Die Denkfigur des Systems im Ausgang von Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung« [1 ed.] 9783428540228, 9783428140220

Ist das philosophische System noch eine Option, um das Ganze zu denken oder, mit Hegel gesprochen, die eigene Zeit in Ge

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Die Denkfigur des Systems im Ausgang von Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung« [1 ed.]
 9783428540228, 9783428140220

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Philosophische Schriften Band 80

Die Denkfigur des Systems im Ausgang von Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ Herausgegeben von Hartwig Wiedebach

Duncker & Humblot · Berlin

HARTWIG WIEDEBACH (Hrsg.)

Die Denkfigur des Systems im Ausgang von Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“

Philosophische Schriften Band 80

Die Denkfigur des Systems im Ausgang von Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“

Herausgegeben von

Hartwig Wiedebach

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-14022-0 (Print) ISBN 978-3-428-54022-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84022-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Walther Ch. Zimmerli Systemzwang. Vollendung philosophischen Denkens oder logozentristische Paranoia? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wilhelm Schmidt-Biggemann Rosenzweigs Konzept von System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karen Gloy System und Zeit bei Franz Rosenzweig vor dem Hintergrund diverser Systemtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Krijnen Rosenzweigs Stern der Erlösung im Spiegel des Systems der Philosophie . . . . .

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Kurt Walter Zeidler Unzeitgemäße Bemerkungen zu Franz Rosenzweigs Beitrag zum Universalienproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hartwig Wiedebach Dilettantismus und Enthusiasmus als Triebkräfte des Systems: Cohen und Rosenzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Benjamin Pollock Metalogic and Systematicity: Rosenzweig’s Philosophical Debt to Hans Ehrenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Myriam Bienenstock Von Hegel zu Rosenzweig – und zurück. Unzeitgemäße Bemerkungen . . . . . . . 135 Elliot R. Wolfson Configuration of Untruth in the Mirror of God’s Truth: Rethinking Rosenzweig in Light of Heidegger’s Ale¯theia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Pierfrancesco Fiorato „In einer Schwebe zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit“. Über Hermann Cohens Polyphonie des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

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Inhaltsverzeichnis

Andreas B. Kilcher Enzyklopädie und System 1800/1900: Von D’Alembert bis Rosenzweig . . . . . . 175 Warren Zev Harvey Maimonides’ Guide: A System-lover’s Critique of Systematic Philosophizing

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Rainer-M. E. Jacobi Vom System zum Fragment. Anmerkungen zur Denkform der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Einleitung Ist die Figur des Systems noch eine Option für den Versuch, das Ganze zu denken oder, mit Hegels berühmter Formulierung, die eigene „Zeit in Gedanken“ zu fassen? In der Philosophie ist die Denkfigur des Systems nach einer letzten Blüte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts weitgehend aus der allgemeinen Debatte verschwunden. Zwar gibt es nach wie vor Vorschläge für Systeme der Philosophie. Aber es sind vor allem die Gegeninstanzen ins Profil getreten: etwa die materiale und methodische Ausdifferenzierung der Wissenschaften, die in der westlichen Welt allseits empfundene Verpflichtung, sich auf andere Kulturen hin offenzuhalten, und die vielfachen Bemühungen um eine Hermeneutik geschichtlich-biographischer Phänomene bis hin zu einer Philosophie des Lebens und des Seins im allgemeinen sowie des Alltagslebens im besonderen. Diesem Rückgang des Systems in der Philosophie steht eine Konjunktur in anderen Bereichen gegenüber. Allerorten trifft man auf Systemkonzepte, wo es um die Theorie bestimmter Teilbereiche der Welt, des Lebens oder des Menschseins in kosmologischer, ökologischer, ökonomischer, biologischer, soziologischer oder psychologischer Hinsicht geht. Aber weder, um zwei Beispiele zu nennen, die Systemtheorie der Biologie noch Luhmanns Soziologie stellen sich in eine direkte Nachfolge zu jenen älteren philosophischen Bemühungen, in einem System das Ganze zu denken. Das anarchische Moment, das den erwähnten Gegeninstanzen innewohnt, überhaupt das Bewusstsein vom Fragmentarischen alles Mach- und Erreichbaren widerspricht – so scheint es – zumindest in der Philosophie der Gedankenform des Systems. Will man dennoch die Frage nach dem Ganzen als eines grundlegenden Motivs philosophischen Fragens, ja des Denkens überhaupt, nicht aufgeben, so muss trotz jener Einwürfe die Denkfigur des Systems noch einmal kritisch erörtert werden, und dies in neuen, noch wenig bedachten Weisen. Franz Rosenzweig (1886 – 1929) hat ein System aufgestellt, das jene anarchischen Momente nicht verleugnet, sondern sich – gerade umgekehrt – aus solchen Momenten heraus speist. Er nannte sein Hauptwerk, Der Stern der Erlösung von 1921, ausdrücklich ein „System der Philosophie“. Der Begriff „Denkfigur“ wird hier bildhaft. Eine Sterngestalt, genauer: der jüdische Davidstern wird zum graphischen Generator. Ziel ist, das Ganze zu denken und dabei unmittelbar erfahrbar Gestalt werden zu lassen. Die unverstellte Faktizität des Anarchischen soll so gedacht und bedacht werden, dass daraus eine tragfähige Wegleitung für das menschliche Leben hervorgeht. Ansatzpunkt ist die in den Alltag hinein wirkende Angst vor dem Tod. Aus dem Wissen um die unzähligen inkommensurablen Momente, in denen das eigene NichtSein-Werden seine Macht ausübt, soll das System der Wegleitung erhoben werden.

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Einleitung

Die Angst durch ihre begrifflichen Sublimationen hindurch festzuhalten, bleibt der durchwirkende Indikator für jene Unmittelbarkeit. Das Bildungsprinzip des Systems ist ein streng komponiertes Netz von Denk- und Glaubenserfahrungen. Die Person wird zur „Form der Philosophie“; System ist Lebensgestalt. Darüber, ob diese Inkarnation des Stern-Systems möglich ist, entscheidet nicht nur die darstellerische und gedankliche Kohärenz des geschriebenen Buches, sondern das Gelingen oder Misslingen einer an ihm erworbenen Haltung zu Leben und Sterben. „Neues Denken“ war Rosenzweigs Name für dieses selbstbewusste Konzept. Nun ist, wie nicht anders zu erwarten, vieles daran so neu nicht. Die Bindung vor allem an Schelling und an die Romantik eines Friedrich Schlegel und eines Novalis, aber auch an das System Hegels ist eng – deutlich enger, als Rosenzweigs Polemik gegen den letzteren es suggeriert. Er selbst hat sich immer wieder zu der klassischen Systemidee, wie sie von Kant formuliert wurde und für die folgenden 100 Jahre leitend blieb, in ein differenziertes Verhältnis gesetzt. Bekannt geworden sind die Veröffentlichung (1914) jenes Hegelschen Manuskriptes, von Rosenzweig Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus genannt und Schelling zugeschrieben, sowie seine Abhandlung Hegel und der Staat von 1920. Und es braucht in der Sache kein strikter Gegensatz zu sein, wenn er vor allem in späteren Jahren seine tiefe Sympathie für Gegner des Systems, etwa Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger, oder auch für das Denken Jehuda Halevis zum Ausdruck brachte. Die Arbeiten des vorliegenden Bandes nehmen von dieser Problemlage ihren Ausgang. Walther Ch. Zimmerli konkretisiert die generelle Frage von Systembildung überhaupt sowie die des philosophischen Systems im besonderen und schließt mit einer kritischen Würdigung von Konzepten der gegenwärtigen Debatte. Wilhelm Schmidt-Biggemann führt daraufhin in das System Franz Rosenzweigs ein. Er rückt ihn vor den Hintergrund zeitgenössischer Diskussionen und zieht Linien in philosophisch-theologische Prinzipienfragen der abendländischen Geistesgeschichte aus. Karen Gloy und Christian Krijnen ergänzen den Rückblick durch eine eher formale Klassifikation unterschiedlicher Systemkonzepte. Erst dieser Verschiedenheit gegenüber wird Rosenzweigs Stern in seiner Besonderheit sichtbar. Er hat seine Gültigkeit einer Vielheit anderer Systemoptionen gegenüber zu bewähren und lässt neben der Eigenart auch seine Begrenztheit erkennen. In diese Linie gehört auch Kurt Walter Zeidlers skeptische Reflexion auf Rosenzweigs Denkstil, der unter dem Licht des Universalienproblems ein prägnant problematisches Profil zeigt. Hartwig Wiedebach dekonstruiert das Systemdenken auf eine die Person treibende Motivationslage hin und setzt Rosenzweig in Kontrast zu seinem Mentor Hermann Cohen. Benjamin Pollock bringt mit Hans Ehrenberg und dessen Begriff des Metalogischen einen wichtigen Freund und kaum zu überschätzenden Geburtshelfer dieses „neuen Denkens“ ins Spiel. Myriam Bienenstock wendet den Blick noch einmal zurück auf Rosenzweigs grundlegende Erfahrung mit dem Denken Hegels. Elliot Wolfson schließlich geht über die konstruktive Perspektive des Stern hinaus, indem er die Wahrheit, das Ziel dieses Systems, ins Zentrum rückt. Als Sich-Offen-

Einleitung

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baren und gleichzeitiges Sich-Verbergen – die Analogie zu Heideggers aletheia ist auffällig – entzieht sich die Wahrheit jeder Konstruktion. Andreas Kilcher leitet die Reihe der Beiträge ein, die, von Rosenzweig angeregt, ihren Schwerpunkt in anderen Systemgestalten haben. Sein Augenmerk gilt den Systemideen der französischen und deutschen Enzyklopädistik sowie der Romantik, die gerade durch ihren Gegensatz zu Hegels Enzyklopädie auf Rosenzweig hinweisen. Warren Zev Harvey illustriert die Ambivalenz des Systemdenkens an Maimonides, einem in hohem Maß systemorientierten Denker, solange es um die traditionelle Lehre und Praxis des jüdischen Lebens geht, und doch so offensichtlich antisystematisch in der Grundlegung einer von prophetischer Erfahrung durchdrungenen philosophischen Erkenntnishaltung. Durch Pierfrancesco Fiorato kommt noch einmal das System Hermann Cohens in den Blick, diesmal als eine lockere, an-archische und wesentlich ästhetisch, ja musikalisch inspirierte Struktur von „Zusammenstimmung“ und „Einklang“. Und schließlich macht uns Rainer-M. E. Jacobi mit den Motiven bekannt, die Rosenzweigs Freund Viktor von Weizsäcker nach einer für seine Medizinische Anthropologie geeigneten Denkfigur des Systems suchen ließen. In der ärztlichen Professionalität angesichts des Leidens wird die systematische Bedeutung des Antisystematischen unmittelbar plastisch. Dem Thema dieses Bandes widmeten das Hermann Cohen-Archiv der Universität Zürich und der Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich eine Tagung vom 4. bis 7. Mai 2011. Dank Prof. Kilcher und der Vermittlung durch Katrin Sträuli konnten wir die schönen Räume des Zürcher Collegium Helveticum und der Villa Hatt für unsere Gespräche nutzen. Gleichwohl ist dieses Buch kein reiner Tagungsband. Eine Reihe zusätzlich eingeworbener Beiträge erhöht die Facettenvielfalt des hier versuchten Bildes. Allen Autoren gilt mein herzlicher Dank. Und er gilt desgleichen Dr. Florian Simon, dem Verleger von Duncker & Humblot, der durch seine Initiative diesem Band einen angemessenen Ort gegeben hat. Zürich im September 2012

Hartwig Wiedebach

Systemzwang Vollendung philosophischen Denkens oder logozentristische Paranoia? Walther Ch. Zimmerli Das Denken in Systemen hat sowohl durch die Philosophie des Deutschen Idealismus am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als auch durch das Aufkommen der Systemtheorie im 20. Jahrhundert eine Hochkonjunktur erlebt, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Wer sich gegenwärtig eingehend in nicht nur historischer, sondern auch systematischer Absicht mit diesem Thema befasst, tut daher gut daran, den Kontext genauer zu spezifizieren, in dem dies geschieht. Zu diesem Zwecke seien drei Leitthesen vorangestellt: Meine erste These – und das wird niemanden verwundern – lautet, dass die Beschäftigung mit Technik und nicht die Beschäftigung mit Wissen der Anfang des Philosophierens ist. Erst im nächsten Schritt gerät Philosophieren dann in den Prozess, in den Philosophieren immer gerät, nämlich in den Prozess des Abstrahierens. Und erst am Ende dieses Prozesses des Abstrahierens sind wir bei der Frage nach Wissen oder gar nach Wissenschaft angelangt. Meine zweite These lautet, dass die Art und Weise, wie diese Beschäftigung mit Technik geschieht, von allem – jedenfalls schriftlich überlieferten – Anfang an „System“ heißt (von griechisch „synhistemi“, das Zusammenstellen). Das ist es, was der Begriff des Systems beschreibt: das, was handwerklich tätige Menschen tun, und es findet sich spätestens seit Platon immer wieder der Gedanke, dass dieses Können des Zusammenstellens es ist, was eigentlich dem Wissen zugrunde liegt. System ist damit also das technisch-handwerkliche Zusammenstellen von … Und meine dritte These besagt, dass das, was daraus abgeleitet wird, das wissensorganisierende Verständnis von System, zwar durch die Geschichte des Denkens hindurch immer wieder diese ursprüngliche Bedeutung des Technischen zurückdrängt, dass aber zugleich überall dort, wo dieses wieder zum Vorschein kommt, die Wissensbedeutung des Systems eine neue Gestalt annimmt. Das müsste nun im Einzelnen historisch ausdifferenziert werden, da es dazu keine „große Erzählung“, keine methodische Ableitung innerhalb der Philosophie gibt, weil diese Vorgänge kontingent sind, also von philosophie-externen Faktoren abhängen. Die derzeitige Renaissance des Systemgedankens etwa belegt das deutlich: Wir haben vermutlich noch nie einen solchen Boom des Systemdenkens erlebt wie in den letzten fünf Jahrzehnten, auch nicht um 1800, aber diese Blüte ereignet sich nicht in der Philosophie, sondern

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Walther Ch. Zimmerli

stattdessen in allen möglichen Bereichen der Lebenswissenschaften, der Biologie, der Theorie selbstorganisierender Systeme, in dem Bereich der Informationswissenschaften, kurz: sie ereignet sich außerhalb des klassischen Bereiches der akademischen Philosophie. Sich dies immer wieder in Erinnerung zu rufen, ist insbesondere dann erforderlich, wenn schlanke Thesen Konjunktur haben, wie etwa diejenige, dass das Systemdenken aufgehört habe oder dass das systematische Philosophieren durch das Auftreten des Philosophen ersetzt werde. Diese nackten Behauptungen – Hegel würde sagen: dieses trockene Versichern – nimmt jedoch eine andere Gestalt an, sobald wir sie kontextualisieren, und genau das will ich im Folgenden in insgesamt fünf Schritten tun. In einem ersten Schritt möchte ich das Verhältnis von Wissen und Organisation thematisieren (I.), um in einem zweiten Schritt, zwar ohne expliziten Bezug auf Heisenberg, aber der Sache nach an diesen anknüpfend, über das Verhältnis von Teil und Ganzem nachzudenken (II.). Der mittlere Teil meiner Überlegungen wird sich mit dem Hauptärgernis (im Sinne von „problema“, d. h. im Sinne von „Anstoß“) befassen, nämlich mit der Philosophie des Deutschen Idealismus und hier insbesondere mit dessen Systemgedanken (III.). Im vierten Schritt wird es um den Abschied vom System gehen und damit zugleich um die Austreibung des Geistes aus den Wissenschaften, mit anderen Worten: um die Geburt der Geisteswissenschaften im modernen Sinne (IV.), und danach will ich abschließend die Frage aufwerfen, wer oder was die Systeme denn eigentlich organisieren soll (V.). Obwohl es sich dabei um ihrerseits systematische Überlegungen und nicht um Rosenzweig-Interpretationen handelt, sei als Motto für Rosenzweigs Thematisierung des Systemgedankens eingangs auf einen einzigen Satz im ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus verwiesen, das bekanntlich 1914 von Rosenzweig herausgegeben und von ihm Schelling, 1926 von Böhm Hölderlin und 1965 von Pöggeler Hegel zugeschrieben worden ist. Diese wechselnde Zuschreibungsgenealogie zeigt die Fragwürdigkeit individualistischer Autorschaft auf; letztlich könnten die darin geäußerten Gedanken aus der Feder von jedem dieser drei Denker stammen, da sie vermutlich Resultat eines Diskurskontextes, der Tübinger „Konstellation“ (Henrich)1 sind. In diesem Systemprogramm-Fragment findet sich nur an einer einzigen Stelle der Begriff „System“: „Da die Metaphysik künftig in die Moral fällt […], so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was das selbe ist, aller praktischen Postulate sein“.2 Das System aller Ideen – so die Meinung dieser Tübinger Diskurskonstellation – ist primär praktisch. Warum nun, so könnte man fragen, war Rosenzweig daran interessiert, dieses Systemprogramm herauszu1 Vgl. D. Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789 – 1795). Stuttgart 1991. 2 G. W. F. Hegel, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Werke in 20 Bänden. Bd. 1, Frankfurt 1971, S. 234; vgl.: Mythologie der Vernunft. Hegels ,ältestes Systemprogramm‘ des deutschen Idealismus, hg. von C. Jamme/H. Schneider. Frankfurt am Main 1984; oder F.-P. Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (G. W. F. Hegel). Rezeptionsgeschichte und Interpretation. Berlin 1989.

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geben? Die naheliegende Antwort wäre: weil er sich mit vielem darin Geäußerten selber befasste. Das wird deutlicher, wenn man noch einige weitere Gedanken hinzunimmt, die in diesem insgesamt nur wenige Seiten umfassenden programmatischen Text zu finden sind: Nicht nur die Menge, sondern auch der Philosoph bedürfe einer stärker sinnlichen Religion, liest man dort; Monotheismus der Vernunft und des Herzens, aber Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst seien es, wessen wir bedürften, und einen Absatz später endet dieser kurze Text mit der emphatischen Formel: „Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.“3 In diesen Zeilen hört man unverkennbar auch den Berner und Frankfurter Hegel, und man hört auch ein wenig den Rosenzweigschen Hegel, wenn man so will. Nun wäre es gewiss eine reizvolle Aufgabe, den jungen Hegel und Rosenzweig zu vergleichen, und zwar einfach deswegen, weil Rosenzweig zwar den jungen Hegel rezipiert, sich aber mit ihm kritisch in dieser Form jedenfalls später nicht auseinandergesetzt hat; aber hier soll es, wie gesagt, um Anderes gehen. I. Wissen und Organisation Die erste Frage, der wir uns zuwenden wollen, lautet: Was hat System mit Wissen, und was hat Wissen mit Organisation zu tun? Gemäß der uns nach der erwähnten Ausblendung der handwerklichen Wurzeln überlieferten Quellenlage bedeutet Wissen zunächst nichts anderes als Repräsentation der Welt, und zwar im schriftlichen Denken platonischer Form. Repräsentation im schriftlichen Denken deswegen, weil wir bei Platon zum einen immer wieder die Überlegung finden, was es bedeutet zu wissen, und weil wir bei ihm zum anderen trotz aller Schriftkritik sehen, dass das, was die Organisation von Wissen betrifft, begriffliches und daher in erster Näherung schriftlich geäußertes Wissen sein muss. Auf den heutigen Zustand bezogen heißt das, dass wir heute von “Wissensgesellschaft“ nicht deswegen sprechen, weil wir mehr wüssten als frühere Gesellschaften, sondern deswegen, weil wir heute die platonische, begriffliche Repräsentation der Welt in der Schrift durch eine Repräsentation der Welt in Datenbanken und Suchmaschinen radikalisiert haben. Das ist die zwar rudimentär verkürzte, aber dennoch immer noch sichtbare Fortsetzung der alten platonischen Konzeption dessen, was Wissen heißt. Für all diese Fälle gilt, dass mit „Wissen“ nicht nur der kognitive Gehalt, sondern zugleich seine pragmatisch suchtauglich ausgerichtete Anordnung durch Anordnung der Begriffe gemeint ist. Auf die Anordnung, auf die Struktur kommt es an, und damit sind wir bei einem weiteren Begriffselement, das uns noch beschäftigen wird.

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Hegel, ebd., S. 236.

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Seit Platon – und wir sind, wie wir nicht erst seit heute wissen, alle immer noch dabei, Fußnoten zu Platon zu schreiben4 – gehen wir davon aus, dass die Repräsentation der Welt, also das Wissen, auf der einen und die Welt selbst, also die Struktur des Gewussten, auf der anderen Seite steht und dass beides in dichotomischer Weise aufzufassen ist. Das Genus ist ein ontischer Begriff, dieser wird gespiegelt im Gattungsbegriff, einem logischen Konzept, ebenso wie die Spezies als ontischer Begriff gespiegelt wird im Artbegriff und das Individuum schließlich im Eigennamen. Und hier sind wir indirekt auch wieder bei Rosenzweig, da der Eigenname es ist, um den es ihm im Sinne der Gesundheit des Menschenverstandes eigentlich geht.5 Wie aber ist das zu denken, dass das Genus und die Spezies auf der einen sowie der Gattungs- und der Artbegriff auf der anderen ebenso wie die Individua auf der einen und die Eigennamen auf der anderen Seite so strukturiert sind, dass sie streng dichotomisch geordnet erscheinen? Setzt das nicht voraus, dass die Organisation des Wissens eine Aussage über die Organisation der Welt darstellt, also über das, was die Struktur dessen, was ist, eigentlich bedeutet? Das aber wiederum würde heißen, dass wir das System in diesem Sinne überall finden, sowohl in der Repräsentation und im Wissen selbst, als auch in dem, was repräsentiert ist, also in der Anordnung der Elemente. Denn die Anordnung, die Struktur, ist es eben, was das bewusste Wissen ausmacht. Das lässt sich anhand eines schon von Aristoteles verwendeten Beispiels aus dem Umfeld der Semantik des Alphabets illustrieren, das sich auf die Anordnung der Buchstaben, nicht auf diese selbst bezieht. Die Anordnung macht das Systemische daran aus. Dieselben Buchstaben können, anders angeordnet, ganz Verschiedenes bedeuten, und die Methode, wie diese Elemente angeordnet werden, definiert das Muster der Anordnung. Das erinnert uns daran, dass in der Diskussion um Cognitive Science und Künstliche Intelligenz die Mustererkennung eines der zentralen Probleme war. Dabei ging es darum, das räumliche Muster der Anordnung der Elemente zu nutzen, um maschinelle Repräsentation von Wissen zu ermöglichen. II. Der Teil und das Ganze Nachdem wir auf die Musterbildung hinsichtlich des organisatorischen Aspekts des Wissens, das heißt hinsichtlich des Verhältnisses von System und Struktur geblickt hatten, wenden wir uns nun einem anderen Aspekt desselben Problems zu,

4 „Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, dass sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht“ (Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Frankfurt 1979 [engl. Original: Process and Reality. An Essay in Cosmology. 1929], Teil II, Kapitel 1, Abschnitt 1, S. 91). 5 Vgl. z. B. F. Rosenzweig, Vom gesunden und kranken Menschenverstand [1921], hg. und eingeleitet von Nahum Norbert Glatzer. Düsseldorf 1964 (Erstveröffentlichung), S. 42 ff. et passim.

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nämlich dem Verhältnis von Teil und Ganzem.6 Hier gilt die alte, ebenfalls aus der Antike stammende These, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. In dynamischen Zusammenhängen würden wir heute von „Emergenz“ sprechen: Wenn wir additiv alles erfassen, was es hinsichtlich einer bestimmten Fragestellung zu beachten gibt, stellen wir fest, das wir so etwas wie Metaphänomene beobachten können, und beschreiben das so, dass wir bestimmte Eigenschaften eines Ganzen aus der Addition seiner einzelnen Teile nicht vollständig erklären können. Es ist die neue Eigenschaft, das Plus gegenüber der Addition, was wir eben „Emergenz“ nennen, und einer der Klassiker dieser Emergenztheorie ist wiederum Aristoteles. Als ein Beleg unter vielen mögen die folgenden, sich auf das Verhältnis von Silben und Lauten beziehenden Sätze aus der Aristotelischen Metaphysik dienen: „Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: BA ist nicht dasselbe wie B + A.“7 Was bedeutet nun im Lichte dieser Emergenzannahmen „System“? Wir verstehen darunter eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind, dass sie als eine Einheit angesehen werden. Um das besser zu verstehen, bedarf es einer zusätzlichen Überlegung, die in dieser Form in der Antike nicht explizit diskutiert wurde, die wir aber seit der modernen Systemtheorie einzuführen haben, nämlich die begriffliche Differenzierung von System und Umwelt. System bedeutet dann eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind, dass sie als eine Einheit angesehen werden und sich in dieser Hinsicht gegenüber der sie umgebenden Umwelt abgrenzen. System, intern durch Struktur als Muster definiert, wird extern definiert durch die umgebende Umwelt des Systems. Systeme organisieren und erhalten sich durch Strukturen, die, wie ausgeführt, als Muster der Anordnungen der Systemelemente zu verstehen sind. Dies aber macht die externe Abgrenzung zur Systemumwelt aus. Das führt uns zu einer neuen Version der Frage nach dem Verhältnis des Ganzen zur Methode. Der Begriff „Methode“, von griechisch „methodos“, bedeutet im Wortsinne den Weg, auf dem man sich der Repräsentation von Systemen im Wissen, d. h. der Repräsentation vom Realsystem im Wissenssystem nähert. Entweder ist es die Repräsentation, die methodisch aufgebaut ist, oder das Repräsentierte selbst oder beides. Und hier spiegelt sich nun die platonische Dualität von ontischer Struktur und logischer Modellierung wieder. Ich nenne das die „ontologische Differenz 2“, und zwar nicht deswegen, weil sie später käme als die ontologische Differenz 1 – ganz im Gegenteil: Mit der ontologischen Differenz meinen wir seit Heidegger die Differenz zwischen dem Begriff des Seins als dem Begriff des Ganzen und

6 Vgl. W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München 1996. 7 Aristoteles: Metaphysik. Berlin 1990, 1041 b 11 – 13, S. 197.

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dem Seienden, also dem Einzelnen, das aus diesem Ganzen hervorgeht.8 Die ontologische Differenz 2, die ich hier im Blick habe, ist die andere, nämlich die zwischen dem, was gesagt wird über das Sein, und dem, was wir als Struktur des Seins zu unterstellen haben. Das ist gleichsam ein platonisches Meta-Vorurteil, das zwar vielleicht zutrifft, das wir aber mindestens über zweieinhalb Jahrtausende weitgehend unbefragt mitgetragen haben, nämlich dass das Identische – in irgendeiner Weise jedenfalls – identisch sein soll. Und selbstverständlich sind nicht alle Menschen der Auffassung, dass das so sei und weiterhin so sein müsse, sondern das „antiplatonische Experiment“,9 das insbesondere von den französischen Strukturalisten und Poststrukturalisten inszeniert worden ist und das über mehrere Jahrzehnte – Stichwort: „Postmoderne“ – die Diskussion bewegt hat, besteht darin, dass genau diese Fokussierung auf die Ausblendung des Gramma, also auf die Ausblendung der Tatsache, dass dies alles nur in Schrift vorgekommen sei, uns in die Irre geführt hat. Das ist eine bekanntlich an Nietzsche anknüpfende Überlegung, die allerdings bei ihm nicht unter dem Namen des „antiplatonischen Experiments“, sondern als Kritik des „sokratischen Menschen“ auftaucht.10 III. Der Systemgedanke im Deutschen Idealismus Ohne tiefer in ideen- oder begriffsgeschichtliche Analysen einzusteigen, muss festgehalten werden, dass sich in der Genealogie des Systemgedankens der Deutsche Idealismus maßgeblich von Kant inspiriert weiß; ob und in welchem Ausmaße Lambert11 vielleicht eine bedeutendere Rolle gespielt hat, als man normalerweise annimmt, muss hier nicht erörtert werden. Immanuel Kants im Wortsinne epochemachende Einsicht lässt sich in einer rückblickend an Wittgenstein abgelesenen Formel so zusammenfassen: Die Grenzen meiner erfahrungsbezogenen Erkenntnis sind die Grenzen meiner Welt; und auf dem Hintergrund der doppelten Dualität von System sowie systematischer Repräsentation im Denken und im Sprechen, die ich oben aufgemacht habe, liegt in der Tat der Schritt zu Wittgenstein nahe: Die Grenzen meiner erfahrungsbezogenen Erkenntnisse sind in Begriffen, eben in schriftlicher Form, die Grenzen meiner Sprache, die somit die Grenzen meiner Welt sind. Die Kantische Grundthese reduziert also das Platonische Gesamtmodell auf die eine, die Erkenntnisseite, und entwickelt dadurch die transzendentale Fragstellung, nämlich diejenige 8 Vgl. M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie. Frankfurt a. M. 1975, S. 22; vgl. ders., Sein und Zeit. Tübingen 2001; ders., Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken. Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 134 ff. 9 W. Ch. Zimmerli, Das antiplatonische Experiment. Bemerkungen zur technologischen Postmoderne, in: ders. (Hrsg.), Technologisches Zeitalter oder Postmoderne. 2. Aufl., München 1991, S. 13 – 35. 10 F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari. München 1999. 11 J. H. Lambert, Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, hg. von G. Siegwart, Text bearb. von H. D. Brandt. Hamburg 1988.

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nach den Grenzen dessen, was sich auf diese Weise überhaupt denken und erfahren lässt, also nach den Bedingungen der Möglichkeit, und das heißt im Gefolge Christian Wolffs: nach den Bedingungen der widerspruchsfreien Denkbarkeit. Philosophie als Kritik bedeutet damit also, die Grenzen als Bedingungen der Möglichkeit, sprich: der Denkbarkeit, auszumessen, und das sind – logisch gesehen – notwendige, nicht hinreichende Bedingungen. Der Kopernikanische Weltumsturz der Erkenntnistheorie Immanuel Kants verfolgt also paradoxerweise die Ersetzung eines starken durch einen schwachen, eines unbescheidenen durch einen bescheidenen Anspruch: Nicht kausale, nämlich hinreichende Modelle sind es, mit denen sich die transzendental gewordene Kritik befasst, sondern schwache Modelle der notwenigen Bedingungen.12 Vor diesem Hintergrund ist Kants „locus classicus“ zu lesen: „Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Wenn die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt, und sie gehört notwendig zur Methodenlehre. Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Kenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und fördern können. Ich verstehe aber unter einem System die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen, sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.“13

Gewiss, wir bewegen uns hier auf einer Ebene hoher Abstraktion, auf der es schwierig zu sein scheint, das von Kant Entwickelte mit dem bisher Diskutierten in Verbindung zu bringen. Aber es lässt sich relativ leicht veranschaulichen, wenn man an die Newtonschen Hintergründe der Kantischen Erkenntnistheorie denkt: Eine mechanische Uhr etwa funktioniert nur, wenn genau diese Bedingungen erfüllt sind, wenn das Mannigfaltige daran, die einzelne Rädchen, die Unruhe, die Feder und die dazu erforderlichen Lager und Gegenlager, unter einer Idee, nämlich derjenigen eines Rhythmus im Rahmen einer Gleichgewichtsvorstellung, Zeit misst. Um diese systematische Idee also geht es, und zwar im Status notwendiger, nicht hinreichender Bedingungen, regulativer, nicht konstitutiver Funktion. Nun aber kommt das emphatisch Neue hinzu, das, wie so häufig, Ergebnis eines Fehlers oder Missverständnisses ist. Hegel hat – und das ist das Konstruktive an seinem Ansatz – Kant an dieser Stelle (mehr oder minder bewusst) falsch verstanden und damit die innovative Rolle des Fehlers ausgenutzt, die er selbst in der konstruktiven Bedeutung, die er in seiner Logik dem Widerspruch gibt, zum Thema macht. Hegel hat, abgekürzt formuliert, den innovativen Fehler begangen, die Differenz zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung einzuebnen und von der These aus12 Vgl. W. Ch. Zimmerli, Transzendentale Argumente oder: Die Frage nach der Philosophie als Frage nach dem Philosophieren, in: Philosophie als Denkwerkzeug. Zur Aktualität transzendentalphilosophischer Argumentation. Festschrift für Albert Mues zum 60. Geburtstag, hg. von M. Götze/C. Lotz/K. Pollok/D. Wildenburg. Würzburg 1998, S. 119 – 135. 13 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 860.

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zugehen, dass die Kunst des Findens und Entdeckens identisch sei mit der Kunst des Darstellens, so dass also die Darstellung, anders: die Anordnung der Elemente, das Entscheidende sei in Bezug auf die Differenz zwischen Wissen oder Wissenschaft, philosophischer Wissenschaft also, auf der einen und der Meinung durch das Zusammenraffen von Standpunkten, wie Hegel es in seiner Kritik am gesunden Menschenverstand formuliert, „mit denen man sich vernünftig durchs Leben hilft“,14 auf der anderen Seite. Die Differenz, die zum System führt, besteht in der Reihenfolge, also in der Anordnung. Rosenzweig wird das später sehr deutlich als eindimensional kritisieren und damit zugleich die Bedeutung dieses eindimensionalen Denkens hervorheben.15 Eindimensional heißt, dass es eben keine Verzweigung gibt, sondern dass alles zwingend aufeinander folgt, weil notwendige Bedingungen immer zugleich hinreichend werden; man kann auch terminologisch formulieren: weil jede Negation im System als bestimmte Negation auftritt. Und damit wird eben der methodische Weg der Darstellung zugleich der methodische Weg der Wirklichkeit, wie wir alle aus der berühmt-berüchtigt gewordenen Stelle der Einleitung zu Hegels Vorlesung über Rechtsphilosophie wissen: „Das Wirkliche ist vernünftig, und das Vernünftige ist wirklich“.16 Damit stellt sich Hegel ohne Kants Bescheidenheit in dessen Tradition, überschreitet sie aber zugleich: das, was wir nicht begreifen können, existiert für uns nicht; infolgedessen ist das, was ist, ohnehin nur das, was wir begreifen können. Dabei blendet er allerdings großzügig aus, dass es einen riesigen Bereich gibt, von dem wir nicht einmal wissen, dass wir über ihn nichts wissen und den wir daher auch nicht begreifen.17 Diese Sprengung der Kantischen Bescheidenheit wird bei Hegel schulmäßig verfestigt zur Dialektik als systematischer Reflexion des Scheiterns der Meinung, als Weg zum Wissen. Iterative Reflexion des Scheiterns als Methode zur Läuterung der Meinung zum Wissen – das ist eine Kurzbeschreibung des Phänomenologieprojekts Hegels auf dem Hintergrund der großen Tradition der Vorsokratik, des Platonismus und der neuzeitlichen Subjektphilosophie. Phänomenologie nämlich ist bei Hegel nichts anderes als die methodische Iteration der Selbsterfahrung des Scheiterns der Meinung. In seinem in dieser Hinsicht missglückten Versuch zu einem System versucht Hegel, das systematisch durchzubuchstabieren, indem immer das Scheitern des Meinungsanspruchs der jeweiligen Bewusstseinsebene zur nächsten führt und indem dieses Verfahren den Auftakt zur Entwicklung des systematischen

14 G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Gesammelte Werke 4, Hamburg 1986, S. 20. 15 F. Rosenzweig, Vom gesunden und kranken Menschenverstand; vgl. Bernhard Casper, Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber [1967]. Überarb. und erw. Neuaufl., Freiburg 2002. 16 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt 1972, S. 11. 17 Vgl. W. Ch. Zimmerli, Nichtwissen und ungenaues Denken, in: BILDLICHKEIT – Aspekte einer Theorie der Darstellung, hg. von D. Rustemeyer. Würzburg 2003, S. 259 – 274.

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Wissens bildet, das seinerseits erst in seiner ganzen Darstellung der Beleg für seine Wahrheit ist – in Hegels Worten gesprochen: „Das Wahre ist das Ganze“.18 IV. Abschied vom System Was wir an Hegel diagnostiziert haben, ließe sich ebenso gut auch an Fichte oder Schelling zeigen, wie die Romantiker mit schwebender ironischer Selbstreflexion festhalten: „Es ist gleich tödlich, ein System zu haben, wie keins zu haben“ (Schlegel).19 An Hegel, diesem methodischsten aller an der Systempathologie erkrankten Denker, um mit Rosenzweig zu sprechen, lässt sich jedoch besonders deutlich demonstrieren, dass ein System der methodischen Reflexion des Scheiterns der Meinung zu einem Scheitern der systematischen Meinung führt, durch ein System sei das Scheitern zu verhindern. Wäre der Hegelschen Hybris Erfolg beschieden gewesen, wäre die Philosophie, wie Hegel selbst gemeint hat, tatsächlich am Ende. Das allerdings ist nicht der Fall, da nun der systematisch einigende Geist aus den Wissenschaften ausgetrieben wird. Diese Formulierung der Austreibung des Geistes aus den Wissenschaften, die von Friedrich A. Kittler stammt,20 ist allerdings in diesem vorliegenden Kontext absolut wörtlich zu nehmen: Ausgetrieben aus den Wissenschaften wird nämlich der panlogische Hegelsche Geist. Wenn dieses platonische, in Goethes Worten „einigende Band“21 ausgetrieben ist, entdeckt die Philosophie, dass sie sich in einer Sackgasse befunden hat, weil sie zwar das einigende geistige Band in der Hand hält, dafür aber die Teile verloren hat. Die Einsicht in das Scheitern der Hegelschen Philosophie der methodischen Reflexion des Scheiterns führt zu einer Rehabilitierung des Einzelnen, des Individuellen. Damit kehrt das Denken, weil Aussagen immer heißt, Begriffe, also Allgemeines, als Prädikat dem Eigennamen als Subjekt zuzuordnen, zu der mittelalterlichen Einsicht in die Ineffabilität, die nicht vollständige Aussagbarkeit des Individuellen zurück. Dass Individuelles sich nicht vollständig im Allgemeinen auflösen und aussagen lässt, ist es, was zur Geburt der modernen Geisteswissenschaften führt. Erst das 19. Jahrhundert entdeckt die eigentliche Leistungsfähigkeit der Geisteswissenschaften: das Einzelne gegen seine Auflösung in der platonisch-panlogischen Begriffswissenschaft zu seinem Recht zu bringen. Dies geschieht, wie bereits angedeutet, vor dem Hintergrund der Romantik einschließlich ihrer Naturphilosophie und Medizin; hier finden wir dieselbe Abwehrbewegung gegenüber einem begrifflich-methodischen Systemfetischismus. In diesem Kontext positioniert sich das 19. Jahrhundert, und in diesem Kontext versteht man auch den Neukantianismus, insbesondere den Südwestdeutschen. Diese Wiederentdeckung des Einzelnen bedeutet also, dass die moderne Geis18

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Berlin 1964, S. 21. F. Schlegel, Athenäums-Fragment 53, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 1. Abtlg., Bd. II, 1967, S. 173. 20 F. A. Kittler, Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Paderborn 1992. 21 J. W. von Goethe, Faust. München 1997, S. 63. 19

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teswissenschaft sich der Erkenntnis verdankt, dass das Begrifflich-Allgemeine nicht ausreicht, um das Einzelne zu verstehen, sondern dass man, wie wir heute im Aufgriff einer antiken Wendung sagen könnten, die Phänomene retten22 oder rehabilitieren und zu ihrem Eigenrecht bringen muss. Wissenschaftstheoretisch ließe sich vielleicht von einer „narrativen Erklärung“23 sprechen, also von einer Erklärung, die nicht in der Form einer Subsumtion von einzelnen Ereignissen unter allgemeine Begriffe, sondern in der Form der Erzählung von Geschichten geschieht. Und in der Tat ist denn auch ein Großteil dessen, was wir für rational halten, genau nach diesem Muster konstruiert. „Ästhetik statt Anästhetik“24 ist eine begriffliche Zwillingsformel, die in der Postmodernedebatte häufiger verwendet wurde und die besagen sollte, dass sich mit der Beendigung des Panlogismus eine Wendung ereignet, die die Sinne und die Sinnlichkeit wieder in ihr Recht versetzt, und zwar nicht indem der Begriff der Sinnlichkeit eingeführt und thematisiert wird – das geschah im Rahmen der Systemphilosophie des Deutschen Idealismus hinreichend –, sondern indem die Phänomene selber in ihrer sinnlichen Qualität ästhetisch beschrieben werden. Und hier fällt dem Historiker der Geisteswissenschaften natürlich das Vico-Axiom ein, dem ich an dieser Stelle zur Verbindung der geistes- und ingenieurwissenschaftlichen Betrachtungsweise große Bedeutung zumesse, nämlich der Verbindung zwischen der Repräsentation des Wissens und dem technischen Machen. „Verum ipsum factum“ oder anders: „verum et factum convertuntur“,25 hatte Vico formuliert: Nur dasjenige, was wir selbst gemacht haben, kann von uns auch „wahr“ genannt werden. Nicht irgendein Wahrheitskriterium metalogischer Art, nicht irgendein Wahrheitskriterium einer scheinbaren Korrespondenz, die einen dritten, quasi-göttlichen Standpunkt voraussetzen würde, sondern dass wir etwas selber herstellen können, ist das Kriterium. Und natürlich stellen wir unsere sprachlichen Produkte, unsere geisteswissenschaftlichen Gegenstände selber her, natürlich ist Geschichte und Sprache etwas, was die Menschen gemacht haben, aber: Geschichte und Sprache sind nicht das einzige. Die Tatsache, das Faktum, um das es hier geht, ist, wie wir spätestens seit Fichte wissen, eine Tathandlung oder mindestens auch als solche zu interpretieren; das, was wir machen, ist als Produkt immer arretiertes Handeln, und dieses arretierte Handeln bringt auch Produkte im engeren Sinne, nämlich Produkte technischer Art hervor. Die Künste beruhen in Wiederentdeckung der Artes-Liberales-Tradition auf der Kunst der Darstellung, die die Schwester der Kunst der Herstellung ist, so dass nun der Weg nicht mehr weit ist zum Verständnis dessen, warum parallel zur Reha22 Vgl. J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips. Berlin 1962. 23 Vgl. A. C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1974. 24 O. Marquard, Aesthetica und Anaesthetica. Paderborn 1989; vgl. W. Welsch, Ästhetisches Denken. Ditzingen 1990. 25 G. Vico, Liber Metaphysicus. De antiquissima Italorum sapientia liber primus [Neapel 1710]. München 1979, S. 34; vgl. dazu F. Fellmann, Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte. Freiburg i. Brsg. 1978.

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bilitierung des Einzelnen in den Geisteswissenschaften so etwas wie die Rehabilitierung des Artefakts als Gegenstand philosophischer Reflexion geschieht. Führt man nun noch das Vico-Axiom mit dem Bacon-Konzept „Wissen ist Macht“ zusammen, dann erhält man die Formel „Wissen ist Machen“.26 Dabei handelt es sich um etwas, was das späte 19. Jahrhundert zu verstehen beginnt und was das 20. Jahrhundert in die Wirklichkeit umsetzt. Wer – um nur ein Beispiel zu nennen – etwa fragt, wo eigentlich die wissenschaftlichen Revolutionen der Biowissenschaften heute stattfinden, wird die Antwort erhalten, dass sie sich nicht im Reagenzglas oder in der Petrischale sondern auf dem Rechner ereignen. Das heißt, dass die Simulation als Verdopplung der Welt in eine Welt des Abgebildeten und eine Welt der technischen Reproduktion des Abgebildeten in vielen Bereichen das neuzeitkonstitutive Experiment ersetzt. Nicht zufälligerweise wird so das Hinausgehen der Hypothesen aus dem kognitiven Kontext in denjenigen der Faktizität zu einem Beleg für das Konzept „Wissen ist Machen“. V. Wer oder was organisiert das System? Nachdem gezeigt wurde, wie die Entwicklung des Systems im Sinne der Organisation des Wissens mit der Entwicklung des Systems im Sinne der Organisation des Gewussten zusammenhängt und was das, was „Organisation“ genannt wird, mit dem Herstellen dessen, was organisiert wird, zu tun hat, muss noch ein letzter Schritt gemacht werden, der die Frage expliziert, wer oder was denn das System organisiere. Damit aber sind wir in der Systemtheorie des 20. Jahrhunderts, bei Ashby oder bei den Überlegungen von Bertalanffy und anderen27 angelangt, die in Konsequenz des bisher Entwickelten so zu deuten sind, dass nach dem Uhrwerk nun die lebenden Systeme als solche betrachtet werden, die sich herstellen lassen, die aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht hergestellt werden konnten. Es handelt sich dabei um Systeme, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich intern in einer ständigen Bewegung befinden, in einem, wie es terminologisch dann heißt, „Fließgleichgewicht“ des Stoffwechsels.28 Die allgemeine Systemtheorie meinte, mit dem Begriff des Fließgleichgewichts bereits eine hinreichende Kennzeichnung lebender Systeme vorge26 F. Bacon, Meditationes sacrae [1597], in: The Works of Francis Bacon, hg. von V. J. Spedding. Bd. 14, New York 1864, S. 79; vgl. W. Ch. Zimmerli, Technologie als Kultur. 2. Aufl., Hildesheim 2005, S. 249 ff.; ders., Wissen ist Machen. Glauben, Wissen, Nichtwissen und Magie in einer technologischen Gesellschaft. Überarbeitete Übersetzung von ders., To Know is to Make. Knowlegde, Ignorance and Belief in a Technological Society, in: Wisdom or Knowledge? Science, Theology and Cultural Dynamics, hg. von Hubert Meisinger/Willem B. Drees/Zbigniew Liana. London 2006, S. 145 – 152; spanische Übersetzung: ders., Conocer es realizar. Conocimiento, ignorancia y creencia en la sociedad tecnológica, in: Ciencias y teología – En la dinámica de las culturas ¿Corrientes de Sabiduría?, hg. von J. M. Romero Baró/ M. García Doncel. Barcelona 2008, S. 53 – 61. 27 L. von Bertalanffy, Zu einer allgemeinen Systemlehre, Biologia Generalis. New York/ Cambridge 1948; W. R. Ashby, Einführung in die Kybernetik. Frankfurt a. M. 1972. 28 Vgl. L. von Bertalanffy, Biophysik des Fließgleichgewicht. Einführung in die Physik offener Systeme und ihre Anwendung in der Biologie. Braunschweig 1953.

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nommen zu haben. Allerdings bedurfte es dazu noch eines weiteren Gedankens: Mechanische Systeme, die wir selber herstellen können, sind Systeme, die zum Gleichgewicht tendieren. Auch hier wiederum hilft das Bild einer mechanischen Uhr, in diesem Falle einer Pendeluhr. Dabei handelt es sich um das einfachste Beispiel eines Bewegungssystems im Gleichgewicht, das sich aber nicht bewegen würde, wenn es nicht zunächst einmal in ein Ungleichgewicht versetzt würde. Nachdem die Feder aufgezogen ist, muss das Pendel aus dem Gleichgewichtszustand entfernt werden, damit überhaupt Bewegung in das Gleichgewichtssystem kommt. Um diese dynamischen Elemente des mechanischen Systems weiterzudenken, hat sich eine Form der theoretischen Modellierung herausgebildet, in der lebende Systeme von mechanischen, bewegten Systemen unterschieden werden. Wie – so lautet die Frage – kommt es dazu, dass lebende Systeme nicht nur dynamische Systeme sind, die sich von Gleichgewichts- zu Gleichgewichtszustand bewegen, sondern sich sogar evolutionär weiterentwickeln? Theoriehistorisch formuliert: was ist eigentlich der Grund dafür, dass wir im 19. Jahrhundert zwei große paradigmatische Theorieblöcke der Naturwissenschaften sich entwickeln sehen, nämlich die Thermodynamik und die Evolutionstheorie? Wie lässt sich die Natur denken, wenn man doch davon auszugehen hat, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der Entropiesatz nämlich, der Evolutionstheorie zu widersprechen scheint? Und wie kann ein vernünftiger Mensch damit leben, dass die zwei Grundtheorien, auf denen die Modellierung der Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert beruht, sich zu widersprechen scheinen, nämlich dass sich gemäß der Lehre der Thermodynamik alle Systeme zu einem Zustand maximaler Entropie, das heißt minimaler Ordnung, und nach der Evolutionstheorie alle lebenden Systeme in Richtung zunehmender Ordnung entwickeln? Die schiedlich-friedliche disziplinäre Aufteilung, die die Thermodynamik als generalisierte Dampfmaschinen-Theorie der Physik und die Evolutionstheorie als verallgemeinerte Theorie der Beobachtung der Entwicklung von Spezies den Biowissenschaften zuordnete, konnte einer strikten naturwissenschaftlich orientierten Philosophie nicht genügen. Und so sehen wir sich denn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Paradigmen von Organisation und Selbstorganisation, von allopoetischen und autopoetischen Systemen im Rahmen der Wissenschaften, aber zunehmend auch in der Philosophie entwickeln. Prigogine, Maturana, Varela und Luhmann sind Namen, die hier zu nennen sind, um die Diskussion von Physik über Chemie und Biologie zu den Sozial- und Rechtwissenschaften zu illustrieren.29 Zwei Bereiche sind es, um die es dabei geht, und zwei Probleme gilt es dabei vorwiegend zu berücksichtigen. Der eine Bereich ist derjenige technischer Systeme, die als technische Systeme gekennzeichnet sind, die durch andere Systeme gemacht sind 29

Vgl. etwa I. Prigogine, Indroduction to Thermodynamics of Irreversible Processes. Springfield 1955; H. R. Maturana, Biology of Cognition. Urbana IL 1970; F. Valera, Principles of Biological Autonomy. Norwalk 1997; H. Maturana/F. Varela, Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living. Heidelberg 1991; N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Berlin 1984.

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und deswegen „allopoetische Systeme“ heißen. Diese anderen Systeme können übrigens auch ihrerseits mechanische Systeme sein; es spricht nichts dagegen, dass Maschinen durch intelligente Maschinen, also zum Beispiel computergesteuerte Roboter, hergestellt werden. Letztlich aber stehen hinter diesen anderen Systemen immer lebende Systeme, in diesem Fall Menschen. Diese sind Systeme, die sich selbst machen und deshalb „autopoetische Systeme“ heißen. Lebende Systeme sind Systeme, die zwei Charakteristika aufweisen, mit denen sich die zwei genannten Theorien befassen. Zum einen sind sie operational geschlossen, und zum anderen sind sie strukturell gekoppelt. Das soll heißen, dass jedes System seine eigenen Systemregeln befolgt, gleichgültig, was in der Systemumwelt geschieht. Die Systemumwelt gibt immer nur einen Impuls, der eine Perturbation oder Beunruhigung des Systems bewirkt, auf die dieses wiederum mit den systemeigenen Mitteln und Methoden reagiert. Denken wir zum Beispiel an das System Wissenschaft oder noch genauer: an das System Universität. Ganz gleichgültig, was in der Systemumwelt geschieht, die Perturbation des Universitätssystems wird immer systemimmanent umformuliert und umstrukturiert. Universitäten reagieren zum Beispiel auf die Zufuhr oder Versagung finanzieller Mitteln durch die Entwicklung von Modellen, wie mit weniger Geld die gleiche oder mit gleichviel Geld eine höhere Leistung erzielt werden kann. Gleichgültig also, welche Ursachen eine Systemumweltveränderung hat, die sich als Perturbation des Systems auswirkt – die ausgelösten Aktivitätsmuster im Inneren des Systems sind immer operational geschlossen.30 Das ist im Übrigen ein Leibnizischer Gedanke; das Theorem der operationalen Geschlossenheit greift Leibniz’ Idee auf, dass die Monaden keine Input- oder Outputoberflächen, keine „Fenster“, wie er sich ausdrückt, haben. Das Theorem der „Prästabilierten Harmonie“ dagegen entspricht der strukturellen Kopplung, in der die Systeme zueinander stehen, ohne dass sie selbst dafür ursächlich wären. Lebende Systeme sind also Systeme ohne Input- oder Outputoberflächen, obwohl sie nicht existieren könnten, wenn sie nicht Input- oder Output auf einer niedrigeren Systemebene hätten: Auch Universitäten könnten nicht funktionieren, wenn ihre Mitglieder nichts zu essen hätten. Wenn dieser Input auf der niedrigeren Systemebene fehlt, dann trifft zwar weiterhin zu, dass das Modell der oberen Systemebene den Regeln der operationalen Geschlossenheit folgt, es würde allerdings gleichsam von unten her austrocknen oder aussterben. Und erst damit kommen wir zu unserer letzten Überlegungsstufe. Ich habe bereits oben darauf hingewiesen und greife es jetzt wieder auf: dass wir nicht erst innerhalb der Systemtheorie, sondern schon im Systemdenken implizit immer vom Verhältnis von System und Umwelt ausgehen, wenn auch die Antike weniger stark darauf geachtet hatte. Obwohl also die Systeme nach Maßgabe der neueren Systemtheorie

30 E. Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. München 1992.

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durch operationale Geschlossenheit und strukturelle Koppelung bestimmt sind,31 ist letztere immer als die Beziehung zwischen System und Umwelt gedacht, wenn es sich dabei auch nicht um eine Input- oder Output-Beziehung handelt. Trotzdem aber gilt, dass Systeme immer eine Energiezufuhr haben müssen, die gewährleistet sein muss, damit sie operational geschlossen funktionieren können. Die Systeme sind also in einer Hinsicht immer offene, in anderer Hinsicht immer geschlossene Systeme. Diese Überlegung ist es nun, die der Grund für die Eingangsthese war, dass, aller Systemkonjunktur des Deutschen Idealismus zum Trotz, wir noch nie so viel und so stark in Systemen gedacht haben wie heute. Das kann man im Übrigen nur dann sehen, wenn man einen Blick auf die Theoriediskussion außerhalb der Fachdisziplin der Philosophie wirft. Hier gilt nämlich in der Tat, dass die gewaltige Konjunktur des Systemdenkens darauf beruht, dass die Regeln, nach denen Systeme gedacht werden, Regeln sind, die sowohl lebende Systeme als auch thermodynamische Systeme begreifen können. Das bedeutet aber, dass es tatsächlich so ist, dass die sich entwickelnden biologischen und evolutionären Systeme sich nur dort finden lassen, wo sich Energiezufuhr findet, und auch hier wiederum gilt die Thermodynamik. Genauer: das bedeutet, dass immer mehr Energie zugeführt werden muss, wenn Evolution möglich bleiben soll. Das lässt sich auch so ausdrücken, dass wir Menschen die stärksten Entropiebeschleuniger sind. Es gibt kein Lebewesen, das so viel Entropie produziert wie wir. Das wiederum bedeutet, dass stets Menschen erforderlich sind, die dafür sorgen, dass die Systeme evolutionäre Impulse erhalten, damit deren Weiterentwicklung garantiert bleibt. Dies ist allerdings kein Nullsummenspiel; irgendwann einmal wird es zu Ende sein, aber bis dahin stehen wir Menschen in der Verantwortung, unsere eigenen Ordnungsleistungen als Entropiebeschleuniger zu verstehen und zu behandeln. Das erlaubt uns, abschließend einen kurzen Rückblick auf das romantische Naturdenken zu werfen, indem wir Friedrich Schlegels Satz aus dem Athenäums-Fragment nochmals Revue passieren lassen: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und kein System zu haben. Er wird sich daher entschließen, beides zu verbinden, ein System zu haben und kein System zu haben“.32 Ich habe mich dazu entschlossen, ein System, ein Modell von System und selbstorganisierenden Systemen zu benutzen, um einen großen Bereich der Gedanken, die sich außerhalb der Fachphilosophie bewegen, zu verstehen. Es wäre fatal, wenn wir das mit einem philosophischen System zu tun versuchten, sondern wir müssen es anders angehen. Und damit komme ich zurück auf eine meiner Anfangsüberlegungen, nämlich die der Gesundheit und Krankheit des Menschenverstandes, d. h. auf die Frage, wie viel System man sich eigentlich ohne Paranoia leisten kann. Die Gesundheit des Denkens oder des Geistes wird ebenso wie die physische Gesundheit sinnvollerweise nicht als 31

W. Krohn/G. Küppers, Wissenschaft als selbstorganisierendes System – Eine neue Sicht alter Probleme, in: Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig 1990, S. 303 – 328. 32 F. Schlegel, Athenäums-Fragmente. Stuttgart 1997, S. 82; vgl. Anm. 19.

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ein Zustand vollständiger Abwesenheit von Krankheit33 definiert – dann nämlich wäre niemand gesund, und das wiederum machte auch keinen Sinn –, sondern Gesundheit wird am besten dadurch bestimmt, dass wir uns daran erinnern, dass in unserem bildungsbürgerlichen Zitatenschatz unter vielen anderen Fehlzitaten auch eines vorkommt, das wir immer gerne im Kontext von Gesundheit zitieren, insbesondere dann, wenn es um die Gesundheit von Leib und Seele geht. Es handelt sich dabei um eine Formel, die nicht von Turnvater Jahn, sondern von Juvenal stammt: „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ (mens sana in corpore sano). Das aber, wie gesagt, ist ein Fehlzitat. Bei Juvenal steht vielmehr: „orandum est, ut sit mens sana in corpore sano“.34 Das heißt wörtlich übersetzt: Es ist darum zu beten, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei. Dieser Zustand, um den man beten muss, ist also nicht ein zu erzeugender Effekt, sondern eine Gnade, die hinzu kommt, und das kommt wiederum einem Gedanken von Rosenzweig sehr nahe, dass nämlich Gesundheit, in diesem Falle die des Menschenverstandes, nicht durch die Einnahme von Medikamenten, durch Theorien oder durch chirurgischen Maßnahmen, also nicht durch Therapie im allopathischen Sinne herzustellen ist, sondern Gesundheit wird verstanden als eine Lebensform.35 Gesundheit ist –, so lässt sich in allen Theorieversuchen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit Gesundheit befasst haben und von denen sich viele auf Viktor von Weizsäcker berufen –, die Art und Weise, wie ein Organismus mit seinen Defekten umgeht.36 Diese Defekte können alles Mögliche sein, sie sind aber immer das, wie Heidegger sagen würde, „Sein zum Tode“. Gesundheit ist damit die Art und Weise, wie das Dasein mit seinem Sein zum Tode umgeht. Das wiederum heißt aber, dass wir uns jetzt noch fragen müssen, was in diesem Kontext bei Juvenal eigentlich „Beten“ heißt, und es gilt, dies in den Kontext des Philosophierens zu setzen. Hier hilft wiederum Heidegger: Was ist das Beten anderes als die Frömmigkeit des Denkens? Die Frömmigkeit des Denkens aber ist nach Heidegger37 nicht das Systemdenken und damit nicht die Antwort, sondern das Fragen, das immer wieder beginnt; dieses ist es, was uns vor der logozentrischen Paranoia schützen oder uns mindestens gegen sie immunisieren kann.

33 W. Ch. Zimmerli, Gesundheit als offenes System, in: Salutogenese in der Onkologie, hg. von H. H. Bartsch/J. Bengel. Basel u. a. 1997, S. 5 – 19 bes. S. 9. 34 Juvenal, Satiren 10, 356: „Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano.“ 35 Vgl. F. Rosenzweig, Vom gesunden und kranken Menschenverstand, vgl. o. Anm. 5; W. Ch. Zimmerli, Gesundheit als offenes System. 36 V. von Weizsäcker, Warum wird man krank? Ein Lesebuch, hg. von Wilhelm Rimpau. Frankfurt 2008. 37 „Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ (Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, in ders.: Vorträge und Aufsätze. Teil I, Pfullingen 1967, S. 36.); vgl. R. Schaeffler, Frömmigkeit des Denkens? Martin Heidegger und die katholische Theologie. Darmstadt 1978.

Rosenzweigs Konzept von System Wilhelm Schmidt-Biggemann I. Historische Einordnung Die philosophische und theologische Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist komplex: Neukantianismus und Sozialismus, Soziologie, Positivismus und darwinistischer Monismus, nietzscheanischer Naturalismus, neue Mythologie, alte und neue Religionen bildeten ein Knäuel sich widersprechender intellektueller Angebote. Die Religionen wurden entweder als Sozialeinrichtungen oder als Felder von Entscheidung und Konfession verstanden, die weder mit der Schulphilosophie, noch mit dem Sozialismus, noch mit dem Positivismus oder der neuen Mythologie verbunden waren. Ein Angebot, das in der intellektuellen Gemengelage des späten 19. Jahrhunderts eine eher subkutane, gleichwohl nicht unwichtige Rolle spielte, war die Spätphilosophie Schellings, die als konservative christlich-theistische Position gegen Linkshegelianismus, Sozialismus und naturalistischen Atheismus gehandelt wurde. Schellings Spätwerk war der Versuch, die hegelschen Konsequenzen der Transzendentalphilosophie, vor allem die Auflösung des Gottesbegriffs und den geschichtsphilosophischen Immanentismus, zu widerlegen; und Rosenzweigs Stern der Erlösung1 steht, gerade in Bezug auf die Kritik der Transzendentalphilosophie, im Wirkungszusammenhang von Schellings Spätwerk. Das Hauptargument ist theologisch: Die Transzendentalphilosophie verstelle die Wahrnehmung des Absoluten, sie sei Selbstinszenierung des Subjekts. Diese Kritik schließt die Ablehnung der neukantianischen Philosophie Cohens ein, die Rosenzweig genau kannte. Die Attitüde Rosenzweigs gegen die Subjektivitätsphilosophie bedeutete zugleich eine rabiate und radikale Wende gegen die liberale Theologie der Jahrhundertwende, gegen Ritschl, Harnack und vor allem Troeltsch,2 gegen Theologen, die die Theologie in Anthropologie und Ethik überführten, sie als Religiosität des Staats definierten und die Eigenständigkeit der Theologie zugunsten einer (schleiermacherschen) moralischen individuellen Allerweltsfrömmigkeit auflösten. Rosenzweig übernimmt Schellings Unterteilung in negative transzendentale und positive Offenbarungs-Philosophie, die die alte Mystik-Diskussion beerbt und die 1 Emanuel Lévinas, Ein modernes jüdisches Denken, in: ders., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie. München 1991, S. 99 – 122. Stephane Mosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs. München 1985. 2 Rosenzweig, Briefe. Berlin 1935, S. 710: Rosenzweig: „Troeltsch, der wahre Antichrist unter den Theologen“.

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dionysianische Theosophie in der „positiven Philosophie“ Schellings wiederfindet. Hier widersprechen sich Philosophie und Theologie nicht, vielmehr erscheinen sie als Einheit – oberhalb der Rationalität der negativen, weil religionskritischen Philosophie. Rosenzweig steht hier in einer langen Reihe von Autoren, die die Philosophie als illegitime Selbstermächtigung des Menschen gegen die Offenbarung interpretieren. Es handelt sich um eine Hinsicht auf die Philosophie, die im 18. und 19. Jahrhundert durchgehend von konservativen Denkern geteilt wurde. Saint Martin und De Maistre, Kleuker, Hamann, Jacobi und Baader verteidigten die Position, die Aufklärungsphilosophie in genere und die Transzendentalphilosophie in specie sei der Sündenfall der Philosophie überhaupt.3 Die Französische Revolution und die Transzendentalphilosophie galten den Konservativen gleichermaßen als Verrat an der Heilsgeschichte. Dieser Vorwurf schloss auch Hegels Geschichtsphilosophie ein; deren Weltgeist sei die weltgeschichtliche Repräsentanz der Transzendentalphilosophie und löse den Gottesbegriff in Geschichte auf. Schellings „Freiheitsschrift“, in der das tragische Dilemma der Philosophie beschrieben wurde, sie sei als Selbstdenken des Ichs theologisch zugleich sündhaft, lieferte die präziseste antiemanzipatorische Leitbegrifflichkeit dieser religiös konservativen Tendenz. Zur Vorgeschichte des Stern der Erlösung gehört nicht nur die theosophische Tradition der Opposition gegen die emanzipatorische Philosophie, sondern auch die Gegenstellung gegen die pessimistische oder nihilistische Geschichtsphilosophie; das gilt für die düstere politische Theologie De Maistres ebenso wie für Schopenhauers Pessimismus und Nietzsches Nihilismus. Als politische Folge der aufgeklärten und fortschrittsgläubigen Emanzipationsphilosophie wurde der Erste Weltkrieg gedeutet. Dagegen sollte ein Neuanfang inszeniert werden. Dieses aus dem theologischen Konservatismus geborene Bedürfnis erzeugte eine ambivalente Situation: Auf der einen Seite wurde die Emanzipationsphilosophie des 19. Jahrhunderts abgelehnt, auf der anderen Seite gab es den sich selbst widersprechenden revolutionäre Drang, sich von der Emanzipationsphilosophie zu emanzipieren – das ist die Attitüde des Expressionismus. In dieser Attitüde war Rosenzweigs Stern der Erlösung, der 1921 zuerst erschien, philosophisch alles andere als isoliert. Hugo Ball stellte in Zur Kritik der deutschen Intelligenz (1919) den deutschen Protestantismus als Beginn der weltgeschichtlichen Katastrophe dar und propagiert ein neues, mystisches Byzantinisches Christentum (1923); Ernst Blochs Geist der Utopie (1918) pries die neue Zeit als revolutionäre Verheißung und Versöhnung; Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1918/1922), denkt die rationale Revolution der Sprache zugleich als philosophische; Karl Barths Römerbrief-Kommentar (1919) proklamierte die radikale Eigenständigkeit der Theologie gegenüber aller Philosophie; Carl Schmitt definierte die Diktatur (1921) und die Politische Theologie (1922) als politische Folgen des philosophischen und theologischen Zusammenbruchs. Alle philosophierten unter dem Eindruck, dass die gesamte tradierte politische Ordnung der letzten 1000 Jahre, zumal aber der politische Optimismus seit der 3 W. Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint Martin, de Maistre, Kleuker, Baader. Berlin 2004.

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Aufklärung kollabiert seien: Mit der Herrschaft des Menschen über die Welt sei es nichts; vielleicht müsse sie stattfinden, weil Gott seine Prädikate verbirgt – oder weil wir verlernt haben, sie wahrzunehmen. Diese letzte Alternative: dass wir verlernt haben, Gottes Prädikate wahrzunehmen, wurde Rosenzweigs Option im Stern der Erlösung. II. Zur Biographie Franz Rosenzweigs Geboren am 25. 12. 1886 in Kassel, gilt Rosenzweig mindestens dem Heideggerkritischen Löwith als eigentlicher Zeitgenosse Heideggers.4 Der Beleg für diese Einschätzung ist Rosenzweigs Stern der Erlösung von 1921. Freilich ist dieses Werk in seiner Bedeutung lange nicht wahrgenommen worden. Erst nach dem 2. Weltkrieg entwickelte sich in Amerika eine gründlichere Auseinandersetzung, die nach Europa zurückschwappte.5 Rosenzweig entstammte einer großbürgerlichen jüdischen Kasseler Familie. Er entschied sich 1913 nach gründlicher Diskussion im Freundeskreis von Rudolf Ehrenberg,6 mit dem er seit 1907 befreundet war, Hans Ehrenberg,7 dem gemeinsamen Vetter, Eugen Rosenstock(-Huessy)8 und wohl auch Viktor von Weizsäcker9 da-

4 Karl Löwith, Martin Heidegger und Franz Rosenzweig. Ein Nachtrag zu „Sein und Zeit“ [1942/43], in: Sämtliche Schriften, Bd. 8. Stuttgart 1984, S. 72 – 101. Else Freund, Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs. Hamburg 21959. 5 Nahum Glatzer, Franz Rosenzweig. His Life and Thought. New York 21961. 6 Rudolf Ehrenberg (1884 – 1969); Biologe in Göttingen, Vetter von Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock-Huessy, aus jüdischer Familie stammend, schon als Kind getauft. 7 Hans Ehrenberg (1883 Altona-1958 Heidelberg), 1909 Taufe (evgl.), Freundschaft mit Rosenzweig. 1910 Privatdozent für Philosophie in Heidelberg. Nach dem Krieg Mitglied der SPD. 1919 Apl. Prof. in Heidelberg. 1922 Theologiestudium in Münster, 1925 Pfarrer an der Christuskirche in Bochum. Er war Mitglied der Bekennenden Kirche und wandte sich gegen allen Antisemitismus. 1938 wurde er ins KZ Sachsenhausen eingeliefert. 1939 Emigration nach England. 1947 Rückkehr nach Deutschland, zunächst Bethel, dann Heidelberg. Er starb 1958 in Heidelberg. 8 Eugen Rosenstock (seit 1925 R.-Huessy, 1888 Berlin-Steglitz-1973 Norwich, Vermont, USA). 1905 Taufe (evgl.). 1912 habilitiert in Rechtsgeschichte in Leipzig, wo er Rosenzweig als Studenten hatte. Am 7. 7. 1913 war er in Leipzig zusammen mit Rudolf Ehrenberg Teilnehmer am „Nachtgespräch“; die beiden wollten Franz Rosenzweig zur Konversion überreden, der bat sich Bedenkzeit aus und schrieb dann die „Urzelle des ,Stern der Erlösung‘“ als einen Brief an Rudolf Ehrenberg. Rosenstock war seit 1914 mit Margrit (Gritli) Huessy, einer Schweizerin, verheiratet, die seit 1917 aber mit Franz Rosenzweig in Liebe verbunden war und so ihren Mann mit dessen bestem Freund betrog. Rosenzweigs „Gritli-Briefe“ an seine Geliebte bewahrte Rosenstock selbst auf; sie wurden 2002 veröffentlicht. Margrit RosenstockHuessy starb 1959. Danach wohnte die Witwe des Widerstandskämpfers Helmuth Janes Graf von Moltke, Freya Gräfin von Moltke, bei Rosenstock-Huessy in Vermont. – 1920 gründet Eugen Rosenstock zusammen mit Leo Weißmantel und Hans Ehrenberg den Patmos-Verlag. Seit 1925 nannte er sich nach seiner Frau Rosenstock-Huessy. 1933, gleich nach der Machtergreifung, emigrierte er in die USA. 1941 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Von 1935 – 1957 lehrte er am Dartmouth College, New Hampshire. Er starb 1973.

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gegen, sich taufen zu lassen: „Ich bleibe also Jude“. Das bedeutete eine im genauen Sinne „entschiedene“ Wendung zum Judentum. Er studierte zunächst Medizin bis zum Physicum, danach Geschichte und Philosophie in Freiburg und Berlin – dazwischen machte er Abstecher nach Leipzig. Seine Dissertation, die 1912 von Friedrich Meinecke angenommen wurde, ist später in die Monographie „Hegel und der Staat“ (1920) eingegliedert worden. 1914 entdeckte und edierte er das „Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“, das er Schelling zuschrieb – der Titel stammt von Rosenzweig. Die Auseinandersetzungen mit der Philosophie des deutschen Idealismus, zumal aber mit Schellings Spätphilosophie, blieben für Rosenzweigs intellektuelle Entwicklung entscheidend; das gilt gerade auch für den Stern der Erlösung. Rosenzweig ist der erste, der den späten Schelling philosophisch wirklich ernst nimmt. Seine gleichzeitige Annäherung ans Judentum vollzieht sich über die jüdischen Schriften des späten Hermann Cohen, der seinen Neukantianismus hinter sich gelassen hatte, vor allem aber über den Zionisten und Frankfurter Rabbiner Nehemia Anton Nobel (1871 – 1922). Ab März 1916 war Rosenzweig als Kriegsfreiwilliger an der Balkanfront. Dort notierte er auf Feldpostkarten grundlegende Gedanken des Stern der Erlösung und schickte sie zu sich nach Hause. Zwischen August 1918 und Februar 1919 schrieb er das Buch wie im Rausch nieder; ein charakteristischer Akt expressionistischer Philosophie.10 Er war von der Bedeutung seines Werks durchdrungen; es „verwahrt unser Sparguthaben für einige Jahrhunderte“. 1921 erschien der Stern der Erlösung bei Kaufmann in Frankfurt. Nach Abschluss des Stern wollte Rosenzweig nur noch mündlich lehren. Er gründete 1920 das „Freie Jüdische Lehrhaus“. An diesem Projekt waren Buber, Leo Löwenthal, Bertha Pappenheim, Siegfried Kracauer und auch Scholem beteiligt. 1922 erkrankte Rosenzweig an „Amyotropher Lateralsklerose“, d. h. einer allgemeinen Lähmung, und arbeitete vor allem als Übersetzer: zunächst übertrug er die Gedichte von Jehuda Halevi, seit 1924 begann er mit Buber zusammen die Übertragung der hebräischen Bibel. Buber setzte das Projekt, das erst 1961 abgeschlossen wurde, nach Rosenzweigs Tod am 10. Dezember 1929 allein fort.11 III. Der Rahmen: Synagoge und Ekklesia in eschatologischer Perspektive Rosenzweig hat sich mit Bedacht für sein Judentum entschieden; die Entscheidung fand nach gründlichen Diskussionen statt; sein dezidiertes und reflektiertes 9 Viktor von Weizsäcker (1886 Stuttgart-1957 Heidelberg), Mediziner, Philosoph, lernte 1908 in Heidelberg Hans Ehrenberg kennen, mit dem er sich anfreundete. 10 Vgl. zur Entstehungsgeschichte: Rosenzweig, „Gritli Briefe“. Briefe an Margit Rosenstock-Huessy, hg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer. Tübingen 2002. 11 Vgl. den Briefwechsel über das Amt der Übersetzung und das „Wunder der Sprache“. Hans Christoph Askani, Das Problem der Übersetzung. Tübingen 1995.

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Verhältnis zum Christentum ist im Briefwechsel von 1916 mit Eugen Rosenstock dokumentiert.12 Dabei ist auffallend, dass die Kategorien der Diskussion so gut wie vollständig der christlich-theologischen, vor allem protestantischen Topik entstammen. Das ist deshalb wenig verwunderlich, weil Rosenzweig zur Zeit seiner Entscheidung noch wenig Kenntnis vom Judentum, zumal vom traditionellen, hatte. Er zieht gleichwohl aus den eher christlich-theologischen Argumenten den Schluss, sich in einem Akt der Selbstbehauptung für sein Judentum zu entscheiden. Freilich ist auch das noch die Attitüde der Entscheidung, ein kierkegaardscher Topos. Diese Entscheidung wurde vorbereitet durch ein Nachtgespräch am 7. Juli 1913 in Leipzig. Teilnehmer waren Franz Rosenzweig, Eugen Rosenstock und Rudolf Ehrenberg. Franz Rosenzweig fasste die theologische Haupttopoi der Diskussion in Briefen an Rudolf Ehrenberg13 und Eugen Rosenstock zusammen. 1. Omnia in omnibus Rosenzweig kennzeichnet die christliche Position wie folgt: Christus ist der Mittler zum Vater, er bleibt „als der Herr bei seiner Kirche bis an der Welt Ende“; für Christen gilt: „Niemand kommt zum Vater als durch ihn“.14 Rosenzweig pariert diese Sentenz: „Es kommt niemand zum Vater – anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht es einzelnen Juden). Das Volk Israel, erwählt von seinem Vater, blickt starr über Welt und Geschichte hinüber auf jenen fernen und letzten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbe, der Eine und Einzige – ,Alles in Allem‘! – sein wird. An diesem Punkt, wo Christus aufhört, der Herr zu sein, hört Israel auf, erwählt zu sein, an diesem Tag verliert Gott seinen Namen, mit dem ihn Israel als seinen Gott anruft; Gott ist dann nicht mehr ,sein‘ Gott. Bis zu diesem Tage aber ist es Israels Leben, diesen ewigen Tag in Bekenntnis und Handlung vorwegzunehmen, als ein lebendiges Vorzeichen dieses Tages dazustehen, ein Volk von Priestern, mit dem Gesetz, durch die eigene Heiligkeit den Namen Gottes zu heiligen.“15

Das ist eine Topoi-Kombination von Kirche, Synagoge und heilsgeschichtlicher Eschatologie. Rosenzweig parallelisiert hier Kirche und Synagoge – mit den berühmten Bildern von der Synagoge mit zerbrochenem Stab und der Binde vor den Augen, die „alle Kraft darauf verwenden [muss], sich selbst am Leben zu erhalten“, und der Kirche mit Stab, „weltoffenen Auges“, die die „Weltarbeit an den Heiden“ tun muss.16 Beide werden zunächst mit Ex 19,5.6; Jes 43,20.21 und dem 1. Petrusbrief, Kap. 9 bestimmt : „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, 12

Briefe, S. 639 – 720. Briefe, Nr. 59 vom 31. 10. 1913 und 60 am 4. 11. 1913. 14 Briefe, S. 73. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 74.

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damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der Euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.“ Den Zusatz des Petrusbriefs zu den Zitaten aus Exodus und Jesaia, „der Euch aus der Finsternis in sei in wunderbares Licht gerufen hat“, bezieht Rosenzweig auf die Kirche und ihre „Weltarbeit“. Beiden, Synagoge und Ekklesia gemeinsam ist der Blick in die Zukunft – die Synagoge blickt starr und „verstockt“17 in sich hinein, auf ihre Verheißung hoffend, die Kirche ist weltzugewandte heilsgeschichtliche Handlungsträgerin. Am Ende werde Gott „alles in allem“ (1 Kor 15,28) sein. Gott „alles in allem“ ist nun nicht nur ein allgemeiner jüdisch-christlicher Messianismus, sondern eine neutestamentliche Formel, die zugleich das Leitmotiv des eschatologischen Origenismus und seiner Lehre von der Apokatastasis Panton bildet. Dieser neutestamentliche Rahmen konturiert die Diskussion um die Rolle von Synagoge und Ekklesia auch in Rosenzweigs jüdischer Selbstbehauptung. 2. Erwähltheit Die Typologie der weltblinden Synagoge und der weltzugewandten Ekklesia bestimmt auch den religionsphilosophischen Briefwechsel von 1916 mit Eugen Rosenstock, freilich in anderer Perspektive. Im Brief vom 4. 10. 191618 geht es unter dem Titel Judenhass und Judenstolz um die Frage der Auserwähltheit des jüdischen Volkes; das sei der Grund für die der „Verstocktheit“ der Juden. Der Stolz der Juden liege darin, „1. dass wir [die Juden] die Wahrheit haben, 2. dass wir am Ziel sind, und 3. wird jeder beliebige Jude im Grunde seiner Seele das christliche Verhältnis zu Gott, also die Religion i. e. S., eigentlich höchst kümmerlich, armselig und umständlich finden: dass man es erst von einem, seis wer er sei, lernen müsse, Gott unseren Vater zu nennen; das ist doch, wird der Jude meinen, das Erste und Selbstverständlichste – was braucht es einen Dritten zwischen mir und meinem Vater im Himmel“.19

Das Argument Rosenzweigs ist gegen eine Vermittlungschristologie gerichtet – und es bleibt von der Christologie insofern abhängig, als der Anruf Gottes als „Vater“ für spezifisch jüdisch ausgegeben wird. Mindestens in Bezug auf das rabbinische Judentum ist „Vater“ kein gängiger Gottestitel. Aber es stellt sich angesichts der These, „dass wir am Ziel sind“, die Frage nach der Erlösungsbedürftigkeit auch des jüdischen Volkes – diese Frage verschiebt Rosenzweig einerseits auf den „starren Blick“ aufs Ende, andererseits pointiert er, dass das Judentum heilsgeschichtlich autark sei. „Soll ich ,mich bekehren‘, wo ich von Geburt her ,auserwählt‘ bin?“ Ausdruck der „Verstocktheit!“ „Ist es nicht mein Schiff (nicht meine Galeere)? Y vivre et y mourir“.20

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Ebd., S. 78. Ebd., S. 666. 19 Ebd., S. 671. 20 Ebd., S. 672.

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Wenn man sich diese Topoi genauer anschaut, wird erneut klar, wie Rosenzweig Argumente der christlichen Tradition für die Selbstbehauptung des Judentums verwendet: Das Moment der Auserwähltheit ist ein dogmatischer Topos, der die christliche Gnadentheologie seit Augustin und noch einmal zugespitzt in der Frühen Neuzeit geprägt hat. Freilich geht es im Christentum um den Einzelnen – aber den betont Rosenzweig hier auch. Die Frage nach der kollektiven Erwähltheit war auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Teil der öffentlichen Diskussion; 1905 war Max Webers berühmter Aufsatz über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus erschienen,21 in der die Erwähltheit einer ganzen Denomination, nämlich der Calvinisten, thematisiert wurde. Es blieb freilich ein wichtiger Unterschied: Die jüdische Theologie der Auserwähltheit bezog sich nicht auf die göttliche Gnade, sondern auf die Tatsache des in der Thora offenbarten Gesetzes. Das Gesetz war die Gnade, das „,naiv‘ in Anspruch“ genommene unveräußerliche „Recht an Gott“, dem freilich, wie Rosenzweig betont, „das ebenso ,naiv‘ aufgenommene Joch der unveräußerlichen Leiden“ entspricht.22 3. Logostheologie Gegen Rosenzweigs These von der ursprünglichen Auserwähltheit setzt Rosenstock die Logostheologie. Die Fleischwerdung des Worts sei das entscheidende Moment des Christentums. Darin bestehe die eigentliche Selbstmitteilung Gottes, nicht im Besitz von diesem und jenem, und sei es auch das Gesetz. Die Behauptung, man habe etwas als seinen Besitz, sei selbst schon menschliche Anmaßung. Rosenzweigs jüdische Selbstbehauptung sei die Angst des Besitzenden, der sich um nichts als um seinen Besitz sorge. Als Replik auf den Brief von Rosenzweig schreibt Rosenstock (28. 10. 1916): „Die Angst vor der Verrückung des naiven, Maß-seienden Ich – die betrügt den ,natürlichen‘ Geist um die Herrschaft über Raum und Zeit. Hier setzt die Logoslehre des Heilandes ein. Der Logos wird von sich selbst erlöst, vom Fluche, immer nur in sich selbst sich zu berichtigen. Er tritt in die Verbindung mit dem Erkannten. – ,Das Wort ward Fleisch‘ – an dem Satz hängt ja wohl alles.“

Das ist der Grund, weshalb Rosenstock die „Dreieinigkeit“, als „rocher de bronze des Glaubens“23 bestimmt; denn nur in seiner Selbstmitteilung sei Gott ein Gott der Menschen. Auch wenn Rosenzweig noch kontert, die Logostheologie, nach der die Welt durch denselben Logos geschaffen worden ist, der sie auch erlöst, sei „christliche Naivität, ein johanneischer Trieb, die Welt für einen mundus naturaliter christianus

21 Max Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, I und II., in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20 (1905), S. 1 – 54; 21 (1905), S. 1 – 110. 22 Briefe, S. 689. 23 Ebd., S. 698.

