-Westfalen in der Krise — Krise in Nordrhein-Westfalen?, Berlin 1985, S. 57 ff.; K.R. Kunzmarui, Die Chancen des Ruhrgebietes: Ein Vergleich der Regionen North West in Großbritannien und Nord-Pas de Calais in Frankreich, Seminarberichte, Gesellschaft für Regionalforschung, Bd. 25, 1987, S. 35 ff.

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Heinz Schrumpf

daß noch andere Einflußfaktoren berücksichtigt werden müssen. Im Vordergrund stehen vor allem Fragen, die die Auswirkungen der Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenordnung betreffen, Folgen eines Syndikalisierungsprozesses zum Gegenstand haben, den Einfluß der Betriebsgrößenstruktur bzw. einer bestimmten Unternehmenskultur behandeln und auf Aspekte der Organisation des politischen Planungs- und Entscheidungsprozesses eingehen 20 . Die Regionalforschung öffnet sich damit den sog. „außerökonomischen Standortfaktoren" — z.B. wirtschafts- und sozialhistorische, soziodemographische, arbeitskulturelle und qualifikatorische Bedingungen — und überschreitet ihren engeren Analysebereich 21 .Dieser Ansatz soll daher im folgenden nicht mehr verfolgt werden.

3. Schlußlolgerungen für ein Entwicklungskonzept "Neue Bundesländer" W i e bereits oben dargelegt wurde, stellt die Siedlungsstruktur eine wichtige Determinante der Regionalentwicklung dar. Bildhaft gleicht sie einem Resonanzkörper, welcher regionalpolitische Maßnahmen verstärkt oder stumpf werden läßt. Empirische Analysen lassen vermuten, daß sich selbst tragende wirtschaftliche Prozesse vor allem dort zu erwarten sind, wo ein gewissen Mindestanforderungen genügendes Regionszentrum sowie eine Agglomerationsvorteile versprechende Mindesteinwohnerdichte vorhanden ist. Schwierigkeiten bereitet jedoch eine exakte Festlegung der unteren Schwellenwerte für beide Kriterien. Zum einen setzt die regionale Beurteilung bereits die für Ostdeutschland 22 noch ausstehende Abgrenzung von Funktionalregionen voraus, zum anderen sind Einwohnerzahlen nur bedingt geeignet, über zentralörtliche Versorgungsqualitäten und Agglomerationsvorteile Auskunft zu geben. Insofern wurde hier in einer gewissen Vereinfachung unterstellt, daß — um die für eine Wachstumspolitik relevanten regionalen Resonanzeffekte auszulösen — das Regionszentrum mindestens 100 000 Einwohner aufweisen und die Einwohnerdichte über 150 Einwohner je Quadratkilometer liegen sollte. Danach müßte sich eine regionale Wirtschaftsförderung vor allem auf folgende Städte und ihre Einzugsbereiche konzentrieren 20

Etwa durch Aufarbeitung der ökonomischen Theorie des Föderalismus bzw. der Bürokratie. 21 Eine erste umfassendere Aufarbeitung bieten V. Nienhaus/H. Karl, Flexibilitätsbarrieren und Flexibilitätsforschung, unveröff. Manuskript, Bochum 1988; siehe auch P. Klemmer, Regionalpolitik auf dem Prüfstand, Abschnitt 3.3.2.: Regionale Flexibilitätsbarrieren. 22 Das RWI hat in der Zwischenzeit in Zusammenarbeit mit Prof. Eckey im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft einen Abgrenzungsvorschlag auf der Basis regionaler Arbeitsmärkte erarbeitet.

Engpässe in der Infrastruktur in den neuen Bundesländern — — — — — — — — — — — — — — —

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Berlin Leipzig Dresden Chemnitz Magdeburg Rostock Halle/Saale Erfurt Potsdam Gera Schwerin Cottbus Zwickau Jena und Dessau

Erwartungsgemäß ergibt sich eine Ballung dieser Entwicklungspole im Süden der DDR, also in den Ländern Sachsen und Thüringen. Siedlungsstrukturelle Defizite treten bevorzugt in Brandenburg auf. Man sollte jedoch daran erinnern, daß es nicht Aufgabe der regionalen Wirtschaftspolitik sein kann, siedlungsstrukturelle Defizite zu beheben. Die Betonung des sachlichen und räumlichen Schwerpunktprinzips, welches für die regionale Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik typisch ist, erfolgt allein unter Effizienzaspekten, beinhaltet somit die Hervorhebung siedlungsstruktureller Mindestanforderungen, die erfüllt sein müssen, um einen wirkungsvollen regionalpolitischen Instrumenteneinsatz zu gewährleisten. Bei dem engeren Thema dieser Arbeit, also der öffentlichen Infrastruktur, ist neben dieser räumlichen Schwerpunktsetzung auch eine sachliche erforderlich: — Die bisher vorgelegten Pläne der Bundespost (Telekom) sind beeindruckend, scheinen jedoch überwiegend ausgleichsorientierte Ausbaumaßnahmen zu umfassen. Insbesondere i m Unternehmensbereich sollte eine Konzentration auf die oben genannten Wachstumspole erfolgen. — Im Verkehrsbereich sollten auf absehbare Zeit in Anbetracht der langen Planungs- und Ausreifungszeiten Investitionen i m Bereich des Ausbaus des Straßennetzes Vorrang haben. Umweltpolitisch ist eine derartige Strategie zwar nicht unbedenklich. Hier ist aber daran zu erinnern, daß im Schienennetz der deutschen Reichsbahn allein durch die notwendigen Reparaturen jahrelange Zeitverzögerungen bei der Abwicklung von Transporten zu erwarten sind, Neubaustrecken zudem Planungs- und Baukapazitäten für Zeiträume bis zu zwanzig Jahren in Anspruch nehmen. Absolute Priorität sollten daher zunächst die Straßenverbindungen

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Heinz Schrumpf zwischen den oben genannten Zentren und deren Verbindungen zu den alten Bundesländern haben.

— Die Regionalpolitik sollte sich stärker als in den alten Bundesländern auf die Förderung der wirtschaftsnahen, kommunalen Infrastruktur konzentrieren. — Da, wo staatliche Planungskapazitäten wie im Bereich der Bahn überfordert sind, ist eine Auftragsvergabe bis zur Durchführung von Maßnahmen an Private unter Einschluß ausländischer Anbieter in Betracht zu ziehen. — Bei Maßnahmen i m Bereich der Umwelt sollten Maßnahmen zur Sanierung von Altanlagen, die weiter betrieben werden, Priorität haben. Nach den Erfahrungen in den alten Bundesländern lassen sich so die größten Sanierungseffekte erzielen. Anzumerken bleibt, daß eine derartige Prioritätensetzung sachlicher und räumlicher A r t zwar mittelfristig von erheblicher Bedeutung ist. Diese Strategie kann jedoch die kurzfristigen Anpassungsprobleme am Arbeitsmarkt, die zudem regional in unterschiedlicher Stärke auftreten werden, nicht lösen. Zudem werden die Maßnahmen dann leerlaufen, wenn es nicht gelingt, die Eigentumsfrage schnell einer Lösung näher zu bringen und endlich insbesondere die kommunalen Verwaltungen arbeitsfähig zu machen.

Chancen und Hemmnisse für mehr Wettbewerb durch die deutsche Vereinigung Von Hans-Hagen Härtel, Hamburg

1. Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit In den neuen Bundesländern sind im Prinzip zwei ökonomische Aufgaben zu lösen. Zum einen ist die Transformation des planwirtschaftlichen Systems in eine wettbewerbliche Unternehmenslandschaft zu vollenden. Zum anderen müssen die Infrastruktureinrichtungen, die Produktionsanlagen sowie die betrieblichen Organisationen auf den Stand einer leistungsfähigen Volkswirtschaft gebracht werden, und es sind die produktiven Ressourcen auf ein marktgerechtes Güterangebot umzustellen. Mit anderen Worten: Es muß Wettbewerb auf den ostdeutschen Märkten hergestellt werden und gleichzeitig dafür gesorgt werden, daß die ostdeutschen Produzenten im Wettbewerb mit westlichen Anbietern bestehen können. Nach der ökonomischen Theorie und den Erfahrungen in den marktwirtschaftlich organisierten Ländern besteht zwischen den beiden Aufgaben kein Zielkonflikt. Ein intensiver Wettbewerb hemmt nicht die Entwicklung von wettbewerbsfähigen Strukturen, sondern fördert sie. Die Wettbewerbspolitik und die allgemeine Wirtschaftspolitik arbeiten also nicht gegeneinander oder nebeneinander, sondern Hand in Hand. Dies gilt grundsätzlich auch für die Wirkungen, die von der Integration der beiden, zuvor durch Grenzen getrennten, deutschen Wirtschaftsräume ausgehen. Im Unterschied zu den osteuropäischen Volkswirtschaften vollzieht sich in den neuen Bundesländern der Übergang zu einer Marktwirtschaft gleichzeitig mit der Integration in einen größeren Wirtschaftsraum. Diese Integration fördert die Transformation zur Wettbewerbswirtschaft und die Entwicklung wettbewerbsfähiger Strukturen, weil der zurückgebliebenen Wirtschaftsregion dadurch der Rückgriff auf den Wissens- und Kapitaltransfer der hochentwickelten Region offensteht. Zugleich vermag die Integration den Wettbewerb zu intensivieren, und zwar in beiden Wirtschaftsregionen. Zum einen erhöht sich durch die Erweiterung des Wirtschaftsraumes die Anzahl der miteinander konkurrierenden Anbieter. Zum anderen bietet die Öffnung der Absatz- und Beschaf-

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Hans-Hagen Härtel

fungsmärkte innovativen Anbietern neue Chancen und stellt etablierte Marktpositionen in Frage. Schließlich bietet die Vereinigung die Gelegenheit, obsolet gewordene wettbewerbsbeschränkende Regulierungen abzuschaffen oder zu liberalisieren. Die Zielharmonie von Wettbewerbspolitik und der auf die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten allgemeinen Wirtschaftspolitik wird allerdings für Länder mit einem Entwicklungsrückstand in Frage gestellt. Nach dem Erziehungszollargument benötigen rückständige Industriezweige eine temporäre Abschirmung von der überlegenen ausländischen Konkurrenz, wenn sie zu wettbewerbsfähigen Partnern heranreifen wollen. Das Erziehungszollargument kann indessen, wenn überhaupt, nur herangezogen werden, wenn bei einem gesamtwirtschaftlich „richtigen" Wechselkurs einzelne Branchen nicht mitkommen. Leiden durchweg alle Branchen unter Mangel an Wettbewerbsfähigkeit, wie dies in den neuen Bundesländern der Fall ist, dann ist dies auf einen „falschen" Wechselkurs zurückzuführen. Im Unterschied zu der Integration der westlichen Industrieländer in der Nachkriegszeit, zum Beispiel durch die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes, sind die neuen Bundesländer zu einem weitaus überhöhten Wechselkurs, das heißt zu einem überhöhten Lohnniveau dem größeren Wirtschaftsraum beigetreten. Die dadurch eingetretenen Wettbewerbsnachteile wurden anschließend durch mehrere Lohnerhöhungswellen noch vergrößert. Sie bewirken, daß die durch die Markterweiterung ermöglichte Intensivierung des Wettbewerbs nur noch begrenzt erreichbar ist. Viele Anbieter nämlich, die sich sonst am Markt hätten behaupten und aus eigener Kraft erneuern können, müssen nun ausscheiden. Andere sind nur durch massive Unterstützung westlicher Unternehmen überlebensfähig. A m raschesten und am wirksamsten können zweifellos westdeutsche Unternehmen helfen, die am gleichen Markt anbieten oder in der gleichen Branche wie der ostdeutsche Betrieb tätig sind. Diese Unternehmen werden allerdings zu einem Engagement nur bereit sind, wenn sie sich davon eine Stärkung ihrer Marktstellung versprechen. Sie werden nur solche Arbeitsplätze übernehmen oder aufbauen, die ihre eigenen Aktivitäten nicht gefährden oder zu diesen komplementär sind, zum Beispiel solche für den Vertrieb, für Zulieferungen oder für die Montage. Überdies werden vor allem die großen Unternehmen und unter diesen die Marktführer Fusionsstrategien betreiben, so daß die Anbieterkonzentration in den neuen Bundesländern und in Gesamtdeutschland größer als im alten Bundesgebiet zu werden droht. Schließlich wird vermutet, daß westdeutsche Unternehmen ostdeutsche Firmen und Marken nicht zuletzt aus dem Motiv aufkaufen, die Produktion

Chancen und Hemmnisse für mehr Wettbewerb

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stillzulegen, um sich einen aktuellen oder potentiellen Wettbewerber vom Hals zu schaffen oder um sie nicht in die Hände anderer Wettbewerber fallen zu lassen. Soweit durch solche Praktiken marktbeherrschende Stellungen entstehen oder ausgebaut werden, müssen die Kartellbehörden diese Fälle i m Rahmen der Fusionskontrolle aufgreifen und die Übernahme gegebenenfalls untersagen. Hier setzen nun die Bedenken ein, daß durch die kartellrechtlichen Verfahren die Privatisierung und Sanierung ostdeutscher Produktionsstätten verzögert werden oder daß nach der Untersagung kein anderer Bewerber auftritt, so daß auch Arbeitsplätze verlorengehen, die der Übernahmewillige erhalten oder neu geschaffen hätte. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller hat deshalb vorgeschlagen, bei Zusammenschlüssen von ostdeutschen Unternehmen mit westlichen Partnern für eine Übergangszeit die Fusionskontrolle auszusetzen, weil diese den dringend benötigten Wissens· und Kapitaltransfer aus dem Westen behindere oder verzögere. Mit diesem Vorschlag wird auf einer anderen Ebene als auf der Ebene des Erziehungszollarguments ein Zielkonflikt zwischen der Wettbewerbspolitik und der allgemeinen, auf Beschleunigung der Entwicklung gerichteten Wirtschaftspolitik behauptet. In den folgenden Beispielen wird nun gezeigt, daß durch die Wettbewerbspolitik die Erneuerung der ostdeutschen Wirtschaft und die Beschäftigungschancen ostdeutscher Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt worden sind, daß eher im Gegenteil aus der Sorge, die Erneuerung zu verzögern und Arbeitsplätze zu gefährden, wettbewerbspolitisch bedenkliche Entwicklungen in Kauf genommen wurden. 1

2. Zur Kritik an der Fusionskontrolle In den fünf Monaten vor der staatlichen Einigung am 3. Oktober 1990 war für die Beurteilung der Wettbewerbswirkungen von West-Ost-Unternehmenskooperationen auf dem Gebiet der DDR das A m t für Wettbewerbsschutz zuständig, während das Bundeskartellamt nur die Rückwirkungen auf den westdeutschen Markt zu beurteilen hatte; dabei galt in der DDR eine weniger strenge Fusionskontrolle als in der Bundesrepublik. 2 Nach dem Beitritt der ehemaligen DDR gilt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschrän1

Die folgenden Ausführungen sind Teil eines laufenden Forschungsauftrages des Bundeswirtschaftsministeriums über die Entwicklung des Wettbewerbs in den neuen Bundesländern. Erste Ergebnisse wurden veröffentlicht in: Hans-Hagen Härtel / Reinald Krüger, Aktuelle Entwicklungen von Marktstrukturen in Ostdeutschland aus wettbewerbspolitischer Sicht, HWWA Report Nr. 86, Hamburg 1991. Weitere Ergebnisse werden in vierteljährlichem Abstand publiziert. 2 Vgl. Reinhold Wutzke, 155 Tage Amt für Wettbewerbsschutz, Wirtschaft und Wettbewerb, Jahrgang 41 Heft 1, Düsseldorf 1991, S. 14 ff.

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kungen (Kartellgesetz) auch in Ostdeutschland, und das Bundeskartellamt ist für Gesamtdeutschland die zuständige Kartellbehörde. Seit dem Übergang zur Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR und der Verabschiedung eines Kartellgesetzes haben die Kartellbehörden nur in bescheidenem Umfang Fusionsfälle aufgegriffen. In großen Teilen der Industrie und des Dienstleistungssektors, in denen der Marktzutritt für ausländische, westdeutsche oder ostdeutsche Anbieter niedrig ist und deshalb Zusammenschlüsse weder auf den regionalen oder lokalen Märkten der neuen Bundesländer noch auf den nationalen Märkten der Bundesrepublik Deutschland den Wettbewerb zu beeinträchtigen drohen, haben die Kartellbehörden den dringend benötigten Transfer von westlichem Wissen und Kapital weder behindert noch verzögert. Beispiele hierfür sind die chemische Industrie, der Maschinenbau, die Automobilindustrie, der Handel oder das Bankgewerbe. Dort, wo die Kartellbehörden eingegriffen haben, handelte es sich um regional oder lokal begrenzte Märkte oder um regulierte Bereiche mit jeweils hohen Marktzutrittsbarrieren. Regional oder lokal begrenzte Märkte sind dadurch gekennzeichnet, daß überregionale Unternehmen zum Beispiel infolge hoher Transportkosten die Kunden nicht durch Lieferungen aus fernen Produktionsstätten bedienen können, sondern dazu innerhalb der Marktgrenzen bestehende Betriebe übernehmen oder neue Kapazitäten errichten müssen. Marktzutrittsschranken diskriminieren den Markteintritt von neuen Konkurrenten und schützen dadurch die etablierten Anbieter. 3 Es ist kennzeichnend, daß nach dem Fortfall der Grenzen nicht jene Produktionstätten in den neuen Bundesländern den stärksten Zuspruch fanden, die noch relativ leistungsfähig sind oder sich auf wachsenden Märkten befinden. A m raschesten wurden vielmehr die regional oder lokal begrenzten Märkte besetzt und hier vor allem diejenigen mit hohen Zutrittsschranken. Die Attraktivität der ostdeutschen Betriebe bestand hier vor allem in den erwarteten, vor dem Wettbewerb geschützten Renten, nicht dagegen in dem Substanzwert der Betriebe. Die bestehenden Produktionsanlagen waren in diesen Branchen teilweise sogar in einem noch maroderen Zustand als in anderen Zweigen. Ebenso kennzeichnend war die Strategie, welche die westdeutschen Marktführer anwandten. Sie bildeten Konsortien, die die Branche im Ganzen übernehmen sollten und möglichst auch noch in der monopolistischen Struktur, wie sie die Planwirtschaft hinterlassen hatte. Damit sollten zum einen die Preise für die Übernahme gedrückt werden und zum anderen 3

Man unterscheidet strategische, strukturelle und administrative Marktzutrittsschranken. Vgl. hierzu Erhard Kantzeribach / Jörn Kruse, Kollektive Marktbeherrschung, Göttingen 1989, Kapitel 4.