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zu halten“,24 so kommt er um die Frage der Selbstmitteilung Gottes nicht herum. Die Logostheologie Rosenstocks hat zwei Konsequenzen. Die erste ist theosophisch: Das Wort ist Selbstmitteilung Gottes, kein Vertrag mit einer exklusiven Gruppe, sondern Hingabe und deshalb Für-Dich-Sein, nicht für sich. Das ist auch eine Kritik an der „Verstocktheit“ des Judentums, seine auserwählte Eigenheit. Die zweite besteht in der Kritik aller Transzendentalphilosophie des Ich als dem Ausgangspunkt aller Philosophie. Das entspricht der Kritik des späten Schelling (nach der Freiheitsschrift) an der Emanzipationsphilosophie des Ich als „vollendeter Sündhaftigkeit“ der „negativen“ Philosophie. An dieser Logostheologie hängt sehr viel; und Franz Rosenzweig hat die gesamte logostheologische Topik im Stern der Erlösung ausgereizt. Logostheologie ist Sprachphilosophie, Selbstmitteilung Gottes an den Menschen überhaupt. Auch die Vernunft ist deshalb Gottesgabe. Rosenstocks Credo ist, „dass ich den menschlichen Geist für genau so ein bloßes Geschöpf hielt wie unsere Leiber“,25 und hier stimmt ihm Rosenzweig zu. IV. System 1. Begriffsgeschichte Rosenzweig scheint den Systembegriff zunächst weitgehend unproblematisiert zu verwenden; das liegt einerseits sicher an der Selbstverständlichkeit, mit der der Begriff der systematischen Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts benutzt 24

Ebd., S. 660. Vgl. die Autobiographie von Rosenstock-Huessy, Ja und Nein. Heidelberg 1968, S. 70: „dass ich den menschlichen Geist für genau so ein bloßes Geschöpf hielt wie unsere Leiber“. – Seine Diskussionen mit Rosenzweig beschreibt Rosenstock-Huessy so (S. 70 f.): „Franz Rosenzweig, in dessen Elternhaus ich als Einjährig-Freiwilliger viel verkehrt hatte und der ein paar Jahre älter war als ich, studierte bei mir in Leipzig Rechtsgeschichte. Er stieß bei mir auf die felsenharte Tatsache, die er bis dahin den deutschen Professoren nicht geglaubt hatte, dass ich den menschlichen Geist für genau so ein bloßes Geschöpf hielt wie unsere Leiber. Er hielt alle sogenannten Christen für bloße Griechen und las das Wort des Neuen Testaments ,Gott ist Geist‘ mit wahrem Abscheu, weil er sah, wie die Akademiker aus diesem Satz die Platonische Ketzerei: mein Geist ist Gott, unser Geist ist Gott, unsere Ideale sind Gott, usw. usw., gemacht hatten. Wenn es aber auch nur einen deutschen Universitätslehrer gab, der das ,Beten‘ für ebenso unmittelbar, nein, für viel unmittelbarer und wahrer ansah als das bißchen Kathederdenken, der einem Geheiß mehr Kraft und Sinn zuschrieb als einem Begriff, dann gab es also in der Tat einen Sieg, über das Griechentum mit dem Kommen Christi. Dann gab es also nicht nur Christentum im Kampf gegen das Judentum, sondern auch gegen die akademisch-platonische Welt bloßen Denkens. Dann mußte es aber für ihn, den Juden Rosenzweig, und mich, den Christen, eine gemeinsame Sprache geben und womöglich auch eine gemeinsame Geschichte. Dies warf ihn in ein neues Amt, das erst künftig Juden und Deutschen ganz aufgehen wird. Er hielt seinen Stern der Erlösung, der ihn berühmt gemacht, immer für eine Erscheinung der deutschen Geschichte; und es ließ ihn eine neue gemeinsame Ordnung seiner und meiner Rede von mir annehmen, die neue Grammatik der Seelen, die zwar Verschiedenes zu sagen haben, aber deren Duette und Trios und Quartette und Symphonien erst den ganzen Gehalt der Wahrheit zusammen konzentrieren.“ 25

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wurde,26 andererseits an seinem Interesse am deutschen Idealismus. Schließlich hatte er über Hegel promoviert. Der Begriff des Systems der Philosophie war im deutschen Idealismus vor allem von Fichte nachhaltig inszeniert worden; seine Wissenschaftslehre beanspruchte, die Philosophie systematisch zu begründen.27 Fichtes Definition des Systems lautet: Eine Zusammenfassung verschiedener Sätze unter einem Prinzip. Fichte hat dieses Prinzip als einen Satz gefasst, der formal und material erster sein muss, als einen Satz, der selber sowohl formal als auch inhaltlich schlechterdings unausweichlich und erster ist. Dieser heißt: Ich = Ich. Er hat diese Grundeinsicht in seinen zahlreichen Entwürfen zur Wissenschaftslehre in immer verschiedenen Anläufen betont. Die beste Definition von „System“ stammt von 1794, aus der Vorlesungsankündigung „Über den Begriff der Wissenschaftslehre“: „Jede Wissenschaft, wenn sie nicht ein einzelner abgerissener Satz, sondern ein aus mehreren Sätzen bestehendes Ganze seyn soll, hat systematische Form. Diese Form, die Bedingung des Zusammenhangs der abgeleiteten Sätze mit dem Grundsatze, und der Rechtsgrund, aus diesem Zusammenhange zu folgern, dass die ersteren nothwendig eben so gewiss seyn müssen, als der letztere, lässt in der besonderen Wissenschaft, wenn sie Einheit haben, und sich nicht mit fremden, in sie nicht gehörigen Dingen beschäftigen soll, sich eben so wenig darthun, als in ihr die Wahrheit ihres Grundsatzes dargethan werden kann, sondern wird zur Möglichkeit ihrer Form schon vorausgesetzt. Eine allgemeine Wissenschaftslehre hat also die Verbindlichkeit auf sich, für alle möglichen Wissenschaften die systematische Form zu begründen.“

Der erste Satz der Wissenschaft, das „Ich = Ich“, erfüllt diese Evidenzkriterien, weil er das transzendentale „Ich denke, das alle Vorstellungen muss begleiten können“ und zugleich die Sätze der Identität und des Widerspruchs setzt, und weil sich 26 Vgl. Christian Strub, [Art.] System, in: Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 10, bes. Sp. 839 – 847. 27 Kants Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft wurde erst 1965 bekannt. Hier stellt Kant fest, dass die Kritik der reinen Vernunft nicht selbst ein System sei, sondern die Möglichkeit und die „Idee desselben allererst entwirft und prüfet“ (Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel. 4. Aufl., Darmstadt 1975, Bd. 5, S. 173). Anschließend unterteilt er das System in einen theoretischen und in einen praktischen Part und versucht, beide miteinander im Bezug auf die Kunst zu verbinden. Er verwendet den Begriff System im Sinn von zusammenpassen; aber das ist alles andere als präzise; man hat eher den Eindruck, dass dieser Terminus zwar verwendet, aber philosophisch noch nicht wirklich im Sinne der Transzendentalphilosophie durchdacht ist. Nun hat Fichte den Begriff System nicht erfunden, der Begriff stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert und hat als Definition ein Zitat aus Lukian: „Kunst ist eine Zusammenstellung (Systema) verschiedener Handgriffe (Begriffe) und Verrichtungen zu einem nützlichen Zweck im Leben“. Als Zusammenfassung verschiedener Sätze zum Zweck des praktischen Gebrauchs in Lehrbüchern – ist „Systema“ fast das ganze 17. und auch das frühe 18. Jahrhundert gebraucht worden. Vgl. Vf., Topica universalis. Hamburg 1984, passim, bes. S. 91 – 94; Erst bei Condillac, Traité des Systèmes (1750), ist der Begriff polemisch gewendet worden als Leitbegriff einer empiristisch-eklektisch-rhetorischen „philosophie systematique“ der französischen Aufklärung gegen den „Esprit de Système“ von Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz.

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dieses Denken im Akt des Denkens zugleich selbst setzt, also im präzisen Sinn performativ ist. Genau an dieses Konzept des Systems schließt Schelling im System des transzendentalen Idealismus von 1800 an: „Der Zweck des gegenwärtigen Werks ist nun eben dieser, den transcendentalen Idealismus zu dem zu erweitern, was er wirklich seyn soll, nämlich zu einem System des gesammten Wissens, also den Beweis jenes Systems nicht bloß im Allgemeinen, sondern durch die That selbst zu führen, d. h. durch die wirkliche Ausdehnung seiner Principien auf alle möglichen Probleme in Ansehung der Hauptgegenstände des Wissens, welche entweder schon vorher aufgeworfen, aber nicht aufgelöst waren, oder aber durch das System selbst möglich gemacht worden und neu entstanden sind.“28

Die Besonderheit von Schellings Systemkonzept im System des transzendentalen Idealismus besteht nun darin, dass nicht nur das Ich sich selbst setzt, sondern dass es sich, indem es auf seinen Gegenstand, das Nicht-Ich, ausgreift, selbst als organisch begreift. Schließlich teilt sich dem Ich etwas von seinem Gegenstand mit, und das Ich erlangt so als bewusstes Erfahrung. Auf der anderen Seite ist auch das Nicht-Ich, das Objekt, in der Lage, eben Objekt zu sein. Es hat als äußere Natur die unbewusste Fähigkeit, sich dem bewussten Geist, dessen Objekt es ist, mitzuteilen und das objektive Moment des Erkenntnisprozesses auszumachen. So hat der organische Erkenntnisprozess ein subjektiv bewusstes und eine objektiv unbewusstes Moment. Schelling begreift nun die Kunst als dasjenige Moment des Geistes, das auch dem genialen Subjekt zukommt, indem es sich als unbewusst mitteilend produziert. Das Kunstwerk ist damit unbewusste Mitteilung des Subjekts, der eigentliche Ausdruck seiner Natur; unbewusst, höchste Lust. Mit diesem Begriff des Systems kommt der Idealismus vor Hegel zu seiner Pointe – und Hegel bleibt in seinem Systembegriff von Schellings Fassung des Systems, das Subjektphilosophie, Naturphilosophie und Ästhetik verknüpft, abhängig. 2. „System“ im Systemprogramm Im Jahr 1914 veröffentlichte Rosenzweig „Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“.29 Der Ruhm der Entdeckung und Veröffentlichung dieses nachher noch lange diskutierten Stücks30 lag wohl nicht nur an dem Inhalt des Folio28 Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), in: Schriften von 1799 – 1801. Darmstadt 1967, S. 330. 29 Rosenzweig: Kleinere Schriften. Berlin 1937, S. 230 – 277. 30 1926 stelle Wilhelm Böhm die These auf, nicht Schelling, sondern Hölderlin sei der Autor. Ludwig Strauß widerlegte diese These. Man einige sich auf die Verfasserschaft Schellings und Hölderlins – Hölderlin wurden die ästhetischen Teile zugeschrieben. Nach langer Diskussion wird das Stück, das in Hegels Handschrift überliefert ist, diesem jetzt auch zugeschrieben. Vgl. Gisela Schüler, Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. HegelStudien, Bd. 2. Bonn 1963. – Vor allem Otto Pöggeler hat Hegels Verfasserschaft endgültig festgestellt; allerdings nimmt auch er an, dass die ästhetischen Passagen auf Hölderlin zurückgehen: vgl. Pöggeler, Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. Hegel Studien, Beiheft 4, Hegel-Tage Urbino 1965. Bonn 1968. Vgl. insgesamt:

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blatts selbst, sondern auch an dem Titel, den Rosenzweig erfand und durch den das zufällig von der preußischen Staatsbibliothek erworbene Doppelblatt zum Schlüsseldokument für den gesamten deutschen Idealismus gemacht wurde. Rosenzweig datierte das „älteste Systemprogramm“ auf den Zeitraum von April 1796 – Juli 1797 und schrieb es Schelling zu. Er begründete diese Zuschreibung mit der gedanklichen Nähe zu Schellings System des transzendentalen Idealismus. Das war das Werk, das selbst „System“ im Titel hatte und das, ebenso wie das „älteste Systemprogramm“, ein wesentlich ästhetisches Projekt war. Die entscheidende Passage war: „Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. […] Die Poesie bekömmt dadurch e höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben. […] Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müßen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie mus e Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse u. umgek. Ehe d. Mythol. vernünftig ist, muß sich der Philos. ihrer schämen. So müssen endl. Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich d. Hand reichen, die Myth. muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, u. d. Phil. muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnl. zu machen.“31

Rosenzweig kennt sich mit Schelling aus, er begründet die Zuschreibung auch mit Schellings frühen theologischen Schriften zur Mythologie,32 die er freilich als überwunden kennzeichnet. Vor allem aber führt er einen Brief Schellings vom 12. März 1796 an, wo die Mythologie eine Rolle spielt: „Ich glaube, dass zu einer Nationalerziehung Mysterien gehören, in welche der Jüngling stufenweise eingeweiht wird. In diesen sollte die neue Philosophie gelehrt werden. Sie solle die letzte Enthüllung seyn, die man dem erprobten Schüler der Weisheit widerfahren lasse.“33 Rosenzweig ist sich durchaus im Klaren, dass der Begriff „Systemprogramm“ auf die zentrale philosophische Attitüde des Idealismus verweist. Kant, schreibt er, sei sich noch nicht so recht klar gewesen über den Begriff System,34 aber die von ihm eröffnete Epoche habe „in einem System kulminiert. Das Hegelsche System verdankt, wie man längst erkannt hat, seine ungeheure Wirkung zum großen Teil einfach der Tatsache, dass es ein System war. Den Sturz des Hegelschen Systems überdauernd hat sich an ihm die Gemeinüberzeugung gebildet, dass es die Aufgabe der PhiFrank-Peter Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation. Berlin 1989. 31 Rosenzweig, Kleinere Schriften, S. 234 (Systemprogramm). 32 De malorum origine (1792), Über Mythen (1793). 33 Kleinere Schriften, S. 255 (Systemprogramm). 34 Er kann die erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft noch nicht kennen, sie wurde erst 1965 veröffentlicht.

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losophie sei, irgendwie zum System zu kommen.“ Diese Vorstellung habe auch noch dem Ruf „zurück zu Kant“35 zugrunde gelegen. „Die ganze diesen verschiedenen Ansichten zugrundeliegende Vorstellung vom System als einer Aufgabe der Philosophie ist nun wie gesagt keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Entdeckung des deutschen Idealismus“.36 Rosenzweig sieht diese Entwicklung zum System als Vollendung der abendländischen Geistesgeschichte, die von den Ionischen Naturphilosophen – „alles ist Wasser“37 – stamme. Später wird er das in die Formel „Von Ionien bis Jena“ fassen. Schelling habe innerhalb der idealistischen Bewegung „den Gedanken des Systems als erster“ gefasst38 und in der Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik konzipiert. Freilich habe er – in Hinsicht auf Spinoza – in den philosophischen Briefen von 1795 noch gesagt, dass nichts den philosophischen Kopf mehr empöre, als dass „von nun an alle Philosophie in den Fesseln eines einzelnen Systems gefangen liegen soll“.39 Von hierher gehe dann der Weg zunächst zum System des transzendentalen Idealismus und von da zu Hegels System. 3. System im Briefwechsel zur Zeit der Konzeption des Stern a) Hegels System und Schellings Erzählen Die Problematik des Systemkonzepts als Ausdruck der Subjektivitätsphilosophie des deutschen Idealismus wurde Rosenzweig deutlich, als er Schellings Spätphilosophie, vor allem die „Freiheitsschrift“ und die Weltalter, las. Er interpretierte nun – nicht anders als Kierkegaard – Hegel als Systematiker, der den Geist brutal als Selbstermächtigung deute. In der Diskussion mit Rosenstock benannte er diese Attitüde als Sprachproblem des systematischen Denkens: „Jene Willkür der Sprechform ist uns eigen. Hegels Phänomenologie ist eben nur als Einleitung gedacht gewesen und Schellings Erzählenwollen ist anders gemeint, nämlich nicht als Verindividualisierung der Form des Philosophierens. Wir erkennen das Systemproblem der Idealisten (die Form des Philosophierens als die eigentliche crux der Philosophie) an, aber es beherrscht nicht die Form unseres eigenen Philosophierens wie bei jenen; wir wollen nicht Philosophen sein, indem wir philosophieren, sondern Menschen, und deshalb müssen wir unser Philosophieren in die Form unserer Menschlichkeit bringen.“40

Diese „Form unserer Menschlichkeit“ interpretierte Rosenzweig als Geschöpflichkeit. Die Abhängigkeit des Menschen vom Absoluten, die auch sein Denken umfasst, brauchte ihre eigene Form des Philosophierens. Diese erkannte Rosenzweig im 35

Otto Liebmann, Kant und die Epigonen. Stuttgart 1865. Kleinere Schriften, S. 273 (Systemprogramm). 37 Vgl. ebd. 38 Ebd., S. 275. 39 Ebd., S. 276. 40 Rosenzweig 1916 an Rosenstock, Briefe, S. 718.

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philosophischen Erzählen. Sein Vorbild fand er in Schellings Weltalter-Philosophie. „Meine Unsicherheit über die Methode meines Denkens“ schrieb er am 30. 11. 1916 an Rosenstock, „besteht darin: ich weiß nicht, wo das ,Denken‘ anfangen (bzw. auch aufhören) muß und das ,Erzählen‘ aufhören bzw. anfangen. Ich habe schon manchmal gemeint, man müßte alles ,erzählen‘. (vgl. Schelling in dem Reclambändchen ,Die Weltalter‘ in der Einleitung über historische Philosophie).“41 Das war die Zeit, in der er den Stern der Erlösung konzipierte. In dem zitierten Reclambändchen der Weltalter wird in der Einleitung die Emanation aus dem Indifferenten als Entstehung der Zweiheit beschreiben und die Gattung philosophischen Erzählens so gefasst: „Also erzählt wird seiner Natur nach alles Gewußte: aber das Gewußte ist hier kein von Anbeginn fertig daliegendes und vorhandenes, sondern ein aus dem Innern durch einen ganz eigentümlichen Prozess immer erst entstehendes. Durch innerliche Scheidung und Befreiung muß das Licht der Wissenschaft aufgehen, ehe es leuchten kann.“42

Dieses Moment philosophischen Erzählens des Anfänglichen macht die Teilhabe des menschlichen Geistes am Prozess des Göttlichen bewusst; es verbindet die Prozessualität idealistischen Philosophierens mit der Empfänglichkeit für das Göttliche, ohne dass das transzendentale Ich sich dieses Absoluten bemächtigt. b) Das unbestimmte Eine als dunkler Grund der Gottheit Die Auseinandersetzung mit dem Idealismus bestimmte die Konzeption des Stern entscheidend. Das wird im Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18. 11. 1917 deutlich, der als „Urzelle des Sterns der Erlösung“ berühmt geworden ist. Es geht um die Natur der Offenbarung und das transzendentalphilosophische Denken. Das magische Datum, die „Unruhe“ in Rosenzweigs „Denkuhrwerk“, ist „1800“, die Zeit der deutschen Klassik und des Idealismus. Hier sieht er Hegel und Goethe als Schlüsselfiguren: „ ,Hegel‘ und ,Goethe‘. nämlich die absoluten Selbstbewußtseine der beiden, Hegels als des letzten Philosophen, des letzten heidnischen Gehirns“ und Goethes als des ersten „Menschen schlechtweg“ – also „dezidierten Nichtchristen“.43 Die Alternative, die Rosenzweig hat, ist freilich bereits die Schellings: „Der Mensch hat zweierlei Verhältnis zum Absoluten, eines wo es ihn hat, aber noch ein zweites, wo er es hat“.44 Dieses zweite Moment ist die sich selbst begründende Vernunft, die er als das Prinzip der Hegelschen Logik ausmacht. Sein Verdacht erneuert den alten Einwand gegen die Transzendentalphilosophie, sie sei ein Taschenspielertrick der Selbstermöglichung, durch den die Realität des Seins in Denkbarkeit umgedeutet werde. „Selbstbegründung des Denkens ist notwendig nur um der Denk41

Ebd., S. 711. Schelling, Die Weltalter, hg. von Kuhlenbeck. Stuttgart [ca. 1900], S. 18. 43 Kleinere Schriften, Urzelle, S. 358. 44 Ebd.

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barkeit des Seins willen; es bleibt aber gegen sie der Verdacht, dass abgesehen von dieser Beziehung aufs Sein die Selbstbegründung des Denkens eine bloße logische Spielerei ist.“45 Deshalb unterscheidet er, „dass das ,Sein Gottes‘ noch von seinem Begriff (Selbstgenügsamkeit) getrennt werden muß.“ Es ist das Argument, dass Sein und Begriff etwas Gemeinsames voraussetzen müssen, was ihren gegenseitigen Bezug ermöglicht und wahrheitsfähig macht – das unbestimmte Eine vor jeder Zweiheit. Die Vernunft verweist auf diese Einheit hinter aller Wahrheit als deren Möglichkeit. „Dieses Etwas an der Vernunft jenseits (logisch gesprochen ,jenseits‘) der Vernunft ist eine Einheit, die nicht die Einheit Zweier ist, nicht als Gleichung zu formulieren, sondern Einheit abseits von Zweiheit, das Gleichheitszeichen in den beiden Gleichungen, aber, zum Unterschied von seiner Verwendung dort, nicht als Gleichheitszeichen, sondern als Wirklichkeit, nicht hypothetisch (,wenn zwischen A und B und A und A eine Beziehung gilt, dann die der Gleichheit‘) sondern kategorisch (,es gibt Gleichheit ,vor‘ aller möglichen Beziehung‘). Ecce realitas. So wie es einen Gott ,gibt‘ vor aller Beziehung, sowohl der auf die Welt [Schöpfung] wie der auf sich selbst [Trinität], und erst dieses Sein Gottes, das ganz unhypothetische, ist der Keimpunkt der Wirklichkeit Gottes, das was Schelling, an den (und an Hans) du natürlich fortwährend gedacht haben mußt, den ,dunklen Grund‘ [Freiheitsschrift46] usw. nennt, eine Verinnerung Gottes, die nicht bloß seiner Selbstentäußerung, sondern sogar seinem Selbst vorhergeht (wie es, soviel ich weiß, die Lurjanische Kabbala lehrt; ich erzählte dir mal davon)“.47

Rosenzweig identifiziert den „dunklen Grund“ als Wirklichkeit und „Realität“ Gottes: „ecce realitas“. Genau genommen, ist eine solche Identifizierung unmöglich, weil auch „realitas“ eine Identifizierung ist und weil mit dieser Identifizierung schon eine Differenz mitgesetzt sein muss, die durch das unbestimmte Eine gerade ausgeschlossen ist. Dem sei, wie ihm wolle – alles, was sich zeigt, lässt das unbestimmte Eine hinter sich, denn es verändert es zum bestimmten Einen. In diesem Sinne ist alles, was von diesem dunklen Grund, dem Unbestimmten vor aller Existenz, ausgeht, „Offenbarung“. Offenbarung ist die freie Zuwendung Gottes zum Schöpfungsakt; „Freiheit [ist] das Wunder der Erscheinungswelt“.48 Diese Freiheit Gottes besteht in dem Wunder, dass Gott sich als Existenzgeber der Schöpfung offenbare. Um dieses Faktum der Offenbarung begreifen zu können, müsse der Mensch sich als Teil dieses Prozesses selbst begreifen können; das geschehe in der Anrede des Du.

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Ebd., S. 360. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Sämmtliche Werke 1/7, S. 360 f.: „Aber entsprechend der Sehnsucht, welche als der noch dunkle Grund die erste Regung des göttlichen Daseins ist, erzeugt sich in Gott selbst eine innere reflexive Vorstellung, durch welche, da sie keinen andern Gegenstand haben kann als Gott, Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt.“ 47 Kleinere Schriften, Urzelle, S. 360. 48 Ebd., S. 362. 46

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Das erlösende Wort Gottes sei: Adam: „wo bist Du“.49 Während das Denken des Objekts eines des „es“ sei, müsse es im Prozess der Abhängigkeit vom Göttlichen begriffen werden. Das sei der Sinn der Offenbarung, dass „dem Menschen das Eigene Gottes, Gottes Willen, Gottes Werk anvertraut wird, auf das er es tue.“50 Die göttliche Zuwendung an den Menschen wird bis in Momente gesteigert, die aus dem gesetzgebenden, schaffenden den herabsteigenden – durchaus in der Nähe zur Christologie gedachten – beseligenden Gott machen. „Das Höchste, statt unsere Hingabe zu verlangen, gibt sich uns selber hin; statt uns zu seiner Höhe zu erheben, steigt es zu uns nieder; und wiederum, statt uns unser Selbst zum Lohn zu versprechen (,werde, der du bist‘), verheißt es uns Entselbstung, Gottesnähe als Seligkeit“.51 Hier wird alle Ichbezogenheit, alle Transzendentalphilosophie des Ich = Ich als Sündenfall interpretiert. Das stimmt mit Schellings Spätphilosophie, zumal der Freiheitsschrift überein, und es übernimmt den gesamten Zusammenhang der Kritik an der Philosophie. Schellings und Rosenzweigs Positionen sind dieselben: Annahme der göttlichen Offenbarung und Selbstaufgabe des Ich im Processus universitatis von Gottes Selbstentäußerung in Offenbarung und Welt, die dem Menschen zur Teilhabe angeboten werden. Im Bezug auf „1800“ heißt das: „Der Immanenzgedanke – und was ist das Heidentum sonst! – , den Hegel theoretisch und Goethe praktisch zur Vollendung führten, ist nun selber Faktum [= Gemachtes, Schöpfung52] geworden und dadurch fähig, von der Offenbarung ergriffen zu werden.“53 c) Die ineinandergeschobenen Dreiecke des Davidssterns – Der Brief an Gritli vom 22. August 1918 Von August 1918 an schrieb Rosenzweig den Stern der Erlösung nach seinen Feldpostkarten ins Reine. Das Buch lebt von der Emphase der Offenbarungsphilosophie gleichermaßen wie vom Expressionismus des inspirierten Autors, der diese Philosophie umfassend – eben gleichzeitig als System und als Offenbarung vollzog und der sich deshalb selbst als Teil dieses Offenbarungsprozesses des Göttlichen im Menschen begriff. Diesen Prozess hat Rosenzweig seiner Geliebten erläutert und damit zugleich eine Einführung in den Stern der Erlösung gegeben. In gewisser Weise ist der Stern selbst, der als Davidsstern aus zwei ineinandergeschobenen Dreiecken besteht, das Symbol des Systems der göttlichen Offenbarung, das Rosenzweig vorführen will. Er erläutert: „der Stern ist weiter nichts als die Kombination zweier Dreiecke, die sich nicht aufeinanderlegen lassen wollen und also sternförmig zueinander stehen müssen. Das r der Schöp49

Ebd., S. 364 (Gen 3,9). Ebd., S. 366. 51 Ebd., S. 367. 52 Ich füge die dogmatischen Implikationen in eckigen Klammern an (W. S.-B.). 53 Urzelle, S. 370.

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Wilhelm Schmidt-Biggemann fung, nämlich das was vor der Offenbarung da ist, und das s der Offenbarung, die Welt nachher. Beide Dreiecke Schöpfungs[-] und Offenbarungs[dreieck] unlöslich verbunden, Y geben die Gewißheit der Erlösung.“54

d) Metaphysica specialis und Heilsökonomie Diese Symbolik bestimmt die Gliederung der drei Teile des Stern: Das Dreieck r, das auf der Basis steht, ist das Zeichen für den ersten Teil des Stern. „Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt“ – als Gott, Mensch, Welt, wie bei Kant nach Christian Wolffs deutscher Metaphysik als metaphysica specialis. Das Dreieck mit der Basis nach oben s ist Symbol des zweiten Teils: „Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt“. Das ist Logostheologie in der dreifachen Bedeutung von Logos: Entäußerung Gottes [trinitarisch], als Schöpfungslogos und als [fleischgewordener] Erlösungslogos. Der dritte Teil hat den Davidsstern Y: „Die Gestalt oder die Ewige Überwelt“. Das ist die ständige Durchwaltung der beiden Teildreiecke, zugleich das, was am Ende in der Perfektion die Erlösung der Welt in ihrer vollkommenen Durchwaltung des Göttlichen ist; die Eschatologie, die Judentum und Christentum gemeinsam ist, das origenistische Moment der Apokatastasis, das auch 1 Kor 15,28 bedient: Gott wird alles in allem sein.55 Das ist, schulphilosophisch gesprochen, eine Verbindung von Metaphysica specialis und Heilsökonomie, und diese Verbindung hat eine alte abendländische Tradition: Sie findet sich in Eriugenas Peri Physeos: wo das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt in die Formel: „Non creans, non creatum; creans non creatum; creans creatum, creatum non creans“ gefasst wird, sie findet sich in Albertus Magnus‘ De causis ac processu universitatis und sie findet sich in Rosenzweigs unmittelbarer Quelle, nämlich in Schellings Weltaltern. Rosenzweig beerbt, wie der Brief an Gritli (22. 8. 1918) zeigt, auch die Idee der primordialen Sprache vor aller Schöpfung – in (neo)pythagoreischer Tradition fasst er die Mathematik als ursprüngliche göttliche Sprache auf: „Die Mathematik ist ja die Sprache vor aller Offenbarung. Erst in der Offenbarung wird die Sprache der Menschen geschaffen.“56 Die Terminologie dieser Philosophie der Vorwelt arbeitet mit der Vorsilbe „meta“. Rosenzweig erläutert Gritli: „So wie es eine Metaphysik gibt, nämlich eine Wissenschaft, die von Gott handelt ganz gleichgültig, ob er jemals eine Welt geschaffen hat oder nicht, von Gott ganz für sich selbst, von Gott als wenn er nicht der Herr und Schöpfer der ,Physik‘ wäre, sondern selbst seine eigene Physik hätte, und so wie Hans [Ehrenberg] eine Metalogik macht, eine Wissenschaft von der Welt ganz unbekümmert um ihr (der Welt) Verhältnis zu einem etwaigen Denken, einem Logos, sondern im Gegenteil diesen Logos selbst als ein Stück Weltinhalt fassend statt als Weltform, so habe ich da eine Metaethik aufgestellt, eine Lehre vom Menschen, 54

Rosenzweig, Gritli-Briefe, S. 124. Vgl. oben im Ehrenberg-Briefwechsel und am Ende von Buch III, Zusammenfassung. 56 Gritli-Briefe, S. 124.

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der nicht unter Gesetzen und Ordnungen steht, für den keine Ethik gilt, sondern dessen Ethos wenn er eins hat, ein Stück seines blossen Daseins, seiner wüsten Natur wäre. Diese MetaWissenschaften schreiten den ganzen Kreis der Schöpfung aus, den werdefreien (aphysischen) Gott, die begriffsfreie (alogische Welt), den sittefreien (a-ethischen) Menschen. Aus diesem Dreieck der Schöpfung [als Dasein] wird nun das Dreieck der Offenbarung als des Worts hervorgezwungen.“

Mit diesem letzten Satz wird zugleich deutlich, wie sich die Logostheologie des Offenbarungs-Dreiecks zum Dreieck der Metaphysica specialis von Gott, Mensch und Welt verhält: Das wirkende Wort verleiht der Schöpfung Sein und Leben. e) System als ob: „Im Denken schlägt wirklich ein Schlag tausend Verbindungen“ Rosenzweig war sich der Bedeutung seines Stern durchaus bewusst, auch wenn das Buch, nicht zuletzt wegen seiner schwierigen Schreibart, zunächst kein Erfolg war. Diese Schwierigkeiten hat er in einem Aufsatz von 1925 „Das neue Denken“ beschrieben, und er hat den Text zugleich in ein ironisches Verhältnis zum Konzept von System gesetzt. Der Stern ist nur sozusagen ein System. Sein Status ist ein System als ob. Die Darstellungsschwierigkeit besteht zunächst darin: „Im Denken schlägt wirklich ein Schlag tausend Verbindungen; im Schreiben müssen diese tausend fein säuberlich auf die Schnur von Tausenden Zeilen gereiht werden.“57 Aber die eigentliche Problematik ist tiefergehend, die Prozessualität lässt keine statische Systematik zu, sie muss ständig als Teilhabe vollzogen werden: Der Stern darf kein System im Sinne des Idealismus sein und er kann diese Form doch nicht vermeiden. Rosenzweig rechtfertigt sich: „Ein System der Philosophie besteht nach geheiligtem Brauche aus einer Logik, einer Ethik, einer Ästhetik und einer Religionsphilosophie. Der ,Stern der Erlösung‘ bricht trotz seiner Dreibändigkeit – der Zusammendruck in einem Band geschah nur wegen der damaligen Verlagsschwierigkeiten und wird laut Zusage des Herrn Verlegers von der zweiten Auflage ab wieder der ursprünglichen Dreibändigkeit weichen – mit diesem Brauch. Er enthält zwar außer der vierten dieser Ingredienzien eines ordentlichen Systempunschs die übrigen alle: Die Logik vornehmlich im zweiten Buch des ersten, im ersten des zweiten und im dritten des dritten Bandes; die Ethik im dritten Buch des ersten, im zweiten und im ersten des dritten Bandes; die Ästhetik in allen Büchern des ersten und zweiten und im zweiten Buch des dritten Bandes. Aber wie schon aus dieser kuriosen Verteilung hervorgeht, ist das systematische Prinzip dieser Philosophie ein andres. Eben auf dieses Prinzip sucht auch der Titel mit seiner Zusammenfassung des astronomischen Gleichnisses der drei Bandüberschriften – Elemente, Bahn, Gestalt – hinzudeuten.“58

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Rosenzweig, Das neue Denken, Kleinere Schriften, S. 376. Ebd., S. 375.

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V. Der Stern der Erlösung Sieht man sich unter diesen Prämissen die Disposition des Stern an, handelt es sich durchaus um ein System, sofern System als Rückführung aller Teile auf ein erstes Prinzip bedeutet. Freilich ist das Prinzip als göttliches logisch nicht mehr fasslich, weil die Logik selbst nur sekundär ist. Die Offenbarung dieses an sich Unfassbaren ermöglicht die Teilhabe am Absoluten durch das menschliche Denken. Und als dieses teilhabende Prozessdenken ist die Offenbarung beschreibbar: Das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch ist erst als Selbstoffenbarung Gottes zustande gekommen. Am Ende dieses Prozesses wird sich die Offenbarung für die Welt und den Menschen als Erlösung und Vergöttlichung erweisen, wenn Gott alles in allem sein wird. In diesem Sinne ist das Buch gegliedert, es erfüllt sogar die triadischen Kriterien neopythagoreischer Mathematik. Es hat drei Teile; jeder Teil eine Einleitung, drei Bücher und eine Überleitung. Jedes Mal handelt die Einleitung „Über die Möglichkeit“. Insgesamt ist es durchgezählt in 460 Abschnitte, von denen jeder seit der zweiten Ausgabe eine Kennzeichnung am Rande hat. Die Durchstrukturierung geht nicht soweit, dass auch die Abschnitte der einzelnen Bücher symmetrisch geordnet wären. Der erste Teil hat 81 Abschnitte, der 2. Teil (Nr. 82 – 267) 185 Abschnitte, der 3. (Nr. 269 – 460) 191 Abschnitte. Der gedankliche Aufbau gleicht dem der Schellingschen Weltalter, die als Erzählung des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen geplant waren; der Stern übernimmt diese Zeitstruktur in der Beziehung, dass das Moment des Zukünftigen, die Eschatologie, als ewige Vollendung des Offenbarungsprozesses der Welt selbst begriffen werden. Der Stern teilt mit den Weltaltern auch die Einsicht, dass die Zeitlichkeit selbst im Verhältnis zur Ewigkeit als das Vergehen ins Vergangene durch den Vollzug der Gegenwart begriffen werden muss; und die Gegenwart speist sich von dem, was denn kommen soll. In diesem Sinn hat der Text durchaus den Charakter der Verkündigung: Er argumentiert nicht. Erzählt er? Oder verkündet er vorhergesehene, erhoffte „Wahrheiten“?

r Der erste Teil „Die Elemente oder die immerwährende Vernunft“ ist die Exposition der Metaphysik, spezifisch der Metaphysica specialis. Die Einleitung „Über die Möglichkeit, das All zu erkennen“ behandelt die Schwierigkeit eines jeden universalen Systems, dass das Reden über das Ganze dieses Reden miteinschließt und infolgedessen nur ironisch und dialektisch sein kann. Erst auf dieser Grundlage kann nun das erste Buch „Gott und sein Sein oder Metaphysik“ die Existenz Gottes vorstellen. Dabei ist bemerkenswert – und in gewissem Sinne inkonsequent – dass Gott nicht als ständig sich aus dem Indifferenten ins Sein verwirklichender beschrieben wird, sondern in seiner Existenz gesetzt wird. Der Begriff Metaphysik, der hier die Reihe der „Meta“-Begriffe einführt, ist in dem sehr engen Sinn der metaphysica

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specialis der Schultradition verhandelt. Das zweite Buch „Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik“ kehrt die Auflösung der Metaphysik in die Logik, die Hegels „Wissenschaft der Logik“ vollzogen hatte, um: Durchaus in der Nachfolge Kierkegaards wird die Existenz vorausgesetzt, damit Prädikation möglich ist. Damit erweist sich Rosenzweig als Existenzphilosoph; und diese Herausstellung der Existenz, die für den Gottesbegriff der Metaphysik ebenso gilt wie für die Logik der Prädikation, zeigt sich auch im dritten Buch „Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik“. Vor allem Sollen, vor aller Tragik steht die menschliche Existenz, an der sich Sollen und Scheitern vollziehen.

s Der zweite Teil „Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt“ ist der logostheologische Part des Stern. Rosenzweig nimmt die Logostheologie in dem Sinne, dass nicht der trinitarische, sondern der Schöpfungslogos, der die Welt und den Menschen ins Sein ruft, thematisiert wird. Weil hier die Existenz schlechthin als das Wunder der Offenbarung Gottes beschreiben wird, bekommt dieser Teil einen durchaus erbaulichen Charakter – und dieser Charakter wird sich im eschatologisch-kultischen dritten Teil noch steigern. Hier, im zweiten Teil, geht es in der Einleitung zunächst um die „Möglichkeit das Wunder zu erleben“; und dieses Wunder ist die Existenz des Geschaffenen schlechthin. Im ersten Buch „Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge“ entfaltet Rosenzweig die Semantik der Elementarrede, die die Schöpfung an den Menschen richtet – die Philosophie der „Stammworte“ „Ja“, „Nein“, „und“. Das sind die Kategorien des Daseins, das sich mit diesen Stammworten in der Welt weiß. Diese Kategorien werden im zweiten Buch „Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele“ als die Uroffenbarungen 1) des „Ja“ als Liebe, 2) des Ich als Ja, Nein und Gnade, und 3) des „und“ als Ermöglichung von Kommunikation mit Gott und den Menschen entfaltet. Hier kommt auch das Moment der Zeit und der Verheißung ins Spiel, das im dritten Buch „Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs“ als origenistische Eschatologie vorgeführt wird: Die Erlösung der Welt durch die Herabkunft Gottes in die Welt – durchaus ein christologisches Moment – wird als Verheißung und Versprechen eines ewigen Herablassungsprozesses dargestellt, bei dem Gott am Ende alles in allem sein wird.

Y Der dritte Teil „Die Gestalt oder die ewige Überwelt“ enthält alle Muster einer eschatologischen Ekklesiologie des Reiches Gottes: Dein Reich komme. Deshalb handelt die Einleitung in Anlehnung an die dritte Bitte des Vaterunsers „Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten“. Dieses Reich wird als der Ort der Feste und des Kultes begriffen, in denen – so das erste Buch – „Das Feuer oder das ewige Leben“ – vorscheint. Das zweite Buch: „Die Strahlen oder der ewige Weg“, behan-

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delt das christliche Kirchenjahr in Parallele zu den jüdischen Festen und preist die von Musik durchtönten heiligen Räume; Kirche und Synagoge künden gleichermaßen von der Herrlichkeit des Herrn. Aber auch hier betont Rosenzweig erneut: Die christlichen Kirchen stehen im Weltverhältnis des Wettlaufs mit der Zeit – das Judentum blickt unverwandt auf die endgültige messianische Erscheinung des Herrn. Und der zeigt sich, wie im dritten Buch „Der Stern oder die ewige Wahrheit“ verkündet wird, als die göttliche Wahrheit, als Gottmenschlichkeit Christi, des Messias und als Schechina, als die Anwesenheit Gottes in der Welt, in der er „omnia in omnibus“ ist und als Segnender der Welt „sein Angesicht leuchten lässt“ Fiat!

System und Zeit bei Franz Rosenzweig vor dem Hintergrund diverser Systemtypen Karen Gloy In seinem 1925 verfassten Kommentar Das neue Denken1 zu seinem Hauptwerk Stern der Erlösung versucht Rosenzweig, Inhalt und Methode seines Hauptwerkes zu charakterisieren und auf prägnante Begriffe zu bringen. Der Zweck seines Buches bestehe in der Konfrontation eines sogenannten alten Denkens, mit dem Rosenzweig die gesamte traditionelle abendländische Philosophie bezeichnet, mit einem sogenannten neuen Denken, mit dem er seinen eigenen Ansatz markiert, und der Ersetzung jenes alten Denkens durch diesen neuen Ansatz. Die traditionelle Philosophie von ,Ionien bis Jena‘ (von Parmenides bis Hegel) hatte sich der Seinsfrage ,Was ist?‘ (ti esti) verschrieben, jener Frage, die dem Sein des Seienden bzw. dem Wesen der Dinge nachspürt, indem sie die uns umgebende chaotische, schillernde und ständig wechselnde Fülle der Erscheinungen auf ein einziges konstantes Prinzip zu reduzieren versucht, das allen Dingen zugrunde liegt und die Pluralität, Heterogenität und Fluktuation der Dinge durch Reduktion auf Einheit fassbar macht. Wurde dieses Prinzip bei den Vorsokratikern mit einem konkreten Prinzip identifiziert, bei Thales mit Wasser, bei Anaximenes mit Luft, bei Heraklit mit Feuer, so in der klassisch griechischen Philosophie bei Platon und Aristoteles mit den Ideen, die nur durch das Denken erfassbar sind, und in der Neuzeit bei den Idealisten mit dem sich selber denkenden Denken, dem Selbstbewußtsein, bei dem das Denken sich selbst zum Gegenstand nimmt. Den Abschluss bildet für Rosenzweig Hegel, „[d]enn als einen Abschluß muß man es wohl bezeichnen, wenn dies Wissen nicht mehr bloß seinen Gegenstand, das All, sondern auch sich selber restlos, wenigstens nach seinen eigenen Ansprüchen und in seiner selbsteigenen Weise restlos, umgreift.“2 Da das Prinzip den konkreten Dingen konfrontiert wird, ihnen folglich transzendent, nicht immanent ist, lässt sich mittels seiner die Vielheit bzw. Allheit beherrschen. Das abendländische Denken stellt mithin den Versuch dar, die fluktuierende Vielheit durch Reduktion auf eine konstante Einheit mittels eines konstanten Systems beherrschbar zu machen. Wie immer die Vermittlung von Seins- und Werde-Welt gedacht werden mag – mit den Schwierigkeiten hat sich 1 Franz Rosenzweig, Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ,Stern der Erlösung‘, in: ders., Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie, hg. von Gesine Palmer. Berlin 2001, S. 210 – 234. 2 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, mit einer Einführung hg. von Reinhold Mayer. Den Haag 1976 (Gesammelte Schriften, Bd. 2), S. 6.

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Platon in der Einleitung seines Parmenides-Dialogs auseinandergesetzt, indem er dort die Möglichkeiten der Partizipation erörtert, sowohl die quantitative Teilung wie die Selbstdifferenzierung der Identität wie das Urbild-Abbild-Schema wie auch das Modell von noesis und noema –, verabschiedet man wegen der Schwierigkeiten den Ansatz eines konstanten transzendenten Prinzips, so hat das Denken und Sprechen nichts, woran es sich halten und worauf es als auf dasselbe und Beharrliche zurückkommen kann. Kurzum, Philosophieren wäre unmöglich. Mit dem Versuch, die Werde-Welt auf ein konstantes, zeitenthobenes, ewiges Seinsprinzip zu beziehen, geht die Entzeitlichung des Seienden, die Elimination der Zeit einher. Indem sich das Denken an Festes, Konstantes, an das starre System hält, das es dem fluktuierenden Seienden aufoktroyiert, ist es ein fest-stellendes, fixierendes Denken, das auf Ewigkeit abgestellt ist, nicht auf Zeitlichkeit. „Der Begriff […] ist die Macht der Zeit, d. h. der reine Begriff tilgt die Zeit“, wie Heidegger Hegel kritisiert.3 Wenn Zeit vorkommt, dann nur als Abbild der Ewigkeit, wie Platon im Timaios 37d6 formuliert: „Zeit ist das ewig in sich kreisende Abbild des im Einen verharrenden Ewigen.“ Das traditionelle abendländische Denken ist gänzlich auf ein konstantes, permanentes, zeitenthobenes Sein, auf ein starres System, auf Ewigkeit abgestellt, nicht auf Werden, Fluktuation, Zeitlichkeit, die vielmehr mittels des ersteren begriffen und stillgestellt werden sollen. Und das gilt auch für Hegels zyklisches, in sich kreisendes System, das als ein Kreis aus Kreisen beschrieben wird und in der Selbsteinholung der Idee „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“, wie es in der Wissenschaft der Logik heißt.4 Dem konfrontiert Rosenzweig sein neues Denken, das die Defizite der Tradition wettmachen soll, indem es zum einen auf die Wirklichkeit, die Tatsächlichkeit, das Leben, nicht auf die Transzendenz oder Überwelt abhebt – auf Rosenzweigs Philosophie lässt sich seiner Meinung nach am ehesten die Bezeichnung „absoluter Empirismus“5 anwenden –,und indem es zum anderen die Zeit ganz ernst nimmt, nämlich im Sinne der Zeitlichkeit mit Betonung des Augenblicks, des Empirischen an ihr, und der Gerichtetheit auf Zukunft. Es ist unverkennbar, dass Rosenzweig mit seiner Traditionskritik Motive seiner Epoche aufnimmt, die wir aus Nietzsches Metaphysikkritik kennen und die auch in Heideggers Fundamentalanalyse des Daseins wiederkehren. Zum einen gehört zu diesen Motiven die Insistenz auf dem Leben, der Originalität und Produktivität, dem Ereignis- und Geschehnischarakter, wie ihn auch die Lebens- und Existenzphilosophie thematisiert, zum anderen die Insistenz auf dem quellenden Augenblick, der Thema auch von Husserls und Heideggers Philosophie ist, wenngleich er von diesen 3

Martin Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, Heidegger-Gesamtausgabe, Bd. 32, Frankfurt a. M. 1980, S. 17 f. 4 Hegel, Wissenschaft der Logik; Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 5, Frankfurt a. M. 1969, S. 44. 5 Franz Rosenzweig, Das neue Denken, S. 233.

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auf je verschiedene Weise behandelt wird. Die Seins- und Zeitvergessenheit der philosophischen Tradition soll rückgängig gemacht werden durch die Insistenz auf einer real geschehenden Zeit, in der Realität und Zeitlichkeit in Form eines dynamischen Systems zusammenfallen. Dabei können Husserl, Heidegger und Rosenzweig bezüglich ihrer Zeitauffassung durchaus als drei verschiedene autochthone Höhepunkte betrachtet werden: Heidegger versteht die Zeit in ihren drei Ekstasen, der Zukunft, Gegenwart und Gewesenheit, bildlich gesprochen, als ekstatisch-horizontalen Zusammenhang mit einem Vorlaufen in die Zukunft und der Rückkehr aus dieser auf die geschichtlich bedingte Gegenwart; Husserl begreift sie in der Bernauer Zeit (1917 – 18), in der er sich Gedanken über die Spontaneität der Urgenesis des transzendentalen Bewusstseins macht, als ständig strömende Gegenwart, bei der die Urimpression in den nach rückwärts gerichteten Schweif retentionaler Modifikationen übergeht, wobei sein ursprüngliches gleichförmiges Zeitfeld von Urimpression, Retention und Protention und deren Schweifen mit dem Wegfall der protentionalen Leerintention hinfällig wird.6 Rosenzweig versteht sie als ein vorwärts gerichtetes, zukunftsorientiertes, eschatologisches Entwurfgeschehen. So einleuchtend und verständlich die negative Seite des Traditionsbruches, die Absetzung von der herkömmlichen abendländischen Philosophie ist, so fremdartig gestaltet sich auf den ersten Blick der positive Neuansatz, der zu einem neuen Zeitentwurf, einer sogenannten eschatologischen Zeit führt, die ihre Herkunft aus der Religion verrät und in der theologische Begriffe wie Schöpfung, Offenbarung und Erfüllung eine Rolle spielen. Auch wenn Rosenzweig der Religion eine Ontologiekonzeption zubilligt7 und seine Konzeption eine „messianische Erkenntnistheorie“ nennt,8 vollzieht er hier insofern einen Bruch mit der philosophischen Tradition und ihrem Medium, dem Denken bzw. dem Wissen, als er eine Anleihe bei der Religion, und zwar der Offenbarungsreligion macht, die auf dem Glauben, dem unverbrüchlichen Vertrauen auf Geoffenbartes, nicht auf dem rationalen Denken basiert. Da die eschatologische, von einem Anfang auf ein Ende und Ziel gerichtete Zeit auf einem Zusammenhang basiert, der nicht seitens des Subjekts geschaffen wird, sondern durch das Ereignis vorgegeben ist, folgt hier das Denken nach.9 Der innovative Ansatz Rosenzweigs, den man als einen metalogischen bezeichnen könnte, verlangt auch eine neue Methode, die nicht mehr im fest-stellenden, begreifenden Denken besteht, sondern in der schöpferischen Produktion des Augen6

Vgl. Karen Gloy, Philosophiegeschichte der Zeit. München 2008, S. 170. Vgl. dazu Emmanuel Lévinas, Zwischen zwei Welten (Der Weg von Franz Rosenzweig) [1959], in: ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt a. M. 1992, S. 129 – 154, bes. 135 f. „Die Religion spiegelt einen ontologischen Plan wider, der ebenso ursprünglich und ebenso originell ist wie derjenige, in dem das Wissen in der Geschichte des Abendlands auftaucht.“ 8 Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“, S. 232. 9 Vgl. Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher. Den Haag 1979 (Gesammelte Schriften, Bd. 1), S. 1197. „Das Denken kommt [jetzt] hernach. Hernach muss es kommen.“ 7

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blicks der real geschehenden und auf Zukunft gerichteten Zeit.10 Eine solche Methode sah Rosenzweig in der schöpferischen Potenz des Erzählens, und es ist wohl kein Zufall, dass er in diesem Zusammenhang auf den sokratischen Dialog verweist, bei dem man auch nichts antizipieren kann, sondern abwarten muss, ob er weitergeht oder nicht und, gegebenenfalls, wie er weitergeht. Diesem Anspruch wird nur das Sprachdenken, das Erzählen gerecht. Schon Schelling hatte in den Weltaltern davon gesprochen, dass die zukünftige Philosophie in erzählende Philosophie übergehen werde.11 Ob Rosenzweigs neue Methode den selbsteigenen Ansprüchen gerecht wird oder die eschatologische Konzeption doch wieder dem Objektivationsund Ewigkeitsdenken verfällt und damit, wie Pöggeler meint,12 in neue „Orthodoxien“ mündet, bleibt zu sehen. Es geht darum, eine Einordnung der „autobiographischen Konfession“13, des subjektiven Standpunktes der Standpunktphilosophie, in eine allgemeine Menschheitsgeschichte vorzunehmen und gleichzeitig der traditionellen Objektivationsmethode und Ewigkeitsbetrachtung zu widerstehen. Um Rosenzweigs in groben Zügen exponierte Intention – seinen Traditionsbruch und seinen Systemwechsel – genauer fassen zu können, bedarf es einer grundsätzlichen Klärung des Systembegriffes, seiner Arten – ob statisch oder dynamisch – sowie des Ortes von Systemen in Philosophie, Religion, Kunst, Mythos oder wo immer. Vor dieser Folie soll Rosenzweigs Ansatz modelltheoretisch eingeordnet und bewertet werden. I. Statische Systeme Was bedeutet System? Von seinem Namen und seiner Etymologie her meint System, das sich von dem griechischen synhistemi = ,zusammenstellen‘, ,zusammenfügen‘ ableitet, eine Zusammenstellung von Teilen. Freilich ist nicht jede Art der Zusammenstellung damit gemeint, nicht eine bloße Aggregation, die willkürlich und planlos erfolgt, so wie der Wind am Strand die Sandkörner wahllos zusammenweht. Von der Aggregation unterscheidet sich die Systematik dadurch, dass sie nach einem vorgängigen Plan erfolgt, der Umfang, Stellung und Verhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen bestimmt, derart, dass er die Menge unter einem bestimmten eindeutigen Aspekt bzw. einer bestimmten Eigenschaft oder einem Eigenschaftskomplex ordnet. Sollten sich mehrere gleichberechtigte Aspekte oder Eigenschaftskomplexe zeigen, so gilt es, auch diese nach demselben Schema zu ordnen, d. h. unter einem noch höheren Aspekt oder einem noch allgemeineren, umfassenderen Eigenschaftskomplex zu verbinden usf., mit dem Ziel, einen letzten, höchsten Punkt zu 10 Rosenzweig unterscheidet eine ,real geschehende Zeit‘ in Auseinandersetzung mit Schelling noch von einer sich entfaltenden Zeit. Vgl. Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, S. 800. 11 Vgl. Heinz-Jürgen Görtz, In der Spur des „neuen Denkens“. Theologie und Philosophie bei Franz Rosenzweig. Freiburg/München 2008, S. 168. 12 Otto Pöggeler, Werk und Wirkung, in: ders. (Hg.): Hegel. Eine Einführung in seine Philosophie. Freiburg/München 1977, S. 7 – 27, bes. 25. 13 Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, S. 410.

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finden, dem alles subordiniert werden kann. Auf diese Weise resultiert ein hierarchischer Stufenbau aus Über- und Unterordnungen, Gattungen, Arten, Unterarten, wie wir ihn aus den Begriffspyramiden der Logik (arbor Porphyriana) und den Superund Subsystemen der Wissenschaftstheorie kennen. Der Grundgedanke der Systematik führt konsequent zu den Klassifikations- und Spezifikationssystemen, wie sie seit der Antike von Platon und Aristoteles elaboriert worden sind, z. B. im Sophistes am Angelfischerbeispiel oder an der Sophistendefinition, und im 17. und 18. Jahrhundert in den großen Taxonomien von Linné, Tournefort, Lamarck, Adanson u. a. in Botanik und Zoologie auf Pflanzen und Tiere angewendet wie überhaupt zur Strukturierung der Welt benutzt wurden. Das dabei angewendete Verfahren ist das der Komparation, Reflexion und Abstraktion, von denen das erstere den Vergleich der heterogenen Dinge, das zweite die Betrachtung derselben auf einen gemeinsamen Merkmalskomplex hin und das dritte die Abstraktion von allem Differenten meint. Leitend sind dabei die logischen Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten, wobei das erste das Festhalten eines Merkmals oder Merkmalskomplexes in seiner Selbigkeit durch alle Spezifikationen hindurch bedeutet, das zweite den Ausschluss aller widersprechenden Merkmale – liegt eine Bestimmung A vor, so kann nicht auch die gegenteilige non-A = B vorliegen –, das dritte Gesetz formuliert dieses Entweder-Oder – entweder A oder non-A = B – mit dem Ausschluss des Sowohl-als-auch. Diese Methode erweist das System als ein artifizielles, als ein starres Schema, das der bunten, chaotischen, fluktuierenden Wirklichkeit übergestülpt wird, um sie in seinen Maschen einzufangen und beherrschbar zu machen; denn die Über-, Unterund Nebenordnungen garantieren eindeutige und feste Verbindungswege zwischen den eindeutig definierten Begriffen und den durch sie bezeichneten Dingen. In der Wirklichkeit selbst herrschen andere Verhältnisse; hier gelten Indifferenz, Mehrdeutigkeit, Widerspruch, Paradoxie, Paralogie u. ä., wie sie in Ambivalenzen, Kippfiguren, Umschlagphänomenen vorliegen. Die Künstlichkeit und Starrheit des Systems wird auch dadurch bestätigt, dass es auf einer entzeitlichten Zeit, einer verräumlichten Zeit beruht, wie Kant sie in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft durch Projektion auf den Raum bzw. eine seiner Gestalten, die Gerade, verdeutlicht und damit den Nachweis erbracht hat, dass sich alle Charakteristika und Verhältnisse, die sich am Raum finden, auch auf die veranschaulichte Zeit übertragen lassen mit der einen Ausnahme, dass die Zeitteile nacheinander, die Teile des Raumes nebeneinander sind. Aus dem Bezug des logischen Systems auf den unendlichen Raum erklärt sich letzten Endes, dass dieses System weder einen definitiven Anfang noch ein definitives Ende aufweist, da zwischen dem System und dem Individuum – hier dem singulare tantum – ein unüberwindlicher Hiat klafft. Was das Ende, das atomon eidos, betrifft, so lassen sich zwischen zwei Merkmalskomplexe immer noch näher zueinander gelegene einschieben, so wie zwischen zwei Punkten einer Linie eine Unend-

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lichkeit weiterer Punkte möglich ist. Und was den Anfang betrifft, die Spitze des Systems, so lässt sich eine absolute Einheit nicht angeben, sondern nur eine Totalität von Beziehungen dieser imaginären Einheit zur Gesamtheit der Instanzen denken. Das Eine fällt hier mit der Totalität zusammen. Diesem Sachverhalt versucht das dialektische System Rechnung zu tragen, dadurch dass es die starren bzw. erstarrten Begriffe verflüssigt, sie sukzessive ineinander übergehen lässt, um so die Totalität des Seienden in den Griff zu bekommen. Von Platon im Parmenides- und Sophistes-Dialog entwickelt, von den Idealisten Fichte, Schelling und Hegel zur Blüte gebracht, hat jeder dieses Programm auf seine eigene Weise zu lösen versucht, Platon in Form einer antithetischen Dialektik, Fichte in Form einer limitativen, Schelling in Form einer absteigenden und Hegel in Form einer Prozessdialektik. Im Unterschied zum Klassifikations- und Spezifikationssystem geht das dialektische System nicht von der Annahme eines einzigen obersten Begriffes aus, aus dem alle anderen ableitbar sind, sondern von einer Pluralität gleichoriginärer, gleichrangiger, gleichuniverseller Begriffe, die wegen ihrer Koexistenz nicht anders als in Form einer Überlagerung oder Überlappung koexistieren können. Diese symbloke ton genon, wie sie Platon nennt, lässt sich nicht anders explizieren als in Gestalt eines sukzessiven Durchgangs, indem man bei dem einen Begriff beginnt und zum anderen, gegenteiligen übergeht und über diesen zum ersten zurückkehrt. So ist das Eine, wenn es mit Namen benannt, wahrgenommen, definiert, gedacht wird, wenn es als seiend oder nichtseiend gesetzt wird, wenn es als mit sich identisch und von anderem verschieden angenommen wird, stets Vieles, das Andere seiner selbst, und über dieses dennoch mit sich gleich, und ebenso das Viele, wenn es begrifflich gefasst und bestimmt wird, Eines und mit sich identisch; gleichwohl bleibt es Vieles. Nach demselben Schema müssen alle implizierten Begriffe durchgegangen werden. Da dieses System ein hen diapheron en heauto ist, gelten in ihm gerade nicht Identität, auszuschließender Widerspruch und ausgeschlossenes Drittes, sondern im Gegenteil eine sich in sich differenzierende Identität, Widersprüchlichkeit und ein Sowohl-als-auch. Ein Begriff ist er selbst und nicht er selbst, vielmehr das Andere seiner selbst oder er selbst in seiner Andersheit und damit der vollendete Widerspruch. Da es bei diesem nicht sein Bewenden haben kann, gilt es, ihn aufzuheben in einer neuen Einheit, der sich ein neues, anderes Widersprüchliches konfrontiert usf., was einen unaufhörlichen Prozess in Gang setzt mit der Tendenz, das Ganze auszuschöpfen und alle Begriffe zu explizieren. In der ausgearbeiteten idealistischen Dialektik ist die leitende Methode der Dreischritt, bestehend aus Thesis, Antithesis und Synthesis, wobei die Synthesis eine neue Einheit bildet, welche die Grundlage und den Ausgangspunkt eines neuen Dreischrittes bildet oder, sofern sich das Ende in den Anfang zurückschlingt, die Grundlage und den Ausgang eines neuen Kreislaufs. Wie das erste Glied der Triade nur verstanden werden kann auf dem Hintergrund des letzten Glieds, der Synthesis, die seine Grundlage bildet, und damit alle Momente der Trias enthält: thematisch,

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d. h. gesetzt, sich selbst, unthematisch, d. h. ungesetzt, die Synthesis, ebenso unthematisch als Gegensatz zwischen sich und der Synthesis die Antithesis, so enthält auch die Antithesis alle Momente: thematisch sich selbst, unthematisch, was ihren Bezug zur Thesis betrifft, diese und antizipierend die Synthesis – sich selbst und das Andere. Und ebenso formuliert das letzte Glied thematisch die Synthesis, die Vereinigung aus Thesis und Antithesis, unthematisch die neue Einheit, die Thesis, und damit unthematisch auch die Antithesis zwischen sich und der neuen Einheit. Jedes Moment der Totalität impliziert so die Totalität, anfangs, wie Hegel sich ausdrückt, nur erst an sich, am Ende nach dem Durchlauf auch für sich. Das Ganze ist ein Kreislauf bzw. angesichts der Vielzahl gleichursprünglicher Begriffe ein Kreis aus Kreisen, dessen Wesen darin besteht, dass der Fortschritt zugleich ein Rückschritt ist, ein Rückgang in den Grund, der seinerseits die Voraussetzung für den ersten Schritt bildet. Analytisches und Synthetisches fallen hier zusammen. Dass auch dieses System trotz seiner sukzessiven Verlaufsform und damit seiner anscheinenden Zeitlichkeit ein beharrliches, an der Ewigkeit orientiertes Modell ist, geht aus der Überlegung hervor, dass das Ganze einen teleologischen, auf ein Ende und Ziel gerichteten Prozess darstellt, wobei das Ende selbst wiederum als Anfang fungiert. Es ist ein ewiger Kreislauf, anders ausgedrückt, ein in sich bewegtes Stehen und Verbleiben. Die Sukzessivität erweist sich in Wahrheit als kein zeitlicher Prozess, sondern als Wiederkehr des Gleichen, zwar nicht als starre Gleichheit, wohl aber als in sich bewegte, lebendige.14 Hegels System scheint prädestiniert zu sein, den Anspruch eines Totalitätssystems zu erfüllen, und so hat Hegel denn auch sein Konzept als das Ende der Philosophie betrachtet, das die gesamte metaphysische Entwicklung, die zu ihm führt, einschließt. Der Anschein trügt jedoch, handelt es sich doch auch hier um einen bloßen begrifflichen Überbau, ein artifizielles Modell, das die Wirklichkeit selbst nicht erreicht. Ein System, das sich als Kreis aus Kreisen versteht, ist sowohl hinsichtlich des letzten wie des ersten Kreises unabgeschlossen. Warum sollte sich die zuletzt hergestellte Einheit nicht weiterführen lassen, wieso die erste nicht weiter aufschlüsseln lassen angesichts einer Unendlichkeit von Begriffen und damit ihrer Unabschließbarkeit? Auch die Überlegung, dass eine Kreisstruktur eine geschlossene und insofern begrenzte, endliche Gestalt ist, führt zu der Einsicht, dass eine solche sich nur vor dem Hintergrund eines Unendlich-Unbestimmten abzeichnet, was eine Iteration und Fortsetzung des Kreislaufs geradezu herausfordert. Gestaltpsychologisch gesprochen gehören bestimmte Gestalt und indifferenter Hintergrund notwendig zusammen, platonisch gesprochen hen und aoristos dyas, das Eine und die unbestimmte Zweiheit.

14 Die genialste Interpretation dieser zyklischen Zeit dürfte Platon im Parmenides-Dialog gegeben haben mit der Beschreibung, dass dieses zeitliche Ganze nicht nur älter wird als es selbst, sondern ebenso auch jünger als es selbst und damit gleichalt mit sich ist.

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Auch ließe sich methodologisch die dialektische Methode auf Hegels System im ganzen anwenden, d. h. diejenige Methode, die intern benutzt wird, extern auf das Gesamtsystem applizieren. Dies führte zwar zu einem Anderen, aber nicht zu einem bestimmten Anderen, sondern zu einem unbestimmten. Fichte wie auch später Adorno haben zwei Arten von Dialektik unterschieden, eine positive und eine negative, von denen die eine in den Grund und die andere in den Abgrund oder das Grundlose führt. Theunissen spricht davon, dass eine Philosophie des Alls hier ihre eigene „Kontingenz“ erfährt, ihre Entmächtigung, Grund des Alls und ihrer selbst zu sein, voraussetzungslos alles in sich zu begreifen und alles aus sich entlassen und erklären zu wollen und erfahren zu müssen, dass sie als „Allsetzende immer schon ohne ihr Zentrum in das System eingesetzt ist.“15 Diese Überlegung haben auch Schelling und nach ihm Rosenzweig angewendet, um Hegels rationales Totalitätssystem zu überwinden in Richtung auf eine positive Philosophie oder metalogische Ebene. Zu erwägen wäre allerdings, ob nicht Hegel selbst letztlich sein System für ein artifizielles gehalten hat, mithin für einen bloß logischen Überbau. Dafür spricht das Ausprobieren von verschiedenen Anfängen am Beginn der Wissenschaft der Logik – im Haupttext der Beginn mit dem Sein, in der ersten Anmerkung der mit dem Nichts –, des weiteren die Umdisposition von Momenten, was sich mit einer stringenten Abfolge nicht verträgt – Hegel selbst hat den Ausspruch gefällt, dass er die Logik am liebsten 77 mal geschrieben hätte –, vor allem aber spricht dafür am Ende der Logik bei der Explikation seiner Methode die modelltheoretische Auswahl und das Antippen bestimmter Dialektiktypen, deren ausführliche und vollständige Behandlung ihn in einen erneuten Kreislauf gezwungen hätte und so in infinitum. Letztlich dürfte auch Hegels Dialektik nur eine modelltheoretische begriffliche Darstellung der Wirklichkeit, nicht diese selbst sein. II. Dynamische Systeme Durch die Berücksichtigung des Zeitfaktors, wie sie in der modernen Systemtheorie geschieht, gelangt man zu dynamischen Systemen, die in zweifacher Form auftreten: erstens als Systeme in der Zeit, d. h. als Einzelsysteme, die sich zeitlich arrangieren lassen, und zweitens als Gesamtsystem Zeit, wobei die Zeit selbst als System auftritt. Die ersteren lassen sich mühelos vorstellen als Systeme, die sich in der Zeit hinsichtlich ihrer Quantität oder Qualität ändern, entweder, was ihre Größe betrifft, sukzessiv und kontinuierlich zu- oder abnehmen oder, was ihre Eigenschaften betrifft, sich graduell modifizieren, intensivieren oder abschwächen oder auch in gänzlich andere Eigenschaften übergehen. Das Schema für eine quantitative Änderung bildet die Zahlenreihe, die nach dem Schema n und n + 1 aufgebaut ist, so dass jede Folgezahl 15 Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965, S. 249.

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die Synthesis der vorangehenden Einheiten plus einer weiteren ist und so das Anwachsen des Systems zeigt. Die Abnahme besteht im umgekehrten Vorgang. Die qualitative Veränderung lässt sich an der Intensivierung und Minimierung einer Lautstärke demonstrieren oder am graduellen Heller- oder Dunklerwerden einer Farbe oder an ihrem Übergang in eine gänzlich andere Farbe. Ergänzt werden diese kontinuierlichen Modifikationen, die sich in einem Diagramm anhand von Auf- und Abstiegslinien darstellen lassen, durch diskontinuierliche Verläufe von der Art der Entwicklung und Evolution. Da sie der Natur entnommen sind, bilden sie gegenüber den ersteren, den rein mathematischen Modellen, die sogenannten biomorphen.16 Ein Beispiel für Entwicklung liefert das Wachstum von Organismen wie Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich aus einem Samen oder Keim, etwa einer Eichel, zu einem vollentwickelten Eichbaum entwickeln und dann einen Alterungs- und Vergehensprozess durchmachen. Diese auf ein Ende und eine Vollendung gerichteten Systeme kann man sich nicht anders verständlich machen als durch einen a priori zugrundeliegenden teleologischen Plan, der den Verlauf des Ganzen regelt, so dass das System nicht äußerlich per appositionem, sondern innerlich per intus susceptionem wächst. Da im Anfang bereits das Ende und die Idee des Ganzen impliziert sind und während des gesamten Prozesses durch alle Stadien hindurch erhalten bleiben, lässt sich bei Abbruch des Vorgangs, etwa bei Abbruch einer geschlossenen Melodie wie „Hänschen klein“, diese selbständig ergänzen. Jeder Teil enthält latent das Ganze, verweist retrospektiv auf das Vorangegangene und prospektiv auf das Bevorstehende. Es ist eine sich entfaltende Einheit, die einen positiven wie negativen Verlauf nehmen kann, im letzteren Falle ein Verfall ist. Seit Darwin stehen evolutive Systeme im Mittelpunkt des Interesses, die durch Sprünge von- einander getrennt sind, aber an sich ebenfalls teleologische Prozesse darstellen. Im Laufe der Naturgeschichte treten bei der Kopierung des genetischen Codes Fehler auf, sogenannte Mutationen, die zu qualitativ neuen Systemen führen und sich weder auf das alte System reduzieren, noch aus diesem ableiten lassen. Der Prozess der Natur läuft nach den darwinistischen Prinzipien der Mutation und Selektion des Bestangepassten ab (survival of the fittest), wobei das neue System in kontinuierliche Bahnen einschwenkt, bis auch bezüglich seiner wieder eine Mutation erfolgt und ein neues System freisetzt. Ob dieser Prozess auf reinen Zufallsmutationen beruht entsprechend dem Feyerabendschen Motto anything goes oder in eine bestimmte Richtung tendiert und als Fortschritt bzw. Rückschritt interpretiert werden kann, ist in der Forschung strittig. Es lassen sich Systeme ohne und mit Herauskristallisierung einer bestimmten Richtung denken. Erstere erfolgen nach reinen Zufallsmutationen, wobei nach jeder Mutation nur feststeht, dass es weitergeht, nicht aber wie.

16 Vgl. Karen Gloy, Hegels Geschichtsphilosophie im Vergleich mit anderen Geschichtskonzeptionen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 30 (1991), H. 1, S. 1 – 11, bes. 8 ff.

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Was den zweiten Fall betrifft, so hat Bernd-Olaf Küppers im Anschluss an Manfred Eigen ein Verfahren aufgezeigt in Form einer Computersimulation, bei dem sich eine Richtung dadurch herauskristallisiert, dass der Spielraum der Möglichkeiten der Veränderung nicht bei jedem Schritt gleich groß bleibt, sondern sich verringert, so dass der Prozess schließlich nur noch seine eigene Möglichkeit zulässt, d. h. zum Selbstläufer wird. Zu diesem Zweck denkt er sich einfachheitshalber ein Wort unserer Sprache mit dem Informationsgehalt ,Evolutionstheorie‘, das ein Gen repräsentieren könnte. Da sich aus einer willkürlichen Sequenz von Buchstaben durch reine Zufallsmutation kaum jemals die Entstehung des Wortes ,Evolutionstheorie‘ erklären ließe, wurde der Computer so programmiert, dass jede Kopiengeneration, die der Endgestalt (Referenzsequenz) um ein Bit besser angepasst ist, einen differentiellen, zeitlichen Vorsprung erhält, sich also schneller reproduziert als die anderen. Das Simulationsexperiment zeigt dann eine zunehmende Annäherung an die Endsequenz ,Evolutionstheorie‘.17 So interessant die Verfolgung von Systemen in der Zeit sein mag, noch interessanter für unseren Zweck ist die Anwendbarkeit des Systembegriffs auf die Zeit selbst, so dass die Zeit selbst als dynamisches System interpretiert wird. Die Realisation dieses Vorschlags bedeutet nichts anderes, als die bisher explizierten Formen auf die Zeit als solche anzuwenden bzw. in dieser vorzufinden. Bedeutsam wird dieses Vorgehen im Falle von Geschichtskonzeptionen, wie eine solche auch bei Rosenzweig vorliegt. Die Applikation der Quantitäts- und Qualitätskategorie hätte eine Zeitbeschleunigung bzw. -verlangsamung zur Folge. Zwar ließen sich solche Zeitmodelle denken, nicht aber überprüfen, da wir in und mit der Zeit leben. Mit der Beschleunigung oder Verlangsamung der Zeit selbst würden sich auch alle Dinge in der Zeit und wir selbst mit ihnen beschleunigen oder verlangsamen. Zur Konstatierung dieses Prozesses fehlte uns aber ein konstanter Maßstab. Denn sofern und solange wir gleichgeschwindig in und mit dem Fluss schwimmen, bemerken wir das Fließen – Zu- oder Abnahme oder Modifikation der Geschwindigkeit – nicht; erst wenn wir uns ans feste Ufer begeben haben, lässt sich ein Vergleich des Fließens mit dem festen Bezugssystem anstellen. Die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf die Zeit führt zum Entwurf einer zwischen Anfang und Ende eingespannten, sich entwickelnden Zeit, einer Zeit, die zusammen mit dem Seienden geschaffen ist und mit dessen Auflösung und Übergang ins Gottesreich endet. Genau eine solche zukunfts- und endzeitlich gerichtete eschatologische Zeitkonzeption hat sowohl die jüdische wie die christliche Theologie und Geschichtsinterpretation unterstellt. Mit der Schöpfung ist auch die Zeit erschaffen, und mit dem Ende der Welt und dem Anbruch des Gottesreiches schwindet auch die Zeit. Man darf nicht fragen, was vorher war und nachher sein wird. Die jüdische Re17 Bernd-Olaf Küppers, Zur Selbstorganisation informationstragender Systeme, in: Die Welt als offenes System. Eine Kontroverse um das Werk von Ilya Prigogine, hg. von Günter Altner. Frankfurt a. M. 1986, S. 70 – 84, bes. 80 f.

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ligion verbietet sogar ausdrücklich ein solches Fragen, da es sinnlos ist, bei einer geschaffenen Zeit erforschen zu wollen, zu welchem Zeitpunkt dies geschah. Die Voraussetzung einer Zeit für die Schöpfung der Zeit in ihr führte nur zu einem regressus ad infinitum, da immer wieder eine neue Zeit vorausgesetzt werden müsste und so ins Unendliche. Während der sogenannte jüdische Futurismus das Ende immer weiter hinausschiebt wegen des auf sich warten lassenden Eintritts des Gottesreiches, sieht das Christentum die Vollendung bereits im Christusgeschehen. Alles, was in der Geschichte vorher geschah, wird als Antizipation, Vorwegnahme, Prophetie interpretiert, alles, was nach diesem signifikanten Ereignis geschieht, ist nur Realisation, endgültige Vollendung des Gottesreiches. Karl Löwith hat unter Berufung auf Oskar Cullmann das christliche eschaton mit dem victory day im Krieg verglichen. Im Verlaufe eines Krieges mag die Entscheidungsschlacht längst geschlagen sein, während sich das Ende des Krieges noch hinauszögert; wer den signifikanten Charakter der Entscheidungsschlacht erkennt, wird auch die Gewissheit haben, dass von nun an der Sieg feststeht.18 Ob sich auch die evolutive Struktur auf die Zeit und Geschichte anwenden lässt, was zu einer interrumpierten, immer neu hervorquellenden, quasi einer pulsierenden Zeit führen würde, wäre zu erwägen, auch wenn man, da auch hier keine Linearzeit zugrunde liegt, nicht von Abständen sprechen darf, in denen neue Zeitgestalten entstehen. Die Zeitgestalten würden gleichsam im Jetzt immer neu hervorquellen und immer wieder zugrunde gehen. Unmöglich ist ein solcher Gedanke nicht. Bei der Deutung der Quantentheorie, die ein anderes Zeitmodell verlangt als das heute gebräuchliche, würde er Sinn machen. Um Rosenzweigs spezifischen System-, Zeit- und Geschichtsgedanken genauer zu fassen, darf der Ort von Systemen nicht undiskutiert bleiben. III. Der Ort von Systemen Nach den vorangegangenen strukturellen Erwägungen, bei denen es um die Art und Weise der Verbindung von Daten zu Systemen ging, gilt es jetzt noch, einen Blick auf das Subjekt und das jeweilige Vollzugsorgan zu werfen; denn als artifizielle Systeme sind diese insgesamt dem Subjekt zuzuordnen. Die formale Behandlung der Zusammenstellung und Organisation, mochte sie statisch oder dynamisch sein, in Klassifikation bzw. Spezifikation oder Dialektik bestehen, in quantitativer oder qualitativer Veränderung, in Entwicklung oder Evolution, gehört unzweifelhaft in den Rahmen von Denksystemen. Sie ist Gegenstand einer denkenden Auseinandersetzung mit der Welt, bei der es um eine rationale, logisch verständliche Weltauslegung geht. Die Tatsache, dass Rosenzweig von einem Übergang des alten Denkens in ein neues spricht, in dem auch religiöse Momente wie Verheißung, Versprechen, Hoffnung, Erfüllung eine Rolle spielen, ist Indiz, dass er außer und neben dem Denken die 18 Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1961, S. 172.

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Religion als Ort von Systemen unterstellt. Erweitert werden könnte dies auf Kunst, Mythos, Leben, Sprache und dergleichen. Seit Hegel haben wir uns angewöhnt, zumindest Philosophie, Religion und Kunst als Systeme bzw. Systemteile zu betrachten,19 die im Prozess der Selbsteinholung des absoluten Geistes ihren genauen systematischen Ort haben, der sich aus ihrer Bewusstseins- bzw. Reflexionsstufe ergibt: im Falle der Kunst ist es die Anschauung, im Falle der Religion die Andacht, Verehrung und der Kult, kurzum die Vorstellung, im Falle der Philosophie das denkende Begreifen und Wissen. Das, was in der Ästhetik noch anschaulich unbewusst ist, ebenso in der Religion gefühlt, geglaubt, geahnt wird, kommt in der Philosophie auf seinen Begriff. Während für Schleiermacher Religion in ihrer Reinheit nur „das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ ist und damit in absolutem Gegensatz zum Denken steht, identifiziert Hegel Glauben und Wissen. Sie bilden wegen der Selbigkeit des Gegenstandes, des Absoluten bzw. der Vernunft, keinen Gegensatz, sondern nur Stufen des Erkennens: die Religion die niedere, die Philosophie die höhere. „Was die Philosophie als wissenschaftliche Vernunft im Begreifen vollzieht, das tut die Religion als ,unbefangen denkende Vernunft in der Weise der Vorstellung‘.“20 Gegen Hegels Konzept ließ sich prinzipiell einwenden (s. o.), dass es trotz des Programms der Selbsteinholung der Vernunft, die ihre eigenen Voraussetzungen erfassen soll, einen intellektuellen Überbau darstellt, dem es nicht gelingt, das Vorausgesetzte, sei es Religion, sei es Kunst, sei es Existenz, selbst zu integrieren. Zwar behauptet Hegel, dass die Religion ein integrativer Bestandteil der Philosophie und Vernunft sei, zeigt aber nirgends, weder über Assoziationen noch Analogien noch sonst wie, wie Religion in Reflexion übergehen könne. Hegels System bleibt eine begriffliche Selbstauslegung auf der Basis der Vernunft, ohne eine existentielle zu werden. Das bedeutet, dass Religion, Kunst, Mythos, Leben usw. hinsichtlich ihres Status als eigenständige, autochthone uneingeholte Gebilde bestehen bleiben und nicht auf Denksysteme reduziert werden können. Religion als Glaube an Gott und tiefes Vertrauen auf ihn, als Gefühl und innere Erfahrung, Ästhetik als sinnliche Gestaltung und Anschauung sind etwas prinzipiell Anderes als das begreifende Denken und als solche ernst zu nehmen. Die europäische Geistes- und Kulturgeschichte hat zwei Modelle entwickelt, einerseits Religion, Kunst usw., andererseits Philosophie in ihrer Eigenständigkeit zu wahren und dennoch in einen Zusammenhang zu bringen: das Abstiegs- und das Aufstiegsmodell, von denen das erste die Religion als Voraussetzung und Grund der denkenden Auseinandersetzung in der Philosophie ansetzt, dergestalt dass man auf eine Offenbarung, Botschaft oder Verkündigung hört oder sich durch Anleitung eines Meisters oder Lehrers in eine entsprechende Situation versetzen lässt, um dieselbe dann gedanklich auszulegen. Die jüdisch-christliche Religion war in ihrer Geschichte im wesentlichen Theologie – Logos vom Theos –, rationale Auslegung Gottes bis 19

Luhmann nennt weitere Subsysteme: Wissen, Liebe, Familie, Staat, Beruf usw. Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, 1. Teil. Berlin/New York 1974, S. 566. 20

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hin zu Beweisen von Gott: zu dem ontologischen, kosmologischen, physiko-theologischen, moralischen, voluntaristischen usw. Konkrete Beispiele für diese Art des Umgangs mit Religion und Philosophie sind Plotin mit seiner Emanationslehre, Meister Eckard, Jakob Böhme, die jüdische Kabbala. Auch Schelling mit seiner Identitätsphilosophie gehört in diesen Kontext. Er ist der Meinung, dass das Absolute „mit Einemmal und auf absolute Art“21 erfassbar sei und daher auch methodisch zum Ausgangspunkt gewählt werden könne, was ihm von Fichte den Vorwurf eintrug, mit der Setzung eines ursprünglichen Absoluten nur das endliche menschliche Denken hypostasiert und verabsolutiert zu haben. „Sie […] übersahen diesen Punkt“, schreibt er an Schelling, „weil Sie an das Absolute unmittelbar mit Ihrem Denken gingen, ohne sich auf Ihr Denken, und dass es wohl nur dieses sein möchte, was durch seine eignen immanenten Gesetze Ihnen unter der Hand das Absolute formierte, zu erinnern.“22 Die andere Variante, die diesem Vorwurf entgeht, ist die Aufstiegsphilosophie, die sich der Endlichkeit und Grenzen der Rationalität bewusst ist und jenseits derselben Platz für die Religion, Kunst, Mythologie u. ä. lässt. Wir begegnen ihr bei Platon, so wenn er im Phaidon von zwei Wegen spricht, dem optimalen des Denkens und wissenschaftlichen Argumentierens, und dem zweitbesten, wenn das Denken nicht hinreicht zur Erfassung des Jenseits und zu Mythen und Theologoumena seine Zuflucht nehmen muss, und wenn er am Ende von Dialogen, gelegentlich auch in der Mitte wie im Staat beim Sonnen- und Höhlengleichnis, zu Mythen greift, weil sich anders das zu Explizierende nicht darstellen lässt.23 In derselben Weise gelangt auch Schelling in seiner Spätphilosophie zu der Einsicht, dass der rationale Diskurs nicht ausreicht, sondern Philosophie in Kunst überführt werden müsse, und auch Heidegger zählt zu den Philosophen, deren Philosophie in Dichtung endet. Auch Rosenzweig beschließt sein Hauptwerk Stern der Erlösung im dritten Buch mit nicht-philosophischen, vielmehr offenbarungsreligiösen Momenten wie Schöpfung, Verheißung und Erfüllung, weil Denken allein zur Erfassung des Grundes nicht ausreicht. Darüber hinaus ist die Einführung religiöser Momente um so mehr bei einer zeitlich-eschatologischen Interpretation gerechtfertigt, als sich die Zukunftsgerichtetheit der Zeit und Geschichte, die mit totaler Offenheit verbunden ist, nicht anders erklären und rechtfertigen lässt als auf der Basis von Hoffnung, nicht von Wissen. Zukünftigkeit und mit ihr einhergehende Offenheit beruhen nicht auf Faktizität und lassen sich auch nicht wie in den Ewigkeitskonzepten der Tradition durch Vor-

21 Schelling an Fichte, Brief vom 3. 10. 1801, in: Johann Gottlieb Fichte, Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. von H. Schulz. 2 Bände, Leipzig 1925, Bd. 2, S. 335. 22 Fichte an Schelling, Brief vom 15. 10. 1801, in: Fichte, Briefwechsel, Bd. 2, S. 342. 23 Die Anfangsposition von Mythen wie im Protagoras hat eine andere Funktion, nämlich zunächst konkret und plastisch einzuführen, an das Allgemeinbewußtsein zu appellieren, um dann die rationale Interpretation nachzuliefern.

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griffe rechtfertigen, die zugleich ein Rückgang in den Grund sind, also eine Kreisstruktur haben. Mit dem Problem der Zukunft hatte sich, wie eingangs erwähnt wurde, schon Husserl abgemüht, indem er sich eingestehen musste, dass Protentionen nicht die bloße Umkehrung von Retentionen sind, sondern etwas gänzlich anderes, da sie nicht wie jene auf Vergangenem, Sicherem und Gewissem beruhen. Zwar waren für ihn ursprünglich Protentionen an inhaltliche Erfüllung gebunden. Auch wenn sie sich nicht erfüllten, wenn das Erwartete ausblieb und Unvermutetes eintrat oder die vollständige Absenz eintrat wie im Falle von Pausen und Stille, waren sie keine absoluten Leerintentionen, keine Intentionen von Nichts, sondern Intentionen von Anderssein. Soll aber ein absoluter Anfang und Ursprung der Zeitlichkeit gedacht werden, eine absolute Spontaneität des Ursprungsgeschehens, dann muss die Protention Leerintention sein. Bei Husserl bleibt, wie so oft, ein Widerspruch und ungelöstes Problem. Durch rationale Konstruktion wie bei Husserl ist das Zukunftsproblem nicht zu lösen. Genau dies dürfte der Grund gewesen sein, dass Rosenzweig anders als Husserl das Problem durch Einsetzen religiöser Momente zu lösen versucht, indem er die nur religiös zu begründende Hoffnung auf zukünftig Verheißenes ins Spiel bringt. Nicht zufällig erinnert er auch an die Spontaneität des Augenblicks in der Narration und an den sokratischen Dialog, bei dem man nicht weiß, ob und wie er weitergeht, so dass nur die Hoffnung und das Vertrauen auf dieses Weitergehen bleiben. Sollte diese Interpretation Rosenzweigs richtig sein, so wäre seine System- und Geschichtskonzeption in der Tat eine dritte autochthone Lösung neben der von Husserl und Heidegger ins Auge gefassten.

Rosenzweigs Stern der Erlösung im Spiegel des Systems der Philosophie Christian Krijnen Gewidmet Reiner Wiehl (†), t` Sjoteim`

Nicht jede Philosophie, geschweige denn jede philosophische Problembearbeitung bietet ein System der Philosophie; aber jede Philosophie und jede philosophische Problembearbeitung setzt ein System der Philosophie voraus. Manche Denker machen dieses Implizite explizit. Sie werden damit zu Systemphilosophen. Rosenzweig ist sowohl der Sache als seinem Selbstverständnis nach ein Systemphilosoph. In der philosophischen Systemdebatte jedoch spielt sein Werk so gut wie keine Rolle, obwohl innerhalb der Rosenzweig-Forschung der Stern der Erlösung (SdE) wiederholt in Bezug auf das Systemdenken gesetzt wird. Unsere Tagung ist geradezu der Versuch, diesen Bezug zu intensivieren in der Absicht, ein bestimmteres Urteil über die Aktualität des Rosenzweigschen Systemdenkens zu gewinnen. Im Folgenden knüpfe ich an einige grundlegende Aspekte der Systemphilosophie Rosenzweigs an, um im Ausgang von ihnen grob Umrisse der Form des Systems der Philosophie zu skizzieren. Dabei wird der Weg für eine eingehende systemphilosophische Diskussion mit Rosenzweig weniger durchwandert als geebnet: es lassen sich näher zu erkundende Motive und Probleme erkennen.1 Mein Beitrag ist zudem beschränkt auf die Denkfigur des Systems der Philosophie, also auf dessen Form.2 Die Fülle von Anregungen und Einsichten, die der SdE sonst noch enthält, bleibt außen vor. Gleiches gilt für Erwägungen zur Möglichkeit einer prinzipientheoretischen Reinigung von Rosenzweigs vielfach bildhaften und in religiöser bzw. biblischer Sprache abgefassten Überlegungen. 1 Vgl. zum SdE als System neuerdings die umfangreiche Studie von Pollock (2009), der Rosenzweigs Systemphilosophie nicht zuletzt aus Anliegen des deutschen Idealismus versucht verständlich zu machen. Dabei werden allerdings die Argumente, die Idealisten wie Kant oder Hegel für ihre und gegen Rosenzweigs Position ins Feld führen können, nicht eigens thematisch. 2 – während Wiedebach (2006) den Aktualitätsgehalt des SdE in Bezug auf nicht-philosophische Systeme (nämlich jene des „Konnektionismus“) diskutiert. – Es wird sich zeigen, dass realwissenschaftliche Systeme (gleich welcher Couleur) für die Philosophie bestenfalls Material sind. Ihnen eignet weder eine Beglaubigungsfunktion noch eine Strukturierungsfunktion für das System der Philosophie. Ebensowenig werden sie so, wie sie sind, unmittelbar in das philosophische System aufgenommen. Freilich kann das Studium derartiger Systeme auch in pragmatischer Hinsicht sinnvoll sein, indem es zu einer genaueren Bestimmung des Systems der Philosophie qua Gedankensystem anregt.

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Zunächst bette ich Rosenzweigs sog. neues Denken, das der SdE ist, in die Geschichte des philosophischen Systemdenkens ein (Kap. 1). Anschließend traktiere ich sukzessive drei Probleme, die den philosophischen Systemgedanken markieren (Kap. 2): das Anfangsproblem des Denkens, das Gliederungsproblem der Systemteile und das Abschlussproblem des Systems. Ich schließe mit einem Ausblick ab (Kap. 3), der besonders das Problem von Offenheit und Geschlossenheit des Systems fokussiert. Insgesamt erweist sich das System der Philosophie als zu komplex, als dass es mit der Denkfigur des SdE erfasst werden könnte, dies jedenfalls meine These.3 I. ,Neues Denken‘ als systemgeschichtliches Phänomen (i) Wortgeschichtlich heißt System ,Zusammenstellung‘, ,Komposition‘ einer Vielheit (von ,Elementen‘, ,Gliedern‘ oder ,Teilen‘) bzw. das ,Ganze‘ als Ergebnis dieser Zusammenstellung, das zusammengestellte Gebilde. Obwohl System kein zentraler Terminus in der antiken Philosophie ist, lässt sich schon wortgeschichtlich ein Dimensionsunterschied ausmachen, der sich für die Geschichte des philosophischen Systembegriffs sachlich von höchster Wichtigkeit erweist: ,System‘ eignet eine doppelte Ausrichtung: eine ontologische und eine gnoseologische. Freilich hat der Systembegriff nicht nur etymologisch, sondern auch sachlich griechische Wurzeln. Von Anfang an erfolgt die Komposition des Vielen unter einer einheitlichen Perspektive, ist die Wirklichkeit trotz ihrer Vielheit eine Ganzheit, die durch einen einzigen alles fundierenden Ursprung vereint ist. Während die vorsokratischen genealogischen Erklärungen der Welt des Existierenden aufs engste verhaftet bleiben, fasst Platon dessen grundlegend ideellen Charakter. Qua schlechthinnige Einheit ist die ,Idee‘ Seins- und Erkenntnisgrund alles dessen, was ist. Der Einheitsund Ganzheitsgedanke ist also mit dem Systemgedanken zugleich in der Weise des Grundes verbunden. Diese begründungsfunktionale Bedeutung des Einen oder Ganzen ist wichtig, will man den spezifischen Gebrauch des Terminus ,System‘ in der neuzeitlichen Philosophie verstehen. Der semantische Aufstieg von ,System‘ beginnt im 17. Jahrhundert. Er hängt eng mit Konzeptualisierungsproblemen der Erkenntnis zusammen. Dabei ist der erwähnte antike Dimensionsunterschied relevant. Zu Beginn der Neuzeit wird ,System‘ primär in astronomisch-kosmologischen Kontexten verwendet. Mit dieser Ausrichtung geht zugleich ein höchst bedeutsamer gnoseologischer, genauer: wissenschaftstheoretischer Sachverhalt einher; denn der astronomische Wortgebrauch führt zur Gleichsetzung von System mit ,Annahme‘ oder ,Hypothese‘. Es treten also das systema mundi qua reales oder wahres Weltsystem und das System qua astronomisches Erkenntnisgebilde oder Konstrukt des Menschen auseinander. Ebendiese Wende von der Sache zur Erkenntnis ist seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts auch gängig in 3 Vgl. zur Philosophie als System ausführlich Krijnen (2008). Dort finden sich eingehende Ausführungen zur Geschichte der Systemphilosophie sowie zum Anfangs-, Gliederungs- und Abschlussproblem.

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Theologie und Philosophie. System steht dann ganz allgemein für die erkenntnismäßige Ordnung irgendeines Wissenschaftsgebiets. Als wissenschaftliche ist die erkenntnismäßige Ordnung letztlich ein Begründungszusammenhang, ein Zusammenhang von Gründen und Folgen, wie man gemäß Wolffs4 oder Kants5 Begriff von Wissenschaft sagen könnte. Indem der Systembegriff als Wissenschaftsbegriff, als Inbegriff verbundener Wahrheiten oder Ordnungsform wissenschaftlicher Erkenntnis in den Vordergrund tritt, wird auch die Frage nach der Geltung des Systems, nach dessen sachlicher Triftigkeit oder Gegenstandsbezogenheit unvermeidlich. Für die Philosophie, schlechthinnige Begründungswissenschaft, ist sie besonders dringlich. Beim Systembegriff geht es ihr nicht bloß um die Ordnung von Wissen, sondern um die Begründung ihrer selbst als Wissenschaft. Dergestalt unterliegt sie der Systemforderung. Descartes und seinen Zeitgenossen zufolge lasse sich der Anspruch des Systems als perfectum et absolutum nur einlösen durch eine demonstrative Wissenschaft: mit Hilfe einer paradigmatisch in der Mathematik entwickelten Methode. Dazu ist ein Grundsatz als fundamentum inconcussum vonnöten, in dem Wahrheit und Gewissheit zusammenkommen und der so als Grundlage der Erkenntnis fungieren kann. Der Systembegriff wird dem programmatischen Anspruch nach in radikaler Weise mit Begründungszwang und Begründungskompetenz verbunden. Einen solchen unüberbietbaren Anspruch vermag nicht jedwedes Begründungsmodell zu erfüllen. Gerade die Ausrichtung der Philosophie an der mathematischen Methode zieht Begründungsprobleme nach sich, die dieses Begründungsmodell als philosophisch zureichendes disqualifizieren. Wenn die Philosophie ihrem Erkenntnisanspruch gerecht werden will, darf sie die Idee der Begründung von Wissenschaft also nicht auf die mathematische Methode verkürzen, wie es typisch ist für den Rationalismus und besonders eindringlich und terminologisch wirkungsmächtig nochmals von Wolff durchgeführt wurde. Hier wird das System der Philosophie gemäß dem axiomatisch-deduktiven Paradigma der euklidischen Geometrie aufgebaut,6 wobei der Systembegriff einseitig subjektiv ausgerichtet ist, d. i. auf die erkennende Tätigkeit als Konstituens des wahren Systems. Obwohl Euklids Geometrie, Aristoteles’ Logik oder etwa die Mechanik Newtons Kant als beispielhafte Systeme galten, ist ihm das Systemproblem der Philosophie umfassender und tiefer gehend, als dass es durch ein dem mos geometricus verhaf4

1740, § 889. AA IV, 467; vgl. auch KrV B 860 ff. 6 Vgl. zur methodischen Ineinssetzung von Philosophie und Mathematik: Wolff (1740), § 139; vgl. (1729), §§ 5 f. Die wirkungsmächtige ,euklidische‘ deduktiv-axiomatische Rationalität lässt sich knapp wie folgt beschreiben: Analog den Axiomen der Geometrie, gibt es basale Erkenntnisse (Prinzipien), die keines Beweises bedürfen, sondern evident sind; sie bilden die Grundlage aller anderen Erkenntnisse. Diese anderen Erkenntnisse werden durch einen linearen Demonstrations- oder Ableitungsprozess entweder unmittelbar aus jenen grundlegenden Erkenntnissen oder mittelbar aus ihnen abgeleitet (indem sie aus den schon abgeleiteten Erkenntnissen abgeleitet werden). 5

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tetes Systemdenken bewältigt werden könnte. Erst bei Kant wird das System der Philosophie wahrhaft zum Problem. Zunächst zieht das Systemproblem eine methodische Transformation der Philosophie nach sich. Im Zuge dieser methodischen Transformation ist die Vernunft7 begründeterweise als Prinzip möglicher Gegenständlichkeit zu denken. Folglich kann Philosophie keine Wissenschaft sein, die sich auf evidente Gegebenheiten stützt. Ein Begründungsmodell, das gemäß dem Muster des axiomatisch-deduktiven Beweises gestrickt ist, erfüllt den Anspruch einer zureichenden philosophischen Begründung nicht: ein derartiger Formalismus verbietet es, seine eigenen Voraussetzungen in methodisch konsistenter Weise (und damit wissenschaftlich) zu begründen. Es würde die Begründungsaufgabe, der die Philosophie als Wissenschaft unterworfen ist, und die sie als Disziplin rechtfertigt, unmöglich. Eine evidenztheoretisch gemodelte Letztbegründung schlägt fehl.8 Kant bricht die problemgeschichtliche Vereinseitigung des Begründungsbegriffs auf und inauguriert was die Philosophie betrifft den transzendentalen Begründungsgedanken. Diesem zufolge finden die letzten Gründe ihren Geltungsgrund nicht in anderen Erkenntnissen, sondern in sich selbst. Die objektive Gültigkeit konkreter Erkenntnisse findet ihren Grund in einem Inbegriff von Geltungsprinzipien (,Bedingungen der Möglichkeit‘); die objektive Gültigkeit dieser Geltungsprinzipien wird dadurch ,deduziert‘ (nachgewiesen), dass sie sich geltungsfunktional als Bedingungen der Erkenntnis (letzt-)begründen lassen: nicht in einem transgnoseologischen Gegenstand, sondern in ihrer eigenen Gesetzlichkeit ist die Erkenntnis fundiert. Aus dieser intragnoseologischen Wendung der Begründungsthematik folgt für das Geltungskriterium eines philosophischen Systems qua Konstrukt des Menschen wenigstens, dass der Geltungsgrund nicht die Systematizität eines von dieser Erkenntnis geltungsmäßig unabhängigen ,Gegenstandes‘ sein kann. System der Erkenntnis und System der Sache stehen prinzipiell nicht mehr in einem äußerlichen Verhältnis. Die Äußerlichkeit von Erkenntnis und Gegenstand ist in der Erkenntnis als objektivem Denken überwunden. Durch Kants Begründungsverfahren wird die Philosophie ihrer Systemförmigkeit wie ihrer Wissenschaftlichkeit gerecht. Seiner intragnoseologischen Wendung gemäß, modelt Kant die zur Philosophie gehörige Systemstruktur zu der einer inneren Zweckmäßigkeit, d. i. einer logischen Organologie.9 Dabei ist das System nicht etwas, das der Vernunft von außen oktroyiert wird, sondern die Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch,10 ist (subjektiv) 7

– verstanden im weiten Sinne als Inbegriff der ,Erkenntnisvermögen‘ des Subjekts. Der geläufigen Rede von Begründung als Ableitung und Subsumtion liegt Aristoteles’ wirkungsmächtige Konzeption von Logik und Wissenschaft zugrunde. Wissenschaft ist hier Wissen aus fundamentalen und evidenten Prinzipien. Aristoteles’ Lehre von der Unbegründbarkeit von Axiomen und der dazugehörigen evidenztheoretischen Abhilfe ist maßgeblich geworden für eine lange Tradition, die über Descartes bis Brentano und Husserl reicht. 9 Vgl. KrV B 860 f. Vgl. dazu ausführlicher Krijnen (2008), S. 20 mit 6.1.2.1 und 6.2.1. 10 KrV B 502, 673, 676, 825 u. ö. 8

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ein System.11 Kants logische Organologie der Vernunft aber indiziert zugleich eine fundamentale Schwierigkeit, die die Entwicklung des deutschen Idealismus entscheidend geprägt hat: die Uneinheitlichkeit seiner Systemkonzeption.12 Die Unterscheidung von konstitutiven und regulativen Prinzipien der Erkenntnis spielt dabei eine wichtige Rolle. In der Kritik der reinen Vernunft billigt Kant der Vernunfteinheit eine bloß regulative Funktion ohne objektive Realität zu. Entsprechend ist das System ein System von Erkenntnissen. In der Kritik der Urteilskraft erweitert er sein organologisches Systemkonzept zwar insofern, als er das System qua Form der Wissenschaft auf die Natur ausdehnt; dennoch bleibt diese Einheit der ,als ob‘-Perspektive verhaftet, also eine erkenntnisregulative Einheit: dem System als Einheit von Mannigfaltigkeit eignet auch hier keine seinskonstitutive Bedeutung. Ein solches Einheitskonzept wird der gegenstandskonstituierenden Leistung der Vernunft und damit der ihr eigenen Objektivität nur unzureichend gerecht; denn die Vernunft ist nicht bloß subjektiv, sondern als das, was sie selbst ist, auch objektiv ein System. In dieser objektiven Dimension ist sie nicht nur vorauszusetzen bzw. in Anspruch zu nehmen, sondern zur Geltung zu bringen. Dann zeigt die Vernunft sich als Grundlage jedweder möglichen Gegenständlichkeit oder Objektivität. Gegenstand und Methode der Philosophie dürfen einander nicht äußerlich bleiben. Der philosophische Systemgedanke verlangt eine durchgehende Prinzipiationsstruktur, die Selbstexplikation der Vernunft im System der Vernunft ist. Das System muss als Voraussetzung, Ziel und Methode philosophischer Erkenntnis gemäß der inneren Teleologie einer auf Selbsterkenntnis ausgelegten Vernunft in Einklang gebracht werden. Es verwundert also nicht, dass nachkantische Idealisten wie Reinhold, Fichte oder Hegel mit Kant die Systemförmigkeit der Philosophie als Kriterium ihrer Wissenschaftlichkeit auffassen, zugleich aber in Kants Denken eine zureichende Begründung der Philosophie als System vermissen. Ihnen zufolge bleiben bei Kant Form und Inhalt des Systems einander abstrakt entgegengesetzt. Im Laufe des nachkantischen Idealismus kommt es dabei zur Einsicht in die Notwendigkeit einer kreisförmigen Begründungsstruktur, in der Anfang, Fortgang und Ende des Systems in bestimmter Weise aufeinander bezogen sind. Das System der Vernunft ist nicht ein bloßes Ordnungsprinzip jenseits der Objektivität, sondern Einheitsgrund möglicher Objektivität. Die Idee der Begründung der Philosophie gestaltet sich schließlich zu einem radikalen Selbstkonstitutionsprozeß der Vernunft, aus der alle Prinzipien als Momente des Ganzen hervorgehen. Hegel hat dies und das Mangelhafte seiner Vorgänger gesehen. Er hat zugleich den Systemgedanken als Prozess konkreter philosophischer Selbstkonstitution der Vernunft paradigmatisch vorgeführt. Durch den absoluten Selbstbezug wird jegliche Äußerlichkeit von Sache und Methode, Objekt und Subjekt, Ontologie und Logik, 11

KrV B 765 f. Sie ermöglicht es beispielsweise, dass Hegel wie Cohen sich in entgegengesetzter Richtung in puncto Offenheit und Geschlossenheit des Systems auf Kant berufen können. Vgl. dazu Wiehl (2006), § 3. 12

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formaliter und materialiter getilgt: das System der Philosophie ist nichts weniger als die Explikation der Systematizität der Vernunft selbst, und zwar: als (objektiver) Grund alles dessen, was irgendwie als Logisches, Natur oder Geist ist. Bei Hegel ist das System der Philosophie so angelegt, dass die Vernunft Subjekt wie Objekt des Ganzen ist. Daher wird das System der Philosophie zur Selbsterkenntnis der ,absoluten Idee‘ als des ,absoluten Geistes‘. Hegels System ist weder bloß ein Weltsystem noch ein System bloßer Erkenntnisse (im Unterschied vom Erkannten), sondern das diese beiden Systeme fundierende System ,objektiver Gedanken‘. Nur als eine solche totale Reflexion ist Philosophie als strenge Wissenschaft möglich – so jedenfalls die Aussage der elaboriertesten Form von Systemphilosophie, die wir bis heute kennen. (ii) Eine derart umfassende Systemkonzeption musste Rufe nach einem ,neuen Denken‘ laut werden lassen. Sie erklingen bis heute. Die obige Skizze der Entwicklung des Systemgedankens macht jedoch deutlich: Man sollte die Systemkritik nicht bloß an der vermeintlichen Hypertrophie der Systemkonzeption Hegels aufhängen; denn es zeigt sich schon bei Kant, der selbst auf die rationalistische Systemphilosophie systemphilosophisch reagiert, und sodann im Laufe des nachkantischen Idealismus: das Systemproblem lässt sich nicht so einfach bewältigen, seine Lösung zieht vielmehr neue Konzepte nach sich, die wiederum eine Vielzahl weiterer Fragen und Probleme aufwerfen. Die Systemphilosophie erfuhr gerade im Zeitalter, in dem das Denken in Systemen eine Blütezeit erlebte, vielfältige Kritik. Ein Blick auf die Einwände ergibt zwar ein differenziertes Bild, zeigt jedoch ebenfalls eine einheitliche Tendenz: von moderater (und vereinzelt extremer) zu extremer (und vereinzelt moderater) Systemkritik. Während zunächst vorwiegend Probleme diskutiert wurden, die die Durchführung des Systemgedankens betreffen, wird später der Systemgedanke als solcher diskreditiert. So entzündet sich etwa in der französischen Aufklärung die Kritik am rationalistischen Systemmodell. Entsprechend wird für die Systemkritik eine durchaus sensualistische Losung maßgebend: Zurück zur Erfahrung, statt Konstruieren von Phänomenen. Gleichwohl blieb Voltaire mit seiner gänzlichen Ablehnung des Systems eher eine Ausnahme: es sei, wie die von d’Alembert bevorzugte Formel lautet, zwar kein ,esprit de système‘ vonnöten, sehr wohl aber ein ,esprit systématique‘. In der Zeit des nachkantischen Idealismus treten einflussreiche Systemkritiker wie Jacobi, Maimon oder Schulze (Aenesidemus) auf den Plan. Gewiss muss die Verabschiedung der mathematischen als der philosophischen Methode zu einer anderen Konzeption der (Ab-)Geschlossenheit des philosophischen Systems führen, vor allem aber wird die Stellung des philosophischen Systems zu seiner eigenen Geschichtlichkeit eine andere. Während Jacobi die Möglichkeit eines philosophischen Systems überhaupt bestreitet, kommt es etwa Friedrich Schlegel und Novalis auf eine modifizierte Fassung des Systems an. Vor dem Hintergrund idealistischer Systembauten bezweifeln sie, dass Sein sich adäquat in Gedanken fassen lasse, und befürchten, das

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Systematisierte verliere seine Individualität. Gleichwohl erfolgt der Einbezug der Individualität durchaus systemreferent, auch wenn dabei einem ,System von Fragmenten‘ das Wort geredet wird. Schleiermacher spielt zwar die historische Bedingtheit konkreter Systeme gegen deren Letztbegründungsanspruch aus, gibt jedoch den Systemgedanken nicht gänzlich preis. Der Linkshegelianismus kritisiert das System von der Unterscheidung zwischen System und Methode der Philosophie Hegels her und will die Abgeschlossenheit des Systems durch die Dynamik der dialektischen Methode verdrängen, ohne dabei den Systemgedanken zu verabschieden. Auch wenn Dilthey Hegels Geistphilosophie durch eine Hermeneutik von Kultursystemen überformt und damit der Auflösung des strengen Systemgedankens Vorschub leistet, zählt er nicht zu den extremen Kritikern von Systemphilosophie: Die ,Antinomie‘ zwischen Letztbegründungsanspruch und Historizität und die damit einhergehende Einseitigkeit der Systeme schließt für Dilthey zunehmende Selbsterkenntnis des Geistes in der Weltanschauungslehre keineswegs aus. Die wichtigsten Einwände gegen den Systemgedanken und damit einhergehende Konnotationen wie Geschlossenheit und Letztbegründung betonen die Dynamik einzelwissenschaftlicher Erkenntnis, die Situiertheit des philosophierenden, systembildenden Subjekts, die Individualität des Wirklichen sowie die Entwicklung von Natur und Kultur. Das Erstaunliche daran ist: Hegels Systemkonzept wird durch diese Themen keineswegs mit grundsätzlich neuen Problemen konfrontiert: Geschichte, Individualität, Erfahrung oder Entwicklung betreffen geradezu Kernanliegen Hegelschen Denkens. Tendenziell läuft die Verabschiedung von Hegels Systemgedanken auf die Verabschiedung von Systemphilosophie als solcher hinaus. Die Systemkritik wird also extrem, besonders in der Existenzphilosophie und deren Vorläufer im 19. Jahrhundert: Kierkegaard und Nietzsche. Für beide steht System gegen Dasein, gegen die Dynamik des Lebens. Allerdings sind deren Bedenken nicht primär theoretischer Art, sondern von religiösen (Kierkegaard) oder moralischen (Nietzsche) Gesichtspunkten getragen. Die extreme Ablehnung des Systemgedankens der Philosophie ist eine Grundtendenz dominanter Philosophien des 20. Jahrhunderts. Während die Neukantianer noch am Konnex von Philosophie und System festhalten, indiziert das System der Philosophie für die extremen Systemkritiker eine ,Vergewaltigung‘ des Inhalts und damit auch des Individuums durch das Allgemeine. Die Kreativität des Lebens, die Entwicklung der immer geschichtlichen Kultur und die dazugehörige Dynamik einzelwissenschaftlichen Wissens lassen sich ihnen zufolge nicht mit Systemphilosophie vereinbaren. Denn das System kennzeichne sich durch Starrheit und apriorische Verschlossenheit, kurz: durch sachliche Inadäquatheit. Eine wirkungsmächtige Tradition der analytischen Philosophie verabschiedet ihrem generellen Impetus der piecemeal-Arbeit gemäß schon früh den Systemgedanken der Philosophie. Die Fundamentalontologie Heideggers geht zwar anders als die (systemphilosophie-kritische) analytische Philosophie auf das Ganze, für den Systemgedanken bleibt dabei jedoch

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ebenso wenig Platz wie in der Hermeneutik Gadamers, in der an die Stelle der Einheit des Sinns die Vielheit des geschichtlichen Sinngeschehens tritt. So auch in der Postmoderne mit ihrem Plädoyer für ,Nomaden-Denken‘, gegen den ,Logozentrismus‘ und die ,Grundobsession der Moderne‘: deren ,Einheitsträume‘. (iii) Trotz aller zeitbedingten Polemik und der vielfach mehr als fragwürdigen Sach- und Textanalyse gibt es zwei Aspekte, die in der einen oder anderen Form immer wieder in der Systemkritik auftauchen und eine positive Berücksichtigung durch die Systemphilosophie fordern. Zum einen die Endlichkeit des Forschers, speziell seine historische Situiertheit. Das darauf zielende und besonders mit dem Aufkommen hermeneutischer Einzelwissenschaften und Philosopheme verbundene Argument heiße das subjekt-orientierte systemkritische Argument: die Situiertheit des Subjekts konterkariere den philosophischen Systemanspruch. Zum anderen die materiale Unendlichkeit (Unerschöpflichkeit) der natur- und kulturhaften Wirklichkeit. Das darauf zielende, empiristisch und positivistisch motivierte Argument heiße das objekt-orientierte systemkritische Argument: die Vielheit, Differenziertheit und Unübersehbarkeit möglicher Objekte der Erkenntnis bedinge eine Verabschiedung des Systemprojekts bzw. dessen Reduktion auf eine technisch-pragmatische Größe von bloß lokaler Bedeutung. Zweifelsohne muss ein System der Philosophie die Situiertheit des Subjekts wie die Dynamik des Objekts berücksichtigen – es muss aber auch die Sache der Philosophie und die damit verbundenen Ansprüche eines Philosophems ernst nehmen. Ist der Hinweis auf das Objekt, auf die unendliche Mannigfaltigkeit der Welt denn ein hinreichender Beweis für die Unmöglichkeit der Geschlossenheit und Abschließbarkeit des Systems? Immerhin sucht die Philosophie nicht die Welt, sondern ein zusammenhängendes Ganzes von Gedanken über die Welt. Das objekt-orientierte Argument leidet an einer Verwechslung von Theorie des Objekts und Objekt der Theorie. Und was das womöglich bedeutsamere subjekt-orientierte Argument betrifft: Eine seiner Voraussetzungen bleibt, dass die natürlich und kulturelle bedingte Situiertheit des erkennenden Subjekts nicht verhindert, dass es sich in seinem erkennenden Agieren durch die Wahrheit zu bestimmen vermag. Nicht nur die Systemphilosophie, sondern auch die Systemkritik muss es vermeiden, Einseitiges zu verabsolutieren. Dieser Imperativ der ganzheitlichen Betrachtung fordert, dass man sich der begrifflichen Notwendigkeit bewusst bleibt, das Viele unter dem Gesichtspunkt des Einen philosophisch zu begreifen. Die Klärung des wie auch immer implizit vorausgesetzten Ganzheits- oder Zusammenhangsbegriffs gerät als wissenschaftliche Klärung allerdings zur Entwicklung einer nach Gründen und Folgen geordneten philosophischen Lehre: selbst Systemkritik führt nicht zur Verabschiedung von Systemphilosophie, sondern zum Entwurf – eines neuen Systems. Wer wahrhaft wissen will, was ist, sollte sich dieser Begründungsforderung um der Wissenschaftlichkeit seiner eigenen Leistungen willen stellen. Wer darauf prinzipiell verzichtet, lässt die Voraussetzungen seines Denkens im Dunkeln, verfährt also genau genommen theoretisch willkürlich und der philosophischen Maxime

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radikaler Selbstaufklärung zuwider. Es ist nicht zuletzt das Streben nach strenger Wissenschaftlichkeit verbunden mit der Forderung nach radikaler Selbsterkenntnis (und Selbstbestimmung) im Denken, Tun und Lassen, das das philosophische Denken als Systemdenken motiviert. Mit einem billigen Sekuritätsbedürfnis oder naiver Selbstvergessenheit hat das nichts zu tun. Offenbar ist die Systemphilosophie Kants, Hegels oder beispielsweise der Neukantianer nicht auf egologische Selbsterkenntnis aus. Anders jedoch als Jacobi, Kierkegaard und deren lebensphilosophische Nachfolger suggerieren und kritisieren, kann und will die Systemphilosophie kein System individuellen menschlichen Daseins geben. Daraus folgt jedoch nicht, sie sei eo ipso lebensfremd oder unmoralisch. Und für den rechten Blick auf das Systemproblem und historisch vorliegende Entwürfe sei auch bemerkt: weder Kant noch Hegel oder die Neukantianer vertreten eine statische Systemkonzeption, die sich jenseits der Dynamik einzelwissenschaftlicher Forschung, der Fallibilität erkennender Subjekte und des Fortschreitens der Kultur verstanden wissen will. Die Sachlage bezüglich ,Offenheit und Geschlossenheit‘ des philosophischen Systems ist viel komplizierter als gemeinhin suggeriert wird.13 (iv) Aus all dem wird sichtbar: Rosenzweigs Bemühen um ein ,neues Denken‘, das mit dem konkreten Subjekt, dem Fragmentarischen, der Kontingenz, Individualität, usw. ringt, ohne dabei die Systemphilosophie zu verabschieden, vielmehr mit dem SdE ein „Tatsächlichkeits-System“14 entwirft, steht in einer langen und reichen Tradition: in der Tradition moderater Systemkritik, die der Argumentationslinie des subjekt-orientierten Arguments folgt,15 – Rosenzweig deutet gar die neuzeitliche Philo13 Unlängst hat beispielsweise Kreis (2010), S. 387, Rickert zwar als Denker hervorgehoben, der den Begriff des offenen Systems geprägt habe. Kreis unterschlägt dabei jedoch, dass Rickert sowohl in seinem System-Aufsatz als auch in seinem System-Buch die Überlegungen zum offenen System mit einem Abschnitt über die Philosophie als geschlossenes System beendet. Rickert denkt Offenheit und Geschlossenheit in Einem System zusammen. Sein Systemkonzept lässt sich nicht auf das eines offenen im Gegensatz zu einem geschlossenen reduzieren. Vgl. dazu Krijnen (2001), 7.3.2.2, und (2008), Kap. 4. Hier findet sich auch eine Kritik des Marburger Ansatzes, der Kreis vorschwebt. 14 Wiedebach (2006). 15 Wiehl (1988), S. 627 ff., hat gesehen, dass das Subjekt des neuen Denkens ein anders Ich ist im Vergleich zum Ich (Vernunft, Geist, o. ä.) der neuzeitlichen idealistischen Philosophie, nämlich das vereinzelte, endliche, sterbliche Menschen-Ich. Wiehl hat sich zudem dagegen gewehrt, Rosenzweigs Systemkonzeption als Rückfall hinter Kants transzendentaler Wende zu deuten. Rosenzweig räume noch viel gründlicher auf mit der alten Metaphysik als es der ganzen neuzeitlichen Vernunftkritik von Kant bis zum Neukantianismus des späten 19. Jahrhunderts gelungen sei. Diese blieben wie die alte Metaphysik (speziell die allgemeine Ontologie) dem Platonismus verhaftet. Indes leite Rosenzweig einen neuen Umsturz der Metaphysik ein, durchaus vergleichbar der Radikalität der Heideggerschen Destruktion. Damit hebt Wiehl Rosenzweigs neues Denken in eine sehr exponierte Stellung. Er muss dazu die historische Kontinuität Rosenzweigscher Kritik weniger in Rechnung stellen als ich es getan habe; und, was schwerer wiegt, Rosenzweigs Stellung selbst von einer als gültig vorausgesetzten Heideggerschen Perspektive der Geschichte der Philosophie als Seinsvergessenheit deuten.

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sophie und deren Subjektivität als Anthropologie (Gesammelte Schriften [GS] III, S. 143).16 Indem dabei Systemphilosophie sich als Weg einer persönlichen Denkund Glaubenserfahrung zum Wissen ums Ganze geriert, der Philosoph, wie Rosenzweig einmal schreibt, zur Form der Philosophie wird (GS I, S. 485), erfährt die Bedeutung des religiösen Glaubens für das System der Philosophie eine starke Rehabilitation. II. Zum Anfangs-, Gliederungs- und Abschlussproblem des philosophischen Systems Rosenzweigs im Vergleich zu Kant, Hegel oder den Neukantianern wesentlich andersgeartete Systemkonzeption gewinnt weiter an Profil, bezieht man sie auf drei Probleme, die den Systemgedanken markieren: das Anfangsproblem des Denkens – wie muss der Anfang des Systems der Philosophie gemacht werden? –, das Gliederungsproblem der Systemteile – in welche ,Gebiete‘ gliedert sich das System der Philosophie? – und das Abschlussproblem des Systems – wie lässt sich der Abschluß des philosophischen Systems bewältigen? Zu allen gäbe es in Bezug auf Rosenzweig viel zu sagen. Vor dem Hintergrund der obigen problemhistorischen Skizze beschränke ich mich jedoch auf einige wenige, zudem sehr allgemeine, gleichwohl aufschlussreiche Aspekte. (i) Der Anfang des Denkens ist komplex und die Rede davon notorisch mehrdeutig. Wie eine eingehende Analyse etwa der Anfangsargumentation Hegels oder Rickerts ergibt, spielen u. a. eine Rolle: real-genetische Gesichtspunkte, d. i. Realgründe, die das faktische Anfangen des Philosophen verursachen; methodisch-philosophische Gesichtspunkte des maximal Unmittelbaren eines Anfangs systemphilosophischen Denkens; logische oder ursprungstheoretische Gesichtspunkte der Natur des Denkens selbst qua Grund oder Ursprung aller Bestimmtheit. Es fällt vielerlei auf, was Rosenzweig von den Systemkonzeptionen Hegels und Rickerts sowie deren Fortbildungen unterscheidet:

Der deskriptive Charakter der Ausführungen Wiehls zu Rosenzweigs Systemkonzeption beschwört jedoch die Frage nach der Geltung seiner Deskription geradezu herauf. 16 Es muss daher, wenn man Rosenzweigs Analysen ernst nimmt, zu krassen Fehlinterpretationen etwa schon der Philosophie Kants kommen: „dass in allem Wissen das ,Ich‘ mit dabei wäre“, heißt nicht, dass mein Ich dabei ist, wenn es „dabei ist; wenn also z. B. ich betonen muss, dass ich den Baum sehe“ (GS III, S. 147). Kant thematisiert vielmehr die Möglichkeit eines solchen Dabeiseins, d. h., das Ich denke muss meine Vorstellungen begleiten können, weil sonst Undenkbares vorgestellt würde (KrV B 131 f.). Es handelt sich um logische Zusammenhänge des Denkens als Prinzip von Gegenständlichkeit, nicht um anthropologische meiner Selbsterfahrung, jedenfalls wenn, wie bei Rosenzweig, vom „Lieblingsgedanken der Neuzeit, der Zurückführung auf ,das‘ Ich“ (GS III, S. 143) die Rede sein soll. – Eine Unterschätzung der Kantischen Möglichkeitsfrage lässt sich auch in Rosenzweigs Argumentation diagnostizieren, die Autonomie der Erkenntnis zu widerlegen und rückzubinden an den Glauben an Tatsächliches, näherhin daran, dass Gott Ursprung der Wahrheit ist (SdE, GS II, S. 429 ff. u. ö.).

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Der Anfang der Philosophie sei die „Todesangst“, deren „Wirklichkeit“ von ihr vorausgesetzt werde (GS II, S. 3 ff.). Dieser Anfang betrifft offenbar einen genetischen Aspekt des Anfangs. Nimmt man Rosenzweigs Behauptung nicht empirisch, sondern philosophisch, dann ist auch klar, dass die Todesangst nur ein Spezialfall unter anderen des methodisch-genetischen Anfangs der Philosophie sein kann. Denn jedweder Geltungsanspruch wirft die Frage nach seiner Bestimmtheit und Geltung auf (und erst und allein daraus, und nicht von vornhinein, ergibt sich das „All“ als Gegenstand der Philosophie). Als Anfang der Philosophie genommen, ist die Todesangst selbst ein Geltungsphänomen. Ganz gleich, ob als methodisch-genetischer Anfang das sog. Kulturfaktum des Neukantianismus, d. h. das Faktum der Kultur als Inbegriff vorfindlicher Geltungsansprüche, die Eintrittskarte in die philosophische Sachbestimmung bildet, oder ob man über eine Phänomenologie des Geistes Hegelscher Prägung (und sei es in der minimalsten Form eines Entschlusses, rein denken zu wollen) in sie hineinkommt. Im Vergleich zu derartigen Anfängen bleibt der Grund der Todesangst als Anfang und movens der Philosophie verdeckt. Systemphilosophisch betrachtet wäre die Todesangst Index von Bestimmtheits- oder Geltungsfunktionalität. Mit dieser Funktionalität ist der Anfang für einen Anfang mit dem Anfang angebahnt. Rosenzweig exponiert einen solchen Anfang oder Ursprung im ersten Teil des SdE. Dessen Thema sind „die Elemente oder die immerwährende Vorwelt“: Gott, Welt, Mensch. Diese drei Elemente entstammen Rosenzweig zufolge der Erfahrung, deren Herkunft sei „rein empirisch“ (GS I, S. 1071).17 Zwar enthalte jedes dieser Elemente eine dynamische Komponente; gleichwohl handle es sich um je verschiedene, unaufhebbare, gleichursprüngliche, unverbundene Gegebenheiten, Faktizitäten, „Tatsächlichkeiten“. Als uranfängliche Elemente und ursprüngliche Gegebenheiten bestehe zwischen ihnen kein Zusammenhang, keine Vermittlung; vielmehr seien sie als elementare Gegebenheiten in ihrer anfänglichen Beziehungslosigkeit zu denken, Substanzen des Anfangs eben,18 „Monismen“ (SdE, GS II, S. 92). Zwar stellt sich bald heraus, dass wir von Gott, der Welt und vom Menschen anfänglich nichts wissen (S. 21, 25, 45, 68), und es wird das Wissen bzw. Nicht-Wissen zu einem wichtigen Operator, gerade in Sachen Anfänglichkeit der drei Elemente.19 Die Anfangsbestimmungen werden ihrer Herkunft wegen jedoch selbst nicht er17 – dass Rosenzweig die Bezeichnung „absoluter Empirismus“ (GS III, S. 161) als Qualifikation seiner Philosophie wenigstens erwogen hat, ist durchaus vielsagend. 18 Vgl. GS III, S. 144, wo Rosenzweig den Anfang seines Systems mit dem Substanzbegriff in Verbindung bringt. Das All ist sozusagen „zerschlagen“ in jeweilige Alle für sich (SdE, GS II, S. 28, 91). 19 Es ist der Forschung nicht verborgen geblieben, dass es eine Vielzahl von Beziehungen zwischen den Philosophien Rosenzweigs und Cohens gibt. Gerade Cohens Logik des Ursprungs hat Rosenzweig beeindruckt, dessen „neuer Begriff des Nichts“ sei geradezu Cohens „wissenschaftliche Großtat“ (GS II, S. 23); Rosenzweig möchte auf ihr fortbauen. Indes lässt sich zeigen, dass Cohen weniger eine Ursprungslogik als eine Anfangslogik bietet: der (freilich vorausgesetzte) Ursprung des Denkens bleibt bei Cohen im Dunkeln. Vgl. dazu Krijnen (2012). Vgl. speziell zu Rosenzweigs Begriff des Nichts Bertolino (2006).

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kenntnisfunktional gefasst, nämlich als minimale Bedingungen einer Bestimmungsreihe. Dagegen muss bei Hegel wie bei Rickert ein solcher Anfang als das unbestimmte, zu bestimmende, bestimmbare Unmittelbare gedacht werden, mögen deren Anfangskonzeptionen sich sonst auch gravierend unterscheiden. Gott, Welt, Mensch hätten schon Bestimmtheit an sich, wären Spezifikationen von bestimmtem Sein, keine Anfangsverhältnisse von Bestimmtheit. Bei Rickert und Hegel ist die Anfangsthematik systemphilosophischen Denkens bestimmtheitstheoretische Problematik: die Bestimmtheit des (begreifenden) Denkens, des Begriffs, ist zu verstehen, und zwar: zunächst als solche. D. h.: in einem ersten Verfahrensschritt ist Bestimmtheit selbst logisch zu erreichen und so ihrer anfänglichen Struktur nach einsichtig zu machen. Während für Rosenzweig die Anfangselemente „unbeweisbar“, bloße Nichtse des Wissens sind (S. 68), soll für die idealistische Systemphilosophie das Einsichtigmachen in begründeter Weise erfolgen, also in der Form der Notwendigkeit. Entsprechend werden nicht irgendwelche Bestimmtheiten als legitim und damit als fundiert vorausgesetzt,20 sondern allererst muss so etwas wie ,Bestimmtheit‘ im Rahmen einer logischen Genealogie ausgewiesen werden. Daher kann es ein ,Außerhalb‘ des Anfangs qua eines logischen oder qua Ursprung nicht geben; ,es gibt‘ ,da‘ nichts logisch Denkbares.21 Jeder Grundlage ,außerhalb‘ gegenüber müsste sich die Begründungsfrage wiederholen: die radikale Begründungsforderung erfordert die Selbstanwendung des Denkens. Der Anfang des Denkens kann nur ein Anfang im Denken sein: das Denken hat sich so zu begreifen, dass es sich als Bedingung dessen begreift, was es denkt. Offenbar findet es dabei nur Bestimmungen, die dem Denken angehören, freilich Bestimmungen begreifenden Denkens. Rosenzweigs Suche nach „Immerwährendem, das nicht erst des Denkens bedarf um zu sein“ (S. 22), setzt eine Bestimmtheit des Denkens jenseits des Denkens voraus. Indes muss der Anfang als logischer Ursprung wegen seiner logischen Minimalität zugleich die Bedingung maximaler Universalität erfüllen. Als derartiger Ursprung konstituiert das Denken die Erkenntnisrelation selbst. Gott, Welt, Mensch sind allenfalls abkünftige Themata, besondere Anfänge innerhalb eines ursprünglichen bzw. philosophie-methodischen Anfangs.22 20

Bei Rosenzweig ist der Geltungsmodus der Elemente zunächst ein „Glaube“ an ihre „Tatsächlichkeit“, der nachträglich seine Bestätigung durch die Wirklichkeit, in der wir leben, erfahren soll (GS II, S. 96). 21 Wiehl (1988), S. 640, zufolge ist die Differenz zwischen der Logik des Idealismus und der Rosenzweigschen Hermeneutik des Meta-Mathematischen primär eine methodische: dem Idealismus gehe es um die Bestimmung eines Unbestimmten, Rosenzweig um die Entdeckung eines Verborgenen. Während Wiehl daraus eine Kritik der Logik des Idealismus ableitet, scheinen mir hier zwei Bedeutungen von Anfang vermischt: Nimmt man den Anfang logisch und nicht genetisch, dann kann es am Anfang kein Verborgenes geben, da es noch gar nichts gibt, sondern erst ein Raum möglicher Verborgenheit und Unverborgenheit konstituiert wird. Anfangstheoretisch gesehen macht Verborgenes nur in methodisch-genetischer Hinsicht Sinn. 22 Görtz (1988), S. 657, zufolge spiegelt sich im Konstruktionsgesetz des SdE Rosenzweigs entscheidendes Interesse: die philosophische Rechtfertigung der Tatsache, dass er Jude ist. Vor diesem religiösen Hintergrund würde zwar einiges verständlich, einem solchen Standpunkt (wie jedwedem anderen religiösen) gebricht es qua logischem Anfang des Systems der Phi-

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Ebenso wenig kann es am Anfang Elemente als selbständige Wesen geben. Diese dokumentierten dadurch gerade ihre Nicht-Anfänglichkeit, hätten sie doch schon Bestimmtheit an sich jenseits ihrer geltungs- oder bestimmtheitsfunktionalen Beziehungsstruktur. Am Anfang gibt es nur Momente, die in ihrem Zusammen die Anfangseinheit des Denkens ausmachen. Es kann daher im System der Philosophie auch keinen Primat der Metaphysik oder irgendeiner anderen Sachlehre geben, sondern nur einen der Selbstkonstitution des Denkens als Prinzip möglicher Objektivität. Rosenzweig bietet anders als der Idealismus keine geltungs- oder bestimmtheitsfunktionale Ursprungslogik, sondern thematisiert die Elemente der Vorwelt im Rahmen eines ontologischen Begründungstheorems, das darauf aus ist, die Aufbauelemente der Welt, als die unaufhebbaren Faktizitäten oder Urphänomene, die sie sind, kenntlich zu machen. Wie gesagt, für Rosenzweig sind die Anfangselemente unvermittelt und unbeweisbar. Die Begründung durch das Denken kommt im nachhinein. Rosenzweig hat diesen Sachverhalt gelegentlich präsentiert als einen der hypothetischen Geltung von Anfangselementen. Innerhalb derer habe die philosophische Reflexion statt. Das Zusammenwachsen des zerschlagenen Alls zum neuen All komme später (S. 27 f., 45, 91 ff. u. ö.). Im Zuge des Begründungsgangs könnten wir uns sodann vom hypothetischen Einschlag der Anfangselemente befreien: indem wir philosophisch von „Grund aus aufbauen“, schlage das Hypothetische irgendwann um ins „Anhypothetische, Absolute, Unbedingte“, womit sich das zunächst „Unwissenschaftliche“ des anfänglichen Glaubens an die Tatsächlichkeit der Elemente als gerechtfertigt erweise (S. 45 mit 96). Die „Bahnkurve“ führe also aus dem „bloß Hypothetischen der Elemente ins Kategorische der anschaulichen Wirklichkeit“ (S. 91), der Weg des Wissens „vom Unbeweisbaren hin zur Tatsächlichkeit“ der Anfangselemente (S. 68). Für die Überwindung der Hypothetizität der Anfangselemente müssten diese sich im Aufbau der sichtbaren Bahn bewähren bzw. bestätigen (S. 91, 96). Es ist dies ein Gedankengang, der vom Gesichtspunkt der Systemphilosophie erneut an einem äquivoken Anfangsbegriff hängt: es kontaminieren vor allem methodisch-genetische und methodisch-philosophische Bedeutungen. Zweifelsohne eignet dem (freilich selbst notwendigen) methodisch-genetischen Anfang der Philosophie ein hypothetischer Einschlag, der sodann in der systemphilosophischen Konstruktion eines allseitigen Zusammenhangs der Prinzipien überwunden wird. Indes erweisen sich die methodisch-philosophischen Anfangsmomente bei Hegel, Rickert und in der späteren Transzendentalphilosophie von Anfang an als notwendig; diese ihre Notwendigkeit verbürgt ihre Bestimmtheit. Eine Beglaubigung ex post, man habe doch recht getan, so und nicht anders anzufangen, und schließlich habe sich alles zum Guten gefügt, unterbietet den der Philosophie eigenen Begründungsanspruch, auch ihre eigenen Voraussetzungen im Modus des wissenschaftlichen Wissens auszuweisen. Dass dabei die Bestimmtheit dieser Voraussetzungen sich im losophie jedoch an Minimalität und Universalität. Auch Wiehl (1988), S. 630, spricht vom Anfang als „Ausgangspunkt eines neuen philosophisch-religiösen Denkens“.

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Laufe des Begründungsprozesses ändert, ganz extrem bei Hegel,23 und im System letztlich alles mit allem zusammenhängt, jedes Glied den abschließenden Grund seiner Geltung nur im unendlichen Gefüge des Ganzen hat, bedingt noch lange nicht die hypothetische Geltung der Anfangsglieder.24 (ii) Das Gliederungsproblem der Systemteile will ich auf der Ebene diskutieren, auf der Rosenzweig seine Grundgliederung des Ganzen vornimmt – thematisch: Gott, Welt, Mensch; disziplinär: Metaphysik, Metalogik, Metaethik. Er folgt damit, wenn auch in eigener Modulation, der klassischen Systemeinteilung in Logik, Physik und Ethik, die bei Kant vermögenstheoretisch transformiert und in dieser Form stark auf die spätere Systemphilosophie auch in Rosenzweigs Zeit gewirkt hat – sei es, dass Kants vermögenstheoretische Gliederung übernommen, wie etwa bei Cohen und Windelband, oder zugunsten einer Orientierung an Kulturgebieten preisgegeben wurde, wie etwa bei Rickert, Cohn oder Cassirer. Ich gehe auf zwei Aspekte des Gliederungsproblems ein, die mir von fundamentaler Bedeutung für die Bewertung des Systemgedanken Rosenzweigs zu sein scheinen: die nicht-geltungsfunktionale Gliederung und den Abschluß bei Gott. Bei Rosenzweig gibt es keine Relationslogik der Übergänge zwischen den Systemteilen, wie wir sie kennen aus dem spekulativen Systemmodell Hegels oder dem heterologischen Rickerts bzw. dem Neukantianismus: auch die Übergänge sind der Rosenzweigschen Logik der Tatsächlichkeit verhaftet, mag es auch sein, dass etwa der zweite Teil des SdE von der Verbindung der Elemente des ersten Teils handelt, die Rosenzweig als Schöpfung, Offenbarung und Erlösung begreift. Wie schon bemerkt, gibt es bei Rosenzweig anders als in den Systemphilosophien des Idealismus von Kant über Hegel und den Neukantianismus bis in die neueste Transzendentalphilosophie hinein keinen Primat der Logik. Vielmehr bildet die Metaphysik nicht nur die erste Disziplin, und damit der Sache nach Gott, sondern Gott bildet auch den höchsten Punkt: das System als Weg zur Einheit, ist der Weg zu Gott, Gott wird die Einheit, „die alles voll-endet“ (GS II, S. 287), er steht „oben“ (S. 286); Gott durchzieht geradezu das ganze Rosenzweigsche System der Philosophie. Wie es 23 Hier enthalten die früheren Prinzipien implizite Bedeutungen, die die späteren explizieren, so dass die Logik als eine stetige Anreicherung von Bedeutungen verstanden werden kann: am Anfang ist das reine Sein das unbestimmte Unmittelbare, am Ende ist die absolute Idee die vollständig entwickelte Bedeutung von ,Sein‘. Insgesamt muss man sagen: Für Hegel ist die „absolute Idee“ der „einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie“ (Hegel, Logik II, S. 484). Dieser einzige Gegenstand und Inhalt entfaltet sich durch unterschiedliche Sphären hindurch: angefangen von der Idee im ,abstrakten‘ Element des Denkens, zur Sphäre der Idee als Natur bis zur Sphäre der Idee als Geist. Hier gibt es einen durchgängigen Bezug, der an keiner Stelle isolierte Verhältnisse erlaubt, sondern bei der Idee als absolutem Geist endet, und damit beim Verständnis der Prinzipiationsleistung der Idee oder des Denkens als Grund von allem, als Konstituente seiner selbst und der Realität. 24 Hegel hat sich einst über Reinholds Anfang mokiert, mit einem hypothetischen Philosophieren anzufangen, „in demselben […] fortzumachen, bis sich weiterhin etwa ergebe, dass man auf solchem Wege zum Urwahren gelangt sei“ (Enz, § 10 A, vgl. Logik I, S. 55, vgl. auch Enz, § 17).

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heißt, wird im dritten Teil des SdE „Gott das Haupt“, „Gott die Wahrheit“;25 in dieser seiner „messianischen Erkenntnistheorie” brenne „der Erste und Letzte und der Herzmittengegenwärtige in eins“; man könne jetzt zu Recht sagen: „Er ist“ (GS III, S. 159).26 Der ontologische Systemansatz schlägt sich auch in der Systemgliederung Rosenzweigs nieder. Gleichwohl schreibt er mit dieser seiner Gliederung einen Gedanken fort, der nicht zuletzt in den geltungsfunktionalen Systemen der Neukantianer wirksam ist: Gott fungiert als höchster Punkt und damit als Abschluß des Systems. Wie Hegel sind die Neukantianer dem Problem der Selbsterkenntnis des Denkens in radikaler Weise verpflichtet. Deren Systemkonzeptionen sind geltungsfunktional angelegt. Indem aber im Neukantianismus, anders als bei Hegel, die Aufgabe der Selbsterkenntnis nicht zugleich zum fundierenden Strukturprinzip der Systemordnung wird, unterbieten sie eine legitime Anforderung an die Form des Systems: sie gewinnen Hegels Lehre vom absoluten Geist keinen logischen, sondern allenfalls einen – sodann verworfenen – metaphysischen Sinn ab. Entsprechend fassen Neukantianer wie Rickert, Cohn oder Bauch das Grundverhältnis im System zwar als ein Verhältnis der Selbstgestaltung, diese Selbstgestaltung jedoch nicht wiederum, wie Hegel, als Funktion der Selbsterkenntnis. Hegels Systemgedanke ist durchgängig der Aufgabe der Selbsterkenntnis verpflichtet. Schon die Logik ist nicht nur eine Lehre des ,begreifenden Denkens‘, sondern zeichnet sich zugleich durch die Selbstbestimmungsbewegung des Begriffs bzw. der Idee aus; eine Bewegung, die aus der Sphäre reinen Denkens in die Sphäre des Realen übergeht, um schließlich bei der Philosophie als höchster Gestalt der Selbsterkenntnis der Idee zu enden. Rickert sieht zwar deutlich, dass die geltungsbezogenen Leistungen des Menschen auf die Philosophie und deren Aufgabe führen, sich der Geltungsbestimmtheit dieser Leistungen zu vergewissern. Dennoch gibt das Prinzip der Selbsterkenntnis nicht das die Systemgliederung organisierende Prinzip ab. Das fundierende Prinzip der Gliederung ist das der Selbstgestaltung, nämlich der Selbstgestaltung des Subjekts gemäß Werten, die es in seiner Subjektivität qualifizieren. Diese Selbstgestaltung konzipiert Rickert jedoch nicht zugleich als SichWissen: er konzipiert sie als ein Verhältnis von Subjektivität, bedingter Erfüllung, und Objektivität, unbedingter Aufgabe. Rickerts Systemordnung erfolgt dann nach Gesichtspunkten, welche die Erfüllbarkeit dieser unbedingten Aufgabe betreffen, wobei der jeweilige Mangel an ,Vollendung‘ allmählich aufgehoben wird. Das Prinzip der Vollendung bezieht somit zwar die Vereinzelung oder Verwirklichung der Geltung ein, entwirft diese jedoch nicht nochmals als Gang der Vollendung der Selbsterkenntnis. Anders als bei Hegel ist bei Rickert Selbsterkenntnis nicht Anfang und Ende des Reflexionsgangs. 25 Vgl. schon den Titel des dritten Teils: „Der Stern oder die ewige Wahrheit“. „Gott ist die Wahrheit“ ist dessen Eröffnungssatz (GS II, S. 423). 26 Vgl. z. B. II, S. 290 f., wo die Stellung Gottes im System der Philosophie prägnant sichtbar wird, wie überhaupt das Kapitel ,Schwelle‘ diesbezüglich aufschlußreich ist. Vgl. selbstverständlich auch das dritte Buch des dritten Teils und das Buch ,Tor‘.

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Dementsprechend bildet in Rickerts System – und das ist im Neukantianismus durchgängig so – weder generell die Philosophie noch speziell die Logik die sachlich letzte oder höchste Disziplin des Systems. Vielmehr ist bei Rickert die sog. ,transzendente Synthese‘ und damit (in konkreter Ausfüllung) die Sphäre der Religion die höchste Wertsphäre im System der Kultur. Während die Logik von der Erkenntnisordnung her gesehen die erste Disziplin im System ist, erhält das System von der Sachordnung her gesehen eine andere, durch das Prinzip der Vollendung bestimmte Gestalt. Bei Hegel hingegen ist die Logik nicht nur erste, sondern auch letzte Wissenschaft des Systems: Die Aufgabe der Selbsterkenntnis der Idee strukturiert das System so, dass am Ende der Anfang wieder erreicht wird. Am Ende des absoluten Geistes gelangt das Wissen des Geistes um sich selbst in oder mit der Philosophie zur ,Form des Begriffs‘. Damit wird die Reihe seiner Wissensformen und also unsere Selbsterkenntnis abgeschlossen und das selbsterkenntnisfunktionale Defizit der Wissensformen Kunst und Religion aufgehoben. Die Pointe dieses Rückgangs in die Logik ist, dass am Ende des philosophischen Systems die Philosophie selbst als schlechthinnige Grundlegungs- oder Totalitätswissenschaft begriffen wird; das Logische ist nunmehr sich wissendes Logisches, das sich zugleich als Einheit von Natur und Geist, und damit als Prinzipiationsgrund von Realem weiß. Die sich solchermaßen wissende Vernunft ist die Idee selbst als sich noch in all seinen Prinzipiata wissender Prinzipiationsgrund. Die Systemordnung ist hier also anders als bei Rickert ausgelegt auf das ganzheitliche Wissen, das die Philosophie ist. Die Gebiete des Systems müssen selbst als Erfüllung des Erkenntnisstrebens funktionalisiert werden, damit Ordnungsprinzip und Erkenntnisprinzip des Ganzen nicht mehr auseinanderfallen. Nur so vermag die Philosophie ihren Erkenntnisanspruch einzulösen. Das die Gliederung des Systems strukturierende Prinzip wäre das der Vollendung der Erkenntnis und damit der Philosophie: Philosophie qua begründendes und letztbegründendes Wissen des Weltganzen. Diesem Hegelschen Gedanken ist keiner der Neukantianer gerecht geworden. Cohn etwa ist wie Rickert der philosophischen Forderung nach Selbsterkenntnis verbunden. Zugleich rezipiert er Hegels Gedanken der Selbsterkenntnis als Gliederungsprinzip: Cohns System folgt weitgehend dem Prozess der Selbsterkenntnis des Geistes.27 Er hält allerdings den Gedanken der Selbsterkenntnis nicht in aller Konsequenz fest. Vielmehr bleibt Cohn dem neukantianischen Systemmodell insofern verhaftet, als er die geltungsfunktionale Genesis der Selbstgestaltung nicht vollständig zu einer der Selbsterkenntnis überformt. Vor allem bildet auch bei Cohn die Religion den Abschluß des philosophischen Systems, nicht die Philosophie. Aber auch eine Religion muss ihren Geltungsanspruch rechtfertigen, was sie nur in einer defizienten Form der Erkenntnis zu leisten vermag. – Auch Bauch nähert sich in seiner Ideenlehre Hegel an. Die ,Idee‘ erweist sich als diejenige objektive Geltungsbeziehung, die als Ganzes von Bedingungen der Gegenstände die Wirklichkeit 27

Vgl. Cohn (1932); dazu Krijnen (2008), 5.2.

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ebenso konstituiert wie deren Erkenntnis. Sie ist geradezu die Beziehung schlechthin. Wie bei Hegel ist die Idee bei Bauch Prinzipiationsgrund von allem.28 Zugleich bricht bei Bauch eine Bedeutung von Wahrheit durch, welche die im Neukantianismus vorherrschende Bestimmung von Wahrheit als ,theoretischer‘ Geltung bzw. als Qualifikation der Erkenntnissphäre übersteigt: Wahrheit als Vernünftigkeit oder Idealität schlechthin, als Grundlage einer jeglichen Wertsphäre. Anders als bei Rickert wird die (letzt-) fundierende Funktion der Wahrheit zum Oberbegriff; auch dies offenbar eine eminente Hegel-Annäherung. Wie Cohn aber bleibt Bauch dem neukantianischen Ansatz des axiotischen Grundverhältnisses verhaftet: Gemeinsam mit Rickerts Konzept ist ihm, dass er trotz der Primatstellung der Wahrheit das Selbstgestaltungsverhältnis nicht zu einem Verhältnis von Selbsterkenntnis weiterbildet. Das System müsste nämlich enden mit dem, was Bauch das Ergreifen der ,eigentlichen Wahrheitsgrundlagen durch die Wissenschaftslehre‘29 genannt hat: mit der Philosophie – alle Selbstgestaltung müsste zuletzt Selbstgestaltung zur Selbsterkenntnis sein. Gerade diese Einsicht liegt nahe, wenn man wie Bauch den Logos als Grund und Ziel aller Wirklichkeit auffasst. Indes bildet bei Bauch die Religion die höchste Synthese im System. Damit untergräbt auch er den Anspruch des philosophischen Wissens. Wie erwähnt, bekommt auch bei Rosenzweig die Wahrheit eine Stellung, die ihre enge Fassung als ,theoretische Geltung‘ übersteigt. Und indem Gott sich als Anfang und Ende von allem erweist, scheint trotz aller Kritik an der idealistischen Zirkelstruktur eine streckenweise vergleichbare Denkfigur bei Rosenzweig wiederzukehren. Wäre, wie manche irrtümlicherweise behaupten, Hegels Schluss der Enzyklopädie von 1830 mit dem Aristoteles-Zitat über die Noesis noeseos das Dokument einer Metaphysik des Geistes, dann ergäbe sich mit einer solchen Rehabilitierung des Gottesgedankens nochmals eine Nähe zwischen Hegel und Rosenzweig. Dazu müsste man freilich den geltungs- oder bestimmtheitsfunktionalen Impetus der Hegelschen Philosophie völlig unterschlagen und aus ihr eine vorkantische Ontologie, gar eine Ontotheologie machen. Ebenso äußerlich bleiben die beiden anderen Vergleichsgesichtspunkte, wenn die Differenz zwischen einem geltungsfunktionalen und einem ontologischen Grundansatz nicht in Rechnung gestellt wird. (iii) Das Abschlussproblem des Systems wirft ebenfalls ein besonderes Licht auf Rosenzweigs SdE als philosophisches System. Gerade weil bei ihm Systemphilosophie der Weg einer persönlichen Denk- und Glaubenserfahrung zum Wissen ums Ganze wird, der schließlich wieder „ins Leben“ (GS II, S. 472) führt,30 und weil zudem Gott als ewige Wahrheit interpretiert wird, bekommt sie eine andere, religiös-theologische Färbung. Gewiss sind abschlussrelevante Gedanken Rosenzweigs tiefsinnig, etwa dass: der Weg des Systems ein Weg zur „Einheit“ sei; die Einheit 28

Vgl. vor allem Bauch (1926); dazu Krijnen (2008), 5.3. Vgl. Bauch (1923a), S. 486 f. 30 Für Rosenzweig muss der SdE „am Alltag des Lebens“ verantwortet werden (GS III, S. 160). 29

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„letztes Ergebnis“, ein „Punkt“, der jenseits der „Bahn“ liege ebenso wie ihr „göttlicher Ursprung jenseits ihres Anfangs“; das „Werden Gottes“ kein Sichverändern, Wachsen oder Zunehmen, sondern Gott „von Anfang an“, in „jedem Augenblick“ und „immer im Kommen“ sei (S. 287), Gott die „Wahrheit“ sei (S. 423 ff.), daher über der „Wirklichkeit“ throne und sie sei (S. 428). Um aber zu einem bestimmten Begriff der Offenheit, Geschlossenheit und Geschichtlichkeit des Systems zu gelangen, bedarf es einer geltungs- bzw. bestimmtheitsfunktionalen Reinigung Rosenzweigscher Ausführungen. Vor allem muss das Verhältnis von konkreter und prinzipieller Bestimmtheit des Denkens systemphilosophisch verstanden werden: es muss verstanden werden, wie im Ergebnis das Denken sich in seiner prinzipiellen Bestimmtheit als Grund seiner konkreten Bestimmtheit begreift. Wiedebach hat in seiner Untersuchung der Prinzipien von Rosenzweigs „Konnektionismus“ Aspekte berührt, die für das Abschlussproblem relevant sind, besonders wenn sich herausstellt, dass bei Rosenzweig „Änderungen der Aktivierungsverteilung“ keine Änderungen der „Grundstruktur“ zur Folge haben können.31 Einen partiellen Neuaufbau oder Abbau von Verbindungen könne es in Rosenzweigs Dreieckskonstruktion nicht geben, obwohl gerade die Verbindungsaktivitäten auf die Netzstruktur selbst rückwirkten. Die Elemente behielten strukturell den Primat; Verbindungsmuster könnten nicht über die Tatsächlichkeit der Elemente entscheiden. Eine „die Struktur selbst sichernde Rekursivität“ dürfe sich freilich nicht auf ein externes Referenzsystem beziehen, sondern die Netzaktivität müsse nichts anderes als „ihre eigene generative Grundstruktur“ repräsentieren. Eine solche Repräsentation sei Möglichkeitsbedingung der Netzaktivität selbst. Der Sache der Philosophie nach wird damit wohl auf ein Prinzipiationsverhältnis angespielt, d. h. auf ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit von Prinzip und Konkretum (Prinzipiatum) einerseits und einseitiger Begründung des Konkretums durch das Prinzip anderseits. Das System der Philosophie ist ein solches Prinzipiationsverhältnis, begreift es doch, Kantisch gesprochen, die ,Erfahrung‘ aus ihren ,Möglichkeitsbedingungen‘, übersetzt es, mit Hegel formuliert, ,Reales‘ in den ,Begriff‘. Die Frage nach der Offenheit, Geschlossenheit und Geschichtlichkeit des Systems liegt damit auf der Hand. Ich gehe ihr im Folgenden aus systemphilosophischer Sicht nach, wobei ich wieder paradigmatisch auf Hegel und den Neukantianismus zurückgreife: Es ist durchaus üblich, Hegel die Geschlossenheit seines Systems und damit die Missachtung von dessen Geschichtlichkeit vorzuwerfen. Diese Kritik bedarf der Korrektur.32 Jedenfalls lässt sich die ,Geschlossenheit‘ des Systems nicht gegen die ,Offenheit‘ der Erfahrung bzw. Geschichte ausspielen. In Bezug auf den Neukantianismus ist die Sache ohnehin komplex. Denn mirabile dictu besteht zwischen Hegel und Rickert oder Bauch keine wesentliche prinzipientheoretische Differenz in puncto Abgeschlossenheit des Systems; sehr wohl aber zwischen diesen einerseits 31 32

Vgl. Wiedebach (2006), S. 385, auf den sich auch die folgenden Sätze beziehen. Vgl. Krijnen (2008), 4.3; ders. (2010).

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und Cohn samt Marburgern wie Cohen oder Natorp anderseits. Die Stellung zum Abschlussproblem spaltet also den Neukantianismus: Am Ende des Hegelschen philosophischen Systems liegt ein Rückgang in den schlechthinnigen Prinzipiationsgrund von allem vor. Die Unterscheidung ,Anfang – Ende‘ verliert daher ihren Sinn, sofern mit ihr ein zeitlicher oder ein logischer Fortgang verbunden ist. Sowohl in abstracto als auch in concreto ist am Ende des Systems die Prinzipiationsfunktion des Prinzips, welches das (begreifende) Denken ist, erkannt. Zweifelsohne ist für Hegel das Ende der Geschichte der Philosophie seine eigene Philosophie – aber nicht als endgültiges System, sondern, wie es heißt, als „Standpunkt der jetzigen Zeit“.33 Das ganze System der Philosophie wird in der Geschichte der Philosophie jeweils verwirklicht; es ist die Philosophie, die sich in verschiedenen Philosophien manifestiert. Die jeweilige, vereinzelte Philosophie ist von der Philosophie, ein System von dem System, das Prinzip der Philosophie von seiner Gestalt zu unterscheiden. Die Abgeschlossenheit und Endgültigkeit eines philosophischen Systems ist somit die einer diskreten Totalität: begriffliche Erfassung der absoluten Idee im Element des Realen. Ein Fortgang ist sowenig ausgeschlossen, als er vielmehr aus immanenten Gründen nötig ist. Rickerts Theorie über die Geschichtlichkeit des Systems der Philosophie entspricht der Sache nach derjenigen Hegels durchaus. Nicht nur fordert der Prinzipiengedanke selbst Offenheit und Geschlossenheit; zugleich wird das immer monadisch distribuierte System des philosophierenden Subjekts geschlossen, hängt doch die Geltung des Systems kriteriologisch auch an seiner Fähigkeit, das Konkrete als Prinzipiiertes zu erkennen. Wie sollte Philosophie anders ,ihre Zeit in Gedanken erfassen‘?34 Inhaltliche Geschlossenheit tritt an die Stelle von Offenheit. Aus dem Ganzheitsanspruch der Philosophie lässt sich auch für Rickert keinesfalls die Absolutheit irgendeiner konkreten Philosophie ableiten. Dies aber verhindert nicht, dass die Philosophie zum Abschluß kommen muss; immerhin hat sie das Ganze zum Gegenstand. Wie für Hegel, vollzieht sich auch für Rickert der ,Fortschritt‘ in der Philosophie nicht ,stückweise‘ oder in der Bearbeitung besonderer sog. ,Probleme‘, sondern in Ganzheiten: von System zu System. Eine jeweilige Philosophie vernichtet daher durch ihren Ganzheitsentwurf geradezu alle anderen Philosopheme als legitime Ganzheitsentwürfe, also ihre gesamte Geschichte. Wie bei Hegel absolute Idee und absoluter Geist nicht gänzlich zusammenfallen, ,die‘ Philosophie und eine jeweilige Philosophie zu unterscheiden sind, so gilt es auch bei Rickert Philosophie als Prinzip und als Konkretum zu unterscheiden: Der konkrete Philosoph macht durch sein konkretes System dem Ganzen konkret ein Ende und verzichtet damit auf die Zukunft; vom Gesichtspunkt der Philosophie als Wissenschaft aus bildet jedes System allerdings nur ein Moment im philosophischen Entwicklungsgang: 33

Hegel, TWA 20, S. 461. Tatsächlich deutet Rickert (1921), S. 37 f., Hegels Aussagen über das ,Individuum als Sohn seiner Zeit‘ und die ,Philosophie als ihre Zeit in Gedanken erfaßt‘ (Rph 16) in diese Richtung. 34

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die Philosophie schreitet in geschlossenen Systemen (,voll-endlichen Partikularitäten‘) fort. Cohn fällt in Bezug auf das Abschlussproblem hinter das von Hegel und Rickert Erreichte zurück. Seinem Selbstverständnis nach setzt er eine bei Hegel angelegte Tendenz, über jede Synthesis hinauszustreben, fort; er kritisiert Rickerts Konzeption des offenen Systems, das ihm im Grunde bloß ein geschlossenes System reiner Formen ist, „nur“ offen für neue Inhalte.35 Cohns Abschlussbegriff betont die Offenheit und Regulativität des Ganzen so stark, dass er den Aspekt seiner Geschlossenheit und Konstitutivität unzureichend ins Recht setzt. Über die prinzipientheoretischen Implikationen hinsichtlich Systemoffenheit und -geschlossenheit ist Cohn sich im Vergleich zu Hegel und Rickert nur unzureichend klargeworden. Sein Abschlussgedanke schreibt weniger Hegel oder Rickert fort, sondern, wie wir sehen werden, den Marburger Neukantianismus. Bauch indes anerkennt nicht bloß eine regulative, sondern auch eine konstitutive Funktion der Idee. Damit geht eine Systemkonzeption einher, die es – wie bei Hegel und Rickert – verbietet, in einem schlichten Sinne von ,offenen‘ und ,geschlossenen‘ Systemen zu reden; geschweige denn, offene und geschlossene Systeme als mögliche systemphilosophische Alternativen zu propagieren. Für Bauch steht Offenheit im Gegensatz zu einer „endlichen Abgeschlossenheit“ – nicht zur „Geschlossenheit und Konstanz“.36 Bauch fasst die ,Idee‘ geradezu als „Beziehung“, in die alles einbezogen ist, als „Ganzheit schlechthin“.37 Das System, das die Idee als schlechthinnige Ganzheit ist, ist freilich keine endliche Größe, sondern ein Zusammenhang von Geltungsverläufen. Als Zusammenhang ist dieser in sich geschlossen, jedoch nicht abgeschlossen im Sinne einer endlichen Anzahl. Die Geschlossenheit des Systems ist die eines Zusammenhangs, die von Beziehung und Ordnung in einem unendlichen Ganzen. Die Idee als der alles durchdringende Logos wird nicht selbst in das Veränderliche hineingezogen, sondern macht dessen funktionalen Folgeverlauf aus. Wie Bauch sagt, geht das Unendliche in das Endliche ein, ohne sich in ihm zu erschöpfen. Somit kehrt auch bei Bauch die Unterscheidung zwischen dem System der Philosophie und einem System der Philosophie wieder. Das Ganze der Philosophie ist Voraussetzung und Ziel konkreter philosophischer Systeme. Ein System bringt als philosophisches System das System der Philosophie zur Darstellung, ebenso wie das System der Philosophie ohne die Möglichkeit der Realisierung in einem konkreten System eine leere Abstraktion bliebe. In diesem Sinne ist keines der zeitlichen philosophischen Systeme ein Abschluß des philosophischen Systems schlechthin. Derartige Auffassungen über Offenheit und Geschlossenheit sind keineswegs Gemeingut neukantianischen Denkens. Nicht nur bei Cohn, sondern auch im Marburger Neukantianismus stellt sich die Lage anders da. Von letzterem beeinflusst, treten 35

(1932), S. 109 f., mit S. 110 Anm. 1. (1923a), S. 212. 37 (1926), S. 100.

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manche Neukantianismus-Forscher sogar für eine offene Entwicklung der Prinzipien unter dem Einfluss der Prinzipiata ein.38 Unter Bezugnahme auf Cohen und Natorp deuten sie das System als ,offenes System‘ so, dass das Systemganze nicht als gegenstandsermöglichend, als konstitutiv fungiert, sondern bloß als ,regulative Idee‘. Idealtypisch39 ergibt sich daraus, dass in diesen Systemphilosophien die konstitutive Bedeutung der Prinzipien auf eine regulative reduziert wird. Immerhin schließen sie einen möglichen Prinzipienwandel ein, setzen ihn gar voraus, fassen ,Grundlegungen‘ als ,Erzeugnisse des Denkens‘ auf: nicht als ,Grundlagen‘, sondern als revidierbare ,Hypothesen‘, und billigen Abgeschlossenheit und Vollständigkeit des Prinzipiensystems bestenfalls die Bedeutung einer regulativen Idee zu. Entsprechend gehen die Prinzipien der Erkenntnis in der Erkenntnis der Prinzipien auf. Wenn aber die Prinzipien mit dem Fortgang der Erkenntnis der Veränderung, der Entwicklung anheimfallen, löst sich nicht nur ihre Bestimmtheit zugunsten des Systems als unendlicher Aufgabe auf; zugleich kommt den Prinzipiata ihre Bestimmtheit abhanden. Noch die ,Wandlung‘ der Prinzipien ins Unendliche hätte das in sich geschlossene, unwandelbare, feste, konstante Ganze der Prinzipien zu ihrer Voraussetzung: nur aufgrund der objektiven Geltung ist das subjektive Fortschreiten qua Konkretion der Geltung möglich. Die Geschlossenheit, Invarianz und Vollständigkeit des Systems ist die des Zusammenhangs der Momente in einem unendlichen Ganzen. Für den unendlichen Fortgang der Erkenntnis ist der in sich geschlossene, unendliche Zusammenhang geradezu offen; er bedingt den Fortgang durch seine auf Inhalte bezogene funktionale Geschlossenheit und dokumentiert darin weder seine bloße Regulativität noch seine bloß abstrakte Formalität – sondern seine Prinzipienartigkeit. In seiner Diskussion mit Natorp über Offenheit und Geschlossenheit hat Bauch dazu Triftiges ausgeführt.40 Defizitär ist Bauchs Konzept allerdings insofern, als es – anders als das von Hegel und Rickert –, nicht die spezifische Geschlossenheit der philosophischen Erkenntnis reflektiert. Bauchs Gedanke, dass Offenheit nicht im Gegensatz steht zur Geschlossenheit, sondern nur zu endlicher Abgeschlossenheit, gewinnt daher nicht die letzte Schärfe, da jedes konkrete System im Sinne Bauchs ein ,endliches‘ wäre. Immerhin muss ein konkretes System als konkretes nicht nur in sich geschlossen, sondern notwendig auch abgeschlossen sein, und zwar: durch eine ,endliche‘ Anzahl von Gliedern: im philosophischen System müssen ,das‘ System und ,ein‘ System nicht nur zusammenkommen, sondern zugleich in ihrer Differenz aufgehoben werden.