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Wettbewerb von vornherein ausgeschaltet werden. Es ist den Interventionen des Bundeskartellamtes zu verdanken, daß in der Zement- und in der Zuckerindustrie solche Konsortiallösungen unterbunden, die ehemaligen Kombinate entflochten und an einzelne Unternehmen vergeben wurden. Das Bundeskartellamt griff auch ein, als die großen westdeutschen Zeitungsverlage den bis dahin bestehenden Postversand durch ein monopolistisches Pressegrosso ersetzen wollten. Die Sanierung der Produktionsstätten wurde durch das Einschreiten der Wettbewerbshüter nicht gestört. In der Stromwirtschaft bestand aufgrund der organisatorischen Trennung von Stromerzeugung, Netzträgerschaft und regionalem Vertrieb sogar die Chance für die Entwicklung von wettbewerbsfreundlicheren Marktstrukturen, als sie in Westdeutschland bestehen. Die drei westdeutschen Marktführer RWE, Preußen-Elektra und Bayern werk verlangten und erhielten für ihre Bereitschaft zum Engagement die Zusage, daß die „bewährten Wettbewerbsverhältnisse" des alten Bundesgebietes auf die ehemalige DDR übertragen werden. Auch in der Gaswirtschaft wurde die bestehende organisatorische Trennung von Energielieferung und -Verteilung aufgehoben. A n dem Gasnetz erhielt mit der Ruhgas-AG der dominierende Erdgasimporteur eine 35%-Beteiligung; der Rest soll an die anderen Gasimporteure und an die ausländischen Gasproduzenten gehen. In der ostdeutschen Strom- und Gaswirtschaft wurde damit die Chance für eine Wettbewerbslösung vergeben, die auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt für Westdeutschland eine Pionierfunktion hätte ausüben können. Es ist zwar einzuräumen, daß die Regierung der ehemaligen DDR, die mit Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums die Verträge mit den westdeutschen Marktführern aushandelte, unter dem Druck stand, die Energieversorgung kurzfristig zu sichern und möglichst umgehend grundlegend zu erneuern und flächendeckend auszubauen. Sie war dabei auf den Sachverstand der Privatwirtschaft angewiesen. Sie mußte freilich in Rechnung stellen, daß die Marktführer auch ein vitales Eigeninteresse daran haben, ihre Marktstellung zu sichern und Wettbewerb der Energieproduzenten um die Einspeisung in das Strom- bzw. Gasnetz zu verhindern. Auch die Kartellbehörden (das A m t für Wettbewerbsschutz der ehemaligen DDR sowie das Bundeskartellamt) gingen bei der wettbewerbsrechtlichen Prüfung offensichtlich davon aus, daß eine wettbewerbsfreundlichere Lösung als in Westdeutschland nicht in Frage komme. Es ist unter dem Aspekt des Wettbewerbs auf dem Energiemarkt zu bedauern, daß die breite ordnungspolitische Diskussion über die Energiewirtschaft, die schon seit langem in der wissenschaftlichen Literatur geführt wird, in der wettbewerbspolitischen Praxis zu kurz gekommen ist. 4 In den fünf Monaten vor der 4

So warnte die Monopolkommission in ihrem achten Hauptgutachten vom Juni

10 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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staatlichen Einigung, in denen das A m t für Wettbewerbsschutz für das Gebiet der DDR die Wettbewerbsaufsicht führte, galt bekanntlich eine weniger strenge Fusionskontrolle als i m Bundesgebiet. Die Wettbewerbsbehörde konnte bei ihren Entscheidungen neben den wettbewerbspolitischen Überlegungen auch jene politischen Argumente einbeziehen, die nach dem bundesdeutschen Kartellrecht erst der Bundeswirtschaftsminister nach der Entscheidung des Bundeskartellamtes und nach Begutachtung der Monopolkommission geltend machen kann. Damit sollten die Entscheidungsprozeduren verkürzt und Fusionen erleichtert werden. Diese Form der „Liberalisierung" der Fusionskontrolle hat sich nicht bewährt. Letztlich hat sich auch damals der Wirtschaftsminister die Entscheidungskompetenz vorbehalten. Die Erfahrungen zeigen, daß in Zeiten, in denen kurzfristiges Krisenmanagement herrscht, langfristig orientierte wettbewerbspolitische Überlegungen wenig Gehör finden. Um so dringlicher ist es, daß es für die kartellrechtliche Überprüfung eine unabhängige Instanz gibt und daß wettbewerbspolitische Bedenken von den politischen Instanzen öffentlich und nur mit nachprüfbarer Begründung beiseite gelegt werden. 5 Die Praxis des Kartellamtes ist insbesondere im Fall „Interflug" auf Kritik gestoßen. Hier entstand der Eindruck, daß „Interflug" durch den Einspruch des Bundeskartellamtes gegen die geplante Fusion mit der Lufthansa zur Aufgabe des Flugbetriebs gezwungen worden sei und Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verloren, die bei der Lufthansa Beschäftigung gefunden hätten. Bei dieser Kritik wird übersehen, daß die Lufthansa ihre Fusionspläne verfolgte, als sie noch nicht von einer schnellen staatlichen Einigung ausging und in der „Interflug" den zweiten staatlichen Carrier sah, über den sie in das innerdeutsche und osteuropäische Geschäft kommen wollte. Nach der deutschen Einigung verlor die Interflug für die Lufthansa ihre Attraktivität. Die anderen Interessenten an der „Interflug" hatten wiederum nicht den Flugbetrieb des ostdeutschen Unternehmens im Auge, sondern die Streckenrechte, über die „Interflug" als nationaler Carrier verfügte. Erst als insbesondere durch die Passivität des Bundesverkehrsministeriums der Eindruck entstand, daß die „Interflug" nicht als ein mit der Lufthansa voll gleichberechtigtes Luftfahrtunternehmen behandelt werden würde, wurde das Engagement auch für andere Erwerber uninteressant. Lehren aus dem 1990 eindringlich vor einer zunehmenden vertikalen Integration im ostdeutschen Energiesektor. Vgl. auch Helmut Gröner / Heinz-Dieter Smeets, Regulierung der leitungsgebundenen Energiewirtschaft, in: Michael Krakowski (Hrsg.), Regulierung in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1988, S. 117 ff. 5 Gerade dies hatte die Bundesregierung auch für die europäische Fusionskontrolle gefordert.

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„Fall Interflug" hat weniger die Wettbewerbspolitik als die Verkehrspolitik zu ziehen. Auch die Funktion von staatlichen Beteiligungen an Unternehmen, die privatwirtschaftlich organisiert sind und im Wettbewerb mit anderen Unternehmen stehen, müßte in diesem Zusammenhang auf den Prüfstand. Warum, so wäre zu fragen, mußte die staatliche Fluggesellschaft Interflug veräußert und notfalls stillgelegt werden, während der Bund an der Lufthansa weiterhin eine Beteiligung von 51% hält? In der öffentlichen Diskussion wurde die Handhabung der Fusionskontrolle durch die Kartellbehörde nicht immer als zu streng, sondern zeitweise auch als zu großzügig kritisiert, so zum Beispiel, als schon vor Inkrafttreten der Währungs- und Wirtschaftsunion die beiden größten Banken (Deutsche Bank und Dresdner Bank) mit dem aus der ehemaligen Notenbank der DDR ausgegliederten Teil ein Gemeinschaftsunternehmen (Deutsche Kreditbank) gründeten und der größte Versicherungskonzern (Allianz AG) mit der vormals staatlichen Versicherung die Deutsche Versicherungs AG etablierte. Möglicherweise versprachen sich die westdeutschen Partner aus der Beteiligung an den vormaligen Monopolisten Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren westdeutschen Konkurrenten. Solche Erwartungen und die Befürchtungen der Öffentlichkeit entsprachen jedoch statischem Denken. Sie berücksichtigten nicht, daß die Zutrittsschranken für die Wettbewerber auf den Finanz- und Versicherungsmärkten so gering waren, daß der Erwerb von Geschäftsräumen, Personal und Kundenbeziehungen wenig ins Gewicht fiel. Angesichts der Qualifikationsmängel der ostdeutschen Bank- und Versicherungsbeamten und dem schlechten Image, das die staatlichen Monopolisten in den Augen der Bevölkerung besaßen, war der Erwerb der Beteiligungen möglicherweise eher ein Nachteil. Kritik gegen eine angeblich zu weitgehende Duldung von Zusammenschlüssen durch das Bundeskartellamt kam auch aus dem Kreis der mittelständisch organisierten Wirtschaft. Diese Kritik richtet sich zum Beispiel gegen den Erwerb der staatlichen HO-Läden durch die „Großen" des westdeutschen Lebensmitteleinzelhandels. Bei dieser Kritik wird — wie so oft — übersehen, daß die Aufgabe des Kartellamtes nicht primär der Schutz von Wettbewerbern, sondern der Schutz des Wettbewerbs ist. Im Einzelhandel herrscht wegen der niedrigen Markteintrittsbarrieren auch dort scharfe Konkurrenz, wo die Anzahl der Anbieter klein ist. Das Vordringen der „Großen" im Einzelhandel beruht in erheblichem Maße auf Effizienzvorteilen. Die kleinen Läden werden durch die wettbewerbsfähigen Unternehmen nicht nur durch Übernahmen, sondern mehr noch durch die Neugründung von Läden verdrängt. Ein Verbot von Übernahmen würde nicht die kleinen Händler schützen, sondern die Anbieter, die ihre Marktchancen in der Neueröffnung von Geschäften sehen. 10·

Die Handelsbeziehungen der ostdeutschen Länder mit dem ehemaligen RGW-Raum, Lage und Perspektiven 1991 Von Klaus Werner, Berlin

Noch vor einem Jahr gehörte zu den unter Wirtschaftstheoretikern und -praktikern verbreiteten Irrtümern die These, daß die umfangreichen Handelsbeziehungen der ostdeutschen Wirtschaft zu den Staaten des inzwischen aufgelösten RGW trotz ihrer offensichtlichen strukturellen und qualitativen Mängel ein wesentliches Element der Stabilität und zukünftigen Sanierung auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen seien. Heute hat man die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, daß nicht nur der Osthandel der neuen deutschen Bundesländer in raschem Tempo zurückgeht, sondern auch die meisten derjenigen Unternehmen in eine besonders komplizierte Lage geraten sind, bei denen die Ostexporte einen hohen Anteil am Gesamtabsatz hatten. Dieses Phänomen verlangt neue Antworten auf die Frage nach der Standortqualität und internationalen Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft. Um die wichtigste Erkenntnis vorweg zu nehmen: Angesichts der völlig veränderten Bedingungen wäre es keine rationale Option, Struktur und Charakter des alten RGW-Handels erhalten zu wollen. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, ein völlig neues Geflecht wirtschaftlicher Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Ländern des ehemaligen RGW-Raums aufzubauen. Daß man dabei auch an Bestehendes anknüpfen kann, sollen Ausnahmen belegen, auf die noch eingegangen werden soll.

Aktuelle Situation im Osthandel Noch belegen die statistischen Abrechnungen zum Osthandel der neuen Bundesländer seit der Verwirklichung der Währungsunion nicht das ganze Ausmaß der wirtschaftlichen Anpassungskrise und bedürfen deshalb einer differenzierten Interpretation. Im zweiten Halbjahr 1990 betrugen die Exporte der ostdeutschen Wirtschaft in die europäischen RGW-Länder 15,714 Mrd. DM, was einem Wachstum von 8,4 v H gegenüber dem Vorjahreszeitraum entsprach, wäh-

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Klaus Werner

rend die Importe i m Vergleich zum Vorjahr um 73 v H zurückgingen und auf 3,761 Mrd. D M schrumpften. 1 Tabelle 1 Ausfuhr und Einfuhr der neuen Bundesländer gegenüber dem RGW-Raum im 2. Halbjahr 1990 Einfuhr

Ausfuhr Land UdSSR Polen CSFR Ungarn Rumänien Bulgarien gesamt

Mio. DM

vH zum Vor j ahreszeitraum

Mio. DM

vH zum Vor j ahreszeitraum

9708 1879 1349 1433 756 593

+17,0 +25,1 -30,9 +12,6 - 4,2 -13,4

2581 433 370 279 56 45

-66,9 -76,0 -78,4 -78,9 -90,6 -93,4

15714

+ 8,4

3764

-73,0

Quelle: Statistisches Bundesamt, Außenhandel, Fachserie 7, Reihe 1.

Das bemerkenswerteste Ergebnis ist der totale Abbruch der Importbeziehungen. Das betraf die Bezüge aus allen osteuropäischen Volkswirtschaften, am meisten diejenigen aus Bulgarien, die nur noch 6,6 v.H des vorjährigen Importvolumens erreichten, aber auch die Importe aus der Sowjetunion mit lediglich 33,1 v H des Vorjahresniveaus. Trotz des im Einigungsvertrag beschworenen Vertrauensschutz ist die Mehrheit der bereits abgeschlossenen Importverträge storniert worden. Das hatte verschiedene Gründe: 2 — ostdeutsche Unternehmen nutzen die nunmehr vorhandenen Zugriffsmöglichkeiten auf bessere westliche Produkte; — osteuropäische Lieferanten (v. a. aus der Sowjetunion) vermochten wegen Produktionsschwierigkeiten die vereinbarten Warenmengen nicht zu liefern; — der Bedarf an osteuropäischen Lieferungen bei Vorprodukten ging wegen des zunehmenden Auftragmangels zurück. Zudem erwies sich die Konkurrenzfähigkeit der angebotenen Verbrauchsgüter als nicht ausreichend. 1

Es werden die Abrechnungsergebnisse des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden zugrundegelegt. Die Zahlen der Internationalen Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ) Moskau weisen einen noch höheren Exportzuwachs aus. Hier sind methodische Unterschiede und der voneinander abweichende Erfassungszeitpunkt zu beachten. 2 Vgl. dazu Thede, S.: Der Osthandel der neuen Bundesländer — Verfall oder Hoffnung, in: Deutsche Wirtschaftszeitung, Nr. 12/1991, S. 3.

Die Handelsbeziehungen der ostdeutschen Länder

151

— der festgelegte Umrechnungskurs zwischen dem transferablen Rubel und der D M (1 : 2,34) führte zu einer relativen Verteuerung der Importe. Einen anderen Verlauf — gelegentlich mit optimistischen Kommentaren bedacht — nahm die Entwicklung der Exporte nach Osteuropa im 2. Halbjahr 1990. In die UdSSR, nach Polen und Ungarn expandierten die Ausfuhren mit zweistelligen Zuwachsraten. Die Exporte in die CSFR, nach Bulgarien und Rumänien verringerten sich zwar ζ. T. wegen staatlicher Interventionen in diesen Ländern, um die Verschuldung in Grenzen zu halten, nachdem noch im ersten Halbjahr kräftige Zuwächse erreicht wurden. Insgesamt bleibt aber das erwähnte Plus von 8,4 vH. Dieses Ergebnis stellt jedoch eine eindeutige Verzerrung der tatsächlichen ökonomischen Situation dar, trägt insofern Ausnahmecharakter und ist nicht geeignet, Schlußfolgerungen für das Jahr 1991 zu ziehen. Als Ursachen wären zu benennen: — Die Lieferverträge wurden noch auf der Basis des transferablen Rubels und vielfach der alten RGW-Preisbildungsprinzipien abgeschlossen; — der Umrechnungskurs zum transferablen Rubel begünstigte die Exporte und schuf einen starken Exportanreiz; — die krisenhafte Versorgungslage in Osteuropa förderte das Interesse der Partner an zusätzlichen Importen, dem wegen freier Kapazitäten der ostdeutschen Wirtschaft schnell entsprochen werden konnte; — zur Gewährleistung des Vertrauens und um die Liquidität ostdeutscher Exportunternehmen zu sichern, wurden zeitweilig von der Bundesregierung umfangreiche Subventionen gewährt. Das Exportwachstum und der rapide Rückgang der Importe hatte zur Folge, daß während des Jahres 1990 bedeutende Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den osteuropäischen Länder entstanden.

Tabelle 2 Überschuß in der Handelsbilanz des Jahres 1990 gegenüber dem RGW-Raum Land UdSSR Polen CSFR Ungarn Rumänien Bulgarien gesamt Quelle: Berechnungen des IAW.

Exportüberschuß 8654 Mio. DM 1144 Mio. DM 1685 Mio. DM 1463 Mio. DM 1098 Mio. DM 867 Mio. DM 14911 Mio. DM

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Diese in D M ausgewiesenen Größen ergeben sich aus den mit einem Umrechnungskoeffizienten von 1 :2,34 bewerteten Überschüssen in transferablen Rubeln und sind insofern nicht exakt, weil sie nicht den realen Kaufkraftparitäten der Währungen entsprechen. (Eigene Berechnungen gehen von einem Umrechnungsverhältnis von höchstens 1 : 1,6 aus.) Mit Beginn des Jahres 1991 schlug auch für den Osthandel der Unternehmen aus den neuen Bundesländern die Stunde der Wahrheit. Die Reste des alten RGW-Handels-, Preis- und Verrechnungssystems verloren ihre Gültigkeit. Der gesamte Handel wurde auf konvertierbare Devisen und aktuelle Weltmarktpreise umgestellt und erfolgt nunmehr nach der Beseitigung des staatlichen Außenhandelsmonopols ausschließlich über die Vertragsbeziehungen zwischen den Unternehmen. Die Auswirkungen vor allem auf dem Umfang und die Struktur der Exporte werden einschneidend sein. Stellt man die durch den Anpassungsschock gekennzeichnete Gesamtlage der ostdeutschen Wirtschaft in Rechnung und berücksichtigt man, daß in allen osteuropäischen Ländern die praktischen Ergebnisse bei der differenziert verlaufenden Transformation der Wirtschaftsordnungen hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind und sich zudem die akuten Krisenerscheinungen verstärken, so können die Perspektiven für den Handel mit den ehemaligen RGW-Ländern in diesem Jahr nur äußerst pessimistisch beurteilt werden. Die statistischen Abrechnungen des I. Quartals geben darüber bereits beredte Auskunft, wobei zu bedenken ist, daß bei einer Reihe von Verträgen die alten auf Rubelbasis geschlossenen Beziehungen noch fortwirken. (UdSSR, Polen)

Tabelle 3 Ausfuhr und Einfuhr der neuen Bundesländer gegenüber dem RGW-Raum im I. Quartal 1991 Ausfuhr

Einfuhr

Mio.DM

vH zum Vor j ahreszeitraum

Mio.DM

vH zum Vor j ahreszeitraum

UdSSR Polen CSFR Ungarn Rumänien Bulgarien

2376 463 208 131 123 78

-36,4 + 9,8 -78,6 -77,8 -67,0 -79,2

1522 213 206 89 37 9

-50,5 -61,5 -67,6 -78,4 -79,3 -96,7

gesamt

3379

-47,7

2076

-59,6

Land

Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.

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Insgesamt geht das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung davon aus3, daß sich die Gesamtexporte des Jahres 1991 in die ehemaligen europäischen Mitgliedsländer des RGW auf 40 bis 45 v H des Vorjahresniveaus belaufen werden, wobei in die Sowjetunion voraussichtlich 50 vH, nach Polen, die CSFR und Ungarn 30 bis 40 v H und nach Bulgarien 5 bis 15 v H erreicht werden könnten. Auch der Gesamtumfang der Importe wird sich nochmals erheblich gegenüber 1990 verringern (um ca. 40 vH), und, was die Sowjetunion betrifft, nahezu ausschließlich aus Rohstoffen bestehen. Umfragen des Instituts bei einer beträchtlichen Anzahl von Unternehmen haben sogar noch geringere Absatzerwartungen zutage gefördert. Diese Prognosen berücksichtigen bereits zwei fördernde Bedingungen, ohne die die Aussichten noch pessimistischer beurteilt werden müßten, und zwar: 1. Die HERMES-Deckungen für Exporte wurden in der Zwischenzeit mit Ausnahme von Bulgarien, dessen Zahlungsfähigkeit am meisten in Frage gestellt ist, auf alle anderen ehemaligen europäischen RGW-Länder ausgedehnt. Für Exporte in die Sowjetunion gelten bekanntlich großzügige Sonderbedingungen, die nunmehr auch die Exporte von Rohstoffen, Materialien und Konsumgütern betreffen. Trotzdem bleiben die praktischen Wirkungen dieser Regelungen bisher recht bescheiden. So hat die sowjetische Seite noch im Februar angekündigt, daß sie einen Kreditrahmen von ca. 9 Mrd. D M in Anspruch zu nehmen und durch die Moskauer Außenhandelsbank zu garantieren gedenkt, hat auch zwei Warenlisten mit prioritären Importwünschen in einen Gesamtumfang von 7,5 Mrd. D M übergeben; bis Ende April waren aber nur Lieferverträge von weniger als 4 Mrd. D M unterschrieben worden. Das läßt sich damit erklären, daß einmal wegen der bereits hohen Auslandsverschuldung weitere Kredite nur zögernd in Anspruch genommen werden, zum anderen die Kompetenzen für die Wahrnehmung der Außenwirtschaftsbeziehungen in der Sowjetunion immer noch nicht eindeutig festgelegt wurden und schließlich für eine Reihe von früher aus der DDR gelieferte Güter (Textilien, Schuhe, Heimelektronik, Haushaltsgeräte) leistungsstärkere und billigere Lieferanten gesucht werden. In den Exportbeziehungen zu den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern haben die HERMES-Deckungen eine noch geringere Rolle gespielt. Vorschläge, die gegenüber der Sowjetunion gewährten Sonderbedingungen auch auf diese Länder auszudehnen, würden aus ähnlichen Gründen ebenfalls wenig Veränderungen bewirken. Zudem sollte bedacht werden, daß spätestens ab 1992 die Vereinbarkeit der gegenwärti3

Autorenkollektiv: Die ostdeutsche Wirtschaft in der Anpassungskrise, Lage und Perspektiven 1991, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung Berlin, März 1991, S. 32 ff.

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gen HERMES-Konditionen mit den EG- und GATT-Regeln neu geprüft werden muß. 2. Offenbar besteht die Chance, vor allem in den Exportbeziehungen zur Sowjetunion einiges von dem zu erhalten, was bereits seit vielen Jahren und in großem Umfang in der ostdeutschen Industrie für den sowjetischen Markt gefertigt wurde. Es handelt sich dabei unter anderem um — Reisezugwagen, Kühlfahrzeuge und Eisenbahndrehkrane, — Schiffe, Zulieferungen für den Schiffbau und Schiffsreparaturen, — Textilmaschinen und — mit Einschränkungen — Maschinen für die Nahrungs- und Genußmittelindustrie sowie die polygraphische Industrie, — Ersatzteile und Baugruppen für in den vergangenen Jahren von der DDR-Industrie gelieferte Maschinen und Ausrüstungen. Das betrifft vor allem Landmaschinen, Dieselmotore, Straßenfahrzeuge, Krane und Bagger, Werkzeugmaschinen und Thermoplastautomaten. Ersatzteillieferungen werden auch für den Export in die anderen mittelund osteuropäischen Staaten ihre Bedeutung behalten. Jedoch ordnen sich diese Exportmöglichkeiten gleichfalls in die generell wirkenden Bedingungen für den zukünftigen Osthandel ein, sind also durch vielfältige Unsicherheiten belastet. Sie verkörpern noch am ehesten Standortvorteile des verarbeitenden Gewerbes der neuen Bundesländer, die im Jahre 1991 vorhanden sind und gesichert, besser noch ausgebaut werden sollten. So ist es kein Zufall, daß die genannten Gütergruppen ganz oben in der Prioritätenliste der sowjetischen Importwünsche stehen, weil bei ihnen bereits in der Vergangenheit die Anpassung an spezifische sowjetische Bedingungen und Bedürfnisse am besten gelungen ist. Zudem sind andere Lieferanten zumindest kurzfristig nicht in der Lage, in Quantität und Spezifik gleichartige Exporte zu übernehmen. Ursachen für den Verfall des Osthandels Die Lage und die Perspektiven für den Osthandel der neuen deutschen Bundesländer erfordern Antworten auf die Frage nach den tieferliegenden Ursachen, weil nur dadurch richtige Schlußfolgerungen gewonnen werden können. Offensichtlich handelt es sich um einen ganzen Komplex von miteinander verknüpften Ursachen. In allen ehemaligen RGW-Ländern hat ein Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems eingesetzt, der historisch nahezu ohne Beispiel ist. Obwohl wir in den mittel- und osteuropäischen Ländern noch ganz unterschiedliche Stadien des Übergangs vom zentralistischen Planungssystem zur sozialen Marktwirtschaft konstatieren können, ist doch überall ein Transformationsschock ausgelöst worden, der

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langjährige politische, administrative und wirtschaftliche Beziehungen zerrissen hat, ohne daß sich in der Kürze der Zeit neue marktwirtschaftliche Beziehungen aufbauen konnten. Hinzu kommt, daß der krisenhafte Zustand der Wirtschaft dieser Länder, der zum Teil schon seit Jahren latent oder offen in Erscheinung trat, im vergangenen Jahr durchweg zu einem Rückgang des Bruttosozialprodukts und/oder des Nationaleinkommens geführt hat. Tabelle 4 Rückgang des BSP bzw. NE im Jahre 1990 gegenüber 1989 in der UdSSR in Polen in der CSFR in Ungarn in Bulgarien

-2,0 -12,0 -3,0 -4,0 -10,0

vH vH vH vH vH

Quelle: Nationale Statistiken zusammengestellt durch IAW.

Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wo die Konfrontation mit den marktwirtschaftlichen Bedingungen besonders schnell und intensiv erfolgt, schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt 1990 um gut 19 vH. Daß ein enger Zusammenhang zum Umfang der Außenhandelsbeziehungen existiert, liegt auf der Hand, auch wenn beide Komponenten sowohl Ursache als auch Wirkung sein können. Die bisher für das Jahr 1991 vorliegenden Prognosen gehen für alle osteuropäischen Länder von einer weiteren Beschleunigung des wirtschaftlichen Rückgangs aus. Für die ostdeutsche Wirtschaft dürfte dieser Rückgang nochmals 23 v H betragen, und auch in der Sowjetunion, in der CSFR und in Bulgarien erscheinen zweistellige Raten der Verminderung der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit am ehesten wahrscheinlich. Schließlich stehen alle ehemaligen RGWLänder vor der Notwendigkeit einer schnellen und äußerst radikalen Umstrukturierung nahezu der gesamten Wirtschaft. Es handelt sich dabei nicht nur um Modifizierungen oder Verbesserungen bisheriger Strukturen, sondern in den meisten Fällen regelrecht um einen Neubeginn, eine Ersetzung alter durch neue Strukturen. Dort, wo das bisher noch nicht geschehen ist, muß es nachgeholt werden, oder es kommt zur Stagnation des gesamten Reformprozesses, möglicherweise zu restaurativen Tendenzen. Das viel verwendete Wort „Strukturwandel" sollte in einem sehr breiten Sinne verstanden werden, weil er sowohl makro- als auch mikroökonomische Prozesse betrifft und weil die Produktionsfaktoren davon ebenso betroffen werden wie die Strukturen der Produktion, der Verteilung/Umverteilung und des Absatzes.

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Die generellen Feststellungen können einen wichtigen Ausgangspunkt dafür bilden, um die Ursachen und Erscheinungsformen für den Zusammenbruch des Handels der ostdeutschen Wirtschaft mit dem ehemaligen RGWRaum noch differenzierter darzustellen. Zu unterscheiden wären dabei die Gründe, die sich aus Zustand und Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft selbst ergeben, von den aus Transformation und Krise der osteuropäischen Wirtschaften bestimmten Ursachen und schließlich von den Wirkungen, die vom Ende des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und von den ersten tastenden Versuchen einer Einordnung in die weltweite Arbeitsteilung ausgehen. Lage in Osteuropa Den entscheidenden Einfluß auf den gegenwärtigen Zusammenbruch der Handelsbeziehungen zwischen Ostdeutschland und Osteuropa haben die Wirkungen, die von der Leistungsschwäche und der tiefgreifenden Strukturkrise in den osteuropäischen Volkswirtschaften ausgehen. Sie äußern sich vor allem darin, daß bei Vorhandensein eines eklatanten Mangels an Gütern und Dienstleistungen aller A r t Zahlungsbilanzprobleme und Finanzierungsschwierigkeiten die Importmöglichkeiten auf das äußerste einschränken. Das Kernproblem bei der Beurteilung der Chancen für den zukünftigen Osthandel besteht demnach in der Antwort auf die Frage, wie können osteuropäische Importeure in den Besitz der erforderlichen Devisen gelangen. Die Ausgangssituation dafür muß heute als komplizierter denn je beurteilt werden. Zum einen lastet auf allen ehemaligen RGW-Ländern eine hohe Auslandsverschuldung in konvertierbaren Devisen.

Tabelle 5 Verbindlichkeiten osteuropäischer Länder in konvertierbaren Devisen (brutto) Ende 1990 Land UdSSR Polen CSFR Ungarn Rumänien Bulgarien

in Mrd. US-Dollar

60,0 46.6 7,9 21.7 2,3 10,4

Quelle: OECD, Financial Market Trends, NR: 48; Zusammenstellung IAW nach nationalen Angaben.

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Die Bedienung der Zinsen und der Tilgungsdienst erfordern Exportüberschüsse in einer solchen Höhe, die das Leistungsvermögen dieser Volkswirtschaften zur Zeit weit übersteigen. Der großzügige Schuldenerlaß der i m Pariser Club zusammengefaßten Gläubiger gegenüber Polen und die zeitweilige Aussetzung der Zinsleistungen haben zwar eine akute Entspannung der Zahlungssituation mit sich gebracht, das Verschuldungsproblem jedoch nicht grundsätzlich lösen können. Auch für Ungarn, Bulgarien und selbst die Sowjetunion bleiben die hohen Auslandsschulden eine wirtschaftliche Belastung allerersten Ranges, die zudem den Spielraum für strukturelle Umwandlungen stark einengt. Die CSFR und Rumänien, deren Auslandsverschuldung relativ am geringsten ist, haben im vergangenen Jahr recht große Passivsalden in der Zahlungsbilanz hinnehmen müssen. Weitere Kredite, welcher A r t auch immer, können allen osteuropäischen Ländern nur zeitweilige Hilfe bringen. Insbesondere dort, wo sie für konsumtive Zwecke eingesetzt werden, müssen sie aus makroökonomischer Sicht eher als schädlich eingeschätzt werden. Nur der effiziente und auf die richtigen Schwerpunkte konzentrierte Einsatz von Krediten für investive Zwecke kann unter Umständen Wachstumsimpulse auslösen und entspricht am ehesten dem Ziel von der Hilfe zur Selbsthilfe. Die eigentliche Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß in den osteuropäischen Volkswirtschaften viel zu wenig Güter und Leistungen produziert werden, die auf den westeuropäischen oder anderen Märkten mit zahlungsfähigen Kunden konkurrenzfähig angeboten werden könnten. 4 Die zunehmende weltwirtschaftliche Öffnung der osteuropäischen Volkswirtschaften macht deutlich, daß bisherige strukturelle und qualitative Maßstäbe ihre Bedeutung verloren haben und durch solche ersetzt werden, denen die Mehrheit der Unternehmen mit ihren Erzeugnissen nicht gerecht werden. Gerade das Beispiel der neuen deutschen Bundesländer, deren Industrie im früheren RGW eine Spitzenposition eingenommen hat, zeigt, wie weit der Weg ist, um mit den führenden Produzenten auf dem Weltmarkt Schritt halten zu können. Freilich ist zu berücksichtigen, daß es zwischen den einzelnen osteuropäischen Ländern bedeutende Unterschiede gibt und daß 4 Vgl. dazu u. a. Gerstenberger, W. u. a.: Analyse der strukturellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft, Strukturberichterstattung 1990, Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung München, S. 27 ff.; Gabrisch, H. et al.: The Economic in Eastern Europe, the Soviet Union and Yugoslavia in Atumn 1990 and Outlook 1990/91, Wiener Institut für Wirtschaftsvergleiche, Dezember 1990; Möbius, U./Schumacher, D.: Eastern Europe and the EC, Trade Relation an Trade Policy with regard to Industrial Products, Joint Canada Germany Symposium, November 1990; Stankovsky, J.: East-West Trade 1989-1991 : The End of an Era, Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche, November 1990; Lorenz, D.: Konsequenzen für den deutschen Außenhandel aus der Integration West- und Ostdeutschlands, Referat auf der Tagung des Wirtschaftspolitischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik, Marburg, März 1991.

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wirtschaftliche Traditionen und die Nähe zum westeuropäischen Markt auch hoffnungsvolle Ansatzpunkte auf einigen Gebieten erkennen lassen. Zuzustimmen ist auch der Auffassung, daß die osteuropäischen Länder ihre Wechselkurs- und Lohnhoheit behalten werden und damit wichtige wirtschaftspolitische Instrumente besitzen, die sie im internationalen Wettbewerb auch einsetzen werden. 5 W i e ein Blick auf die Hauptwarengruppe möglicher Exporte zeigt, sind kurzfristig kaum außenwirtschaftliche Erfolge zu erwarten. — Bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen ändert sich nichts an der begrenzten Exportkapazität. Die Liefermöglichkeiten der UdSSR, Bulgariens und Rumäniens werden sich wegen des hohen Eigenbedarfs sogar verringern, während Ungarn und Polen, ebenso wie die CSFR, zu wesentlichen Erweiterungen nicht in der Lage sein werden. — Mineralische Rohstoffe und Energieträger wie Erdöl und Erdgas, wurden schon bisher nahezu ausschließlich von der Sowjetunion geliefert. Die Krise sowie die sich verschlechternden Bedingungen für die Förderung und den Transport der Rohstoffe, die veralteten Produktionstechnologien und zunehmende Arbeitskämpfe infolge ungelöster sozialer Fragen lassen Exportsteigerungen nach Westeuropa in nächster Zeit kaum zu. — Für Erzeugnisse der Leichtindustrie (Textilien, Bekleidung, Schuhe) waren die kleineren RGW-Länder die bisherigen Hauptlieferanten. Qualität und Preise konnten jedoch mit der Marktentwicklung nicht Schritt halten, so daß es zu einem Rückgang der Marktanteile kam. Es wird außerordentlicher Anstrengungen bedürfen, diesen Trend wieder umzukehren. — Bei Maschinen und anderen Investitionsgütern kann der bestehende Rückstand gegenüber dem internationalen Niveau kurzfristig nicht aufgeholt werden. Unzureichende Qualität, nichtangepaßte Standardisierung und technische Normung, rückständige Technologien sowie mangelnder Service und schlechtes Marketing vermindern die Absatzchancen. Die Gründe, die in den 80er Jahren zum Verlust von Marktanteilen in Westeuropa führten, behalten zunächst ihre Wirkung. — Gute Chancen gibt es für die osteuropäischen Länder bei der Erweiterung des Angebots an einfachen Dienstleistungen, insbesondere auf dem Gebiet des Tourismus. Allerdings sind auch hierfür beträchtliche Investitionen erforderlich, um westlichen Standard durchweg sichern zu können. Von Vorteil könnte sich erweisen, daß zwar das Exportspektrum der ehemaligen RGW-Länder sich vielfach stärker mit dem von Entwicklungs5

Lorenz, D.: a. a. O., S. 10.

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ländern als dem der EG-Industrie vergleichen läßt, daß es aber in Osteuropa ein größeres Potential an ausgebildeten Arbeitskräften und leistungsfähigen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten im Vergleich zu den Entwicklungsländern gibt. 6 Möglicherweise ist die letzt jährige Steigerung der Exporte Polens, Ungarns und der CSFR in die alten Bundesländer als Indiz für vorhandene Möglichkeiten und ihre Nutzung zu werten. Trotzdem sprechen insgesamt mehr Gründe für die Annahme, daß die Exportkraft der osteuropäischen Volkswirtschaften kaum schnell und ohne ausländische Hilfe auf die erforderliche Höhe gesteigert werden könnte. Nicht unterschätzt werden sollte auch, daß sich die marktwirtschaftlichen Ordnungen in Osteuropa nur in einem längeren Zeitraum stabil durchsetzen werden. 7 In Polen, Ungarn und der CSFR sind die Fortschritte am deutlichsten sichtbar, während in der UdSSR die Entscheidung über den zukünftigen Entwicklungsweg noch völlig offen ist. Für alle Länder gilt aber, daß Privatisierung und Entstaatlichung des vormaligen Volkseigentums sich erst am Anfang befinden, Monopolstellungen staatlicher Unternehmen fortwirken und die marktwirtschaftliche Infrastruktur unzureichend entwickelt ist. Diese Übergangssituation zieht Unsicherheiten nach sich und hat retardierende Wirkungen für Strukturveränderungen in den exportierenden Branchen. Lage in Ostdeutschland Für die ostdeutsche Wirtschaft haben folgende Feststellungen die größte Relevanz: — Das verarbeitende Gewerbe, das bisher Träger des überwiegenden Teils der Ostexporte war, hat sich in seiner Gesamtheit bisher nur unzureichend auf die stark veränderte Bedarfssituation in Osteuropa einstellen können oder bietet Produkte und Leistungen an, die weder technischtechnologisch noch wirtschaftlich wettbewerbsfähig sind. 8 Das trifft für große Teile der chemischen Industrie und Metallurgie zu, wo veraltete und ineffiziente Verfahren bereits zu Stillegungen größeren Umfangs geführt haben, wie in der Viskoseseideerzeugung, der Karbochemie sowie der Kupfer- und Aluminiumproduktion. Besonders kennzeichnend ist das für den gesamten Maschinen- und Fahrzeugbau sowie die Elektrotechnik/Elektronik, die früher in großen Serien Investitionsgüter geliefert hatten. Gerade Zulieferbetriebe im High-Tech-Bereich befin6

Gerstenberger, W. u. a., a. a. 0. r S. 29. Vgl. Siebert, H., The Transformation of Eastern Europe, Institut für Weltwirtschaft Kiel, Januar 1991. 8 Vgl. dazu Autorenkollektiv: Die ostdeutsche Würtschaft. . ., a.a.O., S. 35 ff. 7

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Klaus Werner den sich wegen des technischen Rückstandes ihrer Erzeugnisse in einer kritischen Lage. Noch problematischer ist die Absatzsituation auf dem Ostmarkt für die Industrien, die standardisierte Erzeugnisse in Großserien fertigen und dabei einem starken Lohnkostendruck seitens asiatischer Entwicklungsländer ausgesetzt sind, also in der Textil-, Bekleidungs-, Schuh- und Spielwarenindustrie. Für alle diese Branchen und Erzeugnislinien sind bisher keine Absatzalternativen gefunden worden, weder bei der Ausfüllung von Marktnischen noch im harten Verdrängungswettbewerb. Die früher zahlreichen Kooperationsbeziehungen zwischen ostdeutschen und osteuropäischen Unternehmen sind heute nahezu vollständig abgebrochen und auch zu veränderten Bedingungen nicht wieder aufgenommen worden.

— Der Prozeß der Entflechtung und Privatisierung der alten Industriekombinate ist trotz seiner Beschleunigung in diesem Jahr noch in seiner Anfangsphase und wird bis zu seinem Abschluß weiterhin viel Zeit in Anspruch nehmen. Noch ist vielfach ungeklärt, welche Unternehmen von westlichen Partnern übernommen werden, wo Sanierungsprogramme Aussicht auf Erfolg haben und finanziert werden können oder welche Betriebe in Liquidation gehen müsen. Über die Rolle und Verantwortung der Treuhandanstalt ist bereits viel gesprochen worden. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Ausarbeitung tragfähiger Unternehmenskonzepte, auch im Hinblick auf die Wahrnehmung zukünftiger Absatzchancen i m Osten. Erzeugnisinnovationen, die auf die veränderte Bedarfssituation abstellen, bleiben die Ausnahme, vielfach auch deshalb, weil im Zuge der Personalreduzierung unverständlicherweise die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen besonders geschwächt werden. Viel zu selten werden darüber hinaus neue Absatzwege erschlossen und die schon früher wenig leistungsfähige Absatzorganisation gestärkt. Das hat besonders für die Erschließung des sowjetischen Marktes negative Folgen, weil zukünftig die Mehrheit der Handelsverträge entweder über die einzelnen Republiken oder direkt mit den sowjetischen Unternehmen abgeschlossen werden. Unsicherheiten über die Zukunft von Unternehmen haben auch dazu geführt, daß potentielle Kunden sich auf andere Bezugsquellen zu orientieren begannen. — Es gibt auch viele betriebsinterne Hindernisse für eine absatzorientierte, den Ostmarkt nicht aus den Augen verlierende Unternehmensführung. Zu ihnen zählen fehlendes marktwirtschaftlich geschultes Fachpersonal, Unkenntnis über existierende Fördermöglichkeiten für den Osthandel, unternehmensinterne Kommunikationsprobleme und zuweilen Inkompetenz sowie Einseitigkeit einer Reihe von Untemehmensberatem. Das hat nicht selten Fehleinschätzungen der neu entstandenen Marktsituation und falsche unternehmerische Entscheidungen zur Folge. So wer-

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den in den Unternehmen, die in der Vergangenheit hohe Exporte in die Sowjetunion realisiert hatten, weiterhin Erwartungen darauf geäußert, daß die Erzeugnisse des Betriebes in die sogenannten indikativen Warenlisten aufgenommen werden, wodurch sich für sie nahezu automatische Absatzmöglichkeiten eröffnen würden. Das ist jedoch ein prinzipieller Trugschluß, weil abgesehen von den bereits genannten Ausnahmen der staatliche Einfluß auf die Gestaltung der Außenhandelsströme auch in der Sowjetunion schnell abnehmen wird.

Auflösung des RGW und Annäherung an die EG Wenn über Stand und Zukunft der Handelsbeziehungen Ostdeutschlands mit den osteuropäischen Ländern gesprochen wird, darf schließlich nicht unberücksichtigt bleiben, daß sich die osteuropäische Integration i m Rahmen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe de facto aufgelöst hat und nunmehr die allmähliche Einbeziehung zumindest einiger osteuropäischer Wirtschaften in die Europäische Gemeinschaft als Aufgabe gestellt ist. Auf lange Sicht wird der Europäische Wirtschaftsraum, in dem die osteuropäischen Länder ihren arbeitsteiligen Standort erst finden müssen, beträchtlich erweitert. M i t der Herstellung der deutschen Einheit wurden die ostdeutschen Bundesländer zugleich Mitglied der EG, wenn auch einzelne Übergangsregelungen noch Gültigkeit haben. Die vollständige Integration der ostdeutschen Unternehmen in den gesamtdeutschen und europäischen Verbund wird sich weiter beschleunigen, so daß bald schon die Besonderheiten ostdeutsch-osteuropäischer Handelsbeziehungen in den Hintergrund treten werden. Mit dem Wandel der Eigentumsverhältnisse wird auch statistisch der Nachweis dieser Sonderbeziehungen immer schwieriger werden. In Osteuropa selbst sind zwei parallel laufende Prozesse zu beobachten, die für den deutsch-osteuropäischen Handel der Zukunft von Bedeutung sind. 1. Die unter RGW-Bedingungen vorherrschende einseitige und übermächtige Bindung der kleineren osteuropäischen Wirtschaften an die der UdSSR löst sich zunehmend auf. In den letzten Monaten ist jedoch das Bewußtsein dafür gestärkt worden, daß eine vollständige Beseitigung der existierenden wirtschaftlichen Verflechtungen und die Errichtung zusätzlicher Zollschranken ökonomisch und politisch wenig Sinn ergibt. Intraindustrielle Zusammenarbeit besonders zwischen Polen, der CSFR und Ungarn könnte allen Beteiligten ökonomische Vorteile bringen. 9 Das 9 Vgl. Thanner, B.: Nachfolgeorganisation für den RGW nicht in Sicht, in ifoschnelldienst 8-9/91, München.

11 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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gilt auch für die Fortführung eines gewichtigen Teils der Handelsbeziehungen zur Sowjetunion, die weiterhin ein bedeutender Rohstofflieferant bleiben könnte. Schwierigkeiten bereitet allerdings bei der vorhandenen Devisennot der abrupte Übergang zum Handel auf der Basis konvertierbarer Devisen. Deswegen wird auch dem Abschluß von Clearing-Abkommen für einen Teil des Handelsvolumens zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt. Die osteuropäische Zusammenarbeit könnte sich als ein Weg erweisen, um sich besser auf den Zutritt zu den Weltmärkten vorzubereiten. 2. Die tiefgreifendsten Veränderungen in der Beziehung zwischen Osteuropa und der EG werden von dem bevorstehenden Abschluß der Assoziierungsabkommen, für die zunächst Polen, die CSFR und Ungarn vorgesehen sind, ausgehen. Sie tragen den Begriff „Europäische Abkommen", um zu unterstreichen, daß sie nicht nur Handels- und Wirtschaftsangelegenheiten, sondern auch politische und kulturelle Kooperation umfassen. Da auf beiden Seiten der politische Wille vorhanden ist, kann man mit der formellen Unterzeichnung der Abkommen noch Ende 1991 rechnen. Eine vollständige Integration der genannten Länder in die EG ist allerdings kaum vor der Jahrtausendwende zu erwarten, auch wenn für Ungarn eine solche Option bereits in das Assoziierungsabkommen aufgenommen werden soll. Damit verbessert sich zumindest der wirtschaftspolitische Rahmen, innerhalb dessen sich der künftige Aufschwung der Handelsbeziehungen, an dem auch die ostdeutschen Unternehmen beteiligt sein werden, vollzieht. Es bleiben jedoch die nur langfristig zu überwindenden strukturellen Schwierigkeiten, so daß keine zu großen Erwartungen an die Dynamik dieses Prozesses gestellt werden dürfen. Es bleibt die weiterhin große Zurückhaltung der EG-Länder, ihre Märkte stärker gegenüber osteuropäischen Produkten zu öffnen.