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Vgl. etwa Marx (1977b; 1988 u. ö.), Edel (1993; 1994; 2006) oder Lembeck (1997), S. 189 ff. 39 Vgl. für eine detaillierte Betrachtung: Krijnen (2008), 5.3.3.3. 40 Vgl. Natorp (1912), S. 197 ff. mit S. 209 ff.; ders. (1918), S. 434 ff.; Bauch (1914), S. 311 ff.; ders. (1923a), S. 207 ff.; ders. (1923b), S. 199 f. Anm. 2.

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III. Ausblick (i) Gerade weil die gegenwärtige Systemdebatte so stark im Kontext des Begriffspaares ,Offenheit – Geschlossenheit‘ geführt wird, will ich mit einigen systematischen Schlussfolgerungen enden, die speziell das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit betreffen: Philosophie ist keine Einzelwissenschaft, sondern Ganzheitswissenschaft. Das System der Philosophie kann daher kein compositum sein, sondern ist totum, Form oder formale Einheit, die Teile ermöglicht, ihnen also logisch vorangeht. Als solche Einheit ist die Einteilung des Systems notwendig und vollständig, das Ganze ein fertiges, geschlossenes Ganzes; in ihm ist die Differenz von Bestimmtem und noch zu Bestimmendem (Unbestimmtem) aufgehoben. Wäre das Ganze nur ein unendliches Sollen, das dem (erkennenden) Subjekt entgegen stünde und dem das Subjekt sich bestenfalls maximal annäherte, so verharrte es in unendlicher Ferne und verkümmerte zur bloßen Abstraktion, verlöre damit aber seine eigene Bestimmtheit. Dagegen ist das philosophische Ganze nichts vom Erkennen des Menschen Abgelöstes: es ist in allem erkenntnismäßigen Agieren vorausgesetzt als der identische Grund und Ursprung konkret-inhaltlicher Bestimmtheit. Nur durch einen derartigen Begriff des Ganzen lässt sich überhaupt von (maximaler) ,Annäherung‘ und von Unendlichkeit als das Woraufhin der Erkenntnisbemühungen des Subjekts reden. Das Ganze ist objektiver Grund der Geltung von allem und jedwedem Geltenden, der Bestimmtheit von allem und jedwedem Bestimmten. Die unterschiedlichen Gebiete, Sphären oder Teile des Systems sind so gesehen nur relative Ganzheiten – sie sind das, was sie sind, nur als Teil im System, als Glied des Zusammenhangs der Systemteile. Alles, was ist, erhält seine Bedeutung und Rechtfertigung erst im Ganzen der Verhältnisse: außerhalb des Systems ist seine Existenz nur ein Dogma. Und da der Zusammenhang der allgemeine Grund dessen ist, was im Verhältnis stehen kann, ist das Fundierende kein irgendwie vorausgesetztes empirisches oder metaphysisches Substrat, sondern der dynamische Prozess einer Selbstkonstitution durch all seine Momente hindurch. Das System ist somit ebenfalls nichts ohne seine Teile; denn es ist ein relationales Ganzes, dessen ,Absolutheit‘ in der radikalen Autonomie seiner Selbstkonstitution besteht. Das Prinzipiationsverhältnis von Bedingung und Bedingtem bleibt dabei durchgängig in Kraft. Es kommt folglich darauf an, Offenheit und Geschlossenheit im System der Philosophie in fruchtbarer Weise zusammenzudenken. Die Sackgasse, in die die Debatte über das System der Philosophie durch die polemische Entgegensetzung von offenen und geschlossenen Systemen hineingeraten ist (wobei Offenheit und Geschlossenheit sich sowohl auf ,Formen‘ wie auf ,Inhalte‘ beziehen können soll), gilt es zu überwinden. Dass dies möglich ist, haben die Ausführungen zu Hegel und dem Neukantianismus gezeigt. Das Systemganze einschließlich seiner Aspekte ,Vollständigkeit‘ und ,Geschlossenheit‘ muss auch in seiner gegenstandsermöglichenden Bedeutung begriffen werden: als eine konstitutive Idee, nicht bloß als eine regulative. Dann lässt sich eine Systemkonzeption entwickeln, in der das System nicht mehr in

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einem schlichten Sinne als offen oder geschlossen charakterisiert werden kann, da diese Alternative gar keine erwägenswerte möglicher Systemphilosophie ist. Sie hat allenfalls eine gewisse phänomenologische Berechtigung, ist das System der Philosophie doch ebenso offen wie geschlossen, sowohl für Inhalte als auch für Formen: es ist das philosophische System, welches das Ganze durch ein begründetes Gedankenganzes jeweils auf seinen Begriff bringt. Damit wird es auch möglich, der monadischen Distribuiertheit jeweiliger Systembildungen gerecht zu werden: (ii) Was das Verhältnis von Form und Inhalt betrifft, muss man sich vor Augen halten, dass die Philosophie (aufs Ganze gesehen) auf die Realität bezogen ist: sie will begreifen, ,was in Wahrheit ist‘. Eine inhaltliche Vollständigkeit des philosophischen Systems ist insofern unmöglich, als sich in Zukunft heute unbekannte Kulturformen oder Gestalten der Idee manifestieren können; das System muss also im Prinzip offen sein für die Zukunft. Diese inhaltliche Offenheit kommt ohne formale Geschlossenheit des Systems nicht aus, muss doch die Einheit von Mannigfaltigem, die das System ist, eine prinzipiengeregelte Ordnung sein. Die formale Geschlossenheit ist Bestimmungsgrund möglicher Konkreta. Diese sind, was sie sind, durch ihre Systemstelle. Deshalb kann das philosophische System beanspruchen, dass jeder mögliche ,Inhalt‘ sich dem System zuordnen lässt. In diesem Sinne ist das System vollständig. Es begreift, was ist, aus den Prinzipien, die es als das, was es ist, ermöglichen; in einem und zugleich begreift es die Prinzipien in ihrer Prinzipiationsfunktion: in ihrer Fähigkeit, Prinzipiata zu prinzipiieren. Die Valenz des Systems hängt so gesehen nicht an seinem inhaltlichen Abschluß, sondern an seiner Fähigkeit, einen begründeten Zusammenhang der Prinzipien und deren Beziehung auf Prinzipiata herzustellen; einen Zusammenhang, der sowohl die in sich differenzierte Einheit der Wirklichkeit verständlich macht als auch die Spezifität oder Konkretheit eines jeden möglichen Konkretums. Das philosophische System bezieht seine Valenz somit aus seiner Begründetheit und seiner Begründungsfähigkeit – aus seiner auf Offenheit bezogene Geschlossenheit. Insofern ist ein inhaltlicher Abschluß ausgeschlossen. Diese Offenheit des Systems ist freilich nicht durch die Geschichte verbürgt, sondern der Prinzipiengedanke selbst ist es, der Offenheit und Geschlossenheit fordert. Folglich ist das System der Philosophie gar keine ,endliche‘, sondern eine ,unendliche‘ Größe, nämlich ein Zusammenhang von Geltungs- oder Bestimmtheitsverläufen. In diesem Zusammenhang hat jeder Systemteil den abschließenden Grund seiner Geltung bzw. Bestimmtheit: das Ganze ist konstitutiv für die Geltung bzw. Bestimmtheit eines jedweden Teils; es bestimmt dessen Teilhaftigkeit. Als Zusammenhang ist es keine unterschiedslose, punktuelle Einheit, sondern Beziehung einer Mannigfaltigkeit. Nur weil die Affinität der Systemglieder bruchlos durchgehalten wird, ist das System der Philosophie keine abstrakte Größe. Als Zusammenhang ist das Ganze kein negativ- oder potential-unendliches Ganzes, sondern ein positiv- oder aktual-unendliches: das philosophische System ist eine Totalität, die jedwede Unfertigkeit negiert; nur dann ist es Prinzip der Einheit und des

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universalen (Begründungs-)Zusammenhangs aller möglichen Glieder. Dieser Zusammenhang ist in sich geschlossen, fest, konstant, aber nicht abgeschlossen im Sinne einer endlichen Anzahl. Seine Geschlossenheit ist die des Zusammenhangs. Dieser Zusammenhang als das Unendliche, das er ist, verendlicht sich, geht in die Wirklichkeit ein; aber gerade hier gibt er sich keinen Abschluß, sondern was sich hält, ist sein Prinzipiieren von Prinzipiata, sein Beziehungsein von Beziehungen und Bezogenen. Die formale Geschlossenheit ist also alles andere als eine statische Geschlossenheit: sie ist eine dynamische, prozessuale. Als ,gegliedertes‘ Ganzes kann das System nie ,äußerlich‘, sondern nur ,innerlich‘ wachsen: Änderungen im System sind selbstbestimmte Änderungen. Im Entwicklungsprozess ändert sich niemals der Zweck des Ganzen, sondern nur die Erfüllung: nur wie die als Prinzip geltende zweckmäßige formale Bestimmung sich im Prozess ihrer Gestaltung Befriedigung verschafft. Weniger weil das Subjekt ein endliches, sondern vielmehr weil das Ganze in sich selbst unabgeschlossen ist, ist die Realisierungsaufgabe für das Subjekt eine unendliche. Das System der Philosophie ist in Bezug auf mögliche Prinzipiata unabgeschlossen und unabschließbar. Offen ist es jedoch nur im Rahmen der Einheit, des Zusammenhangs. Daher ist das System auf der Ebene der Prinzipien, d. h. auf der Ebene des Zusammenhangs möglicher Prinzipiata, geschlossen. Diese Geschlossenheit des Systems ist Möglichkeitsbedingung jeglicher Entwicklung der Kultur als Entwicklung von Kultur: die Entwicklung von Kultur ist kein Argument gegen die Geschlossenheit des Systems – sie ist nur unter ihrer Voraussetzung möglich. Dass dabei eine vollständige Ordnung von Systemsphären vonnöten ist, verhindert nicht, dass sich neue Kulturgebiete, Wert- oder Ideensphären herausbilden können. Immerhin handelt es sich bei der Ordnung im System um systemisch überformte, nicht um bloß phänomenologisch aufgeraffte Kulturgebiete. Würde die Insichgeschlossenheit dieses Ganzen preisgegeben, zur bloßen Unendlichkeit depraviert, die Prinzipien gar dem Wandel unterworfen – alle Bestimmtheit und Bestimmbarkeit sowohl der Prinzipien als auch der Prinzipiata wäre annihiliert: das Prinzip bzw. das Prinzipienganze verkümmerte zur bloßen Abstraktion, statt in seiner konstitutiven Bedeutung für das Prinzipiat zur Geltung gebracht zu werden. Das in sich geschlossene, unwandelbare feste, konstante Ganze der Prinzipien ermöglicht den unendlichen Fortgang der Erfahrung: er ist ein Fortgang innerhalb des positiv-unendlichen, ,unbeweglichen‘ Zusammenhangs jener Bewegung: der innere Prozess, wodurch sich das Ganze konstituiert, reproduziert und erhält. Ein solcher Zusammenhang der Momente in einem unendlichen Ganzen ist die Idee des Systems. Die Idee des Systems fällt keineswegs zusammen mit einem konkreten System, mit einem konkreten Prinzipieninbegriff, mit irgendeiner ,endlichen‘ (realen) Abgeschlossenheit (für das Subjekt bleibt das System, jedenfalls aufs Ganze gesehen, unendliche Aufgabe der Erkenntnis). Für den Fortgang der Erkenntnis ist das System geradezu offen, bedingt ihn sogar durch seine auf Inhalte bezogene funktionale Geschlossenheit. Es ist weder eine bloß regulative noch eine abstrakt-formale

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Größe, sondern Prinzip. Der Fortgang der Erkenntnis des Systems ist der jeweilige Prozess wirklicher Gestaltung des Zusammenhangs. (iii) Dieser Sachverhalt hat Folgen für die spezifische Geschlossenheit einer konkreten Philosophie. Als konkretes philosophisches System muss dieses nämlich nicht nur in sich geschlossen sein, sondern auch – abgeschlossen. Am Ende einer philosophischen Rekonstruktion dessen, was ist, ist alles zunächst in irgendeiner Form ,Gegebene‘ philosophisch begriffen: es liegt eine Vernunftansicht des Ganzen vor. Auch die Systemsphären erhalten so den Rang von Prinzipien. Sie sind Momente der Selbsterkenntnisbewegung der Idee. Nur so haben sie ihre objektive Berechtigung. Ist aber die Wirklichkeit aus ihrer Möglichkeit bestimmt – was soll dann noch die Rede von einem offenen System? Gerade der synthetische Fortgang im System begreift am Ende alles Konkrete aus seinem Grund, der die Idee ist. Das monadisch distribuierte System des philosophierenden Subjekts ist also notwendig geschlossen, andernfalls hätte die Philosophie weder das Konkrete begriffen noch die Geltung der Prinzipien, aus denen sie es zu begreifen vorgibt, in ihrer Prinzipiationsleistung und damit in ihrer Bestimmtheit gerechtfertigt. Sofern die Rede vom ,offenen System‘ einen präzisen Sinn haben soll, ist eine Differenz hervorzukehren, die sich bei Hegel, Rickert oder Bauch findet: die Unterscheidung zwischen dem System und einem System der Philosophie. Vom erkennenden Subjekt aus gesehen bleibt das System durchaus auch eine unendliche Aufgabe; eine Aufgabe, die durch die monadisch distribuierten, konkreten Systemkonzeptionen der Philosophen niemals vollständig erfüllt wird: die Systeme bleiben Annäherungen an das System. Das System ist in seiner Geltung jedoch unabhängig davon, ob und inwiefern die Philosophen es in ihren Systemen erfassen; es ist vielmehr Ziel und Voraussetzung konkreter Systembildungen, mehr noch: das System der Philosophie ist zugleich in jedem System der Philosophie präsent, wirklich; denn wie sollte es sonst ein System der Philosophie sein? Entgegen aller Rede von einer bloß ,subjektiven‘ Vernunftsystematik wird somit deutlich: Die Vernunft selbst ist ein (objektives) System, das Ziel und Voraussetzung eines jeglichen konkreten (subjektiven) philosophischen Systems ist. Als konkretes System der Philosophie ist es die realisierte Selbstbestimmung des Systems: wirkliche Selbsterkenntnis der Idee. Zweifellos ist auch die philosophische Erkenntnis als konkrete eine Komplexion von Bedingtheit und Unbedingtheit: reale Erkenntnis, keine vollkommene Erkenntnis des Ganzen. Aus dem Ganzheitsanspruch der Philosophie folgt nicht die Endgültigkeit irgendeiner konkreten Philosophie. In Bezug auf das philosophische Ganze (das System) bleibt die philosophische Gegenwart nur eine Entwicklungsstufe. Ein System bringt das System zur Darstellung – genauer: Das System der Philosophie ist offen, weil die Geschichte der Philosophie den immanenten Entwicklungsprozess des Einen Systems darstellt, Selbstbestimmung des Denkens oder der Idee als des Ganzen ist. Mirabile dictu wird man der viel beschworenen ,Endlichkeit‘ auch der philosophischen Erkenntnis nicht gerecht ohne den Systemgedanken bzw. ein geschlossenes

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System. Gerade in der Sukzession der Systemabschlüsse vollzieht sich eine stetige Neubestimmung der ,Endlichkeit‘ (besser: der Realität, Konkretheit) der philosophischen Erkenntnis unter dem Leitfaden ihrer Absolutheitsprätention. Im System spricht eine Philosophie jeweils die totale Implikation des Ganzen aus; was es im System der Philosophie nicht gibt, gibt es gar nicht; und wenn es etwas gibt, das es in einem System der Philosophie nicht gibt, dann gibt es das System der Philosophie in diesem Ganzheitsentwurf noch nicht oder nicht mehr. Der jeweilige Philosoph macht durch sein System dem Ganzen konkret ein Ende; vom Gesichtspunkt der Philosophie als Wissenschaft aus bildet es nur ein Moment im philosophischen Entwicklungsgang: die Philosophie schreitet in geschlossenen Systemen fort. So kommen die Unbedingtheit des philosophischen Themas, die Ganzheitsprätention der Philosophie und die Bedingtheit jeweiliger Philosophen zum Ausgleich.41 Verzeichnis der angeführten Werke Bauch, Bruno (1914), „Über den Begriff des Naturgesetzes“, in: Kant-Studien, 19, S. 303 – 337. – (1923a), Immanuel Kant. Berlin/Leipzig. – (1923b), Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. Leipzig. – (1926), Die Idee. Leipzig. Bertolino, Luca (2006), „Das Nichts und die Philosophie“, in: W. Schmied-Kowarzik (Hg.), Frans Rosenzweigs ,neues Denken‘, Bd. I. Freiburg/München, S. 111 – 125. Cohn, Jonas (1932), Wertwissenschaft. Stuttgart. Edel, Geert (1993), „Offene und geschlossene Systemform. Überlegungen zur Unverzichtbarkeit eines erneuerten Systembegriffs“, in: H.-D. Klein (Hg.), Systeme im Denken der Gegenwart. Bonn, S. 43 – 56. – (1994), „Die Entkräftung des Absoluten. Ursprung und Hypothesis in der Philosophie Hermann Cohens“, in: E.-W. Orth/H. Holzhey (Hg.), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme. Würzburg, S. 329 – 342. – (2006), „,Es gibt hier keinen definitiven Abschluß‘: Cohens System – ein Torso oder wohlbegründet offen?“, in: H. F. Fulda/Ch. Krijnen (Hg.), Systemphilosophie als Selbsterkenntnis. Hegel und der Neukantianismus. Würzburg, S. 51 – 65.

41 Im Systemdiskurs der Gegenwart lässt sich neben dem bislang diskutierten Argumentationsstrang noch ein weiterer für ein offenes System ausmachen. Besonders prägnant ist er greifbar bei Gloy. Dabei handelt es sich um eine Variante des objekt-orientierten Arguments für die Systemoffenheit. Obwohl Gloy die Offenheit des Systems an das Objekt rückbinden will, überstrapaziert sie m. E. doch die Subjektivität, wodurch die objektive Struktur des Systems als eines offenen unterbestimmt bleibt und das System nolens volens zu einer abstrakten Größe wird. Ihr Plädoyer für analogisches Denken und damit für ein Analogiesystem gibt gerade aus Gründen strikter Rechenschaftslegung auch des Analogiedenkens zu weiteren Fragen Anlass. Vgl. zu Gloys Systemdenken ausführlich Krijnen (2008), S. 394 ff.

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Unzeitgemäße Bemerkungen zu Franz Rosenzweigs Beitrag zum Universalienproblem Kurt Walter Zeidler Das Nichts unsres Wissens ist kein einfaches Nichts, sondern ein dreifaches. Damit enthält es in sich die Verheißung der Bestimmbarkeit.

Das Wagnis, Franz Rosenzweig als den philosophischen Systematiker beim Wort zu nehmen, der er zu sein beansprucht, hat ihn an zwei Ansprüchen zu messen, für die ein gemeinsamer Maßstab fehlt. Zum einen spricht Rosenzweig als Anwalt eines ,Neuen Denkens‘, das unter Berufung auf die „Kontingenz der Welt“ der „ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena“ den Fehdehandschuh hinwirft.1 Von diesem Neuen Denken, das gegen „die Identität von Sein und Denken“ Sturm läuft2 und dagegen den „Mensch[en] in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens“ in Stellung bringt (GS II, S. 10), weiß sich unsere Zeit angesprochen: ihre Themen sind darum der Mensch Franz Rosenzweig und der dialogische, der existentialistische und personalistische Denker. Den anderen Rosenzweig, den Philosophen, dessen Ehrgeiz dahin ging, „der alten Philosophie“ nicht bloß den Fehdehandschuh hinzuwerfen und sie Adabsurdum zu führen, sondern sie durch ihre „Adabsurdumführung“ zu retten (GS III, S. 142 f.) und durch den „Offenbarungsbegriff der Theologie“zu erneuern (GS II, S. 117 f.),3 gilt es hingegen erst zu entdecken: da der Maßstab fehlt, an dem das Neue Denken und die ,alte Philosophie‘ gemessen werden könnten, bliebe neben der polemischen Behauptung der Standpunkte nur Raum für die historische Gelehrsamkeit, die über alle Gegensätze unverdrossen ihre Netze spinnt, sofern man nicht den Versuch wagte, abseits der Standpunkte und der gelehrten Vor- und Rückversicherungen, zu philosophieren. 1 Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. 4 Teile, Den Haag 1976 ff. (= GS I-IV), hier: GS II, Der Stern der Erlösung, S. 13. 2 Ebd. 3 Neben der Anregung durch Eugen Rosenstocks ,Sprachbrief‘ (E. Rosenstock-Hussey, Angewandte Seelenkunde, in: ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Bd. 1, Heidelberg 1963, S. 739 – 810; vgl. Rosenzweig, GS III, S. 125 ff. und GS I, S. 276 f.) ist auch zu nennen Hans Ehrenberg (Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer. Leipzig 1911), der „den Primat der Logik, den wir bei Hegel und den Kantianern finden und bekämpfen, […] durch den Primat der Theologie“ ersetzt und davon spricht, dass sich „die Philosophie verneint […], insofern sie sich realisiert“ (S. 100 f.), und „im metalogischen Selbstbeschluß nicht sich, sondern […] Gott – als das Letzte [setzt]“ (S. 78; vgl. S. 63 f.).

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Auf nichts also dürfen wir bauen. Und nimmt man Rosenzweigs doppelten Anspruch auf „Adabsurdumführung und Rettung der alten Philosophie“ beim Wort, kommt man auch gar nicht darum herum, auf nichts zu bauen, denn auf Nichts oder auf drei „Nichtse“ gründet Rosenzweig seinen systematischen Anspruch. Auf Nichts oder auf drei „Nichtse“? Eine merkwürdige Frage, die sich uns gleich im Beginn in den Weg stellt. Merkwürdig zumal, da Rosenzweig die Frage im Vorbeigehen aufwirft und im Zickzack daran vorbei geht: Nachdem er unter Berufung auf die nach-idealistische Philosophiekritik, auf Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche, festgestellt hat, dass das „von Parmenides bis Hegel“ vorausgesetzte und gesuchte „All des Denkens und Seins in drei getrennte“ Stücke zerbricht, nämlich in die „Nichtse, in die Kant der Dialektiker die Gegenstände […] der rationalen Theologie, Kosmologie und Psychologie, zerkritisiert hat“ (GS II, S. 21), beruft er sich auf Hermann Cohen, der „entscheidend mit der idealistischen Überlieferung“ gebrochen habe, da er „lehrt im Nichts den Ursprung des Etwas [zu] erkennen“, und Rosenzweig versichert, dass „wir hier, möchte der Meister es auch weit ablehnen, fort[bauen] auf der wissenschaftlichen Großtat seiner Logik des Ursprungs, dem neuen Begriff des Nichts“ (GS II, S. 23). Von dem ,neuen Begriff des Nichts‘ ist jedoch weiterhin keine Rede, vielmehr geht Rosenzweig von Cohen wieder zurück zu Kant, der „unter allen Denkern der Vergangenheit […] allein […] den Weg, den wir nun gehen werden, gewiesen hat“, indem er „das Nichts des Wissens nicht mehr einfach, sondern dreifach“ formulierte (GS II, S. 24). Die Schritte von der nach-idealistischen Philosophiekritik zurück zu Kant, von Kant zu Cohen und wiederum zurück zu Kant und den zu bloßen Nichtsen „zerkritisierten“ drei Gegenständen der traditionellen Metaphysik, Gott, Welt und Mensch, liefern die Elemente, deren Bahn dem ,Stern der Erlösung‘ die Gestalt vorzeichnet. Rosenzweig beginnt sonach höchst voraussetzungsvoll: Er beginnt mit drei Begriffen von Nichts und Allem, die zwei Jahrtausende Philosophiegeschichte und den Weg von „Jonien bis Jena“, wie auch bereits die nach-idealistische Kritik an dieser Geschichte und diesem Weg hinter sich haben. Der erste Teil des Stern der Erlösung ist darum kein „Buch der Vergangenheit“ (GS III, S. 150), sondern der Vorvergangenheit. Gott, Welt und Mensch werden unter dem Titel Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt nicht als Wirklichkeiten der Vergangenheit lebendig, sondern erscheinen durch den Filter der Vergangenheit gebrochen als schemenhafte Unwirklichkeiten aus einer Vorvergangenheit, die eine ,immerwährende Vorwelt‘ nur deshalb sein darf, weil sie nie Wirklichkeit war und auch nie wird sein können. Gott, Welt und Mensch, die drei Elemente des „Heidentums“ und „drei letzten und ersten Gegenstände allen Philosophierens“ (GS III, S. 144), sollen nur Stückwerk sein. Die drei Über-Gegenstände der traditionellen Metaphysik bleiben für das nicht durch die „Offenbarung“ wachgerufene und auf seinen Weg gewiesene Denken angeblich zerstückte Gegebenheiten, die es nicht in geordnete Beziehung zu setzen vermag: „Der mythische Gott, die plastische Welt, der tragische Mensch – wir halten die Teile in der Hand“, aber „keines dieser Stücke hat einen sicheren, unverrückbaren Ort […]. Zu keiner Ordnung der dreie sagt das

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heidnische Bewußtsein entschlossen Ja oder Nein.“4 Vielmehr liege ein „schillernder Glanz des Vielleicht […] über Göttern, Welten und Menschen. Gerade weil es den Monismus eines jeden dieser drei Elemente im vollendeten Eins- und Allgefühl ihrer Tatsächlichkeit ganz ausgebaut hat, gerade deshalb ist das Heidentum – ,Polytheismus‘ nicht bloß, sondern ,Polykosmismus‘, ,Polyanthropismus‘; gerade deshalb zersplittert es das schon in seine Tatsächlichkeiten zerstückelte All noch einmal in die Splitter seiner Möglichkeiten.“5 Rosenzweig formuliert auf diese Weise im ersten Teil des Stern eine Kritik an der Unwirklichkeit der überkommenen Bildungswelt, die diese Bildungswelt aber nicht prinzipiell in Frage stellt, sondern in ihrer abgelebten Musealität bestätigt, indem sie eine einst lebendige Vergangenheit in eine unwirkliche Vorvergangenheit entrückt. Er formuliert seine Kritik darum im teils wehmütigen Rückblick auf „die Klassizität des klassischen Altertums“ (GS III, S. 146) und mit teils harten Worten über die drei Grundthemen und Über-Gegenstände der philosophischen Tradition, die Kant Ideen der reinen Vernunft genannt hat, seien doch „diese drei letzten und ersten Gegenstände allen Philosophierens Zwiebeln, die man schälen kann, soviel man will, – man kommt immer wieder nur auf Zwiebelblätter und nicht auf etwas ,ganz anderes‘. […] Die Erfahrung entdeckt im Menschen, so tief sie eindringen mag, immer wieder nur Menschliches, in der Welt nur Weltliches, in Gott nur Göttliches. […] Aber […] an diesem Punkt, wo die Philosophie mit ihrem Denken allerdings an ihrem Ende wäre, [kann] die erfahrende Philosophie beginnen“ (GS III, S. 144). Die „erfahrende Philosophie“, die im zweiten Teil des Stern der Erlösung ihre Bahn beschreitet, kann erst beginnen, nachdem die „Philosophie des Heidentums“ an ihr Ende gekommen ist und die Aufgabe erfüllt hat, „die elementaren Inhalte der Erfahrung gereinigt von den Mischungen, die das Denken an ihnen vornehmen möchte, herauszustellen“ (GS III, S. 146 f.); denn während die heidnische Philosophie, ihren autonomen Begründungsleistungen vertrauend, die Identität von Sein und Denken durch das Denken herzustellen versucht, dabei aber nur unschlüssig zwischen Gott, Welt und Mensch changiert, geht die erfahrende Philosophie von deren Existenz, insbesondere von der Existenz Gottes aus: „Gott muss Dasein haben vor aller Identität von Sein und Denken“ (GS II, S. 19). Die „erfahrende Philosophie“ ist Rosenzweigs Umschreibung für das, was Schelling, in Abhebung von der negativen, die positive Philosophie genannt hatte. Schelling drückte diesen existentiellen Ansatz der positiven Philosophie in seiner ,Einleitung in die Philosophie der Offenbarung‘ mit den Worten aus, „im reinen Denken ist Gott nur Ende, Resultat; Gott aber, was man wirklich Gott nennt […], ist nur der, welcher Urheber seyn, der etwas anfangen kann, der also vor allem existirt, der nicht bloße Vernunft = Idee ist.“6 Die mit seiner Wirklichkeit unmittelbar angesprochene Freiheit und Geschichtlichkeit Gottes und die in seinem Grunde wesende ,Natur‘ Gottes, diese Leitthemen 4

GS II, S. 91 f. Vgl. GS III, S. 159. GS II, S. 95. Vgl. GS I, S. 413. 6 F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, hg. von K. F. A. Schelling. Stuttgart 1856 – 1861 (= SW); hier: SW II/3, S. 172; vgl. SW II/1, S. 563 f. 5

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seiner Spätphilosophie, die Schelling seit der Freiheitsschrift in Abgrenzung von und in Auseinandersetzung mit Hegel entwickelt, greift Rosenzweig auf. Und so sehr ist er sich bewusst, sich mit seinen Überlegungen in der Bahn der Schellingschen Spätphilosophie zu bewegen (GS II, S. 19 f.), dass er an seinen Vetter Hans Ehrenberg schreibt: wenn die Weltalter Schellings „fertig geworden wären, so verdiente der Stern, außerhalb der Juden, nicht, dass ein Hahn nach ihm krähte.“7 Die Briefstelle ist wohl nicht dahingehend zu interpretieren, dass sich Rosenzweig als Vollender der Weltalter-Philosophie und somit als der von Schelling Erhoffte verstanden habe, „der das größte Heldengedicht singt, im Geist umfassend, wie von Sehern der Vorzeit gerühmt wird, was war, was ist und was seyn wird.“8 Mit Schellings Weltaltern ist aber das entscheidende Gliederungsprinzip benannt, das den Aufbau des Stern der Erlösung beherrscht: neben die ewigen Themen Gott, Welt, Mensch tritt die zeitliche Orientierung nach Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft. Orientierung, nicht chronologische Ordnung im Sinne des Vor- und Nacheinander, liefern die drei Zeiten. Sie liefern die orientierende, die Elemente aufeinander zuordnende Verbindung zwischen Gott und Welt und Mensch. Die immerwährende Vorwelt, die gerade durch das Fehlen der Orientierung gekennzeichnet ist, konnte darum nicht eigentlich Vergangenheit, sondern nur – und eben darum immerwährende – Vorvergangenheit sein. Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft währen hingegen nicht immer; Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft gehen ineinander über, sind daher auch nur von ihrem Übergang, von der jedesmaligen Gegenwart her, zu unterscheiden und sind aufgrund dieses konstitutiven Bezugs zur Gegenwart orientierend. Aufgrund ihres konstitutiven Bezugs zu einer jedesmaligen Gegenwart verfiele die geschichtliche Zeitfolge von Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft allerdings dem Relativismus, wenn ihre ,Gegenwart‘ nur ein beliebiger Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft wäre. Die Orientierung verschafft darum nicht die bloße geschichtliche Zeitfolge, sondern der „Offenbarungsbegriff der Theologie“: die Orientierung verschafft das in der Gegenwart, im Hier und Jetzt und jeweils namentlich an diesen Einzelnen adressierte „Gebot“ Gottes.9 Die „ganze Offenbarung“ tritt unter „dieses imperativische Heute des Gebots“ (GS II, S. 198), und so ist das Liebesgebot Gottes „reine Gegenwart“10 und darf auch die „Erfüllung von 7

GS I, S. 701, Brief vom 18. 3. 1921 an Hans Ehrenberg. F. W. J. Schelling, Die Weltalter, hg. von M. Schröter. München 1946, S. 9. 9 „Reine Gegenwart aber, Wende von Vergangenheit in Zukunft, Hereinreißung des Kommenden in das Heute und Hier ist von Haus aus nur der Imperativ, der Modus der Verwandlung, der Modus jenes mächtigen ,tolle, lege‘, ,tolle, lege‘, ,nimm und lies‘, das einen Augustin zu seiner Verwirklichung rief“ (E. Rosenstock-Hussey, Angewandte Seelenkunde, S. 760). 10 „Der Imperativ des Gebots trifft keine Voraussicht für die Zukunft; er kann sich nur die Sofortigkeit des Gehorchens vorstellen. Würde er an Zukunft oder an ein Immer denken, so wäre er nicht Gebot, nicht Befehl, sondern Gesetz. Das Gesetz rechnet mit Zeiten, mit Zukunft, mit Dauer. Das Gebot weiß nur vom Augenblick; es erwartet den Erfolg noch im Augenblick seines Lautwerdens, und wenn es den Zauber des echten Befehlstons besitzt, so 8

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Gottes Gebot in der Welt […] keine Vergangenheit haben und in sich selbst auch keinen Willen zu einer Zukunft, keinen ,Zweck‘; sie muss ganz in den Augenblick verlorene Tat der Liebe sein“ (GS II, S. 240). Vergleichen wir die letzte Formulierung mit Kants Kategorischem Imperativ – und der Vergleich ist nicht ganz unangemessen, wenn Kants Freiheitsbegriff „die Caravelle [ist], auf der wir den nuovo mondo der Offenbarung allein entdecken können, wenn wir uns im Hafen der alten logischen Welt eingeschifft haben“ (GS III, S. 130) – dann dürfen wir feststellen, dass Rosenzweig eine theologische Reformulierung für die Unbedingtheit des Kategorischen Imperativs liefert. Nur auf den Augenblick, auf das Hier und Jetzt und den Einzelnen gestellt, ist die Unbedingtheit allerdings ohne Sekurität. Der Preis, der zu zahlen ist, wenn man den „Hafen der alten logischen Welt“ verlässt und das Gesetz durch das Gebot ersetzt, ist Unsicherheit oder – schärfer formuliert und Rosenzweigs Rede vom „Befehl“ aufgreifend – ein Not- und Kriegszustand, der ständige Bereitschaft fordert. Die Not ist also groß, und obwohl Rosenzweig das ganz anders sieht und erklärt, dass das vieldeutige Gesetz das „inhaltlich klare und eindeutige Gebot der Nächstenliebe“ braucht (GS II, S. 239), braucht die Offenbarung doch nichts dringlicher als die Erlösung; sie braucht die Erlösung genauso, wie der Augenblick die Ewigkeit braucht, die „den Augenblick zum Immerwährenden“ macht.11 Die Not ist groß und darum bedarf die Offenbarung der Erlösung. Das ist ein ketzerischer Gedanke, der das Gebot in Frage stellt und die Offenbarung in Zweifel zieht, den Rosenzweig daher so nicht formuliert und nicht formulieren kann, den er aber nachträglich im dritten Buch des zweiten Teiles unter dem Titel „Erlösung oder Die ewige Zukunft des Reichs“ bestätigt, wenn er feststellt, die „Steigerung der eigenen Seele zur Seele Aller gibt erst der eigenen Seele die Kühnheit, ihre eigene Not auszusprechen – weil es eben mehr ist als bloß die eigne“ (GS II, S. 279). Die Seele, die ihre eigne Not nur auszusprechen wagt als Glied der Gemeinde und nur aussprechen kann in der „Form des gemeinsamen Gesangs der Gemeinde“,12 ist wahrlich der Zeuge des Glaubens: sie bezeugt mit ihrem Glauben, dass die Erlösung noch aussteht. Ob sie Zeugnis ablegt für oder gegen den Glauben, ist mithin nicht entschieden. Soll sie Zeugnis ablegen für den Glauben, dann muss der Glaube die Erlösung antizipieren; darum muss der Glaube voll der Hoffnung sein, dass Gebet und Gesang der Gemeinde die ,ewige Zukunft‘ vorwegnehmen: „Wenn es keine solche Kraft, kein solches Gebet gibt, welches das Kommen des Reichs beschleunigen kann, so kommt es nicht in Ewigkeit, sondern – in Ewigkeit nicht“ (GS II, S. 321). Der dritte Teil des Stern handelt dementsprechend von den „Gestalten der Liturgik“, den Riten, Festen und Sakramenten der ,Gemeinde‘, die das Zukünftige „zum Heute machen“ (GS II, S. 327).

wird es sich in dieser Erwartung auch nie täuschen. So ist das Gebot reine Gegenwart“ (GS II, S. 197). 11 GS II, S. 288. Vgl. S. 326. 12 GS II, S. 278. Vgl. S. 258.

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Dem professionellen Philosophen drängt sich spätestens an dieser Stelle die Frage auf, ob der Stern der Erlösung letztlich nicht doch nur das Dokument für das jüdischprotestantische Religionsgespräch ist, das Franz Rosenzweig über Jahre mit Freunden und Verwandten geführt hat. Zweifellos ist er auch dies. Zweifellos bietet der Stern eine Systematische Theologie, die gleichermaßen an Juden wie an Christen adressiert ist. Und zweifellos ist Rosenzweigs Argumentation primär theologisch motiviert. Dennoch ist der Stern der Erlösung auch ein „System der Philosophie“; weniger weil er auch die „Ingredienzien eines ordentlichen Systempunsches“ enthält: eine Logik, eine Ethik und eine Ästhetik, sondern weil er eine „vollkommene Erneuerung“ des Denkens anstrebt (GS III, S. 140 f.). Die Erneuerung soll als Erneuerung der Philosophie durch den „Offenbarungsbegriff der Theologie“ die „Brücke vom Subjektivsten zum Objektivsten“ schlagen; sie soll den Gegensatz oder – schlimmer noch – das beziehungslose Nebeneinander der neueren, subjektiven Weltanschauungs- und Standpunktsphilosophie und der „alten, berufsmäßig unpersönlichen“ Philosophie überbrücken, auf dass die Philosophie „ihre neue Ausgangsstellung, das subjektive, ja extrem persönliche, mehr als das, unvergleichbare, in sich selbst versenkte Selbst und dessen Standpunkt festhalten und dennoch die Objektivität der Wissenschaft erreichen“ könne (GS II, S. 117 f.). Da man heute sowenig wie vor hundert Jahren behaupten kann, dass dieses Ziel erreicht sei, ja nicht einmal behaupten kann, dass die Philosophie dem Ziel inzwischen nähergekommen sei, ist noch keineswegs ausgemacht, worin denn nun eigentlich der philosophische Anspruch besteht, an dem Rosenzweigs Stern der Erlösung zu messen wäre: Die Kombattanten haben sich auf beiden Seiten so tief in ihre Ausgangsstellungen eingegraben, dass sie weniger an der Überwindung, als vielmehr an der Befestigung ihrer Positionen arbeiten und übersehen wird, dass der philosophische Anspruch Rosenzweigs gerade darin besteht, diesen Stellungskrieg zu beenden. Der Umstand, dass Rosenzweig selbst an den Sieg des ,Neuen Denkens‘ auf allen Linien glaubte und zuletzt noch kräftig an der Verhärtung der ,Fronten‘ mitgewirkt hat, ist zwar wenig ermutigend, sollte aber nicht zum Vorwand dienen, der Herausforderung aus dem Wege zu gehen, die das ,neue‘ für das ,alte‘ Denken bedeutet oder – besser gesagt – bedeuten könnte, wenn man nicht länger aneinander vorbei redete. Bevor wir diese Herausforderung annehmen, ist daher noch an die Konfrontation von ,neuem‘ und ,altem‘ Denken zu erinnern, die ihr beiderseitiges aneinander vorbei Reden dokumentiert und die ,Fronten‘ bis auf den heutigen Tag zementiert. An die Konfrontation von ,neuem‘ und ,altem‘ Denken in der sogenannten Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger13 ist um so mehr zu erinnern, als Franz Rosenzweig in seinem letzten literarischen Zeugnis14 die Partei Heideggers ergriff, der „gegen Cassirer […] die Haltung unseres, des neuen Denkens vertreten“ habe, wobei er mit Bezug auf „Cohens bedeutendstem Schüler Cassirer“ (GS III, 13

Vgl.: Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, in: M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. 4. Aufl., Frankfurt am Main 1973, S. 246 – 268. 14 F. Rosenzweig, Vertauschte Fronten [1929], GS III, S. 235 – 237.

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S. 236), von ,Vertauschten Fronten‘ spricht, da Cassirer den „Gelehrten-BourgeoisGedanken“ des ,alten Denkens‘ verteidige, während vom „Grundbegriff der Cohenschen Altersphilosophie“, von der ,Korrelation‘ von Mensch und Gott, geradewegs „der Anlauf zum – um es denn heideggersch auszudrücken – ,Einsprung in das Dasein‘ führt“ (GS III, S. 237). Wenn Rosenzweig die Cohensche Altersphilosophie – wie er sehr wohl weiß, entgegen „Cohens eigener Absicht und Einsicht“ (GS II, S. 236) – zum Vorläufer des ,neuen Denkens‘ erklärt und sie gegen den Idealismus des „Systems“ und den Neukantianismus der Marburger Schule in Stellung bringt, so ist diese Umdeutung der „Absicht und Einsicht“ des Meisters nicht ganz unberechtigt: sie ist insoweit berechtigt, als die ,Korrelation‘ von Mensch und Gott ein systematisch unbewältigtes Problem zur Sprache bringt. Die Religionsphilosophie des späten Cohen thematisiert einen blinden Fleck in seinem bisherigen Systembau: Indem Hermann Cohen, einem strikt regressiv-analytischen Verständnis der „transzendentalen Methode“ folgend,15 seine Logik der reinen Erkenntnis (1902), seine Ethik des reinen Willens (1907) und seine Ästhetik des reinen Gefühls (1912), als Grundlegungen und zugleich apriorische Rekonstruktionen der historisch vorliegenden Fakta der Wissenschaft, der Sittlichkeit und der Kunst konzipierte, hatte er nämlich, aus lauter Sorge um die ,Objektivität‘ der Methode und die ,Reinheit‘ des Apriori, das Subjekt der Erkenntnis, des Willens und des Gefühls schlicht vergessen. Hingegen unterscheidet der späte Cohen die „Eigenart“ der Religion von der „Selbständigkeit“ der drei Kulturgebiete Logik, Ethik und Ästhetik, weil die Religion „in scheinbarem [!] Widerspruch zur Logik, zur Ethik und beinahe auch zur Ästhetik, die allesamt das Aufgehen des Endlichen in der Allheit des Unendlichen fordern, […] ihre Eigenart für die Behauptung des Endlichen, des menschlichen Individuums seinem Gotte, dem Gotte seines Ich gegenüber, geltend macht“,16 und bestätigt damit, dass innerhalb des ,Systems‘ eine Lücke klafft, die durch die Religionsphilosophie nachträglich gefüllt, die aber im System selbst nicht beseitigt werden kann.17 Der existierende Widerspruch, der das „Ich“ in der ihm vorgegebenen Endlichkeit und aufgegebenen Unendlichkeit ist, hat keinen Ort im System des reinen Denkens, des reinen Willens und des reinen Gefühls. Daher hat Franz Rosenzweig, als Sprecher der Generation, die aufgrund ihrer Kriegserlebnisse den existierenden Widerspruch als unmittelbares existentielles Problem erfuhr, die Religionsphilosophie als den Wendepunkt interpretiert, an dem Cohen den „magischen Kreis des Idealismus“ durchbricht.18 Rosenzweig hat den späten Cohen als Mitstreiter und Vordenker für sein existentiell bewegtes „neues Denken“ verstanden und dementsprechend den späten Cohen 15 Vgl. I. Kant, Prolegomena [1783], § 4 und § 5 Anm.; H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung. 2. Aufl., Berlin 1885, S. 66 ff. 16 H. Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Giessen 1915, S. 135. 17 Siehe H. Holzhey, Die Religion im System der Philosophie Cohens, in: Hermann Cohen und die Erkenntnistheorie, hg. von W. Marx u. E. W. Orth. Würzburg 2001, S. 147 – 163. 18 F. Rosenzweig, Einleitung, in: H. Cohen, Jüdische Schriften. Bd. I, Berlin 1924, S. XLVIII. Vgl. E. Rosenstock-Hussey, Angewandte Seelenkunde, S. 760.

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gemeinsam mit Heidegger gegen Ernst Cassirer in Stellung gebracht. Die Frontlinien dieser Konfrontation, mögen sie auch an ,Vertauschten Fronten‘ entlanglaufen, sind klar abgesteckt: Dasein steht gegen Geist, situative Betroffenheit und Unmittelbarkeit stehen gegen objektivierende Reflexion und Vermittlung. Eine Verständigung zwischen den beiden Standpunkten ist solcherart von vornherein ausgeschlossen und so reden Cassirer und Heidegger in der Davoser-Disputation denn auch beharrlich aneinander vorbei. Während Heidegger seine philosophische Aufgabe darin sieht, „aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte des Schicksals“,19 versteht Cassirer den ,Einsprung in das Dasein‘ als Zentrierung auf „den empirischen Menschen“ und Absprung in die „Relativität“; d. i. als Absprung in einen bodenlosen Relativismus, dem er die „Idee der philosophischen Erkenntnis überhaupt“ und den Hinweis auf die durch „das Urphänomen der Sprache“ bezeugte „gemeinsame objektive menschliche Welt“ entgegenhält.20 Cassirers feine, mit unterschwelliger Ironie vorgetragene Kritik und sein Vermittlungsangebot mussten in der Konfrontation mit dem existentialistischen Pathos der Betroffenheit und Unmittelbarkeit als Schwäche erscheinen und bekräftigen die bis heute vorherrschende Einschätzung der DavoserDisputation „als Aufbruch des existentiellen Denkens in der Überwindung des unglaubwürdigen Idealismus“.21 Die Tatsache, dass der Kulturoptimismus oder die „Kulturfrömmigkeit“, die den Neukantianismus getragen hatte,22 durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zutiefst erschüttert und unglaubwürdig geworden war, ist nicht zu bestreiten. Nicht zu bestreiten ist auch, dass die Reaktion Cassirers der Herausforderung durch das Neue Denken nicht in vollem Umfange gerecht wird. Deswegen dem Idealismus und dem ,alten Denken‘ insgesamt die Totenglocke zu läuten, ist jedoch verfrüht, zumal im Marburger Neukantianismus bereits Jahre vor der Davoser-Disputation präzise das Problem diagnostiziert und die Aufgabe formuliert wurde, der Cassirer und Heidegger in ihrem aneinander vorbei Reden ausweichen. Paul Natorp, der Lehrer Cassirers und Marburger Amtskollege Heideggers, hat im Ringen um einen systematisch fruchtbaren Begriff des ,Bewusstseins‘ und in Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie und der Husserlschen Phänomenologie in seiner Spätphilosophie eine von kultur- und wissenschaftstheoretischen Schlacken gereinigte Begründung des transzendentalphilosophischen Systemanspruchs verlangt, indem er die Forderung erhob nach „der letzten Verallgemeinerung des Problems des Logischen und die seiner letzten Zuspitzung auf die Frage des Individuel-

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„Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger“, S. 263. Ebd., S. 264. 21 K. Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von H.-J. Braun/H. Holzhey/E. W. Orth. Frankfurt am Main 1989, S. 301. 22 J. Cohn, Der Sinn der gegenwärtigen Kultur. Leipzig 1914, S. 270. Vgl. K. W. Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik. Bonn 1995, S. 17 ff. 20

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len“.23 Übersetzen wir diese Formulierung eines Kantianers in die Kantische Terminologie und Systematik, dann zielt sie auf die Einheit von bestimmender und reflektierender Urteilskraft und damit durch alle drei Kantischen Kritiken hindurch auf die fundamentallogische Sicherung der Einheit der ,kritisch‘ in verschiedene Kompetenzen zerspaltenen Vernunft. Dieses Programm, wobei hier ausdrücklich nur vom Programm, nicht von Natorps Ausführungen der ,allgemeinen Logik‘ die Rede ist,24 böte den Bezugspunkt für einen Dialog zwischen Cassirer und Heidegger. Es ist ein beiden Kontrahenten bekannter Bezugspunkt, dem allerdings beide ausweichen: Heidegger weicht der Frage nach der Vereinbarkeit des Logischen und des Individuellen aus, weil er den Logos prinzipiell verdächtigt, uns die Sicht auf das ,Dasein‘ zu verstellen; Cassirer weicht der Frage aus, weil, wie er in seinem Nachruf auf Paul Natorp erklärt, durch dessen spekulativen Neuansatz „der Damm gebrochen [scheint], den Cohen in kritischer Vorsicht errichtet hatte und den er, beim Stande der Philosophie seiner Zeit, errichten musste, wenn er sie von den Übergriffen einer unmethodischen Spekulation befreien und in den ,sicheren Gang einer Wissenschaft‘ […] zurückbringen wollte“.25 Die Absage, die Cassirer der ,allgemeinen Logik‘ des späten Natorp erteilt, bezeugt, dass er den im neukantianischen Verständnis durch die Orientierung am ,Faktum‘ der Wissenschaft zu sichernden szientifischen Anspruch der Philosophie durch Natorps spekulativ-logisches Fundierungsprogramm bedroht sieht, und sie dokumentiert, welche Vorbehalte, nunmehr von Seiten des ,alten‘ Denkens, einer vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit dem Neuen Denken im Wege stehen. Der Logische Empirismus und die analytische Philosophie, die dem Neukantianismus schon bald den Rang der ,wissenschaftlichen Philosophie‘ streitig machten, waren zu einer solchen Auseinandersetzung noch weniger bereit und fähig, so dass Lagerdenken und Gesprächsverweigerung zwischen den verfeindeten Lagern zum hervorstechendsten Charakteristikum der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde. So man den Beteiligten keine bösen Absichten unterstellen will, muss die Gesprächsverweigerung darauf zurückzuführen sein, dass sie inkompatible Sprachen sprechen und gleichsam in verschiedenen Welten leben. Wenn dem so ist, und die beiden Exponenten der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Heidegger und Wittgenstein, bestätigen 23 P. Natorp, Bruno Bauchs ,Immanuel Kant‘ und die Fortbildung des Systems des kritischen Idealismus, in: Kant-Studien 22 (1917), S. 428. Der Sache, nicht der Formulierung nach, ist das „die zweite, die entscheidende Forderung der transzendentalen Methode“, die Natorp fünf Jahre zuvor in seinem Rechenschaftsbericht der ,Marburger Schule‘ als Desiderat formulierte: „zum Faktum den Grund der ,Möglichkeit‘ und damit den ,Rechtsgrund‘ nachzuweisen, das heißt: eben den Gesetzesgrund, die Einheit des Logos, der Ratio in all solcher schaffenden Tat der Kultur aufzuzeigen und zur Reinheit herauszuarbeiten.“ (P. Natorp, Kant und die Marburger Schule, in: Kant-Studien 17 [1912], S. 197). 24 Vgl. Paul Natorp, Selbstdarstellung, in: Die Philosophie d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von R. Schmidt. Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig 1923; sowie ders., Vorlesungen über praktische Philosophie. Erlangen 1925; und ders., Philosophische Systematik. Hamburg 1958. 25 E. Cassirer, Paul Natorp. 24. Januar 1854 – 17. August 1924, in: Kant-Studien 30 (1925); und Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburg 1998 – 2009, Bd. 16, S. 217.

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diesen Verdacht, dann helfen alle Appelle zur Verständigung und alle wohlmeinenden Übersetzungs- und Vermittlungsangebote nicht: Wenn die einen konstatieren, dass es nun einmal verschiedene ,Sprachspiele‘ mit jeweils speziellen Regeln gibt, während die andern auf ihrem bedeutungsschweren Pilgerweg ,Unterwegs zur Sprache‘ sind, dann liegt der Verdacht nahe, dass die andauernd beschworene „Wende zur Sprache“ das Mantra ist, mit dem die Philosophie des 20. Jahrhunderts ihre Sprachlosigkeit kompensiert. Die freundlichen hermeneutischen, diskurs- und kommunikationstheoretischen Angebote, an denen in unserer allerorten auf Moderation bedachten Zeit wahrlich kein Mangel herrscht, fruchten darum nichts; sie können die Gegensätze allenfalls kaschieren, sie können das verdrängte Problem, das die Gegensätze und ihre sprachphilosophischen Kompensationen provoziert, aber nicht überwinden. Will man Gegensätze überwinden, dann muss man ihnen auf den Grund gehen und darf nicht nach Kompromissen schielen. Was also ist der Grund des scheinbar unüberwindlichen Gegensatzes von unpersönlich ,wissenschaftlicher‘ und zutiefst persönlicher Existenz- und Standpunkt-Philosophie, von ,altem‘ und ,neuem Denken‘? Sollten uns die bisherigen Überlegungen nicht völlig in die Irre geführt haben, dann müssten wir in unserer Nacherzählung der Argumente Rosenzweigs und den spärlichen Hinweisen auf die vielfältigen Bezüge seines Denkens den gesuchten Grund von Anbeginn umkreist und bereits unter verschiedenen Aspekten angesprochen haben; noch nicht gefunden aber haben wir das erlösende Wort, das den Grund als solchen offenbart. Indem wir dies sagen und hoffentlich auch verstehen, was wir da sagen, ist der gesuchte Grund allerdings auch schon ausgesprochen und gefunden. Der Theologe Franz Rosenzweig insistiert – darin ist der Theologe dem Philosophen allemal überlegen – auf der Überlegenheit des Hier und Jetzt und diesen Einzelnen betreffenden Wortes. Dass er – Theologe der er ist – das Wort als göttliche Offenbarung versteht und daher „das Wort des Menschen im Wort Gottes“ sucht (GS II, S. 221), sollte die Philosophen von Profession nicht verleiten, Rosenzweigs systematisches Anliegen unter den Stichworten ,Religionsphilosophie‘ und ,dialogischer Personalismus‘ abzuhaken; die Erinnerung an das „Wort Gottes“ sollte dem professionellen Philosophen vielmehr Aufforderung sein, in sich zu gehen und zu überlegen, ob er das Wort nicht immerzu für bloßen Schall und bloß konventionellen Namen gehalten habe, für ein Strandgut der kulturellen Überlieferung, das nur dank seiner Bearbeitung durch den Philosophen stabile Form, objektiven Gehalt und wahren Wert gewinnt. Ist die Philosophie der neueren Zeit, von dem ,Analysten‘ Descartes bis zu den ,Analytikern‘ des 20. Jahrhunderts, nicht zutiefst davon überzeugt, dass die vorfindliche Welt und Sprache Steinbrüche seien, die darauf warten, durch Meisterhand bearbeitet, geformt und in komfortable und übersichtliche Gebäude verwandelt zu werden? Hat man mit dem ,Wort, das im Anfang war‘ nicht auch den Ursprungs- und Offenbarungscharakter des Wortes vergessen und ihn durch ein Surrogat von Wörtern ersetzt, die nach technischen, politischen und pragmatischen Beliebigkeiten ausgetauscht, ersetzt, konstruiert und dekonstruiert werden können?

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Versteht man Rosenzweigs Rede von der Erneuerung der Philosophie durch den „Offenbarungsbegriff der Theologie“ im Lichte dieser Fragen, dann zeichnet sich ab, dass seine Kritik an der ,alten‘ professionellen Philosophie ebenso die allerneueste, die post-moderne, post-analytische und dekonstruktivistische Philosophie trifft. Damit wird allerdings auch kenntlich: die Konfrontation von ,altem‘ und ,neuem Denken‘ ist missverständlich und irreführend. Versteht man sie schlicht als Konfrontation von traditioneller Philosophie und existentiellem Denken, dann schlägt man nicht die „Brücke vom Subjektivsten zum Objektivsten“, sondern bricht alle Brücken ab und gerät in den sinnlosen Stellungskrieg zwischen ,objektiv‘ wissenschaftlicher und ,subjektiv‘ standpunktlicher Philosophie, in dem sich beide Seiten ihrer Sache um so sicherer sein können, je unbeweglicher sie in ihren Stellungen verharren. Soll die Rede von der Erneuerung der Philosophie durch den „Offenbarungsbegriff der Theologie“ also ernst gemeint sein, dann ist zu prüfen, ob Rosenzweig und seine Mitstreiter die Frontlinien auf ihrer Generalstabskarte richtig gezogen haben. Ist ihr Gegner denn tatsächlich der Idealismus und die ganze alte Philosophengesellschaft „von Jonien bis Jena“, oder ist ihr Gegner nicht vielmehr eine Philosophie, die den Idealismus in ,toten Hausrat‘ (J. G. Fichte) verwandelt? Nehmen wir Rosenzweigs systematisches Anliegen in diesem Sinne ernst und nehmen es gegen den fiebrigen Zeitgeist der 20er Jahre in Schutz, dann ist der Gegner, den er unter dem Namen ,Idealismus‘ bekämpft, primär gar nicht der Idealismus oder die ,alte‘ Philosophie, sondern das zeitgenössische Gelehrtentum;26 sein Gegner ist eine Philosophie, die nichts lieber als eine ganz normale Wissenschaft wäre und es darum nur zum ,Alexandrinertum‘ (Nietzsche), zu historischer Gelehrsamkeit und gelehrtem Spezialistentum bringt: die vordringlich um ihre akademische Reputation und ,Wissenschaftlichkeit‘ besorgte professionalisierte Universitätsphilosophie und mit ihr die Voraussetzung aller neueren Wissenschaft – der Nominalismus. Der „Name“ ist für Rosenzweig „nicht, wie der Unglaube immer wieder in stolzverstockter Leere wahrhaben möchte, Schall und Rauch, sondern Wort und Feuer“ (GS II, S. 209). Dieser Satz, den Rosenzweig nachträglich zum „Kern- und Mittelsatz des Ganzen“, d. i. des Stern der Erlösung erklärt (GS I, S. 752),27 bestätigt seine Opposition gegen den Nominalismus. Genauer gesagt, sie bestätigt seine theologisch motivierte Opposition gegen den wissenschaftlichen Nominalismus der Neuzeit, der für eine Philosophie, die den ,exakten‘ und ,objektiven‘ Wissenschaften nachei26

Die eindeutige Absage an das Gelehrtentum und an eine akademische Karriere hat Rosenzweig im Brief vom 30. 8. 1920 an seinen Doktorvater Friedrich Meinecke formuliert: „Ich merkte, dass der Weg, den ich ging, zwischen Unwirklichkeiten dahinführt. Es war eben der Weg, den mir nur mein Talent oder vielmehr meine Talente wiesen. Ich spürte die Sinnlosigkeit einer solchen Talentherrschaft und Selbstdienstbarkeit […]. Das Wesentliche ist doch, dass mir die Wissenschaft überhaupt nicht mehr die zentrale Bedeutung besitzt und dass mein Leben seither bestimmt ist von dem ,dunklen Drang‘, dem ich mit dem Namen ,mein Judentum‘ schließlich eben auch nur einen Namen zu geben, mir freilich bewußt bin“ (GS I, S. 680). 27 GS I, S. 752, Brief an Margarete Susman-Bendemann vom Februar 1922. Vgl. die Schreiben an Gertrud Oppenheim vom 30. 5. 1917 (GS I, S. 211) und 14. 3. 1922 (GS I, S. 758).

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fert, die einzig mögliche Option im Universalienstreit ist: denn nur wenn die Begriffe nirgendwo sonst, als im Kopf des Denkenden ihren Ort haben, ist die methodische Fiktion, der die Wissenschaft der neueren Zeit ihre Erfolge und ihr Prestige verdankt, als unumstößliche Wahrheit legitimiert. Das universale post res stempelt die methodische Fiktion des ,unbeteiligten Beobachters‘, der die Welt von einem ,archimedischen Punkt‘ aus betrachtet, zur ursprünglichen Gewissheit, und Descartes, der den Platonismus des Mathematikers glücklich mit der Skepsis des Nominalisten verband, gilt eben darum als Anfänger der ganzen neueren Philosophie, weil er die ursprüngliche Geschiedenheit des Denkenden vom Gedachten zur metaphysischen Gewissheit erhoben hat. Gegen die Ursprünglichkeit dieser Trennung, gegen den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Subjekt-Objekt-Dualismus der neuzeitlichen Philosophie kämpft das Neue Denken. Gegen diesen Dualismus und die darin befestigte Position des ,unbeteiligten Beobachters‘, der gleichsam von außen auf die Dinge in Raum und Zeit schaut, macht es den Standpunkt des ,Betroffenen‘ geltend, der in Raum und Zeit hineingestellt ist oder – falls man pathetische Formulierungen präferiert, die dem Beobachter die gehörige Betroffenheit vermitteln sollen – in das Hier und Jetzt ,geworfen‘ ist. Die Opposition des „existentiellen“, des „engagierten“, des „geschichtlichen“, des „dialogischen“ und „personalistischen“ Denkens gegen die ,objektivierende‘ Wissenschaft und ,wissenschaftliche‘ Philosophie ist damit eindeutig vorgezeichnet. Die Opposition gegen den Idealismus ist hingegen weniger durch die idealistische Philosophie selbst, als vielmehr durch eine spezifische Konstellation und Konfrontation von Kulturkritik, philosophiegeschichtlicher Überlieferung und akademischer Philosophie motiviert. Rosenzweigs Opposition gegen den Idealismus „von Parmenides bis Hegel“ ist im speziellen durch die Hegel-Kritik Schellings, sowie durch eine recht eigenwillige Eng- und Zusammenführung von Idealismus und ,wissenschaftlicher‘ Philosophie motiviert: Demnach habe der Idealismus die „Erscheinung […] nicht als ,spontan‘ begreifen dürfen, weil er damit die Allherrschaft des Logos geleugnet hätte“, und habe daher „die sprudelnde Fülle zum toten Chaos des Gegebenen umfälschen“ und „die Lebendigkeit“, die er dem Denken zuschrieb, dem Leben absprechen müssen; die „metalogische Weltansicht“ begreife den Logos dagegen als innerweltlichen Logos, der „die Einheit der Welt nur von innen, […] nicht als ihre äußere, sondern als ihre innere Form [bewirkt]“, und somit „nicht wie von Parmenides bis Hegel Weltschöpfer, sondern Weltgeist, besser vielleicht noch Weltseele“ ist, die „dem Wunder des lebendigen Weltleibs sein Recht widerfahren lassen“ kann (GS II, S. 50 f.). Indem Rosenzweig dem Idealismus das nimmt und der ,metalogischen Weltansicht‘ das gibt, was gleichsam die ,Seele‘, nämlich das Proprium und den innersten Antrieb der „ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel“ ausmacht, und dem solcherart entseelten ,Idealismus‘ überdies den Totenschein ausstellt, indem er das „Hegelsche System“ – dem Hegelianismus gleichermaßen hofierend, wie ihn negierend – zum unüberbietbaren Abschluss der idealistischen Gedankenbewegung erklärt (GS II, S. 116), verkennt er leider, dass er mit dem Idealismus

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seinen einzigen ernst zu nehmenden Verbündeten gegen den neuzeitlichen Nominalismus und Subjekt-Objekt-Dualismus zurückweist. Rosenzweig verkennt, dass er mit der „ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel“ die einzige Instanz zurückweist, die eine logische Alternative zum neuzeitlichen Nominalismus und Subjekt-Objekt-Dualismus anzubieten hätte, weil er die Logik des Idealismus verdächtigt, die Identität von Sein und Denken künstlich „durch das Denken“ herstellen zu wollen (GS II, S. 157), so dass „die Einheit des Denkens, als unmittelbar nur auf das Denken, nicht auf das Sein gehend, aus dem Kosmos Sein = Denken heraus[fällt]“ (GS II, S. 14). Der Subjekt-Objekt-Dualismus gründete demzufolge im Idealismus, der somit für Rosenzweig zum denkbar ungeeignetsten Kandidaten für den angestrebten Brückenschlag „vom Subjektivsten zum Objektivsten“ (GS II, S. 117) wird. Andererseits finden sich bei Rosenzweig ständig Andeutungen, historische Bezüge und systematische Hinweise, die vermuten lassen, dass dieser Brückenschlag dennoch im Horizont der idealistischen Philosophie anzusetzen hätte. Einen wichtigen Hinweis gibt z. B. die Bemerkung, wonach Kants Freiheitsbegriff „die Caravelle [ist], auf der wir den nuovo mondo der Offenbarung allein entdecken können, wenn wir uns im Hafen der alten logischen Welt eingeschifft haben“ (GS III, S. 130). Der Hinweis ist zunächst wenig ermutigend, verweist er uns doch auf die bei Kant nicht ,kritisch‘ gelöste, sondern durch die Unterscheidung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis vielmehr ,kritisch‘ festgeschriebene Trennung von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, von theoretischer und praktischer Vernunft. Der Hinweis ist allerdings insoweit erhellend, als Kants Freiheitsbegriff die lineare Zeitordnung durchbricht und seinen szientifischen Erfahrungsbegriff beschränkt, der die empirische Realität im Lichte der Newtonschen Physik an die methodisch konstruierte, d. i. bloß transzendental ideale Raum- und Zeitordnung bindet. Dies erklärt, warum die Geschichte und das Zeitproblem in das Zentrum des Interesses der nach-kantischen Philosophie rücken: Wäre die Zeit nicht nur als lineare Zeitordnung zu denken, sondern als ursprüngliche, die Geschichte zeitigende Zeit deutbar, dann wäre die Kluft beseitigt, die Natur- und Freiheitsbegriff trennt. Das ,geschichtliche Denken‘ bleibt jedoch – die Weltalter Schellings bezeugen dies ebenso, wie die geschichts- und zeitphilosophischen Bemühungen der letzten beiden Jahrhunderte – aufgrund seines konstitutiven Bezugs zu seiner jedesmaligen Gegenwart zwangsläufig fragmentarisch. Jede Philosophie der Geschichte – der späte Hegel hat diese resignative Einsicht mit dem bekannten Gleichnis von der „Eule der Minerva“ angedeutet – hinkt der geschichtlichen Entwicklung hinterher und auch der nach-idealistische Versuch, die Zeit als ,schöpferische Entwicklung‘ auf ursprüngliche Weise zu erfassen, genügt nicht der Forderung und erfüllt nicht die Hoffnung, die Henri Bergson 1911 stellvertretend für die ZeitPhilosophie des 20. Jahrhunderts ausgesprochen hat: der Forderung, die traditionelle Metaphysik und deren Kritik durch Kant zu überwinden, indem man die Zeit, „die Veränderung und die Dauer in ihrer ursprünglichen Beweglichkeit“ erfasst, sowie die Hoffnung, auf diesem Wege eine „Kontinuität im Ganzen unserer Erkenntnis wiederherzustellen, […] die dann nicht mehr hypothetisch und konstruiert wäre, sondern

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erfahren und erlebt (expérimentée et vécue).“28 Die lebensphilosophisch oder existentialistisch oder phänomenologisch inspirierten Versuche, im Rückgang auf eine ,ursprüngliche‘ Zeit, die traditionelle Metaphysik mitsamt der Kantischen Metaphysik-Kritik zu unterlaufen, um gleichsam hinter die bloß gedanklichen Konstruktionen der Wirklichkeit zur eigentlichen und lebendigen Wirklichkeit durchzudringen, können der gedanklichen Konstruktion nicht entraten, können sie als solche aber auch nicht wahrhaben und verleihen ihren Konstruktionen daher den Adel und Zauber der ,Ursprünglichkeit‘. Die Tendenz, die logische Konstruktion durch eine Archäologie der Begriffe zu ersetzen, ist freilich nicht beschränkt auf die nach- und anti-idealistische Philosophie. Sie macht sich auch im neueren Idealismus um so bemerkbarer, je weniger man der Idee vertraut und sich zutraut, eine logische Alternative zum Nominalismus und Subjekt-Objekt-Dualismus anbieten zu können. Sie macht sich bereits im Deutschen Idealismus bemerkbar und führt bei Hermann Cohen und in der Marburger Schule zu einer durchgängigen Vermengung von systematischer Reflexion und historischer Rekonstruktion, die bei Ernst Cassirer vollends zu einer breit angelegten Analyse kultureller Phänomene ausufert und ihn verleitet, sich in der Auseinandersetzung mit Heidegger auf „das Urphänomen der Sprache“ zu berufen, statt die logische Erschließung des Logos der Sprache einzufordern und voranzutreiben. Der Forderung nach „der letzten Verallgemeinerung des Problems des Logischen und die seiner letzten Zuspitzung auf die Frage des Individuellen“,29 wird Cassirer ebenso wenig gerecht, wie das Neue Denken: Wollte man der Forderung gerecht werden, dann genügt es nicht, mit Rosenstock-Hussey eine „Urgrammatik“ und mit Rosenzweig „Urworte“ auszugraben oder mit Cassirer auf „das Urphänomen der Sprache“ zu rekurrieren, das „eine gemeinsame objektive menschliche Welt“ verbürgt; vielmehr gälte es, der Logik der Phänomene auf den Grund zu gehen und den Logos zum Sprechen zu bringen, in dem die lebendige Sprache gründet. Rosenzweig sucht diesen Grund sprach-archäologisch in einem „Kellergewölbe, über welchem das Gebäude des Logos, der Sprachvernunft, errichtet ist“ (GS II, S. 36). Der lebendige Logos ruht aber weder auf einem ,Kellergewölbe‘ aus ,Urworten‘, noch ist er durch das „imperativische Heute des Gebots“ (GS II, S. 198) einzig und allein auf die Perspektive des Betroffenen und seine Gegenwart zentriert. Auch das Gebot, das im Unterschied zum Gesetz „keine Voraussicht für die Zukunft“ trifft, kommt – wie wir bereits wissen – nicht ohne Antizipationen aus: der Glaube bedarf der Liebe und der Hoffnung auf die „Zukunft des Reichs“. Die Dichotomie, die Rosenzweig aufspannt, ist darum unvollständig: die Unbedingtheit und ,reine Gegenwart‘ des Gebots und das Gesetz, das für die Zukunft Sorge trägt, verlangen ein tertium comparationis. Dieses Dritte, das Gebot und das Gesetz vermittelnde Moment, ist die Regel. 28

H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim/ Glan 1948, S. 161 f.; ders., La perception du changement. Conférences faites à l’Université d’Oxford les 26 et 27 mai 1911. Oxford 1911, S. 17. 29 Siehe oben, Anm. 23.

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Anstelle der Regel könnten wir auch vom Begriff oder, in der Begrifflichkeit der alten Philosophie, vom universale sprechen. Genau davon – und genau darin besteht die Herausforderung, die sein Denken für die systematische Philosophie bedeutet – spricht auch Rosenzweig: er spricht in der Sprache der alten Metaphysik von der Regel, vom Begriff und vom Universale, wenn er von den „drei letzten und ersten Gegenstände allen Philosophierens“ (GS III, S. 144), von Gott, Welt und Mensch spricht. Gott, Welt und Mensch sind die „drei letzten und ersten Gegenstände allen Philosophierens“ weil sie die metaphysischen Vergegenständlichungen des Begriffs sind; sie sind die letzten und ersten Vorstellungen eines metaphysischen Denkens, das alles was kein Gegenstand ist für Nichts hält und daher den Begriff als Gegenstand oder an einem Gegenstand dingfest zu machen sucht. Der ganze sogenannte Universalienstreit entspringt dieser Tendenz zur vorstellungshaften – sei es metaphysischen, sei es empiristischen – Vergegenständlichung des Begriffs, so dass es dabei weniger um den Widerstreit gegensätzlicher Positionen, als vielmehr um den scheinbaren Gegensatz einander widerstreitender Verdinglichungen des Begriffs geht. Worin diese Verdinglichungen resultieren und warum der Universalienstreit fortdauert, wird mit Blick auf die metaphysische Auflösung des Universalienproblems einsichtig. Die Metaphysik löst den scheinbaren Gegensatz zwischen den Positionen des Universalienstreits auf, indem sie jeder Position ihren spezifischen Ort zuweist. Das universale ante rem hat demnach als Idee seinen Ort im Geist des Schöpfers, das universale in re ist die substantiale Wesenheit in den Geschöpfen und das universale post rem ist der Begriff im menschlichen Geiste. Diese klassische Auflösung des Universalienproblem, wie sie im arabischen (Avicenna) und lateinischen Aristotelismus (Thomas von Aquin) und lange zuvor im Neuplatonismus (Asklepios) entwickelt wurde, treibt die Verdinglichung des Begriffs auf die Spitze. Sie löst den scheinbaren Gegensatz zwischen den Parteien des Universalienstreits auf, indem sie jeder Partei die Herrschaft in jeweils einem Reich zubilligt. Man täuscht sich gründlich, wenn man meint, dass diese feudale Teilung der Herrschaftsgebiete mit dem Ende des Mittelalters überwunden wäre. Mit dem Sieg des Nominalismus war der Universalienstreit zwar vorläufig zu den Akten gelegt, aber da der Sieg des Nominalismus den Sieg des Gegenstandes bedeutet, geriet die Neuzeit nur um so stärker in den Bann der drei metaphysischen Gegenstände und Reiche, die ihr die mittelalterliche Philosophie hinterlassen hatte. Kant war zu sehr Theoretiker der Gegenstandserkenntnis um diesem Spuk ein eindeutiges Ende zu bereiten: er hat die drei metaphysischen Gegenstände zwar als Nicht-Gegenstände, als „drei Nichtse“ (Rosenzweig) entlarvt und ihnen mit einer ,Metaphysischen Deduktion der Ideen der reinen Vernunft‘ sogar eine logische Begründung nachgeliefert,30 wollte diese aber weniger als Begründung denn als Abschluss der kategoriallogischen Gegenstandsbestimmung verstanden wissen. Indem er die Ideen auf ihren „regulativen Gebrauch“ beschränkte, hat er die Begrün30 Verf., Bestimmung und Begründung. Zu Kants Deduktionen der Ideen der reinen Vernunft, in: Gegenstandsbestimmung und Selbstgestaltung, hg. von Ch. Krijnen/K. W. Zeidler. Würzburg 2011, S. 297 – 320.

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dung nicht als Begründungs- sondern als Abschlusstheorem verstanden und verkannt, dass Ideen, Begriffe oder Regeln schlechterdings „regulativ“ und nicht etwa nur von „regulativem Gebrauch“ sind. Sie sind von ,ursprünglicher Regulativität‘, weil sie ,Nichtse‘ sind, die weder in den Dingen, noch getrennt von diesen, noch im menschlichen Geist einen festen Ort haben. Sie haben in allen dreien ihren Ort und haben ihn doch nicht, weil sie als lebendige Prinzipien oder sich aneinander über sich hinaus vermittelnde Prinzipien oder, in der Sprache des neueren Idealismus, als Prinzipien einer sich selbst regulativ konstituierenden Einheit, allen drei Positionen des Universalienstreits gerecht werden. Auf die nähere Darstellung und Ausführung dieser Prinzipien muss an dieser Stelle verzichtet werden,31 kann aber auch verzichtet werden, wenn wir uns auf die – im buchstäblichsten Sinne – ,Trivialität‘ konzentrieren, die jeder Logik den Weg bahnt. Denn auf dreifach zu spezifizierende Weise haben die Dinge an der Idee, die Prinzipiata am Prinzip, die Fälle an der Regel Anteil. Sie haben aneinander Anteil nach Maßgabe der drei logischen Grundhandlungen, die eine Regel überhaupt erst zu einer Regel machen: (1) Eine Regel muss an einem Fall exemplifizierbar sein. Sie wird exemplifiziert, indem etwas als Fall der Regel identifiziert wird. (2) Eine Regel muss formuliert werden. Sie wird formuliert, indem die Fälle ihrer Anwendung antizipiert werden. (3) Eine Regel muss exekutiert werden. Sie wird exekutiert, indem ein Fall unter die Regel subsumiert wird. In diesen drei logischen Grundhandlungen stehen Regel und Fall in je verschiedener Beziehung zueinander und haben auch an ihnen selbst je unterschiedliche Bedeutung und sind doch jedes Mal im Vollzug der Handlung strikt an einander vermittelt. Hingegen sind die drei Grundsynthesen untereinander nicht mit gleicher Notwendigkeit vermittelt; suspendiert man die ,triviale‘ Logik der Regeletablierung im Lichte der metaphysischen oder empiristischen Vorstellung, dass Regel und Fall vorgegeben sind und einander gleichsam gegenüber stehen, werden die drei logischen Grundhandlungen zu vereinzelten Gegebenheiten und scheinen dann so unvermittelt nebeneinander zu stehen wie die drei Hauptpositionen des Universalienstreits. So gesehen wird die mit der Identifikation eines Falles exemplifizierte Regel zu dem – sofern man das Gegebensein des Falles voraussetzt, von vornherein obsoleten – universale ante rem, wird die kraft der Antizipation der Fälle formulierte Regel zum universale in re und wird die durch die Subsumtion des Falles exekutierte Regel zum universale post rem. Während die metaphysische Auflösung des Universalienproblems dies Nebeneinander dreier Positionen zur Unvergleichlichkeit der drei Nicht-Gegenstände Seele und Welt und Gott verschärft und die im Banne des Nominalismus stehende ,wissenschaftliche‘ Philosophie sich auf die Antizipation der Fälle kapriziert und daher in diesem Zusammenhang nur das Problem des wissenschaftlichen Gesetzesbegriffs (das Induktionsproblem) diagnostiziert, hat Rosenzweig die existentielle Dimension des Problems begriffen. Rosenzweig hat begriffen oder ist, besser gesagt, davon ergriffen, dass die Vergegenständlichung und das bloße Nebeneinander von Seele und 31

Vgl. Verf., Grundriß der transzendentalen Logik. Cuxhaven 1992, §§ 34, 26 ff.

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Welt und Gott zur Vergleichgültigung von allem führt. Gegen diese objektivierende Vergleichgültigung, gegen die nominalistische Singularisierung und Zersplitterung des „All […] in die Splitter seiner Möglichkeiten“ (GS II, S. 95) und die Tendenz des ,wissenschaftlichen‘ Denkens, „selbst das Gegenwärtige […] auf die Form der Ruhe, also der Vergangenheit“, zu reduzieren (GS II, S. 146), setzt er zurecht auf die Identifikationsleistung, die der Exemplifizierung der Regel innewohnt. Zurecht erkennt er darin den Ausbruch aus der „Verschlossenheit des Selbst“ und zurecht betont er die Unbedingtheit und ,reine Gegenwart‘ des Hier und Jetzt zu setzenden Aktus der Identifikation und Explikation. Rosenzweig deutet die logische Grundhandlung der Setzung jedoch als exzeptionelles Ereignis. Er deutet die schlichte, in ihrer Trivialität nicht zu unterbietende Einsicht, dass wann immer etwas als Fall einer Regel identifiziert wird, die Regel exemplifiziert wird, exklusiv theologisch, indem er den Offenbarungscharakter und die normative Kraft, die dem Aktus der Identifikation und Explikation zukommt, ausschließlich als Gottesname,32 als das Wort Gottes und als göttliches „Gebot“ verstanden wissen will. Der Exklusivität des „Gebots“ kommt zustatten, dass Rosenzweig den Universalienstreit in der Sprache der alten Metaphysik verhandelt und die Elemente, Gott, Welt und Mensch, als „elementare Inhalte der Erfahrung“ begreifen will, die von allen „Mischungen, die das Denken an ihnen vornehmen möchte“ zu reinigen seien (GS III, S. 146 f.), kann die ,Erfahrung‘, von der hier die Rede ist, doch nur die ,religiöse Erfahrung‘ sein. Nur dem Glauben ist Gott ein ,Inhalt der Erfahrung‘, wie auch nur dem Glauben „Das Wort“ gegeben ist, das „sie sollen lassen stahn / Und kein’ Dank dazu haben“. Die Exklusivität, die der Glaube sich notwendig anmaßt, weil sie einzig und allein ihm angemessen ist, verkäme jedoch zu wollüstigem Fanatismus und verstocktem Fundamentalismus, wenn der Glaube nur Glaube und nicht auch Hoffnung und zuhöchst Liebe wäre; – der theologische Nominalismus, in dessen Namen Rosenzweig den wissenschaftlichen Nominalismus und zugleich den philosophischen Idealismus bekämpft, kann feste Burgen bauen, aber keine Brücken schlagen. Brücken schlagen die Liebe und des Idealismus liebstes Kind, das Gesetz, das nicht etwa „mit Zeiten, mit Zukunft, mit Dauer“ rechnet (GS II, S. 197), sondern allererst Zukunft schafft. Wo der Name, das Wort und das Gebot „nur vom Augenblick“ wissen (ebd.), schafft das Gesetz Zukunft, weil eine Regel nur formuliert werden kann, indem man die Fälle ihrer Anwendung antizipiert. Das Gesetz schafft Zukunft gleich der Liebe (agápe, caritas), die sich nicht in der Ekstase des Augenblicks verliert, sondern tätig für das Geliebte sorgt, ohne irgend welche Vorsorge für sich selbst zu treffen. Vorsorge für sich selbst können weder das Gesetz noch die Liebe treffen, weil sie mit der Zukunft, die sie allererst schaffen, weder rechnen, noch auf sie hoffen können: die Hoffnung kommt zuletzt. Das Gesetz ist darum vom Gebot, von der unbedingten und ursprünglichen, der rein gegenwärtig identifizierenden und exempli32 Die Vorgabe liefert wiederum der späte Schelling: „Denn für sich ist das Eine unerkannt, es hat keinen Begriff, durch den es zu bezeichnen wäre, sondern nur einen Namen – daher die Wichtigkeit, die auf den Namen gelegt wird – im Namen ist Er selbst, der Einzige, der seines Gleichen nicht hat“ (SW II/3, S. 174).

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fizierenden Setzung, ebenso zu unterscheiden, wie vom Vorausgesetzten, der bereits formulierten Regel, die mit Zeiten und Dauer „rechnet“ und daher schlicht exekutiert werden kann, indem ein Fall unter die Regel subsumiert wird. Nur feststehend Vorausgesetztes verspricht die Berechenbarkeit und die Sicherheiten, die das ,wissenschaftliche‘ Denken sucht; deswegen seine Tendenz, „selbst das Gegenwärtige […] auf die Form der Ruhe, also der Vergangenheit“, zu reduzieren (GS II, S. 146). Die Philosophie der neueren Zeit, auch die idealistische Philosophie, hat sich dieser Tendenz nicht entziehen können: im Bestreben, sich als Wissenschaft zu profilieren, gefiel sie sich in der Rolle einer Überwissenschaft, die allen anderen Wissenschaften ihre Prinzipien vorgibt, vernachlässigte aber sträflich die Prinzipienlogik, so dass der Eindruck entstehen musste, Prinzipien seien durchweg nur Vorausgesetztes und die Logik demzufolge nur eine Rechenkunst. Eine Logik, die sich nur als Rechenkunst versteht, bewegt sich aber im Rahmen von Voraussetzungen, die sie nicht einholen kann. Eine Philosophie, die bloß auf eine solche Logik baut, ist daher sowenig Philosophie, wie ein bloß von guten Vorsätzen und hehren Absichten geleitetes Denken, das über Zielsetzungen spricht, die es nicht logisch verantworten kann. Das 20. Jahrhundert ist beiden Extremen verfallen: es hat den Gegensatz von ,wissenschaftlicher‘ Philosophie und subjektiver Weltanschauungs- und Standpunktsphilosophie derart zugespitzt, dass der Philosophie die Spitze abgebrochen ist und sie zwischen emsigem Geforsche und literarischer Betriebsamkeit verloren gegangen scheint. Franz Rosenzweig hat dagegen auf die Erneuerung der Philosophie durch den „Offenbarungsbegriff der Theologie“ gesetzt. Gegen den Verlust jeglicher ,Bedeutung‘, gegen die objektivierende Vergleichgültigung von allem und jedem, setzt er auf das Bedeutungstiftende: auf das Unbedingte. Das Unbedingte will Rosenzweig wiederherstellen, das die ,wissenschaftlich‘ distanzierende und objektivierende Reflexion zu Bedingtheiten zerstückelt und zu „Nichtsen“ zerkritisiert hat. Die zerstückelten und zernichteten Vor- und Über-Gegenstände der alten Metaphysik, Gott, Welt und Seele, muss er darum wieder ins Gespräch und zum Sprechen bringen. Und da er sie als Elemente oder „elementare Inhalte der Erfahrung“ begreift, die von allen „Mischungen, die das Denken an ihnen vornehmen möchte“ zu reinigen seien (GS III, S. 146 f.), muss er sie in der Sprache des Glaubens zum Sprechen bringen. Die pfingstliche Sprache des Glaubens ist der Philosophie jedoch versagt: Will man philosophisch den philosophischen Intentionen Rosenzweigs gerecht werden, kann man nicht von Gottes „Gebot“ und auch nicht von Phänomenen und sonstigen „Inhalten der Erfahrung“ ausgehen. Will man den philosophischen Intentionen Rosenzweigs gerecht werden, muss man sie vielmehr vor seinem theologischen Nominalismus und seiner anti-idealistischen Polemik in Schutz nehmen und ein Experiment wagen, das der historische Rosenzweig als Rückfall in den „magischen Kreis des Idealismus“ kritisiert hätte und das unter heutigen Bedingungen geradezu aberwitzig anmutet: man müsste die Ideen als die elementaren Inhalte der Erfahrung herausstellen, an denen das Denken gar keine Mischungen vornehmen kann, da es sich ihrer Vermittlung verdankt. Die Grundzüge einer solch unverfroren idealisti-

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schen Logik der Ideenvermittlung wurden soeben mit Blick auf Rosenzweigs Idealismuskritik skizziert, weshalb vor allem die Zeitstruktur der Ideenvermittlung zu skizzieren war; denn ist die Zeit gleichursprünglich mit dem in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit sich auslegenden Begriff und ist mithin die distentio animi33 eben so sehr als comprehensio temporum zu begreifen, dann ist die Zeit nicht bloß Zerstreutheit des diskursiven und subjektiven Denkens, sondern eben so sehr Manifestation einer welthaltigen und der Welt innewohnenden Vernunft; dann ist auch eine ,Weltseele‘ wieder denkbar und eine Zeit, die das bewegte Abbild der Ewigkeit ist.

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Augustinus, Confessiones XI, 26.

Dilettantismus und Enthusiasmus als Triebkräfte des Systems: Cohen und Rosenzweig Hartwig Wiedebach Das Bewusstsein eines Philosophen, angesichts prinzipieller Anforderungen an sein Menschsein unweigerlich ein Dilettant zu sein, kann zur Quelle seines Systemdenkens werden.1 Es ist das Wissen um eine persönliche Befangenheit, die gleichwohl etwas Allgemeines, ja einen Grundzug des Endlichen überhaupt an sich hat. Die Bestimmung als Dilettantismus hebt hervor, dass es sich um ein liebendes, ja liebhaberisches Streben und Werben handelt, dem ein ihm innewohnendes Ziel gleichwohl unerreichbar bleibt. Keine Perfektibilität führt aus diesem Dilettantismus heraus, insbesondere nicht die eigene. Denn der Dilettant bringt weder sein Unvermögen noch seine Fähigkeiten in ein deutliches Bild. Ihn hindert eine unlösbare Verworrenheit des Wirklichen. Das Denken, Wollen und Fühlen unter diesem Odium stehen zu sehen, konkret: befürchten zu müssen, dass Zerfahrenheit, Uneinheitlichkeit und Streit möglicherweise das letzte Wort haben, stiftet Unfrieden. Dem Unfrieden entgegentreten, ohne ihn zu verleugnen, das Leiden an der Friedlosigkeit selbst als Ort des Friedens behaupten, wird manchem zum Antrieb des Philosophierens. Ohne helfende Kraft ist hier nichts zu erreichen. Daher braucht es den Enthusiasmus. Auch er ist ein Lieben, aber sein Herkommen scheint außerhalb der persönlichen Befangenheit zu liegen. So keimt die Hoffnung, er werde der Befangenheit einen klaren Blick schenken können. Das wiederum hat nur Aussicht, wenn der Enthusiasmus in strenger Selbstkritik sein Gegenüber nicht aus den Augen verliert. Nur Dilettantismus und Enthusiasmus zusammen eröffnen Möglichkeiten, den Frieden zu gestalten. Als Quellen philosophischer Theorie tun sie dies auf dem Weg der Symbolbildung. Die Denkfigur des Systems kann ein solches Symbol sein. In der folgenden fragmentarischen Erörterung interessiert mich vor allem die Stilfrage. Es geht um die Art, wie zwei Systemdenker, Hermann Cohen und Franz Rosenzweig, ihr Bewusstsein von Dilettantismus in Anschlag bringen und dadurch ihrem Enthusiasmus Richtung geben. Nicht dass die beiden sich unbedingt selbst in die Linie dieser Interpretation gestellt hätten. Vor allem bei Hermann Cohen gab es, aus Gründen, die wir sehen werden, keine Neigung in dieser Richtung. Ihn lese ich ausdrücklich gegen den Strich. Franz Rosenzweig dagegen steht meinem Vorgehen näher. Der Unterschied

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Ich danke Pierfrancesco Fiorato für seine kritische Durchsicht.

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ist erhellend. Will man einen Begriff für mein Verfahren, so passt am ehesten ,dekonstruktiv‘.2 I. Dilettantismus Dilettantismus gilt in der Regel als Schimpfwort. Das war (und ist) nicht immer so.3 Trotzdem hätte kaum jemand etwa Hermann Cohen, der, wie einige andere, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert ein System der Philosophie in Angriff nahm,4 einen Dilettanten genannt. Auch keiner seiner Gegner tat das. Er selbst jedoch war sich eines unvermeidbaren Dilettantismus wohl bewusst. Man findet Anzeichen dafür in seinen Vorreden zur Ethik des reinen Willens und zur Ästhetik des reinen Gefühls, dem zweiten und dem dritten Systemteil. In der Ethik heißt es: „Endlich noch ein persönliches Wort über dieses Buch. […] Wenn einer eine Ethik schreibt, so setzt er sich in ein Glashaus. Der bekannte Ausspruch ist freilich zynisch: dass der Ethiker ebensowenig ein guter Mensch zu sein brauche, wie der Maler ein schöner. Vielleicht aber entspringt er […] einer gewissen Verschämtheit, die einen überkommt, wenn man zu Lebzeiten eine Ethik herausgibt“.5

„Verschämtheit“ ist Cohens Ausdruck für das Bewusstsein, als Lehrer des Guten aufzutreten, obwohl er hinter dessen Verwirklichung unweigerlich zurückbleibt. Man mag zögern, dies ein Bewusstsein von Dilettantismus zu nennen. Mit Dilettantismus verbinden wir in der Regel die Vorstellung, es mangele dem Betreffenden an Einsicht in die eigene Begrenztheit. Das ist bei Cohen nicht der Fall. Dass es trotzdem Gründe gibt, seine Verschämtheit als Bewusstsein von Dilettantismus zu deuten, werde ich noch zeigen. Es ist ein seiner selbst bewusster Dilettantismus: das Wissen eines Menschen, dass er aus leidenschaftlicher Notwendigkeit einem Ideal nachhängt, auf dessen Darstellung schon, vollends aber auf dessen Erfüllung der Schatten persönlicher Insuffizienz fällt. Der Dilettantismus ergibt sich aus der streng gestellten philosophischen Aufgabe, Ethik zu betreiben. In derselben Strenge jedoch, die ihn erzwingt, liegt zugleich der Weg, sich mit ihm auszusöhnen. Cohens nächster Absatz lautet: „Die methodische Arbeit befreit [den Philosophen] allgemach von den Skrupeln über seine persönliche Suffizienz […]. Diese methodische Arbeit hat alle Ethik, welche nach Klassizität der Grundlegung strebte, als ein Suchen gedacht und gehandhabt. Dieses Suchen aber 2

Vgl. etwa Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik. Weilerswist 2003, bes. das Kap. „Dekonstruktives Anschließen“, S. 285 ff. 3 Vgl. Simone Leistner, [Art.] Dilettantismus, in: Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart, Bd. 2, 2001, S. 63 – 87, zur affirmativen Verwendung des Begriffs in der Gegenwart bes. S. 66 – 68, zu den Anfängen seit dem 15. bis ins 19. Jahrhundert S. 70 – 82. 4 Cohen plante ein vierteiliges System der Philosophie, von dem drei Teile erschienen: Logik der reinen Erkenntnis (1902, 19142), Ethik des reinen Willen (1904, 19072), Ästhetik des reinen Gefühls (2 Bände 1912), vgl.: Werke, hg. von Helmut Holzhey u. a. Hildesheim 1977 ff., Bände 6 bis 9. – Den vierten Teil: Psychologie des reinen Bewußtseins, hat Cohen nicht mehr geschrieben. Die „Religion der Vernunft“ (1919, 19292) ist kein Teil des Systems. 5 Cohen, Ethik des reinen Willens, Werke 7 [ErW], S. VIII, Vorrede zur 1. Aufl. 1904.

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ist und bleibt nicht ausschließlich ein theoretisches, ein Untersuchen, sondern es ist zugleich ein Verlangentragen nach der Enthüllung und Ausgrabung desjenigen Schatzes und wie ein Werben um ihn, den der Geist als den höchsten, als den einzigen Wert des menschlichen Daseins anerkennt: die Menschheit in allen Völkern und in jedem Menschen“.6

Man bemerkt Cohens tief erotisches Verhältnis zum Gegenstand seines Fragens. In der Ästhetik des reinen Gefühls wird das noch deutlicher. Zwar heißt es in der dortigen Vorrede zunächst: „Die Aufgabe meiner Bücher ist es, dem Faustrecht des Philosophierens entgegen für das Eigenrecht der weltgeschichtlichen Philosophie einzutreten“.7 Dann aber folgt das Bekenntnis: „Um das Recht der Philosophie an der Ästhetik zu behaupten, musste ich meinen persönlichen Anteil an ästhetischen Erlebnissen zu bezeugen suchen. […] Der klassische Zeuge der Kunst ist die Ewigkeit. Diese Ewigkeit wird immer wieder über die Jahrtausende hinweg in dem nachfühlenden Bewunderer lebendig. Er gehört hier zur Sache, zum Beweisverfahren, zur höchsten Instanz der Weltgeschichte der Kunst“.8

Ein persönliches „Bezeugen“ ist also Teil der Ästhetik. Aber vollstreckt nicht gerade eine solche Bekenntnis-Philosophie jenes „Faustrecht“, das Cohen wenige Zeilen zuvor ablehnt? – einen Dilettantismus unprofessionellen Meinens bei einem Autor, der keine künstlerische oder kunstwissenschaftliche Spezialbildung besitzt? Mehr noch: Cohen reiht sich unter die Zeugen der Weltgeschichte ein, die „über Jahrtausende hinweg“ die Ewigkeit der Kunst „lebendig“ machen. Ist nicht gerade das die höchste dilettantische Hybris? Es gibt den „Dilettantismus“ im deutschen Sprachraum seit etwa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.9 Einer der bekanntesten Ansätze ihn zu bestimmen, war das Schema über den Dilettantismus von Schiller und Goethe. Ich werde später einen Gesichtspunkt daraus heranziehen. Zunächst orientiere ich mich an einer Schrift, die im Jerusalemer Bestand von Hermann Cohens persönlicher Bibliothek erhalten ist: Hans Georg Nägelis Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten.10 Nägeli war ein Zürcher Musikwissenschaftler und -pädagoge. Seine erzieherische Profession ist für unser Thema entscheidend. Sie prägt den Stil des Buches und so auch das einführende Kapitel unter dem Titel „Dilettantismus“. Dort klärt Nägeli zunächst das Verhältnis seiner Hörer zu ihm selbst, „als dasjenige von Dilettanten zum Manne vom Fach“. Das ist keine Abwertung, denn der „Dilettant“ – abgeleitet von italienisch „dilettare“: „erfreuen“, „ergötzen“ – bezeichnete damals häufig allgemein einen Kunstliebhaber im Unterschied zum Künstler oder zum wissenschaftlichen Spezialisten. So befänden sich, meint Nägeli, unter sei6

Ebd. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. 1, Werke 8 [ÄrG I], Vorrede S. X. 8 Ebd. S. XI. 9 Vgl. Leistner, Dilettantismus, S. 73 – 78. 10 Stuttgart/Tübingen 1826. Vgl. Vf., Die Hermann-Cohen-Bibliothek. Hildesheim 2000 (= Cohen, Werke, Suppl. 2), Alphabetische Aufstellung, Nr. 536. Cohens Anstreichungen finden sich auf den Seiten 20 sowie 39 – 44. 7

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nen Hörern zwar durchaus „Künstler von Beruf“; aber er zähle sie „an dieser Stelle den Dilettanten sofern bey“, als er „sie als Dilettanten der musikalischen Litteratur betrachte“.11 Es sind Menschen, die, in Cohens Worten, einen „persönlichen Anteil an ästhetischen Erlebnissen bezeugen“, ohne professionelle Kenner der (musikalischen) Literatur zu sein. Vier Arten von Dilettanten werden unterschieden: Dilettanten der „Zerstreuung“, des „Zeitvertreibs“, der „Freude am Wechsel“ und der „Neugierde“. Grund des Unterschieds sind individuelle Neigungen. Manche Menschen betonen das Moment des „Gefühls“, andere das der „Anschauung“ oder „Schau“, wieder andere das eines „geistigen Auflebens und Aufstrebens“. Es wäre lohnend, Cohens Bekenntnisse daraufhin zu untersuchen, welche Neigung bei ihm jeweils vorwaltet. Im Augenblick ist interessanter, dass Nägeli all diese Dilettantismen als „unbewußt“ charakterisiert. Das wäre kein Nachteil, wenn es nicht die Gefahr brächte, den je eigenen Dilettantismus absolut zu setzen. Man widmet sich dann der Kunst ausschließlich zur Zerstreuung, zum Zeitvertreib, aus Freude am Wechsel oder aus Neugier. Diese Tendenz zur Borniertheit macht den unbewussten Dilettantismus gefährlich. Daher braucht es Selbstreflexion. Wir müssen „einsehen lernen, wie wir eigentlich besinnet, sinnbegabt, kunstsinnig sind, wie unsere Kunstkräfte den Sinn aufwärts richten“.12 Und Nägeli fährt fort: „Diese Aufgabe aller Aufgaben meinen Zeitgenossen, so weit mein Einfluss reichen mag, zur Erkenntniß zu erheben; […] dieß, Verehrte! ist nun mein Dilettantismus. Meinem Dilettantismus ist die Kunst längst Mittel geworden, die Kunstwissenschaft Zweck, Endzweck“.13

Er bekennt also einen gewollten eigenen Dilettantismus. Dieser bewusste Dilettantismus besteht darin, den unbewussten Dilettantismus, den er allenthalben als „aus den Civilisations-Verhältnissen hervorgegangen“ vorfindet, nun „als einen thätigen“ zu erörtern, „wie er im Leben selbst erscheint“.14 Nägeli will die dilettierende Befangenheit konkreter Liebe ihrerseits genetisch sichtbar machen, in der dilettantischen Beschränkung das Wahre erfassen. Das geschieht in dreierlei Hinsicht: „in individueller Beziehung, als Kraftübung, – in geselliger, als Gabe der Mittheilung, – in religiöser, als Heiligungsmittel“.15 Auch dieses generative Begreifen nennt Nägeli, wohlgemerkt, „Dilettantismus“. Damit bekennt er sich selbst als in Liebhaberei befangen, und eben darin sucht er sein methodisches Mittel. Der Kontext zeigt: Was ihn in der Befangenheit bewusst verharren lässt, ist nicht der Abstand zur vollendeten Kunst oder zur professionellen Sachkenntnis. Es ist vielmehr sein Thema: die Frage nämlich, wie der Dilettantismus „im Leben selbst“ tätig wird. Das Leben wird aus sich selbst heraus nur dilettantisch erfasst. Sein Tätigsein ist nicht in eine 11

Nägeli, Vorlesungen, S. 4. Ebd. S. 21, Hervorhebung H. W. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd.

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vollendete Reflexionsgestalt zu bringen. Es geht um Urteils- und Sprachfindung angesichts konstitutiver Vorläufigkeit und menschlicher Befangenheit. Professionalität im Begreifen des Lebens beginnt bei dieser Einsicht. Folglich versteht eine Disziplin, die diese Art von Professionalität begründen will, um diesmal einen Arzt, in dieser Hinsicht dem Pädagogen verwandt, zu zitieren, den „Dilettantismus […] als zeitgemäßen, wissenschaftlichen Auftrag“.16 Blicken wir nun kurz auf das Schema von Schiller und Goethe, dann lässt sich manches auf erhellende Weise gegen den Strich lesen.17 Ich beschränke mich auf einen einzelnen Aspekt. So „überspringt“ der Dilettant in seinem Kunststreben unweigerlich bestimmte „Stufen, beharrt auf gewissen Stufen, die er als Ziel ansieht und hält sich berechtigt von da aus das Ganze zu beurtheilen, hindert also seine Perfectibilität“.18 Das gilt durchaus auch für den skizzierten bewussten Dilettantismus. Der professionelle Pädagoge oder Arzt kann nicht alles im Leben kennen. Er muss Stufen überspringen, andere als gültig ansehen, einen Blick auf das Ganze wagen, und, am schwierigsten, auf Perfektibilität Verzicht leisten. Trotzdem gilt für ihn, was Schiller, nun umgekehrt über den Künstler, also gerade nicht über den Dilettanten schrieb: „Wer etwas großes leisten will, muss tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, und standhaft beharren“.19 Es gilt, den Dilettantismus als methodisches Instrument zu entdecken. Der Pädagoge nach Nägelis Muster ist, pointiert gesagt, ein vollendeter Künstler des Lebens, und das als bewusster Dilettant. Wer im Leben Wegleitungen wagt, muss seinen konstitutiven Dilettantismus zur Vollendung bringen, denn sein Stoff entzieht sich, indem er sich darbietet. Eben diese Vollendung in Befangenheit ist, so meine These, auch das Ziel des philosophischen Systems. Es antwortet auf folgende Frage: Was lässt unseren Dilettantismus gegenüber dem Wahren, Guten und Schönen, von dem ein Philosoph weiß, dass er ihn nie wird ablegen können, trotzdem zu einer gültigen Form ausreifen? Einer Form, die das Fragmenthafte ihrer Momente anerkennt und dennoch Vollständigkeit behauptet? Betrachten wir den zweiten Leitbegriff dieser Überlegungen.

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Alfred Prinz Auersperg, Poesie und Forschung. Stuttgart 1965, S. 3. Vgl. allgemein die Übersicht von Hermann Bitzer, Goethe über den Dilettantismus. Bern 1969, S. 28 – 66. 18 Schema „Über den Dilettantismus“ (1799), zit. nach Goethe, Sämtliche Werke [Artemisausgabe], hg. von Ernst Beutler. 2. Aufl., Zürich 1961 ff., Bd. 14, S. 732, zit. bei Alexander Rosenbaum, Der Amateur als Künstler. Studien zu Geschichte und Funktion des Dilettantismus im 18. Jahrhundert. Berlin 2010, S. 148. 19 Schiller, Über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen [1795], Nationalausgabe, Bd. 21, Teil 2. Weimar 1963, S. 20; vgl. Rosenbaum, S. 140. 17

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II. Enthusiasmus Der klassische Text für das philosophische Problem des Enthusiasmus20 ist Platons Phaidros. Der enthousiasmos, etymologisch gebildet aus en-theos, ist eine „göttliche Begeisterung“. Diese Begeisterung – es ist nicht zufällig der einzige Dialog Platons, in dem Sokrates, begleitet von dem jungen Phaidros, die Mauern der Stadt verlässt – wird verschiedenen Formen des „Wahnsinns“, der mania, zur Seite gestellt. Sie ist der „göttliche Wahnsinn“, die theia mania, ein „Herausgehobensein“, das seinerseits wieder mehrere Arten unter sich befasst.21 Ich gehe im Folgenden allerdings nicht von Platon aus. Mein Ansatz ist Karl Jaspers’ Kapitel „Die enthusiastische Einstellung“ in der Psychologie der Weltanschauungen.22 Ich greife zwei Aspekte heraus, den bestimmungslogischen und den ereignishaften. Der Enthusiasmus entzündet sich an einem konkreten Etwas, und zwar „auf spezifische Weise“ (Jaspers 121). Es kommt zu einer Art Vereinigung bzw. Konjunktion zwischen dem Gegenstand und der enthusiasmierten Person, ohne dass die Konturen verschwimmen (122 f.). Der Enthusiasmus stiftet ein Verhältnis in prägnanter Gestalt. Trotzdem erfährt die Person eine Entgrenzung (117 f.). Prägnanz in der Entgrenzung erzeugt Einzigartigkeit. Der Gegenstand der Begeisterung ist eine, wie es Bernd Bösel genannt hat, „prismatische Singularität“.23 Hierauf liegt der logische Akzent: Das Einzelne ist kein „bloßer Fall“, sondern es wird „absolut“ (Jaspers 122). Die begeisterte Konzentration hebt ihren Gegenstand über jeden Vergleich hinaus. Sie belässt es nicht bei einem bloß negativ bestimmten ,anders als andere‘, sondern der Enthusiasmus erzeugt Unvergleichbarkeit positiv, als Einzigkeit. Sodann steht er nicht in unserer Verfügung. Sein Eintreten lässt sich nicht operationalisieren. Der Enthusiasmus überkommt den Menschen. Seine Zeitordnung unterliegt nicht der Gesetzgebung der Person. Das weckt den Anschein der Unvernunft. Vernunft hängt nicht zuletzt daran, dass in Denken und Tun Rechtfertigung und Begründung gesucht wird. Kant hat als Voraussetzung und zugleich Ausdruck dessen die Autonomie des Subjekts bestimmt. Wer das anerkennt, auf Vernünftigkeit beharrt und trotzdem den Enthusiasmus nicht meidet, gerät daher in einen Konflikt. In der Begeisterung für eine Sache stehen dann die Wahrung der Autonomie einerseits und die herandringende Macht des Enthusiasmus anderseits nebeneinander, ja gegeneinander. Friede zwischen ihnen scheint kaum möglich; der Widerstreit wird Gesetz. Enthusiasmus bedeutet folglich Befangenheit im Strittigen, ein Abheben vom Boden determinierter Abläufe und doch keine Freiheit. Hier keimt der Dilettantis20 Vgl. allgemein Boris Kositzke, [Art.] Enthusiasmus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen, Bd. 2, 1994, Sp. 1185 – 1197; Wolfgang H. Schrader, [Art] Enthusiasmus, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, 2001, S. 223 – 240. 21 Platon, Phaidros, bes. 244a-245a; vgl. zum Überblick Kositzke, Enthusiasmus, Sp. 1185 – 1187. 22 Im Folgenden zit. nach dem ND der 6. Aufl.: München, Piper 1985, S. 117 – 138. 23 Bernd Bösel, Philosophie und Enthusiasmus. Studien zu einem umstrittenen Verhältnis. Wien 2008, bes. S. 66.

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mus. Der Enthusiast hält nicht an sich. Er spricht Dinge an und aus, fasst sie in Bilder und Begriffe, ohne dass er zu gültig durchgearbeiteten Unterscheidungen gelangt wäre.24 Denn, das ist der nächste Gesichtspunkt, der Enthusiasmus ist flüchtig. Wie er sich nicht machen lässt, so lässt er sich nicht halten. Er verfliegt, wie er kam. Und doch entsteht ohne Enthusiasmus keine Weisheit. Nur enthusiastisch berührt sehen wir, was das Einzelne, das uns angeht, als Ganzes bedeutet, wie es uns mit dem Ganzen verbindet. Können wir also gegen die Flüchtigkeit des Enthusiasmus und die Gefahr, dass der unweigerlich keimende Dilettantismus zur Produktion von Wahngebilden verkommt, ein Kontinuitätsprinzip aufrichten? Lässt sich die Flüchtigkeit in Dauer verwandeln und das von Wahn bedrohte Sprechen und Urteilen methodisch und sachlich in prüfbare Zusammenhänge einbetten? In klassische Begriffe gebracht: Es geht darum, wie sich Begeisterung mit Besonnenheit, Enthusiasmus mit Sophrosyne verbindet. Meine These lautet: Die Art, wie ein Denker das Kontinuitätsprinzip aufstellt, ist das Bildungsprinzip seines Systems. Ich beschränke mich darauf, zwei grundlegende Richtungen zu unterscheiden. III. Enthusiasmus und Dilettantismus getrennt: Hermann Cohen Bei Cohen waren wir diesen Verhältnissen bereits von Seiten des Dilettantismus auf der Spur. Nun zu seinem Enthusiasmus. Er kommt in seinem Werk auf mancherlei Weise zum Ausdruck. Aber es gibt einen einheitlichen Tenor. Cohen zeigt sich nie von Gegenständen begeistert, die irgendwie „gegeben“ sind. Hier bleibt er misstrauisch und verharrt in der Disziplin eines transzendentalen Fragens. Er lässt (z. B. sinnliche) Daten nicht als Faktum gelten, sondern sucht ihre Ursprünge und Relationen. Es geht um die Form systemstiftenden Kontinuitätsdenkens an und für sich. Das ist der logische Ausgangspunkt für die „Reinheit“, die allen Systemteilen als Leitbegriff dient. Cohens Enthusiasmus entzündet sich am Faktum dessen, dass es Wissenschaft gibt, denn Wissenschaft ist methodische Kontinuitätsstiftung. Sie ist in dieser Hinsicht zwar ihrerseits gegeben, aber sie ist kein Sinnesdatum, auch kein Gegenstand, sondern reine Performanz des Denkens. Daher formt Cohen auch sein Philosophieren nach dem Bild der Wissenschaft. In der Philosophie soll sich der Enthusiasmus für Wissenschaft selbst wissenschaftlich begründen; er verleiht sich selbst Kontinuität und damit Dauer und Besonnenheit. Das Begeisternde, Einzigartige der Wissenschaft ist eben dieses Paradoxon: sich selbst als Enthusiasmus der Besonnenheit und Kontinuität zu generieren. Was Cohen über die Ethik, das Zentrum seines Systems, sagt, gilt auch für die anderen Teile: „Es darf das Herz [und ,Herz‘ ist hier die Metapher für den Ort des enthusiastischen Empfindens] nicht einsam, nicht isoliert bleiben vom Geiste und seinen eigensten, seinen universellen Interessen. […] Nur im Zusammenhange der Probleme des Wissens kann die Ethik als Wissenschaft gedeihen und aufkommen. […] Wer die Begeisterung in die Richtung der Wis24

Vgl. Jaspers, S. 119 f.; dazu Bösel, S. 56.

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senschaft lenkt, der muss allen Inhalt und allen Zweck des Daseins im Begriffe und als Begriff erfassen“.25

„Als Begriff erfassen“ heißt bei Cohen: Rechenschaftlegung, logon didonai. Das Ziel ist die „Einheit des Bewusstseins“, die er schon im „Mittelpunkte des Kantischen Systems“ stehend fand,26 und die er nun in seinem eigenen wieder zu begründen hofft. In der Einheit des Bewusstseins sucht er diejenige Kontinuität, die eine rechenschaftlegende Besonnenheit in den Enthusiasmus hineinträgt. Nun ist der Enthusiasmus allerdings eo ipso ein Erleben von Nicht-Kontinuität. Gerade in dieser NichtKontinuität dennoch durch Denken Kontinuität stiften, ja ihn selbst als diese Stiftung denken, ist daher ein Erkennen aus der Erwartung. Das Zusammentreten von Enthusiasmus und Kontinuität stellt die Gegenwart unter eine Perspektive der Zukunft. Der methodische Enthusiasmus in seiner Energieentfaltung für die augenblickliche Begriffsarbeit ist zugleich die Gewissheit des künftigen Erfolges. Die Zukunft wird Motor, der Weg eine Prolepse des Ziels: „Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis“:27 Dieser Satz gilt für jede Spezialfrage wie für das System im Ganzen. Er behauptet das Gelingen einer Einheit von Enthusiasmus und Besonnenheit. Die drei Kriterien Schillers für den Künstler: „scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, und standhaft beharren“, übersetzt Cohen in die Arbeit des Begriffs. Seine Logik der reinen Erkenntnis bestimmt die Bewegtheit des Denkens als eine wechselseitige „Durchdringung“ von „Sonderung“, „Vereinigung“ und „Erhaltung“. Man dürfe sich allerdings, so heißt es, diese Durchdringung nicht „dynamisch […] vorstellen“.28 Sie ist ihrerseits Bedingung der Möglichkeit von dynamischen Verhältnissen und daher nicht selbst dynamisch. Cohens Logik ist ein Spiel der Definitionen und Begründungen, Falsifikationen und Verifikationen, sowohl prospektiv als auch retroaktiv, empirisch und transzendental. Was diesem Spiel die strenge Regel gibt, ist die Idee des Systems, das Gegenbild der unüberwindlichen persönlichen Befangenheit und ihres Kampfes. Sie erhält den wissenschaftlichen Enthusiasmus am Leben und in Stetigkeit, damit er sich als Gelingen der Kontinuität feiern kann. Beides, Dilettantismus und Enthusiasmus, gehört dazu. Ohne Eingedenken des Dilettantismus hätte das Philosophieren keinen treibenden Stachel, ohne enthusiastische Antizipation des Systems keine Richtung. Philosophieren im Stil Cohens ist ein stetiges (Sich-) Hineinbilden des Erkennens und Gestaltens in die Denkform des Systems. Diese Herrschaft des Systems als richtunggebender Kompass ist der Grund, warum er sich ein Philosophieren in Ich-Form versagt. Die persönliche Befangenheit, die sich in Ich-Sätzen aussprechen müsste, verstummt. Man könnte versucht sein, sie in einer dialektischen Logik anzusprechen, um ihre Kontingenz am Umschlag in den Gegensatz doch zumindest sichtbar zu halten. Cohens Abwehr aber ist radikal. Er unterstellt sich ganz dem Grundsatz einer durchgreifenden Kon25

Cohen, Charakteristik der Ethik Maimunis [1908], in: Werke 15, S. 164 f. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Werke 6, S. 16. 27 Ebd., S. 29. 28 Ebd., S. 60 und 62.

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tinuität in der Begriffsbildung. Der Peis ist ein völliger Verzicht darauf, die geschichtliche Person im System zur Sprache zu bringen. So ist der Agent in Cohens Logik der reinen Erkenntnis ein reines Denken, das Subjekt in der Ethik ein rechtsförmiger reiner Wille. Und in der Ästhetik des reinen Gefühls, wo das System dem geschichtlichen Ich am nächsten kommt, bleibt dieses reine Gefühls-Ich entweder ein der Konstruktion unzugängliches Wunder unter dem Titel „Genie“. Oder es nimmt, wo es nicht selbst genial sein kann, im Kunstbetrachter die Form eines über die Befangenheit gerade hinausgehobenen Erlebens an. Dennoch ist Cohens Philosophie selbst dort, wo sie auf ein solches Erleben Bezug nimmt, keine Kunstgestalt, und sie steht auch nicht unter dem Ideal der Kunst. Sie hat nur solange Bodenhaftung, wie sich der Philosoph seine Befangenheit bewusst hält. Unter solchen Umständen die Befangenheit trotzdem aus der Darstellung herauszuhalten, ist eine Form der Bescheidenheit. Cohen entfaltet sie eigens als Tugend in der Ethik des reinen Willens und entwickelt sie später zu einer an Maimonides geschulten Auffassung der religiösen Demut weiter.29 Die „Verschämtheit“, von der die Vorrede zur Ethik spricht, hat er nie abgelegt. Sie entspringt einer Liebe, die durchaus dem Gegebenen gilt: den Dingen, dem politisch-sittlichen Tun und den Werken der Kunst. Aber in den Dingen selbst ist Rechtfertigung nicht zu finden, daher bleibt sich Cohens Weisheitsliebe ihres Ungenügens stets bewusst. Die kurzen Bemerkungen jener Vorreden gewähren einen momenthaften Blick auf die im Haupttext notwendig unsichtbare andere Seite des Systemdenkens. Und diesem System gilt sein ganzer Enthusiasmus. Daraus folgt: Cohen hält Dilettantismus und Enthusiasmus auseinander. Der Dilettantismus gehört zum Umgang mit dem unmittelbar „Gegebenen“, der Enthusiasmus dagegen gilt ganz und ungeteilt der Form der Wissenschaft. IV. Enthusiasmus und Dilettantismus in Einheit: Franz Rosenzweig Rosenzweig verfährt anders. Bei ihm finden wir ebenfalls Dilettantismus und Enthusiasmus, aber in gewollter Einheit. Von Verschämtheit ist keine Spur. Es gibt weder eine Abspaltung der persönlichen Befangenheit noch eine Askese bescheidener Wissenschaftlichkeit. Diese Philosophie ist ohne Scham der Endlichkeit. Sie will den Dilettantismus des Lebens durch unmittelbaren Enthusiasmus über sich hinaus zu einer reinen Systemform führen. Das System soll sich selbst als Leben verkörpern: ein Weg gestalthafter Einsicht, letztlich die Mystik einer Inkarnation der Systemform.30 Folglich errichtet Rosenzweig sein System nicht auf der Basis eines Faktums der Wissenschaft, sondern schließt genau das aus. Als er seinen persönlichen Wandel von der akademischen Forschung hin zu dem vollzieht, was er später „neues Denken“ 29 Vgl. ErW 530 – 551; zur Verbindung von Bescheidenheit und Demut bes. Cohen, Mahnung des Alters an die Jugend [1917], in: Werke 17, S. 594 – 600; ders., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums [19292], Wiesbaden 1978, S. 492 – 496. 30 In die Nähe dessen kommt Benjamin Pollock, Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy. Cambridge Univ. Press 2009, S. 238.

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nennt, d. h. auf dem Weg zum Stern der Erlösung, schreibt er seinem Lehrer Friedrich Meinecke: „Es ist mir nicht mehr jede Frage wert, gefragt zu werden. Die wissenschaftliche Neugier, wie der ästhetische Stoffhunger […] füllen mich heut nicht mehr. Ich frage nur noch, wo ich gefragt werde. Von Menschen gefragt werde, nicht von Gelehrten, nicht von ,Der Wissenschaft‘“.31

Statt wissenschaftlicher Paradigmen bezeichnet nun „das Jüdische“ seine „Methode“.32 Dieser jüdischen Methode gilt sein Enthusiasmus. Biographische Momente sprechen dabei ausdrücklich mit. Unter den Lebensereignissen, die ihn auf den Weg bringen, greife ich zwei heraus. Beide wurden oft besprochen. Mir kommt es auf ihre Rolle für den systematischen Enthusiasmus an. Das eine ist Rosenzweigs Begegnung mit Eugen Rosenstock und Rudolf Ehrenberg im „Leipziger Nachtgespräch“ am 7. Juli 1913 und die anschließende Entscheidung. Rosenzweig, dem religiösen Glauben gegenüber zunächst reserviert, sieht sich in Rosenstock einem gläubigen Menschen von zugleich unbestreitbarer intellektueller Autorität gegenüber. Ende Oktober berichtet er: „Dass ein Mensch wie Rosenstock mit Bewusstsein Christ war […], dies warf mir meine ganze Vorstellung vom Christentum, damit aber von Religion überhaupt und damit von meiner eigenen Religion, über den Haufen.“33 Mit der wissenschaftlichen Neutralität ist es vorbei. Rosenzweig muss nun selbst entweder Christ oder Jude sein. Zunächst will er konvertieren. Aber es kommt anders: „Ich bleibe also Jude“.34 Mit dieser Entscheidung trifft er, dies das zweite Ereignis, noch im November desselben Jahres auf Hermann Cohen, seit Januar regulärer Professor an der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. An ihm erfährt Rosenzweig geradezu leiblich, was Philosophie und Glaube ineins fügt. Cohen ist der „erste Ordinarius den ich gesehen habe, den ich ohne Hohnlächeln einen Philosophen nennen würde“.35 Es ist die Präsenz der Person. Was in Cohens System verstummen musste und nur in Vorreden und sprachlichen Nuancen zu spüren war, tritt in der lebendigen Rede unüberhörbar hervor: der leidenschaftlich seinen „Standpunkt“ suchende und kämpfende Mensch. Kein Zeitgenosse, der ein Bild des Redners Cohen gezeichnet hat, und stünde er ihm in der Sache auch fern wie Ortega y Gasset, Boris Pasternak, Gershom Scholem oder eben Rosenzweig, hat sich diesem Eindruck entzogen. Die 31

Rosenzweig: Briefe und Tagebücher, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann unter Mitwirkung von Bernhard Casper. Haag 1979 (Gesammelte Schriften I), S. 681. 32 Vgl. den Brief an Hans Ehrenberg vom Sept. 1921, in: Briefe und Tagebücher, S. 720. Vgl. Heinz-Jürgen Görtz, Tod und Leben. Kontingenzbewältigung in Rosenzweigs Konzept der Geschöpflichkeit, in: Franz Rosenzweigs ,neues Denken‘, hg. von Wolfdietrich SchmiedKowarzik. Freiburg/München 2006, Bd. 2, S. 754 – 775, bes. 759 – 761. 33 Brief an Rudolf Ehrenberg vom 31. 10. 1913, Briefe und Tagebücher, S. 133. 34 Ebd. 35 An Eugen Rosenstock, vermutlich Okt. 1916, Briefe und Tagebücher, S. 230.

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pathisch-leidenschaftliche Person in ihrer mitunter wild aufkochenden Antilogik und Anarchie wird für Rosenzweig zum Angelpunkt. Darin gleicht er seinem Freund Viktor von Weizsäcker. Die Tatsache, dass Rosenzweig den Stern der Erlösung später ein „System der Philosophie“ nennt,36 hängt damit zusammen, dass Weizsäcker etwa zeitgleich die Selbsterfahrung und Lebensgeschichte der Person für die Medizin (wieder) entdeckt und diese ,neue Medizin‘ seinerseits als ein System entwerfen will. „Der Philosoph ist die Form der Philosophie“, ist Rosenzweigs Formel für Weizsäckers „System“.37 Und dieser kommentiert umgekehrt Rosenzweig: „exit philosophia, intrat philosophus“.38 Den Enthusiasmus hinter seiner Glaubensphilosophie hat Rosenzweig ausdrücklich ausgesprochen. Gegenüber Eugen Rosenstock erörtert er den Unterschied zwischen Heiden und Nicht-Heiden. Er sieht ihn darin, wie für die einen oder für die anderen eine Beziehung zwischen Mensch und Gott ihren Anfang nimmt. Die Heiden „verlangen“, so Rosenzweig, „vom Menschen den ersten Schritt“. Nicht-Heiden dagegen, also Juden und Christen – und so auch Rosenzweig in seinem System –, gehen davon aus: „Gott tut den ersten Schritt. Gott weckt den Glauben“. Das aber bedeutet: „Die Begeisterung ist wirklich das erste“.39 Eine empfangene Gott-Begeistung, „Enthusiasmus“ im wörtlichen Sinn, steht am Anfang. Sie gibt den Stoff, der vom philosophischen Eros erzählend ausgelegt (griech. hermeneuein) wird.40 Rosenzweig kennt und sucht diesen Stoff in jüdischer Gestalt: als Synagogengebet, als Familienordnung, als Gebotskanon der Halacha, als Lehrtradition und als Kunstform. Ein Element daraus, das Symbol des Davidsterns, wird zum graphisches Paradigma für die Systemstruktur der Erlösung. Das optisch inspirierte System soll eine bis in die leibliche Erotik des Menschen hinein wirksame Wegleitung „ins Leben“ – so die letzten Worte des Buches – darstellen. Es ist das Hineinbilden eines jüdischen Enthousiasmos, einer Gott-Begeisterung in die Denkform des Systems. Er schreibt: „Dies doch wohl ist ein jüdisches Buch: nicht eines, das von ,jüdischen Dingen‘ handelt, […] sondern eins, dem für das, was es zu sagen hat, und grade für das Neue, was es zu sagen hat, die alten jüdischen Worte kommen.“ – „Einem Christen wären, das weiß ich, statt der meinen Worte des Neuen Testaments auf die Lippen gekommen“.41 36 Rosenzweig, Das neue Denken [1925], in: ders., Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer. Dordrecht u. a. 1984 (Gesammelte Schriften III), S. 140. 37 Brief an Rudolf Ehrenberg vom 1. 12. 1917, Briefe und Tagebücher, S. 485. 38 Weizsäcker, Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes [1944/1954], in: Gesammelte Schriften, hg. von Peter Achilles, Dieter Janz, Martin Schrenk, Carl Friedrich von Weizsäcker. 10 Bände, Frankfurt/M. 1986 – 2005, Bd. 1, S. 9 – 190, hier: 29. 39 Brief an Eugen Rosenstock vom 17. 8. 1919, in: Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hg. von Inken Rühle and Reinhold Mayer. Tübingen 2002, S. 388. Vgl. die Online-Edition von Michael Gormann-Thelen http://www.argobooks.org/grit li/1919.html#aug (Sept. 2012). 40 Die Ähnlichkeit zu Platons Eros (bes. Symposion 202e-203a) ist auffallend. 41 Rosenzweig, Das neue Denken, S. 155.

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Das kontrastierende Vorbild ist einmal mehr Eugen Rosenstock. Rosenzweig gestaltet einen (jüdischen) „Stern der Erlösung“ und nicht, wie Eugen Rosenstock, ein (christliches) „Kreuz der Wirklichkeit“.42 Und eben darin: im Nachsprechen der „alten jüdischen Worte“, im Nachbilden des Davidsterns ein „jüdisches Buch“ zu sein, wird der Stern der Erlösung zu einem „System der Philosophie“.43 Neben diesem Enthusiasmus steht ebenso explizit, ja provokant inszeniert der Dilettantismus. Rosenzweig stellt an den Anfang seines Stern die drei Elemente Gott, Welt und Mensch. Sie stehen dort unverbunden nebeneinander. Keine vorgängige Deduktion leitet ihre Auswahl. Der Beginn des Stern ist formal ungeklärt, spielerisch experimentell: Im Rückblick schreibt er: „Sowohl die Dreizahl als die Namen der ,Substanzen‘ sind […] rein empirisch, bloß aufgelesen, vorgefunden – was alles für die Philosophie alten Stils ein Gräuel wäre und hier gerade die Pointe ist“.44 Es soll unmittelbar aus dem Leben heraus philosophiert werden. Offene Unverbundenheit macht den Anfang: Rosenzweigs Weise eines bewussten Dilettantismus. Dann aber kommt und muss kommen die enthusiastisch erfahrene Stiftung der Verbindung. Und sie war, wenn man Rosenzweigs Zeugnis glauben darf, tatsächlich ein momentanes Aufblitzen. Am 22. August 1918 schreibt er an seine Freundin Margrit Rosenstock: Seit „gestern Abend“ denke ich „in Figuren; das Dreieck …, mit 3 Ecken und 3 Verbindungen, enthüllt sich als sechsstrahliger Y Stern der Erlösung, der in sich neue ,Sterne‘ Y usw. enthält. … Mindestens der Anfang stimmt und lässt sich in dürren Worten begreiflich machen, denn der Stern ist weiter nichts als die Kombination zweier Dreiecke, die sich nicht aufeinanderlegen lassen wollen und also sternförmig zueinander stehen müssen“.45

Dieses „sich nicht aufeinanderlegen lassen“ bedeutet methodisch: Die ersten drei Elemente gehen nicht nahtlos in die folgenden drei über. Das würde im graphischen Symbolismus nämlich bedeuten, dass das zweite Dreieck ohne Verschiebung auf das erste abgebildet werden könnte. Stattdessen liegt zwischen den beiden Dreiecks-Formationen eine Drehung, ein – wie es im Stern heißt – „Übergang“, der nur durch die Gewissheit einer „Verheißung“ bzw. „Weissagung“ einerseits und durch das Wunder ihrer Erfüllung anderseits zu leisten ist.46 Im Übergang vom „Chaos der Elemente“ am Anfang zu der neuen „Möglichkeit das Wunder zu erleben“47 entpuppen sich die drei Elemente des Anfangs als Verheißung auf ihre Verbindung. Diese Einsicht ist retrospektiv. Der Sinn der dilettantischen Empirie am Anfang wird vom Wunder 42 Vgl.: ,Kreuz der Wirklichkeit‘ und ,Stern der Erlösung‘. Die Glaubens-Metaphysik von Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig, hg. von H. Wiedebach. Freiburg/München 2010 (Rosenzweigiana 5). 43 Rosenzweig, Das neue Denken, S. 140. 44 Brief an Rudolf Stahl vom 7. 12. 1925, Briefe und Tagebücher, S. 1071. 45 Gritli-Briefe, S. 124, zuletzt erörtert von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik sowie von Knut Martin Stünkel, beide in: ,Kreuz der Wirklichkeit‘ und ,Stern der Erlösung‘, bes. S. 34 und 97. 46 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Haag 1976 (Gesammelte Schriften II), Einleitung zum 2. Teil, S. 103 ff., zu Weissagung bzw. Verheißung bes. 120 – 124. 47 Der Stern der Erlösung, Randtitel S. 91 und Kapitelüberschrift S. 103.

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der anschließend entdeckten Kohärenz her offenbar. Vom ersten Dreieck zum zweiten oder, in Buchabschnitten gesprochen: vom ersten Teil des Stern zum zweiten gelangt man weder durch eine Logik der Kontinuität (Cohen) noch durch dialektische Gedankenführung (Hegel). Es braucht ein Denken, das bestimmte, aus der Vorstellungsgeschichte der Menschheit aufgegriffene Begriffe als Ursprünge zu lesen vermag, das heißt hier: Begriffe, die bereits in ihrer alten Bedeutsamkeit auf eine neue Erscheinungsform und Bedeutung drängen, die sie erst mit dem Eintritt der Offenbarung, die dann den zweiten Teil beherrscht, erreichen. Das Verhältnis zwischen Ursprung und neuer Sprache ist kein natürliches. Der Denker muss es vielmehr am Lesen und Studieren von Texten, und zwar an heiligen Texten in Erfahrung bringen und sich dadurch selbst zueignen. Analog zu den Glaubenwahrheiten vom Eintreten biblischer Verheißungen begreift die Glaubensphilosophie Rosenzweigs die Elementarbegriffe in Teil I. als Verheißungen auf die Offenbarungsbegriffe in Teil II. Die drei Modi dieser Offenbarung sind: die Welt als Schöpfung erkennen, die Offenbarung im Liebeserlebnis erfahren und auf Erlösung hoffen. Der Preis dafür ist eine Einschränkung der ursprünglichen Allgemeinheit. Gott, Welt und Mensch werden in Teil I. noch aus einer formalen Semiotik elementarer Zeichenbildung heraus konstruiert. In Teil II. verwandeln sich diese Zeichenverhältnisse in eine spezifische Verbindungsstruktur. Gott, Welt und Mensch bilden nun ein in Wechselwirkungen spielendes Netzwerk dynamischer Gestaltbildung.48 Damit, so Rosenzweig, durchlaufen die elementaren Ursprungsbegriffe eine Metamorphose in Grundverhältnisse gläubigen Sprechens. Indes verfährt in dieser Reihenfolge nur die synthetische Darstellung. Das konkrete Denken der Person geht ebenso den umgekehrten analytischen Weg. Es beginnt geradezu beim Ergebnis, sprich: bei der Evidenz des Symbols. Es braucht die enthusiastische Vision. Erst als sie da ist, kann Rosenzweig an Margrit Rosenstock schreiben: „So löse ich jetzt meine Dreiecke und Sterne rückwärts in logische Beziehungen auf; sie werden dadurch nicht weniger dreieckig, aber (im Gegenteil) das Logische wird dreieckiger. Man kann das Symbol nur dadurch als das Höhere gegenüber dem formlosen Gedanken aufweisen, indem man zeigt, wie das Symbol die Kraft hat, sich der Gedanken zu bedienen“.49

Damit ist die Leitlinie für Teil III. des Stern gegeben. Denn im Anschluss an die synthetische Konstruktion in den Teilen I. und II. fehlt noch der Aufweis der „Kraft“ des Symbols. Diese Kraft wird in Quellen der Glaubenslehre einerseits und in der gottesdienstlichen Praxis anderseits gesucht. Beide Komponenten jedoch, Lehre und Tun, sind Gestalten persönlich bindender Tradition. Als prägnante Gestalten aber brauchen sie unterscheidende Bestimmtheit, und so erscheint die Wahrheit der Offenbarung niemals rein als solche, sondern in besonderen Formen. Die einheitliche Dynamik der Offenbarung teilt sich auf. Schöpfungserkenntnis, Liebeserleben 48 Vgl. Vf., Rosenzweigs Konnektionismus, in: Franz Rosenzweigs ,Neues Denken‘, hg. von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Freiburg/München 2006, Bd. 1, S. 371 – 392. 49 Am 23. 8. 1918, Gritli-Briefe, S. 130.

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und Erlösungshoffnung finden zur Sprache nur im Judentum und – die jüngere Schwester an seiner Seite – im Christentum. Dieser Zwiegestalt gilt der dritte Teil. Die Korrelation zwischen Verheißung und Wunder aufzudecken, sprich: das Lesenkönnen der Offenbarung braucht ein je nach der Zugehörigkeit des einzelnen Menschen unterschiedlich bestimmtes Lernen und Beten im Hintergrund. Judentum und Christentum brauchen einander zum profilierenden Kontrast. Entscheidend ist für beide, dass sich das Lernen und Beten in der Gewohnheit einer ererbten und weiter gepflegten Tradition vollzieht. Die bis in die leiblichen Gebärden hinein wirkende Macht der Überlieferung hebt das Fundament des Denkens aus der individuellen Befangenheit und den Schwankungen der allgemeinen Geschichte heraus und macht es zu einer geschichtlich-biographischen Kontinuität. So ist auch hier Kontinuität ein Grundsatz, wenn auch nicht, wie bei Cohen, über die mathematische Erkenntnisanalogie vermittelt. Auf der Basis von literarischer und praktischer Überlieferung wagt es Rosenzweig, ein nie Gedachtes, ja Un-Denkbares, nämlich den Glauben an Verheißung und Erfüllung, in die Denkform eines Systems bringen zu wollen. Er setzt ein persönliches Symbol, das er aus der eigenen jüdischen Tradition und ihrer enthusiastischen Vergegenwärtigung empfangen hat, zur Sprache systematischer Philosophie in Resonanz. Der Stern der Erlösung ist also kein System unter dem Ideal einer funktionalen Logik, sondern – für den, der sich seiner Sprache hinzugeben bereit ist – das Wagnis auf eine das Ganze umfassende Metapher.

Metalogic and Systematicity: Rosenzweig’s Philosophical Debt to Hans Ehrenberg Benjamin Pollock In his Concluding Unscientific Postscript, Søren Kierkegaard compares the writers of philosophical systems to dancers who think they can fly: “Wenn ein Tänzer sehr hoch springen könnte, würden wir ihn bewundern; wenn er sich aber, sei es auch, er könnte so hoch springen wie nie ein Tänzer vor ihm, den Anschein geben wollte, dass er fliegen könnte: dann lass ihn nur das Gelächter einholen. Das Springen bedeutet, dass man wesentlich der Erde angehört und die Gesetze der Schwere respektiert, so dass der Sprung nur das Momentane ist; aber das Fliegen bedeutet, dass man von den Erdgegebenheiten befreit ist, was nur den mit Flügeln ausgestatteten Geschöpfen vorbehalten ist, vielleicht auch den Bewohnern des Mondes, vielleicht – vielleicht findet das System auch dort erst seine wahren Leser.”1

Kierkegaard’s mockery of the philosophical aspiration for systematicity here conveys a criticism that would have been as familiar to the thinkers of Rosenzweig’s generation as it is today.2 Anyone who aspires to systematic knowledge, anyone who seeks to grasp the whole of what is from the standpoint of the Absolute, Kierkegaard suggests here, has lost sight of the basic conditions of actual human existence. Such a systematic thinker has forgotten that actual human existence is earthly, not spiritual; that it is finite, not divine; that it is temporal, and not eternal. Such a thinker has forgotten the basic difference, Kierkegaard implies, between the human philosopher and God. I aim to accomplish two things in this paper. First of all, I want to offer an overview of Rosenzweig’s conception of systematicity, and to explain how his opus magnum, Der Stern der Erlösung, may be understood as a “system of philosophy.” As I have claimed in Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy, Rosenzweig develops a notion of system as quintessentially human knowledge in the Stern. The Stern is a system, that is to say, which tries to take seriously Kierkegaard’s mocking criticism of the Absolute standpoint of German Idealist systems. I will highlight in what follows the way Rosenzweig envisions the possibility of thinking “The All” 1

Søren Kierkegaard, Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Erster Band, übersetzt von H. M. Junghans. Gesammelte Werke, 16. Abteilung, Düsseldorf/Köln 1957, p. 117. 2 For a sharp account of the traditional criticism directed towards systematic thinking, and of the presuppositions of such criticism, see Christian Krijnen’s contribution to this volume: Rosenzweigs ‘Stern der Erlösung’ im Spiegel des Systems der Philosophie, ch. 1.

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systematically from the middle of the All, and the twofold “systematic task” that comes to light from the standpoint of the middle. After describing Rosenzweig’s conception of system, I will proceed to claim that Rosenzweig’s notion of thinking system from its middle, and the conception of system’s twofold task that follows from it, owe a debt to the early thought of Rosenzweig’s cousin, Hans Ehrenberg. Here I aim to explore what Rosenzweig’s relationship to Ehrenberg teaches us both about the philosophical context within which Rosenzweig’s systematic thought may be understood, and about the specific conception of systematicity Rosenzweig adopts and articulates in the Stern. I will suggest that the intellectual context within which Rosenzweig’s commitment to systematic thinking developed was the context of neo-Hegelianism, and specifically that of Hans Ehrenberg’s early attempt ca. 1910 to synthesize Hegelian thought with neo-Kantianism. I will suggest that Rosenzweig’s conception of systematicity in The Star owes something important to the notion of metalogic which Ehrenberg develops in his early writings. *** My Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy presents Rosenzweig’s Stern as committed to the view that achieving systematic knowledge is the fundamental task of philosophy. This task amounts to grasping and articulating the identity and difference of all that is in the form of a “system,” and consequently, to grasping ourselves – our position and vocation as human beings – within such a system. Rosenzweig aims to realize this systematic task of philosophy in Der Stern der Erlösung, and this is why Rosenzweig repeatedly claimed that his book should be understood as “bloss ein System der Philosophie.”3 Since Rosenzweig understands the view that system is philosophy’s task to have come of age in the period of German Idealism4, my claim that the Stern is best understood as a system suggests Rosenzweig’s thought is far more intimately connected to German Idealism than scholars have often claimed. But on my reading, Rosenzweig disagrees fundamentally with the German Idealists over the standpoint out of which, and the method through which, a system can be achieved. Rosenzweig takes seriously the finitude, the temporality, the concrete worldliness of the human being of which 3

Franz Rosenzweig, Das neue Denken, in: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken. Gesammelte Schriften III. Dordrecht 1984, p. 140. See also Rosenzweig, Briefe und Tagebücher. Gesammelte Schriften I. Dordrecht 1979, pp. 599, 603, 623, 644; Rosenzweig, Die “Gritli”-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy. Tübingen 2002, pp. 136, 154, 168, 234, 686. 4 Cf. Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Zweistromland, p. 41: “Die ganze diesen verschiedenen Ansichten zugrundeliegende Vorstellung vom System als der Aufgabe der Philosophie ist nun wie gesagt kein Selbstverständlichkeit, sondern eine Entdeckung des deutschen Idealismus.”

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Kierkegaard reminds us through his mockery. More dramatically, Rosenzweig insists that the task of system itself can only be realized by the philosopher who takes Kierkegaard’s insights seriously, who philosophizes by means of an earthly leap rather than by trying to fly. The opening sentence of the Stern sets forward this program of system as quintessentially human knowledge in explicit fashion: “Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.”5 Only the philosopher who takes his or her own finitude and particularity as starting point for systematic knowledge, rather than seeking to grasp the “All” from the standpoint of the Absolute, Rosenzweig suggests here, holds the possibility of realizing the philosophical task of system. Rosenzweig’s argument, as I understand it, goes as follows: to grasp “All” that is as a system demands that I grasp all beings both in their radical multiplicity and in the ultimate unity they join together to form. The philosopher who purports to grasp the All from the standpoint of the Absolute that realizes itself in all things always runs the risk of reducing all things to the Absolute – of reducing all difference to identity. It is with this criticism in mind that Rosenzweig accuses German Idealism, throughout the Stern, of what he calls “one-dimensionality”: “Die idealistischen Systeme von 1800 zeigen durchweg, am deutlichsten das Hegelsche, der Anlage nach aber auch Fichtes und Schellings, einen Zug, den wir als Eindimensionalität bezeichnen müssten. […] Der Kraftstrom des Systemganzen fließt als ein einer und allgemeiner durch alle Einzelgestalten hindurch.”6

Rosenzweig’s own system begins from the standpoint of human finitude and particularity. The experience of the fear of death reveals the fundamental particularity of all beings. Particular beings are not derived from an absolute nothing, but rather are fundamentally particular, and thus must be grasped as generating themselves in their particularity, each out of its own particular nothing.7 The systematic course of the Stern then traces how fundamentally particular beings – divine, worldly, personal – can be grasped as entering into reciprocal relations with one another. Indeed, the movement of the system is motivated by the fact that as particulars, beings are unstable, insecure, at risk to fall back into their respective nothings. These particular beings thereby must reverse out of themselves and enter into relations with others in order to secure their own respective being. However, these reciprocal relations – creation, revelation, redemption – not only secure each being as such; relations between divine, worldly, and personal beings are the means through which they realize an ultimate redemptive unity – the true “All” – over the course of cosmic history.8 5

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt 1996, p. 3. Ibid., p. 56. 7 I develop this argument in detail through a reading of the first book of Der Stern. See Pollock, Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy, ch. 3: Alls or Nothings: The Starting-Point of Rosenzweig’s System. 8 Cf., ibid., ch. 4: The Genuine Notion of Revelation: Relations, Reversals, and the Human Being in the Middle of the System. 6

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If Rosenzweig locates the beginning of the system in particularity or difference, he thus grasps the unity of the system as a future redemptive unity: “Gott wird erst in der Erlösung das, was der Leichtsinn menschlichen Denkens von je überall gesucht, überall behauptet und doch nirgends gefunden hat, weil es eben noch nirgends zu finden war, denn es war noch nicht: All und Eines. Das All der Philosophen, das wir bewusst zerstückelt hatten, hier in der blendenden Mitternachtssonne der vollendeten Erlösung ist es endlich, ja wahrhaft end-lich, zum Einen zusammengewachsen.”9

The unity of Rosenzweig’s system emerges only in redemption, at the system’s end – not at the system’s beginning. At the future moment of redemption all will indeed be one, the “All” which philosophers have perennially claimed will indeed be actual. But at present the “All” is not yet actual, and thus we are the free and particular beings we experience ourselves to be. On my reading, this deferment of systematic unity to the future is crucial to Rosenzweig’s attempt to grasp identity and difference in a manner that attends to Kierkegaard’s insistence on the humanity of the one who philosophizes. For a future redemptive unity can be reconciled with the actual freedom and particularity of the philosophizing human being in the present. Unity grasped as future allows me to be a human being in the present and still to grasp the whole. Human freedom is encapsulated within the system for Rosenzweig in the moment of revelation – a moment in which we are called upon to take our place within the advance of particulars towards redemptive unity through relations. The human being thus finds himself or herself in the middle of “the All.” It is just this location in the middle, Rosenzweig implies, that makes possible the realization of systematic knowledge that does not reduce difference to unity. As I understand it, there are two distinct but interrelated aspects of the systematic task which Rosenzweig takes up in the Stern from his standpoint in the middle of the All. The task of system is firstly theoretical: knowing and articulating the “All” whose actual course we experience. Towards this end, the Stern sets out a methodologically rigorous elaboration of systematic knowledge for the finite knower in the middle of the All. But the task of system as Rosenzweig articulates it in the Stern has at once a practical side: realizing the All. Revelation awakens us to our selfhood and directs us to a decision whether to devote ourselves to the realization of redemptive unity or whether to thwart such an advance to redemption. We are thereby called on to realize practically the very “All” which the philosopher can come to know theoretically. It is the relation between these two different senses of the Stern’s systematic task that I want to highlight here, the relation between the philosophical system that articulates what the philosopher knows and the system of actuality in which it is incumbent upon the philosopher to act redemptively. These two systems share an identity of sorts, but this identity is not temporal. The completion of systematic knowledge does not depend on history coming to an end. Systematic knowledge is possible from the 9

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, p. 266.

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middle of the historical course along which system is realized in actuality.10 At the same time, the system of knowledge that is possible from the middle of the system is “closed” – it isn’t open infinitely towards the future. The All is indeed grasped in its unity and difference by the philosopher at his own position and moment within the course of the All’s realization; but the unity of the All is still projected into the future, and it is our practical task to realize it. The philosopher who articulates systematic knowledge of what is thus knows the All, as it were, before the All is fully actualized. The system of philosophy stands complete at a moment within the system of actuality. It is this twofold systematic structure – the system of knowledge standing within the system of actuality – that leads us back to Rosenzweig’s cousin, Hans Ehrenberg, and to his attempt on the eve of the rise of neo-Hegelianism in the early 1910 s, to fuse the philosophical insights of Hegel and the neo-Kantians. Ehrenberg had been a student of Wilhelm Windelband’s at Heidelberg and he shared in the intellectual youth movement to which Windelband referred in his landmark 1910 lecture, “Die Erneuerung des Hegelianismus”11 In the early 1910 s, Ehrenberg taught as a Privatdozent at Heidelberg and he composed a number of works whose explicit goal was the revival of the task of system for the philosophy of the time.12 In his “Kants Kategorientafel und der systematische Begriff der Philosophie” (1909), Ehrenberg attempted to develop the full range of philosophical concepts dialectically from one another according to the schema of Kant’s table of categories, and declared “Philosophie ohne System [ist] Nichts”.13 Ehrenberg stressed the experimental character of this systematic attempt, but he concluded the article with the following bold assertion: “Indem hier zum erstenmal die Philosophie wieder als bewusst systematische erscheint, hört sie auf, Schleppträgerin empirischer Wissenschaften zu sein, und glaubt bewiesen zu haben, dass die Vereinigung von Kant und Hegel möglich und zeitgemäss ist.”14

Ehrenberg understands systematicity, in this early article, as the key to the rediscovery of philosophy’s unique vocation for his time. If philosophy is to cease to be viewed as merely the “Schleppträgerin” of the empirical sciences, if it is to return to its formerly dignified status, then it must once again aspire to be systematic. More10 Cf. Rosenzweig, ‘Urzelle’ des Stern der Erlösung, in: Zweistromland, p. 133: “So ist der Ordnungsbegriff dieser Welt nicht das Allgemeine, weder die Arche noch das Telos, weder die natürliche noch die geschichtliche Einheit, sondern das Einzelne, das Ereignis, nicht Anfang oder Ende, sondern Mitte der Welt.” 11 Wilhelm Windelband, Die Erneuerung des Hegelianismus, Präludien I. Tübingen 1921, pp. 273 – 289. 12 For a list of courses Ehrenberg taught during this period, see Günther Brakelmann, Hans Ehrenberg: Ein judenchristliches Schicksal in Deutschland. Vol. 1: Leben, Denken und Wirken 1883 – 1932. Waltrop 1997, pp. 31 – 2. 13 Hans Ehrenberg, Kants Kategorientafel und der systematische Begriff der Philosophie, in: Kant-Studien 14 (1909), p. 436. 14 Ibid., pp. 437 – 438.

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over, the system that would answer to the needs of the time, according to Ehrenberg, would be a system which combined the philosophical insights of Kant and Hegel. As we shall see, in the years before the First World War, Ehrenberg repeatedly returned to and built upon these key intuitions regarding the need for and possibility of systematic philosophy in his time. Rosenzweig would later write that he considered Hans Ehrenberg “mein eigentlicher Lehrer in Philosophie.”15 Moreover, when Rosenzweig published his own first study of systematic philosophy in 1917, “Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus,” he intended to dedicate the essay to Ehrenberg. Writing to Ehrenberg of his plans to do so on 2 March 1917, he says, “Die Widmung muss doch zu machen sein. Ich mache vielleicht nie mehr etwas, wo sie so hingehörte wie hier. Den Begriff ‘System’ habe ich doch von dir, in all den Jahren, gelernt.”16 My contention is that both Rosenzweig’s commitment to system in the years leading up to and including his writing of the Stern, and the form of that system – thought from the middle – were deeply influenced by the way Ehrenberg formulated his early project. Ehrenberg’s call to system appears to have inspired Rosenzweig, first of all, to inquire into the origins of the task of system, to seek out the “oldest” or “first” moment in which the philosophical project of system became manifest. It cannot be coincidental that in the very months of 1914 when Rosenzweig completed the “älteste Systemprogramm” essay, Ehrenberg was preparing for its first publication Hegel’s so-called “Jena System,” with his own introductory essay, under the title, Hegels erstes System.17 But the most important early text of Ehrenberg’s for grasping the form of systematic thinking Rosenzweig came to adopt in the Stern is his 1911 Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer. Rosenzweig read the Parteiung in December, 1917, the year before he began writing the Stern. On 19 December 1917, he reports on his reading to Eugen Rosenstock, and calls Parteiung “ein imponierendes Buch.”18 One week later, on 26 December, he writes to Ehrenberg himself, conveying his enthusiasm for Parteiung: “ich werde überhaupt Ehrenbergianer, vielmehr konstatiere erneut, dass ich es bin; ich lese die ‘Parteiung’ unter fortwährendem Hurragebrüll.”19 15

Rosenzweig to Ernst Simon, in: Rosenzweig, Briefe und Tagebücher II, p. 809. Franz Rosenzweig to Hans Ehrenberg, in: Briefe und Tagebücher I, p. 357. 17 I have introduced Ehrenberg’s and Rosenzweig’s shared interest in uncovering the origins of systematic thinking as evidence that Rosenzweig’s “Das älteste Systemprogramm” was aimed to revive the general philosophical commitment to systematicity, and not – as scholars like Otto Pöggeler have claimed – to promote the thinking of the late Schelling over that of Hegel. See Pollock, Rosenzweig’s Oldest System-Program, in: New German Critique 27, 3 (2010), pp. 59 – 95. 18 Briefe und Tagebücher I, p. 494. 19 Ibid., p. 499. 16

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The Parteiung is an ambitious work that seeks to articulate a new systematic form by bringing about a synthesis of the philosophical standpoints of Hegel and the NeoKantians. In doing so, Ehrenberg seeks to overcome what he depicts as the mirrorimage limitations of these two philosophies: on the one hand, the Neo-Kantians’ rejection of the Absolute and the lapsing back into positivism they court as a result; on the other, Hegel’s subordination of the particular disciplines of science to the overpowering unity of logic. A proper system, Ehrenberg contends, must do justice to what he calls the “Dreiheit von Logik, Disziplinen, und Absolutem,”20 if it is to overcome these limitations. The core idea which Ehrenberg introduces in the Parteiung meant to make a new kind of system possible is the idea of metalogic. I want first to say something about how Ehrenberg explains metalogic with respect to logic before proceeding to show the implications of metalogic for Ehrenberg’s notion of system as a whole. Ehrenberg suggests that the success of logic as a pure philosophical discipline rests on the way it relates to the disciplines of knowledge beyond it. This relation is constructed, Ehrenberg argues, not through the application of particular categories of logic to the materials of scientific disciplines, but rather in the way that logic as a complete self-reflexive discipline of thought both models the form of knowledge for other disciplines and at once stands as one complete discipline alongside all other disciplines. According to Ehrenberg, the way in which logic can be recognized and studied as both complete in itself and at once as standing alongside other disciplines of actual knowing points to its metalogical character.21 But if the name “metalogic” suggests a narrow focus on the place of logic vis-à-vis other disciplines beyond it, Ehrenberg in fact uses the term much more expansively to 20 Hans Ehrenberg, Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer. Essen 1998, p. 98. 21 Cf. ibid, pp. 29 – 33, 40 – 45: “Unser Gedankengang über die Kategorie hat uns somit zu einem endgültigen Ergebnis geführt: das Verständnis der reinen Kategorie als des für sich selber gültigen Denkens – Denkens des Denkens; die Einsicht darin, dass die Kategorie vor ihrer Anwendung überhaupt nicht ist, aber nur deshalb nicht, weil sie, sobald sie ist, auf sich selber Anwendung gefunden hat… . Die Philosophie gewinnt hier einen Ruhepunkt, welcher der Logik bei aller Entinhaltlichung dasjenige Übergewicht lässt, das ihr zukommt; es ist eine “letzte” Erkenntnis, die Struktur alles Denkens in der Möglichkeit des Sich-selber-Denkens bewiesen zu haben; die Reflexivität der Reflexivität als Grundsatz für den Begriff der Kategorie!” (p. 32); “Die Kategorien werden ‘fertig’ im innerlogischen Gebrauch; denn nachdem sie sich an sich selbst als gegenstandsbestimmend erwiesen haben, kann ihnen in dieser Beziehung nichts zuwachsen. Der ausserlogische Gebrauch der Kategorien, ihr Gebrauch i. e. S., ist nicht zu deuten als die Beziehung der noch unangewandten Kategorie auf ein ausserkategoriales Material, sondern als die Beziehung des logischen Gegenstandes auf den ausserlogischen Gegenstand, eine Beziehung, der die kategoriale Gültigkeit nicht fehlen kann, da sie im logischen Gegenstand für jedes und alles zugesichert ist. Das Selbstbewusstsein der Kategorie begleitet also alle unsere Erkenntnisse; deshalb bringt die Logik eine Methode des Erkennens hervor, die schlechthin für alle Gegenstände gilt: die systematische Methode; sie verwirklicht die Forderung der Kategorialität, das Erkennen auf seinem Gange zu begleiten, bringt aber nicht die Gegenstände in individuo hervor, sondern selbst überall dieselbe, fixiert sie nur für die Wissenschaft (die eben durch sie entsteht)” (p. 43).

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designate the domain of philosophical questioning about the place of philosophy in relation to the actuality which it grasps but of which it is nevertheless also a part. This broader meaning of metalogic emerges clearly in the passage in the Parteiung in which Ehrenberg defines metalogic for the first time: “Die Stellung der Philosophie in der Wirklichkeit, ihr Sinn und Wert, der ihr im göttlichen Weltplan gesetzt ist, macht so den Gegenstand einer erst zu begründenden Disziplin aus, die […] als Metalogik bezeichnet werden kann.”22 Metalogic, we see, here designates the study of the position of philosophy “im göttlichen Weltplan,” that is to say, in actuality. If metalogic in the narrow sense studies the meaning logic has as a complete discipline standing within the whole of philosophy, metalogic in this broader sense studies the meaning and the value attributable to philosophy insofar as it stands where it stands within the actual, within what Ehrenberg identifies as the divine plan for the world. The Parteiung proceeds to show how this metalogical insight regarding the relations between domains of philosophy and their respective beyonds illuminates the limitations of prior philosophy and delineates philosophy’s contemporary task in a new fashion. The metalogical perspective is at work, for example, in Ehrenberg’s spin on Hegel’s identity of the rational and the actual, “was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.” According to Ehrenberg, Hegel’s statement should express the reciprocal immanence of actuality in reason and of reason in actuality. But, says Ehrenberg, Hegel weights the two directions unequally. Hegel is far more interested in highlighting the way the actual is rational, in showing that all that is actual is immanent within reason and thus is in truth “Spirit,” than he is in examining the immanence of reason in the actual. Ehrenberg suggests that if one takes these sides equally, one arrives precisely at the recognition of the metalogical position of reason within the actual. Ehrenberg writes: “Wir bemerken nämlich, dass die Wirklichkeit die ganze Vernunft erfüllt, das Wesen der Vernunft daher in der tatsächlichen Immanisierung des Wirklichen in das Reich der Vernunft sich vollkommen auswirkt; dagegen wird die Vernunft bei ihrer Immanisierung in die Wirklichkeit nur ein Teil dieser; […] So geht zwar die ganze Wirklichkeit in die Vernunft, die ganze Vernunft in die Wirklichkeit ein; aber die Wirklichkeit erweist sich als das Umfassendere, indem sie die wirklich gewordene Vernunft nur als einen Teil von sich hat; als solcher ist sie die wirkliche Philosophie.”23

On Ehrenberg’s view, we see, the whole of the actual is indeed grasped through the rational and is immanent within it. The being of the actual can be wholly grasped in reason. But the whole of reason, including its grasp of the actual, is likewise immanent in the actual. Moreover, this side of the formula reveals an important difference. For reason does not fill out the whole of the “actual.” Reason is a part of the actual, and stands next to everything else that is actual, just as logic is to be grasped both as complete in itself and at once as a single discipline standing alongside all others. 22 23

Ibid., p. 63. Ibid., p. 62.

Metalogic and Systematicity

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“Wirkliche Philosophie,” actual philosophy, is what Ehrenberg now calls this metalogical study of the way in which the whole of reason stands within actuality. As the Parteiung comes to a close, Ehrenberg claims that this metalogical account of philosophy is the key to reviving the task of system in the wake of Hegel and the Neo-Kantians. Here Ehrenberg formulates metalogic once again in explicitly theological terms, presenting an account of systematicity in which philosophy – while grasping the whole – at once grasps itself as a mere part of the whole of actuality, now identified with God: “Die Möglichkeit des Systems beruht so darauf, dass die Philosophie sich selbst als einen Teil des seienden Ganzen, d. h., des Absoluten begreift; das Absolute ist dann der wahre Einheitspunkt aller Systembildung […]. Indem die Philosophie, in deren eigener Wirklichkeit das endlos Mannigfaltige zur Einheit gebracht ist, sich selbst als Teil des von ihr zur Einheit gebrachten Mannigfaltigen begreift, hat diese Einheit, von welcher die wirkliche Philosophie mit erfasst ist, den Mannigfaltigkeiten-Progressus des Erkennens in sich ‘aufgehoben’, ist so darüber hinaus und macht somit das seiende Ganze oder Gott aus.”24

In this passage, Ehrenberg shows his notion of metalogic to stand at the core of his understanding of philosophy’s systematic quest. Indeed, Ehrenberg suggests that the attainment of systematic knowledge is only possible if philosophy recognizes its metalogical status within the actual. To grasp the identity and difference of all that is, in other words, it is not sufficient to grasp the unity of the manifold of the actual through reason; one must proceed to grasp that rational unity of the actual yet again as part of the manifold of the actual itself. The ultimate unity towards which philosophy strives and upon which systematic knowledge depends, is not the unity of rational thought, but rather the ultimate unity of the actual, the “seiende Ganze” which Ehrenberg identifies as the true “Absolute” or “God.”25 We can now bring into clear focus the metalogical structure of systematicity as Ehrenberg presents it in Parteiung. Philosophy grasps all of actuality within its borders. But it at once grasps itself within the manifold of actuality which it has brought to unity within itself. The true point of unity of the system is in the unified whole of 24

Ehrenberg, Die Parteiung, p. 100. The roots of Ehrenberg’s notion of metalogic may lie in F. W. J. Schelling’s later thought. Schelling distinguishes, in the writings and lectures of his later years, between negative philosophy – a philosophy of reason epitomized by his own philosophy of identity – and a positive philosophy which traces in thought the history of being insofar as it is not grounded solely in reason. According to Schelling, the completion of the philosophy of reason points beyond itself to a form of “actual knowing” that stands outside it in a complementary philosophical domain. Cf. F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/2, ed. Manfred Frank. Frankfurt/Main 1993, pp. 116 – 21, 147 – 8, 150 – 3. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik likewise suggests Ehrenberg’s “metalogic” is meant to mirror the late Schelling: “Ohne dies eigens darzulegen, knüpft Ehrenberg mit seiner ‘Kritik wider Hegel und die Kantianer’ in der Parteiung der Philosophie an Schelling an und umschreibt den Durchbruch von der negativen zur positiven Philosophie mit dem Begriff der ‘Metalogik’” (Schmied-Kowarzik, Hans Ehrenbergs Einfluss auf die Entstehung des Stern der Erlösung, in: Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber. Freiburg/München 2006, p. 77. 25

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actuality which is the Absolute; and philosophy both appears to grasp this unity within itself, and is itself only part of this Absolute unity. With Ehrenberg’s metalogical structure of systematicity in hand, let us return to Rosenzweig. Rosenzweig himself of course uses the term “metalogisch” in the Stern to designate the character of the world as element alongside God and the self, and Rosenzweig cites Ehrenberg as the source of the term when he introduces it. According to Rosenzweig, the elemental world is metalogical insofar as it does not wholly collapse into reason, but rather contains the rational or the logical as its “‘wesentlicher’ Bestandteil”.26 Rosenzweig’s letters show he was unclear as to whether his use of the term in the Stern fit the sense that Ehrenberg intended.27 But we can readily recognize that Rosenzweig’s “metalogical” world preserves the structure Ehrenberg meant to introduce through the term, in which thought grasps itself as taking up a position within the very actual world it grasps. Schmied-Kowarzik has aptly suggested that the relation between thought and actuality which Ehrenberg designates in his “metalogic” likewise governs the relationship between Parts I and II of Der Stern, and the transition – via an “Umkehr” – from one to the next.28 My claim, however, is that Ehrenberg’s notion of metalogic influences the shape of Rosenzweig’s Stern in a far more pervasive and far-reaching manner than might be gathered from its narrow use in naming the elemental world. Ehrenberg’s notion of metalogic is essential to Rosenzweig’s attempt to articulate the systematic task of philosophy in the unique way that he does in the Stern. At the highest level, Rosenzweig shows system both to be complete and knowable in the present moment, and at once still yet to be fulfilled in the actual. The act of systematic knowing in the present stands within a cosmic course of actuality striving towards a redemptive unity which will be identifiable with God at this course’s redemptive end. Both in the way it conceives of the relation between knowledge and actuality, and in the way it identifies the redemptive unity of the whole of the actual with the divine, Rosenzweig’s conception of systematicity finds its roots in Ehrenberg’s metalogic. At the same time, Rosenzweig draws implications from Ehrenberg’s account of metalogic and systematicity in Parteiung which Ehrenberg himself does not draw. 26

Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, p. 15. Shortly after completing the introduction to the first part of Der Stern, on 8 September 1918, Rosenzweig asks Ehrenberg to read what he’s written, in order to verify “ob du das Metalogische so sehr als deinen Begriff conform erkennst, dass ich dich zitieren könnte,” Rosenzweig, Briefe und Tagebücher II, p. 606. 28 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hans Ehrenbergs Einfluss, p. 84: “Hier kann nur festgehalten werden, dass Rosenzweig mit dem ersten Tel des Stern einen dreifachen, allerdings miteinander verknüpften Ausbruch aus der idealistischen Philosophie vorzulegen versucht, der zugleich auch die ‘immerwährenden Elemente’ – Gott, Welt, Mensch – freilegt, mit denen philosophisches Denken immer schon operiert und zu denen es von sich aus vorzustossen vermag. Die Umwendung zu einem wirklichen Philosophieren in der Wirklichkeit – im Sinne Ehrenbergs – zur positiven Philosophie – im Sinne Schellings – ist damit noch nicht vollzogen, den dazu bedarf es einer ‘Umkehr’ im Denken vom Begreifenwollen der Erkenntnis des All zum Erfahren des sich Offenbarenden.” 27

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Recall what I designated above as the “practical” side of the Stern’s systematic task. In the Stern, the completion of the system of knowledge within the system of actuality places demands on the thinker and reader, not only to think and to know, but to act in a certain way, to decide for or against the redemptive realization of the system in the actual. In this context, the futurity of systematic unity plays a more vital role for Rosenzweig than it does for Ehrenberg.29 This futurity allows for the reconciliation of the diversity of particulars in the present with the future unity of the whole. It thereby allows for the acknowledgement of finitude, of the earthly character of the human being thinking systematically. I will return to this point shortly. Rosenzweig’s insistence on the futurity of systematic unity in the Stern amounts to Rosenzweig’s own fusion of Hegel and Kantianism and thus may also be said to be true to Ehrenberg’s early philosophical project. Rosenzweig rejects Hegel’s systematic Absolute standpoint which claims to grasp unity in the present because such present unity reduces difference to Absolute unity. Rosenzweig projects the completion of the system into the future, in part on the model of neo-Kantianism.30 On the other hand, Rosenzweig is critical of neo-Kantian notions of “open” systems or of the completion of system as an infinite task.31 Rosenzweig seeks a system that is both closed, complete, and yet whose completion is deferred to the future – a system that is both Hegelian and Neo-Kantian at once.32 Now, preserving the individual human being from the totalizing forces of Idealist systems is not Ehrenberg’s concern in the Parteiung. But the structure of system Ehrenberg envisions makes it possible for Rosenzweig to address the place of the individual, finite human being within the system in a new way. Rosenzweig’s systematic thinker, who thinks systematically from the middle of the All, may indeed learn to fly one day. But on that future redemptive day, there will no longer be any need for systems.