Schlußfolgerungen Versucht man, vor allem aus der Sicht der ostdeutschen Wirtschaft die bisherigen Erfahrungen mit dem Osteuropahandel zusammenzufassen, so könnten folgende Empfehlungen gegeben werden: 1. Die Grundrichtung unternehmerischer Konzeptionen in ostdeutschen Betrieben muß darin bestehen, Produkte und Technologien wettbewerbsund weltmarktfähig zu machen. Zukünftige Hauptabsatzmärkte können nur die entwickelten Industrieländer sein, von denen die Maßstäbe ausgehen, und in denen die Nachfrage kaufkräftig ist. Osthandel und die früher viel beschworene Wahrnehmung der Brückenfunktion zwischen

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Ost und West reichen als Überlebenskonzept in der Mehrzahl der Fälle nicht aus. 2. Der Ostmarkt bleibt auch zukünftig ein potentiell wichtiger Markt, jedoch mit sich erst langsam steigender Dynamik. Seine Anforderungen an Qualität und Preis der Güter und Leistungen werden wachsen, die Konkurrenz aus NIC's und Entwicklungsländern wird zunehmend. Nur bei erhöhter Innovationsfähigkeit der Unternehmen werden die Absatzchancen für gute und billige Produkte wahrgenommen werden können. Erfolge können sich auch durch die Erschließung dezentraler Absatzwege einstellen. 3. Auf lange Sicht sollten neue Konzepte für die intraindustrielle Kooperation ausgearbeitet und schrittweise verwirklicht werden. Das alte komplementäre Spezialisierungsmuster Rohstoffe gegen Investitionsgüter stellt auf Dauer keine tragfähige Basis für eine bedeutende Ausdehnung des Handels dar. Beginnen muß die Kooperation mit einem ausgedehnten Technologie-Transfer, ohne den der zukünftige Handel nicht denkbar ist, und der durch gezielte Investitionen westlicher Kapitalgeber unterstützt werden sollte. Osteuropäische Produktionskapazitäten werden zunächst die Rolle einer verlängerten Werkbank westeuropäischer Unternehmen spielen, ehe sie später für anspruchsvollere eigene Produktionen genutzt werden können. 4. Ostdeutsche Unternehmen erschließen sich weitere Absatzmöglichkeiten, v. a. auf dem sowjetischen Markt, wenn sie sich an der Ausbildung von Fachleuten für die Betriebswirtschaft beteiligen, selbst ConsultingLeistungen erbringen oder sogar in ihre Aufsichtsräte potente künftige Abnehmer integrieren. Mehr als bisher sollten auch die durchaus vorhandenen Möglichkeiten von counter-trade-Geschäften genutzt werden, weil sie für osteuropäische Unternehmen oft die einzige Gelegenheit darstellen, auf westeuropäischen Märkten Fuß zu fassen.

Literatur Autorenkollektiv: Außenhandelsstrategie und -ergebnisse in der CSFR und in Ungarn, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung Berlin, Heft 17/90. Autorenkollektiv: Die ostdeutsche Wirtschaft in der Anpassungskrise, Lage und Perspektiven 1991, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung Berlin, März 1991. Gabrisch, H. et al.: The Economic Situation in Eastern Europe, the Soviet Union and Yugoslavia in Autumn 1990 and Outlook 1990/91, Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche Dezember 1990.

ir

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Gerstenberger, W. u. a.: Analyse der strukturellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft, Strukturberichterstattung 1990, IFO-Institut für Wirtschaftsforschung, München. Lorenz, D.: West- und Osteuropa — weltwirtschaftliche Probleme des Zusammenwachsens, Wirtschaftsdienst 1990/XII, HWWA — Institut für Wirtschaftsforschung — Hamburg. — Konsequenzen für den deutschen Außenhandel aus der Integration West- und Ostdeutschlands, Referat auf der Tagung des Wirtschaftspolitischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik, Marburg, März 1991. Möbius, U.: Einfuhr von Industrieprodukten, Wenig Konkurrenz zwischen Entwicklungsländern und Mittel- und Osteuropa auf dem EG-Markt, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, Juli 1990. Möbius, U./Schumacher, D.: Eastern Europe and the EC, Trade Relation an Trade Policy with regard to Industrial Products, Joint Canada Germany Symposium, November 1990. Siebert, H.: The Transformation of Eastern Europe, Institut für Weltwirtschaft Kiel, Januar 1991. Stankovsky, J.: East-West Trade 1989-1991: The End of an Era, Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche, November 1990. Thanner, B.: Nachfolgeorganisation für den RGW nicht in Sicht, in ifo-schnelldienst 8-9/91, München. Thede, S.: Der Osthandel der neuen Bundesländer — Verfall oder Hoffnung, In: Deutsche Wirtschaftszeitung, Nr. 12/1991. Thede, S. u. a.: Perspektiven des Exports in die RGW-Länder, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung Berlin, Heft 13/90. Werner, K.: Neue Bedingungen für den Osthandel, in: Die Wirtschaft, Extraausgabe zur Leipziger Frühjahrsmesse 1991.

Zusammenfassung der Diskussion

Referate Schrumpf, Härtel und Werner Siebert relativiert zunächst die Zahlen zum Infrastrukturbedarf der neuen Bundesländer: Die Summe von einer Billion DM, die gelegentlich — auch von Milbradt — in den Raum gestellt werde, sei überhöht. Der westdeutsche Kapitalstock von 10,7 Billionen D M enthalte im Bereich der Infrastruktur etwa 2,5 Billionen DM. Auf die Bevölkerung anteilsmäßig mit etwa 25% umgerechnet, käme man in grober Annäherung für Ostdeutschland auf 600 Milliarden DM. Dann müßte aber jede Brücke kaputt sein und neu gebaut werden. Dazu gibt Schrumpf zu bedenken, daß die Siedlungsstruktur ungünstiger ist. Man benötige z.B. pro Fläche mehr Straßen als in Westdeutschland. Oppenländer kritisiert, Schrumpf habe vielversprechend angefangen mit den vier Theorien, er habe dann aber nur eine behandelt. Ob aus Zeitgründen oder weil er die erste Theorie als die einzig gültige Theorie ansehen wollte, sei unklar geblieben. Schrumpf erwidert hierzu, er habe sein Referat aus Zeitgründen etwas gekürzt. Es sei von der Siedlungsstrukturtheorie ausgegangen worden, um die räumliche Schwerpunktsetzung festzulegen. Die räumlich Lage spiele eine entscheidende Rolle bei den Verkehrsinvestitionen. Das Lage-Kriterium gebe Aufschluß darüber, welche Verkehrswege insbesondere unter Berücksichtigung der Netzeffekte mit Priorität auszubauen sind. Man könne die Lage ja durch Verkehrsinvestitionen modifizieren, zumindest begrenzt. Die Ressourcenengpässe erklärten dann innerhalb der Region, wo am ehesten Engpässe auftreten. Die Erklärungen über die institutionellen Rahmenbedingungen seien im Vortrag weggelassen worden — obwohl sie ansonsten durchaus von Bedeutung sind, wenn man etwa an die Diskussion um die Gemeindeverwaltungen denkt —, weil sie in bezug auf die großen Probleme der Infrastruktur eine geringere Rolle spielten. Das Ressourcenengpaß-Problem betreffe natürlich die Infrastruktur im ganzen. Ottnad fragt nach der grundsätzlichen Ausrichtung des von Schrumpf zugrunde gelegten Politikkonzepts. Er habe ganz offensichtlich wachstumspolitisch argumentiert — was aus der kurzfristigen Sicht naheliegend sei. Schrumpf habe aber selbst eingeräumt, daß diese Politik, die sich dann ja

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vornehmlich auf Verdichtungsräume konzentrieren würde, strukturpolitisch und unter anderen Gesichtspunkten, die man im alten Bundesgebiet schon länger diskutiere, nicht unproblematisch sei. Schrumpf habe gleichzeitig gesagt, daß eine Infrastrukturpolitik im Grund ohnehin nur mittelfristig ausgelegt sein kann, so daß man sich doch fragen müsse, ob diesem Problem nicht von vornherein stärker Rechnung getragen werden müßte. Sonst liefe man aufgrund der Pfadgebundenheit des Entwicklungsprozesses die Gefahr, die Verhältnisse in ihrer Asymmetrie zu zementieren und möglicherweise auf Dauer in bestimmten Bereichen strukturschwache Gebiete zu haben, während auf der anderen Seite in den Ballungszentren eine zusätzlich Sogkraft stimuliert würde, die doch eigentlich nicht erwünscht sein kann. Storm argumentiert ähnlich in bezug auf die zeitliche Struktur der Infrastrukturinvestitionen. Ein Betrag von 600 Milliarden D M könne natürlich nicht in zwei oder drei Jahren aufgebracht werden; das würde sicherlich auch die Kapazitäten der Wirtschaft überfordern. Aber wenn ansonsten die Rahmenbedingungen in Ostdeutschland ähnlich wären wie in Westdeutschland, müsse man abschätzen können, in welchem Zeitraum diese Infrastrukturinvestitionen durchgeführt werden müßten. Es sei zu überlegen, ob ein Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren ausreichen könnte, oder ob bei einem so relativ langen Zeitraum Engpässe für die Produktionsmöglichkeiten des privaten Sektors auftreten würden. Schrumpf antwortet, bei der Problematik einer forciert wachstumsorientierten Politik handele es sich um eine Frage des Ausgangsniveaus. In Westdeutschland existiere ja eine relativ ausgeglichene Situation in bezug auf die Infrastruktur. Das bedeute, daß man es sich hier „leisten könne", nach ausgleichsorientierten Kriterien vorzugehen. Ob das ökonomisch in jedem Fall sinnvoll wäre, sei eine andere Frage; die Wertung der Politik setze sich hier durch. Angesichts der Gesamtproblematik Ostdeutschlands müsse man sich zunächst auf die Vorhaben konzentrieren, die die größten Effekte bringen. Schrumpf bestreitet, daß die Gefahr besteht, einen Sogeffekt zugunsten der Ballungsräume auszulösen; die 10 bis 20 Tausend Menschen, die pro Monat abwandern, kämen ja überwiegend aus diesen Ballungsräumen. Es wäre nur positiv, wenn man diesen Strom bremsen könnte. Im übrigen sei bei Betrachtung der Regionen Ostdeutschlands insgesamt festzustellen, daß bestimmte ländliche Räume notwendigerweise — ohne daß es ein Instrumentarium dagegen gäbe — zu Entleerungsgebieten würden. Die Zeit-Raum-Frage sei relativ schwer zu beantworten, weil letzten Endes die Frage nach der Absorptionsfähigkeit Ostdeutschlands dahinter stehe. Man müßte z.B. abklären, was an Baukapazitäten in Ostdeutschland — aber auch darüber hinaus, beispielsweise in Polen — zur Verfügung steht. Die Prioritäten innerhalb des gesamten Bereichs der Infrastruktur sollte man

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so setzen, daß diejenigen Kategorien, die nicht substituierbar sind — wie beispielsweise die Telekommunikation —, Vorrang haben. Behinderungen im Straßenverkehr könne man zumindest kurzfristig noch etwas puffern; man habe dann zwar Verspätungen in Kauf zu nehmen, aber es fände wenigstens Verkehr statt. Kantzenbach erinnert daran, daß man erst jüngst in verschiedenen Bereichen gelernt habe, daß es offenbar sehr schwer ist, Strukturen in den osteuropäischen Ländern zu schaffen, die unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten als besser einzuschätzen sind gegenüber den in Westdeutschland bereits verwirklichten. Das gelte sowohl für die Deregulierung als auch für die Wettbewerbspolitik. So sei die Lösung in der Elektrizitätswirtschaft deutlich schlechter als das, was von Theoretikern für Westdeutschland gefordert wird. Man habe die gegenwärtige westdeutsche Lösung kopiert und nicht das gemacht, was in Westdeutschland angestrebt wird. In bezug auf den Verkehrssektor habe die Politik in der westlichen Bundesrepublik dazu geführt, daß eine Überausstattung mit Verkehr erreicht wurde — Verkehr insgesamt werde subventioniert und trage seine volkswirtschaftlichen Kosten nicht. Das gelte insbesondere für den Nahverkehr und in sehr starkem Maße für den Güterkraftverkehr, vor allem wenn umweltpolitische Gesichtspunkte einbezogen würden. Daraus folge, daß die räumliche Konzentration der Wirtschaftskraft auch in Westdeutschland überoptimal ist. Man solle deshalb vermeiden, daß sich das gleiche in Ostdeutschland entwickelt und stattdessen versuchen, den Verkehr auf das optimale Maß zu beschränken, und dann lieber eine dezentralere räumliche Wirtschaftsstruktur beizubehalten. Als Beispiel führt Kantzenbach die räumliche Trennung von Arbeitsplätzen und Wohngebieten an. Sie könne u.a. als Folge des außerordentlich hoch subventionierten Nahverkehrs angesehen werden. Allerdings stoße jede Herabsetzung der Vergünstigungen für den individuellen Personenverkehr ja auf wütende Proteste der Arbeitnehmer, die davon betroffen sind, so daß eine kostengerechte Struktur im Augenblick wohl nicht politisch durchsetzbar sei. Berger geht auf den von Schrumpf verwendeten Begriff des haushaltsorientierten Ausbaus der Telekommunikation ein. Ihm sei nicht ganz klar geworden, wie das gemeint war. Er habe es so verstanden, daß Unternehmen beim Ausbau nicht bessergestellt würden als private Antragsteller. Das sei aber eindeutig nicht so. Die klare Zielsetzung der Telekom — auch vom Ministerium so gewollt — sei eine Bevorzugung der Unternehmen. Haushaltsorientiert im Sinne von budgetorientiert sei der Ausbau i m übrigen gerade dann, wenn er die Unternehmen bevorzugte, weil anzunehmen sei, daß durch die Unternehmen die Amortisation früher erreicht würde als bei Privaten.

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Auch gegen die Meinung, private Planungskapazitäten würden nicht genügend in Anspruch genommen, wehrt sich Berger. In dieser Form stimme das nicht. Einmal sei der Lizenzbereich zu nennen. Mannesmann werde in den nächsten Wochen die Lizenz auch für ostdeutsche Bundesländer bekommen. Dann würden die Lizenzen für die privaten Unternehmer in Bündelfunknetzen vergeben. Schließlich gebe es die Turn-Key-Projekte, wo erstmals private Unternehmen in die Planung der TelekommunikationsInfrastruktur eingebunden würden. Leibfritz fürchtet, es sei nicht sicher, daß man die Linie, die knappen Mittel, die man hat, dort einzusetzen, wo sie die größte Effizienz haben, in der Praxis wirklich durchhalten kann. Konkret könnte das z.B. bedeuten, daß man heute schon eine Fördergebiets-Kulisse in den neuen Bundesländern einziehen müßte. Aber man wolle natürlich nicht andere Gebiete noch weniger fördern, denen es ebenfalls schlecht geht. Überdies werde man ja in wenigen Jahren ein Finanzausgleichssystem bekommen, und die fünf Bundesländer hätten selbstverständlich alle das verfassungsmäßige Recht auf Gleichbehandlung. Wenn man jetzt Schwerpunkte setzte, die einzelne begünstigten, werde man schon in wenigen Jahren auch die bisher nicht begünstigten Regionen nach oben ziehen müssen, so daß der Ausgleich noch schwieriger würde. Selbst wenn Schrumpfs Ansatz ökonomisch sinnvoll wäre, so seien doch politisch die Weichen ganz anders gestellt, und das müsse man auch schon jetzt in der Infrastrukturausrichtung berücksichtigen. Siebert erinnert nochmals daran, daß man gerade im Infrastrukturbereich eine stärkere private Bereitstellung hätte haben können. Im Strombereich hätte man innovativere Ideen bezüglich des Wettbewerbs durchsetzen können. Gerade die Post sei ein hervorragendes Beispiel dafür, daß hier eine immense Chance, ein neuer Wettbewerb, wie er von einer neuen Telekommunikationsfirma i m Osten nach dem Westen hinein hätte ausgehen können, verpaßt worden sei. Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Infrastruktur sei der Zeitbedarf der budgetären Prozesse. Siebert erwähnt seine eigenen leidvollen Erfahrungen bezüglich einer neuen Telefonanlage für ein bestehendes Institut. Es dauere heute in Deutschland fünf Jahre, bis eine neue Telefonanlage i m Haushalt vorgesehen ist und im Zuge des Planungsprozesses die Bauverwaltung usw. zugestimmt hat. Wenn man mit diesen budgetären Prozessen in Ostdeutschland arbeiten müßte, hätte man keine Chance, die Infrastruktur zügig auszubauen. Hinzu komme das Planungsrecht: Große Projekte brauchten i m Westen 15 bis 20 Jahre, bis sie stehen; das müsse geändert werden. Wenn man diese Probleme nicht löste, würden alle Vorstellungen über Engpaßbeseitigung wenig nützen, und man werde hinsichtlich des Aufbaus der Infrastruktur nie optimistisch sein können.

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Kantzenbach fragt dazu, ob es der üblichen Planungsverfahren auch dann bedarf, wenn es sich um die Wiederherstellung alter Autobahnen und alter Eisenbahnlinien handelt. Es dürfte doch kein Problem sein, eine neue Decke auf die alte Autobahn aufzubringen, also im Sinne einer grundlegenden Reparatur. Siebert erinnert an das aus dem Umweltgebiet bekannte Beispiel des Tunnelofen-Urteils. Danach ist es genehmigungspflichtig, wenn ein alter Tunnelofen erneuert wird. Das Genehmigungsverfahren sei dasselbe, als wenn es sich um einen neuen Tunnelofen handelte. Schrumpf bestätigt, daß es bei Autobahnen auch so ist. Bezüglich der „Überausstattung mit Verkehr" gibt Schrumpf Kantzenbach insofern recht, als über die Regulierung im Rahmen des Städtebaurechts Verkehr quasi induziert werde. Nach der Charta von Athen werde ein „Tortenstück-Denken" praktiziert, also Arbeiten getrennt von Wohnen, getrennt von Versorgung mit Handelsleistungen, getrennt von Naherholung. In alten gewachsenen Industriestandorten sei dies oft ein schwieriges Problem. Wenn in der Mitte die Fabrik oder die Zeche wegfällt, falle mit ihr im Regelfall auch die Gewerbefläche weg; das Neue müsse außen wachsen, und damit induziere man natürlich Verkehr. Noch schlimmer sei es z.B. im Landesentwicklungsplan in Nordrhein-Westfalen geregelt, der vorschreibe, daß in einer Stadt maximal 40 % der Fläche überbaut sein dürfen, wobei man aber unter „bebaut" die menschliche Gestaltung versteht und deswegen z.B. in Essen die Gruga zur bebauten Fläche rechnet. Mit solchen Restriktionen induziere man natürlich Verkehrsströme. In diesem Bereich müßten zahlreiche Regulierungen auf den Prüfstand, was längerfristig zu erheblichen Entlastungen i m Nahverkehr führen könnte. Schrumpf erklärt sich vollkommen offen hinsichtlich privater Möglichkeiten, Infrastruktur zu erstellen und auch zu betreiben. Er hätte nur dann Bedenken, wenn es für West- und Ostdeutschland zu unterschiedlichen Regelungen kommen sollte, daß etwa eine Autobahn, die hier „kostenlos" benutzt werden kann, in Ostdeutschland eine Maut-Autobahn wäre. Das sei im Sinne der gewünschten Einheitlichkeit abzulehnen. Aber es seien ja auch andere Regelungen denkbar, die zu einem Ausgleich führen könnten. Das Problem der langwierigen budgetären Prozesse ist auch nach Schrumpfs Ansicht eines der größten Investitionshemmnisse in diesem Bereich. Oppenländer wendet sich gegen die von Härtel am Beispiel Zeiss Jena erhobene Forderung, grundsätzlich verstärkt ausländische Investoren einzuladen. Die Situation sei nicht so einfach; 80% des Vermögens gehörten derzeit der Treuhandanstalt, 20% der Stiftung; die 80% seien vor kurzem dem Land Thüringen angeboten worden. Nach wie vor sei ungeklärt, wem was gehört. Unter diesen Umständen könne man diesen Streit nicht einfach dadurch beenden, daß man ausländische Investoren zum Mitbieten einlädt.

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Zweitens fragt Oppenländer, ob es unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten für legitim gehalten werden kann, die 80 %, die der Treuhand gehören, dem Lande Thüringen anzubieten, also wiederum einer Behörde den Großteil zuzuschanzen. Das sei zumindest unter ökonomischen Wettbewerbsaspekten nicht erstrebenswert. Härtel weist darauf hin, daß das Problem, wem die Zeiss-Stiftung gehört, mit der Frage verknüpft ist, wer das Recht am Markennamen hat. Carl Zeiss Jena habe dem Staat gehört und sei dann an die Treuhand gefallen. Die Treuhand hätte, auch um dem westdeutschen Carl-Zeiss-Untemehmen möglichst viel abzutrotzen, auch andere Wettbewerber einladen können, um auf diese Weise möglichst viel für Zeiss Jena herauszuholen. Zu den Eigentumsverhältnissen erläutert Härtel, daß ursprünglich die Treuhand 20 % des Anteils an Zeiss Jena an die Stiftung Carl Zeiss Oberkochen, die ja nur eine karitative Funktion gehabt habe, überantwortet hatte. Nachdem klar war, daß nur eine Fusion zwischen Ost und West in Frage kam und die thüringische Landesregierung den Eindruck hatte, die Treuhand tue nicht genug für das Jenaer Unternehmen, habe Rohwedder damals zugunsten des Landes Thüringen entschieden. Eigentlich habe ja die Treuhand die Aufgabe, zu privatisieren bzw. auch über Privatisierung zu sanieren — darüber könne man geteilter Meinung sein -; wenn die Treuhand aber ein Konzept hätte, gegen das eine Landesregierung intervenierte — aus verständlichen regional- und arbeitsmarktpolitischen Gründen —, dann handele es sich auch um ein Problem der politischen Verantwortung des Staates. Härtel geht nicht davon aus, daß die thüringische Landesregierung Zeiss-Jena durchschleppen will, sondern daß die Landesregierung meint, sie könne das Unternehmen besser als die Treuhand sanieren und privatisieren. Unter dem Aspekt hält Härtel die Entscheidung durchaus für gerechtfertigt. Siebert stellt die Frage, woraus eigentlich der Kapitalwert der Firmen, die in Ostdeutschland verkauft werden, resultiert. Normalerweise ergebe er sich aus der Kombination der dort vorhandenen qualifizierten Arbeitskräfte und vielleicht auch aus den Standortbedingungen bzw. den Gebäuden, wenn da noch irgend zukunftsträchtige Substanz vorhanden ist. Aus dem Referat sei aber sehr deutlich geworden, daß viele der Erwerber die Firmen aus einem ganz anderen Grunde gekauft haben, nämlich weil staatliche sanktionierte Nutzungsrechte vergeben worden sind: Zuckerquoten, Leitungsrechte bei der Stromwirtschaft, beim Zement die Standortgenehmigung, die einmal erteilt ist und von der man annimmt, daß sie weiter gilt. Das zeige auch, welche Rolle in unserem System der Staat bei der Gewährung von Rechten spielt, mit denen Werte geschaffen werden. Auch Siebert behandelt die Bedeutung internationaler Bieter. Wenn es der Treuhand gelänge, in ihre Privatisierungsstrategie internationale Bieter

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einzubeziehen, dann hätte das den Vorteil, daß der Wettbewerb auch im Westen stimuliert würde. Überdies würden die ostdeutschen Betriebe weniger als verlängerte Werkbank behandelt, und Firmen würden nicht nur deshalb erworben, um bei den Non-Tradeables im Distributionssystem in Ostdeutschland einiges aufbauen zu können — Serviceleistungen und dergleichen —, sondern es würde im Prinzip darauf gedrängt, daß in Ostdeutschland produziert wird, und zwar nicht für den zusammenbrechenden Ostmarkt, sondern für den Weltmarkt. Schließlich würde auch der Anreiz für westdeutsche potentielle Investoren erhöht, mitzubieten, denn sonst bekämen sie Konkurrenz ins Land. Hoffmann ergänzt, Sieberts Hinweis auf die staatlich verbürgten Nutzungsrechte bestätige, daß der Substanzwert völlig irrelevant sei. Worauf es vielmehr ankomme, sei allein der Ertragswert. Deswegen habe er auch das forcierte Zusteuern auf die DM-Eröffnungsbilanzen nie verstanden; sie brächten überhaupt nichts und seien völlig ohne Aussagewert. Es sei wohl ein Stück Verzögerungsstrategie gewesen, zu sagen, man brauche erst die Eröffnungsbilanzen, vorher könne man nichts machen. Worauf es vielmehr ankomme, sei die Frage, wie das Unternehmen seinen Ertrag verbessern kann. Das könne es natürlich auch durch garantierte Nutzungsquoten und ähnliche Rechtstitel. Aber gerade der Ertragswert in seiner Gesamtheit sei diejenige Größe, die in fast allen Fällen sehr schwer ermittelbar ist. Man wisse eben meist erst, wenn das Unternehmen wieder operiert, was es am Markt verkaufen kann. Hinsichtlich der Einbeziehung internationaler Bieter müsse man wohl stärker differenzieren. Man sollte vielleicht besonders auf Bieter außerhalb der EG hinsteuern. In Gesprächen mit Japanern habe er oft Interesse für den Gedanken gefunden, den Einstieg in die EG über Ostdeutschland zu machen; Investitionen würden hoch subventioniert usw. Innerhalb der EG gebe es natürlich Bestrebungen, die ostdeutsche Konkurrenz auszuschalten, und zwar nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in anderen Mitgliedsländern. Bei den Japanern gebe es jetzt auch erste Erfolge. Oppenländer hält dagegen, zunächst klinge es sehr schön: die Ausländer investierten, um für den Weltmarkt zu produzieren. Aber die Deutschen investierten ja auch für den Weltmarkt. Also sei das Engagement westdeutscher Unternehmen in Ostdeutschland unter genau dem gleichen Gesichtspunkt zu sehen. Es komme hinzu — und das gehe aus Ifo-Befragungen hervor —, daß die Kapazitätsengpässe im Westen dazu geführt haben, daß die Kapazitäten in erster Linie in den Osten verlagert werden. Die Produktionen, die i m Westen schon unter Weltmarktbedingungen eingerichtet wurden, würden somit nun auch i m Osten unter Weltmarktbedingungen aufgebaut. Ein Unterschied zwischen der Investitionsneigung und den

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Investitionsmotiven ausländischer Investoren einerseits und westdeutscher Investoren andererseits in Ostdeutschland sei überhaupt nicht zu erkennen. Kantzenbach warnt davor, die Investitionen in das Vertriebssystem und die „verlängerten Werkbänke" allzu abwertend zu behandeln. Natürlich wäre es schöner, wenn die neuen Investoren dort High-Tech-Betriebe bauten, die die ganze Welt oder zumindest den europäischen Markt versorgten. Aber die Verhältnisse seien nun einmal nicht so, und bei der gegebenen schwachen Investitionsneigung seien auch verlängerte Werkbänke zu begrüßen, vor allem weil die Erfahrung zeige, daß in der Regel der Aufbau von Industriestrukturen diesen Weg geht, daß die Betriebe dann also ausbaufähig sind. K.-D. Schmidt kommt auf die Frage der Marktbeherrschung zurück. Was Marktbeherrschung ist, hänge wesentlich davon ab, wie man den relevanten Markt definiert. Er räumt ein, daß man in allen solchen Fällen, wo der Staat Verfügungsrechte verteilt — etwa Zuckerquoten oder Landerechte —, den Markt eng definieren müsse. Es gebe eben keinen Wettbewerb im innerdeutschen Flugverkehr, wenn Landerechte und ähnliches so gehandhabt werden wie heute üblich. Im Falle der ostdeutschen Wirtschaft gehe es aber nicht nur um eine Fusion mit der westdeutschen Wirtschaft, sondern auch um die Integration in den großen europäischen Binnenmarkt. Dieser Aspekt werde in der ganzen Diskussion — insbesondere auch aus der Sicht des Bundeskartellamts, das da ja selbst zu einem Fossil gerate unter den veränderten Bedingungen — viel zu wenig beachtet. Manche Aufregung um marktbeherrschende Positionen, etwa die Diskussion um die Übernahme der Deutschen Versicherungs-AG durch die Allianz, sei kaum noch zu verstehen, wenn man sie aus dem Blickwinkel des erweiterten Binnenmarktes interpretierte. Unter den Bedingungen der dann relativ freien Versicherungsmärkte sei dann z.B. auch die große Allianz möglicherweise relativ klein. Härtel ergänzt, auch unter binnenwirtschaftlichen Gesichtspunkten habe sich die Versicherungs-Fusion als weitgehend unbedenklich herausgestellt, weil inzwischen der Versicherungsmarkt durch die eingetretene Liberalisierung ein relativ offener Markt sei. Der Zugang für andere Versicherer auf den ostdeutschen Markt in Verbindung mit dem Umstand, daß die Deutsche Versicherungs-AG in der ostdeutschen Bevölkerung einen schlechten Ruf hatte, bedeute, daß die Allianz dieses Geschäft heute vielleicht gar nicht mehr machen würde. Die Diskussion um den Ost-West-Handel eröffnet Hoffmann mit der Forderung, die Stützung des Osthandels zu überdenken. Auch durch die Hermes-Absicherung werde ja massiv eingewirkt. Die zugesagten Subventionen seien 1990 bis zu 6 Milliarden D M gegangen. Es seien zwar nur 3,5 Milliarden ausgezahlt worden, aber immerhin handele es sich doch um

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massive Beträge. Hoffmann meint, diese Förderung gehe völlig in die falsche Richtung; die generelle undifferenzierte Stützung des Osthandels sei schlechte Politik, weil sie Strukturen konserviere und weil sie auch gar nicht über längere Zeit durchgehalten werden könne. Man müsse natürlich im Osthandelsbereich schnell etwas tun, aber man sollte vernünftige Kriterien entwickeln. Eine gezielte Unterstützung sei zwar keine First-best-Lösung, aber vielleicht eine Second-best-Lösung. Hoffmann fordert, erstens sollte man nur Exporte von Industrien fördern, von denen man zumindest erwarten kann, daß sie auch längerfristig eine gewisse Wettbewerbsfähigkeit haben. Damit fielen eine Menge Antragsteller heraus, z.B. große Teile des Schiffbaus, Stahl, Textil und Bekleidung usw. Zweitens sollte man solche Exporte weiterhin unterstützen, die zum Aufbau einer eigenen Exportbasis in den Käuferländern dienen. Denn langfristig hänge die Frage, was dorthin exportiert werden kann, von deren Devisenverfügbarkeit ab. Drittens könnte man noch daran denken, solche Exporte zu fördern, die in Ostdeutschland zum Aufbau des Kapitalstocks dienen. Das decke sich dann weitgehend mit dem ersten Kriterium, weil die Investitionsgüterindustrien zu einem guten Teil in Ostdeutschland langfristig eine Wettbewerbschance hätten, zumindest im Maschinenbau. Man könnte auch noch an weitere Änderungsgrundsätze denken, die aber nur sekundär seien, z.B. eine Stützung bei der Errichtung von Marktinformations- und Marketingeinrichtungen, um die Markttransparenz zu erhöhen. Auf jeden Fall müsse man zu irgendwelchen Kriterien kommen, um die undifferenzierte Streuung der Unterstützung zu reduzieren. Hoffmann erklärt, er sei zwar prinzipiell kein Freund einer staatlich selektierten Unterstützung, nämlich wegen des klassischen Informationsproblems, aber man habe es hier mit einer Second-best-Lösung zu tun, und man müsse davon ausgehen, daß die Politik sich nicht dazu bereiterklären werde, die Unterstützung generell fallenzulassen und nur noch indirekt die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Industrie zu stärken, um auf diese Weise das Problem langfristig zu lösen. Siebert gibt zu erkennen, daß er die von Hoffmann vorgetragenen Vorschläge als „rotes Tuch" betrachtet, er verzichtet jedoch wegen seiner Funktion als Moderator und wegen der fortgeschrittenen Zeit auf eine ausführliche Stellungnahme. Werner stellt klar, daß es eine direkte Subventionierung von Exporten nach Osteuropa schon seit Januar 1991 nicht mehr gebe. Die 1990 gewährten Subventionen hätten mit der Verpflichtung im Einigungsvertrag, den Vertrauensschutz der abgeschlossenen Verträge zu gewährleisten, zusammengehangen. Das von Hoffmann angesprochene Problem habe sich somit eigentlich schon erledigt. Natürlich seien mit den Hermes-Bürgschaften günstige Bedingungen geschaffen worden. Ihre Inanspruchnahme hänge

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aber im wesentlichen von den osteuropäischen Partnern ab. Die Gewährleistung von Hermes-Bürgschaften gegenüber der Sowjetunion sei ja vor allem an die Bedingung geknüpft, daß die Moskauer Außenhandelsbank eine Garantieerklärung übernimmt. Die Auswahl der Importgüter und damit der Bereiche, die noch in die Sowjetunion exportieren können, werde von sowjetischer Seite vorgenommen, weniger von deutscher Seite. Das gelte auch im Fall der Prioritätslisten im Wertumfang von 7,5 Milliarden DM, die die sowjetische Seite übergeben hatte. Auf diesen Prioritätslisten fänden sich vor allen Dingen Ausrüstungsgüter, die von sowjetischer Seite als besonders dringend für die Lösung vor allem der Probleme des Nahrungsmittel- und Konsumgütersektors angesehen würden. Trotz der Änderung auch des Außenhandelsregimes seien die Importeure in der Sowjetunion darauf angewiesen, aus dem zentralen Devisenfonds entsprechende Zuweisungen zu erhalten, weil sie in aller Regel nicht über eigene Deviseneinnahmen in einer Größenordnung verfügten, die es ihnen ermöglichen würden, selbständig Importe in größerem Maße zu tätigen. Die Verteilung von Anrechten auf den zentralen Devisenfonds sei in der Sowjetunion ein Gegenstand heftigen Gerangeis und von Kompetenzstreitigkeiten, vor allen Dingen auch zwischen der zentralen Unionsregierung und den ihre Rechte immer mehr einfordernden Regierungen der Unionsrepubliken. Auch die tatsächlich notwendigen Prioritäten für die Weiterführung der sowjetischen Wirtschaftspolitik stünden dabei zur Debatte. Werner meint, auch ihm würde es sehr schwerfallen, einen Maßnahmenkatalog für deutsche Exportsubventionen vorzuschlagen, weil sich all das, worüber noch vor wenigen Monaten nachgedacht worden war, als nicht tragfähig erwiesen habe. Man wollte eigentlich — und es habe dazu auch einen entsprechenden Vorschlag des Bundeswirtschaftsministeriums gegeben — z.B. aus den sowjetischen Erdöl- und Erdgasexporten einen Devisenfonds bilden, der dann vorzugsweise für Importe von Produkten aus ostdeutschen Betrieben hätte in Anspruch genommen werden können. Das habe die sowjetische Seite selber abgelehnt; es wäre ja auch nur eine Art Clearing-Verfahren gewesen, also kein Weg, der für die ostdeutsche Industrie in der nächsten Zeit gangbar ist. K.-D. Schmidt dankt Werner dafür, daß er in seiem Referat ein klares Plädoyer für einen Neuanfang vorgetragen habe und daß er einer Als-obPolitik — so zu tun, als ob die alten Strukturen noch wettbewerbsfähig wären — eine klare Absage erteilte. Nun stehe man vor dem Dilemma, was in einer solchen Bruchsituation, wo es radikal nach unten geht, zu tun sei. Dabei bestehe auch das schon angesprochene Problem, daß die Politiker gelegentlich nicht das Zweit- oder Drittbeste, sondern etwa das Zehntbeste täten. Deutschland sei in einer völlig anderen Situation als fast alle anderen mittel- und osteuropäischen Länder: diese hätten die Möglichkeit, über eine

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kräftige Abwertung ihrer Währung exportfähig zu bleiben. In den Exportund Importstrukturen Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns seien dramatische Verschiebungen zugunsten des Westhandels im Gange. Polen und Ungarn hätten jetzt sogar Milliarden-Überschüsse in der Handelsbilanz mit dem Westen. Die Frage nach möglichen Handlungsalternativen — und da sammle er gern Antworten, denn man müsse ja der Bundesregierung auch etwas empfehlen — sei für ihn offen geblieben. Die Dinge, die Werner erwähnt habe, seien sicher richtig, aber hier spiele auch der Zeitfaktor ein Rolle.

Podiumsdiskussion Teilnehmer: W. Baentsch, Wirtschaftswoche (Moderator) Prof. Dr. L. Hoffmann, Berlin Prof. Dr. E. Kantzenbach, Hamburg Prof. Dr. Κ. H. Oppenländer, München Prof. Dr. H. Siebert, Kiel Prof. Dr. Chr. Watrin, Köln Baentsch: Meine Damen, meine Herren! In der ansonsten illustren Runde dieser Posiumsdiskussion muß ich nur einen vorstellen, nämlich mich: Wolfram Baentsch ist mein Name. Im Programm steht der Zusatz „Wirtschaftswoche". Das ist nur noch bedingt richtig. Ich bin fast sieben Jahre lang der Chefredakteur der „Wirtschaftswoche" gewesen, und das bin ich auf dem Papier meines Vertrages noch eine geraume Weile. Allerdings habe ich meine Aufgaben im März niedergelegt. Was bleibt, ist der enge Bezug zum Thema „Deutsch-deutsche Integration". Dazu ein berufliches Beispiel: Publizistisch haben wir bei der „Wirtschaftswoche" deutsch-deutsche Integration richtig angelegt gesehen, indem wir eine eigene „Wirtschaftswoche" für das damalige Gebiet der DDR gemacht haben, eine „Wirtschaftswoche", an der von Anfang an Journalisten aus Ostdeutschland integral beteiligt gewesen sind. Diesen Weg — es ist übrigens exakt ein Jahr her, seit die erste Ausgabe erschien — haben wir sehr früh beschritten, und er kann wohl nicht ganz falsch gewesen sein, denn andere sind diesen Weg dann auch gegangen. Nun zum Ablauf des Gesprächs in dieser „Elefantenrunde". Ich würde vorschlagen, daß die Diskussion keine Abfolge von Reden sein sollte, sondern kurzweiliger und wohl auch informativer dürfte der Austausch von Argumenten und Meinungen sein. Ich bedaure sehr, daß Herr Professor Klemmer krankheitshalber verhindert ist; ich nehme gern den Vorschlag von Herrn Professor Siebert auf, das Podium von Anfang an i m jeweiligen Zusammenhang auch für Fragen aus dem weiteren Kreis der hier Versammelten zu öffnen. Ansonsten möchte ich i m Ablauf des Gesprächs gern der Dramaturgie insbesondere des gestrigen Tages folgen und deshalb mit dem Thema „Treuhandanstalt" beginnen. Dazu meine erste Frage, die etwas grundsätzli12 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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cher A r t ist: Herr Professor Oppenländer, hat sich diese Institution bewährt, oder läßt sich aus heutiger Sicht sagen, daß man einen ganz anderen Weg hätte beschreiten sollen, um das Ziel — die Umstellung der zentralen Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft — zu erreichen? Oppenländer: Dazu eine erste Vorbemerkung. Wenn man das Thema Treuhand anspricht, dann heißt es meist: Na ja, die Treuhandanstalt haben wir von der Regierung Modrow übernommen; wir haben also das fortgeführt, was auf uns zugekommen ist; man hat also offenbar nicht gewagt, eine Änderung herbeizuführen. Die zweite Vorbemerkung: Man hört, die osteuropäischen Staaten suchen immer wieder nach einer Vorbild-Funktion und meinen, wir könnten ihnen aus unseren Erfahrungen, die wir mit der Wiedervereinigung gemacht haben, Hinweise geben. Wenn man sie auf die Treuhandanstalt anspricht, dann winken sie sofort ab. Dann sagen die Ungarn, die Tschechoslowaken und die Polen: W i r machen es nicht so wie ihr, wir machen es viel besser; das ist ja ein Monster, eine Hyperbehörde. Die Ungarn ζ. B. versuchen es mit einer Vermögensanstalt — die allerdings nicht so genannt wird —; die Polen haben jetzt gerade ein Ministerium für Privatisierung gegründet, wobei dieses Ministerium nur Teile des ehemaligen Staatsvermögens privatisieren soll. Mein dritter Punkt: Ich habe intensiv versucht, herauszufinden, was eigentlich die Treuhandanstalt ist. Ist es eine Behörde, eventuell eine nachgeordnete Behörde, ist es ein Unternehmen? Zum Beispiel wurde zur Nachfolge von Herrn Rohwedder durch Frau Breuel gesagt: Frau Breuel ist jetzt Präsidentin, aber wir brauchen einen Unternehmer als Vizepräsidenten!, — womit wohl zum Ausdruck kommen soll, daß man versucht, die Treuhandanstalt als Unternehmen zu deklarieren. Das ist also meines Erachtens alles sehr unklar. Außerordentlich unklar ist auch, ob die Treuhandanstalt nun wirklich nur das tut, was sie sagt, nämlich privatisieren, oder ob sie eben nicht auch in die Strukturpolitik eingreift — ob sie will oder nicht —, sei es die regionale Strukturpolitik, sei es die untemehmensgrößen-spezifische Strukturpolitik oder die sektorale Strukturpolitik, ob sie nicht auch in die Wettbewerbspolitik eingreift. W i r haben heute früh einige Beispiele von Firmen gehört, wo die Treuhandanstalt eng mit dem Kartellamt zusammenarbeiten muß. Baentsch: Herr Professor Watrin: die Treuhandanstalt ein Monster? Kann man von der Treuhandanstalt, die ja ein weisungsgebundenes Institut ist, überhaupt erwarten, daß sie Entscheidungen im Sinne ökonomischer Vernunft trifft, oder muß man nicht vielmehr realistischerweise voraussetzen, daß die Treuhandanstalt ihrer politischen Abhängigkeit wegen in erster Linie auch politische Entscheidungen trifft?