29 Although perhaps it is better to say futurity plays a more practical role rather than a more vital role, since situating philosophy within the actual is what allows for and demands the free development of the individual empirical sciences in Ehrenberg’s account, a process which of course is future-directed. See Hans Ehrenberg, Parteiung der Philosophie, p. 99. 30 We are in urgent need of a future study that would determine the relation of Rosenzweig’s thought to Southwest Neo-Kantianism, both indirectly, through his relation to Hans Ehrenberg, and directly, through his connections to Heinrich Rickert and Jonas Cohn. 31 Cf. Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Zweistromland, pp. 41 – 44; Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, pp. 252 – 54. 32 But see Krijnen, Rosenzweigs ‘Stern der Erlösung’, closing pages of ch. 2 and beginning of ch. 3. Krijnen makes a compelling case for rejecting as simplistic and unhelpful the conventional distinction between the closedness of the Hegelian system and the openness of the Neo-Kantian.

Von Hegel zu Rosenzweig – und zurück Unzeitgemäße Bemerkungen Myriam Bienenstock Franz Rosenzweig, dessen Namen im Untertitel dieses Bandes erscheint, ist sehr einflussreich gewesen – insbesondere in Frankreich: schon im Vorwort seines berühmten Werks Totalität und Unendlichkeit gesteht Levinas, dass Der Stern der Erlösung, das Meisterwerk von Rosenzweig, „zu häufig in diesem Buch gegenwärtig ist, um zitiert zu werden“1, und tatsächlich wird der Kenner des Stern den Einfluss von Rosenzweig fast bei jedem Gedanken, jeder Idee, die von Levinas eingeführt wird, erkennen: Metaphysik, Eschatologie, Gesicht, Ich und Du, der Andere, Wir und die Anderen, usw. Dies gilt auch für den Begriff des Systems, den Levinas mit demjenigen der Totalität gleichsetzt.2 Zwar kommen bei Levinas auch andere Einflüsse ins Spiel, nicht nur derjenige von Rosenzweig – insbesondere der von Alexandre Kojève, von welchem sich Levinas schroff absetzt. Hinter all diesen Einflüssen profiliert sich aber regelmäßig der große Schatten Hegels. Dieser Schatten profiliert sich auch hinter Rosenzweig selbst. Dieser Tatbestand ist wohl bekannt, und auch verständlich – hatte doch Rosenzweig über Hegel promoviert, mit einer Arbeit, welche später zum Buch erweitert und unter dem Titel Hegel und der Staat (1920) veröffentlicht wurde.3 In seinem Stern und in dem „Neuen Denken“, das er einführen möchte, bezieht Rosenzweig zwar Distanz zu Hegel, und die meisten Leser und Interpreten seiner Schriften folgen ihm in der Darstellung einer Entwicklung, die ihn weit weg von Hegel geführt hätte. Doch bei vielen unter ihnen blieb die Vermutung wach, dass Rosenzweig immer wieder zu Hegel zurückkehrte, und dass sich dessen Einfluss bis zum Ende von Rosen1 Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/München, Karl Alber 1993, S. 31. 2 Vgl. z. B. die Stelle, in welcher sich Levinas wie folgt äußert: „Le travail auquel la matière résiste, bénéficie de la résistance des matériaux. La résistance est encore intérieure au même. Le négateur et le nié se posent ensemble, forment système, c’est-à-dire totalité.“ Levinas, Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité. La Haye, Nijhoff 1961, S. 11 – in der deutschen Übersetzung von Krewani (s. Anm. 1), S. 47: „die Materie widersteht der Arbeit; die Arbeit nutzt den Widerstand des Materials. Der Widerstand ist noch im Inneren des Selben. Das Verneinende und das Verneinte werden gemeinsam gesetzt; sie bilden ein System, d. h. eine Ganzheit“ (eher: „eine Totalität“, M. B.). 3 Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat. Bd. 1: Lebensstationen: (1770 – 1806); Bd. 2: Weltepochen: (1806 – 1831). München, Oldenbourg 1920 [= Nachdruck in einem Band: Aalen, Scientia 1982].

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zweigs Lebens behauptete. Vor ein paar Jahren ist Stéphane Mosès, ein anderer französischer Rosenzweig-Spezialist, sogar so weit gegangen, zu behaupten, Rosenzweig hätte Hegel in seinem Stern „beim Wort nehmen“ wollen : es wäre Rosenzweig keineswegs darum gegangen, „die Hegelsche Geschichtsauffassung als falsch zu erweisen, sondern ganz im Gegenteil zu zeigen, dass sie wahr ist, aber dies in noch höherem Masse als Hegel sich hätte träumen lassen“.4 So faszinierend diese These ist, scheint sie letztendlich doch zu weit zu gehen: als Rosenzweig die Passagen des Stern über die Geschichte und die Politik, insbesondere diejenigen über die „messianische Politik“5 schrieb, ist er ohne Zweifel davon überzeugt gewesen, dass er Hegel kritisiert und auf der Basis dieser Kritik eine andere Auffassung der Weltgeschichte dargeboten hätte: eine Konzeption, die für seine Zeit besser geeignet wäre, als diejenige Hegels. Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob und inwiefern sein „Neues Denken“ dem Denken Hegels, und seinem System, verpflichtet bleibt. Dieses Denken konnte Rosenzweig anhand eines Dialogs mit Hans Ehrenberg (1883 – 1958) entwickeln, einem seiner Vettern, den er stets als seinen wahren Lehrer in der Philosophie betrachtete. Hans Ehrenberg hat auch einen bedeutenden Beitrag zum Wiederaufleben der Hegel-Forschung in Deutschland geleistet – und es ist wichtig, diesen Punkt hervorzuheben, denn er wird viel zu oft vernachlässigt: Ehrenberg ist der erste gewesen, welcher bedeutende Manuskripte aus Hegels Jenaer Zeit ediert und veröffentlicht hat – er tat dies unter dem Titel Hegels erstes System.6 Dem Dialog mit Hans Ehrenberg braucht an dieser Stelle aber nicht weiter nachgegangen zu werden, da es hierzu neuere Arbeiten gibt.7 Eine Bemerkung sei indessen doch hinzugefügt,8 nämlich dass Ehrenberg und Rosenzweig Hegel ganz bewusst uminterpretiert haben. Im dritten Buch seiner Disputation, in welchem er sich mit Hegel auseinandersetzt, stellt Ehrenberg die Figur eines „Hegelianers“ dar. Diesen Hegelianer lässt er Folgendes sagen: „ich darf Sie bitten, mein Verhältnis zu Hegel nicht zu übertreiben. Oder, ich kann auch sagen: gerade als guter Hegelianer weiß ich, dass der Hegelianer nicht dasselbe ist wie Hegel.“

und ein paar Zeilen weiter fügt dieser „Hegelianer“ hinzu: 4 Das Zitat stammt aus dem wohl bekanntesten Buch von Stephane Mosès, L’ange de l’histoire (Paris 1992, S. 60 ff.). Deutsche Übersetzung: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Frankfurt, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1994, S. 54. 5 Vgl. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (Sigle: Stern). Frankfurt, Suhrkamp 1988, S. 364 f. 6 Hegels erstes System, nach den Handschriften der Königlichen Bibliothek in Berlin hrsg. von H. Ehrenberg und H. Link. Heidelberg, Winter 1915. 7 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber. Freiburg/München, Karl Alber 2006. Vgl. auch den Beitrag von Benjamin Pollock in diesem Band. 8 Vgl. hierzu ausführlicher mein Buch: Cohen face à Rosenzweig. Débat sur la pensée allemande. Paris, Vrin 2009, hier S. 170 – 172.

Von Hegel zu Rosenzweig – und zurück

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„wenn wir dazu kommen, Hegel mit der Eschatologie zu verbinden, […] das würde mich außerordentlich befriedigen. Das wäre eine glückliche Lösung.“9

Daraus darf geschlossen werden, dass Ehrenberg, und mit ihm auch Franz Rosenzweig, Hegel bewusst und absichtlich „eschatologisiert“ haben, auch wenn beide gewusst haben, dass die Hegelsche Geschichtsphilosophie letztendlich keine Eschatologie gewesen ist. Mit ihrer Lesart sind beide, insbesondere Rosenzweig, aber äußerst erfolgreich gewesen. Trotz oder wegen dieses Erfolges sei hier angeregt, zu Hegel zurückzukehren. Dies mag ganz „unzeitgemäß“ erscheinen, doch sei diese Anregung mit Hilfe eines französischen Kollegen noch stärker hervorgehoben: eines ausgesprochenen „Linkshegelianers“ namens Jean-Pierre Lefebvre (bekannt für seine Arbeiten zu Heine und Celan, besonders aber für seine erstklassigen Übersetzungen von Hegel und Marx, Hölderlin und Heine, Freud). Bei einem Vortrag an der Universität Tours hat Lefebvre die studentischen Hörer auf unkonventionelle Weise schlagartig darüber erhellt, was Hegel mit seinem „System“ wohl leisten wollte. Die Systematik Hegels, auch die Begriffe, welche die Armatur dieses Systems ausmachen, sind schwerfällig, und wirken heute noch stärker so als zu seiner Zeit: heute würde niemand mehr wagen, wie Hegel eine gesamte Enzyklopädie aufzubauen, mit Teilen – die Logik, die Philosophie der Natur, die Philosophie des Geistes – und Unterteilen, wie z. B. die drei Teile der Geistesphilosophie: „subjektiver Geist“, „objektiver Geist“, und sogar „absoluter Geist“. Dabei fällt einem ja das Buch, die Enzyklopädie, aus den Händen, noch bevor man es recht aufgemacht hat. Doch, so Lefebvre, müsste man es nicht flach auf den Tisch legen, sondern senkrecht halten – und aufrichten: dann entdeckt man plötzlich, dass Hegels System nichts weniger und nichts anderes ist, als eine Kathedrale, ein gotischer Dom; und – hier sei mit J.-P. Lefebvre Hegel zitiert: „in solchem Dom nun ist Raum für ein ganzes Volk. Denn hier soll sich die Gemeinde einer Stadt und Umgegend nicht um das Gebäude her, sondern im Innern desselben versammeln. Und so haben auch alle mannigfaltigen Interessen des Lebens, die nur irgend an das Religiöse anstreifen, hier nebeneinander Platz. Keine festen Abteilungen von reihenweisen Bänken zerteilen und verengen den weiten Raum, sondern ungestört kommt und geht jeder, mietet sich, ergreift für den augenblicklichen Gebrauch einen Stuhl, kniet nieder, verrichtet sein Gebet und entfernt sich wieder. Ist nicht die Stunde der großen Messe, so geschieht das Verschiedenste störungslos zu gleicher Zeit. Hier wird gepredigt, dort ein Kranker gebracht; dazwischen hindurch zieht eine Prozession langsam weiter; hier wird getauft, dort ein Toter durch die Kirche getragen; wieder an einem anderen Orte liest ein Priester Messe oder segnet ein Paar zur Ehe ein, und überall liegt das Volk nomadenmäßig auf den Knien vor Altären und Heiligenbildern. All dies Vielfache schließt ein und dasselbe Gebäude ein. Aber diese Mannigfaltigkeit und Vereinzelung verschwindet in ihrem steten Wechsel ebenso sehr gegen die Weite und Größe des Gebäudes; nichts füllt das Ganze aus, alles eilt vorüber, die Individuen mit ihrem Treiben verlieren sich und zerstäuben wie Punkte in die9 Hans Ehrenberg, Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus. Der Disputation drittes Buch: Hegel, München, Drei Masken Verlag 1925, S. 27.

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Myriam Bienenstock

sem Grandiosen, das Momentane wird nur in seinem Vorüberfliehen sichtbar, und darüberhin erheben sich die ungeheuren, unendlichen Räume in ihrer festen, immer gleichen Form und Konstruktion. Dies sind die Hauptbestimmungen für das Innere gotischer Kirchen.“10

Dies sind auch, mit wenigen Anpassungen, die Hauptbestimmungen vieler jüdischer Synagogen. In ihnen finden viele mannigfaltigen Interessen des Volks, oder der Gemeinde, einen Platz: dort wird gebetet … manchmal, man beschäftigt sich aber auch mit vielen ganz anderen Angelegenheiten. Man „lernt“ – sehr viel – man isst, man diskutiert – auch ganz viel – usw. Dass Rosenzweig dies erfahren konnte, scheint mir eindeutig, nicht so sehr in den deutschjüdischen „gotischen“ Synagogen, die damals existierten, sondern eher in den ganz kleinen, den jüdisch-polnischen „Stübchen“.11 Dies zu zeigen und zu erläutern, würde aber zu weit vom heutigen Thema weg führen. Ganz bei diesem Thema sind allerdings die beiden Punkte, die noch betont werden sollen, ohne dass sie hier voll entwickelt werden könnten. Der erste betrifft das „Gotische“, das in der Hegelschen Systemkathedrale, im Hegelschen „Systemdom“, steckt. Im 19. Jahrhundert hat es viele gegeben, welche sich von diesem „Gotischen“ befreien wollten: das System wollten sie nicht mehr, nur noch Inhalte, d. h. vereinzelte Lehren, möglichst empirische, und überhaupt ohne Metaphysik. Das System wurde von ihnen als Steinbruch benutzt. Einer der Autoren, welcher in dieser Hinsicht besonders einflussreich gewesen ist, war Dilthey: Wilhelm Dilthey ist ein repräsentativer Autor der Jahrhundertwende gewesen – einer Zeit, die von dem Triumph verschiedener wissenschaftlichen „Positivismen“ gekennzeichnet war: er wollte einen Ansatz entwickeln, der seiner Zeit und ihren positivistischen Ansprüchen angemessener wäre. So hielt er es z. B. für sehr wichtig, die Hegelsche Unterscheidung zwischen einem so genannten „objektiven“ und einem „absoluten“ Geist, zwischen der historischen und politischen Wirklichkeit einerseits und der Kunst, der Religion und der Philosophie andererseits, aufzuheben. Den „metaphysischen“ Charakter der Hegelschen Unterscheidung – und unter „metaphysisch“ verstand Dilthey, gemäß den Vorurteilen seiner Zeit, etwas ganz Negatives – hat er bemängelt12: also bitte, keine Kathedrale!

10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke in zwanzig Bänden, Theorie Werkausgabe. Frankfurt, Suhrkamp 1970, Bd. 14, S. 340 f. 11 Rosenzweigs Mutter Adele berichtete gegenüber Nahum Glatzer, dass es die Erlebnisse in einer solchen Synagoge waren, am Tage des Versöhnungsfestes (Jom Kippur) des Jahres 1913, die ihren Sohn zu seiner Entscheidung führten Jude zu bleiben oder vielleicht genauer zu einem gelebten Judentum zurückzukehren; vgl. Nahum N. Glatzer, Franz Rosenzweig. His Life and thought. New York, Schocken 1953, S. XVIII. 12 Ausführlicher hierüber in meinen Aufsätzen: Qu’est-ce que l‘esprit objectif selon Hegel? in: Hegel: droit, histoire, société, hg. von Norbert Waszek. Paris, PUF 2001 (Revue germanique internationale, Nr. 15), S. 103 – 126; und: Du métaphysique au transcendantal – et retour, in: Hegel avec ou sans métaphysique, hg. von Jean-François Kervégan. Paris, Ed. du CNRS (im Druck).

Von Hegel zu Rosenzweig – und zurück

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Die bemerkenswerte Tatsache verdient hervorgehoben zu werden, dass Rosenzweig – auch wenn er Dilthey gegenüber immer vorsichtig blieb: Dilthey war an der deutschen Universität sehr einflussreich, besonders in Berlin – jene „positivistischen“ Ansprüchen nicht akzeptierte: in seinem Vorwort zu Hegel und der Staat aus dem Jahr 1920 merkt er an, dass Dilthey „empfänglich, allzu empfänglich war für die echten Ausgeburten des neuen Geistes, Positivismus und Empirismus“. Und er fügt hinzu, dass Dilthey Zeit seines Lebens von einem tiefen Glauben an die „Kontinuität“ der deutschen Kultur getragen gewesen wäre, und dass dieser Glaube ihn von der Richtigkeit der Idee überzeugt hätte, die „Vergangenheit“ zu bewahren und die Vergangenheit in der Gegenwart zu bestätigen – trotz und gegen die sehr hellsichtige Auffassung, über die er selbst von dem Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart verfügte.13 Auch dieser Aspekt konnte Rosenzweig nicht gefallen. In diesem systematischen Punkt, so wie allgemeiner in seiner Auffassung des Verhältnisses von Staat und Religion, auch der jüdischen, ist Rosenzweig also viel näher bei Hegel geblieben, als gemeinhin akzeptiert wird. Das Verhältnis von Staat und Religion ist eines der Problemfelder zu welchem Hegel – auch Rosenzweig, und auch Hermann Cohen – weiterhin von großem Interesse und ganz aktuell sind, und die es deshalb verdienen, dass über sie gearbeitet und geforscht wird. Eine zweite Bemerkung zum Schluss: In seinem eigenen Werk hat Hegel selber keineswegs mit der „Kathedrale“, d. h. mit der Systematik, angefangen, die sich bei ihm ohnehin ständig und sehr stark geändert hat, sondern mit den „mannigfaltigen Interessen des Lebens“, auch den religiösen. In diesem Zusammenhang sollte immer an den wichtigen Brief erinnert werden, den Hegel am 2. November 1800 an Schelling schrieb, also in zeitlicher Nähe zu seinem Übergang nach Jena und damit zu seinem System: „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, musste ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters musste sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln.“14

Auch wenn ein „System“, oder so etwas wie ein systematisches Denken, wohl in jedem echt philosophischen Denken immer vorhanden ist, und ohne in Zweifel ziehen zu wollen, dass das System für Hegel von großer Bedeutung ist, wirft es also erhebliche Probleme auf, direkt mit dem „System“, also mit der Idee eines Systems, anzufangen, ohne immer auch den Weg zum System mitzudenken.

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Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat (1982, s. o. Anm. 3), S. X. Briefe von und an Hegel. Bd. 1: 1785 – 1812, hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg, Felix Meiner 1952, S. 59. 14

Configuration of Untruth in the Mirror of God’s Truth: Rethinking Rosenzweig in Light of Heidegger’s Ale¯theia Elliot R. Wolfson “Die nackte Wahrheit ist nicht lebensfähig, und die nackte Unwahrheit auch nicht. Sie brauchen beide Kleider, um sich zu wärmen. Aber bekleidet sehen sie gar nicht mehr so verschieden aus […]. Aber die jüdische Wirklichkeit läßt die beiden, jene Wahrheit und diese Unwahrheit, aufeinander angewiesen sein.” (Franz Rosenzweig, Neuhebräisch? Anläßlich der Übersetzung von Spinozas Ethik)

Any reader of Franz Rosenzweig’s Der Stern der Erlösung well appreciates that the quest for truth is the author’s ultimate concern. At the end of the journey, Rosenzweig speaks of an eternal truth that comprehends the scope of truth as a whole, even if he continues to insist on an “epistemological incompleteness,”1 since the whole of truth is not accessible to us as finite beings subject to generation and decay except as a promise and hence as a presence that can be present only in the absence of its being fully present.2 Indeed, for Rosenzweig, the partiality of truth is a direct outcome of the correlative logic that demarcates the nature of being from the perspective of the relationality of events rather than the substantiality of essences.3 “The world is neither a shadow, nor a dream, nor a painting; its being is being-there, real being-there—created creation [ihr Sein ist Dasein, wirkliches Dasein—geschaffene Schöpfung]. The world is totally concrete [ganz gegenständlich], and all action in it, all ‘making,’ from the moment that it is in it, is supervening event. […] The world is made of things; in spite of the unity of its concrete reality, it does not constitute a single object but a multiplicity 1

Leora Batnitzky, Idolatry and Representation: The Philosophy of Franz Rosenzweig Reconsidered. Princeton University Press 2000, p. 70. 2 Kenneth H. Green, The Notion of Truth in Franz Rosenzweig’s The Star of Redemption: A Philosophical Enquiry, in: Modern Judaism 7 (1987), pp. 297 – 323, esp. 301 – 302. 3 The point is well summarized in the description of Rosenstock’s “philosophy of speech,” which had a great impact on Rosenzweig, by Alexander Altmann, About the Correspondence, in: Judaism Despite Christianity. The “Letters on Christianity and Judaism” between Eugen Rosenstock-Huessy and Franz Rosenzweig, edited by Eugen Rosenstock-Huessy. University of Alabama Press 1969, p. 30: “According to it, truth is revealed through speech as expressing the intercommunication of one mind with another. It is not the formal truths of logic in their timeless, abstract, systematic character that are really vital and relevant, but rather the truths that are brought out in the relationships of human beings with God and with one another— truths that spring from the presentness of time and yet reach into the eternal.” See Barbara E. Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi: Translating, Translations, and Translators, foreword by Paul Mendes-Flohr. McGill-Queen’s University Press 1995, pp. 340 – 341.

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of objects, precisely things. The thing does not possess stability as long as it is there quite alone. It is conscious of its singularity [Einzelheit], of its individuality [Individualität], only in the multiplicity of things [der Vielheit der Dinge]. The thing can be shown only in connection [Zusammenhang] with other things; it is determined by its spatial relationship with other things, within such a connection. Furthermore, as specific thing, it has no essence of its own, it does not exist in itself, it exists only in its relationships. The essence it has is not within it, but in the relationship it keeps according to its genus; it is behind its determination, and not in it that it must seek its essentiality [Wesentlichkeit], its universality [Allgemeinheit].”4

A consequence of this critique of essentialism and the ontology of substance implied thereby5 is that the “immediate sight” (unmittelbare Schau) of the “whole truth” is available exclusively to one “who sees it in God,” but this is “a seeing that is beyond life” (ein Schauen jenseits des Lebens). Rosenzweig asserts nonetheless that the “living seeing of the truth, a seeing that is life at the same time [Lebendiges Schauen der Wahrheit, ein Schauen, das zugleich Leben ist], thrives even for us only out of the sinking into our own Jewish heart [jüdisches Herz] and even there only in the image [Gleichnis] and likeness [Abbild].”6 The hermeneutic condition of human subjectivity, which is cast by Rosenzweig in the culturally-specific terms as a vision constricted to the Jewish heart, is such that the grasp on the essence of truth (Wesen der Wahrheit) in this world—a seeing within of what is beyond—is always perspectival, and thus it can be envisaged only through the veil of the image and likeness, whence we must infer that reality is the appearance that appears to be real. Rosenzweig articulates this insight in somewhat more technical terms, which convey a theosophic tenor, when he writes that the eternal becomes configuration (Gestalt) in the truth that is the countenance (Antlitz) of this configuration, the shining of the divine face.7 Rendered epistemically, truth is, first and foremost, a matter of the virtuality of the image, which both manifests and conceals, indeed manifests to the extent that it conceals and conceals to the extent that it manifests. From this it follows that untruth is as

4 Franz Rosenzweig, The Star of Redemption, translated by Barbara Galli. University of Wisconsin Press 2005, pp. 144 – 145; idem, Der Stern der Erlösung, with an introduction by Reinhold Mayer (Der Mensch und Sein Werk: Gesammelte Schriften II). The Hague 1976, pp. 147 – 148. 5 The point, which has been noted by various scholars, is well expressed by Claudia Welz, Love’s Transcendence and the Problem of Theodicy. Tübingen 2008, pp. 189 – 190: “Rosenzweig’s project does not aim at a ‘true’ essence of God which had so far been misunderstood; even more radically, it aims at the abolition of all essentialism and of the ontology of substance that is usually linked to it. […] Accordingly, ‘the truth’ does not denote the correct cognizable information about what God, man, and the world ‘is.’ Rather, it denotes the right relationship between God, man, and the world.” 6 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 439; Stern der Erlösung, pp. 462 – 463. 7 Star of Redemption, p. 441; Stern der Erlösung, p. 465. On the different dimensions of the concept of the Gestalt in Rosenzweig, see Michal Schwartz, Metapher und Offenbarung: Zur Sprache von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung. Berlin 2003, pp. 193 – 215.

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much a part of the framing of truth as truth itself.8 Or, in the anti-Hegelian formulation of Kierkegaard, which may have influenced Rosenzweig,9 apropos of the immediacy of experience, the truth arises by way of the untruth because the moment one inquires about truth, one has already asked about the untruth.10 Responding to the question if truth is God, Rosenzweig tellingly writes: “Truth is not God. God is truth. In order to link up first of all with what was last said: Not truth itself is enthroned above reality, but God, because he is truth. Because truth is his seal, he can be One above the All and One of reality [kann er Einer sein über dem All und Einen der 8 I am here reworking my comments in the introduction to Galli’s translation of the Star of Redemption, pp. xvii-xviii. 9 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 13; Stern der Erlösung, pp. 7 – 8, refers to Kierkegaard as one who resisted Hegel’s integration of revelation into the knowable All. See also Star of Redemption, p. 25; Stern der Erlösung, p. 20. The affinities between Kierkegaard and Rosenzweig have been noted by a number of scholars. See Michael Oppenheim, Søren Kierkegaard and Franz Rosenzweig: The Movement from Philosophy to Religion. Ph. D. dissertation, University of California, Santa Barbara 1976; Welz, Love’s Transcendence, pp. 88 – 276; idem, Selbstwerdung im Angesicht des Anderen: Vertrauen und Selbstverwandlung bei Kierkegaard und Rosenzweig, in: Wir und die Anderen / We and the Others, edited by Martin Brasser and Hand Martin Dober. Freiburg/Munich 2010, pp. 68 – 83; idem, Franz Rosenzweig: A Kindred Spirit in Alignment with Kierkegaard, in: Kierkegaard and Existentialism, edited by Jon Stewart. Surrey 2011, pp. 299 – 321 (Rosenzweig’s explicit references to Kierkegaard are listed on pp. 299 – 301). On p. 319, Welz lists several desiderata for future research, and the first of them is “to inquire into the topic of ‘truth’ in Kierkegaard and Rosenzweig, in a comparison of the Concluding Unscientific Postscript and the Star of Redemption. Both authors thematize the problem of the objectivity or subjectivity of truth and see human existence proceeding on a path that leads from a state of untruth to a participation in divine truth without ever ‘having’ it on one’s own.” See also Karl Löwith, F. Rosenzweig and M. Heidegger on Temporality and Eternity, in: Philosophy and Phenomenological Research 3 (1942), pp. 76 – 77; idem, Nature, History, and Existentialism, edited by Arnold Levison. Northwestern University Press 1966, pp. 77 – 78; Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, p. 305; Paul Ricouer, Figuring the Sacred: Religion, Narrative, and Imagination, translated by David Pellauer, edited by Mark I. Wallace. Minneapolis 1995, p. 103. 10 Søren Kierkegaard, Philosophical Fragments; Johannes Climacus, edited and translated with introduction and notes by Howard V. Hong and Edna H. Hong. Princeton University Press 1987, p. 167. The text is cited and analyzed in Elliot R. Wolfson, A Dream Interpreted within a Dream: Oneiropoiesis and the Prism of Imagination. New York 2011, pp. 47 – 48. See also Kierkegaard, Concluding Unscientific Postscript to Philosophical Fragments, vol. 1: Text, edited and translated, with introduction and notes, by Howard V. Hong and Edna H. Hong. Princeton University Press 1992, p. 207: “So, then, subjectivity, inwardness, is truth. Is there a more inward expression for it? Yes, if the discussion about ‘Subjectivity, inwardness, is truth’ begins in the way: ‘Subjectivity is untruth.’ […] Viewed Socratically, subjectivity is untruth if it refuses to comprehend that subjectivity is truth but wants, for example, to be objective. Here, on the other hand, in wanting to begin to become truth by becoming subjective, subjectivity is in the predicament of being untruth” (emphasis in original). See ibid., p. 213: “It cannot be expressed more inwardly that subjectivity is truth than when subjectivity is at first untruth, and yet subjectivity is truth.” On the art of genius “to deceive people into the truth,” see Kierkegaard, The Book on Adler, edited and translated, with introduction and notes, by Howard V. Hong and Edna H. Hong. Princeton University Press 1998, p. 171. Compare the analysis of deception, truth, and metaphorical communication in Jamie Lorentzen, Kierkegaard’s Metaphors. Mercer University Press 2001, pp. 27 – 67.

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Wirklichkeit]. Truth is the scepter of his reign. […] Therefore God must be ‘more’ than truth, as every subject is more than its predicate, each thing is more than its concept.”11

Prima facie, the opening sentence is perplexing: how can it be that God is truth but that truth is not God? What are we to make of this distinction? Should we not presume that the symmetric property encoded in the elementary syllogism, “If A is B, then B is A,” would apply to the propositions “God is truth” and “Truth is God?” Consider, for example, the statement of Hermann Cohen, “Truth is God’s Being. […] God is truth; this means for us: only the connection of theoretical and ethical knowledge, only the connection of both sources of the scientific consciousness, is able to fulfill the idea of God.”12 One would have plausibly expected Rosenzweig to affirm in a comparable manner that if God is truth, then truth is God. What, then, is the import of the asymmetry? Surely, Rosenzweig accepts that anything that partakes of the divine must be true. Consider his comment on Halevi’s poem that begins be-khol libbi emet u-ve-khol me’odi, to which he gives the title Der Wahre: “This poem is an address to Truth, or the One who is True (Dies Gedicht ist eine Anrede an die Wahrheit, oder an Den, der wahr ist)—both are the same thing in the Hebrew language and for Jewish feeling. That is, neither of them make the concept of truth separate; he who says ‘Truth’ knows that God is it [wer ‘Wahrheit’ sagt, weiß daß Gott sie ist].”13 Rosenzweig insists nonetheless that God exceeds the delimitation of truth. This is the import of his utilization of the rabbinic maxim that truth is God’s seal (chotamo shel haqadosh barukh hu emet)14—the king is not identical with his seal even if the latter is invested with all the power and authority of the former. For Rosenzweig, the seal, which is the truth, denotes God’s relationship to the totality and unity of the world, that by which eternity is made known in time,15 but God is the “glory above the All and One” (Herrlichkeit über das All und Eine),16 the eternality that supersedes life, even eternal life; indeed, God is light (Licht) and not life (Leben), for “he is as little alive as he is dead [er ist so wenig lebendig wie er tot ist] […] and to state one or the other about him […] betrays equal pagan partiality [gleiche heidnische Befangenheit].”17 If we were to equate God’s essence with the truth, there would still remain a “surplus” (Überschuß) that is “beyond his essence” (über sein Wesen).18 11

Rosenzweig, Star of Redemption, pp. 408 – 409; Stern der Erlösung, p. 429. Hermann Cohen, Religion of Reason Out of the Sources of Judaism, translated, with an introduction by Simon Kaplan, introductory essay by Leo Strauss, introductory essays for the second edition by Steven S. Schwarzschild and Kenneth Seeskin. Atlanta 1995, p. 414. 13 Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, p. 199; German original: Franz Rosenzweig, Jehuda Halevi. Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte, edited by Reinhold and Annemarie Mayer (Gesammelte Schriften IV. 1). Dordrecht 1984, p. 54. 14 Babylonian Talmud, Shabbat 55a; Yoma 69b; Sanhedrin 64a. 15 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 403; Stern der Erlösung, p. 423. 16 Star of Redemption, p. 408; Stern der Erlösung, p. 428. 17 Star of Redemption, p. 403; Stern der Erlösung, p. 423. 18 Star of Redemption, p. 409; Stern der Erlösung, p. 429. 12

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The “factuality of truth” (Tatsächlichkeit der Wahrheit) is such that the trust it demands leads it to confess “that it is not God [daß sie nicht Gott ist]. It is not it that is God [Nicht sie ist Gott]. But God is truth. And for its truth, truth must cite this—not that it is truth, much less that it is God, but that God is truth.”19 When properly understood, the statement that God is truth implies that truth is from God—like the illumination that originates from the light20—but not that truth is God, an axiom that Rosenzweig refers to as the “sentence of idealism,” which is as absurd and false as the Buddhist belief that “the nothing is God” (das Nichts ist Gott).21 The point is reiterated in the penultimate paragraph of the book: “In the innermost sanctuary of divine truth where he would expect that all the world and he himself would have to be relegated to the metaphor for which he will behold there, man beholds nothing other than a countenance like his own [ein Antlitz gleich dem eigenen]. The Star of Redemption has become countenance that looks upon me and from out of which I look. Not God, but God’s truth, became the mirror for me [Nicht Gott, aber Gottes Wahrheit ward mir zum Spiegel]. God, who is the first and the last, opened the doors of the sanctuary for me that is built in the innermost center. He let himself be seen. He led me to the border of life [Grenze des Lebens] where the sight is allowed. For no man who sees Him remains alive. So that sanctuary wherein he allowed me to see had to be a piece of the supra-world within the world itself, a life beyond life [ein Leben jenseits des Lebens].”22

To pass through the gate is to discern that knowing God consists of beholding the showing of the divine countenance. Attempting to comply with the scriptural response of God to Moses, “You cannot see my face, for man may not see me and live” (Exodus 33:20), Rosenzweig locates the vision at the “border of life,” the point of liminality whence one can preview the supra-world in this world, a foretaste of the life beyond life. In this seeing occasioned by the reciprocal mirroring of the divine and human faces, the difference between truth and appearance is effaced to the extent that what is true is nothing more than what appears to be true. There may be a being that transcends the spatio-temporal world but it can be specularized phenomenally only by a particular human subjectivity. Truth, accordingly, is not a matter of correspondence between object and idea, but an unveiling of the veiled that transpires within the mutual appearing and disappearing that ensues between God and the soul. That Rosenzweig was aware of the potential difficulty with this view is attested in his insistence that the truth revealed in redemption “surely does not turn into non-real truth [uneigentliche Wahrheit] by the fact that this countenance turned toward us, that God’s share falls to our share; for even as real and most real truth it would be nothing other than—part and countenance.”23 That the divine truth is beheld only as manifest in relation to and in the 19

Star of Redemption, pp. 410 – 411; Stern der Erlösung, pp. 431 – 432. Star of Redemption, p. 411; Stern der Erlösung, pp. 432. 21 Star of Redemption, p. 412; Stern der Erlösung, p. 433. 22 Star of Redemption, p. 446; Stern der Erlösung, p. 471. 23 Star of Redemption, p. 441; Stern der Erlösung, p. 465. 20

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very image of a human recipient does not diminish the truthfulness of what is manifest. The truth that discloses itself as the face cannot be confronted but as the face that discloses the truth. Just as in a speculum the image is real, so in the matter of divine revelation, there is no truth apart from the showing but in the showing the real is the image.24 This, I surmise, is the intent of Rosenzweig’s statement: “In granting the fact that the existence of truth cannot be denied, there is also granted the fact that there is also untruth. The undeniability of truth [Unleugbarkeit der Wahrheit] and the undeniability of untruth [Unleugbarkeit der Unwahrheit] are inseparable as facts.”25 We tend to privilege the former over the latter by imparting trust to truth and shunning untruth as error, but, in truth, the two are indissoluble. With respect to the intermingling of truth and untruth, being and semblance, there is a conceptual kinship between Rosenzweig and Heidegger,26 for whom un-truth 24 Elliot R. Wolfson, Light Does Not Talk But Shines: Apophasis and Vision in Rosenzweig’s Theopoetic Temporality, in: New Directions in Jewish Philosophy, edited by Aaron W. Hughes and Elliot R. Wolfson. Indiana University Press 2009, pp. 102 – 107. 25 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 410; Stern der Erlösung, p. 431. 26 The intellectual convergences and divergences between Heidegger and Rosenzweig have been made by a number of scholars: Löwith, F. Rosenzweig and M. Heidegger on Temporality and Eternity, pp. 53 – 77; idem, M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu ‘Sein und Zeit’, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 12 (1958), pp. 161 – 187; idem, Nature, History, and Existentialism, pp. 51 – 78; Julius Guttmann, Philosophies of Judaism: The History of Jewish Philosophy from Biblical Times to Franz Rosenzweig, introduction by R. J. Zwi Werblowsky, translated by David W. Silverman. New York 1964, pp. 368 and 448 n. 42; Rivka Horwitz, Franz Rosenzweig on Language, in: Judaism 13 (1964), pp. 402 – 403; ElseRahel Freund, Franz Rosenzweig’s Philosophy of Existence: An Analysis of The Star of Redemption. The Hague 1979, pp. 7 – 8, 89, 132, 146; Steven S. Schwarzschild, Franz Rosenzweig and Martin Heidegger: The German and the Jewish Turn to Ethnicism, in: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886 – 1929): Internationaler Kongreß-Kassel 1986, edited by Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. 2 vols., Freiburg/Munich 1988, pp. 887 – 889; Alan Udoff, Rosenzweig’s Heidegger Reception and the re-Origination of Jewish Thinking, in: Der Philosoph Franz Rosenzweig, pp. 923 – 950; Stéphane Mosès, System and Revelation: The Philosophy of Franz Rosenzweig, foreword by Emmanuel Lévinas, translated by Catherine Tihanyi. Wayne State University Press 1992, pp. 291 – 293; Richard A. Cohen, Authentic Selfhood in Heidegger and Rosenzweig, in: Human Studies 16 (1993), pp. 111 – 128; Paul Ricoeur, Figuring the Sacred: Religion, Narrative, and Imagination, translated by David Pellauer, edited by Mark I. Wallace. Minneapolis 1995, p. 104; Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, pp. 304 – 305; Peter E. Gordon, Rosenzweig and Heidegger: Translation, Ontology, and the Anxiety of Affiliation, in: New German Critique 77 (1999), pp. 113 – 148; idem, Rosenzweig and Heidegger: Between Judaism and German Philosophy. University of California Press 2003; idem, Redemption in the World: Authenticity and Existence in Rosenzweig and Heidegger, in: Franz Rosenzweigs »neues Denken«, pp. 203 – 215; idem, Franz Rosenzweig and the Philosophy of Jewish Existence, in: The Cambridge Companion to Modern Jewish Philosophy, edited by Michael L. Morgan and Peter E. Gordon. Cambridge University Press 2007, pp. 130 – 131; Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Dasein als ‘je meines’ oder Existenz als Aufgerufensein. Zur Differenz existenzphilosophischer Grundlegungen bei Martin Heidegger und Franz Rosenzweig, in: Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Hedieggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, edited by Johannes Weiss. Konstanz 2001, pp. 197 – 217; Bernhard Casper, Das dialogische Denken. Eine Un-

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(Un-wahrheit) as the concealment (Verborgenheit) that is the un-disclosedness (Unentborgenheit) belongs most properly to the essence of truth as disclosedness (Entborgenheit).27 This insight became especially pronounced in the later writings of Heidegger, but it is already in evidence in Heidegger’s argument in Being und Time that with respect to Dasein authenticity cannot be severed from inauthenticity. As Gadamer rightly noted in “Hermeneutics and Historicism,” the 1965 supplement to Truth and Method, the inseparability of the two is not only because fallenness is an inherent part of human existence, but because they have the “same origin” in the “first form in which […] being itself has come into language in its antithetical nature of ‘revelation’ tersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers. Freiburg/Munich 2002, pp. 74, 81, 83 – 84 n. 32, 100 n. 48, 120, 130, 139 n. 79, 143 n. 87, 174 – 175, 333 – 335; idem, ‘Ereignis’: Bemerkungen zu Franz Rosenzweig und Martin Heidegger, in: Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott: Festschrift für Stéphane Mosès, edited by Jens Mattern, Gabriel Motzkin, and Shimon Sandbank. Berlin 2000, pp. 67 – 77 (reprinted in Casper, Religion der Erfahrung. Einführung in das Denken Franz Rosenzweigs. Paderborn 2004, pp. 85 – 100); Hassan Givsan, Rosenzweig und Heidegger, in: Franz Rosenzweigs »neues Denken«, pp. 179 – 202; Martin Brasser, Die verändernde Kraft des Wörtchens ‘ist’: Heideggers Kasseler Vorträge und Rosenzweigs neues Denken, in: Franz Rosenzweigs »neues Denken«, pp. 216 – 227; Wayne J. Froman, Rosenzweig and Heidegger on ‘the Moment’ (‘der Augenblick’), in: Franz Rosenzweigs »neues Denken«, pp. 228 – 246; Jules Simon, Art and Responsibility: A Phenomenology of the Diverging Paths of Rosenzweig and Heidegger. New York 2011. Consider the reservations (aimed primarily at Casper) expressed by Harold M. Stahmer, ‘Speech-Letters’ and ‘Speech-Thinking’: Franz Rosenzweig and Eugen Rosenstock-Huessy, in: Modern Judaism 4 (1984), p. 61. 27 Martin Heidegger, Pathmarks, edited by William McNeill. Cambridge University Press 1998, p. 148; idem, Wegmarken [GA 9]. Frankfurt am Main 1996, p. 193. The comparison of the understanding of revelation (Offenbarung) as unhiddenness in Rosenzweig and Buber, on the one hand, and the notion of truth (ale¯theia) as disclosure (Entdeckung) in Heidegger, on the other hand, is briefly noted by Gordon, Rosenzweig and Heidegger, pp. 268 – 269. Heidegger’s notion of truth as unconcealment has been the focus of many studies of which I will here mention a few representative examples: Marvin Farber, Heidegger on the Essence of Truth, in: Philosophy and Phenomenological Research 18 (1958), pp. 523 – 532; John M. Anderson, Truth, Process, and Creature in Heidegger’s Thought, in: Heidegger and the Quest for Truth, edited with an introduction by Manfred S. Frings. Chicago 1968, pp. 28 – 61; Joan Stambaugh, The Finitude of Being. State University of New York Press 1992, pp. 13 – 30; Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. Berlin 1967, pp. 389 – 393, 396 – 399, 402 – 403; idem, Heidegger’s Idea of Truth, in: The Heidegger Controversy: A Critical Reader, edited by Richard Wolin. MIT Press 1993, pp. 245 – 263, and the discussion in Santiago Zabala, The Hermeneutic Nature of Analytic Philosophy: A Study of Ernst Tugendhat, foreword by Gianni Vattimo. Columbia University Press 2008, pp. 25 – 44; Daniel O. Dahlstrom, Heidegger’s Concept of Truth. Cambridge University Press 1994, pp. 182, 214, 223 – 231, 238 – 240, 291 – 292, 300 – 301, 314 – 315, 322 – 325, 389 – 392, 397 – 407, 431 – 432; Frederick A. Olafson, Being, Truth, and Presence in Heidegger’s Thought, in: Inquiry 41 (1998), pp. 45 – 64; Miguel de Beistegui, Truth and Genesis: Philosophy as Differential Ontology. Indiana University Press 2004, pp. 122 – 130, 142 – 146, 153 – 154; Mark A. Wrathall, Heidegger, Truth, and Reference, in: Inquiry 45 (2002), pp. 217 – 228; idem, Heidegger on Plato, Truth, and Unconcealment: The 1931 – 32 Lecture on The Essence of Truth, in: Inquiry 47 (2004), pp. 443 – 463; idem, Heidegger and Unconcealment: Truth, Language, and History. Cambridge University Press 2011, pp. 11 – 39.

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and ‘concealment’.”28 Especially relevant is section 44 of Being and Time. Shunning the traditional correspondence theory of truth based on the agreement between the judgment of the subject and its object—epitomized in Aquinas’s formulation of the essence of truth as adaequatio intellectus et rei—Heidegger locates the “primordial phenomenon of truth” (ursprüngliche Phänomen der Wahrheit) in the disclosedness (Erschlossenheit) that is essential to the “basic constitution of Da-sein” as “being-in-the-world” (In-der-Welt-seins).29 To be true thus means “to-be-discovering” (entdeckend-sein), which Heidegger relates to the gestures of ale¯theuein and apophainesthai, the laying bare that lets beings be seen in their “unconcealment” (Unverborgenheit) or “discoveredness” (Entdecktheit). Truth as ale¯theia, argues Heidegger, is the primordial appropriation (ursprüngliche Aneignung) of the adequative conception of truth, that is, any statement of truth is a mode of appropriation of the more primary sense of truth as discoveredness, which is Dasein’s way of being-inthe-world.30 Heidegger goes so far as to say that truth so-conceived is a constitutive facet of the manner of the being of Dasein (Wahrsein als entdeckend-sein ist eine Seinsweise des Daseins),31 related even more specifically to the structure of care (Sorge), which “as being-ahead-of-itself [Sichvorweg]—already-being-in-theworld—as being together with innerworldly beings contains the disclosedness [Erschlossenheit] of Da-sein. With and through it is discoveredness [Entdecktheit]; thus only with the disclosedness of Da-sein is the most primordial phenomenon of truth attained.”32 Truth as disclosedness belongs essentially to the comportment of Dasein and hence we can say that “Da-sein is in the truth.”33 Yet, insofar as the existential-ontological condition of “falling prey” (Verfallen) likewise “belongs to the constitution of being of Da-sein,”34 we are perpetually lost in the world, lacking the perspicuity to occupy an absolute standpoint whence we could ascertain the truth without an admixture of untruth. Philosophers (and theologians) may like to pontificate about eternal verities, but the inescapable consequence of our finitude is that all truth is relative to the being of Da-sein.35 The relativity of truth, however, does not signify the subjectivity of all truth, if by the latter one means the arbitrariness of the subject. Rather what is implied is the epistemological perspectivism adopted by Nietzsche in his critique of the distinction between the true and the illusory. In Kantian terms, there is no 28

Hans-Georg Gadamer, Truth and Method, second, revised edition, translation revised by Joel Weinsheimer and Donald G. Marshall. New York 2011, p. 524. 29 Martin Heidegger, Being and Time: A Translation of Sein und Zeit, translated by Joan Stambaugh. State University of New York Press 1996, § 44, pp. 198 – 201; idem, Sein und Zeit. Tübingen 1993, § 44, pp. 214 – 219. 30 Being and Time, § 44, pp. 201 – 202, 208; Sein und Zeit, § 44, pp. 219 – 220, 226. 31 Being and Time, § 44, p. 202; Sein und Zeit, § 44, p. 220. 32 Being and Time, § 44, p. 203 (emphasis in original); Sein und Zeit, § 44, pp. 220 – 221. 33 Being and Time, § 44, p. 203; Sein und Zeit, § 44, p. 221. 34 Being and Time, § 44, p. 214; Sein und Zeit, § 44, p. 221. 35 Being and Time, § 44, p. 208; Sein und Zeit, § 44, p. 227.

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noumenal reality beyond the phenomenal appearance—the opposite of the phenomenal world would not be the “true world” but a “formless, unformulatable world of the chaos of sensations”36—and this implies that the phenomenal itself should not be reified as something true that exhibits unconditional value,37 or as Nietzsche put it in one aphorism, the concept “appearance” itself disappears when one is cognizant of the untenability of the antithesis between the thing-in-itself and appearance.38 The Nietzschean dimension of the passage in Being and Time is illumined by a comment that Heidegger made in the seminar on The Will to Power (1936 – 37) concerning Nietzsche’s remark that the word “semblance” (Schein) means the “actual and sole reality of things”: “That should be understood to mean not that reality is something apparent, but that beingreal is in itself perspectival, a bringing forward into appearance, a letting radiate; that is in itself a shining. Reality is radiance. […] Reality, Being, is Schein in the sense of perspectival letting-shine. But proper to that reality at the same time is the multiplicity of perspectives, and thus the possibility of illusion and of its being made fast, which means the possibility of truth as a kind of Schein in the sense of ‘mere’ appearance. If truth is taken to be semblance, that is, as mere appearance and error, the implication is that truth is the fixed semblance which is necessarily inherent in perspectival shining—it is illusion.”39

It is precisely this illusionary nature of truth to which Heidegger alludes when he writes in Being and Time of the invariable amalgamation of truth and untruth: “What is discovered and disclosed stands in the mode in which it has been disguised and closed off by idle talk, curiosity, and ambiguity. […] Beings are not completely concealed, but precisely discovered, and at the same time distorted. They show themselves, but in the mode of illusion [Schein]. Similarly, what was previously discovered sinks back again into disguise [Verstelltheit] and concealment [Verborgenheit]. Because it essentially falls prey to the world, Da-sein is in ‘untruth’ in accordance with its constitution of being. […] The full existential and ontological meaning of the statement ‘Da-sein is in the truth’ also says equiprimordially that ‘Da-sein is in untruth.’ But only insofar as Da-sein is disclosed, it is also closed off, and insofar as innerworldly beings are always already discovered with Da-sein, are such beings covered over (hidden) or disguised as possible innerworldly beings to be encountered. […] The fact that the goddess of truth who leads Parmenides places him before two paths, that of discovering and that of concealment, signifies nothing other than the fact that Da-sein is always already both in the truth and the untruth [das Dasein ist je schon in der Wahrheit und Unwahrheit]. […] The existential and ontological condition for the fact that being-in-the-world is determined by ‘truth’ and ‘untruth’ lies in the constitution of being of

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Friedrich Nietzsche, Writings from the Late Notebooks, edited by Rüdiger Bittner, translated by Kate Sturge. Cambridge University Press 2003, p. 161. 37 Ibid., p. 212. 38 Ibid., p. 154. 39 Martin Heidegger, Nietzsche, Volume I: The Will to Power as Art, translated with notes and an analysis by David Farrell Krell. New York 1979, p. 215.

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Da-sein which we characterized as thrown project [geworfener Entwurf]. It is a constituent of the structure of care.”40

The dual role of Dasein to be in truth and in untruth is linked philologically to the fact that the word for truth, ale¯theia, is a privative expression, and, as such, connotes the sense of unconcealing that is itself a manner of concealing.41 The human being cannot be in truth without also being in untruth. Every apprehension, accordingly, will be a misapprehension, every uncovering a cover-up, every disclosure a closing-over.42 It is important to recall Heidegger’s observation that Aristotle never defended the thesis that the primary locus of truth was in the judgement, but rather he affirmed that “the logos is the kind of being of Da-sein which can either discover [entdecken] or cover over [verdecken]. This double possibility is what is distinctive about the truth of the logos; it is the attitude which can also cover over.”43 In his later work, subsequent to the so-called Kehre, the turn in the 1930 s, Heidegger developed this conception of truth as unconcealment (ale¯theia), the lettingappear that occurs within the clearing or the lighting-up (Lichtung). He insists, time and again, that every disclosure is concomitantly an occlusion, since what is disclosed is also hidden, and thus the showing-forth is always an act of dissembling, the manifestation a concealment of the concealing.44 In The Essence of Truth (1931 – 32), Heidegger writes: “This antagonism between what is manifest [dem Offenbaren] and what is covered up [dem Verdeckenden], shows that the matter at issue is not the mere existence of unhiddenness as such. On the contrary, unhiddenness, the self showing of the shadows, will cleave more firmly to itself without knowing that the manifestness of beings occurs only through the overcoming of concealing [die Offenbarkeit des Seienden wird eine solche nur in der Überwindung des Verbergens]. Truth, therefore, is not just unhiddenness of beings such that the previous hiddenness is done away with, but the manifestness of beings is in itself necessarily an overcoming of a concealment [sondern Offenbarkeit von Seiendem ist notwendig in sich selbst Überwindung einer Verbergung]. Concealment belongs essentially to unhiddenness 40 Heidegger, Being and Time, § 44, pp. 204 – 205 (emphasis in original); Sein und Zeit, § 44, pp. 222 – 223. 41 On concealing and revealing in Heidegger’s thought, see Loy M. Vail, Heidegger and Ontological Difference. Pennsylvania State University Press 1972, pp. 25 – 46; Carlo Sini, Images of Truth: From Sign to Symbol, translated by Massimo Verdicchio. Atlantic Highlands 1993, pp. 63 – 68; Gert-Jan van der Heiden, The Truth (and Untruth) of Language: Heidegger, Ricouer, and Derrida on Disclosure and Displacement. Duquesne University Press 2010, pp. 38 – 45. 42 William J. Richardson, S. J., Heidegger Through Phenomenology to Thought, preface by Martin Heidegger, third edition. The Hague 1974, p. 96. 43 Heidegger, Being and Time, § 44, p. 207 (emphasis in original); Sein und Zeit, § 44, pp. 226. 44 Robert Bernasconi, The Question of Language in Heidegger’s History of Being. Atlantic Highlands 1985, pp. 15 – 27, and especially p. 87: “What conceals itself in aletheia, as a trace, is lethe, concealment. Lethe is the heart of aletheia […] A-letheia says ‘unconcealment,’ but at the same time says this pervasive concealment.”

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[die Verbergung gehört wesensmäßig zur Unverborgenheit], like the valley belongs to the mountain. […] Deconcealing [Entbergen] is in itself a confrontation and struggle against concealing [Verbergen]. Hiddenness [Verborgenheit] is always and necessarily present at the occurrence of unhiddenness [Geschehen der Unverborgenheit], it asserts itself unavoidably in the unhiddenness and helps the latter to itself. […] But in relationship to truth this is not-unhiddenness [Nicht-Unverborgenheit], not-truth [Nicht-Wahrheit], i. e. untruth [Unwahrheit] in the broad sense. The question of the essence of truth therefore changes into the question of untruth.”45

Reiterating the theme in “The Origin of the Work of Art” (1935 – 36), Heidegger wrote, “Each being we encounter and which encounters us keeps to this curious opposition of presence in that it always withholds itself at the same time in a concealedness. The clearing in which beings stand is in itself at the same time concealment [Die Lichtung, in die das Seiende hereinsteht, ist in sich zugleich Verbergung].”46 In the unconcealedness of beings, everything that appears “presents itself as other than it is [es gibt sich anders, als es ist]. […] Concealment conceals and dissembles itself [Das Verbergen verbirgt und verstellt sich selbst]. […] The nature of truth, that is, of unconcealedness [Unverborgenheit], is dominated throughout by denial. […] This denial, in the form of a double concealment [zwiefachen Verbergens], belongs to the nature of truth as unconcealedness. Truth, in its nature, is un-truth [Die Wahrheit ist in ihrem Wesen Un-wahrheit].”47 It lies beyond our immediate concern to delve more deeply into the intricacies of Heidegger’s position. Suffice it to say that the inseparability of truth and untruth is related to his idea, in no small measure indebted to the fragment of Heraclitus phusis kruptesthai philei, “nature loves to hide,”48 whence Heidegger adduces the point that nature is unconcealment but as unconcealment it is itself a form of concealment. For 45

Martin Heidegger, The Essence of Truth: On Plato’s Cave Allegory and Theaetetus, translated by Ted Sadler. London 2002, pp. 65 – 66, 104; idem, Vom Wesen der Wahrheit: Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet [GA 34]. Frankfurt am Main 1988, pp. 90, 145. 46 Martin Heidegger, Poetry, Language, Thought, translation and introduction by Albert Hofstadter. New York 1971, p. 53; idem, Holzwege [GA 5]. Frankfurt am Main 2003, p. 40. For an alternative translation, see Heidegger, Off the Beaten Track, edited and translated by Julian Young and Kenneth Haynes. Cambridge University Press 2002, p. 30. The older translation, in my opinion, offers a more precise rendering of the German original. 47 Heidegger, Poetry, Language, Thought, p. 54; Holzwege, pp. 40 – 41. Compare idem, Off the Beaten Track, pp. 30 – 31. 48 Kathleen Freeman, Ancilla to the Pre-Socratic Philosophers. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1978, p. 33. Compare Heidegger, The Essence of Truth, pp. 9 – 11 (Vom Wesen der Wahrheit, pp. 13 – 15); idem, Introduction to Metaphysics, new translation by Gregory Fried and Richard Polt. Yale University Press 2000, pp. 120 – 121 (Einführung in die Metaphysik [GA 40]. Frankfurt am Main 1983, p. 122); idem, Pathmarks, pp. 229 – 230 (Wegmarken, pp. 300 – 301). For discussion of Heidegger’s interpretation of Heraclitus and the self-concealing of nature, see Charles E. Scott, Appearing to Remember Heraclitus, in: The Presocratics after Heidegger, edited by David C. Jacobs. State University of New York Press 1999, pp. 249 – 261, esp. 252 – 257; Daniel O. Dahlstrom, Being at the Beginning: Heidegger’s Interpretation of Heraclitus, in: Interpreting Heidegger: Critical Essays, edited by Daniel O. Dahlstrom. Cambridge University Press 2011, pp. 135 – 155.

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Heidegger, the confluence of opposites does not signify a dialectical sublation of the dyad but rather a more profound sense of sameness (Selbigkeit), as opposed to identicalness (Gleichheit), entailed in his notion of belonging-together (Zusammengehörigkeit).49 The point was well understood by Hannah Arendt: “Presence and absence, concealing and revealing, nearness and remoteness—their interlinkage and the connections prevailing among them—have next to nothing to do with the truism that there could not be presence unless absence were experienced, nearness without remoteness, discovery without concealment.”50 The belonging-together of concealment and unconcealment dialectically surpasses the dialectical overcoming of antimonies—the presence is an absence that is neither and therefore both present and absent—such that what is most proximate is the most remote, and what is manifest is the “constant concealment in the double form of refusal and dissembling [ständiges Verbergen in der Doppelgestalt des Versagens und des Verstellens].”51 Summing up Heidegger’s view, we can say that the character of truth as the unconcealment (ale¯theia) is such that the concealment (le¯the) persists as the concealing that conceals the unconcealing. Thus, being’s “primordial self-illumination” (anfängliche lichtung) occasions the “unconcealment of beings” (Unverborgenheit des Seienden) through darkening the light of being (verdunkelt das Licht des Seins). “As it reveals itself in beings, Being withdraws.”52 Analogously, Rosenzweig was keenly aware that God’s essential nature remains hidden in each of its manifestations,53 and thus every revelation is an occlusion, every nearness a distance, every truth an untruth. The paths of the two thinkers diverge, insofar as Rosenzweig resolutely maintained that there is an ultimate—if not a substance at least an event—whose revelation cannot be reduced to a concealing of the concealment.54 And yet, as I have argued at length elsewhere, Rosenzweig’s indebtedness to kabbalah, or at the very least the affinity of his thinking to the Jewish esoteric tradition, can be seen in his embrace of an apophatic discourse at the end of the 49 Martin Heidegger, Country Path Conversations, translated by Bret W. Davis. Indiana University Press 2010, p. 25; Feldweg-Gespräche [GA 77]. Frankfurt am Main 1995, p. 39; idem, Identity and Difference, translated and with an introduction by Joan Stambaugh. New York 1969, p. 29 (German text: p. 92); idem, Pathmarks, p. 309; Wegmarken, p. 409. 50 Hannah Arendt, Martin Heidegger at Eighty, in: Heidegger and Modern Philosophy: Critical Essays, edited by Michael Murray. Yale University Press 1978, p. 300. 51 Heidegger, Poetry, Language, Thought, p. 54; Holzwege, p. 41. Compare idem, Off the Beaten Track, p. 31. 52 Heidegger, Early Greek Thinking, translated by David Farrell Krell and Frank A. Capuzzi. New York 1975, p. 26; Holzwege, pp. 336 – 337. 53 Welz, Love’s Transcendence, pp. 188 – 189. 54 The critical difference was expressed in a different terminological register by Löwith, F. Rosenzweig and M. Heidegger, p. 75: “In contradistinction to Heidegger, Rosenzweig, owing to his actual inheritance, his Judaism […] was in the happy position of being able to hold up David’s star of eternal truth in the midst of time. […] ‘God is the truth’ […] even if one day everything by which he made known his eternity in time […] terminated where the eternal also finds its end: in eternity.” See also Robert Gibbs, Correlations in Rosenzweig and Levinas. Princeton University Press 1992, pp. 110 – 111.

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voyage, and this in spite of his explicit rejection of negative theology at the beginning.55 Here it is apposite to note that a common denominator of the three central theological categories in Rosenzweig’s thought, and their corresponding temporal modes, is the interplay of concealment and disclosure. Creation is demarcated as the beginning (Anfang) in which God speaks and the “shell of the mystery [die Schale des Geheimnisses] breaks.” In language that reflects the influence of Schelling, but which is also strikingly close to Lurianic kabbalah, Rosenzweig speaks of creation as “God’s birth from out of the foundation [die Geburt Gottes aus dem Grunde], his creation before the Creation [seine Schöpfung vor der Schöpfung]. […] The figure [Gestalt] of God, until now hidden in the metaphysical beyond of myth, steps into the visible and begins to light up [aufzuleuchten].”56 Creation can be regarded, therefore, as a prediction of revelation, or alternatively, revelation is the fulfillment of creation, as it is the present in which God is manifest in the “immediacy and pure presentness of the lived experience [die Unmittelbarkeit und reine Gegenwärtigkeit des Erlebens]. For the being that he now makes known is no longer a being beyond lived experience, this is no longer a being in secret, rather a being which has fully blossomed in this lived experience.”57 Creation and revelation are two stages in the exposure of the concealed, but redemption is characterized as the return to the origin (Ursprung) before the beginning (Anfang) of creation in which what has come to light again is concealed. The arc of time is balanced on opposite ends by two symmetrically inverse processes, the hidden becoming manifest on one side and the manifest becoming hidden on the other. Whether intentional or not, it is with respect to this construct that Rosenzweig’s theopoesis divulges its deepest affinity with kabbalistic sensibility.58 55 Elliot R. Wolfson, Facing the Effaced: Mystical Eschatology and the Idealistic Orientation in the Thought of Franz Rosenzweig, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 4 (1997), pp. 74 – 75; idem, Light Does Not Talk But Shines, pp. 87 – 148, esp. 107 – 123. My view should be contrasted with the more standard position expressed concisely and clearly by Gibbs, Correlations, pp. 38 – 39: “Negative theology for Rosenzweig is the demonstration that each thing we know does not fit God. […] This move produces the relative nothing, the starting point of Rosenzweig’s reflection. Rosenzweig displays that philosophy has now made this negative move in each of the three spheres. But The Star of Redemption as a whole becomes a motion away from this threefold ignorance.” 56 Rosenzweig, Star of Redemption, pp. 123 – 124; Stern der Erlösung, pp. 124 – 125. See Luca Bertolino, ‘Schöpfung aus Nichts’ in Franz Rosenzweigs ‘Stern der Erlösung,’ in: Jewish Studies Quarterly 13 (2006), pp. 247 – 264, esp. 260 – 262; Renate Schindler, Zeit, Geschichte, Ewigkeit in Franz Rosenzweig’s ‘Stern der Erlösung.’ Berlin 2007, pp. 154 – 161, esp. 157 – 158. 57 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 196; Stern der Erlösung, p. 203. 58 The question of the influence of kabbalah on Rosenzweig has been discussed by several scholars: Gershom Scholem, Franz Rosenzweig and His Book The Star of Redemption, in: The Philosophy of Franz Rosenzweig, edited by Paul Mendes-Flohr. University Press of New England 1988, pp. 20 – 41, esp. 35 – 39; Warren Zev Harvey, How Much Kabbalah in The Star of Redemption? in: Immanuel 1 (1987), pp. 128 – 134; idem, Why Philosophers Quote Kabbalah: The Cases of Mendelssohn and Rosenzweig, in: Studia Judaica 16 (2008), pp. 118 – 125, esp. 122 – 124; Moshe Idel, Rosenzweig and the Kabbalah, in: The Philosophy of Franz

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Further support for this argument lies in the fact that the light at the end, the luminosity wherein the manifest is again hidden, is portrayed as the configuration (Gestalt) of the divine face, a notion that corresponds to the image of the partsuf that figures prominently in the theosophic symbolism of the kabbalists, especially in certain sections of zoharic literature and in the treatises that expound the kabbalah attributed to the sixteenth-century master, Isaac Luria. The proximity of Rosenzweig’s characterization of truth in the image of the divine face and the kabbalistic tradition has been noted by a number of scholars.59 Nevertheless, it is useful to cite Rosenzweig’s words verbatim—already alluded to on two previous occasions in this chapter—the very words that serve as the inscription on the “gate” (Tor) to which one returns at the terminus of the expedition, the passageway to the “No-longer-book” (Nichtmehrbuch), the “everyday of life” (Alltag des Lebens) that is beyond the text.60 Rosenzweig, pp. 162 – 171, and the revised version in: idem, Old Worlds, New Mirrors: On Jewish Mysticism and Twentieth-Century Thought. University of Pennsylvania Press 2010, pp. 159 – 167; Wolfson, Facing the Effaced, pp. 63 – 81; Rivka Horwitz, From Hegelianism to a Revolutionary Understanding of Judaism: Franz Rosenzweig’s Attitude Toward Kabbala and Myth, in: Modern Judaism 26 (2006), pp. 31 – 54; slightly different version in idem, A Revolutionary Understanding of Judaism: Franz Rosenzweig’s Attitude to Kabbalah and Myth, in: Franz Rosenzweigs »neues Denken«, pp. 689 – 712 (Hebrew version in: Judaism, Topics, Fragments, Faces, Identities: Jubilee Volume in Honor of Rivka, edited by Haviva Pedaya and Ephraim Meir. Ben-Gurion University of the Negev Press 2007, pp. 43 – 71); Mosès, System and Revelation, pp. 279 – 285; Barbara Galli, Franz Rosenzweig’s Theory of Translation Through Kabbalistic Motifs, in: The Legacy of Franz Rosenzweig: Collected Essays, edited by Luc Anckaert, Martin Brasser, and Norbert Samuelson. Leuven University Press 2004, pp. 189 – 197; idem, Rosenzweig’s All, Kabbalistically Reflected, in: Franz Rosenzweigs »neues Denken«, pp. 713 – 724; Uriel Barak, Rabbi A. I. Kook on the Nature of Franz Rosenzweig’s Connection to Kabbalah, in: Da‘at 67 (2009), pp. 97 – 116 (Hebrew). The similarity of Rosenzweig’s view of language to the kabbalah, which is compared as well to the position of Heidegger, was noted by Jürgen Habermas, Philosophical-Political Profiles, translated by Frederick G. Lawrence. London 1983, p. 24. See the study of Horwitz cited above, n. 20. See also the tantalizing remark of Ricoeur, Figuring the Sacred, p. 93, that the “closing pages of The Star […] call upon the esoterism of the cabala and the Zohar in exact symmetry to the discussion of Hegel and Schelling in Part One.” For Ricouer, the configuration (Gestalt) of the star as the “eternal truth” in the third part of Rosenzweig’s book is best explained as a “speculation borrowed from Jewish esoterism” (p. 96), a speculation that is essentially metaphorical (p. 97). Ricoeur’s view, as he acknowledges, is based on the assessment of Mosès, System and Revelation, p. 285, that Rosenzweig’s depiction of the divine truth in the shape of a human face is an “evocation so specifically connected to the spiritual world of the Kabbala” that it “shows the deep kinship of Rosenzweig with the mystical tradition of Judaism.” 59 In addition to the reference to Mosès cited at the end of the previous note, see Richard A. Cohen, Elevations: The Height of the Good in Rosenzweig and Levinas. University of Chicago Press 1994, pp. 241 – 273; Yudit Kornberg Greenberg, Better Than Wine: Love, Poetry, and Prayer in the Thought of Franz Rosenzweig. Atlanta 1996, pp. 113 – 118; Wolfson, Facing the Effaced, pp. 74 – 76; Horwitz, From Hegelianism, pp. 45 – 46. 60 Franz Rosenzweig, The New Thinking, in: Philosophical and Theological Writings, translated and edited, with notes and commentary, by Paul W. Franks and Michael L. Morgan. Indianapolis 2000, pp. 136 – 137; idem, Das neue Denken, in: Zweistromland: Kleinere

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“That which is eternal had become configuration [Gestalt] in the truth. And truth is nothing other than the countenance of this configuration [das Antlitz dieser Gestalt]. Truth alone is its countenance. […] In the Star of Redemption in which we saw the divine truth become configuration [die göttliche Wahrheit Gestalt werden], nothing else lights up than the countenance that God turned shining toward us. We shall now recognize in the divine face [im göttlichen Angesicht] the Star of Redemption itself as it now finally became clear for us as configuration.”61

For Rosenzweig, the world of revelation is marked by the privileging of the auditory over the visual, exemplified by Deuteronomy 4:12, which he paraphrases as “No figure have you seen, speech only have you heard,” but the “word grows silent in the afterworld and supra-world,” such that in the redeemed world language is overcome by light, a theme that is linked exegetically to the entreaty in the priestly blessing in Numbers 6:25, which is rendered as “May he let his countenance shine upon you.”62 In the luminescence of the divine face is true knowledge of the truth, that is, knowing the apparent truth as it truly appears in the constellation of truth that is God. In consonance with the prophetic, apocalyptic, and mystical visionary traditions that stretch from Antiquity through the Middle Ages, and in some respects consistent with the ocularcentric bias of Western philosophical culture, Rosenzweig depicts this highest knowledge as a form of seeing wherein one apprehends the “final clarity of transexperienced truth [übererfahrene Wahrheit],”63 that is, a truth experienced beyond the contours of experience. But what does one see in this seeing? From one perspective, the response is obvious, the luminosity of the face, but, from another perspective the matter is more complex, since this very illumination is also troped visually as the manifest becoming hidden and verbally as the word growing into silence. How is the manifest becoming hidden to be envisioned? Is this not a seeing of the unseen, a vision that could be accorded only to one whose vision is blind-sighted? Is this not an affirmation that is negation? Is Rosenzweig not culpable of embracing at the conclusion the apophasis he seemed to reject in the opening paragraph of the first book of part one of the Star? “About God we know nothing,” he begins, quickly adding, “But this not-knowing is a not-knowing about God [Aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott]. As such it is the beginning of our knowledge about him. The beginning, not the end.” From Rosenzweig’s vantage point, it is appropriate to place this not-knowing at the commencement of knowledge, but to do so at the culmination, to make ignorance the end of human striving, is the “fundamental idea” (Grundgedanke) of negative theology, a “way that leads from a found something [vorgefundenen Etwas] to the nothing [Nichts] and at the end of which atheism and mysticism can shake hands.”64 The conSchriften zu Glauben und Denken, edited by Reindold and Annemarie Mayer (Gesammelte Schriften III). Dordrecht 1984, p. 160. 61 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 441; Stern der Erlösung, p. 465. 62 Ibid. 63 Rosenzweig, The New Thinking, p. 136; Das neue Denken, p. 159. 64 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 31; Stern der Erlösung, p. 25.

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cluding remark is particularly noteworthy, for, in Rosenzweig’s mind, the apophasis to which the philosophical path (exemplified by Maimonides in the Jewish tradition) leads, the proposition that God can be defined only in his indefinable nature and consequently known only through action, which is linked specifically with divine love, is notionally on a par with both the mystical sense of the ineffable and the atheistic lack of belief, the conviction of faith and the skepticism of doubt.65 The reclaiming of apophasis is based on the view that configuration is consequent to disfiguration, a restoring of the Yes to a No, since that which is positively affirmed in the revelatory acts of divine love—the middle when God, the first and the last, is “right nearby,” and “that which is hidden becomes manifest” (das Verborgene wird so offenbar)—is in itself the divine essence (Gottes Wesen), “whether it might be truth or nothing” (ob es Wahrheit wäre oder Nichts), wherein “that which is manifest becomes that which is hidden” (das Offenbare wird zum Verborgnen).66 I suggest that what Rosenzweig intends by this remark is that when we glimpse at the truth from the perspective of redemption we finally discern that the disclosure of divinity is concurrently an eclipse, that every unconcealment is a concealing of the concealment that shows itself in being hidden, that every affirmation is a negation, that every gesture of kataphasis is a gesture of apophasis, that every saying is an unsaying.67 The essence dissipates (zergeht) in God’s “wholly manifest act of love” (ganz offenbares Lieben), the deed (Tat) that is “wholly in-essential [ganz wesenlos], wholly real [ganz wirklich], wholly proximate [ganz nah],” and thus God’s presence is “freed from the

65 In this regard, it is of interest to note the view of Arthur H. Armstrong, Plotinian and Christian Studies. London 1970, pp. 185 – 188, that apophatic theology and moderate skepticism were two closely aligned trends of thinking that emerged from Platonism. For citation and analysis of some of the appropriate texts, see John P. Kenney, The Critical Value of Negative Theology, in: Harvard Theological Review 86 (1993), pp. 441 – 443. On the link between atheism and apophasis in Late Antiquity, see D. W. Palmer, Atheism, Apologetic, and Negative Theology in the Greek Apologists of the Second Century, in: Vigiliae Christianae 37 (1983), pp. 234 – 259. 66 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 413; Stern der Erlösung, p. 434. 67 Contrary to the presentation of my view in Cass Fisher, Divine Perfections at the Center of the Star: Reassessing Rosenzweig’s Theological Language, in: Modern Judaism 31 (2011), pp. 189 – 190, I never denied that there is a complex interplay between the kataphatic and the apophatic in Rosenzweig. Indeed, it is my acceptance that he attempted to take the positivity of the divine seriously that led me to the view that, in the final analysis, he succumbs to an apophasis, not because truth belongs only to God, as Fisher recounts my position, but because from the human vantage point there is no truth without untruth, no revelation without concealment, no way to configure God but through the veil of metaphoricity. In that respect, transcendence as the genuinely other cannot be ascertained. Hence, in spite of his effort to utilize theological language—an obvious point that I never deny—that very language implicates him finally in what he called atheistic theology, that is, configuring God in human terms in such a way that the reality of the divine, which he presumes cannot be reduced to the human or to the world, and to which he does refer as the “wholly other,” is inevitably compromised. This is what leads back at the end of the journey to the apophasis laid aside at the beginning.

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rigidity of essence” and thereby fills space “to every farthest corner.”68 Precisely when the transcendent becomes immanent, the revealed is concealed, not in the banal sense that something previously unveiled is now veiled but in the more paradoxical sense that by being unveiled the veiled is itself veiled in the dissolution of what is unveiled.69 Rosenzweig returned to this theme in his commentary on Halevi’s poem yah anah emtsa’akha, to which he gives the title Der Fern-und-Nahe. The hymn—technically, an ofan written for Simchat Torah—is animated by “one particular thought” (einem einzigen Gedanken), which is “the last thought that human thinking can grasp, and the first that Jewish thinking grasps: that the faraway God is none other than the near God, the unknown God none other than the revealed one, the Creator none other than the Redeemer.”70 Rosenzweig saw in Halevi’s liturgical poem support for the supreme paradox of monotheism: the God that is distant is the God that is near, the transcendent God that is unknown is the immanent God that is revealed—not as two deities, and not even as two aspects of one deity, but as the coincidence of ostensibly contradictory opposites: it is the remote God that is near in a nearness that augments the distance, it is the concealed God that is disclosed in a disclosure that amplifies the concealment. Rosenzweig goes on to lambast the theologians—in a tone that is both humorous and acerbic he writes that the “most accurate theology is the most dangerous”—for, in the name of accuracy, they have one-sidedly emphasized transcendence by insisting that “God is Wholly Other” (Ganz-Andre), and thus “to talk about Him is to talk Him away […] we can only say what He does to us.” Insofar as “God can be known only in His presence [Gegenwart],” it must follow that “He does not permit Himself to be known in His absence [Abwesenheit].” For the person of faith, however, the poles of transcendence and immanence cannot be separated. To speak of the unspeakable is not to misspeak; on the contrary, it is only of the unspeakable that can speak theologically. “When God comes near to us, of course we know only the inexpressible. […] As long as it is inexpressible and wants to be so, it itself will take care that we cannot express it.” It is only as God retreats that we can begin to express the inexpressible (das Unaussagbare aussagen). “In distancing Himself from us He gives Himself to us to know Him as the Faraway One [der Ferne]. And when He is totally distant, that is when He has totally distanced Himself, we can even—deliver me up to the worldly arm of the law, you inquisitors of the new theology!—prove him.”71 The reference to the possibility of the proof of God is to be taken tongue and cheek, a sarcastic jab at the theologians who struggle to adduce 68 I have here followed Hallo’s translation of ‘The Star,’ p. 390 (Stern der Erlösung, p. 434). In particular, Galli’s translation of wesenlosen as incorporeal (p. 413) is misleading and obscures the intent of this admittedly difficult passage. 69 For a different approach, see Welz, Love’s Transcendence, pp. 189 – 191. 70 Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, p. 204; Rosenzweig, Jehuda Halevi. Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte, pp. 69 – 70. 71 Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, p. 205; Rosenzweig, Jehuda Halevi. Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte, pp. 70 – 71.

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proofs of a deity thought to be wholly other, imagined in the guise of abstractions— the most perfect being, the first cause, or the ethical ideal—that are nothing more than “distressed prattle.” What matters ultimately is not a theoretical debate about the nearness or farness of God but rather being able to speak “before His countenance—with the You […] that never turns away for a moment.”72 And yet, as Rosenzweig has made clear in his interpretation of Halevi, addressing God in this intimate way is predicated on God’s withdrawal, a theme that, to my ear, reflects the Lurianic doctrine of tsimtsum, a motif with which he was certainly familiar,73 the act of divine contraction, which is based on the paradox, whose roots go back to the early kabbalah but which is expressed explicitly by any number of sixteenth-century kabbalists, that the concealment is cause of the disclosure and the disclosure the cause of the concealment, that every appearance of the infinite is a nonappearance, for the infinite cannot be visible unless it is shrouded.74 This, I suggest, is the import of the aforementioned gloss on the reference to God’s essence, “whether it might be truth or nothing.” It would be reasonable to suppose that it makes a huge difference to think about that essence as truth or as nothing, indeed they seem to be polar opposites, but from the vantage point of the eternal truth, this is a distinction without a difference. The truth that becomes manifest in the redemption is the “completion of that which we experience in God’s love in an enjoyable and visible presence, his Revelation, and therefore the nothing must want to be nothing other than the preliminary reference to this Revelation. […] Exactly like truth, the nothing is of course not at all finally a self-supporting subject; it is merely a fact, the awaiting of something, it is not anything yet [Nochnichts]. […] As the truth is only truth because it is from God, so the nothing is only nothing because it is for God.”75 To say “God is truth” is semantically equivalent to the statement that “God is the nothing.” Both dicta signify that God’s essence cannot be known except as the expectation of what will come to be in time. In the end, nothing is revealed to be the truth of which nothing is revealed but the possibility of something to be revealed. As I have already noted, the eschaton is depicted by Rosenzweig as the discernment that God is truth: “That by which we had to designate God’s essence, the last thing that we know of him as the Lord of what is last, of the one life perfected in supra-worldly fashion in the All: that he is truth—this last conception of the essence slips through our fingers. For if God is truth—what

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Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, p. 206; Rosenzweig, Jehuda Halevi. Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte, p. 71. 73 See Rosenzweig, Philosophical and Theological Writings, pp. 56 – 57; Zweistromland, p. 128. For discussion of this passage, see Idel, Old Worlds, pp. 162 – 163; Horwitz, From Hegelianism, pp. 37 – 38; Schindler, Zeit, Geschichte, Ewigkeit, pp. 232 – 233. 74 See Elliot R. Wolfson, Divine Suffering and the Hermeneutics of Reading: Philosophical Reflections on Lurianic Mythology, in: Suffering Religion, edited by Robert Gibbs and Elliot R. Wolfson. London 2002, pp. 101 – 162, esp. 110 – 115. 75 Rosenzweig, Star of Redemption, p. 412; Stern der Erlösung, pp. 433 – 434.