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Watrin: Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ist die Treuhandanstalt definiert als eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Das unterscheidet sie nicht unerheblich von einer Behörde, insbesondere im Hinblick auf die Frage der Weisungsgebundenheit. Im übrigen habe ich von meinen juristischen Kollegen gelernt: Versucht die Treuhandanstalt nicht zu genau zu definieren, sonst geraten wir in abertausend Schwierigkeiten, denn die Anstalt hat einen unternehmerischen Auftrag, aber sie unterliegt gleichzeitig auch der Bundeshaushaltsordnung — ich referiere das alles nur als Laie —, und nach dieser muß sie das öffentliche Vermögen eigentlich zu günstigsten Preisen veräußern. Schauen wir uns das Treuhandgesetz an, dann ist die Treuhandanstalt eine Einrichtung mit multiplen Aufgaben. Zwar steht in § 1 Satz 1 in römischer Kürze, daß die Treuhandanstalt das Volksvermögen zu privatisieren hat; aber dann kommen in den weiteren Paragraphen eine Reihe von Zusatzbestimmungen hinzu, die sich teils auf den Wettbewerb, teils auf die Sanierung beziehen. Die grundsätzliche Frage, ob Privatisierung vor Sanierung geht oder ob Privatisierung und Sanierung gleichgeordnet sind, wird in § 2 beantwortet mit einer Formulierung, von der man jetzt glaubt, daß man daraus eine Gleichrangigkeit des Privatisierungs- und des Sanierungsziels herauslesen kann. Für den Ökonomen stellt sich Treuhandanstalt also als ein System dar, das organisationstheoretisch viele Ziele hat. Dadurch werden den Beteiligten diskretionäre Spielräume eröffnet. Man darf sich eigentlich nicht wundern, daß sie diese auch nutzen. Die Treuhandanstalt als Ganze zu behandeln, scheint mir recht schwierig zu sein. Aber was die Details angeht, so möchte ich einen Satz aus dem Berkeley- Gutachten, das ja einiges Aufsehen erregt hat, zitieren und zeigen, daß die Treuhandanstalt eigentlich nicht das tut, was Ökonomen empfehlen. Dort heißt es? „Each enterprise should be sold to the highest bidder" — und jetzt kommt das Entscheidende — „with no additional conditions of sale", also ohne sonstige Bedingungen. Dies scheint mir ein Punkt zu sein, der unter Ökonomen einmal erörtert werden muß. Denn die Treuhandanstalt macht ziemlich genau das Gegenteil! Es gibt Verträge — die ich selbst gelesen habe —, wo zwingend ausbedungen wird, daß der Käufer eines Treuhandunternehmens oder eines Grundstückes eine bestimmte Anzahl von Arbeitskräften übernimmt. Nun könnte man sagen, das ist nicht so schlimm. Aber da wird einem Grundstückskaufvertrag auch noch eine Liste von zu übernehmenden Personen angefügt. Sie 1·

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kommen normalerweise aus dem Personalbestand des Unternehmens, von dem man ζ. B. ein Grundstück erwirbt. Dieser Privatisierungs-Interventionismus wird noch weiter getrieben: Es gibt Rückf alls-Vorschriften für den Fall, daß versprochene Investitionen nach zwei Jahren doch nicht im zugesagten Umfang durchgeführt worden sind. Und ähnliches mehr! Ich habe Sorgen, daß diese Art von Verträgen — von denen man ökonomisch natürlich sagen kann, es schlägt sich alles im Kaufpreis nieder — nicht dazu beitragen, Märkte für Unternehmen und Grundstücke schnell zustande zu bringen. A n sich müßte man sagen, daß „with no additional conditions of sale" der Ersterwerber auch das Recht haben muß, falls sich seine Erwartungen nicht erfüllen, die Sache weiter zu veräußern, ohne daß er ζ. B. mit Strafe überzogen wird, die ζ. B. bei der Entlassung einer Arbeitskraft 20 000 D M beträgt. Also, ein „Verkäufer" scheint mir die Treuhandanstalt nicht zu sein. Baentsch: Herr Professor Hoffmann, hat die Treuhandanstalt überhaupt die Kompetenz, unternehmerische Entwürfe oder unternehmerische Konzeptionen zureichend zu beurteilen? Hoffmann: Ich würde das sehr anzweifeln, — nicht etwa, weil die Treuhand kein qualifiziertes Personal hätte, sondern weil die Beurteilung von Sanierungskonzepten ohnehin eine außerordentlich schwierige Angelegenheit ist. Das ist selbst für einen Unternehmer keine leichte Aufgabe. W i r wissen aus der bundesdeutschen Geschichte, daß geschickte und erfolgreiche Sanierer eine außerordentlich seltene Spezies von Unternehmern sind. Das heißt also, wir können eigentlich nicht davon ausgehen, daß die Treuhand in dem erforderlichen Umfang Leute hat, die aus eigener Sanierungserfahrung die Realisierbarkeit von tragfähigen Konzepten hinreichend beurteilen könnten. Ich halte deswegen — in Anlehnung an das, was Herr Watrin gesagt hat — das Knüpfen von Bedingungen an den Verkauf von Unternehmen durch die Treuhandanstalt, beispielsweise Beschäftigungs- oder Investitionsbedingungen, für problematisch. Ich würde den Wiederverkauf nicht ausschließen. Durch die Möglichkeit des Wiederverkaufs könnte sich ein Immobilienmarkt entwickeln. Eines der großen Probleme in Ostdeutschland ist ja, daß wir dort keinen funktionsfähigen Immobilienmarkt haben. Wenn also Grundstücke zunächst einmal an einen Käufer gehen, der sie dann wiederverkaufen kann, dann kommt mit der Zeit doch ein gewisses Angebot auf den Markt. Die Angst — es steht ja immer noch das AusverkaufsArgument im Hintergrund —, da könnten Spekulanten zwischenzeitlich mal ein Geschäftchen machen, ist offensichtlich maßgeblich dafür, daß man hier so strikte Grenzen einzieht. Sicher ist das in dem einen oder anderen Fall dann ärgerlich; aber ich glaube, das sollte man hinnehmen dafür, daß auf diese Weise ein Markt für Immobilienwerte zustande käme.

Podiumsdiskussion Baentsch: Herr Professor Kantzenbach, ein Stichwort zu Ihrer Kritik an der Treuhand: Hat die Treuhandanstalt nicht immer zu langsam auf Kritik reagiert? Ich nenne als Beispiel den Vorwurf des Zentralismus, aber auch den der mangelnden Transparenz. Kam das nicht alles zu spät, und war nicht vieles von dem — ich möchte fast sagen — „Volkszorn", der sich gegen die Treuhand richtet, irgendwo doch begreiflich? Kantzenbach: Ich muß sagen, ich kann dem nur schwer folgen. Ich erinnere mich eines Aufsatzes von Herrn Möschel, in dem es eingangs heißt „alle wissen, wie die Treuhand es besser machen sollte, nur ich nicht", und dann erklärt wird, wie die Treuhandanstalt arbeitet. Ich fühle mich außerstande, die Vorgehensweise einer Körperschaft, die eine so komplexe Aufgabe hat wie die, die 6 000 oder 7 000 Unternehmen zu privatisieren, zu kritisieren, ohne wirklich detaillierte Kenntnisse zu haben. Aber ich möchte noch etwas Grundsätzliches zur Treuhand sagen. Die Rechtsform der Treuhand wird ja häufig kritisiert. W i r haben auch im Wirtschaftspolitischen Ausschuß des Vereins für Socialpolitik darüber diskutiert, und dabei stellt sich die Frage: Welche organisatorische Alternative zur Treuhandanstalt bestünde, wenn ein Staat wie die Bundesrepublik 7 000 Unternehmen „erbt"? In einem solchen Fall ist zunächst einmal das Finanzministerium zuständig. Dann würden wir vermutlich sofort vorschlagen zu deregulieren und die Verwaltung der Unternehmen aus dem Ministerium auszugliedern und zu verselbständigen. Man würde bei einer selbständigen Körperschaft landen, bei der Treuhand. Denen, die die Treuhand abschaffen wollen, ist also die Frage zu stellen: Wollen Sie es beim Finanzministerium haben? Die 7 000 Unternehmen liegen ja nicht herum, sondern Eigentümer ist dann der Bund. Ich erkenne an, daß i m einzelnen der Privatisierungsprozeß mit Schwierigkeiten und sicherlich auch mit Fehlern verbunden ist, aber ich fühle mich außerstande, einen grundsätzlich anderen Weg aufzuzeigen. Im Detail mag die Kritik durchaus berechtigt sein. Wenn hier darauf hingewiesen wird, daß in den neuen Bundesländern kein funktionsfähiger Markt für Grundstücke besteht, muß ich darauf hinweisen, daß es auch keinen funktionsfähigen Markt für Unternehmen gibt. Wenn es den gäbe, wäre sicher für einige der Vorschläge, die hier gemacht worden sind, Spielraum. Wenn die Käufer Schlange stehen würden, dann könnte man natürlich dort Versteigerungen vornehmen und das ganze Verkaufsverfahren formalisieren, und das wäre sicherlich auch vorzuziehen. Nur fühle ich mich außerstande, jetzt zu entscheiden, ob die Bedingungen dafür in der Realität gegeben sind. Deswegen möchte ich mit Kritik da etwas zurückhalten. Baentsch: Bei so viel Faimeß gegenüber der Treuhand möchte ich doch noch einmal nachfragen: Ist es nicht so, daß die Treuhandanstalt das eigentlich ganz unbestritten Werthaltige — fast „knippig", wie man i m

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Podiumsdiskussion

Rheinland sagt — zurückhält, nämlich Immobilien? Könnte nicht die Treuhandanstalt den größten Beitrag dazu leisten, daß dieser beklagenswerte Zustand des Fehlens eines Immobilienmarktes endlich ein Ende findet? Sie ist ja schließlich die größte Besitzerin von Immobilien, und zwar von landwirtschaftlichen wie von gewerblichen Grundstücken. Kantzenbach: Mein Eindruck — ohne daß ich es geprüft habe — ist der, daß einfach die Arbeitskapazität der Treuhand dafür nicht ausreicht. Das ist eine Frage der Priorität. Wenn sie systematisch angefangen hätte, die Grundstücke zu verkaufen, dann hätte sie weniger Anstrengungen unternehmen müssen, um Unternehmen zu verkaufen. Nach meinem Dafürhalten ist die personelle Kapazität der Treuhandanstalt angesichts des Verkaufs von 7 000 Unternehmen überfordert. Es gibt Vorträge von Rohwedder, wo er gesagt hat: Wenn wir jeden Tag ein Unternehmen verkaufen, dann haben wir bis weit über das Jahr 2000 zu tun. Und nun sagen Sie mir mal: wer verkauft jeden Tag ein Unternehmen?! Baentsch: Zur Frage der Prioritäten beim Vorgehen der Treuhand, die natürlich nicht nur Tag und Nacht zu tun hat, sondern deren Kapazität uns eindeutig zu klein ist, möchte ich Herrn Professor Siebert ansprechen, wobei ich ihm noch eine Frage konkret mitgeben möchte: Nach dem gestrigen Referat von Herrn Professor Schmidt von der Treuhand haben Sie das Wort vom Mezzogiorno genannt, und Sie haben das in ursächlichen Zusammenhang mit dem Vorgehen der Treuhand gebracht. W i e könnte vermieden werden, daß Ostdeutschland so etwas wie der Mezzogiorno wird, und was könnte die Treuhand Gescheites dazu tun? Siebert: Zu der Grundfrage, ob es eine Alternative zu der Treuhand gegeben hat, ob wir etwa ein Voucher-System, ein Gutschein-System hätten einführen können, wie es die Tschechen, die Ungarn und die Polen vorsehen: Ich glaube, wir müssen sehen, daß wir bei uns andere Bedingungen haben. W i r haben eine Währungsunion, so daß der Witz der Sache sein wird, daß wir einen immensen privaten Kapitalzufluß von West nach Ost organisieren können. Da ist ein Gutschein-System zu zeitraubend, bei dem man ja zunächst einmal Anteilsscheine an dem Gesamteigentum ausgeben würde und dann in einem zweiten A k t diese Anteilsscheine in spezifische Aktien für eine spezielle Unternehmung durch einen simulierten Markt umtauschen muß. Ich glaube nicht, daß ein Gutschein-System diesen Weg, den Marktzugang börsenähnlich zu organisieren, bewirkt hätte. Zweitens ist bei einem Gutschein-System das Problem zu bedenken: — daß das alte Management schnell ausgewechselt werden und ein „corporate control" schnell geschaffen werden muß. W i r brauchen doch ein neues Management und neue Konzepte für die Unternehmen. Die alten Kader sollen doch i m wesentlichen abgelöst werden. Auch dies ist mit einem

Podiumsdiskussion Gutschein-System nicht schnell zuwege zu bringen. Von daher sprach einiges für die organisatorische Lösung der Treuhand. Das Problem liegt meines Erachtens darin, daß die Treuhand einen zwiespältigen Auftrag hat und daß die Treuhand unter einem immensen politischen Druck steht — auch auf Grund der Regelungen für die Treuhand —, nicht den Privatisierungsauftrag in den Vordergrund zu stellen, sondern aus allen möglichen verständlichen Gründen von diesem Privatisierungsauftrag abzuweichen, nicht stillzulegen und die nicht effizienten Betriebe am Leben zu erhalten. W i r sehen auch in der westdeutschen Öffentlichkeit ein mangelndes Vertrauen in die Marktkräfte. Da sprechen bedeutende Männer der Wirtschaft davon, daß Säulenheilige gekippt werden müssen, daß man nicht puristisch auf die Marktkräfte setzen kann, daß man auf den Markt nicht vertrauen kann,· da wird mit dem Textbuch und mit dem Lehrbuch gearbeitet, als ob die Marktwirtschaft und Praxis Gegensätze wären! Man hat sicher vergessen, was 1948 gelaufen ist. Man hat übrigens auch vergessen, wie ein anderer — sicherlich nicht vergleichbarer — Schock, nämlich der Ölpreisschock gewirkt hat, und daß Anpassungsprozesse auf der Angebotsseite sehr viel Zeit brauchen. W i r müssen also auch Zeit für diese Prozesse auf der Angebotsseite zugestehen. Das Problem der Treuhand und, wenn man das ein bißchen weiter gelagert sehen und den Begriff „Mezzogiorno" in den Raum stellen will, ist, ob die deutsche Wirtschaftspolitik dazu tendieren wird, die ineffizienten Einheiten in den ostdeutschen Ländern zu erhalten. Wenn sie das tut — ob das über die Treuhand geschieht oder über andere Maßnahmen —, dann kann es in der Tat dazu kommen, daß die Region ihre Strukturen nicht modernisiert, daß wir die alten Strukturen fortschleppen, daß wir vielleicht hin und wieder in einem Betrieb eine Modernisierungsinvestition vornehmen, die dann aber vielleicht auch nicht rentabel ist und in einigen Jahren das Argument liefert: da haben wir jetzt soviel Geld reingesteckt, nun müssen wir da doch weitermachen! Das heißt, man kommt in einen Zugzwang. Die Subventionen werden sich verfestigen, die wirtschaftlichen Entscheidungen werden politisiert, wir haben ein Rent-seeking-Verfahren. W i r sehen das ja übrigens schon bei der Abwartehaltung vieler Manager in den ostdeutschen Firmen, die jetzt ihre Firmenkonzepte nicht abliefern; die warten jetzt zunächst einmal die politischen Prozesse ab. Wenn dies das dominierende Szenario ist, dann kann es in der Tat passieren, daß wir in große Probleme hineinkommen, und die internationalen Finanzmärkte deuten im jetzigen Zeitpunkt die deutsche Situation ja genau in dieser Weise.

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Baentsch: Herr Professor Oppenländer, vielleicht können Sie sich noch einmal zu den Prioritäten im Vorgehen der Treuhandanstalt, insbesondere zum Immobilienmarkt, äußern. Oppenländer: Herr Kantzenbach, es ist zu bezweifeln, ob es sich um ein Kapazitätsproblem handelt, wenn die Treuhandanstalt beim Immobilienmarkt so zurückhaltend reagiert. Ich meine, es geht eher um eine Frage der Politik. Es wurde von der Treuhand schon gesagt, daß man den Immobilienmarkt nicht aus dem Gleichgewicht bringen will; deshalb sei man sehr zurückhaltend beim Verkauf von Grundstücken. Aus vielen Gesprächen mit westdeutschen Unternehmen, die mit der Treuhandanstalt fast täglich zu tun haben, geht hervor, daß etwa zwischen November und Februar eine Situation gegeben war, in der „das Fenster offen gewesen sei", Verkäufe gingen damals relativ problemlos vonstatten. Das hat sich geändert. Seit Februar hat die Treuhand wohl eine andere Politik eingeschlagen. Wenn Sie, Herr Kantzenbach, das alte Kapazitätsproblem betrachten, dann möchte ich Ihnen folgende Fragen stellen: W i r haben jetzt etwa zweieinhalbtausend Angestellte bei der Treuhand. Gleichzeitig gibt es die Äußerung des stellvertretenden Verwaltungsratsvorsitzenden, daß die Treuhand noch sehr lange tätig sein wird, mindestens noch die nächsten zehn Jahre, und daß die Beschleunigung der Privatisierung, wie wir sie an den Zahlen festgestellt haben, darauf zurückzuführen ist, daß das leichte oder eindeutige Fälle waren. Das heißt, wir können hier keinesfalls eine Trend-Extrapolation vornehmen und davon ausgehen, daß es so weitergehen wird. Ich vermute, daß wir in eine Phase eintreten, in der sich die Privatisierung nicht mehr in gleichem Tempo weiterverfolgen läßt. Schwierigere Fälle stehen nunmehr an, die eine Verlangsamung dieses Prozesses mit sich bringen. Baentsch: Sie deuteten die Frage an — ich habe das auch schon gestern im Gespräch mit einem von Ihnen gehört —, ob nicht eigentlich die Politik ausschlaggebend dafür ist, daß der Immobilienmarkt so wenig agil ist, ob nicht eine bedeutende Lobby, nämlich die Agrar-Lobby, dafür sorgt, daß die Bodenpreise im Bereich des landwirtschaftlich genutzten Bodens nicht fallen. Watrin: Zunächst eine Bemerkung zur Äußerung von Herrn Möschel. Er hat ja seinen Satz selber nicht so ernst gemeint. W i r sollten uns als Ökonomen nicht auf diese Schiene begeben, denn sonst gestalten nur die Juristen die Wirtschaft und wir schalten uns noch mehr aus der öffentlichen Diskussion aus. — Aber das nur am Rande. W i r müssen eines sehen, nämlich daß der Treuhand ein Bleigewicht ans Bein gebunden worden ist, gerade im Hinblick auf die Veräußerung von

Podiumsdiskussion Grundstücken. Sie schrieb Anfang 1991, nachdem wir also die Restitutionslösung gewählt hatten, daß buchstäblich jedes Grundstück, jedes Unternehmen irgend jemand seit 1933 — so weit geht die Regelung ja zurück — gehört hat und daß nach dem Recht, das noch bis vor vier Wochen in unserem Lande galt, dort, wo ein Alteigentümer auftauchte, sofort eine Verfügungssperre auf dem betreffenden Objekt ruhte. Ein Alteigentumsanspruch brauchte nur — berechtigt oder nicht — geltend gemacht zu werden, dann galt die Verfügungssperre. Im Treuhandpapier heißt es wörtlich, daß die Tätigkeit der Anstalt im Hinblick auf die Veräußerung durch die Restitutionsregelung völlig zum Erliegen gekommen sei. Dies muß man gerechterweise einmal sagen. Vor einigen Wochen hat die Treuhand angekündigt, daß sie tausend Grundstücke auf den Markt bringen werde. Bei näherer Nachfrage stellte sich allerdings heraus, daß auf 80 % der Grundstücke Alteigentumsansprüche liegen. Zwar kann man diese jetzt mit der Vorfahrtsregelung überrollen, aber auch dann kommt man ja in einen Zyklus schwieriger Verhandlungen hinein. Denn wenn der Alteigentümer verspricht, er werde ungefähr die gleichen Investitionen vornehmen, dann geht sein Anspruch wieder vor. Im übrigen kann man den Streit auch noch vor das Verwaltungsgericht bringen, wenn der Treuhand Verfahrensfehler nachzuweisen sind. Kurz, die Alteigentümer, deren Rechte durch die bis Ende 1992 geltende Vorfahrtsregelung ausgehöhlt sind, werden jetzt manches versuchen, um den Verkaufsprozeß noch zu blockieren. Der zweite Punkt: Die Treuhand befindet sich in der Schwierigkeit, daß sie durch die Rückgaberegelung, die ja prinzipiell weiterhin gilt, im Grunde genommen kein richtiger Volleigentümer ist. Sie kann nicht zügig handeln, weil sie sich dauernd mit den Alteigentümern auseinandersetzen muß. Hier bin ich der Meinung, daß die von Möschel und anderen vorgeschlagene Entschädigungslösung viel besser gewesen wäre. Aber wir sitzen jetzt auf der gegenwärtigen Regelung, also der „Überrollvorschrift", und ich habe einfach die Sorge, daß von der rechtlichen Seite her der Aufbauprozeß weiterhin behindert ist. Siebert: Das ist in der Tat eine ganz zentrale Frage hinsichtlich des Übergangs in ein marktwirtschaftliches System. W i r haben mit dem Artikel 23 des Grundgesetzes zwar sozusagen den Respekt vor dem Eigentum in den ostdeutschen Ländern etabliert, auch juristisch, aber Eigentumszuordnungen fallen nicht wie Manna vom Himmel. Das heißt, es muß nach der Regelung, wie sie jetzt konzipiert ist, jedes Stück Eigentum durch einen administrativen A k t zugewiesen werden. Es gibt in Dresden — diese Zahl war ja gestern von Herrn Milbradt genannt worden — 40 000 Ansprüche auf Restitution, und davon sind bisher 700 bearbeitet. Man muß sich das plastisch vorstellen! Ich verweise auch auf das, was gestern in der Diskus-

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sion mit Herrn Schmidt hinsichtlich der Investitionsbescheinigung, die ausgestellt werden kann, herauskam. Was kann da alles passieren! Da können Sie an einem Grundstück interessiert sein, ich kann an dem Grundstück interessiert sein; ich komme schneller zu dem A m t und erhalte die Investitionsbescheinigung, bekomme also Vorfahrt und habe damit einen Konkurrenten ausgehebelt. Der andere Fall, der offenbar nicht unüblich ist: Die Stadt Dresden schreibt potentielle Berechtigte an, etwa eine Erbengemeinschaft i m Westen; die schickt ihren Anwalt, und der Anwalt droht zunächst einmal demjenigen, der die Sache bearbeitet: ich mache Sie haftbar, wenn Sie das verkaufen. Und was macht der Bearbeiter? Der schiebt diesen Fall unter die 39 999 anderen Fälle, und man kann sich ausrechnen, wann dieser Fall mal wieder auftaucht. Ein weiteres Problem ist, daß für ursprünglich 8000 Unternehmen, die durch Gesetz geschaffen worden sind, keine Eintragung im Grundbuch vorliegt, auch nicht zugunsten der Treuhand. Selbst in klaren Fällen, wo die Treuhand verkaufte, ist der Verkaufsvertrag unter der Bedingung geschlossen worden, daß die Treuhand eingetragen wird, wobei es dann noch einmal sieben oder neun Monate dauert, bis der Erwerber eingetragen wird. Bevor der Erwerber nicht eingetragen ist, wird er keine Investitionen durchführen. Hinzu kommt das Problem, das Herr Watrin angesprochen hat: daß selbst bei der Vorfahrtsregelung mit dem § 3 a — ich verweise auf die Diskussion mit Herrn Schmidt —, also selbst wenn die Treuhand vorrangig einweist, noch unklar ist — das muß sich erst in Zukunft zeigen —, ob der alte Restitutionsberechtigte nicht doch die Verwaltungsgerichte bemühen und auf diese Weise auch jenen A k t der Treuhand wieder beseitigen kann. Hier liegt meines Erachtens die ganz zentrale Ursache dafür, daß es in den ostdeutschen Ländern nicht aufwärts geht. W i r können keine Investitionen erwarten, wenn die Unsicherheit über das Eigentum nicht beseitigt wird. Da nutzt auch keine Liquiditätsspritze von 100%. W i r sollten hier zwei alte Begriffe aus der Wirtschaftspolitik klar unterscheiden: Kausaltherapie und Neutralisierungspolitik. Im Sinne der Kausaltherapie ist die Nummer eins i m Moment die Beseitigung der Unsicherheit bei den Eigentumsverhältnissen. Die Unterscheidung „Kausaltherapie versus Neutralisierungspolitik" würde uns auch beim Arbeitsmarkt noch weiter helfen. Da können wir dann auf diese Unterscheidung auch noch einmal zurückkommen. Baentsch: Sie haben im Grunde schon den Strich unter den ersten Punkt, den wir diskutieren wollten, nämlich die Treuhandanstalt, gezogen. Ich möchte aber dennoch Sie, die Sie nicht im Podium sitzen, fragen, ob Sie dazu noch die eine oder andere Anmerkung machen oder eine Frage stellen wollen.

Podiumsdiskussion Schrumpf: Ich habe bezüglich der Politik der Treuhand, so naheliegend die Probleme auch sind, in einiger Hinsicht doch meine Schwierigkeiten. Ein Beispiel dazu: Man hat in Berlin von Seiten der Treuhand eine Reihe von Grundstücken ausgeschrieben. Dabei hat man sich — was ja an sich ganz sinnvoll ist — einer großen westdeutschen Maklerfirma bedient. Ob das nur eine sein mußte, ist schon einmal ordnungspolitisch eine Frage. Zweitens ist die Ausschreibung so vonstatten gegangen, daß man von dem Investor verlangt hat: Angaben darüber, was er mit dem Grundstück vorhat, wieviel Arbeitsplätze dadurch geschaffen würden, welche Investitionen damit beabsichtigt sind, ferner einen Bebauungsplan und den Kaufpreis, — und das Ganze innerhalb von vier Wochen! Jetzt frage ich Sie, wenn da nicht irgendwelche Windei-Angebote angefordert werden: Welcher ernsthafte Investor ist in der Lage, innerhalb eines solchen Zeitraums ein vernünftiges Angebot auf den Tisch zu legen? Das ist für mich ein ganz klarer Hinweis darauf, daß die Treuhand in der Hinsicht durchaus noch verbesserungsfähig ist. Baentsch: Das hört sich sogar nach Sabotage oder bewußtem Unterminieren an. Siebert: Nein, es folgt eigentlich aus dem Bemühen, ein Unternehmenskonzept zu entwickeln, wie Herr Hoffmann das andiskutiert hatte. Baentsch: Dann möchte ich damit den ersten Teil abschließen. Ich habe jetzt das Problem, zwischen Theorie und Praxis nicht ganz die Brücke zu finden, was den weiteren Ablauf anlangt. Ich möchte aber doch Ihnen allen Gelegenheit geben, zum zweiten Komplex, nämlich zur Lage von Industrie, Dienstleistungen und Landwirtschaft Ihre Meinungen kurz auszutauschen. Meinerseits möchte ich ein Wort aufgreifen, das gestern Herr Professor Willgerodt gebraucht hat, nämlich das Wort von der Arroganz des Westens, die er am Werke sieht. Die Frage ist, ob wir nicht mitunter falsche Maßstäbe anlegen, ob nicht die wirtschaftlichen Einheiten in Ostdeutschland einfach zum Scheitern verurteilt sind, ob nicht außerdem eine Konsequenz dessen, wie es praktiziert wird, ist, daß außer ein paar Bauabteilungen und einer Vielzahl von Gaststätten nichts an nennenswerten Unternehmen i m Besitz von Menschen in Ostdeutschland bleibt. Oppenländer: Entscheidend ist die Einstellung der Menschen, und zwar sowohl in West wie in Ost. Im Augenblick wird immer wieder das „emotional-mentale" Problem angesprochen. Selbstverständlich haben die Leute i m Osten diese Wiedervereinigung gewollt, sie haben auch gewußt, daß Härten auf sie zukommen. Sie haben aber nicht gewußt — und das ist wohl das Entscheidende —, daß sie möglicherweise auf Dauer arbeitslos sein werden oder daß sie relativ rasch arbeitslos werden. Sie wollen ja arbeiten, sie

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wollen auch härter arbeiten, als sie das bisher getan haben. Man müßte ihnen also bestimmte Perspektiven eröffnen, und zwar in einer anderen Art und Weise, in also in einer bestimmteren, als das bisher geschehen ist. — Das ist die eine Seite. Die andere Seite: Es wird hier immer von Arroganz des Westens, von Besserwisserei gesprochen. Ich glaube, auch hier müßte die Atmosphäre etwas geklärt werden; es müßte gesagt werden: das ist keine Besserwisserei oder Arroganz, sondern das ist verständlich aus der Tatsache heraus, daß wir uns im Westen seit 40 Jahren bemüht haben, Auf- und Ausbauarbeit zu leisten, die Marktwirtschaft „zu erleben", und daß wir euch dies jetzt anbieten. Das hat meines Erachtens nichts mit Arroganz und auch nichts mit Besserwisserei zu tun. Das heißt, beide Seiten, Ost und West, müßten diese emotional-mentalen Dinge sehen und müßten aufeinander zugehen. Dabei möchte ich noch eine Bemerkung zu den Leuten in Ostdeutschland machen. Es geht nicht darum, zu warten, bis etwas befohlen oder angeordnet wird — wie das bisher war —, sondern es geht darum, daß man eigeninitiativ wird, daß man selber versucht, etwas zu tun. W i r brauchen also im Osten in erster Linie die Eigeninitiative, wir brauchen kreative Forscher, wir brauchen wagemutige Unternehmer, wir brauchen risikobezogene Bankiers, wir brauchen Abgeordnete und Regierungsbeamte, die in der volkswirtschaftlichen Verantwortung mitziehen. Ich glaube, das ist viel wichtiger als das Reden über die Treuhandanstalt und über die Investitionsförderung, die aus dem Westen kommt. Baentsch: Ganz konkret und to whom it may concern die Frage: Wieso mußte ein Unternehmen wie Polygraph kaputtgehen? Wäre es richtig gewesen, Zeiss Jena zu einer unbedeutenden Abteilung von Oberkochen zu machen? Gibt es dazu Meinungen und Urteile? Siebert: Das ist ja wohl auch die Frage, die in den nächsten Monaten zu beantworten ist, letzten Endes auch von der Treuhand. Es geht darum: Inwieweit ist das, was in den Unternehmen vorhanden ist — nämlich die qualifizierten Arbeitskräfte, der Standort-Boden, die Gebäude —, für eine neue Konzeption tragfähig? Sie haben zu Anfang von den „Elefanten" gesprochen. Ich betrachte die Unternehmen der Ex-DDR gern als Kolosse, die einem kosmischen Schock ihrer Umgebung ausgesetzt worden sind, — i m Prinzip ein Dinosaurier-Problem! Das ist der eigentlich ursächliche Faktor. Die entscheidende Frage ist jetzt, inwieweit Unternehmen überlebensfähig sind. Dabei müssen wir das sicherlich im Sinne eines chapter eleven interpretieren, nämlich Übernahme der ökologischen Altlasten durch die Regierung. W i r müssen sicherlich auch — und das ist ja faktisch bei der Politik der Treuhand schon der Fall — die Altschulden total übernehmen,

Podiumsdiskussion bevor etwa ein Unternehmen schließen müßte. A l l dieses muß also erlassen werden. Dann reduziert sich das Problem auf die Frage: Ist da etwas, wo ich Investitionsmittel reinstecke und für zwei/drei Jahre — das ist ja bei Großinvestitionen durchaus der Fall — ein sogenanntes „cash-sink hole" habe, daß also die Periodenüberschüsse negativ sind, ich aber die Gewißheit habe, daß in vier, fünf oder sechs Jahren Gewinne anfallen und so insgesamt der Kapitalwert positiv ist? Das ist die abstrakte Frage: Inwieweit ist es möglich, durch Investitionen diese Einheiten überlebensfähig zu machen? Soweit sie selbst überlebensfähig sind und Zugang zum Kapitalmarkt haben — Herr Kantzenbach hat das angesprochen —, ist das überhaupt kein Problem. Aber das sind ja nur wenige Fälle. Baentsch: Mir scheint, das läßt sich definitiv positiv beantworten für den Fall der großen Regionalzeitungen. Dennoch werden diese Zeitungen nach meinen Informationen sämtlich ihren westdeutschen Verleger finden. Da ist für mich wirklich die Frage: muß das sein, und liegt das eigentlich i m Interesse der Pluralität, die wir gerade bei den Meinungsbildnern brauchen? Ho ff mann: Hier ist vielleicht im Ansatz etwas falsch gelaufen; aber ich glaube, das läßt sich noch korrigieren. Man hat bislang bei den Verkäufen immer daran gedacht — und das liegt ja auch zunächst auf der Hand —: W o gibt es denn jemanden, der praktisch genau das gleiche macht und der möglicherweise Interesse hätte, sich etwas zu erweitern oder etwas hinzuzukaufen? Man hat dabei vergessen, daß, wenn man einen Konkurrenten fragt, dieser auch noch ganz andere Interessen hat, nämlich seine eigene Position zu stärken und vielleicht auf diese Weise einen Konkurrenten auszuschalten oder stillzulegen. Meines Erachtens hätte man mehr abnehmer-orientiert vorgehen und sich eher daran orientieren sollen, wie die Abnehmer von Industrien, die deren Produkte in der Vergangenheit gekauft haben, die Überlebensfähigkeit des betreffenden Unternehmens sehen. Das hätte man bei der Beantwortung der Frage berücksichtigen müssen, an wen man das Unternehmen möglicherweise verkauft. Ich sehe nicht ein, warum man Zeiss in Oberkochen gefragt hat, statt der Abnehmer von Zeiss Jena, das ja offensichtlich in der Vergangenheit einen recht guten Markt hatte. Ich meine, man ist da ungewollt in eine Falle gelaufen und hat übersehen, daß man, wenn man die Konkurrenten fragt, Reaktionen auslöst, die gerade nicht zum Erhalt der Unternehmen führen, sondern zum Ausschalten. Oppenländer: Eine Zwischenfrage! Herr Hoffmann, Sie sagen immer: warum hat man nicht gefragt. Was heißt das? Ich meine, wenn es hier einen Interessenten, einen lebendigen Unternehmer gäbe, dann hätte er sich doch gemeldet. Also, es geht nicht allein um das Fragen, sondern darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß alle möglichen Interessenten in Erscheinung treten.

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Siebert: Das könnte man beheben, indem man — und das ist ja auch vorgeschlagen worden — a) den betreffenden Unternehmen in den ostdeutschen Ländern und b) auch einem potentiellen Investor das formelle Recht gibt, ein Angebot abzugeben, und die Treuhand dann zwingt, dieses Angebot in einem Bietverfahren aufzunehmen. Kantzenbach: Ich bin nicht sicher, ob im Falle Zeiss und i m Falle Polygraph überhaupt Angebote vorgelegen haben. Sie gehen alle davon aus, daß die Treuhand Zeiss Oberkochen und mögliche andere branchengleiche Anbieter i m Westen gezielt angesprochen hat und damit andere potentielle Nachfrager ausgeschlossen hat. Ist das tatsächlich der Fall? Die Firmen Zeiss und Polygraph sind so bekannt, daß, wenn es in Westdeutschland einen Interessenten gegeben hätte — Daimler, Siemens oder sonstwer —, dieser mit Sicherheit bis zur Treuhand vorgedrungen wäre und kundgegeben hätte, daß er das gern kaufen will. Es ist also die Frage zu stellen, ob das Szenario, wie Sie es darstellen, tatsächlich richtig ist. Ich kann mir das ehrlich gesagt nicht ganz vorstellen. Hinsichtlich der Zeitungen kenne ich die Verhältnisse etwas näher. Es wurde gesagt, hier sind branchengleiche Unternehmen, die ein Interesse daran haben, den Wettbewerb möglichst einzuschränken, zum Zuge gekommen. Bei diesen Zeitungen geht es um Regionalzeitungen, und dabei handelt es sich um räumlich begrenzte Märkte. Es sind ja nicht überregionale Zeitungen, die zur Diskussion stehen, sondern eben Regionalzeitungen; diese haben räumlich begrenzte Märkte, weil sie räumlich begrenzte Nachrichten bieten. Das Problem der sogenannten Ein-Zeitungs-Kreise haben wir auch in den westlichen Bundesländern. Eine Zeitung in einem Kreis in Sachsen steht nicht im Wettbewerb mit einer Kreiszeitung in Mecklenburg. Die Treuhandanstalt ist so vorgegangen, wie es in der Regel von Ökonomen gefordert wird, nämlich demjenigen den Zuschlag zu geben, der den höchsten Preis zu zahlen bereit ist, und das waren westdeutsche Medienkonzerne. Das Bundeskartellamt hat die Wettbewerbsschranke eingezogen; es hat also nicht zugelassen — das ist die gängige Rechtsprechung —, daß jemand, der auf dem Markt bereits als Medienanbieter tätig ist, die dortige Monopolzeitung erwirbt, weil das zu einer Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung geführt hätte. Es ist noch einen Schritt weiter gegangen: es hat nicht zugelassen, daß der gleiche Anbieter auf regionalen Märkten, die räumlich aneinanderschließen, Monopolstellungen erwirbt, weil man sagte, da gibt es den Rand-Wettbewerb zwischen den räumlichen Märkten, und den wolle man unbedingt aufrechterhalten. Ich kann also nicht sehen, wie man nach dem geltenden Recht auf diesen Zeitungsmärkten hätte weiter gehen sollen. Oder aber man muß jetzt grundsätzlich sagen: wir lassen das wirtschaftliche Prinzip außer acht — wonach derjenige zum Zuge kommt, der am meisten zahlt — und geben nur Bürgern aus den Ländern der ehemaligen DDR den Zuschlag.

Podiumsdiskussion Baentsch: Es bleibt festzustellen, daß es einen Verleger aus diesem Gebiet faktisch nicht mehr geben wird. Das kann man beklagen, und man kann es ganz mitleidslos sehen. In den neuen Bundesländern wird es sicherlich lebhaft beklagt werden; da bin ich ziemlich sicher. Und die Projekte rechnen sich! Sie sind alle kalkulierbar, und sie wären ohne weiteres auch finanzierbar. Kantzenbach: Gestatten Sie in dem Zusammenhang noch zwei Bemerkungen. Die erste Bemerkung: Natürlich ist es so — Sie hatten die Frage zu Anfang an Herrn Oppenländer gestellt —, daß Bürger aus den ostdeutschen Ländern kaum zum Zuge kommen, weil sie einfach nicht über das Vermögen verfügen, um Unternehmen in Konkurrenz mit westdeutschen Nachfragern zu erwerben. Das ist eine grundsätzliche Frage der Einkommensverteilung oder besser der Vermögensverteilung. Die ist global gelöst worden. Das hat aber nichts mit der Treuhand, dem Kartellamt usw. zu tun. Die zweite Bemerkung: Es ist gesagt worden, daß die Treuhand gleich zu Anfang in enger Zusammenarbeit mit dem Kartellamt gewisse Entscheidungen vornimmt. Dieses wird vom Kartellamt nachdrücklich zurückgewiesen. Die Situation ist vielmehr so, daß die Treuhand die Entscheidung alleine fällt und daß sie dann in einem Clearing-Prozeß zum Bundeskartellamt kommt. Das Bundeskartellamt seinerseits besteht darauf und hat wiederholt vorgetragen, daß es ausschließlich die Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung als Kriterium der rechtlichen Kontrolle zugrunde legt und dann gegebenenfalls sagt: dies können wir nicht genehmigen, etwas anderes können wir genehmigen!, daß es aber nicht in einem informellen Prozeß mit der Treuhand irgend etwas Undurchsichtiges in dieser Hinsicht fummelt. Baentsch: Ich hoffe, es ist in Ihrer aller Interesse, wenn ich zum Schluß — nachdem ich einige andere Punkte ausgelassen habe — noch zum Thema „Arbeitsmarkt" komme. Ich knüpfe da an die wahren Horrorzahlen an, die auf McKinsey zurückgehen. Ist das eine berufene Instanz oder nicht? Ich kann es kaum beurteilen. Aber die Zahl von 4,5 Millionen Arbeitslosen noch in diesem Jahr steht ja in dem i m „Spiegel" abgedruckten Auszug. Im übrigen möchte ich zum Komplex „Arbeitsmarkt" noch das Stichwort geben „Tarifautonomie", — die bislang, wenn ich das richtig sehe, als heilige Kuh galt. Sie steht jetzt nicht gerade in Nähe des Schlachthofs, aber immerhin auf dem Prüfstand, wie ich den Eindruck habe. Watrin: Ich darf noch ein anderes Stichwort nennen. Das Thema der Tarifautonomie ist i m Vortrag von Herrn Dönges an Hand der Vorschläge der Deregulierungs-Kommission ausführlich behandelt worden. Aber ich habe den Eindruck, daß in der deutschen Diskussion ein Vorschlag, der aus

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den USA kommt, nicht genügend aufgenommen wird, nämlich die Frage der Lohnsubvention. Wenn ich unser gegenwärtiges Vorgehen beschreibe, dann würde ich vereinfachend sagen: Unser Programm beruht im wesentlichen auf Kapitalsubventionen. Daraus folgt die Frage: Sollen wir noch Lohnsubventionen hinzufügen oder sollen die Subventionen bei den Investitionen durch Lohnsubventionen ersetzen werden? Ich darf noch einmal den Berkeley-Bericht zitieren: dort plädiert man für generelle Lohnsubventionen. Das unterscheidet sich erheblich von all dem, was wir bisher gemacht haben. Eine generelle Lohnsubvention würde ja bedeuten, daß auch die Beschäftigten subventioniert würden. Im Berkeley-Bericht wird behauptet, zu gegenwärtigen Lohnsätzen wären höchstens noch 8 % bis 10 % der Unternehmen in der ehemaligen DDR konkurrenzfähig; aber mit einer allgemeinen 75%igen Lohnsubvention — ich wiederhole: 75%! — könnte man die Zahl der Unternehmen, die im Markt zu halten wären, auf 80 % erhöhen. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang meine eigene Abneigung gegen Lohnsubventionen zum Ausdruck bringen. Sie schaffen ein Moralhazard-Problem. Auf der anderen Seite, wenn man Alternativen vergleichend heranzieht, etwa ABM-Maßnahmen oder künstliche Beschäftigung in Qualifizierungsfirmen — auch hier werden ja die Löhne subventioniert — kann man natürlich auch das Argument präsentieren: die sonst Arbeitslosen tun wenigstens noch nützliche Arbeit in den alten Unternehmen. Sie würden mit Hilfe von Lohnsubventionen Güter produzieren und nicht in einer A r t „Bewahranstalt" aufgefangen, wo sie eher „beschäftigt" werden als wirtschaftlich tätig sind. Baentsch: Es juckt wohl jeden, dazu etwas zu sagen. Die Frage ist, ob die Situation bei einer Lösung über Lohnsubventionen weniger künstlich ist. Hoffmann: Das Arbeiten mit Lohnsubventionen halte ich für einen Irrweg. So wie der Prozeß in den letzten Monaten gelaufen ist, ist zu befürchten, daß Lohnsubventionen den Lohnauftrieb noch verstärken würden. Wenn der Staat sich dazu bekennt, die zu hohen Löhne voll auszugleichen, dann sind die Schleusen geöffnet. Deswegen würde ich das rigoros ablehnen. Zur Tarifautonomie: Das Problem ist momentan, daß es i m Osten keine Tarifautonomie gibt, denn es gibt auf der Arbeitgeberseite keinen Tarifpartner. Insofern gibt es auch keine echten Tarifverhandlungen. Da sehe ich das Hauptproblem, und deswegen haben ja die Institute in ihrem Gutachten zur Gemeinschaftsdiagnose gesagt, daß es endlich einen Partner auf der Arbeitgeberseite geben muß. Baentsch: Man tut aber so; man hält die Fiktion aufrecht. Hoffmann: Aber es ist de facto nicht der Fall. Ich möchte einen weiteren Punkt ins Gespräch bringen: W i r haben ja von Anfang an argumentiert, daß die Ausdifferenzierung der Löhne ein zentraler

Podiumsdiskussion Aspekt ist, und zwar — wie Herr Dönges gestern betont hat — entsprechend den Knappheitsrelationen, regional und qualifikationsmäßig. Nun ist genau das Gegenteil erfolgt. W i r haben eine Nivellierung gehabt statt einer Ausdifferenzierung. Hier müßte meiner Ansicht nach auch das Gespräch mit den Gewerkschaften noch einmal eröffnet werden, damit sie sich diesem Aspekt stärker öffnen. Kantzenbach: Ich würde den Ausführungen von Herrn Hoffmann zustimmen. Dennoch ist die Lohnsubvention zumindest theoretisch ein interessanter Gedanke. Herr Dönges hat gestern sehr klar ausgeführt — was wir alle wissen — , daß in Ostdeutschland eine Situation besteht, bei der wir an sich niedrige Lohnkosten für die Betriebe brauchen, daß wir aber, um Arbeitskräfte dort zu halten, hohe Lohneinkommen benötigen. Diese Diskrepanz ist bei einem einheitlichen Arbeitsmarkt und einem einheitlichen Gütermarkt mit unterschiedlicher Produktivität kaum zu überbrücken. Da ist die logische Konsequenz: Lohnsubvention. Nur, ich bin auch der Auffassung, daß der Zug inzwischen wohl abgefahren ist. Das wäre ein mögliches Mittel gewesen, das man unmittelbar nach der Herstellung der Währungsunion hätte anwenden sollen. Nach meinem Wissen, Herr Watrin, ist das ja kombiniert worden mit dem Vorschlag des Lohnstopps. (Watrin:

In dem Berkeley-Vorschlag, ja!)

— Ich will mal das Szenario entwickeln, wie es hätte sein können: daß man das Lohnniveau bei ungefähr 30 % desjenigen der Westländer — wie man es unmittelbar nach der Umstellung 1 : 1 hatte — eingefroren hätte und darauf eine Lohnsubvention von 100 % gegeben hätte, so daß man auf der Einkommensseite ein Lohnniveau von 60 % des westdeutschen gehabt hätte, aber ein Kostenniveau von 30 %, indem man die Differenz durch Subventionen ausgeglichen hätte. Das wäre finanzierbar gewesen, wie Herr Milbradt dargelegt hat. Aber das ist Schnee von gestern, denn wir sind heute bei einem Lohnkostenniveau von 60 %, und die Frage stellt sich nicht mehr. W i r sind sehr massiv den Weg der Kapitalsubvention gegangen. Ich meine, man kann das jetzt kaum noch umstellen, denn — das ist gestern auch zum Ausdruck gekommen — die Zahl der Subventionsmaßnahmen ist im Augenblick schon so groß, daß sie auf die Investoren verwirrend wirkt. Insofern ist ein völliges Umschwenken auf die Lohnsubvention jetzt wohl nicht mehr möglich. Ich muß aber auch sagen, wenn wir das jetzt diskutieren: hinterher sind wir alle schlauer; vielleicht wäre das ein besserer Weg gewesen, aber die Frage stellt sich i m Augenblick nicht mehr. Baentsch: Wenn der Weg über Lohnsubventionen nicht mehr möglich ist, ist es dann überhaupt noch möglich — bei den Weichenstellungen, die erfolgt sind —, das komplette Desaster auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern? Ich denke insbesondere an Weichenstellungen in Richtung auf Parität bis 1994. 13 Konjunkturpolitik, Beiheft 39

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Siebert: Ich glaube, wir sind hier an einer wichtigen Nahtstelle. Aber ich möchte noch etwas zu dem Paper von Akerlof sagen. (Es ist ja tatsächlich ein Paper, kein Gutachten. Es verhält sich ähnlich, wie Nietzsche mal gesagt hat: Bei einer Theorie ist nicht ihr geringster Beitrag, daß sie falsch ist, denn gerade damit zieht sie feinere Köpfe an.) Ich meine, die Ausländer drängen uns sehr stark in die Lohnsubvention hinein, sie meinen, das sei das sinnvolle Instrument — auch jetzt noch —, aber sie kennen die institutionellen Bedingungen des deutschen Arbeitsmarktes nicht. Sie wissen nicht, was hier institutionell abläuft, sie kennen die Allgemeinverbindlichkeit nicht, und sie können insbesondere das Moral-hazard- Problem nicht abschätzen, das sich darin abzeichnet. Das Akerlof-Paper interpretiert die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland als eine Allokationsverzerrung und geht als Basis von einer wohlfahrtsökonomischen Vorstellung aus. Unter solchen Bedingungen sind in der Tat Steuern und Subventionen geeignet, um Verzerrungen abzubauen. Das Paper verkennt aber völlig, daß der Einbruch in den neuen Bundesländern ein Transformationsproblem ist, also ein dynamisches Problem, und ein solches Transformationsproblem kann man nicht mit den üblichen Ansätzen der Allokationsverzerrung analysieren. Ich meine, man müßte, nachem die Abschlüsse nun einmal so stehen, zumindest von jetzt an für eine Ausdifferenzierung der Lohnstruktur plädieren und im Sinne einer Ausrichtung der Lohnerhöhungen an den Knappheitsrelationen oder der Produktivität argumentieren. Das bedeutet aber auch, Herr Kantzenbach, daß das Mobilitätsproblem über die Ausdifferenzierung der Lohnstruktur gelöst wird. Denn die hochqualifizierten Kräfte, die eine Chance haben, im Westen zu arbeiten, bekommen dann einen höheren Lohn. In der jetzigen Situation dürfen wir auch eine Pendlerbewegung von 300 000 oder eine Abwanderung von 10 000 pro Monat nicht dramatisieren. Das ist auch ein möglicher Anpassungsmechanismus in dem gesamten Konzert. Man sollte auch sehen, daß wir durch die Vereinigung in Deutschland insgesamt relativ zum Kapital mehr Arbeit bekommen haben, und das muß irgendeine Konsequenz für die Lohnbildung, auch im Westen, haben. Für die neuen Bundesländer möchte ich noch einmal den Gedanken der Qualifizierungsscheine aufgreifen. Jeder erhält einen Qualifizierungsschein, der zeitlich befristet ist, etwa auf sechs Monate, und der bei irgendeiner Firma, die ein Qualifizierungsprogramm durchführt, auch bei Handwerkern und gegebenenfalls i m Westen, eingereicht werden kann. Der Qualifizierungsgutschein hat einen Wert sagen wir von 10 000 D M und soll dieser Unternehmung die Qualifizierungskosten ersetzen. Mit einem solchen Programm sollte man versuchen, durch einen spontanen Prozeß dezentral ein Qualifizierungsangebot in den bestehenden und insbesondere in den neuen Unter-

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nehmen zustande zu bringen. Das wäre eine Möglichkeit, etwas Dynamik in den Arbeitsmarkt zu bringen. Wenn Sie so wollen, ist dies eine Lohnsubvention für Arbeitslose, befristet für einen gewissen Zeitraum. Es hätte den Vorteil, daß bei einer solchen Maßnahme die Qualifizierung auf die Zukunft, auf das Neue ausgerichtet ist. Und es wäre sicherlich ein Angebot für Qualifizierung, das wesentlich besser ist als das, was von Kommunen oder Wohlfahrtsverbänden durchgeführt wird und eher vergangenheitsorientiert ist. Auch wäre es vorteilhaft gegenüber den Beschäftigungsgesellschaften. Baentsch: Professor Oppenländer, halten Sie das für richtig und gegebenenfalls auch für realisierbar, was Professor Dönges gestern an notwendigen Maßnahmen empfohlen hat: die größere Spreizung der Lohnskala (was eben auch Professor Siebert noch einmal angezogen hat), den betriebsnahen Tarifvertrag, die erfolgsabhängige Lohnkomponente und die Arbeitnehmerbeteiligung am Produktivkapital? Oppenländer: Prinzipiell ja. Man müßte in einige Einzeldiskussionen eintreten. Ich bin ζ. B. nicht sicher, ob der Tarifvertrag für Betriebe immer so günstig ist. Man liest gerade wieder, daß V W sehr unglücklich mit dem Hausvertrag ist, den man dort hat. Ich möchte aber nicht in die Einzelheiten gehen. Ich darf nur darauf hinweisen, Herr Siebert, daß — wie schon die gestrige Diskussion über die Qualifikationsscheine ergeben hat — nicht einmal die westdeutschen Arbeitnehmer in der Lage sind, so etwas zu handhaben. W i e sollen dann die Leute in Ostdeutschland, die ja noch viel vorsichtiger sind, dazu in der Lage sein? (Siebert: Warum sind die nicht in der Lage, so etwas zu tun?) — Das ist gestern diskutiert worden. Insgesamt möchte ich sagen: Sicherlich ist das alles zu begrüßen, und man sollte auch in dieser Richtung gehen. Nur, das allein löst nicht das Problem der Arbeitslosigkeit. Es muß versucht werden, die Investitionen zu forcieren. Daran führt kein Weg vorbei. Ich darf Ihnen zwei Ergebnisse unserer Befragung nennen: Das eine Ergebnis war, daß die westdeutschen Firmen, die in Ostdeutschland investieren wollen, in der Lohnhöhe keinen besonderen Hinderungsgrund sehen. Es gibt andere, wichtigere Hinderungsgründe, ζ. B. die unklaren Eigentumsverhältnisse. Also, die Lohnhöhe spielt keine große Rolle. Ich führe das darauf zurück, daß die Unternehmenserwartungen in Richtung gleiche Löhne in Ost und West in absehbarer Zeit wegen des gegebenen einzigen Arbeitsmarktes in die Investitionskalkulationen Eingang gefunden haben. Lohnsubventionen wären also kein entscheidendes Mittel, um Abhilfe schaffen zu können. 13·

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Zweitens sehen wir aus unseren Befragungen, daß die Investitionsbereitschaft eindeutig zunimmt. Westdeutsche Unternehmen werden Investitionen in Höhe von 10 Milliarden D M in Ostdeutschland tätigen. In 1992 wird es sich voraussichtlich um 15 Milliarden D M handeln. Es deutet sich also ein Trend nach oben an. Daß es zu wenig ist, in bezug auf die Lösung der Arbeitslosenprobleme, ist auch richtig. Selbst 15 Milliarden D M an Investitionen in 1992 werden uns aus dieser Misere kaum befreien. Baentsch: Erforderlich wäre eine Größenordnung von 50 Milliarden DM. Oppenländer: Es müssen noch weit mehr Investitionen getätigt werden, — wobei all diejenigen Probleme wieder auftauchen, von denen wir heute und gestern gehört haben. Es geht auch um öffentliche Investitionen, und darum, sie möglichst rasch umzusetzen. Baentsch: Eine Frage aus dem Zuhörerkreis? Freitag (Köln): Wenn ich das richtig verstanden habe, haben Sie die Lohnkosten nicht als Determinante für die Investitionen angesehen. Aber kann es nicht sein, daß viele der von Ihnen befragten Unternehmen auf Grund der Lohnhöhe sowieso resigniert haben? Also, die Voraussetzungen, von denen Sie ausgehen, scheinen nicht ganz realistisch zu sein. Oppenländer: Es sind zwei Fragenkomplexe zur Anwendung gekommen: Einmal die Fragen nach den Investitionshindernissen, zum anderen die Fragen nach den Investitionsmotiven. Als Resultante ergab sich die Investitionshöhe. Bei den Investitionsmotiven war am häufigsten die Nähe zum Absatzmarkt Ostdeutschland genannt worden. Offenbar spielen doch die Absatzerwartungen eine ganz große Rolle, — natürlich abgewogen mit der Kostenseite. Daraus habe ich die Vermutung abgeleitet, daß die Lohnkosten als Investitionshindernis nicht die entscheidende Rolle spielen. W i r haben allerdings nicht gefragt — was wir vielleicht hätten fragen sollen, und das ist Ihr Punkt —: Sind daraufhin keine Investitionen geplant worden? Siebert: Aber, Herr Oppenländer, diese Umfrage reflektiert doch die Struktur der bestehenden Unternehmen; die neuen sind nicht einbezogen. Die Untersuchungen ζ. B. des Instituts für Weltwirtschaft haben ergeben, daß die alten Sektoren, die gefördert werden, die Lohnführerschaft übernehmen und das Entstehen neuer Unternehmen verhindern. W i r müssen doch auch sehen, daß die Lohnpolitik die Eingangsbedingungen für die neuen Unternehmen definiert. Von daher würde ich dieses Urteil, daß die Lohnhöhe da keine Rolle spielt, gerade im Hinblick auf die Neuen nicht teilen. Oppenländer: Ich glaube, hier liegt ein Mißverständnis vor. W i r haben westdeutsche Unternehmen befragt, nicht ostdeutsche.

Podiumsdiskussion Kantzenbach: Ich glaube, man muß hinsichtlich der Lohnhöhe zwei Dinge unterscheiden. Meines Erachtens wäre der Beschäftigungseinbruch in den ostdeutschen Ländern nicht so schnell erfolgt, wenn die Löhne nicht so schnell gestiegen wären, weil die alten Unternehmen, die jetzt ausscheiden müssen, dann einen geringeren Wettbewerbsdruck gehabt hätten. Das muß man trennen von der Investitionsentscheidung westdeutscher Unternehmen, die jetzt neu in den Markt eintreten. Ich kann mir kaum vorstellen, daß westdeutsche Unternehmen, die jetzt eine langfristige Kapitalbindung in den ostdeutschen Ländern vornehmen, vom gegenwärtigen Lohnniveau ausgehen. Denn jeder Unternehmer kann sich ausrechnen, daß spätestens in zehn Jahren das Lohnniveau angeglichen sein wird. Und wer eine langfristige Kapitalbindung vornimmt, der geht nicht von kurzfristigen Lohnvorteilen aus. Aber das ist etwas ganz anderes als das Wegbrechen der alten Unternehmen, die nun nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Die hätten zwei oder drei Jahre länger am Markt bleiben können, wenn dieser Lohnanstieg langsamer vor sich gegangen wäre. (Oppenländer: Strukturen!)

Was hätten wir dann gehabt? Die Konservierung alter

— Natürlich will keiner auf Dauer alte Strukturen konservieren. Aber bisher sind Strukturwandlungen immer zeitlich gestreckt worden. Ich brauche als Paradebeispiel nur die Bildung des gemeinsamen Marktes der Europäischen Gemeinschaft zu nennen. Es hat niemand daran gedacht, die Zölle von heute auf morgen abzubauen, sondern dabei handelte es sich um ein schrittweises Programm. Und wenn die Löhne nur langsam gestiegen wären, wären die Beschäftigungen länger und die Anpassungsmöglichkeiten größer gewesen. Daß das aus politischen Gründen nicht ging, ist eine zweite Frage. Aber wir müssen als Ökonomen doch anerkennen, daß ein langsamer Strukturwandel größere Beschäftigungschancen gegeben hätte. Baentsch: Der Versuch einer Zusammenfassung verbietet sich schon vom Thema her. Deutsch-deutsche Integration ist ein Prozeß, und zwar ein Prozeß, in dem sehr viel Hoffnung steckt. Ich befürchte, daß bis auf weiteres die düsteren Nachrichten das Bild beherrschen werden. Das heißt, Ihr Sachverstand — derjenige aller Ihrer Institute — wird ganz nachhaltig von der Regierung, von der Öffentlichkeit insgesamt gefordert sein. Ich danke Ihnen sehr für Ihre engagierte Beteiligung und für Ihr aktives Interesse. (Beifall)

Teilnehmerverzeichnis Leiter der Tagung:

Karl-Heinrich Oppenländer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute

Mitgliedsinstitute : Berlin: Berlin: Bonn: Bonn: Braunschweig:

Düsseldorf:

Essen:

Hamburg:

Hannover:

Kiel:

Köln: Köln:

Osteuropa Institut an der Freien Universität Berlin Manuach Messengießer Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Karl Brenke, Lutz Hoffmann Institut für Mittelstandsforschung Ljuba Kokalj, Wolf Richter Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn e. V. Adrian Ottnand Institut für landwirtschaftliche Marktforschung der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft Hans Eberhard Buchholz Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes GmbH Hartmut Küchle, Bernd Mühlhaupt Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung Heinz Schrumpf HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung Hans-Hagen Härtel, Erhard Kantzenbach, Dietmar Keller Niedersächsisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. Harald Legier Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel Klaus-Werner Schatz, Klaus-Dieter Schmidt, Horst Siebert Institut der deutschen Wirtschaft e. V. Werner Dichmann, Winfried Fuest, Rolf Kroker Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln Berthold Busch, Juergen Dönges, Andreas Freytag, Axel Ramil, Philipp Tremblau, Christian Watrin, Jürgen Wieners, Hans Willgerodt

200 München:

München: Münster:

Nürnberg: Tübingen: Wiesbaden: Ministerien:

Bundeskanzleramt: Organisationen:

Teilnehmerverzeichnis — Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung e.V. Willi Leibfritz, Karl Heinrich Oppenländer, Benedikt Thanner, Arthur Krumper (Generalsekretär der ARGE) — Osteuropa Institut Wolfram Schrettl — Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktforschung an der Universität Münster Friedrich Aumann — Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Friedrich Buttler — Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung Uwe Hochmuth, Günther Klee — Statistisches Bundesamt Wolfgang Strohm — Bundesministerium der Finanzen Horst Schöberle — Bundesministerium für Post und Telekommunikation Heinz Berger — Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Gertrud Schulte — Bundesministerium für Wirtschaft Johann Eekhoff, Bernhard Heitzer, Norbert Hoekstra, Thomas Knebel, Horst Lehmeier, Harald Rodeck, Andreas Storm — Staatsministerium der Finanzen, Sachsen Georg Milbradt Jochen Homann — Bundesverband der deutschen Industrie, Köln Karl Dieter Klages, Reinhard Kudiß — Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken e.V., Bonn Heinrich Bayer — Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, Köln Alexander Barthel, Elisabeth Neifer-Dichmann — Deutscher Sparkassen- und Giroverband, Bonn Hartmut Forndran — Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt Lothar Julitz — Gemeinsames Statistisches Amt, Berlin Oswald Angermann

Teilnehmerverzeichnis Gemeinschaft zum Schutz der deutschen Sparer, Bonn Werner Steuer Handelsblatt, Düsseldorf Helmut Kipp Institut für Agrarpolitik, Marktforschung und Wirtschaftssoziologie an der Universität Bonn Wilhelm Henrichsmeyer Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Berlin Manfred Wegner, Klaus Werner Nachrichtenagentur Reuter, Bonn Marcus Kabel Sachverständigenrat, Wiesbaden Joachim Ragnitz Treuhand-Anstalt, Berlin Hilmar Schmidt Wirtschaftswoche, Düsseldorf Wolfram Baentsch, Hans-Peter Cannibol