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is said with this about his ‘essence’? Nothing more than this, that he is the original ground of truth [Urgrund der Wahrheit], and all truth is truth only through this, it comes from him.”76

The essence of God is thus linked to his being the “ground of truth” and this would allegedly provide the ideational basis for a theocentric orientation, which is articulated by Rosenzweig in his claim that the “divine essentiality [göttliche Wesenheit] is really nothing more than the divine self-revealing [das göttliche Sich-Offenbaren].”77 The kataphatic theology, which is similar in tone to Schelling and to Lurianic kabbalah, can be cast propositionally in the declaration that “God is truth.” If we probe more attentively, however, we discover that Rosenzweig approaches an articulation that is reminiscent of the via negativa of Maimonides: “God is truth—this sentence with which we thought we had risen to the utmost of knowledge—if we see more closely what truth really is, then we find that that sentence brings back to us in different words only what is most intimately familiar of our experience; the apparent knowledge about the essence turns into the near, immediate experience of his action; that he is truth tells us finally nothing however other than that he—loves.”78 The “apparent knowledge” of God’s essence amounts to the “near, immediate experience” of divine action, expressed especially in the form of love, rather than any positive delineation of that essence. “For the last truth is—it is none other than our truth. God’s truth is nothing other than the love with which he loves us.”79 It should come as no surprise, then, that Rosenzweig informs us that by gathering this “last knowledge about God’s essence” (letztes Wissen um Gottes Wesenheit), “we could venture back […] into that first non-knowledge [erste Nichterkenntnis], into the knowledge of his nothing [die Erkenntnis seines Nichts], which was our starting point.”80 In going forward, one goes back, retracing steps to where one could have never been, and thus one discerns that the knowledge of the divine essence ascertained at the climax is identical to the non-knowledge available at the onset, the knowledge of his nothing, a nothing that can only be in virtue of not being, the not-nothing.81 Still struggling to demarcate his path as distinct from idealistic philos-

76

Star of Redemption, p. 411; Stern der Erlösung, p. 432. Star of Redemption, p. 411; Stern der Erlösung, p. 432. I am here reworking my argument in “Light Does Not Talk But Shines,” pp. 117 – 118. 78 Star of Redemption, p. 411; Stern der Erlösung, p. 432. 79 Star of Redemption, p. 415; Stern der Erlösung, p. 436. 80 Star of Redemption, p. 411; Stern der Erlösung, p. 432. 81 It is of interest to note Rosenzweig’s rendering of the penultimate line in Halevi’s poem that begins yah shimkha aromimkha we-tsidqatkha lo akhasseh, entitled Gelobt! The Hebrew reads, ki tidrosh be-sof u-ve-ro’sh ba-mufle u-va-mekhusseh, which translates as “If you seek / in the end and in the beginning / in that which is wondrous / and that which is covered. Rosenzweig, Jehuda Halevi. Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte, p. 24, translates: Forsch we viel! / Keim ruht und Ziel / in Wunder und / Verborgenheit.” See Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, p. 18: “Search and search! / The seed and goal rest / in miracle / and concealment.” 77

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ophy, Rosenzweig, perhaps influenced by Kierkegaard,82 remarks that paganism finds the “All” in that nothing, whereas revelation, the basic postulate that accords theism meaning, taught us to recognize the “hidden God” (verborgene Gott), that is, the “hidden one who is nothing other than the not yet manifest one [der noch nicht offenbare]. […] The nothing of our knowledge about him thus became for us a meaningful nothing [inhaltsreiches Nichts], the mysterious prediction of what we have been experiencing in the revealing.”83 The name of truth that was discarded at the beginning of the “pilgrimage through the All” is restored in the “last immediacy [letzten Unmittelbarkeit] in which the All really comes altogether near to us.” Having rejected the idealist philosophy that rested on the “belief in the immediateness of cognition to the All and of the All to cognition,” the truth can be grasped at the goal when “we have come as far as the direct view of the configuration [unmittelbare Schau der Gestalt] on our road from an immediate to the nearest [von einem Unmittelbaren zum nächsten]” But the truth that is beheld at the goal is “nothing other than the divine Revelation that happened also for us, the ones hovering midway between ground and future. Our Truly, our Yes and Amen […] is unveiled at the goal as the beating heart also of the eternal truth.”84 What is perhaps the most lucid explanation of Rosenzweig’s conception of truth is offered by him in “Das neue Denken,” the essay written in 1925 as an attempt to offer a guide to reading his magnum opus, Der Stern der Erlösung: “What was put into the Star of Redemption was, at the beginning the experience of factuality [die Erfahrung der Tatsächlichkeit] prior to all of actual experience’s matters of fact. [The experience] of factuality that forces upon thinking, instead of its favorite word ‘really,’ the little word ‘and,’ the basic word of all experience […] God and the world and man [Gott und die Welt und der Mensch]. This ‘and’ was the first of experience [Erste der Erfahrung]; so it must also recur in the ultimate of truth [Letzten der Wahrheit]. Even in truth itself, the ultimate, which can only be one, an ‘and’ must stick; otherwise than the truth of the philosophers, which may know only itself, it must be truth for someone. If it is nevertheless to be the one, then it can be only for the One. And it thereby becomes a necessity that our truth be-

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Kierkegaard, Concluding Unscientific Postscript, pp. 245 – 246: “All paganism consists in this, that God is related directly to a human being, as the remarkably striking to the amazed. But the spiritual relationship with God is truth, that is, inwardness, is first conditioned by the actual breakthrough of inward deepening that corresponds to the divine cunning that God has nothing remarkable, nothing at all remarkable, about him—indeed, he is so far from being remarkable that he is invisible, and thus one does not suspect that he is there [er til], although his invisibility is in turn his omnipresence. […] This relation between omnipresence and invisibility is like the relation between mystery and revelation, that the mystery expresses that the revelation is revelation in the stricter sense, that the mystery is the one and only mark by which it can be known. […] In paganism, the direct relation is idolatry; in Christianity, everyone indeed knows that God cannot manifest himself in this way.” The likely influence of Kierkegaard on Rosenzweig’s criticism of Hegel’s idealism is noted by Ricouer, Figuring the Sacred, p. 105. 83 Rosenzweig, Star of Redemption, pp. 411 – 412; Stern der Erlösung, p. 433. 84 Star of Redemption, p. 414; Stern der Erlösung, pp. 435 – 436.

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comes a manifold and that ‘the’ truth transforms itself into our truth. Thus truth ceases to be what ‘is’ true and becomes that which has to be verified as true.”85

The conjunctive “and” is accorded the status of being the “basic word of all experience,” since the structure of experience, phenomenologically, is inexorably correlative. Not substance but relation enframes our experience—God and the world and the human, which is to say, the nature of these three elements cannot be ascertained in isolation from the other. From that point of view, the conjunction is at the same time disjunctive, for like a bridge it connects two termini by keeping them at a distance, forging a nearness, as Heidegger would say,86 that draws nigh what remains remote. Even in the oneness of the ultimate truth, the truth that is the star of redemption, the conjunction “and” must be preserved—what is most important is not to determine what the essence of truth is, but to realize through the act of verification (Bewährung) that truth is relational, that is, it must always be truth for someone. Hence, while God’s truth is one, it must be transformed into the manifold that is “our truth.”87 The truth that is hidden reveals itself through continuous manifestations. The disclosures, however, are themselves a form of concealment, indeed the concealment of concealment, as what is revealed is always the not-nothing that is not-yet. In spite of his initial rejection of negative theology, the swerve of Rosenzweig’s path winds its way to an apophasis of apophasis: “That God is nothing becomes just as much a figurative sentence as the other one, that he is truth [Daß Gott das Nichts sei, wird ebensosehr zu einem uneigentlichen Satz wie der andre, daß er die Wahrheit

85

Rosenzweig, The New Thinking, p. 135 (empahsis in original); Das neue Denken, p. 158. See Martin Heidegger, The Metaphysical Foundations of Logic, translated by Michael Heim. Indiana University Press 1984, p. 221 (Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [GA 26]. Frankfurt am Main 1978, p. 285): “The human being is a creature of distance! And only by way of the real primordial distance that the human in his transcendence establishes toward all beings does the true nearness to things begin to grow in him. And only the capacity to hear into the distance summons forth the awakening of the answer of those humans who should be near.” See also Heidegger, Poetry, Language, Thought, pp. 177 – 178 (Vorträge und Aufsätze [GA 7]. Frankfurt am Main 2000, p. 179): “Nearing is the presencing of nearness [Nähern ist das Wesen der Nähe]. Nearness brings near—draws nigh to one another—the far and, indeed, as the far [Nähern nähert das Ferne und zwar als das Ferne]. Nearness preserves farness. Preserving farness, nearness presences nearness in nearing that farness” (emphasis in original). And see Heidegger, Elucidations of Hölderlin’s Poetry, translated by Keith Hoeller. Amherst 2000, p. 42 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung [GA 4]. Frankfurt am Main 1996, p. 24): “The nearness that now prevails lets what is near be near, and yet at the same time lets it remain what is sought, and thus not near. We usually understand nearness as the smallest possible measurement of the distance between two places. Now, on the contrary, the essence of nearness appears to be that it brings near that which is near, yet keeping it at a distance [erscheint das Wesen der Nähe darin, daß sie das Nahe nahebringt, indem sie es fern-hält]. This nearness to the origin is a mystery.” See above, n. 70. 87 See Galli, Franz Rosenzweig and Jehuda Halevi, p. 378. As Galli points out, op. cit, pp. 382 – 385, the relationship of the one truth, and the corresponding one language, to the present experience of multiple languages, is the basis for Rosenzweig’s dialogical grammar and his theory of translation. 86

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sei].”88 Both propositions, that “God is nothing,” which is assigned to the beginning, and that “God is the truth,” which is affixed to the end, must be taken figuratively. To render either literally would be to cloak the untruth exposed in the mirror of truth and lapse thereby into the mistaken dichotomization of appearance and reality.

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Rosenzweig, Star of Redemption, p. 412; Stern der Erlösung, p. 433.

„In einer Schwebe zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit“ Über Hermann Cohens Polyphonie des Systems Pierfrancesco Fiorato Der Titel, den ich gewählt habe, möchte sofort einige Akzente setzen, einige Aspekte von Hermann Cohens Systemauffassung hervorheben, die mir im Zusammenhang mit der Frage nach der „Denkfigur des Systems“ als besonders relevant erscheinen. Dies gilt insbesondere für das Begriffspaar System-Polyphonie. Durch eine solche Verknüpfung möchte ich die zentrale Rolle unterstreichen, die für Cohens Systemauffassung der Sorge um die Bewahrung der Unterschiede unter den verschiedenen Systemgliedern, deren Eigentümlichkeit und Eigenwert erst durch das System selbst zur vollen Geltung kommen sollen, zukommt. Dies scheint mir nicht nur ein Grundzug, sondern sogar das Hauptanliegen von Cohens systematischen Bemühungen zu sein. In diesem Sinn soll auch für die Einheit des Systems gelten, was Cohen in einer der letzten Seiten der Logik der reinen Erkenntnis über die „Einheit des Kulturbewußtseins“ schreibt: „Darauf […] kommt es für die Einheit des Kulturbewußtseins an, daß die verschiedenen Arten der Gesetze und der Inhalte nicht in ihrer Verschiedenheit ausgelöscht und in eine neue Art von Gesetz und Inhalt verwandelt sind, sondern daß ihre Verschiedenheit gegen einander frei und kraftvoll sich behaupte; und daß dennoch diese Verschiedenheit in einer neuen, der eigentlichen Einheit zur Vereinigung gelange.“1

Gerade „diese Vereinigung der einzelnen Gebiete vollzieht sich“, wie Cohen sofort hinzufügt, „im System“. Bedenkt man andererseits, dass die hier angesprochene „Einheit des Kulturbewußtseins“ Gegenstand einer (dann nicht mehr zustandegekommenen) Psychologie hätte sein sollen, die Cohen als „hodegetische Enzyklopädie des Systems der Philosophie“ verstanden wissen wollte,2 so lässt sich ferner bei Cohen (obwohl nur andeutungsweise) das Vorhandensein einer Spannung und fruchtbaren Ergänzung zwischen System und Enzyklopädie feststellen, die für das zur Diskussion stehende Thema der Denkfigur des Systems nicht ohne Belang ist. In seinem Einsatz gegen die Gefahr einer „Auslöschung“ der Verschiedenheit weiß sich Cohen mit der Tradition im Einklang, die auf Kant zurückgeht. Nach den Worten von Kants Theorie der Erfahrung soll nämlich das „System des transzen1

Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis. 2. Aufl., Berlin, 1914; Werke, hg. von Helmut Holzhey. Hildesheim/New York 1977 ff., Bd. 6, S. 609 f. 2 Vgl. H. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls. 2 Bände, Berlin 1912; Werke, Bände 8 und 9, hier: Bd. 9, S. 432.

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dentalen Idealismus“ gerade „in genauer Abgrenzung der verschiedenen Arten der Bausteine und ihrer Kompetenzen“ gegründet sein.3 Keine reductio ad unum wird hier vom System erwartet; im Gegenteil hat sich das System als ein wirksames Gegenmittel gegen eine solche Reduktion zu bewähren. Auch die Art und Weise, wie Cohen das eigene System der Philosophie gestaltet, die Schwerpunkte fixiert und die Gewichte verteilt, wird dann diesem Anliegen entsprechen und der Vielstimmigkeit der verschiedenen Bereiche Rechnung tragen müssen. Vor der Berücksichtigung dieser Fragestellung möchte ich jedoch zunächst noch auf der allgemeineren Ebene des begrifflichen Rahmens verbleiben, in dem sich Cohens Auseinandersetzung mit dem System abspielt, um hier das Thema des Verhältnisses zwischen System und Versuch, das Ganze zu denken, anzusprechen – ein Thema, das nach den einleitenden Worten Hartwig Wiedebachs eine der Leitfragen unserer Diskussion über die Form des Systems bilden soll. 1. Ganzes versus System Auf den letzten Seiten seines am 21. Juni 1968 in Marburg vorgetragenen Textes „Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in Hermann Cohens Religionsphilosophie“ meinte Karl Löwith Cohens „philosophischen Irrtum“ in der Vernachlässigung der „einzigen philosophischen Grundfrage nach dem Einen und Ganzen“ sehen zu dürfen. Cohen soll die Frage so gestellt haben, „als ob die geschichtliche Mitwelt und Umwelt, in die man zufällig hineingeboren wird, auch schon das Eine und Ganze der Welt wäre, um die es der Philosophie als dem Denken des Einen und Ganzen geht“.4 Nun rührt diese Kritik von einer Auffassung der Philosophie her, die in mehrfacher Hinsicht im diametralen Gegensatz zu derjenigen Cohens steht – und zwar nicht nur weil Cohen gerade im Ausgehen „von der Erfahrung als ,etwas ganz Zufälligem‘“ den „Stolz und die Demut der kritischen Philosophie“ erblickt,5 sondern auch, weil er in der Verknüpfung der Bestimmungen „Einheit“ und „Ganzheit“ eine irrtümliche und verhängnisvolle Tendenz des Denkens sieht. Dagegen wehrt er sich in der Logik der reinen Erkenntnis ein erstes Mal dort, wo er gegen das Ganze die „Allheit“ ins Feld zieht,6 dann aber wieder und vor allem gerade durch die Einführung der Kategorie des „Systems“.7

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H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung. 3. Aufl., Berlin 1918; Werke, Bd. 1.1., S. 767. Vgl. Karl Löwith, Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in Hermann Cohens Religionsphilosophie, in: ders.: Sämtliche Schriften. Stuttgart 1981 ff., Bd. 3, S. 381 f. 5 H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 637. 6 H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 175 f. 7 Ebd., S. 325 ff. 4

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Durch diese Kategorie findet in der Logik der reinen Erkenntnis „die kategoriale Bestimmung des wissenschaftlichen Gegenstandes ihren Abschluß“.8 Und obwohl nicht alle dabei auftretenden Merkmale sich unmittelbar auf das System der Philosophie übertragen lassen, dürfen doch einige derselben berechtigterweise als Grundzüge eines begrifflichen Paradigmas betrachtet werden, dessen Geltung die Grenzen jenes Kapitels der Logik der reinen Erkenntnis überschreitet. Besonders relevant für unsere Fragestellung ist hier vor allem die Tatsache, dass von Anfang an das Paradigma ,System/Glieder‘ als Gegenmodell zu demjenigen ,Ganzes/Teile‘ ins Spiel gebracht und ihm dann ständig entgegengesetzt wird. Gerade „an dem Unterschiede von dem Begriff des Ganzen“ soll sich für Cohen „die allgemeine idealistische Kraft in dem neuen Terminus“ des Systems zeigen,9 denn es ist „der Gegensatz von Erzeugung und Zusammensetzung, auf dem der Unterschied zwischen System und dem Ganzen beruht“.10 Für eine Logik der reinen Erkenntnis, die die „mathematische Richtung des Denkens“11 wieder zu voller Geltung bringen will, gewinnt in diesem Zusammenhang die Tatsache ein besonderes Gewicht, dass auch „die antike und die moderne Mathematik“, und zwar gerade „unter ausdrücklicher Abwehr des Ganzen und der Teile“, „überall auf die Einheit des Systems hin[streben]“.12 Durch Anführung verschiedener Beispiele aus Mathematik und Physik (Punkt- und Vektorensystem, atomares System usw.) werden dabei von Cohen besonders die Momente „Selbständigkeit“ und „Variabilität“ der Glieder hervorgehoben – eine Selbständigkeit und vor allem eine Variabilität, die nur das dynamische Zusammenspiel des Systems im Gegensatz zur Starrheit des Ganzen ermöglichen kann.13 Die „Einheit des Gegenstandes“, die so durch die Kategorie des Systems zur Bestimmung gelangt, hat für Cohen in Leibniz’ Monadologie einen paradigmatischen Ausdruck gefunden. Durch die Behauptung, „daß in jeder Monade das Universum enthalten sei“, erweist sich das System in diesem Sinn sogar als „der Grundbegriff der Monadologie“.14 Gegenseitigkeit und Wechselwirkung stellen dabei die wesentlichen Merkmale dar, die das Zusammenspiel des Systems bestimmen.15 Dadurch gewinnt für Cohen das System die Züge eines „Denkgesetzes“:16 „Das Denken darf sich der Wechselbedingung nicht entheben; es muß das System verknüpfen“.17 Die „Vereinigung von Sonderung und Einigung“, d. h. derjenigen Momente, die, gemäß der 8

Helmut Holzhey, Cohen und Natorp. 2 Bände, Basel/Stuttgart 1986, Bd. 1, S. 88. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 326. 10 Ebd., S. 328. 11 Ebd., S. 30. 12 Ebd., S. 328. 13 Ebd., S. 327. 14 Ebd., S. 339. 15 Vgl. ebd., S. 332 ff. 16 Ebd., S. 395. 17 Ebd., S. 383.

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Einleitung18 „gegenseitig sich fordernd und bedingend“, das Denken als solches kennzeichnen sollen, kommt nun zu einem neuen „prägnanten Ausdruck“ im disjunktiven Urteil.19 Die Kategorie des Systems kann so mit der Kantischen Kategorie der „Gemeinschaft“ in Verbindung gesetzt werden. Auch die „Rückwirkung“ des einen Glieds auf das andere, die später im System der Philosophie paradigmatisch am Verhältnis zwischen Ethik und Logik zur Geltung kommen wird,20 wird in diesem Zusammenhang als Leistung der logischen Disjunktion antizipiert.21 Diese stellt als „Entzweiverbindung“ – so lautet Cohens Übersetzung des lateinischen Ausdrucks22 – das hauptsächliche Mittel dar, um die Wechselwirkung näher zu bestimmen, in der das System besteht. Ein Seitenblick auf die §§ 9 und 11 der Kritik der reinen Vernunft lässt aber neben den gemeinsamen Zügen auch einige wesentliche Unterschiede hervortreten. Spielt nämlich in Kants Charakteristik des disjunktiven Urteils der Bezug zum Begriff des Ganzen bzw. zum Verhältnis zwischen Ganzem und Teilen eine zentrale Rolle,23 so lässt sich im Gegenteil bei Cohen kein einziger Hinweis auf das Einteilen eines Ganzen, bzw. auf ein vollständiges Auszählen der Elemente finden. „Das Ganze will vollständig sein“, schreibt er. Die Logik aber „setzt an die Stelle des Ganzen das System“,24 und „kein System ist abgeschlossen“.25 2. Lockere Systematik „In einer Schwebe zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit“: Der bildliche Ausdruck der Schwebe, den ich als Titel gewählt habe, verweist auf einen offenen, uferlosen Zustand, den man nicht mit dem Trost und Sicherheit suchenden „Willen zum System“26 zu verbinden gewohnt ist. Es stellt sich die Frage, ob nicht gerade dieser unheimliche Zustand für Cohen den Status systematischen Denkens überhaupt kennzeichnen muss. 18

Vgl. ebd., S. 60 ff. Ebd., S. 383. 20 Vgl. H. Cohen, Ethik des reinen Willens. 2. Aufl., Berlin 1907; Werke, Bd. 7, S. 90. – Zur systemtheoretischen Bedeutung dieser „Rückwirkung“ vgl. H. Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 1, S. 327 – 330. 21 Vgl. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 384. 22 Ebd., S. 382. 23 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 99, 112 f. 24 H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 378. 25 Ebd., S. 395. – Zum Schluß dieser Bemerkungen über den Gegensatz zwischen Ganzheit und System bei Cohen will ich noch erwähnen, dass Franz Rosenzweig, um die Offenheit eines dynamischen Zusammenspiels variabler Elemente zu bestimmen, gerade den entgegengesetzten Weg geht. In seiner Polemik gegen das idealistische All meint er gegen die Starrheit jenes Modells gerade das eines Verhältnisses zwischen Teilen und Ganzem einführen zu müssen: vgl. F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Den Haag 1976, S. 56. 26 Vgl. Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, in: Werke, hg. von Karl Schlechta. München 1955, Bd. 2, S. 946: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“. 19

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Das Werk, aus dem ich das Zitat entnommen habe, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, ist eine systemtheoretische Reflexion über den Status der Religion, der Cohen eine Eigenart, aber keine Selbständigkeit im System der Philosophie anzuerkennen bereit ist. Nun ist es gerade die Eigenart der Religion, die durch die arabisch-jüdische mittelalterliche Attributenlehre – zu deren Methode Cohen sich hier bekennt – „in einer Schwebe […] zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit, zwischen Intellekt und Willen, zwischen Metaphysik und Ethik [gehalten wird]“.27 Für Cohen soll man „dieses Schweben und scheinbare Schwanken“ nicht so missverstehen, als ob „eine Selbständigkeit der religiösen Bewußtseinsart dadurch dem Glauben zugesprochen werden sollte“.28 Die Deutung des Schwebens als ein bloßes „Schwanken“ und die damit verbundene negative Bewertung setzen jenen von „Positivität, Festigkeit, Sicherheit und Objektivität“ bestimmten Horizont voraus, der laut Walter Schulz’ Metaphysik des Schwebens von jeher die traditionelle ontologische Metaphysik gekennzeichnet haben soll.29 Gerade gegen die Annahme einer solchen von Logik und Ethik unterschiedenen, selbständigen Metaphysik hatte sich Cohen im einleitenden Kapitel des Werks geäußert.30 Schon in der Logik der reinen Erkenntnis hatte er geschrieben: „Jener vagen Metaphysik gegenüber behaupten wir die Logik der reinen Erkenntnis als die eine und die erste Richtung der Metaphysik, welche die Voraussetzung der anderen Richtungen wird. Keine Metaphysik ohne Logik. Und keine Metaphysik ohne das System der Philosophie. Das System der Philosophie erledigt und entwertet auch ihrer Bestrebung nach die falsche Metaphysik.“31

Das „Schweben“ soll also, gegen jeden Versuch einer metaphysischen Herabwürdigung, als der positive Zustand eines Denkens anerkannt werden, das, ohne in der lähmenden Annahme eines über allen Systemgliedern erhabenen fundamentum inconcussum seine Zuflucht zu nehmen, die fruchtbare Spannung zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit aushält. Gerade diese Spannung stellt das zentrale Moment in Cohens Systemauffassung dar. Wie Helmut Holzhey geschrieben hat, zeichnet sich „die Struktur von Cohens ,System der Philosophie‘ […] am genauesten in der Verhältnisbestimmung von Logik und Ethik ab“.32 Im Rahmen dieser Verhältnisbestimmung entwickelt 27 H. Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Gießen 1915; Werke, Bd. 10, S. 106. 28 Ebd. 29 Walter Schulz, Die Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik. Pfullingen 1985, S. 416. – Schon Helmut Holzhey hat Cohens Begriff des „Schwebens“ mit der von Schulz entfalteten Auffassung in Zusammenhang gebracht, vgl. Holzhey, Gott und Seele. Zum Verhältnis von Metaphysikkritik und Religionsphilosophie bei Hermann Cohen, in: Hermann Cohen’s Philosophy of Religion, hg. von Stéphane Moses/Hartwig Wiedebach. Hildesheim/New York 1997, S. 85 – 104, bes. 101. 30 Vgl. H. Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, S. 11 ff. 31 H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 607. 32 H. Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 1, S. 318.

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Cohen auch die eigene Theorie der Wahrheit – einer Wahrheit, die sich nicht in einem einzigen Systemglied einordnen lässt, sondern immer nur zwischen den Gliedern, in ihrem Zusammenspiel besteht. Nach dem „Grundgesetz der Wahrheit“, den Cohen im ersten Kapitel seiner Ethik des reinen Willens formuliert, bedeutet Wahrheit „den Zusammenhang und den Einklang des theoretischen und des ethischen Problems“.33 Wahrheit wird dort ferner als eine „Methode“ bestimmt, „welche die grundsätzliche Verschiedenheit von Vernunftinteressen harmonisiert“.34 Als solche „erwächst“ sie für Cohen „beiden Arten und Interessen der Vernunft“35 und kann höchstens zu einer „Rückwirkung der Ethik auf die Logik“36 führen; „in keiner Weise“ stellt sie aber, wie Holzhey betont hat, eine ursprüngliche Einheit dar, die „die Ableitung der Differenz von theoretischer und praktischer Philosophie“ erlauben würde.37 Es ist nach Holzheys Worten „um den Preis einer nur lockeren Systematik“, dass Cohen hier, „in stärkerem Respekt vor der transzendentalphilosophischen Verpflichtung aufs ,Faktum‘“, den eigenen Weg „im Verfolg des systematischen Grundproblems der Philosophie“ geht.38 Auch Rosenzweig hat einen ähnlichen Grundzug in Cohens Systemauffassung betont: „Ganz wenige Voraussetzungen sind ihm gegeben, eigentlich nur zwei: die Sonderung der logischen und der ethischen Aufgabe. Dazwischen werden nun die Fäden gezogen, und zwar kommt es dabei offenbar nicht auf das Gespinst an, sondern auf das Spinnen; die Aufhängepunkte des Netzes sind fest, fest bis zur Starrheit, dazwischen bleibt alles locker, gewissermaßen im geistigen Aggregatzustand des Experiments.“39

Die so zutage tretende „lockere Systematik“ kann aber aufgrund des bisher Gesagten nicht einfach eine unerwünschte Folge des Cohenschen Ansatzes darstellen: In der „Auflockerung der festen funktionellen Verbundenheit“ (Walter Benjamin40) muss vielmehr ein Grundanliegen seiner Systemauffassung anerkannt werden. Auch für das System gilt, was Cohen in der Logik der reinen Erkenntnis über die damit eng verbundene Kategorie des „Begriffs“ schreibt: Auch das System „muß immer Leben bedeuten, d. h. Regsamkeit, Offenbleiben der Probleme, und immanente Arbeit an 33

H. Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 89. – Zum Terminus „Einklang“ vgl. Peter A. Schmid, Ethik als Hermeneutik. Systematische Untersuchungen zu Hermann Cohens Rechtsund Tugendlehre. Würzburg 1995, S. 220. 34 H. Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 91. 35 Ebd., S. 87. 36 Ebd., S. 90. 37 H. Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. I, S. 327. 38 Ebd., S. 308. 39 F. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der Jüdischen Schriften Hermann Cohens, in: ders.: Zweistromland. Kleine Schriften zu Glauben und Denken. Den Haag 1984, S. 177 – 223, bes. 203. 40 Vgl. Walter Benjamin, Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, in: ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt a. M. 1972 ff., Bd. II.1, S. 106.

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deren Behandlung“.41 Voraussetzung eines solchen Lebens kann nur eine Systematik sein, die sich endgültig von der Starrheit des deduktiven Modells verabschiedet hat. 3. Das „natürliche Systemgefühl für die Einheit der Vernunft“ Bezeichnenderweise folgt die Formulierung vom „Grundgesetz der Wahrheit“ in der Ethik des reinen Willens unmittelbar nach Cohens kritischen Bemerkungen über Kants „Primat der praktischen Vernunft“. Seine Vorbehalte sind prinzipieller Natur:42 „Der Ethik ist durch solche Vorzugswerte nicht gedient. Wenn im Überschwang des sittlichen Gefühls die Logik gegen die Ethik herabgesetzt wird, so mag die religiöse Sittlichkeit darüber triumphieren; die Ethik und die ethische Wahrheit wird dadurch nicht gefördert.“43

Diese Worte könnten ebenso gut als Kommentar zu Levinas’ Behauptung der Ethik als der Ersten Philosophie44 gelten. Auf systemtheoretischer Ebene stellt sich nämlich die Frage, ob das entscheidende Problem nicht vielmehr die Bestreitung einer starken Ersten Philosophie als solche sein muss, bzw. ob nicht ausschließlich eine solche Bestreitung die Lebenskraft eines Systems fördern kann. Diese Frage hat vermutlich in der Verteilung der Gewichte innerhalb des Systems der Philosophie für Cohen eine erhebliche Rolle gespielt. Gerade der methodische „Vorrang der Logik“ fungiert nämlich dort als Voraussetzung für die „Behauptung der systematischen Zentralität der Ethik“.45 Die Kritik am „Primat der praktischen Vernunft“ steht im Cohenschen Werk nicht isoliert da. Ähnliche Vorbehalte gegenüber dem Kantischen Ansatz kehren in der zweiten Auflage von Kants Begründung der Ethik wieder. Hier beklagt Cohen im Kapitel über Kants Geschichtsauffassung, dass „die kritische Philosophie“ nicht in der erforderlichen „methodischen Schärfe und Treffsicherheit“ „gegen Dogmatismus, Skeptizismus und Moderantismus“ aufgestellt worden sei: „Auch hier wird der Ethik die Vormacht zuerteilt; von der theoretischen, der methodischen Grundlage wird kaum Erwähnung getan“.46 Wenn in der zweiten Auflage von Kants Theorie der Erfahrung (1885) Cohen „das scharfe Gefühl für die disparaten Gebiete von Erfahrung und Sittenlehre“ rühmend 41

H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 378. Hierzu vgl. Friedrich Niewöhner, ,Primat der Ethik‘ oder ,erkenntnistheoretische Begründung der Ethik‘? Thesen zur Kant-Rezeption in der jüdischen Philosophie, in: Judentum im Zeitalter der Aufklärung, im Auftrag der Lessing-Akademie hg. von Günter Schulz. Wolfenbüttel 1977, S. 119 – 161. 43 H. Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 88. 44 Vgl. Emmanuel Levinas, Éthique comme philosophie première, in: Justifications de l’éthique, Acts du 19e Congrès de l’Association des Sociétés de Philosophie de langue française (6 – 9 septembre 1982). Bruxelles 1984, S. 41 – 51. 45 H. Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, S. 11. 46 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik. 2. Aufl., Berlin 1910; Werke, Bd. 2, S. 546 f. 42

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als „die allgemeine Geistesdisposition Kants“ bezeichnet hatte,47 so hebt er nun in der zweiten Auflage von Kants Begründung der Ethik (1910) einige fragwürdige Züge der Kantischen Philosophie hervor, die gerade mit einem solchen „scharfen Gefühl“ unzertrennlich verbunden sind. Für Kant sollen die „methodischen Bedenken“ vorherrschend geblieben sein, so bemerkt nun Cohen kritisch, „welche ihm die Einschärfung des Unterschiedes zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis als Wahrzeichen echter Philosophie erscheinen ließen“.48 Nur das, was Cohen hier Kants „natürliche[s] Systemgefühl für die Einheit der Vernunft“ nennt, soll gegen diese Bedenken einen gewissen Widerstand geleistet haben – ohne aber dass die Andeutungen, die sich bei Kant finden lassen, je zu Richtungslinien entwickelt wurden.49 Die Antwort auf die Frage, wie Cohen selbst in der eigenen systemtheoretischen Reflexion eines solchen „natürlichen Systemgefühls für die Einheit der Vernunft“ Rechnung getragen hat, soll wiederum in der Ethik des reinen Willens gesucht werden. Im Gegensatz zu Kants „Einschärfung des Unterschiedes zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis“, führt hier die Anerkennung, dass „das Problem der Ethik […] ein Wissen […], ein strenges, genaues Erkennen [bedeuten soll]“, zu einer „klaren Aufhebung“ des „Gegensatzes“, „der zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft besteht“: „Daß zwei Arten des Interesses unterschieden werden müssen, das steht außer Frage; der Unterschied von Sein und Sollen bedeutet dies. Das eine ist das theoretische Interesse an dem Sein der Natur; das andere ist das praktische Interesse, das Interesse an der Handlung und an dem Willen. Nun ist aber auch dieses Letztere ein Interesse der Vernunft, also auch eine Art von theoretischem Interesse.“50

Mit Recht hat Holzhey den „systemtheoretisch gesehen, schwachen Begriff der Einheit der Vernunft“ hervorgehoben, der in diesem Zusammenhang zutage tritt.51 Die Harmonisierung verschiedener Vernunftinteressen durch die Methode der Wahrheit bleibt auch in rein vernunfttheoretischer Hinsicht Cohens letztes Wort: Die problematische Einheit der Vernunft kann sich höchstens, durch die systemtheoretische Reflexion, in eine Einheit der problematischen Vernunft verwandeln, die sich dann als solche immer nur „in einer Schwebe zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit“ wird behaupten müssen. 4. Ein an-archisches System? Nur der methodische „Vorrang“ der Logik kann die Offenheit und Variabilität der Glieder gewährleisten, die uns als wesentliche Züge der Cohenschen Systemauffas47

H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 762 f. (2. Aufl., Berlin 1885, S. 599 f.). H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 377. 49 Ebd. 50 H. Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 47. 51 H. Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. I, S. 327. 48

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sung entgegentraten. Wie schon angedeutet, kann die Logik durch einen solchen Vorrang nicht für sich allein den Titel einer Ersten Philosophie beanspruchen wollen. Ihr methodischer Vorrang soll vielmehr die „systematische Zentralität der Ethik“ zur Geltung kommen lassen. Dieser Gedanke erscheint bei Cohen mehrmals, und zwar vor allem in seinen ethischen Schriften.52 Ich möchte ihn hier aus dem Gesichtspunkt der Logik, in rein systemtheoretischer Perspektive, ansprechen. Denn gerade in der Logik findet der Verzicht bzw. strategische Rückzug statt, der allein das gesuchte dynamische Gleichgewicht im System ermöglichen soll. Wenn gegen die Gefahr einer Erstarrung das System einer sich selbst begrenzenden Ersten Philosophie bedarf, so soll eine solche Begrenzung bereits innerhalb der letzteren den Status des philosophischen Prinzips als solchen bestimmen. Diese Bestimmung findet in der Logik der reinen Erkenntnis unter dem Titel des „Urteils des Ursprungs“ statt. Gegen „diejenige Bedeutung des Wortes, welche im modernen Sprachgebrauche durch das lateinische Wort des Prinzips allgemein und mit scheinbarer Sicherheit bezeichnet wird“, will Cohen das „urmenschliche Interesse an der Frage des Ursprungs“ wieder wachrufen.53 Die kritische Auseinandersetzung mit der metaphysischen Auffassung des Seinsgrundes lässt ein solches Prinzip als präzise Negation des fundamentum inconcussum zutage treten oder, wenn man so sagen will (und so komme ich zu einem weiteren Thema, das Hartwig Wiedebach in seiner Einleitung anklingen ließ): als eine sich selbst an-archisch verneinende Arché. Die systemtheoretische Relevanz dieses Prinzips wird ausdrücklich im letzten Abschnitt der Logik der reinen Erkenntnis über „Die Logik und das System der Philosophie“ betont: „Die Einheitlichkeit des Systems fordert einen Mittelpunkt in dem Fundamente der Logik. Dieses methodische Zentrum bildet die Idee der Hypothesis, die wir zum Urteil und zur Logik des Ursprungs entwickelt haben.“54

Das Fundament der Logik soll also zum Mittelpunkt des Systems werden. Dadurch wird aber der „Grund des Systems“ selbst – wie Cohen weiter schreibt – als „Mittelpunkt“ bestimmt, „der zum Schwerpunkt für die Tragkraft aller Fragen wird“.55 Die weiteren Bemerkungen über das Verhältnis zwischen Ursprung und System, die man im Zusammenhang der Diskussion über die Kategorie des Systems finden kann, bestätigen den grundsätzlichen Wert der so zutage tretenden Korrespondenz. Über die Gegenüberstellung von System und Ganzem schreibt Cohen z. B.: „Wo man einen Gegenstand aus Teilen zusammenzimmern kann, da bedarf es keines Urteils des Ursprungs, und also keiner Logik. Die Logik setzt an die Stelle des Ganzen 52 Neben der schon erwähnten Stelle aus Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, S. 11, vgl. vor allem Cohens Ethik des reinen Willens, S. 23 u. 29. 53 H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 80. 54 Ebd., S. 601. 55 Ebd.

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das System“.56 Wenige Seiten später, über die Einheit des Begriffs, heißt es dann: „Der Begriff ist diejenige Einheit, die selbst wieder in Einheiten wurzelt, und in Einheiten gipfelt. Da gibt es keinen Anfang und kein Ende. Der Anfang ist eben vielmehr Ursprung; und das Ende vielmehr System“.57 Und schließlich, rückblickend und zusammenfassend: „Ursprung und System erscheinen wie ein natürlicher Anfang und ein natürliches Ende. Und der ganze Aufbau, der von diesem Anfange aus zu diesem Ende aufsteigt, stellt eine innere Zweckmäßigkeit dar, die um so wahrhafter ist, als sie der Verbesserung fähig bleibt“.58 5. Musikalisches Paradigma Franz Rosenzweig, der im Stern der Erlösung Cohen als den „entschlossenste[n] Systematiker des letzten Menschenalters“ bezeichnet hatte,59 fügt einige Jahre später in seiner Einleitung zu Cohens Jüdischen Schriften dieser Feststellung eine für unseres Thema nicht uninteressante Bemerkung hinzu: „Cohen ist, obwohl durch und durch Systematiker, gar kein architektonischer Denker“.60 Erwägt man, wie eng bei Kant in verschiedenen Kontexten die Verknüpfung zwischen dem architektonischen Moment und der „Idee des Ganzen“ ist,61 so hat man einen Grund mehr, um Rosenzweig zuzustimmen. Aufgrund des bisher Gesagten sollte einleuchten, dass sich das lockere, von Rückwirkungen durchquerte und z. T. schwebende Gefüge, dessen Grundzüge ich zu entwerfen versucht habe, nur schwer mit einer klassischen architektonischen Metaphorik vereinbaren und beschreiben lässt. Die Stelle in Kants Begründung der Ethik, an der sich Cohen vielleicht am intensivsten einer solchen Metaphorik bedient hat, um dadurch sein Programm einer „erkenntnistheoretischen Begründung der Ethik“ zu beschreiben, lässt in den Abweichungen der zweiten von der ersten Auflage die Zweifel und Dilemmata eines unsicheren Architekten zutage treten. Ging es nämlich in der ersten Auflage für die Ethik darum, „nicht bloß auf dem Grunde der Erfahrungslehre das eigene Gebäude zu errichten, sondern den eigenen Bau nach den Gesetzen jener fundamentalen Disziplin zu vollführen, [und] auch in der Ermittlung derjenigen Begriffe, welche der Ethik eigen sind, das Eigenthumsrecht aus der Erfahrungslehre abzuleiten“,62

so geht es nun in der zweiten Auflage vielmehr darum, 56

Ebd., S. 378. Ebd., S. 380 f. 58 Ebd., S. 398. 59 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 114. 60 F. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe der Jüdischen Schriften Hermann Cohens (s. Anm. 39), S. 203. 61 Vgl. etwa Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 10; Kritik der Urteislkraft AA V 381; Logik Jäsche, AA IX 93. 62 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, 1. Aufl., Berlin 1877, S. 15. 57

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„nicht etwa auf dem Grunde der Erfahrungslehre selbst das eigene Gebäude zu errichten, sondern auf eigenem Grunde den neuen Bau, aber nach den Gesetzen und Methoden jener fundamentalen Disziplin zu vollführen, [und] auch in der Ermittlung derjenigen Begriffe, welche der Ethik eigen sind, das Eigentumsrecht wenn auch nicht aus der Erfahrungslehre abzuleiten, so doch mit ihr zu vereinbaren.“63

Ohne jetzt auf alle Aspekte und Implikationen der Korrektur im einzelnen eingehen zu wollen,64 will ich nur die Tatsache hervorheben, dass ihr wesentlicher Sinn in der Ersetzung des „Ableitens“ durch das „Vereinbaren“ besteht. Damit sind wir wieder auf die harmonisierende Methode und auf den „Einklang“ verwiesen, denen wir schon im Grundgesetz der Wahrheit begegnet waren. Die systematische Denkform, die so an die Stelle der Architektonik tritt, sucht die eigene Definition vornehmlich durch die Verwendung einer musikalischen Metaphorik. Zeugnisse davon lassen sich in Cohens systemtheoretischer Reflexion relativ häufig aufspüren, und waren für mich der Anlass, im Titel meines Beitrags von einer Polyphonie des Systems zu reden. Vor allem Leibniz, „der Systematiker der Harmonie“, wie ihn Cohen einmal im Kapitel über das Urteil des Ursprungs nennt,65 steht hier vermutlich im Hintergrund. Das musikalische Paradigma prägt aber in der Logik der reinen Erkenntnis die ganze Theorie der Urteilsarten und der Kategorien, deren Verhältnisse ständig nach dem Modell der Variationen eines Themas oder Motivs bestimmt werden. Kurz nach den Ausführungen über die Kategorie des Systems schreibt Cohen z. B.: „Wie die Abwandlungen desselben Themas, desselben Motivs, erscheinen die Kategorien. Aber es ist die Kraft, die schöpferische Bedeutsamkeit des Motivs, welche das Urteil ausmacht“.66 Ähnliche Formulierungen lassen sich im Abschnitt der Einleitung über „Das Urteil und die Kategorien“ finden, und kehren dann auch im „Beschluß“ des ganzen Werkes wieder.67 Ein solches Motiv kommt aber vor allem dort zur Geltung, wo Cohen behauptet, dass „alle reinen Erkenntnisse […] Abwandlungen des Prinzips des Ursprungs sein [müssen]“.68 Gerade im Nachweis einer solchen Beziehung aller Prinzipien auf das Ursprungsprinzip konstituiert sich für Holzhey „das philosophisch-logische System der reinen Erkenntnisse“ – und zwar als ein „System der durch das Ursprungsprinzip qualifizierten, nicht aber aus ihm deduzierten Urteile“.69 Für das systematische Denken ergibt sich hier letztlich ein Horizont, der weder architektonische Beständigkeit noch eindeutig und ein für allemal abgesteckte Gebiete kennt: Dem nomadischen, sich nur der Einheit der eigenen Methode anheimgebenden Denken bleibt dabei nur der Polarstern eines Problems übrig. Denn, nach 63

H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl., S. 17 (Hervorhebungen vom Vf.). Hierzu vgl. H. Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 1, S. 318 f. 65 H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 91. 66 Ebd., S. 398. 67 Vgl. ebd., S. 51 f., 586. 68 Ebd., S. 36. 69 H. Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 1, S. 296.

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Cohens Worten: „Je nach den Problemen werden die Gebiete abgesteckt. Aber stets ist es Ein Problem in allen Fragen: der Ursprung“.70

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H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 118.

Enzyklopädie und System 1800/1900: Von D’Alembert bis Rosenzweig Andreas B. Kilcher Franz Rosenzweigs Systementwurf des Stern der Erlösung (1921) baut wesentlich auf einer zugleich historischen und paradigmatischen Konstellation auf: Er gründet auf dem Rekurs auf den philosophischen und ästhetischen Diskurs über die Form des Wissens, wie er um 1800 namentlich im Umfeld des Idealismus an der Ordnungsform des Systems geführt wurde.1 Es ist bekannt, dass diese Bezüge zum Idealismus und zu seinem großen epistemologischen Paradigma des Systems bei Rosenzweig keineswegs bloß affirmativ, sondern ambivalent und kritisch sind.2 Rosenzweigs kritische Verhandlung der Form des Denkens um 1800 zeigt sich jedoch nicht allein am auffälligen Systembegriff. Im Hintergrund steht noch eine zweite, nicht weniger markante Ordnungsform des Wissens, die nicht zuletzt auch deshalb für Rosenzweig von besonderer Bedeutung war, weil sie ihrerseits zum System in einem höchst ambivalenten Verhältnis stand: diejenige der Enzyklopädie. Rosenzweig arbeitete im Stern zwar kaum ausdrücklich mit dieser zentralen epistemologischen Ordnungsform der Neuzeit. Jedoch zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass seine Kritik des idealistischen Systems im Wesentlichen den Argumenten eben jener Alternative zwischen System und Enzyklopädie folgte, die sich um 1800 auftat. Ausdrücklich verweist Rosenzweig auf die Enzyklopädie im Stern an einer, allerdings weitreichenden Stelle. Dabei bezieht er sich konkret auf Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817/1830), ausgehend von einem kritischen Blick auf Hegels Verständnis der Dialektik. Dem starren systematisch-methodischen „Dreitakt seiner Enzyklopädie“, so Rosenzweig, hält er ein komplexeres und dynamischeres Prozedere der „Mediatisierung“ entgegen, in dem These und Antithese gleichermaßen „schöpferisch“ seien.3 Dieser Rekurs auf die Enzyklopädie hat für 1 Diese Bezüge sind schon quantitativ unübersehbar: Wie Rosenzweig 1917 das von ihm so benannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse) veröffentlicht und dabei Schelling zugeschrieben hatte, so finden sich auch im Stern auffallend häufig Bezüge namentlich auf Kant, Schelling, Hegel, Novalis, Goethe, Schiller und Schleiermacher. 2 Vgl. etwa: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886 – 1929). Internationaler Kongress – Kassel 1986, hg. von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Freiburg i. Br. 1988. 3 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem. Frankfurt a. M. 1988, S. 256: „Wie nun bei uns

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die Debatte um die Form des Wissens beträchtliches Potential, auch wenn es hier weniger ausgeführt als angesprochen ist. Es gewinnt an Kontur, folgt man Rosenzweigs Spur zu Hegels Enzyklopädie weiter. Dort nämlich unterscheidet Hegel zwischen zwei konträren Typen der Enzyklopädik, die ausgerecht in ihrem Verhältnis zur strengen Denkform des Systems differieren, d. h. einer systemstrengen Enzyklopädie auf der einen Seite und einer systemlosen Enzyklopädie auf der anderen Seite. Die eine nobilitiert Hegel als „philosophische Enzyklopädie“, wie er sie selber in seinem „Grundriss“ aller philosophischen Wissenschaften zu leisten beanspruchte: eine Enzyklopädie, die ganz System ist. Der andere Typus dagegen ist aus Hegels Sicht ordnungslos und systemlos, eine Enzyklopädie mithin, die das Wissen nicht von einem idealistischen Grundsatz her organisiert, sondern es vielmehr in der Vielfalt und Heterogenität der empirischen Wissensgegenstände verliert. Gemäß dem Typus der „philosophischen Enzyklopädie“, um dies noch etwas genauer auszuführen, meint enzyklopädisch nichts anderes als systematisch. Folgerecht beschreibt er auch umgekehrt das System als eine enzyklopädische Form. Vollendet ist das System daher nach Hegel in der ästhetischen Form des „Kreises“ (zyklos), bzw. – die Enzyklopädie-Metapher auskostend – als ,Kreis aus Kreisen‘ des Wissens. Zu dieser enzyklopädischen Systemform der von Hegel beanspruchten Totalität des Wissens heißt es in der Einleitung der Enzyklopädie: „Der freie und wahrhafte Gedanke ist in sich konkret, und so ist er Idee, und in seiner ganzen Allgemeinheit die Idee oder das Absolute. Die Wissenschaft desselben ist wesentlich System, weil das Wahre als konkret nur als sich in sich entfaltend und in Einheit zusammennehmend und -haltend, d. i. als Totalität ist und nur durch Unterscheidung und Bestimmung seiner Unterschiede die Notwendigkeit derselben und die Freiheit des Ganzen sein kann. […] Jeder der Teile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes, ein sich in sich selbst schließender Kreis, aber die philosophische Idee ist darin in einer besonderen Bestimmtheit oder Elemente. Der einzelne Kreis durchbricht darum, weil er in sich Totalität ist, auch die Schranke seines Elements und begründet eine weitere Sphäre; das Ganze stellt sich daher als ein Kreis von Kreisen dar, deren jeder ein notwendiges Moment ist, so daß das System ihrer eigentümlichen Elemente die ganze Idee ausmacht, die ebenso in jedem einzelnen erscheint.“4

Die formale Kongruenz von Enzyklopädie und System in Gestalt einer systematischen Enzyklopädie bzw. eines enzyklopädischen Systems ist nach Hegel also eine Wissensformen der Totalität, des Ganzen, des Allgemeinen. In Hegels dialektischer Logik gewinnt sie weiter an Profil, indem er sie, wie angesprochen, nicht etwa isoliert gelten lässt, sondern von einer zweiten, konträren Form von Enzyklopädie abgrenzt, die dem Ja allermindestens gleichwertige Ursprünglichkeit des Nein, die der Schöpfung gleichwertige „Tatsächlichkeit“ der Offenbarung, gradezu die Grundkonzeption ist, so muß demnach auch unsre Synthesis, das Und, eine ganz andre Bedeutung kriegen; sie darf, eben weil Thesis und Antithesis beide an sich „schöpferisch“ sein sollen, selber nicht schöpferisch sein; sie darf nur das Ergebnis ziehen; sie ist wirklich nur das Und, nur der Schlußstein des übrigens auf eigenen Pfeilern errichteten Gewölbes.“ 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, neu hg. von Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler. Hamburg 1959, S. 47 f.

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die sich dem Systemanspruch gerade widersetzt. Unsystematisch wird die Enzyklopädie gemäß Hegel genau dann, wenn sie vom Allgemeinen der Idee in das Besondere, in die Geschichtlichkeit des Wissens förmlich herabsteigt, wenn sie sich also mit den vielfältigen und heterogenen Gegenständen des Wissens beschäftigt. Für diese amorphe Materialität des Wissens benutzte Hegel auch den Begriff des „Positiven der Wissenschaften“, das er in der Kontingenz des Empirischen und Geschichtlichen erkennt: Der „an sich rationelle Anfang“ der Wissenschaften, so Hegel, „geht in das Zufällige dadurch über, daß sie das Allgemeine in die empirische Einzelheit und Wirklichkeit herunterzuführen haben. […] [Z. B.] die Geschichte gehört hierher, insofern die Idee ihr Wesen, deren Erscheinung aber in der Zufälligkeit und im Felde der Willkür ist.“5 Eine derartige Enzyklopädie ist in Hegels wertender Terminologie keine „philosophische“, sondern bloß eine „gewöhnliche Enzyklopädie“. Sie bildet keinen „Kreis“ des Wissens, kein formvollendetes Ganzes einer Systemtotale, sondern ist eine amorphe Anhäufung von Daten ohne Struktur oder System; sie umfasst bloße „Sammlungen von Kenntnissen“. Was in der Antike seit Aelian als poikile istoria, als „Buntschriftstellerei“ bezeichnet wurde und in der Frühen Neuzeit in den polyhistorischen Formen der Florilegien und Miscellaneen Gestalt gewann,6 bezeichnete Hegel mit einem polemischen Begriff als „Aggregat“, eben als bloß zufällige, heterogene und formlose „Anhäufung“ eines Vielen, im Gegensatz zum formvollendeten, organischen, abgeschlossenen System. „Als Enzyklopädie wird die Wissenschaft nicht in der ausführlichen Entwicklung ihrer Besonderung dargestellt, sondern ist auf die Anfänge und die Grundbegriffe der besonderen Wissenschaften zu beschränken. […] – Die philosophische Enzyklopädie unterscheidet sich von einer anderen, gewöhnlichen Enzyklopädie dadurch, daß diese etwa ein Aggregat der Wissenschaften sein soll, welche zufälliger- und empirischerweise aufgenommen und worunter auch solche sind, die nur den Namen von Wissenschaften tragen, sonst aber selbst eine bloße Sammlung von Kenntnissen sind. Die Einheit, in welche in solchem Aggregate die Wissenschaften zusammengebracht werden, ist, weil sie äußerlich aufgenommen sind, gleichfalls eine äußerliche, – eine Ordnung. Diese muß aus demselben Grunde, zudem da auch die Materialien zufälliger Natur sind, ein Versuch bleiben und immer unpassende Seiten zeigen.“7

Mit dieser Unterscheidung zwischen „System“ als innerer notwendiger und „Aggregat“ als einer bloß äußerlichen, zufälligen, empirischen Ordnung schloss Hegel an den philosophischen Diskurs der Aufklärung an, genauer unter anderem an Leibniz8

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Hegel, Enzyklopädie, S. 49. Vgl.: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit, hg. von Flemming Schock. Berlin 2012. 7 Hegel, Enzyklopädie, S. 48 f. 8 Leibniz stufte die demokritischen Atome als blosses Aggregat ein und liess nur die Monade als wahres Atom gelten. Vgl. dazu Friedrich Kaulbach, [Art.] Aggregat, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, S. 102. 6

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und vor allem Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft am Ende der „transzendentalen Dialektik“ eben diese Differenz gezogen hatte: „Übersehen wir unsere Verstandeserkenntnisse in ihrem ganzen Umfange, so finden wir, daß dasjenige, was Vernunft ganz eigentümlich darüber verfügt und zu Stande zu bringen sucht, das S y s t e m a t i s c h e der Erkenntnis sei, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip. Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhangendes System wird.“9

Diese im übrigen auch (worauf noch einzugehen ist) von Fichte aufgenommene Gegenüberstellung von „System“ und „Aggregat“ bei Kant also applizierte Hegel für seine kritische Unterscheidung zweier Formen von Enzyklopädie, von denen die eine sich dem idealistischen Totalitäts-Anspruch des Systems unterstellt, die andere dagegen als materiale Ansammlung einer heterogenen Vielheit von Wissensgegenständen jenen Anspruch auf Repräsentation eines Ganzen des Wissens weit verfehlt. *** Hegels Differenzierung in eine systematische und eine empirische Enzyklopädie steht nicht nur im Kontext eines philosophischen, sondern auch eines enzyklopädistischen Diskurses zur Form des Wissens. In diesen Kontext gestellt, erweist sich Hegels streng systematische Enzyklopädie jedoch als eine sehr dezidierte, wenn nicht gar isolierte und rückwärtsgerichtete Position; als eine Art Neo-Cartesianismus. Das wird deutlich, vergegenwärtigt man sich, was Hegel mit seinem Gegenmodell der „gewöhnlichen Enzyklopädie“ konkret anspricht. Hinter seiner Polemik gegen die „Aggregat“-Enzyklopädie verbirgt sich weniger ein Angriff auf die frühneuzeitliche Polyhistorie, obwohl er in der Ästhetik auch deren zeitgenössische poetologische Aktualisierung bei Jean Paul im Blick hatte.10 In der Enzyklopädie jedoch zielte Hegel primär auf enzyklopädische Wörterbuch-Projekte seit Diderot und D’Alembert, wie sie um 1800 auch in Deutschland große Konjunktur hatten, von Johann Georg Krünitz’ Oeconomischer Enzyklopädie (1773 – 1853) mit 242 Bänden bis Ersch und Grubers Allgemeiner Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste (1818 – 1889), die mit 167 Bänden unvollendet blieb. Der eigentliche Adressat von Hegels Kritik war aber offensichtlich die französische Enzyklopädie, nicht zuletzt auch, weil die Enzyklopädisten ihre Position mit einer programmatischen Systemkritik legitimierten. 9

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 566 [B 673]. 10 Vgl. Andreas Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 – 2000. München 2003, S. 398 ff.

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Es liegt auf der Hand, dass sich die Frage der Form und Ordnung des Wissens in der lexikographischen gegenüber der systematisch-philosophischen Enzyklopädik völlig neu stellte. Auch vor dem Hintergrund von Hegels Ausgrenzung im Namen des Systems sowie von Rosenzweigs Unbehagen mit diesem System ist es vielversprechend zu fragen, welche neuen Perspektiven solche Enzyklopädie-Vorhaben auf den Systembegriff generierten und welche alternativen Ordnungsformen des Wissens sie boten. Nicht zufällig gingen sie mit einer qualitativen Umwertung einher: Sie verstanden sich als eine notwendige Überwindung des System-Idealismus bzw. -Rationalismus etwa Cartesianischer Prägung. Die Form der Enzyklopädie galt ihnen nicht mehr als Apologie, sondern vielmehr als Kritik des Systems. Dennoch konnten die Enzyklopädisten im Gefolge von Diderot und D’Alembert auf den Systembegriff nicht verzichten. Sie mussten ihn vielmehr umdeuten und einen eigenen, durch die Systemkritik hindurchgegangenen Systembegriff entwickeln. Die Systemkritik der Enzyklopädisten markiert den Übergang von einem Denken des Allgemeinen zu einem Denken des Besonderen, von einem rationalen und mathematischen zu einem empirischen und physiologischen Wissen. ,Erkennen‘ ist nicht mehr das Einbinden des Singulären in ein geschlossenes System, sondern das Produkt progressiver Erfahrung und intellektueller Verknüpfung eines freien Individuums. Ausdruck dieser Gegenüberstellung ist die Ablösung des „esprit de système“ durch den „esprit systématique“, des rationalistischen Systemgeistes durch den genialisch forschenden, systembildenden Geist. Unter anderem D’Alembert und Condorcet treffen diese Unterscheidung. So schreibt D’Alembert im Discours préliminaire de l’Encyclopédie (1759): „Ce n’est donc point par des hypothèses vagues et arbitraires que nous pouvons espérer de connaître la nature, c’est par l’étude réfléchie des phénomènes, par la comparaison que nous ferons des uns avec des autres, par l’art de réduire autant qu’il sera possible, un grand nombre de phénomènes à un seul qui puisse en être regardé comme le principe […]. Cette réduction […] constitue le véritable esprit systématique, qu’il faut bien se garder de prendre pour l’esprit de système […].“11

Das System ist hier dem Denken nicht mehr als deduktive Prämisse vorangestellt. Vielmehr ist es das induktive Produkt eines Genies, das die Vielfalt der singulären Phänomene wahrnimmt, vergleicht, kombiniert, wie es auch Condorcet formulierte: Der neue „ésprit systematique“ ist das „talent de comparer […] toutes les idées justes et vraies que s’offrent à la méditation, d’en faire sortir les combinaisons neuves ou profondes que y sont attachées.“12 Die Opposition von „esprit de système“ und „esprit 11 Jean le Rond D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie/Einleitung zur Enzyklopädie, hg. u. eingel. von Erich Kohler. Hamburg 1955, S. 38 f. 12 Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Condorcet, Cinq mémoirs sur l’instruction publique. Paris 1994, S. 81 f. Vgl. auch die Passage in den Eloges: „On voit avec peine, dans ces différents morceaux de physique, une teinte de cet esprit systématique qu’on confondait alors avec l’esprit philosophique. L’un cherche des vérités, l’autre met des choses plausibles à la place des vérités qu’il n’a pu trouver, et se débarrasse ainsi de l’inquiétude ou de la honte de l’ignorance. Il faut être bien riche en connaissances réelles pour avoir le courage de convenir

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systématique“ folgt letztlich dem Übergang von System zu Enzyklopädie. Diese nämlich ist eben nicht bloß die normative Applikation eines abstrakten Systems, sondern vielmehr die kreative Konstruktion eines offenen Systems. *** Bevor diese Verhältnisbestimmung von System und Enzyklopädie an Diderots und D’Alemberts Enzyklopädie-Projekt weiter aufgezeigt werden soll, ist es gegeben, wieder auf Rosenzweig zurückzukommen. Die These ist ja die, dass er in einer vergleichbaren Weise wie die Enzyklopädisten von einer Systemkritik ausging, um aber zugleich nach einer neuen Systemform zu suchen, die gewissermaßen dem „esprit de système“ entspricht. Seine Kritik des Systems richtete sich dabei freilich nicht gegen den kartesianischen Rationalismus, sondern gegen das idealistische System, ausdrücklich gegen dasjenige Hegels. Dabei ist seine Kritik durchaus analog zu derjenigen der Enzyklopädisten: Sie gilt der Eskamotierung des Singulären aus dem Denken und damit demjenigen, was Rosenzweig als die „Eindimensionalität“ des idealistischen Systems bezeichnete: „Die idealistischen Systeme von 1800 zeigen durchweg, am deutlichsten das Hegelsche, der Anlage nach aber auch Fichtes und Schellings, einen Zug, den wir als Eindimensionalität bezeichnen müßten. Das Einzelne wird nicht unmittelbar aus dem Ganzen abgeleitet, sondern wird in seiner Stellung zwischen dem Nächsthöheren und dem Nächstniederen im System entwickelt […]; der Kraftstrom des Systemganzen fließt als ein einer und allgemeiner durch alle Einzelgestalten hindurch. Das entspricht genau der idealistischen Weltansicht.“13

Diese Kritik der idealistischen Systemtotalität und dagegen die Behauptung einer Vielheit von „Welt“ verhandelte Rosenzweig im Stern der Erlösung besonders eindringlich am Begriff des „Alls“. Dabei geht es ihm um eine Alternative zum idealistischen System „von Parmenides bis Hegel“ – so Rosenzweigs bekannte Redeweise – als einem Abstraktum von „Allheit“, die die Pluralität und Kontingenz dessen bewahrt, was als „Welt“ gelten kann. Dem System-Idealismus aber hielt er vor, Kontingenz nicht zu denken, sondern bloß zu „bewältigen“, und das heißt: um des Denkens willen zu verneinen. Eben dagegen stellte sich Rosenzweig mit einem nachgerade rebellischen Gestus: „Worauf beruhte denn jene Allheit? Weshalb wurde denn die Welt nicht etwa als Vielheit gedeutet? Warum gerade als Allheit? […]. Es ist die Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durchsetzt in der Behauptung der Allheit der Welt. Die Einheit des Logos begründet die Einheit der Welt als einer Allheit. Und hinwiederum bewährt jene Einheit ihren Wahrheitswert in dem Begründen dieser Allheit. Darum bedeutet de ce qu’on ignore, comme il faut qu’une femme soit très-belle, pour qu’elle ose parler des défauts de sa figure.“ (Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Condorcet, Eloges des Académiciens de l’Académie Royale des sciences, morts depuis l’an 1666 jusqc’en 1699, in: Oeuvres Complètes, Bd. 1, ed. Brunswick, Paris 1804, S. 51 f.). 13 Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 56.

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ein erfolgreicher Aufstand gegen die Allheit der Welt zugleich eine Leugnung der Einheit des Denkens. […] Die Einheit des Denkens also leugnet, wer, wie es hier geschieht, dem Sein die Allheit abspricht. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut. Unsre Zeit hat es getan. Die ,Kontingenz der Welt‘, ihr Nuneinmalsosein, hat man wohl immer gesehen. Aber diese Kontingenz galt es eben zu bewältigen. Dies war ja gerade die eigentlichste Aufgabe der Philosophie. Im Gedachtwerden verwandelte sich das ,Zufällige‘ in ein Notwendiges.“14

Gegen diese dem Diktat des Denkens entsprungene idealistische „Allheit“ stellte Rosenzweig daher ein Denken der Vielheit der Welt, für die er auch den Begriff des Kosmos verwendete: „Dieser Kosmos selbst […] ist […] nicht Einheit, sondern Vielheit, kein allumschließendes All, sondern ein eingeschlossenes Eins, das in sich wohl unendlich, aber nicht abgeschlossen ist. Also, wenn das Wort erlaubt ist, ein ausschließendes All.“15 Rosenzweig kontrastierte also mit systemkritischem Impetus zwei All-Begriffe: einen idealistisch-vereinheitlichenden und einen realistisch-pluralisierenden. Diese Kritik am Totalisierungszwang des Systemdenkens formulierte er nicht zuletzt auch in einem markanten Vergleich: dem Bild an der Wand. Verkürzt gesagt: das abstrakte Denken ohne Weltbezug vergleicht er einer leeren, bildlosen Wand. Dabei geht es Rosenzweig nicht um einen Antagonismus, vielmehr zielt er auf die Einheit von Wand und Bild, von Denken und Welt: „Man könnte das Verhältnis, in das so die Einheit des Denkens und die Einheit von Denken und Sein miteinander treten, etwa vergleichen mit einer Wand, auf der ein Gemälde hängt. Der Vergleich ist sogar in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Betrachten wir ihn näher. Jene übrigens leere Wand versinnbildlicht nicht übel, was von dem Denken bleibt, wenn man seine weltbezogene Vielheit abtrennt. Durchaus kein Nichts, aber doch etwas ganz Leeres, die nackte Einheit. Man könnte das Bild nicht aufhängen, wenn die Wand nicht da wäre, aber mit dem Bild selber hat sie nicht das mindeste zu tun. Sie hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn außer dem einen noch andre Bilder, oder statt des einen ein andres Bild auf ihr hinge. Wenn nach der von Parmenides bis Hegel herrschenden Vorstellung die Wand gewissermaßen al fresco bemalt war, Wand und Bild also eine Einheit ausmachten, so ist nun die Wand in sich Einheit, das Bild in sich unendliche Vielheit, nach außen ausschließende Allheit, das heißt aber: nicht Einheit, sondern Eins, – ,ein‘ Bild.“16

Seine eigene Wende vom leeren Systembegriff des Idealismus hin zu einem Denken der Fülle und der Vielheit brachte Rosenzweig philosophiegeschichtlich mit dem späten Schelling in Verbindung, der zu den Begriffen des Realen und der Existenz fand.17 Er hätte aber auch bei jenem epistemologischen Paradigma ansetzen können, dem Hegels polemische Kritik als „Aggregat“ galt und das seinerseits mit einer fundamentalen Systemkritik einsetzte: den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts. Es ist bemerkenswert, dass in ihrem Diskurs über die Form des Wissens an der Enzyklopädie just jene Begriffe und Positionen verhandelt werden, die Rosenzweig um 1920 14

Ebd., S. 12 f. Ebd., S. 14. 16 Ebd., S. 14. 17 Vgl. ebd.

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stark machen sollte. Nicht nur setzten auch diese, wie angesprochen, mit einer grundsätzlichen Systemkritik ein. An der Enzyklopädie entwickelten sie auch neue Formen eines „esprit systématique“, die System und Aggregat nicht wie bei Hegel gegeneinander ausspielen, sondern die abstrakte Systemlogik zugunsten einer heterogenen Ganzheit aufgeben, die nicht subordinierend und hierarchisch ist, sondern koordinierend und pluralistisch. Tatsächlich kann die Enzyklopädie von Diderot und D’Alembert als einer der ersten, jedenfalls konsequentesten enzyklopädistischen Versuche gelten, die Einheit des Denkens an die Pluralität des Seins heranzuführen und über eine philosophische Begründung hinaus auch in das Historische, Empirische, Praktische und Technische des Wissens auszugreifen. Das zeigt – neben dem Discours préliminaire – auch der von D’Alembert stammende Artikel zum Systembegriff. Auf der einen Seite definiert er System pragmatisch und formal: „System ist nichts anderes als die Anordnung der verschiedenen Teile einer Kunst oder einer Wissenschaft in solcher Form, dass sie sich gegenseitig stützen und die letzten sich aus den ersten erklären.“18 Neben dieser pragmatischen Formalisierung steht auf der anderen Seite aber auch eine scharfe Kritik bestimmter, nämlich „abstrakter“ rationalistischer Systeme. Der Affekt galt damit idealistischen Systemen avant la lettre, die sprachkritisch (mit John Locke) als Gebäude aus leeren Worthülsen entlarvt wurden: „Generell ist es der große Fehler abstrakter Systeme, mit vagen und undefinierten Begriffen sowie mit sinnentleerten Worten und zahllosen Zweideutigkeiten zu arbeiten. Locke vergleicht die Fabrikanten solcher Systeme scharfsinnig mit Menschen, die ohne Geld und ohne Kenntnis der Währungen große Summen mit Münzen bezahlen, die sie als ,Louis‘, Livre, ,Ecu‘ bezeichnen. Welche Zahlungen sie auch immer unternehmen, ihre Summen bleiben immer nur Münzen [desgleichen gilt]: Welche Argumente die Philosophen abstrakter Systeme auch immer aufbringen, so bleiben ihre Schlussfolgerungen doch immer nur Worthülsen. Solche abstrakten Systeme sind jedoch, wo sie doch nicht über das Chaos der Metaphysik hinwegtäuschen können, bloß dazu geeignet, durch die Dreistigkeit ihrer Schlussfolgerungen die Einbildungskraft anzufeuern, durch den falschen Schein von Evidenzen den Geist zu verführen, durch monströseste Irrtümer den Starrsinn zu nähren und Streitereien nur immer weiter zu treiben.“19

18 Denis Diderot, Enzyklopädie. Eine Auswahl, hg. und aus dem Französischen übersetzt von Manfred Naumann. Leipzig 2001, S. 300. 19 Meine Übersetzung aus dem Artikel „Système“, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers […]. 17 Bände [Text] und 11 Bände [Tafeln], Paris 1751 – 1772, Bd. 15, S. 777 f.: „En général le grand défaut des systèmes abstraits, c’est de rouler sur des notions vagues & mal déterminées, sur des mots vuides des sens, sur des équivoques perpétuelles. M. Loke compare ingénieusement ces faiseurs de systèmes à des hommes, qui sans argent & sans connoissance des especes courantes, compteroient de grosses sommes avec des jettons, qu’ils appelleroient louis, livre, écu. Quelques calculs qu’ils fissent, leurs sommes ne seroient jamais que des jettons: quelques raisonnemens que fassent des philosophes à systèmes abstraits, leurs conclusions ne seront jamais que des mots. Or de tels systèmes, loin de dissiper le cahos de la métaphysique, ne sont propres qu’à éblouir l’imagination par la hardiesse des conséquences où ils conduisent, qu’à séduire l’esprit par des

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Diese Verhandlung des Systems in der Enzyklopädie zeigt sich nicht nur ex negativo als Kritik des „abstrakten Systems“, die letztlich auf Metaphysikkritik zielte. Sie umfasst auch die Konstruktion neuer Denkforen des Systems, neuer Systematiken. Diese werden zunächst nicht theoretisch und rational, sondern praktisch und pragmatisch begründet: als Funktionen im Zuge einer Neuerung der Wissensordnung in der Enzyklopädie. Das zeigt sich auch an der Vervielfältigung von Verfahren der Systematisierung des Wissens, enthält die Enzyklopädie doch nicht nur eine, sondern gleich eine Mehrzahl von Ordnungsformen, die in der Technik der Systematisierung heterogen sind, ja miteinander konkurrieren. Auf der einen Seite steht die „alphabetische Ordnung“, die den Phänotext der Enzyklopädie bestimmt, und zwar durch eine radikale Atomisierung des Wissens in eine arbiträre und rein pragmatische Reihenfolge von Begriffen und Dingen gemäß ihren Namen von A-Z. Die „ordre alphabetique“ bedeutet damit eine vollständige Auflösung jeglicher „abstrakten“ Systematik auf der Textoberfläche des Wissens. Was bleibt, ist eine irreduzible Partikularität und Pluralität von Wissensbausteinen zu pragmatischen Zwecken: Singuläre Begriffe, partikulare Gegenstände, technische Anwendungen sind die zerstreuten Inhalte dieses Wissens, das nachschlagbar wird. Nicht die formstrenge Einheit der Ideen und ihre rationale Zusammenführung – nicht also das System als solches – ist in der Enzyklopädie vorausgesetzt; vielmehr versammelt sie eine Vielheit des Weltwissens und der Wissensgegenstände, die sie bloß noch pragmatisch, in der Funktion einer utilité, am arbiträren Faden des Alphabets aufreiht. Diese Atomisierung und Pragmatisierung des Wissens in der ordre alphabetique wird in der Encyclopédie jedoch zugleich durch hintergründige Ordnungsverfahren teils wieder konterkariert. Die Enzyklopädisten entwickelten genaue Schreibtechniken, die der kritischen Desystematisierung und Pragmatisierung des Wissenstextes einen neuen „esprit systématique“ entgegenstellen. Konkret geht es vor allem um zwei Ordnungsverfahren, die in diesem Sinne ausdrücklich als „système“ bezeichnet wurden: erstens die Rückbindung der Artikel an das système figuré des connaissances humaines, zweitens die wechselseitige Vernetzung der einzelnen Artikel in einem système des renvois. Im ersten Fall erfolgt die Restrukturierung des atomisierten Wissens dadurch, dass die isolierten Artikel auf allgemeine Wissenschaften rückbezogen werden, das Besondere damit induktiv auf ein Allgemeines. Im zweiten Fall dagegen, im „System der Verweise“, werden keine subordinierend-hierarchischen Systemstrukturen, sondern koordinierende Vernetzungsstrukturen aufgebaut, die die Partikularität, Pluralität und Kontingenz der Wissensgegenstände nicht etwa induktiv aufheben und bewältigen, sondern bewahren. Das erste System, das tabellarische système figuré des connaissances humaines,20 hat einen strikter resystematisierenden Effekt als das zweite. Tatsächlich hat es die fausses lueurs d’évidence, qu’à nourrir l’entêtement pour les erreurs les plus monstrueuses, qu’à éterniser les disputes, ainsi que l’aigreur & l’emportement avec lequel on les soutient.“ 20 D’Alembert, Discours Préliminaire/Einleitung zur Enzyklopädie, S. 105. Vgl. auch Denis Diderot, Prospekt der Enzyklopädie [1750], in: ders., Philosophische Schriften, Frankfurt a. M. 1967, S. 111 – 140, S. 117.

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Funktion eines dem lexikographischen Phänotext vorangestellten Masterplans.21 Lesen im arbiträren Lexikontext funktioniert daher nach D’Alemberts Gebrauchsanweisung folgendermaßen: „In der Regel ist nach dem Wort, das den Gegenstand des Artikels abgibt, der Name der dafür in Frage kommenden Wissenschaft angegeben. Man braucht nur in der Systemtafel des menschlichen Wissens nachzusehen, wo jene Wissenschaft eingeordnet ist, um die Stelle des Artikels in der Enzyklopädie zu erfahren.“22 Bezeichnend für diese Geste der Resystematisierung sind auch die von D’Alembert eingesetzten Metaphern: er benennt das System als „Stammbaum“ (arbre) und „Weltkarte“ (mappemonde) des Wissens. Die Baum-Metapher hat Modellfunktion für die Form der Wissensordnung: Sie restituiert in einem Bild suggestiv die verlorene Einheit und Ganzheit der Enzyklopädie als ein generatives „System“ jenseits der zerklüfteten und amorphen Oberfläche des Wissens. Er verhält sich zu ihm wie eine verborgene, unsichtbar gewordene Tiefenstruktur. Auch die System-Metapher der „Weltkarte“ (mappemonde) unterstreicht die hintergründige Rationalisierung der vordergründigen Zertrümmerung des Wissens. Nach D’Alemberts verzweigter Metaphorik ist der Leser des Lexikons gleichsam in ein „Labyrinth“ versetzt bzw. auf ein Weltmeer verschlagen, in dem er sich ohne Anleitung nicht zurechtfinden kann. Diese Anleitung stellen die Enzyklopädisten mit der Systemtafel gleich einer „Weltkarte“ bereit. Sie erst macht das Meer der Artikel navigierbar. Der philosophische Enzyklopädist soll mit ihrer Hilfe „über diesem Labyrinth stehen und von einem überlegenen Standpunkt aus gleichzeitig die hauptsächlichen Künste und Wissenschaften erfassen können; er soll die Gegenstände seiner theoretischen Erwägungen und die mögliche Arbeit an diesen Gegenständen mit einem schnellen Blick übersehen; er soll die allgemeinen Zweige des menschlichen Wissens mit ihren charakteristischen Unterschieden oder ihren Gemeinsamkeiten herausstellen und […] die unsichtbaren Wege aufzeigen, die von dem einen zum anderen führen. Man könnte an eine Art Weltkarte (mappemonde) denken, auf der die wichtigsten Länder, ihre Lage und ihre Abhängigkeit voneinander sowie die Verbindung zwischen ihnen in Luftlinie verzeichnet sind […]; Spezialkarten stellen […] die verschiedenen Artikel der Enzyklopädie dar, und der Stammbaum oder die Gesamtübersicht (l’arbre ou système) wäre dann die Weltkarte.“23

Mit dem système des renvois, das vor allem Diderot begründete, entwickelten die Enzyklopädisten sodann ein zweites Ordnungsinstrument, das sich von der epistemologischen Rationalisierung des genealogischen Stammbaums teilweise grundlegend unterscheidet. Dem Verständnis von Kohärenz als Reduktion stellt es einen Begriff des Zusammenhangs als Steigerung von Relationsmöglichkeiten entgegen, dem monoperspektivischen rationalen System das polyperspektivische Verweisungsgefüge eines fragmentierten Textes. Im Hintergrund dieser neuen Enzyklopädik steht ein veränderter Begriff des Weltganzen, wonach die einzelnen Phänomene nicht auf erste Prinzipien reduzierbar, 21

Encyclopédie, Bd. 1., Paris 1751, S. lij f. D’Alembert, Discours Préliminaire/Einleitung zur Enzyklopädie, S. 105. 23 Ebd., S. 85 ff.

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sondern in ihrer irreduziblen Singularität und Diversität untereinander verbunden sind. Dieser ontologische Aspekt der Wissensordnung ist, nebenbei gesagt, auch mit Blick auf Rosenzweigs Begriffe des Alls und vor allem des Kosmos von Bedeutung. „Das Weltall“, so Diderot, „bietet uns nur besondere Dinge, unendlich viele, fast ohne irgendeine feststehende und bestimmte Einteilung; es gibt dabei kein Ding, das man das erste oder das letzte nennen kann; alles hängt zusammen und ergibt sich durch unmerklich feine Übergänge.“24 Ein weiterer Artikel aus Diderot Feder, das Lemma „Zusammenhang“ (rapport), bringt diese Theorie der Kohäsion auf den Punkt. Zusammenhang ist die Wahrnehmung des Weltalls als „universelle Verknüpfung aller Dinge“:25 „Die Gesamtheit der Wesen, die auf solche Weise im Zusammenhang miteinander stehen, ist keine einfache Reihe oder Reihenfolge im Rahmen einer einmaligen Ordnung von Dingen; sie ist vielmehr eine Verbindung von unendlich vielen Reihen, die miteinander gemischt und verflochten sind.“26

Mit diesem Begriff des Universums als eines „système infini de perceptions“ schloss Diderot auch an Leibniz’ Konzept der Welt als Unendlichkeit von Verhältnissen und Perzeptionen an.27 Entscheidend ist, dass Diderot diese Seinsordnung zugleich zum Prinzip einer Wissensordnung machte, indem er festhielt, dass das „unermeßliche Meer von Gegenständen“ nicht von einem übergeordneten Standpunkt aus betrachtet werden kann. Das „reale Weltall“ (univers réel) singulärer Spezies hat vielmehr, so Diderot, „unendlich viele Gesichtspunkte (une infinité de points de vûe), unter denen es dargestellt werden kann, und die Zahl der möglichen Systeme des menschlichen Wissens ist ebenso groß wie die Zahl dieser Gesichtspunkte.“28 Diese subjektive Vorstellung enzyklopädischer System-Ordnung, die erneut die Vorstellung eines abstrakten rationalen Systems durchkreuzt, erfordert eine gegenüber dem „Stammbaum“ des Wissens alternative Form der Vertextung des Lexikons. Diderots Alternative ist ein nicht-hierarchisches, mehrperspektivisches Textmodell. Genau dies bietet das système des renvois. Diese sekundäre Vertextung des fragmentierten Wissenstextes erfolgt nicht durch Subordination, sondern durch Koordination. Die „renvois“ generieren keine klassifikatorischen, sondern vielmehr kombinatorische Zusammenhänge. Diese kombinatorische Vertextungsform hob Diderot zudem an einem spezifischen Typus von Verweisen hervor, die noch auf eine spezifischere Alternative zur rationalen Enzyklopädik führt: an den sogenannten renvois de l’homme de génie. Ausgangslage dafür ist erneut Diderots Begriff des Universums als einer „in24

Diderot, Enzyklopädie, in: Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 149 – 234, hier: 184 f. Diderot, Zusammenhang, in: Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 408 ff. Vgl. dazu auch Gerhardt Stenger, Nature et liberté chez Diderot après l’Encyclopédie. Paris 1994. 26 Diderot, Zusammenhang, S. 411. 27 Diderot, Gedanken zur Interpretation der Natur, in: Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 415 – 471, hier: 458. 28 Diderot, Enzyklopädie, S. 185. 25

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finité de points de vues“. Wenn nämlich die Enzyklopädie vermittels ihres Verweissystems eine Vorstellung der Komplexität des Universums geben will, so tut sie dies weniger experimentell, sondern analogisch und hypothetisch. Das zeigt sich da am deutlichsten, wo nicht nur reale, sondern auch potentielle Relationen zwischen einzelnen Elementen des Wissens hergestellt werden. Diese renvois de l’homme de génie perfektionieren damit die enzyklopädische Technik der Verknüpfung überhaupt: „Das sind die Hinweise (renvois), die bei den Wissenschaften gewisse Beziehungen (certains rapports), bei den natürlichen Substanzen analoge Eigenschaften (qualités analogues), bei den Künsten ähnliche Arbeitsweisen (manoeuvres semblables) in Zusammenhang bringen und dadurch zu neuen spekulativen Wahrheiten, zur Vervollkommnung der bekannten Künste, zur Erfindung neuer Künste oder zur Wiederherstellung vergessener alter Künste führen können. Solche Hinweise sind Sache des homme de genie. Glücklich, wer sie zu finden vermag! Er hat jene Kombinationsgabe (esprit de combinaison), jenes Fingerspitzengefühl, das ich in einigen meiner »Gedanken über die Interpretation der Natur« definiert habe. Es ist jedenfalls besser, vage Vermutungen (conjectures chimériques) zu wagen, als nützliche Vermutungen zu unterlassen.“29

Die „genialen“ Verweise machen aus der enzyklopädischen eine kreative Kompetenz, die das Wissen nicht nur in seinen realen, naheliegenden und offensichtlichen, sondern auch in seinen möglichen, disparaten und verdeckten Zusammenhängen konstruiert. Sie sind damit die konsequenteste Entfaltung eines kreativen „esprit systématique“, der eben kein rationales System über die Wissensgegenstände stülpt, sondern – im Sinne auch von Condorcet – unter ihnen genialische Kombinationen herstellt. *** Die französische Enzyklopädie ist jedoch kein singuläres Beispiel eines durch die Systemkritik hindurchgegangenen enzyklopädischen esprit systématique. Es ist bemerkenswert, dass es im weiteren Kontext des deutschen Idealismus, auf den sich Rosenzweig ja vielmehr bezieht, noch ein ganz anders geartetes Enzyklopädieprojekt gibt, das aber auf analoge Weise eine Systematik entwickelt, nunmehr genauer nach dem idealistischen esprit de système. Die Rede ist von Novalis’ Enzyklopädistik. Auch Novalis realisierte eine kritische Korrektur des Systems durch die Enzyklopädie, dies allerdings auf ganz andere Weise als die französischen Enzyklopädisten: nicht pragmatisch und sensualistisch, sondern spekulativ und poetologisch. Er legte nicht etwa ein enzyklopädisches Wörterbuch vor, sondern eine fragmentarische Ansammlung von Begriffen und Exzerpten, Aufzeichnungen also zu einer Enzyklopädistik, die aber gleichermaßen von der Entwicklung eines neuen esprit systématique geleitet war. Fundamental systemkritisch – gerichtet nunmehr vor allem gegen Fich29 Ebd., S. 197; die deutsche Übersetzung der Philosophischen Schriften ist hier gemäß dem französischen Originaltext verbessert.

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tes Idealismus –, erhob er die kombinatorische Genialität im Stile der renvois de l’homme de genie zum enzyklopädischen Prinzip. Analog zu Rosenzweigs Hegel-Kritik grenzte sich Novalis von Fichte ab, dessen Wissenschaftslehre vor Hegel den konsequentesten und dominantesten idealistischen Systementwurf darstellte. Tatsächlich verstand Fichte die Form des Systems als ein auf einen initialen Grundsatz hierarchisch gebildetes Gebäude aus Sätzen: „Soll […] ein vollendetes und Einiges System im menschlichen Geiste seyn, so muß es einen solchen höchsten und absolut-ersten Grundsatz geben. Verbreite von ihm aus sich unser Wissen in noch so viele Reihen, von deren jeder wieder Reihen u. s. f. ausgehen, so müssen doch alle in einem einzigen Ringe festhangen, der an nichts befestiget ist, sondern durch seine eigne Kraft sich, und das ganze System hält. – Wir haben nun, einen durch seine eigene Schwerkraft sich haltenden Erdball, dessen Mittelpunkt alles, was wir nur wirklich auf dem Umkreis desselben […] angebaut haben, allmächtig anzieht, und kein Stäubchen aus seiner Sphäre sich entreißen läßt.“30

Während Fichte – wie schon Kant und später Hegel – von diesem strengen Systembegriff polemisch ein unsystematisches Wissens als ein bloßes „Aggregat von Kammern“31 unterschied, verteidigte Novalis umgekehrt – und konsequent – das Aggregat gegen das System.32 Das deduktive hierarchische System des Idealismus konterkariert er durch eine „Synthese der getrennten Systeme – oder auch des Systems und des Nichtsystems“, des „Reiches der Willkür (Anarchie) und des Reichs der Gesetze“.33 Das Gegenmodell gegen das idealistische System bezeichnet Novalis dann abwechselnd als eine „poetische“, „artistische“ oder „synkritische W[issenschafts]L[ehre]“.34 Ihre Systematik liegt nicht in der vertikalen Hierarchie logischer Sätze zu einem geschlossenen System, sondern in der horizontalen, syntagmatischen Kombinatorik von Ideen, Begriffen und Bildern zu einer Vielzahl offener Systematiken. „System der Ableitung aus dem Einfachen – System der Bearbeitung der gemeinen Erfahrung – System des blossen Ichs – Identität – System des blossen NichtIchs – Widersprechendes System des Ichs und NichtIchs […]. System des Occasionalism […] Fichtes System. Kants System. Chymische Methode – Physicalische – mechanische – mathematische Methode etc. System der Anarchie […]. Artistische Methode – artistisches System. Das ConfusionsSystem […].“35

30 Johann Gottlieb Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre [1794]. Grundlagen der gesammten Wissenschaftslehre [1794/5], Teilausgabe von Band I. 2 der von Reinhard Lauth und Hans Jacob herausgegebenen Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969, S. 116 – 126, hier: 125 f. 31 Ebd., S. 125. 32 Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Stuttgart, Bd. 3, 1968, S. 446. 33 Ebd., S. 98. 34 Ebd., S. 362. 35 Ebd., S. 446.

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Genau das, was Fichte ausgeschlossen hatte, nämlich „die systematische Form der Wissenschaft“ zu einem „Kunststück des Verbindens zu machen“36, strebte Novalis in seiner wissenspoetologischen Transformation der ars combinatoria an. Seine Wissenschaftslehre ist eine Artistik der Kombination: „Es können wunderbare Kunstwerke hier entstehn – wenn man das Fichtisiren erst artistisch zu treiben beginnt“.37 Tatsächlich begründet Novalis’ Allgemeines Brouillon die Enzyklopädie als eine Artistik der Kombination und realisiert damit eine „romant[ische] poët[ische] Ansicht d[er] W[issenschaften]“38. Ihre Logik der Verknüpfung entspricht ganz den renvois de l’homme de génie: Sie leistet eine ingeniöse kombinatorische Relationierung nicht nur des Wirklichen, sondern auch des Möglichen, nicht nur des Naheliegenden und Ähnlichen, sondern auch des noch so Disparaten und Fernen. Als eigentliches Verfahren seiner „Encyclopaedistik“ bestimmt Novalis daher die Konstruktion von „Verhältnissen – Aehnlichkeiten – Gleichheiten – Wirckungen der Wissenschaften auf einander.“39 Aus einer heterogenen Vielfalt von Elementen entsteht so durch kombinatorische Verknüpfungen ein neues Gebilde, das die Gestalt einer Enzyklopädie ebenso wie eines Kunstwerks erhalten konnte. Metaphern bzw. Paradigmen einer derart gesteigerten und deregulierten Komplexität sind die „Confusion“ und das „Chaos“. Sie sind Modelle einer umfassenden kombinatorischen Totalität und damit einer ingeniösen Enzyklopädik, die den esprit de système durch einen esprit systématique ersetzt. Diese Enzyklopädie ist weder ein Wörterbuch noch ein idealistisches System, sondern vielmehr, wie Novalis es nannte, ein „ConfusionsSystem“40 : zugleich ein Anti- oder Über-System aus kombinatorischen Verschmelzungen, Mischungen, Relationen, Ähnlichkeiten, Wirkungen der Wissenschaften und ihrer Terminologien aufeinander. Novalis’ Enzyklopädik ist also weit weg vom Rückfall des Idealismus in eine rationale Systematik, vielmehr radikalisiert sie die postsystematische Behauptung eines genialischen esprit systématique. *** Die beiden Beispiele von D’Alemberts und Diderots sowie von Novalis’ Enzyklopädik können ein erhellendes Licht auf Rosenzweigs Systementwurf des Stern der Erlösung werfen. Natürlich handelt es sich hierbei um inhaltlich teils sehr unterschiedliche Projekte: Insbesondere Rosenzweigs theologischer Ausgriff ließe sich mit dem radikalsäkularen Impetus der französischen Enzyklopädisten nicht vereinen. Sehr wohl vergleichbar ist aber die Form des Denkens, die von einer Kritik 36

Fichte, Wissenschaftslehre, S. 115. Novalis, Schriften, Bd. 2, 1965, S. 524. 38 Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 377. 39 Ebd., S. 280. 40 Ebd., S. 446.

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des abstrakten, rationalen, idealistischen Systems ausgeht und im Gegenzug dazu das Singuläre des Wissens in den Vordergrund rückt, um von da ausgehend einen neuen universalen Zusammenhang zu konstruieren. Gemeinsam ist also allen die Kritik der abendländischen Metaphysik als eines induktiven Denkens, das das singuläre Phänomen immer nur aus der Perspektive eines Allgemeinen – eines abstrakten Systems – verhandelt. Gemeinsam ist sodann die Suche nach einem neuen Systemdenken, das nicht der schematischen Logik der Anwendung folgt, sondern „kreativ“ und „genialisch“ ist, neue, auch artistische Formen der Wissensordnung etabliert. Rosenzweigs Stern erweist sich damit als ein neuer Versuch, jenseits des rationalen und idealistischen Systemzwangs die Vielheit der Dinge in einer universalen epistemologischen Form zu denken. Die Denkfigur des Sterns ist in diesem Sinne das Produkt eines genialischen enzyklopädischen esprit systématique, der durch die Kritik des esprit des système hindurchgegangen ist.

Maimonides’ Guide: A System-lover’s Critique of Systematic Philosophizing Warren Zev Harvey Like Franz Rosenzweig, Maimonides loved systems and was a master of systematization. Again like Rosenzweig, Maimonides was critical of philosophic systems. However, whereas Rosenzweig’s grand attack on the 19th-century Hegelian system was itself eminently systematic,1 Maimonides’ grand attack on the 12th-century neo-Platonic Aristotelian system was the very opposite of systematic. Maimonides was a rare case of a system-lover who was able to free himself or herself from the spell of systematization, and to write an uncompromisingly non-systematic philosophic book, The Guide of the Perplexed. Maimonides’ genius for systematization is most obviously seen in his 14-volume Code of Rabbinic Law, the Mishneh Torah. In this canonic work, written in Hebrew, he erected a thoroughly new systematization of Jewish Law, different from the Bible, from the Mishnah, and from anything else that had preceded him. Isadore Twersky, author of the Introduction to the Code of Maimonides, the magisterial study on the Mishneh Torah, writes at length of Maimonides’ “zest for systematization” and states: “The ruling passion of Maimonides’ life was order, system, conceptualization, and generalization, and this received its finest expression in the Mishneh Torah.”2 A striking sentence! The ruling passion in Maimonides’ life was not philosophy, not theology, not science, not law, not medicine, certainly not food, drink, or sex, not music or sport, not poetry or history, not justice or mercy, truth or peace – but system. System! Amazing! One is tempted to treat Twersky’s sentence as hyperbole. However, a review of Maimonides’ legal, medical, and philosophic works does not disconfirm it. One might even say that what is common to all of Maimonides’ diverse intellectual endeavors is his zest for systematization. Maimonides’ medical works clearly reveal his skill at systematization. For example, his celebrated Medical Aphorisms, written in Arabic like all his medical works, is

1 Cf. Benjamin Pollock, Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy. Cambridge University Press 2009, p. 1: “The Star of Redemption is devoted to a singularly ambitious philosophical task: grasping ‘the All’ […] in the form of a system.” 2 Isadore Twersky, Introduction to the Code of Maimonides. Yale University Press 1980, pp. 245, 257.

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an encyclopedic systematization of Galenic medicine.3 According to Herbert Davidson, a leading Maimonidean scholar, it is “a convenient distillation of Galen’s selfindulgently verbose writings on medicine,” and may be compared to the Mishneh Torah in that it presents “a new arrangement” of its subject matter.4 The unabashed zest for systematization is not at all absent from Maimonides’ philosophic writings. It is found in his early Introduction to Logic, written in Arabic, which presents a lean and heuristic systematization of basic Aristotelian logic. In the view of Rabbi Joseph Kafih, who translated several of Maimonides’ works from Arabic into Hebrew, including the Guide of the Perplexed and the Logic, it was Maimonides’ youthful study of Aristotelian logic that taught him to write systematically with grace and clarity.5 This systematizing zest is evidenced also in various subsections of The Guide of the Perplexed, for example, in the summary of the views of the Kala¯m (I, 73 – 76) or in the summary of the physics and metaphysics of Aristotle (II, preface).6 Regarding the latter, Harry Austryn Wolfson has written in his monumental Crescas’ Critique of Aristotle: “The power of generalization which is so remarkably displayed by Maimonides in all his writings, whether philosophic or Talmudic, is nowhere employed by him to greater advantage than in his introduction to the second part of the Guide of the Perplexed. Within the limited range of twenty-five propositions he contrived to summarize in compact and pithy form the main doctrines of Aristotle,” etc.7 Yet although individual subsections of the Guide may sometimes be organized systematically, the book as a whole is flagrantly unsystematic. Until this day, scholars dispute about the connection between its various parts and chapters. What is the rhyme or reason to the order of subjects discussed in the Guide, if indeed it has a rhyme or reason? Rosenzweig’s properly systematic Star of Redemption is divided into three Parts, and we all know what their respective themes are, even if we do not fully understand them: (1) Part I defines the three preexistent elements – God, the World, and Man; (2) Part II expounds the perennial threefold course of history – Creation, Revelation, and Redemption; and (3) Part III treats of the eternal triangular Gestalt – Life, Way, and 3 See Maimonides, Medical Aphorisms, Treatises 1 – 5, Arabic text and annotated English translation by Gerrit Bos. Brigham Young University Press 2004. Maimonides’ complete text contains 25 treatises. 4 Herbert A. Davidson, Moses Maimonides: The Man and His Works. Oxford University Press 2004, pp. 446 – 452. 5 Maimonides, Be’ur Melekhet ha-Higgayon, trans. Joseph David Kafih. Kiryat Ono 1997, p. 1: “There is no doubt [that Aristotle’s logical works] are what influenced the beauty of his style, the majesty of his language, the systematic nature [sedirut] of his propositions, and the structure of his dicta.” 6 See Maimonides, The Guide of the Perplexed, trans. Shlomo Pines. University of Chicago Press 1963, pp. 194 – 231, 235 – 241. 7 Harry Austryn Wolfson, Crescas’ Critique of Aristotle. Harvard University Press 1929, p. 1.

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Truth. The three themes are clear, although their profundity and fecundity challenge our comprehension, if not prevent it.8 Maimonides’ enchantingly unsystematic Guide of the Perplexed, like Rosenzweig’s Star, is divided into three Parts, but, unlike the case with the Star, no one can be sure what their respective themes are – and it goes without saying that no one can be sure he or she understands them. Until this day scholars dispute about the nature of the themes of the three Parts of the Guide. Rabbi Nissim ben Reuben of Girona, in the 14th century, held that the three Parts of the Guide concern: (1) metaphysics, (2) celestial physics, and (3) terrestrial physics.9 Rabbi Isaac Abrabanel, at the turn of the 16th century, argued that they treat of (1) the dogmas of God’s existence, unity, and incorporeity; (2) the dogmas of God’s ontological priority, the existence of prophecy, the uniqueness of Mosaic prophecy, and the divinity and eternality of the Torah; and (3) the dogmas of God’s knowledge and providence, and the dogma that God alone is to be worshiped.10 Modern scholars have also joined the debate. Simon Rawidowicz, writing in 1935, contended that the three Parts of the Guide concern: (1) a critique of erroneous views, (2) theory, and (3) practice.11 Leo Strauss, in his introduction to Pines’ translation of the Guide, 1963, presented an analysis of the Guide’s contents that seems, on the face of it, to ignore Maimonides’ own tripartite division of the book. Nonetheless, if one examines his analysis, it emerges that: (1) Part I treats of popular or dialectical theology (biblical terms and Kala¯m), (2) Part II treats of Aristotelian philosophy (proofs of God and prophecy), and (3) Part III treats of political and legal theory (the Chariot, Providence, and the Commandments).12 Lawrence Berman, in a 1973 lecture, argued that the three Parts concern: (1) the imagination and its perils, (2) the domain of the theoretical intellect, and (3) the relationship between theory and practice.13 Menachem Kellner suggested in 1982 that the three parts have as their themes: (1) God, (2)

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Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt 1921. English: The Star of Redemption, trans. William W. Hallo. New York 1970; trans. Barbara E. Galli. University of Wisconsin Press 2005. Hallo’s translation is more reliable, Galli’s is sometimes clearer. 9 Quoted by Rabbi Isaac Abrabanel in his Commentary to the Guide, in [Maimonides:] Moreh Nebukhim, trans. Samuel Ibn Tibbon, with the Commentaries of Ephodi, Shem Tob ben Joseph Ibn Shem Tob, Asher Crescas, and Isaac Abravanel, Warsaw: Goldman, 1872, III, end, p. 73, col. d. To be precise, Nissim holds: (1) metaphysics, beginning to II, 11; (2) celestial physics, II, 12-III, 7; (3) terrestrial physics, III, 8, to end. 10 Ibid., p. 74, col. c. 11 Simon Rawidowicz, The Structure of the Guide of the Perplexed (Hebrew), Tarbiz 6 (1935), pp. 285 – 333; reprinted in: ‘Iyyunim be-Mahashebet Yisrael‘. Vol. 1, Jerusalem 1969, pp. 237 – 96. 12 Maimonides, Guide, Pines trans., pp. xi-xiii. 13 Lawrence V. Berman, The Structure of Maimonides’ Guide of the Perplexed, Proceedings of the Sixth World Congress of Jewish Studies (August 1973). Vol. 3, Jerusalem 1977, pp. 7 – 13.

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Prophecy, and (3) reward and punishment.14 I myself, in an article in Aleph a few years ago, suggested that the three Parts concern: (1) a critique of metaphysics, (2) a critique of celestial physics, and (3) a critique of terrestrial science, including human sciences (psychology and law).15 The upshot of all this scholarly speculation is that the contents, structure, and direction of the Guide of the Perplexed remain a perplexity. In the Introduction to the Guide, Maimonides explains to his reader the curious ground-rules of his extraordinary book. He advises us: “If you wish to grasp the totality of what this Treatise contains, so that nothing of it will escape you, then you must connect its chapters one with another; and when reading a given chapter, your attention must be not only to understand the totality of the subject of that chapter, but also to grasp each word that occurs in it in the course of the speech, even if that word does not belong to the intention of the chapter. For the diction of this treatise has not been chosen at haphazard, but with great exactness and exceeding precision, and with care to avoid failing to explain any obscure point. And nothing has been mentioned out of its place, save with a view to explaining some matter in its proper place.”16

The Guide is thus written like a jigsaw puzzle. The arguments have been sawed into many pieces, and the pieces scattered throughout different chapters. The reader is challenged to collect the pieces, put them together, and thereby solve the puzzle. If the reader had thought that the literary and structural perplexities of the Guide are the result of careless writing, Maimonides assures us: he has written this book with the utmost care, nothing is accidental, nothing haphazard, every tiny detail is premeditated. If we come upon a word or a motif that seems to be out of place, we must be assured that it is purposely out of place, or, as Ephodi, a leading 14th-century commentator put it: it is not really out of place, because it was carefully hidden apparently out of place in order to hint at something.17 Nothing in the Guide is out of place, especially that which is apparently out of place. Rabbi Abraham Abulafia, one of the earliest commentators on the Guide and an illustrious devotee of numerology and cryptography, observed that if one adds up all the chapters of the Guide, one gets 177, which equals in gematria: gan eden (The Garden of Eden).18 However, since Maimonides did not number the chapters, it is 14

Menachem M. Kellner, Maimonides’ Thirteen Principles and the Structure of the Guide of the Perplexed, in: Journal of the History of Philosophy 20 (1982), pp. 76 – 84, esp. p. 79. 15 Warren Zev Harvey, Maimonides’ Critical Epistemology and Guide, II, 24, in: Aleph 8 (2008), p. 233. 16 Maimonides, Guide, Pines trans., p. 15. 17 Moreh Nebukhim with Commentaries, I, p. 9a, lamed: “When you see the Master state something that seems according to common opinion not to be in its place, it is not so but rather it was stated in its proper place for the sake of clarifying some doubt.” 18 Abraham Abulafia, Perush Sodot Moreh ha-Nebukhim, MS Paris 774 (Institute of Hebrew Manuscripts, Jerusalem, no. 12332), p. 177a. Cf. Abrabanel, in: Moreh Nebukhim with Commentaries, III, p. 73, col. b. See Raphael Jospe, Jewish Philosophy: Foundations and Extensions. Vol. 2, University Press of America 2008, pp. 65 – 78.

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not definite how many chapters the book has: there is a disagreement among the various testimonies – the Arabic manuscripts, the two early Hebrew translations (Rabbis Samuel ibn Tibbon and Judah Alharizi), and the 13th century Latin translation. Maimonides’ or Abulafia’s point is: if you succeed in putting the chapters together properly, you enter into the Garden of Eden. I suppose this would mean that the Guide promises to those who understand it a sort of Erlösung. Why has Maimonides written the Guide in this puzzling fashion? One explanation, offered by Shlomo Pines in his Introduction to his translation of the Guide, is that such unsystematic writing helps conceal the “dangerous” “temptation of philosophy” from the multitude. As Pines phrased it, following Leo Strauss and also medieval commentators (including Ephodi, mentioned previously), Maimonides hinted at his intentions “in veiled language” and left his “doctrines deliberately obscured by an extremely unsystematic method of exposition.”19 Unsystematic writing is, in other words, esoteric writing. The vulgar reader finds it difficult to grasp an “extremely unsystematic” scrambled presentation. Now, what Pines has written about the esoteric nature of unsystematic writing is certainly true, but I think there is a more essential reason for Maimonides’ “extremely unsystematic” writing in the Guide. Maimonides writes in his Introduction: “You should not think that these great secrets are fully and completely understood to anyone among us. They are not. But sometimes truth flashes out to us so that we think that it is day, and then matter and habit in their various forms conceal it so that we find ourselves again in an obscure night, almost as we were at first. We are like someone in a very dark night over whom lightning flashes time and time again. Among us there is one for whom the lightning flashes time and time again, so that he is always, as it were, in unceasing light. Thus, night appears to him as day [= the rank of Moses] […]. Among them there is one to whom the lightning flashes only once in the whole of his night […]. There are others between whose lightning flashes there are greater or shorter intervals […]. It is in accord with these states that the degrees of the perfect vary.”20

Truth, Maimonides is saying here, is not grasped systematically, but in flashes. It is not captured in systems, but revealed in lightning bolts. In a famous passage in his Critique of Pure Reason, Transcendental Dialectic, Book II, Chapter 2, “The Antinomy of Pure Reason,” Section 3, Kant wrote: “Human reason is by nature architectonic [architektonisch], i. e., it considers all cognitions as belonging to a possible system, and hence it permits only such principles as at least do not render an intended cognition incapable of standing together with others in some system or other.”21

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Maimonides, Guide, trans. Pines, pp. lvii-lviii. Guide, Pines trans., p. 7. 21 Immanuel Kant, Critique of Pure Reason, B 502, trans. Paul Guyer and Allen W. Wood. Cambridge University Press 1998. 20

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The presumed architectonic or systematizing nature of human reason is thus antiempirical: it polices empirical knowledge, and permits entry only to “such principles as […] do not render an intended cognition incapable of standing together with others in [a] system.” Rationalists will consider this a positive characteristic of Reason, but empiricists will consider it a negative one. What was it that Hegel, the greatest of all Systematizers, is supposed to have said when presented with inconvenient empirical facts? Desto schlimmer für die Tatsachen!22 As Albert Camus explained in his Myth of Sisyphus, human beings absurdly desire the cosmos to be rational like them23 – or we might say: they absurdly desire the cosmos to be architectonic or systematic like their Reason. Maimonides was an exception to Camus’ generalization. He did not share that desire. Maimonides, who was the most empiricist of Rationalists, believed that metaphysical truth may be glimpsed only in lightning flashes, and cannot be apprehended by architectonic or systematic thinking. In this Maimonides adumbrated Walter Benjamin, who said “knowledge comes only in lightning flashes.”24 Benjamin, by the way, was, like Maimonides, a rare case of a system-lover who was nonetheless capable of freeing himself when necessary from the spell of systematization. In the continuation of his comments in the Introduction to the Guide, Maimonides himself explicitly connects epistemology and pedagogy, that is, he argues that the unsystematic nature of learning requires an unsystematic method of teaching: “Know that whenever one of the perfect wishes to mention, either orally or in writing, something that he understands of these secrets […] he is unable to explain with complete clarity and coherence even the portion that he has apprehended, as he could do with the other sciences whose teaching is generally recognized. Rather, there will befall him when teaching another that which he had undergone when learning himself. I mean to say that the subject matter will appear, flash, and then be hidden again, as though this were the nature of this subject matter […]. For this reason, all the Sages […] when they aimed at teaching something of this subject matter, spoke of it only in parables and riddles.”25 22

According to the story, Hegel made this statement when it was shown him that certain observed motions of the planets did not conform to the theory set down in his doctoral dissertation, Dissertatio philosophica de Orbitis Planetarium (1801). However, my friend Dr. Hartwig Wiedebach has remarked to me that my reading of this story reflects a “common” but “simplistic” understanding of it. 23 Albert Camus, The Myth of Sisyphus, trans. Justin O’Brian. New York 1959, p. 37. Cf. Camus, Le Mythe de Sisyphe. Paris 1942, p. 71: “l’esprit qui désire et le monde qui déçoit.” 24 Walter Benjamin, The Arcades Project, trans. H. Eiland and K. McLaughlin. Harvard University Press 1999, p. 456. Cf. Benjamin, Gesammelte Schriften, vol. 5, p. 570 (N1, 1): “gibt es Erkenntnis nur blitzhaft.” Cf. also: Arcades Project, p. 473: “The dialectical image is a lightning flash. The Then must be held fast as it flashes its lightning image [aufblitzendes Bild] in the Now of recognizability. The rescue [Rettung] that is thus – and only thus – effected, can take place only for that which in the next moment is irretrievably [unrettbar] lost.” Cf. Gesammelte Schriften, ibid., p. 591 (N9, 7). Knowledge occurs in the fleeting moment between retrieval and irretrievability. 25 Maimonides, Guide, Pines trans., p. 8.

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According to this passage, Maimonides did not choose an unsystematic method of exposition in order to conceal his doctrine from the vulgar reader, but in order to reveal it to the competent reader. There befalls an author or educator when teaching another that which he or she had undergone when learning himself or herself: the process of teaching must therefore imitate that of learning. The scholar learns by lightning flashes, and must teach others by lightning flashes. And lightning flashes, whatever they may be, are unsystematic. Most disciplines – e. g., logic, law, medicine – may be systematized, that is, they may be studied and taught by means of systems, and Maimonides had a penchant for systematizing them. However, the most sublime metaphysical and divine subjects can be neither studied nor taught by means of systems. This is the chief reason why Maimonides, who was known for his “zest for systematization,” composed the Guide in an extremely unsystematic way. Conclusion In conclusion, I should like to make an additional comment about the literary genre of the Guide. It will have been noticed that in explaining why he has written the Guide unsystematically, Maimonides makes reference to the “parables” of the Sages. The parables of the Sages are what are known in Hebrew as midrash – that is, Rabbinic homilies, and, in particular, creative homiletic expositions of biblical texts. In his Introduction to the Guide, Maimonides embarks on a little systematic discourse concerning contradictions. He informs us that he has intentionally employed two and only two different kinds of contradictions in composing the book: one, the pedagogic contradiction (“contradiction due to the 5th cause”); and two, the recondite contradiction (“contradiction due to the 7th cause”). He notes that the former is also found in the philosophic literature, while the latter is found also in the midrashic literature.26 By these observations, he indicates that the Guide not only has something in common with other philosophic books, but also has something in common with Rabbinic midrash. The Guide may thus be said to be not only a philosophic book, but also a midrashic book. Indeed, it contains much profound interpretation and new creative development of old midrashic themes. The midrash is by its nature unsystematic, unarchitectonic, contradictory, and imaginative. The artful integration of philosophy and midrash is a basic feature of the Guide of the Perplexed. It is a felicitous integration. Philosophy forces midrash to confront Reason, while midrash forces philosophy to behold the flashes.

26

Ibid., pp. 17 – 20.

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No less than Maimonides, Rosenzweig appreciated the importance of midrash as a vital complement or corrective to philosophy.27 However, he never lost his naïve Hegelian faith in the possibility of capturing the All in a philosophic system. Maimonides had no such faith.

27 See my “Why Philosophers Quote Kabbalah: The Cases of Mendelssohn and Rosenzweig,” Studia Judaica 16 (2008), pp. 118 – 125.

Vom System zum Fragment Anmerkungen zur Denkform der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers1 Rainer-M. E. Jacobi In seinem Brief an Rudolf Ehrenberg vom 1. Dezember 1917 spricht Franz Rosenzweig davon, dass Viktor von Weizsäckers Systembegriff „tatsächlich“ der seinige und wohl auch der Eugen Rosenstocks sei. Dieser Brief steht nicht nur für eine geistige Konstellation, deren Bedeutung für alle der hier genannten Personen noch immer unzureichend erschlossen ist, er enthält überdies eine Reihe von prägnanten Hinweisen zur Besonderheit des erwähnten Systembegriffs.2 Von einschlägigen Untersuchungen zu Rosenzweigs „neuem Denken“ schon längst gewürdigt, fand die Frage nach dem Systembegriff Viktor von Weizsäckers vor dem Hintergrund seines eigenen Werkes bislang keine nennenswerte Beachtung.3 Dies verwundert umso mehr, als es sich bei diesem Werk um eine ambitionierte Grundlagenreflexion zum Selbstverständnis moderner Medizin handelt. Doch im Unterschied zu den zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit der sog. „Krise der Medizin“, sehen sich die Überlegungen Weizsäckers gleichermaßen den Ergebnissen klinisch-experimenteller Forschung wie auch philosophischen und theologischen Denktraditionen verpflichtet. Damit nicht genug: der Anspruch seines Werkes gilt expressiv verbis der Revision der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe moderner Medizin. Allein schon daher kommt dem Systembegriff im Gang des Weizsäckerschen Denkens zentrale Bedeutung zu. Und tatsächlich finden sich, beginnend mit den frühen Schriften bis hin zum Spätwerk, immer wieder grundsätzliche Erwägungen zu den Möglich1 Hartwig Wiedebach sei für die Einladung gedankt, den vor Jahren unternommenen, bislang aber unveröffentlicht gebliebenen Versuch eines neuen Umgangs mit dem Werk Viktor von Weizsäckers in gebotener Kürze vorzustellen. Anders als in der bisherigen Rezeption dieses Werkes gilt das Interesse zunächst und vor allem der Form des Weizsäckerschen Denkens selber. 2 Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, I. Band 1900 – 1918. Den Haag 1979, S. 484 – 486. 3 Wenn überhaupt, erfolgte dies im Rahmen der Beschäftigung mit dem Werk Franz Rosenzweigs. Vgl. hierzu vor allem Reiner Wiehl, Die Erfahrung im neuen Denken von Franz Rosenzweig, in: Philosophisches Jahrbuch 89 (1982), S. 267 – 290; Anna E. Bauer, Rosenzweigs Sprachdenken im „Stern der Erlösung“ und in seiner Korrespondenz mit Martin Buber zur Verdeutschung der Schrift. Frankfurt/M. 1992, bes. S. 316 – 320; Benjamin Pollock, Franz Rosenzweig and the Systematik Task of Philosophy. Cambridge Univ. Press 2009, bes. S. 86 – 92.

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keiten und Grenzen von System und Systematik. Die für das Weizsäckersche Werk charakteristischen Verflechtungen von Lebensform und Gedankenbildung, von fachspezifischer Profilierung und geistig-kulturellem Interesse, machen indes deutlich, dass jene Erwägungen nicht nur der methodologischen und werkgenetischen Bedeutung des Systembegriffs gelten – es geht noch um etwas anderes: Weizsäckers Bemühungen um den Systembegriff gelten auch dort, wo nicht ausdrücklich von System und Systematik die Rede ist, der sehr viel grundlegenderen Frage nach der Form des Denkens. Mit den epochalen Fortschritten der modernen Medizin und den damit verbundenen Konsequenzen für soziale und politische Ordnungen, fällt neues Licht auf diese Frage. Geht es doch hierbei um das wissenschaftliche Selbstverständnis moderner Medizin, näherhin um deren „epistemologischen Status“.4 War es seit der Antike das Eigentümliche der ärztlichen Kunst, wodurch die Medizin gleichsam zum methodischen Vorbild für andere Disziplinen wurde – bei Thukydides für die Historik, bei Aristoteles für die Ethik –, so erlangt in der Neuzeit die Epistemologie der klassischen Naturwissenschaften den paradigmatischen Rang der „richtigen Methode“ für die Medizin. Die Geburt der modernen Klinik erfolgt aus dem ,Geist der Anatomie‘. Die epistemische Topologie der „stummen und zeitlosen Körper“, wie sie die anatomische Pathologie zur Verfügung stellt, tritt an die Stelle der erzählten Geschichtlichkeit individuellen Lebens und Sterbens. Es macht das Verdienst des frühen Meisterwerkes von Michel Foucault aus, diese methodische Wende der Medizin nicht als einen „Konflikt zwischen einem jungen Wissen und einem alten Glauben“ dargestellt zu haben, sondern als die Differenz verschiedener Formen des Wissens und Denkens.5 Der Formenwandel des Denkens gab Otfried Höffe schon vor Jahren Anlass zu der Überlegung, ob vielleicht die Konjunktur medizinischer Ethik, wie sie das öffentliche Bewusstsein zunehmend in Atem hält, letztlich in einem sehr bestimmten epistemologischen Selbstverständnis moderner Medizin gründet. Dann allerdings müsse von der medizinischen Ethik als einer „Folgelast der Aufklärung“ gesprochen werden.6 Sie reagiert gleichsam auf die normative Entleerung der für eine aufgeklärte naturwissenschaftliche Kultur charakteristischen Denk- und Wissensformen. Mit der Frage nach der Form des Denkens kommt ein Modernisierungsprozess in den Blick, dessen normative Indifferenz Ausdruck der verlorenen Gewissheit in der Bestimmung gelingenden oder nicht verfehlten Lebens ist. Nirgends deutlicher als in der medizinischen Praxis wird diese verlorene Gewissheit zum Ernstfall: nicht nur für die Handlungskompetenz einer Disziplin, sondern mehr noch für den damit verbundenen Wandel in der Kultur menschlicher Lebensformen.

4 Vgl. hierzu Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische [1943/1966]. München 1974. 5 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München 1973, S. 139. 6 Otfried Höffe, Wenn die ärztliche Urteilskraft versagt. Ethik in der Medizin: eine Folgelast der Aufklärung, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 233, 7. Oktober 1996 , S. 23.

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I. Viktor von Weizsäckers in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts formulierte Frage nach der Form des Denkens in der Medizin führt schließlich auf den alten philosophischen Topos vom guten Leben. Die anthropologische Radikalität des medizinischen Fortschritts bringt, so scheint es, eine verborgene Gemeinsamkeit ans Licht: sowohl die Medizin als auch die Philosophie geht auf die Begründung einer gelingenden Lebensweise aus. Bei Franz Rosenzweig gilt dies in besonderer Weise für sein Hauptwerk Der Stern der Erlösung. Wie Hartwig Wiedebach in der Einführung zu diesem Band formuliert, gehe es hierbei um eine „tragfähige Wegleitung für das menschliche Leben“ – wobei das System dieser Wegleitung aus „der Angst vor dem Tod“ erwachse, genauer: aus dem „Wissen um die unzähligen inkommensurablen Momente, in denen das eigene Nicht-Sein-Werden seine Macht ausübt.“ Wenn nun aber, wie es der eingangs zitierte Brief Rosenzweigs nahelegt, der für den Stern der Erlösung maßgebliche Systembegriff jener ist, dem sich auch Weizsäckers Werk verpflichtet weiß, dann werden wir auf den Gedanken einer Wegleitung, also einer Hinführung zu gelingendem Leben aus der Antizipation des Nicht-Sein-Werdens zurückkommen müssen. Für unsere Annäherung an das Systemverständnis, wie es sich in einer bestimmten Form des Denkens bei Viktor von Weizsäcker zeigt, ist es hilfreich, zunächst einen Blick auf die gegenwärtig nachdrücklichsten Plädoyers für die Gemeinsamkeit von Philosophie und Medizin zu werfen. Wobei es kein Zufall ist, dass diese Wortmeldungen von jenen beiden Philosophen stammen, die im Streit um das Verhältnis von Metaphysik und Moderne seit langem verbunden sind.7 Die Fortschritte einer sich dezidiert als ,modern‘ verstehenden Medizin waren es denn auch, die den prominentesten Vertreter einer metaphysisch und normativ entlasteten Selbstbeschreibung der Moderne mit der Fragwürdigkeit dieser Entlastung konfrontierten. Galt es für eine moderne aufgeklärte Philosophie bislang als selbstverständlich, gegenüber „verbindlichen Stellungnahmen zu substantiellen Fragen des guten oder nicht verfehlten Lebens“ enthaltsam bleiben zu können, so erneuert sich für Jürgen Habermas angesichts der Optionen naturwissenschaftlicher Medizin die „philosophische Ursprungsfrage nach dem ,richtigen Leben‘ in anthropologischer Allgemeinheit.“8 Seinen prägnantesten Ausdruck findet dieser Abschied von der nachmetaphysischen Enthaltsamkeit in einer bemerkenswerten Unterscheidung. Mit Rücksicht auf die aristotelische Rede von poiesis und praxis unterscheidet Habermas zwi7 Vgl. Jürgen Habermas, Rückkehr zur Metaphysik – Eine Tendenz in der deutschen Philosophie?, in: Merkur 39 (1985), S. 898 – 905; Dieter Henrich, Was ist Metaphysik, was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: Merkur 40 (1986), S. 495 – 508. Ausführlich hierzu Rainer-M. E. Jacobi, Schmerz, Liebe und Tod. Zum Ethos der Medizinischen Anthropologie zwischen Metaphysik und Moderne, in: Zur Aktualität Viktor von Weizsäckers, hg. von Rainer-M. E. Jacobi und Dieter Janz. Würzburg 2003, S. 247 – 284. 8 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik. Frankfurt/M. 2011, S. 9, 33.

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schen „technischer Herstellung“ und „klinischer Einstellung“.9 Wenn auch weder für Habermas‘ eigenes Denken noch für die medizintheoretische Diskussion völlig neu, wirft diese Unterscheidung im Kontext der Logik ärztlichen Handelns gleichwohl neues Licht auf das Verhältnis von Philosophie und Medizin: ohne dass dies bislang beachtet worden wäre, kommt es zur Frage nach der Form des Denkens in der Medizin – und in eins damit zur Frage nach deren Grund und Ziel. Das zweite Plädoyer ist gleichfalls etwas älter, aber erst jüngst in großer Ausführlichkeit vorgetragen worden.10 Die Rede ist, und dies schließt an die Habermassche Unterscheidung an, von einem Riss in der Philosophie, wie ihn Dieter Henrich zwischen Wissenschaft und Tiefenanalyse des Lebens schon länger zu beobachten meint. Insofern dieser Riss den ursprünglichen Anspruch der Philosophie gefährdet: nämlich eine der „Quellen zur Ermöglichung menschlichen Lebens“ zu sein, geht es um nicht weniger, als eine anthropologische Legitimierung philosophischer Erkenntnis.11 Für Dieter Henrich zeichnet es die wirklich „ursprünglichen Einsichten“ aus, wie sie am Anfang philosophischer Konzeptionen stehen, dass sie gleichermaßen zur Begründung einer Lehre wie einer Lebensweise verhelfen – ja, mehr noch, zur Affirmation eines Lebens angesichts von dessen Selbstverlust und Nichtigkeit. Es kommt gleichsam zur Beglaubigung einer „philosophischen Konzeption über die Lebensorientierung.“12 Wir erinnern uns an Hartwig Wiedebachs Rede von der Wegleitung angesichts des je eigenen Nicht-Sein-Werdens. Diese Doppelgestalt der Philosophie ist es freilich auch, die sich für Dieter Henrich mit einem grundsätzlichen Zweifel an der Aufschlusskraft philosophischer Konzeptionen verbindet, vor allem dann, wenn die Tiefendimensionen, die Konflikte und Gefährdungen des Lebens: Schmerz, Krankheit und Tod selbst zum Thema werden. Umso mehr gilt unsere Aufmerksamkeit den Formen des Denkens, denen die Affirmation des Lebens angesichts von dessen Nöten und Bedrängnissen zu gelingen scheint. In dieser Hinsicht wird die moderne Medizin zum kritischen Paradigma für eine philosophische Debatte um die Form des Denkens. Es stellt sich die Frage, ob für ihren Umgang mit der Krankheit des Menschen, also mit den Tiefendimensionen des Lebens, eine Form des Denkens leitend ist, die eben jene Affirmation zu leisten vermag? II. Soweit die Frage nach der Form des Denkens in der Medizin zugleich deren ,Gegenstand‘, dem kranken Menschen gilt, führt sie uns an den Anfang der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers – also zu dem, was Dieter Henrich 9

Vgl. ebd., S. 80 – 93. Dieter Henrich, Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten. München 2011. 11 Ders., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik. Stuttgart 1999, S. 6. 12 Ders., Werke im Werden, S. 174, vgl. auch 181 ff. 10

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eine „ursprüngliche Einsicht“ nennt. Eher beiläufig, und daher wohl zumeist übersehen, berichtet Weizsäcker in seinen Erinnerungen eines Arztes von einem „sozusagen inspiratorischen Augenblick“, den er bei „ruhigem Betrachten einer dort hängenden Patronentasche“ 1915 im Felde erlebte.13 Die „ursprüngliche Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt“ habe sich ihm „gleichsam leiblich denkend offenbart.“ Wenn aber die „sinnliche Gegenwart eines äußeren Gegenstandes der aktuellen Wahrnehmung […] nichts von einer Spaltung in Subjekt und Objekt“ weiß, dann beginnt jede Erkenntnis, sei sie nun objektiv oder subjektiv, mit einem Akt der Negation.14 Ohne diese Einsicht jetzt näher entfalten zu wollen, wird deutlich, dass Existenz und Erkenntnis in einer Weise zueinander stehen, wie sie für den Umgang des Arztes mit dem kranken Menschen von besonderer Bedeutung ist. Die Medizinische Anthropologie Viktor von Weizsäckers, so unsere erste These, gilt in ihrem Kern dem Verhältnis von Leben und Denken, genauer: der Frage nach der Art und Form eines Denkens, das nicht nur dem menschlichen Leben schlechthin, sondern dessen Not und Gefährdung gerecht zu werden verspricht – und das heißt hier: das zur Hilfe befähigt. Not und Hilfe bezeichnet Weizsäcker als „Urphänomene“ seiner Medizinischen Anthropologie. Dieser eher personalen Entsprechung setzt er eine sachliche entgegen, nämlich die von Krankheit und Medizin.15 Wie die Hilfe ihr Maß an der Not gewinnt, so die Medizin an der Krankheit. Für Weizsäcker sind Not und Krankheit keine Ausnahmezustände menschlichen Lebens, sie tragen vielmehr Wesentliches zu dessen Bestimmung bei. Dies zeigt sich bereits in der schlichten Erfahrung, dass „die schmerzenden und quälenden Formen des Leidens über die Wahrheit des Lebens weniger zu täuschen vermögen, als die freundlicheren und friedlicheren Zustände.“16 Der Schmerz drängt also, wie Weizsäcker sagt, zur Denkarbeit. Doch diese Denkarbeit allein ist keine Hilfe, solange sie nicht dazu beiträgt, die Schmerzarbeit des Kranken zu leisten. Für das Verhältnis von Denken und Leben wird das Beispiel des ärztlichen Wissens vom kranken Menschen zur methodischen Urszene. Der Anfang dieses Wissens ist keine Reflexion des denkenden Ich, er kann nicht wirklich selbst gemacht werden, sondern er kommt, wie auch der Kranke mit seiner Not zum Arzt kommt. Insofern ist dieser Anfang selber noch kein Wissen, vielmehr erwächst das Wissen erst aus einem Fragen und Hören. Wobei auch dieses Fragen in Strenge ein antwortendes Fragen ist – ein Fragen, dessen Ausgang nicht beim Ich des Arztes, sondern beim Ich des Kranken liegt.17 Für unsere Frage nach der Form des Denkens gibt Weizsäcker einen zunächst paradox anmutenden Hinweis: das Ich dieses Denkens werde nicht in „sich selbst erfahren“, sondern gleichsam „im Du“ – also 13

Viktor von Weizsäcker, Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes [1944/54], in: Gesammelte Schriften, hg. von Peter Achilles, Dieter Janz, Martin Schrenk, Carl Friedrich von Weizsäcker. 10 Bände, Frankfurt/M. 1986 – 2005, Bd. I, S. 9 – 190, hier: 81. 14 Ebd. 15 Ders., Der Arzt und der Kranke [1926], in: Ges. Schriften, Bd. V, S. 9 – 26, hier: 13. 16 Ders., Pathosophie [1956], Ges. Schriften, Bd. X, S. 17 f. 17 Vgl. ders., Der Arzt und der Kranke, S. 25 f.

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im Anderen. Dieser Hinweis wird noch verstärkt, insofern es hier um eine Bedingung für die erwähnte Befähigung zur Hilfe geht, also zu jener von Dieter Henrich beschriebenen Affirmation des Lebens – in den Worten Weizsäckers: um eine Bedingung für die „richtige Form der Therapie“.18 Diese eigentümliche Drehung der Perspektive vom Subjekt zum Objekt, genauer eigentlich zum Subjekt im Objekt, bestimmt das Therapieverständnis der Medizinischen Anthropologie. Krank ist hier nicht zuerst das, was man denkend erkennen kann, sondern zunächst und vor allem das, was der Andere oder was man auch selbst lebend sein kann.19 Die angemessene Bestimmung der Krankheit eines Menschen entzieht sich der begrifflichen Separierung von Subjekt und Objekt. Dann aber fällt neues Licht auf den von Weizsäcker berichteten inspiratorischen Augenblick, zumal es sich hier tatsächlich um eine wirklich „ursprüngliche Einsicht“ handelt: nämlich um eine Einsicht in die Bedingung der Möglichkeit von Therapie. In jene epistemologische Wende also, wie sie sich mit der Drehung vom Subjekt zum Objekt, also zu einem Objekt mit Subjekt, und von der Erkenntnis zur Existenz verbindet. Das affirmative Vermögen einer Denkbewegung führt gleichsam zu deren lebenspraktischer oder therapeutischer Beglaubigung. In dieser therapeutischen Beglaubigung liegt der bislang noch kaum gewürdigte Wert jener von Jürgen Habermas eingeführten Unterscheidung. Denn dessen „klinische Einstellung“ entspricht dem, was hier als Therapieverständnis der Medizinischen Anthropologie vorgestellt wurde. Die Tragweite dieser Unterscheidung wird bereits in Weizsäckers frühem Grundtext deutlich. Dort verbindet er die subtile Entfaltung des epistemologischen Charakters seines Therapieverständnisses nicht nur mit der Frage nach der Form ärztlichen Denkens und Wissens, vielmehr markiert er auch den zugehörigen geistesgeschichtlichen Horizont: es geht um nicht weniger als eine Kritik am Primat des „cogito“.20 Fast könnte man von einer Vorordnung des „sum“ vor dem „cogito“ sprechen – wir wollen es vorerst eine Veranderung des Ich nennen. Als ein hermeneutisches Prinzip steht diese Veranderung nicht nur am Anfang des ärztlichen Wissens, sie bezeichnet vielmehr eine der zentralen Denkbewegungen Medizinischer Anthropologie.21 Im Sinne unserer These geht es um eine nähere Be18

Ders., Natur und Geist, S. 50. Vgl. ders., Der Arzt und der Kranke, S. 13. 20 Ebd., S. 18 f. 21 Weizsäcker verdeutlich dieses Prinzip, wenn er jene bestimmte Form des Verstehens zu erläutern sucht, die Voraussetzung von Therapie ist: „Verstehen heißt also hier gar nicht das wissen, was ich weiß, sondern wissen, daß und was ein anderer weiß.“ Es geht um ein Verstehen, „welches nicht nur kein Denken ist, sondern auch kein Denken von Etwas ist und welches überdies gar nicht mein Verstehen ist, insofern gar nicht ich das verstehe, was gedacht wird, sondern nur verstehe, daß ein anderer das denkt, was er denkt“ (ders., Der Arzt und der Kranke, S 20). Zum Begriff der „Veranderung“ vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin/New York 1977. Theunissen bringt ihn, ausgehend von Husserl, mit seiner kritischen Rekonstruktion der Dialogik Martin Bubers neu zur Geltung (S. 84 ff., 243 – 252) – diese aber gehört in eine geistesgeschichtlich bedeutsame Konstellation, zu der neben Franz Rosenzweig u. a. auch Viktor von Weizsäcker gehören (S. 254 f.). 19

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stimmung des Verhältnisses von Denken und Leben. Die jetzt gefundene Formel von der Veranderung des Ich gilt freilich nicht allein dem Du als einem Anderen, sondern ebenso dem physischen und zeitlichen Grund des Ich als eines je Anderen. Im Horizont von Gemeinschaftlichkeit, Leiblichkeit und Geschichtlichkeit kommt es zu einer gleichsam mehrdimensionalen Veranderung des Ich: sowohl von einem Nicht-Ich als auch von einem Nicht-Jetzt her. Im Weizsäckerschen Werk steht hierfür die oft zitierte aber zumeist ungenau interpretierte Rede von der „Einführung des Subjekts“. Weizsäcker wusste um die Unklarheit dieser Formulierung. Nicht um eine „Einführung“ geht es, sondern um die „Anerkennung“ eben jener Subjektivität, wie sie sich im Vollzug der Veranderungen des Ich als je gelingende oder misslingende Lebensform konstituiert.22 Zum Gelingen freilich bedarf es einer bestimmten logischen Struktur dieses Vollzuges. Denn es gilt, das Negative der Alterität, wie es dem anderen Menschen, dem eigenen Leib und der Zeitlichkeit eignet, im Vollzug der Veranderung seinerseits zu negieren. Subjektivität als gelingende Lebensform konstituiert sich nicht als reflexiver Akt einer positiven Setzung, sondern erst in der lebendig vollzogenen Leistung einer Negation.23 Im Sinne des affirmativen Vermögens von Denkformen geht es allerdings nicht in erster Linie um Erkenntnis, sondern um jene schon erwähnte Wegleitung angesichts der vielfältigen Erfahrungen des Nichtseins, genauer also: um die Negation der Negativitäten, von denen her die Veranderungen des Ich erfolgen. Für den Umgang mit der Negativität des Nichtseienden prägte Weizsäcker den Begriff des „Pathischen“, dem er das „Ontische“, als eines Umgangs mit der Positivität des Seienden gegenüberstellte.24 Die Krankheit gibt ein besonders anschauliches Beispiel für die Negativität eines Nichtseienden, insofern sie in all ihren Erscheinungsweisen auch als Mangel oder Entzug, mithin als etwas erfahren wird, das nicht mehr oder noch nicht ist. Das Gelingen indes nimmt seinen Ausgang in der Anerkennung eines Nichtseins, oder wie Weizsäcker sagt: in der Anerkennung des Unganzen und Unfertigen allen Lebens.25 Auch hierfür sind Schmerz, Krankheit und Not die eindrücklichsten Beispiele. III. Die zunächst recht schlicht anmutenden Urphänomene der Not und der Hilfe haben uns nicht nur auf die grundlegende Denkbewegung der Medizinischen Anthropologie geführt, sondern auch eine erste Ahnung davon vermittelt, welchen Beitrag das Werk Viktor von Weizsäckers zur Debatte um die Form des Denkens zu leisten 22 Viktor von Weizsäcker, Begegnungen und Entscheidungen [1949], in: Ges. Schriften, Bd. I, S. 191 – 399, hier: 293. 23 Vgl. zur Konstitution der Subjektivität aus der Leiberfahrung als dem Paradigma der Alterität Paul Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer. München 1996, S. 384 ff. 24 Vgl. Viktor von Weizsäcker, Natur und Geist, S. 173; ders., Begegnungen und Entscheidungen, S. 289 ff.; ders., Medizin und Logik [1951], in: Ges. Schriften, Bd. VII, S. 334 – 365, hier: 342 f. 25 Vgl. ders., Pathosophie, S. 71.

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verspricht. Mit der Rede von der Veranderung des Ich steht nicht weniger als die Selbst- und Seinsgewissheit des neuzeitlichen transzendentalen Subjekts in Frage. Zumindest wird deutlich, dass ein von diesem Subjekt her bestimmtes Systemverständnis den Denkbewegungen der Medizinischen Anthropologie – und das heißt, der „richtigen Form von Therapie“ nicht gerecht zu werden vermag. Aber damit ist der systematische Charakter dieser Anthropologie keineswegs in Abrede gestellt; es gilt vielmehr, das Besondere dieser Systematik zu entfalten. Den Ausgang hierfür bildet die Formel von der Veranderung des Ich und deren Stellenwert für Genese und Form der Medizinischen Anthropologie. Als deren „ursprüngliche Einsicht“ lässt sie, mit Dieter Henrich gesprochen, die Verbindung einer gedanklichen Ordnung mit der Affirmation des Lebens erwarten. Dieser Zusammenhang ist es dann, der sie über den disziplinären Rahmen der Medizin hinaushebt. Unserer These folgend, wird die Medizinische Anthropologie Viktor von Weizsäckers, sofern sie im Kern dem Verhältnis von Leben und Denken gilt, zur Anthropologie schlechthin: also zu einer allgemeinen Lehre vom Menschen, die als „Grundwissenschaft der Heilkunde“ dienen kann. Es überrascht nicht, dass es Weizsäcker selbst war, der schon 1925, als er erstmals von einer „medizinischen Anthropologie“ sprach, diesen trans-disziplinären Anspruch erhob.26 Die eigentliche Begründung hierfür erfolgt dann freilich erst in seiner letzten, unvollendet gebliebenen Schrift Pathosophie. Ohne es eigens zu erwähnen, geht er auf den „inspiratorischen Augenblick“ zurück, indem er dessen anthropologisch grundlegende Einsicht vom Leiden an der Negation aufnimmt, um sie nunmehr im Rückblick auf die hierfür gefundene Begrifflichkeit nicht nur als pathische Situation, sondern „als die des Menschen überhaupt“ näher zu bestimmen.27 Nun ließe sich von einer jetzt eher „pathische Anthropologie“ zu nennenden Lehre ein Anschluss an jenen „Begriff der Bewährung der Wahrheit“ finden, wie er von Franz Rosenzweig im nachträglichen Kommentar zum Stern der Erlösung als Grundbegriff seiner „neuen Erkenntnistheorie“ eingeführt wird: denn mit der Drehung der Perspektive vom Subjekt zum Subjekt im Objekt ist die Wahrheit jeder Denkbewegung nicht mehr nur für sich Wahrheit, sondern immer „Wahrheit für jemanden“.28 Vor allem aber zeigt sich, dass es mit der Veranderung des Ich als der Denkform der pathischen Situation des Menschen nun tatsächlich zur Einheit von gedanklicher Ordnung und Affirmation des Lebens kommt. Insofern mag die Veranderung des Ich und in eins damit die Medizinische Anthropologie als der Versuch gelten, den von Dieter Henrich beschriebenen Riss in der Philosophie zu überwinden. Sie verbindet gleichsam eine philosophische Konzeption mit einer therapeutischen Intention. Genau daher lohnt es, im Lichte der von Jürgen Habermas eingeführten Unterscheidung, die Formen des Weizsäckerschen Denkens daraufhin zu un26 Ders., Randbemerkungen über Aufgabe und Begriff der Nervenheilkunde [1925], in: Ges. Schriften, Bd. III, S. 301 – 323, hier: 320. 27 Ders., Pathosophie, S. 72. 28 Franz Rosenzweig, Das neue Denken [1925], in: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Band III, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer. Den Haag 1984, S. 139 – 161, hier: 158.

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tersuchen, wie in ihnen die Verbindung von gedanklicher Ordnung und Affirmation des Lebens nicht nur zum Ausdruck kommt, sondern im therapeutischen Vollzug geleistet wird. So ist es kein Zufall, wenn Jürgen Habermas bei der Darstellung dessen, was er „klinische Einstellung“ nennt, sowohl auf die Rehabilitierung der aristotelischen Wissensform der phronesis und deren implizite Sittlichkeit, als auch auf die Legitimation ärztlichen Handelns aus der Perspektive des Betroffenen verweist, und damit – ohne es freilich zu wissen – auf genau jene Bestimmungen ärztlicher Praxis rekurriert, wie sie Weizsäcker in seiner Medizinischen Anthropologie von der Veranderung des Ich her breit entfaltet.29 Geht es schon Habermas, statt um eine sollens-ethische Begründung, um die Frage nach Gelingen und Misslingen des je eigenen Lebens, so impliziert die Formel von der Veranderung des Ich die Anerkennung der geschichtlichen Wirklichkeit menschlicher Krankheit als einer konkreten sittlichen Situation. Die für therapeutisches Handeln leitende Normativität ist dann nicht von der Art einer ,äußeren Vorgabe‘ im Sinne angewandter Ethik, sie kommt vielmehr als „innere Normativität“ der geschichtlichen Wirklichkeit selber zum Vorschein.30 Genau dies aber leistet erst jene eigentümliche Denk- und Lebensform der Negation der Negativität. Mit der Neubestimmung des Ortes der Normativität fällt der Blick erneut auf den schon angeklungenen geistesgeschichtlichen Horizont unserer Formel von der Veranderung des Ich. In kritischer Distanz zum idealistischen Systemprogramm war es erstmals Sören Kierkegaard, der das Maß für gelingendes Leben nicht einem ,mitgebrachten Menschenbild‘ entnahm, sondern dem deformierten Menschsein selber. Kierkegaard verzichtete darauf, „eine bestimmte Vorstellung von Gesundheit zur Norm zu erheben, um nach ihr die Krankheit als Anomalie zu beurteilen“ – stattdessen entwickelt er „aus dem Kranksein eine Idee von Gesundsein.“31 Hierzu genügt nicht die bloße Anerkennung der Krankheit als eines Nichtseinsollenden, es bedarf vielmehr des aktiven Vollzuges der Negation der Negativität dieses Nichtseinsollenden. Das Seinsollende verbirgt sich gleichsam auf je bestimmte Weise in der negativen Erfahrungswelt des Nichtseinsollenden. Ohne über Weizsäckers Lektüre der einschlägigen Schriften Kierkegaards zu spekulieren, ist es offensichtlich, dass die Formel von der Veranderung des Ich in die geistesgeschichtliche Tradition jener normativen Wende gehört, wie sie in Kierkegaards negativistischer Methode am prä29

Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 80 f., 93. Vgl. Michael Theunissen, Möglichkeiten des Philosophierens heute [1989], in: ders.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt/M. 1991, S. 13 – 36, hier: 29 ff. Viktor von Weizsäcker, „Euthanasie“ und Menschenversuche [1947] (Ges. Schriften, Bd. VII, S. 91 – 134), spricht davon, dass eine Medizin, für welche „die Krankheit eine Weise des Menschseins ist“, ihre sittliche Norm nicht außerhalb suchen könne, sondern „in sich selbst die Entscheidung über sittlich und unsittlich treffen“ müsse (S. 122). Weiterführend hierzu Rainer-M. E. Jacobi, Gegenseitigkeit und Normativität. Eine problemgeschichtliche Skizze zu den Grundfragen medizinischer Ethik, in: Gegenseitigkeit. Grundfragen medizinischer Ethik, hg. von Klaus Gahl, Peter Achilles und Rainer-M. E. Jacobi. Würzburg 2008, S. 461 – 492, bes. S. 478 ff. 31 Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Frankfurt/M. 1991, S. 16. 30

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gnantesten zum Ausdruck kommt. Die hiermit verbundene doppelte Umwertung im Verhältnis von Gesundheit und Krankheit bringt uns dem Systemverständnis Weizsäckers ein deutliches Stück näher. Weder gilt ihm die Gesundheit als ein ontologisch zu bestimmendes Ziel, noch reduziert sich der zweifellos nichtseinsollende Zustand der Krankheit auf seine Negativität. Aber auch der mit dem idealistischen Systembegriff eng verbundene Begriff des Ganzen erfährt hierdurch eine Umwertung. Weder gilt das Ganze als ein maßgebender Begriff für den Menschen noch für die Gesundheit, stattdessen ist es die Krankheit, die „dem Ganzen nur insofern näher (ist), als in ihr das Unganze unseres Wesens offenbar wird.“32 Die Abkehr vom Primat des „cogito“ zeigt sich im Sinne dieser Umwertung zugleich als eine Abkehr vom idealistischen Systembegriff, insofern dessen Positivität den Aufweis des Seinsollenden im Nichtseinsollenden nicht zu leisten vermag. IV. Der systematischen Ontologisierung der Krankheit, wie sie den Positivismus moderner Medizin charakterisiert, steht eine pathische Dekonstruktion im Sinne der negativistischen Methode gegenüber. Deren Ausgang bei den Urphänomenen der Not und der Hilfe macht indes deutlich, dass die methodische Entscheidung für ein bestimmtes Krankheitsverständnis, und damit für den epistemologischen Status der Medizin überhaupt, keineswegs moralisch indifferent ist. Jürgen Habermas fordert daher – ebenfalls mit Rücksicht auf Kierkegaard – das „Reflexivwerden einer Moderne“ ein, die sich „über ihre eigenen Grenzen aufklärt.“33 Stattdessen erinnert die Selbstgewissheit moderner Medizin, der auf dem Wege zur Erkenntnis der Krankheit die Wahrnehmung der Existenz des Kranken verloren zu gehen droht, an den von Dieter Henrich beschriebenen Riss in der Philosophie. Mit gleicher Intention spricht Viktor von Weizsäcker von einer „Spaltung der Vernunft“ und meint damit die neuzeitliche Delegitimierung der Sinnlichkeit.34 Auch hier geht es um einen Riss, nämlich dem zwischen epistemischer und ästhetischer Subjektivität: also zwischen einer sich reflexiv selbst-setzenden und einer sich über den lebendigen Vollzug der Veranderung erst konstituierenden Subjektivität.35 Er korrespondiert nicht zufällig mit der Spannung zwischen dem Positivismus systematischer Ontologisierung und dem Negativismus pathischer Dekonstruktion. Das Paradigma dieser Spannung findet sich 32 Viktor von Weizsäcker, Die Medizin im Streite der Fakultäten [1947], in: Ges. Schriften, Bd. VII, S. 197 – 211, hier: 210. 33 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 51. 34 Vgl. Viktor von Weizsäcker, Der Begriff der Allgemeinen Medizin [1947], in: Ges. Schriften, Bd. VII, S. 135 – 196, hier: 163 ff. 35 Zur Herausbildung der ästhetischen Subjektivität in Opposition zur transzendentalphilosophischen (epistemischen) Subjektivität um 1800 vor allem Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt/M. 1989. Weizsäcker, Pathosophie, S. 45 ff., beschreibt diesen Riss mit der Gegenüberstellung von transzendentalem und menschlichem Apriori.

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freilich bereits in der Geburt des modernen Systembegriffs. Der geistesgeschichtliche Horizont unserer Überlegungen kommt noch schärfer in den Blick. Denn es geht um jene singuläre Epoche der europäischen Geistesgeschichte, die mit der Programmatik des Systemgedankens zugleich dessen Problematik thematisierte. Dem idealistischen Systemprogramm tritt eine Denkform an die Seite, die ebenso für die Unzulänglichkeit des Systembegriffs steht, wie sie das philosophische Bedürfnis nach ihm nicht in Abrede stellt. Im markanten Gegensatz zur klassischen Tradition der Identität von Denken und Sein werden Beschreibungen der Wirklichkeit erprobt, die auch um den Preis der Paradoxie die Grenzen des Systems zu überschreiten versuchen.36 Für die Fernwirkung dieser kontroversen Situation der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts auf die geistigen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand der Literaturhistoriker Walter Müller-Seidel den anschaulichen Begriff der Epochenverwandtschaft.37 Wobei es sicher kein Zufall war, dass den Anlass hierfür das Verhältnis der Medizin zu Philosophie und Dichtung gab. Die Medizinische Anthropologie Viktor von Weizsäckers, so unsere zweite These, steht nun ihrerseits im Zeichen dieser Epochenverwandtschaft. Genauer eigentlich sind es die maßgeblichen Denkformen der Medizinischen Anthropologie, die in einer Epochenverwandtschaft mit der Frühromantik eines Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, stehen: also mit jener innovativen Bewegung, die dem idealistischen Systembegriff in gleichfalls systematischer Absicht eine alternative Denkform an die Seite stellt. Hinter der gern und oft als gedankliche Schwäche ausgegebenen sprachlichen Eigentümlichkeit und Systemlosigkeit des Weizsäckerschen Werkes könnte sich auch eine Stärke verbergen. Die Stärke nämlich, die es braucht, um den Riss in der Philosophie oder die Spaltung der Vernunft zu überwinden. Einen Eindruck hiervon vermittelt die Forderung des berühmten Athenäum-Fragments Nr. 53, das man – obzwar von Weizsäcker erst spät zitiert – mit guten Gründen als ein Motto über sein ganzes Werk stellen könnte: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“38 Allerdings gibt Weizsäcker ergänzend zu bedenken, ob das, was Friedrich Schlegel hier „vom Geiste sagt, doch wohl vor allem vom Leben, vom Menschen gelte.“39 Dies erinnert an unsere erste These, nach der die Medizinische Anthropo36 Vgl. Birgit Sandkaulen, System und Systemkritik. Überlegungen zur gegenwärtigen Bedeutung eines fundamentalen Problemzusammenhangs, in: System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie, hg. von Birgit Sandkaulen. Würzburg 2006, S. 12 – 34. 37 Vgl. Walter Müller-Seidel, Epochenverwandtschaft. Zum Verhältnis von Moderne und Romantik im deutschen Sprachgebiet, in: Geschichtlichkeit und Aktualität, hg. von KlausDieter Müller. Tübingen: Niemeyer 1988, S. 370 – 392. 38 Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragment Nr. 53, in: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Erste Abteilung, 2. Band (Charakteristiken und Kritiken, 1796 – 1801), hg. von Hans Eicher. München/Paderborn 1967, S. 173. 39 Viktor von Weizsäcker, Fälle und Probleme [1947], in: Ges. Schriften, Bd. IX, S. 7 – 276, hier: 14.

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logie dem Verhältnis von Leben und Denken gilt, genauer: der Frage nach Formen des Denkens, die dem Leben in seinen Nöten und Gefährdungen gerecht werden. Für Weizsäcker mag sich mit dem Hinweis auf dieses Athenäums-Fragment die Hoffnung auf eine geistig-kulturelle Tradition verbunden haben, die es vermag, gedankliche Ordnung und Affirmation des Lebens nicht nur formal zu verbinden, sondern als Lebenspraxis – im Sinne therapeutischen Handelns – zu ermöglichen. Im Horizont solcher Praxis bekommt die Krankheit des Menschen „statt des negativen, einen höchst positiven Wert“40 – insofern es nämlich gelingen kann, das in der faktischen Negativität des Nichtseinsollenden verborgene Seinsollende freizulegen. Gegen den Positivismus der Denkform des Systems braucht es hierzu den Negativismus einer Denk- und Lebensform, die als Bedingung für die Befähigung zur Hilfe eine Negation der Negativität leistet – also genau das, was wir mit der Formel von der Veranderung des Ich zu beschreiben suchten. Es macht das eigenartige Schicksal der Wiederentdeckung einer solchen Denkund Lebensform aus, dass sie zwar just zur gleichen Zeit erfolgte, als sich der Anfang zur Medizinischen Anthropologie formierte, zunächst aber völlig unbeachtet blieb. Die Rede ist von der nachgerade berühmt gewordenen Dissertation Walter Benjamins zum Begriff der Kunstkritik.41 1920 im Druck erschienen, fiel die gesamte Auflage einem Brand zum Opfer. So bedurfte es der Erinnerung an diese Wiederentdeckung, um der eigentlichen Leistung Benjamins gewahr zu werden.42 Wobei es nicht nur um die philosophische Rehabilitierung Friedrich Schlegels geht, durch die das frühromantische ,Reflexivwerden einer Moderne, die sich über ihre eigenen Grenzen aufklärt‘, als grundlegende Erbschaft in die Kritische Theorie einging, sondern vor allem um einen neuen Blick auf den Begriff des Fragments. Im Unterschied zum herkömmlichen Verständnis des Fragments als einer literarischen Gattung, einer unvollendeten Werkform oder einer rezeptionsgeschichtlichen Situation, ist hier ganz im Sinne Friedrich Schlegels, wie es Benjamin betont, von einer genuinen Denkform die Rede.43 Einer Denkform, die dann in kritischer Auseinandersetzung mit dem idealistischen Systemprogramm im Werk Sören Kierkegaards eine besondere Gestalt nachhegelschen Denkens annimmt. Der Anregung Michael Theunissens folgend,

40 Ders., Von den seelischen Ursachen der Krankheit [1947], in: Ges. Schriften, Bd. VI, S. 399 – 417, hier: 406. 41 Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik [1920], in: Gesammelte Schriften, Bd. I/1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, S. 7 – 122. 42 Hierzu vor allem Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt/M. 1989; zur problematischen Rezeptionsgeschichte von Benjamins Dissertation vgl. Winfried Menninghaus, Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie. Frankfurt/M. 1987, S. 230 – 253. 43 Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, S. 115. Vgl. auch die erhellende Darstellung von Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus. Frankfurt/M. 1999, bes. S. 32 ff.

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spricht man von „Negativismus“ oder genauer, vom „normativen Negativismus“.44 Also von jenem Nagativismus, der den Aufweis des Seinsollenden im Nichtseinsollenden zu leisten vermag und auf diese Weise für die Normativität der Medizinischen Anthropologie steht. Findet die poetische Form des Fragments ihr Vorbild bei den französischen Moralisten, so macht es die sog. „frühromantische Revolution“ aus, in der „sinnlichgeistigen Spannungs- und Konfliktstruktur des Menschen“ den anthropomorphen Grund aller Erkenntnis zu sehen.45 Damit gerät freilich die Darstellungsform des poetischen Fragments selbst in einen Konflikt, insofern sie nicht nur die Bedingungen der Möglichkeit der Darstellung des Denkbaren reflektiert, sondern zugleich auch das Undenkbare des menschlichen Lebens selbst zur Darstellung zu bringen sucht. Dieses ,anthropomorphe Moment’ verleiht dem frühromantischen Fragment eine Doppelstruktur, die gleichsam die Folie bildet, vor deren Hintergrund unsere These von der Epochenverwandtschaft der Medizinischen Anthropologie erst eigentlich verständlich wird: neben der Denkform, die selbst schon erkenntniskritisch ist, haben wir es mit einer gleichfalls ,kritischen’ Lebensform zu tun. Der Mensch selbst – wie übrigens auch sein Bewusstsein – ist als Konfliktform notwendig Fragment.46 So überrascht es wenig, wenn gezeigt werden kann, dass die Strukturmerkmale dieser frühromantischen Denk- und Lebensform, wie sie erst von der neueren Forschung rekonstruiert wurden, den Dimensionen der Veranderung des Ich korrespondieren: also der Geschichtlichkeit, Leiblichkeit und Gemeinschaftlichkeit. In der Zeitstruktur des Fragments kommt der Konflikt zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht zum Ausdruck, der im je gegenwärtigen Vollzug des bewussten Lebens stets aufs neue ausgetragen werden muss. Dieser dem Bewusstsein der Zeitlichkeit gelebten Lebens eigentümliche Zusammenfall sich gegenseitig ausschließender Momente verweist uns auf ein besonderes Vermögen des Fragments: nämlich die Möglichkeit der Unterscheidung gelingender und nichtgelingender Lebensvollzüge. Noch deutlicher wird dies in der Alterität des Fragments. Es macht dessen strukturelle Besonderheit aus, dass es „von vornherein“ seine Gegenordnung oder seinen Gegenbegriff mit entwirft: es ist immer auch das Andere seiner selbst. Die nicht-dualistische Dynamik von Leib und Seele, wie sie Weizsäcker in seiner wohl bekanntesten Schrift, Der Gestaltkreis, auszuführen sucht, findet in dieser strukturellen Besonderheit des Fragments eine bemerkenswerte Parallele.47 Schließlich ist der Beziehungscharakter 44 Vgl. den Artikel „Negativismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel, Bd. 6, 1984, Sp. 692 – 694. 45 Vgl. Ernst Behler, Unendliche Perfektibilität. Paderborn 1989, S. 292 ff.; des weiteren zur Ideengeschichte der Poetik und Denkform des Fragments die grundlegende Studie von Gerhard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, bes. S. 743 ff. 46 Vgl. Manfred Frank, Das Problem der „Zeit“ in der deutschen Romantik. Paderborn 1990, S. 36. 47 Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen [1940], in: Ges. Schriften, Bd. IV, S. 77 – 337.

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oder das Mitsein als drittes Strukturmerkmal des Fragments zu erwähnen. Wenn also das Fragment immer auch das Andere seiner selbst ist, bedeutet dies ebenso, dass es erst mit dem Anderen zu dem wird, was es selber ist. Friedrich Schlegel spricht vom „kombinatorischen Geist“, demzufolge es „kein Fragment allein“ gebe.48 Fragmente stehen nicht nur untereinander im Sinne einer ,Denklandschaft‘ oder ,Enzyklopädie‘ in Beziehung; ihrer fragmentarischen Denkordnung wegen bedürfen sie vielmehr des „Lesers als lebendigen Vollenders“.49 Damit kommt jene Umwertung des mit dem idealistischen Systembegriff eng verbundenen Begriffs des Ganzen in den Blick, wie wir sie bereits am Verhältnis von Gesundheit und Krankheit zeigen konnten: nicht das Ganze, sondern die Beziehung wird zum Leitbegriff. Genau besehen, führt uns diese Wendung auf den eingangs erwähnten Brief Franz Rosenzweigs an Rudolf Ehrenberg zurück. Das dort von Rosenzweig beschriebene Systemverständnis Weizsäckers bedeutet, „dass jedes Einzelne den Trieb und Willen zur Beziehung auf alle andern Einzelnen hat; das ,Ganze‘ liegt jenseits seines bewussten Gesichtskreises, es sieht nur das Chaos der Einzelheiten in das es seine Fühlfäden ausstreckt.“50 Im Sinne dieser Überlegung scheint es lohnenswert, die noch immer unzureichend rezipierten und verstandenen Denkfiguren der Medizinischen Anthropologie im Lichte der frühromantischen Denk- und Lebensform des Fragments einer neuen Lektüre zu unterziehen. Nicht zuletzt die Situation der modernen Medizin gibt dazu dringlichen Anlass.

48 Hierzu die Einleitung zu einer Auswahl aus Lessings Gedanken und Meinungen, die Friedrich Schlegel unter den Titel „Vom kombinatorischen Geist“ stellt; vgl. Fr. Schlegel, Kritische Schriften, hg. von Wolfdietrich Rasch. München 1964, S. 421 ff. 49 Gerhard Neumann, Ideenparadiese, S. 562; zu ,Enzyklopädie‘ und ,Denklandschaft‘ ebd. S. 563 ff., 582 ff. 50 Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, I. Band, S. 484.

Autorenverzeichnis Myriam Bienenstock geb. 1948, Professorin für Philosophie an der Universität François Rabelais (Tours). 2006 – 2012 Präsidentin der Internationalen Rosenzweig Gesellschaft; 2004 Martin Buber-Stiftungsprofessorin an der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Neuere Publikationen: Cohen face à Rosenzweig. Débat sur la pensée allemande, Paris 2009. Der Geschichtsbegriff: eine theologische Erfindung? Würzburg 2006. Vollständige Publikationsliste auf der Homepage: http://mbienenstock.free.fr/ Pierfrancesco Fiorato (Sassari), geb. 1959, Studium der Philosophie in Genua und Zürich. Promotion in Zürich: Geschichtliche Ewigkeit. Ursprung und Zeitlichkeit in der Philosophie Hermann Cohens (Würzburg 1993). Seit 2002 Professor für Moral- und Geschichtsphilosophie an der Universität Sassari. Arbeitsschwerpunkte: Neukantianismus; Jüdisches Denken im 19. und 20. Jahrhundert, bes. Hermann Cohen, Walter Benjamin und Franz Rosenzweig. Karen Gloy, Dr. Dr. h. c., em. Professorin für Philosophie und Geisteswissenschaft in Luzern, Lehraufträge in München und Ulm, Gründungsmitglied der Gesellschaft „System der Philosophie“ (Wien). Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Naturphilosophie, Theorien des Geistes, Rationalitätstheorie, Theorie der Zeit, Interkulturelle Philosophie. Letzte Buchpublikationen: Von der Weisheit zur Wissenschaft (2007); Philosophiegeschichte der Zeit 2008; Kollektives und individuelles Bewusstsein (2009); Unter Kannibalen (2010); Kulturüberschreitende Philosophie (2012). Rainer-M. E. Jacobi (Bonn), geb. 1950 in Chemnitz, Studium der Physik in Dresden, der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (Forschungsgruppe Klaus Michael Meyer-Abich), seit 2000 Arbeit am Nachlass Viktor von Weizsäckers im Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn und am Deutschen Literaturarchiv Marbach, jüngste Veröffentlichung: Schmerz und Sprache. Zur Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers, (Hg.), Heidelberg 2012. Andreas B. Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich und Mitglied des Zentrums für Geschichte des Wissens der ETH und Universität Zürich. Gastprofessuren in Jerusalem, Berlin, Bern, Princeton. Arbeitsschwerpunkte: Jüdische Literaturund Kulturgeschichte; Literatur und Wissen sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Wissensforschung; Esoterikforschung. Jüngste Buchpublikationen: Franz Kafka (2008); Max Frisch (2011). Christian Krijnen lehrt Philosophie an der Tilburg University und der VU University Amsterdam. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Neuzeit; Erkenntnistheorie; Wissenschaftstheorie; praktische Philosophie; Metaphysik; Kulturphilosophie; Wirtschafts- und Organisationsphilosophie. Krijnen veröffentlichte u. a. Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts (2001); Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie (2008). URL: https://sites.google.com/site/christiankrijnen/

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Autorenverzeichnis

Benjamin Pollock (Lansing) arbeitet als Associate Professor of Religious Studies an der Michigan State University. Er veröffentlichte unter anderem: Franz Rosenzweig and the Systematic Task of Philosophy (2009). Wilhelm Schmidt-Biggemann lehrt am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und forscht unter anderem zur Religionsphilosophie, Geschichte der Philosophie und Philologie, vornehmlich in der Frühen Neuzeit, zur Geschichte der christlichen Kabbala und zur Geschichte der politischen Theologie. Hartwig Wiedebach betreut das Hermann Cohen-Archiv in Zürich und lehrt in Kassel sowie an der ETH Zürich. Div. Gastprofessuren für jüdische Philosophie. Neuerlich publiziert: „Kreuz der Wirklichkeit“ und „Stern der Erlösung“ (zu Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig, 2010); Cohen, Werke, Bd. 12 (2012); The National Element in Hermann Cohen’s Philosophy and Religion (2012); The Kant-Maimonides Constellation (mit Michael Zank, 2012). Elliot R. Wolfson ist Abraham Lieberman Professor of Hebrew and Judaic Studies an der New York University. Er veröffentlichte zahlreiche Texte, unter anderem: Through the Speculum That Shines: Vision and Imagination in Medieval Jewish Mysticism; Language, Eros, and Being: Kabbalistic Hermeneutics and the Poetic Imagination; Open Secret: Postmessianic Messianism and the Mystical Revision of Menahem Mendel Schneerson; A Dream Interpreted within a Dream: Oneiropoiesis and the Prism of Imagination. Kurt Walter Zeidler, geboren 1953. Promotion 1979, Habilitation 1987 an der Universität Wien. Seit 2000 ebendort apl. Professor am Philosophischen Institut. Forschungsschwerpunkte: Transzendentalphilosophie, Erkenntnislehre und Wissenschaftstheorie. Publikationen: Grundriß der transzendentalen Logik, Cuxhaven 1992, (2. Aufl.) 1997. Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik, Bonn 1995. Prolegomena zur Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000. Warren Zev Harvey, Prof. em. an der Hebräischen Universität Jerusalem, wo er seit 1977 lehrt; zugleich Visiting Professor of Philosophy an der Columbia Universität in New York. Zahlreiche Publikationen zur jüdischen Philosophie, u. a.: Physics and Metaphysics in Hasdai Crescas (1998). EMET-Preisträger für „Humanities“ 2009. Walther Ch. Zimmerli, Cottbus, (geb. 1945). War neben zahlreichen Gastprofessuren im In- und Ausland u. a. ord. Professor für Philosophie an der TU Braunschweig, an den Universitäten Bamberg, Erlangen/Nürnberg und Marburg, sowie Präsident der Privaten Universität Witten/ Herdecke. 2002 gründete er als Mitglied des Topmanagements des Volkswagen Konzerns die Volkswagen AutoUni in Wolfsburg (Präsident bis 2007). Seit Mai 2007 ist er Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus.