Abschied und Offenbarung: Eine poetisch-theologische Kritik am Motiv der Totalität im Ausgang von Hölderlin

Der vorliegende Band bietet einen Durchgang durch Hölderlins dichterisches Schaffen und interpretiert zahlreiche Gedicht

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Abschied und Offenbarung: Eine poetisch-theologische Kritik am Motiv der Totalität im Ausgang von Hölderlin

Table of contents :
Danksagung......Page 7
Inhaltsverzeichnis......Page 9
1.1 Textgrundlage und Siglen......Page 11
1.2 Standpunkt......Page 13
1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins?......Page 25
1.4 Quellen und Bezugspunkte......Page 37
1.5 Gang der Arbeit......Page 46
2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen......Page 50
2.1 Die Frage nach Gott und dem Menschen als Ausgangspunkt von Hölderlins Werk: M.G. und Die Nacht......Page 51
2.2 Verlust der Unmittelbarkeit: Die Meinige und Die Unsterblichkeit der Seele......Page 57
2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille......Page 64
2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit: Hymnus an die Göttin der Harmonie......Page 75
2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur......Page 100
3 Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären......Page 122
3.1 Philosophische Annäherung an den Begriff der Sphäre: Fragment philosophischer Briefe......Page 123
3.2 Dichterische Annäherung an die Begriffe Äther und Strahl: An Herkules und Diotima......Page 129
3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer......Page 132
3.4 Die Suche nach dem Göttlichen und die abendliche Zeit: Sonnenuntergang......Page 153
3.5 Sprache und Verwandlung: Der Prinzessin Auguste von Homburg und Aus stillem Hauße senden …......Page 156
3.6 Trennung von menschlicher und göttlicher Sphäre und Aufbruch zu einer neuen Erzählung: Der Abschied......Page 166
4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800......Page 176
4.1 Übergang: Das untergehende Vaterland …......Page 177
4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage …......Page 180
4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau......Page 207
4.4 Der Text als Sphäre: Patmos......Page 224
5.1 Die Offenbarkeit Gottes als Sphäre der Dichtung: In lieblicher Bläue …......Page 264
5.2 Wiederkehr der Verschränkung der Frage nach Gott und dem Menschen: Was ist der Menschen Leben … und Was ist Gott …......Page 267
5.3 Eine neue Form der Unmittelbarkeit: Der Frühling......Page 270
6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie......Page 273
6.1 Sphäre und Offenbarung......Page 274
6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung......Page 283
6.3 Abschied vom Gedanken der Unmittelbarkeit des Ursprungs und der Vollendung als Totalität......Page 296
6.4 Abschied und Offenbarung......Page 301
6.5 Erneuerung der Sprache im Gedicht und aus dem biblischen Text......Page 309
A.2 Hölderlin-Jahrbuch......Page 313
A.3 Andere zitierte Werke......Page 314
A.4 Nachschlagewerke und Internetquellen......Page 318
Register der Gedichte......Page 319

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S T U D I E N Z U L I T E R AT U R U N D R E L I G I O N

BAND 2

Jakob Helmut Deibl

Abschied und Offenbarung Eine poetisch-theologische Kritik am Motiv der Totalität im Ausgang von Hölderlin

Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion Band 2 Reihe herausgegeben von Wolfgang Braungart, Bielefeld, Deutschland Joachim Jacob, Gießen, Deutschland Jan-Heiner Tück, Wien, Österreich Wissenschaftlicher Beirat: Anton Bierl, Basel, Schweiz Alfred Bodenheimer, Basel, Schweiz Jörg Lauster, München, Deutschland Angelika Neuwirth, Berlin, Deutschland Almut-Barbara Renger, Berlin, Deutschland

Noch in den 1980er Jahren war zumindest in der westlichen Welt die Auffassung verbreitet, das ,Ende der Religion‘ stehe unmittelbar bevor. In den letzten Jahren ist allerdings – nicht zuletzt unter dem Eindruck weltweiter religionspolitischer Konflikte – unübersehbar geworden, dass es in den Lebenswelten der Gegenwart eine anhaltende und vielfältige Präsenz von Religion gibt. Die geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung hat daher manche pauschale Vorstellung von ,Moderne‘ und ,Säkularisierung‘ revidieren müssen und Religion bzw. Formen des Religiösen wieder als ein aktuelles und brisantes Forschungsthema entdeckt. Auch die Literaturwissenschaften haben begonnen, die vielfältige Präsenz der Religion in den postsäkularen Gesellschaften neu als Herausforderung aufzunehmen; dabei geht es, über die Aufarbeitung stofflich-motivischer Bezugnahmen hinaus, auch um Funktion und Bedeutung von Religion für die Literatur. Die neue Reihe Studien zu Literatur und Religion möchte der Erforschung dieser historisch-systematischen Zusammenhänge zwischen Kunst bzw. Literatur und Religion von der Antike bis zur Gegenwart ein neues Forum bieten. Gegenstandsbereich der Untersuchungen können dabei alle Weltreligionen und religiösen Phänomene wie das ganze Spektrum literarischer Formen sein. Angesprochen sind insbesondere Literaturwissenschaft, Theologie, Judaistik und Islamwissenschaft, Religions- und Kulturwissenschaft. Die Reihe steht sowohl Monographien als auch profilierten Sammelpublikationen und Editionen offen, interdisziplinären wie interdisziplinär relevanten Arbeiten.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15855

Jakob Helmut Deibl

Abschied und Offenbarung Eine poetisch-theologische Kritik am Motiv der Totalität im Ausgang von Hölderlin

Jakob Helmut Deibl Pontificio Ateneo Sant’Anselmo Roma, Italien

ISSN 2520-8810 ISSN 2520-8829 (electronic) Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion ISBN 978-3-476-04887-5 ISBN 978-3-476-04888-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04888-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Abbildung auf Basis einer Vorlage von Wolfgang Braungart und Lukas Gutsfeld) J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Die Sphäre die höher ist, als die des Menschen diese ist der Gott Friedrich Hölderlin, Stuttgarter Foliobuch, 33/17r

. . . Neues und Altes. Matthäus-Evangelium 13,52

Als ob die Erneuerung der Sprache von einem Entschluss ausgehen würde und nicht von einem Gedicht. Karl Kraus, Die Sprache, 15

Danksagung

Ohne einen Resonanzraum der Freundschaft und sich gastfreundlich öffnende Orte hätte kein Wort dieser Arbeit, die ich im Jänner 2018 als Habilitationsschrift an der Universität Wien eingereicht habe, geschrieben werden können. Ich danke Kurt Appel, dass er in einer Phase inhaltlicher Leere, die mich geraume Zeit begleitete, den Namen Hölderlin ins Spiel gebracht hat. Ohne zunächst ein weiteres Wort darüber zu wechseln, hat sich davon ausgehend ein Versuch der Annäherung an seine Dichtung entfaltet. Den Boden dafür haben in theologischer Hinsicht Johann Reikerstorfer und Kurt Appel und in philosophischer Hinsicht der Lesekreis zur Phänomenologie des Geistes gelegt. Dafür danke ich Friedrich Kern, Thomas Auinger, Alfred Dunshirn und Marie-Theres Igrec. Lange vor Schluss hätte ich die Arbeit aufgegeben, hätten mich nicht Daniel Kuran, Lisa Achathaler, Anna Kontriner, Isabella Bruckner, Marlene Deibl, Sara Walker, Katharina Limacher und Martin Eleven ermutigt weiterzuschreiben und mich in ihrem Büro immer wieder gastfreundlich aufgenommen. Daniel Kuran danke ich für die genaue Lektüre der im engeren Sinne philosophischen Passagen der Arbeit, Lisa Achathaler dafür, dass sie den großen Bogen der Arbeit im Blick behalten hat. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen an der Universität Wien haben sich als wichtige Gesprächspartnerinnen und -partner erwiesen und mich unterstützt. Mein besonderer Dank gilt den Mitgliedern der Forschungsplattform Religion and Transformation in Contemporary Society, jenem Projekt, das mir in den vergangenen Jahren so wichtig geworden ist. Für ihre Unterstützung danke ich Rudolf Kaisler, Hans Schelkshorn, Gerald Hödl, Stefan Hammer, Rudolf Langthaler, Sigrid Müller, Regina Polak, Astrid Mattes, Wolfgang Treitler und Hans Pock. Sabine Doering, Karlheinz Ruhstorfer und Knut Wenzel haben die Arbeit sehr genau gelesen und ihr Habilitationsgutachten schon als eine Antwort auf sie verfasst. Wolfgang Braungart, Joachim Jacobs und Jan-Heiner Tück danke ich für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe, Oliver Schütze für die Betreuung der Arbeit von Verlagsseite. Violetta Waibel, Martin Voehler und Johann Kreuzer sei Dank gesagt, dass sie mir den Kontakt zur Hölderlin-Gesellschaft ermöglicht haben. VII

VIII

Danksagung

Raimund Stadlmann und Anton Hofmann danke ich für die sprachliche Korrektur der Arbeit. Meinen Brüdern Stefan und Johannes danke ich für die häufigen Treffen, die Fahrten nach Triest und das nicht abreißende Gespräch, in welchem ich sehr viel gelernt habe. Isabella Guanzini, David Novakovits, Simone Pesendorfer, Mattia Coser, Raimund und Angela Stadlmann, Ines Schaberger, Ursula Pröllinger und Sibylle Trawöger danke ich für ihre freundschaftliche Verbundenheit. Meinen Eltern Helmut und Rita Deibl danke ich für ihren Rückhalt seit vielen Jahren. Dem Konvent des Stiftes Melk, besonders den Äbten Georg und Burkhard, P. Martin und P. Lukas danke ich für ihr Interesse und die Möglichkeit des langen Studiums in Wien. P. Wilfried, der meine Arbeit immer sehr unterstützt hat, konnte ich noch von der Abgabe der Habilitation erzählen, wenige Tage danach ist er verstorben. Emira, Fuad und Michaela vom Restaurant Giorgina in der Bankgasse (1010 WIEN) haben einen gastfreundlichen Ort geschaffen, an dem wir uns an vielen Abenden willkommen fühlen durften. . . . und kühl und Ruhig zu tieferem Freundesgespräche die Nacht? (Stuttgard. An Siegfried Schmidt., VV 12 f.; HF 12)

Inhaltsverzeichnis

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Textgrundlage und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins? 1.4 Quellen und Bezugspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Frage nach Gott und dem Menschen als Ausgangspunkt von Hölderlins Werk: M. G. und Die Nacht . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verlust der Unmittelbarkeit: Die Meinige und Die Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit: Hymnus an die Göttin der Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Philosophische Annäherung an den Begriff der Sphäre: Fragment philosophischer Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Dichterische Annäherung an die Begriffe Äther und Strahl: An Herkules und Diotima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer . 3.4 Die Suche nach dem Göttlichen und die abendliche Zeit: Sonnenuntergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Sprache und Verwandlung: Der Prinzessin Auguste von Homburg und Aus stillem Hauße senden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Trennung von menschlicher und göttlicher Sphäre und Aufbruch zu einer neuen Erzählung: Der Abschied . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800 . . . . . . . . . . . . . 4.1 Übergang: Das untergehende Vaterland . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage . . . 4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau . . . . . . . . . . 4.4 Der Text als Sphäre: Patmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Turmgedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Offenbarkeit Gottes als Sphäre der Dichtung: In lieblicher Bläue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wiederkehr der Verschränkung der Frage nach Gott und dem Menschen: Was ist der Menschen Leben . . . und Was ist Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Eine neue Form der Unmittelbarkeit: Der Frühling . . . . . . . .

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Epilog – Momente einer poetischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Sphäre und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung . . . . 6.3 Abschied vom Gedanken der Unmittelbarkeit des Ursprungs und der Vollendung als Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Abschied und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Erneuerung der Sprache im Gedicht und aus dem biblischen Text .

Literatur A.1 A.2 A.3 A.4

......................... Werke Hölderlins . . . . . . . . . . . . . Hölderlin-Jahrbuch . . . . . . . . . . . . Andere zitierte Werke . . . . . . . . . . . Nachschlagewerke und Internetquellen

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Register der Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

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Einleitung

1.1 Textgrundlage und Siglen Tritt die Beschäftigung mit Hölderlins Werk aus dem Bereich individueller Lektüre in den Raum gemeinsam geteilter Auseinandersetzung, muss ein Hinweis auf die textliche Grundlage des Gespräches gegeben werden. Die Verständigung darüber ist nicht allein technischer Natur. Wer heute Hölderlins Werk liest und interpretiert, ist in eine Suche nach Wort und Text und deren Zusammenhalt mithineingenommen, wie sie auch den Autor selbst unaufhörlich umgetrieben hat: Hölderlins Dichtung spricht sich zunehmend als Behauptung des Wortes gegen eine drohende Sprachlosigkeit aus. Durch einen Prozess immer weiter gehender Überarbeitung stehen seine Texte in der Spannung des Strebens nach endgültiger Gestalt und der Auflösung jeglicher fixierter Form. Schließlich sucht seine Dichtung den Zusammenhalt der Einzeltexte, Fragmente, Bruchstücke und Segmente in Sammlungen, die etwas Bleibendes ausdrücken, einen ihnen allenfalls zugemessenen Gesamtsinn aber verabschieden. Mit diesen Überlegungen hinsichtlich der Textgrundlage für ein Gespräch über Hölderlins Werk ist bereits ein Feld weitreichender Fragestellungen und unterschiedlicher Disziplinen eröffnet: Ist die Suche nach dem Wort, das Eintritt in die Sprache bedeutet, nicht immer schon Thema der Philosophie gewesen? Ist die Frage nach dem Text, seiner Gestalt und Gliederung, seinem semantischen und performativen Charakter, seinem Aufbau wie seinem Abbrechen nicht genuines Interesse der Literaturwissenschaft? Und hat die Frage nach einem bleibenden, mehr oder minder verbindlichen (d. h. kanonischen) Zusammenhalt einzelner Texte, die Frage nach Rekapitulation des Fragmentarischen, Bruchstückhaften und dessen, was lediglich Segment ist, nicht theologische Konnotationen? Gedichte Hölderlins werden, wenn nicht anders angegeben, nach der von Michael Knaupp herausgegebenen Münchener Ausgabe zitiert. Die Bremer Ausgabe von D.E. Sattler ist hinsichtlich der zeitlichen Einordnung der Texte die wichtigste Quelle. Für die Suche nach Sekundärliteratur zu den einzelnen Gedichten ist die zweisprachige Ausgabe von Luigi Reitani Tutte le liriche eine unerlässliche Hilfe. Die Beschäftigung mit dem Homburger Folioheft kann auf die Faksimile Edition der © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J.H. Deibl, Abschied und Offenbarung, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04888-2_1

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Einleitung

Frankfurter Hölderlin Ausgabe nicht verzichten. Bei den Theoretischen Schriften Hölderlins bildet die Ausgabe von Johann Kreuzer durch ihre den Text begleitenden Anmerkungen eine wichtige Unterstützung. Gedichte bzw. Passagen von Gedichten, auf die ich mich im Folgenden genauer beziehen werde, sind in der Arbeit vollständig abgedruckt. Dies soll dem Leser, der Leserin ermöglichen, die Ausführungen am Text nachzuvollziehen und sie kritisch zu überprüfen, auch wenn man die mehrbändigen wissenschaftlichen Gesamtausgaben gerade nicht bei sich führt. Verweise auf Gedichte Hölderlins im Fließtext erfolgen unter Nennung des Titels (kursiv) und der entsprechenden Verse mittels arabischer Zahlen (ohne Autorenangabe). Bezieht sich ein Zitat erkennbar auf ein zuvor (teilweise) wiedergegebenes oder genanntes Gedicht, wird lediglich die entsprechende Versanzahl angegeben (in Klammern gesetzt), um den Textfluss nicht über Gebühr zu unterbrechen. Bei Zitaten, die in den Fließtext integriert sind, wird der Beginn eines neuen Verses mit Schrägstrich (/), der Beginn einer neuen Strophe mit doppeltem Schrägstrich (//) angezeigt. Die Zählung der Strophen erfolgt mittels lateinischer Zahlen. Das literarische Werk Hölderlins ist philologisch exzellent erschlossen. Ich beziehe mich im Folgenden häufig auf die Kommentare der Münchener Ausgabe, der Großen Stuttgarter Ausgabe, der Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag und von Tutte le liriche. Bei Artikeln aus dem Hölderlin-Handbuch und aus den Hölderlin Jahrbüchern werden Verfasser oder Verfasserin und Titel sowie die Stelle des jeweiligen Artikels im Hand- bzw. Jahrbuch angegeben, deren vollständige Zitation (ohne Nennung der Autoren und Autorinnen der zitierten Beiträge) findet sich im Literaturverzeichnis. Die Wiedergabe neutestamentlicher Texte erfolgt grundsätzlich nach dem sehr nahe am griechischen Originaltext orientierten Münchener Neuen Testament, glättet aber manchmal die Wortstellung zwecks leichterer Lesbarkeit. Gegebenenfalls erfolgt auch ein Vergleich mit dem griechischen Text von Nestle-Aland. Häufig verwendete Werke werden folgendermaßen abgekürzt: BA HJb FHA MA KA KdU PhdG StA TS TL

Bremer Ausgabe Hölderlin-Jahrbuch Frankfurter Hölderlin Ausgabe Münchener Ausgabe Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag Kritik der Urteilskraft Phänomenologie des Geistes Große Stuttgarter Ausgabe Theoretische Schriften Tutte le liriche

1.2 Standpunkt

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1.2 Standpunkt Vorliegende Arbeit hat zwei Anliegen, die weit auseinander zu liegen scheinen. Zum einen versucht sie, ausgehend vom Begriff des Abschieds, einen Beitrag zur Diskussion um das Konzept der Offenbarung in christlicher Theologie zu leisten. Zum anderen gibt sie eine möglichst genaue Lektüre einiger Gedichte Friedrich Hölderlins. Dabei ist die Arbeit einerseits von der Überzeugung getragen, dass der bislang in der Theologie wenig rezipierte Dichter und Philosoph Hölderlin interessante Impulse für eine gegenwärtige Theologie zu geben vermag, die einen in sich geschlossenen Binnendiskurs verlassen möchte. Andererseits geht sie davon aus, dass ein theologischer Zugang zu Hölderlins Werk Zusammenhänge, Verbindungen und Verweise in diesem so schwer systematisierbaren Oeuvre sichtbar werden lässt, welche einen wichtigen Ausgangspunkt für dessen weitere Interpretation darstellen können. Das Vorhaben verlangt einige Vorbemerkungen. 1) Der Titel der Arbeit baut mittels der Begriffe Abschied und Offenbarung eine Spannung auf, innerhalb derer sich die weiteren Überlegungen halten. Weder lässt sich einer der beiden Termini auf den anderen zurückführen, noch können sie als die beiden Extreme eines Gegensatzes betrachtet werden, die einem ihnen vorausliegenden allgemeineren Begriff entsprängen. In religionsphilosophischer Terminologie ausgedrückt: Der durch die beiden Motive aufgespannte Raum lässt sich nicht auf eine Ursprungsmacht zurückführen. Entscheidend ist vielmehr der Gestus der Eröffnung, den sie zur Darstellung bringen. Diese Wahl eines gedoppelten Ausgangspunktes sieht sich dem Bemühen verpflichtet, einem ursprungsmythischen Denken zu entkommen, welches die Veränderlichkeit einer Welt, die mannigfach konkurrierenden Ansprüchen ausgesetzt ist, letztlich aus einem Prinzip abzuleiten bestrebt ist. Dies ist Klaus Heinrich zufolge eine Strategie, die Bedrohlichkeit einer in Gegensätzen befangenen Welt zurückzudrängen – freilich um einen doppelten Preis: Zum einen begegnen die ausgeblendeten Konflikte in immer neuen Gestalten wieder, zum anderen verlieren das Sein und die Zeit ihre Lebendigkeit und schöpferische Offenheit.1 Man könnte diese von Klaus Heinrich inspirierten Überlegungen sehr leicht mit einzelnen Zitaten über „Ursprung“ und „Quelle“, die sich Hölderlins Gedichten entnehmen lassen, illustrieren, allerdings wären derartige Bezüge an dieser Stelle noch völlig ungedeckt und aus ihrem Zusammenhang gelöst. Es muss vorerst genügen, darauf hinzuweisen, dass Hölderlin ab einem gewissen Zeitpunkt seines Schreibens weit ausholende Bewegungen der Wanderung zur Darstellung bringt, die Ursprung und Herkunft nicht mehr in einem Prinzip zu finden vermögen – Der Wanderer, Am Quell der Donau und Patmos werden dies im Folgenden zeigen. Was aber bedeutet die nicht auf einen Ausgangspunkt zurückführbare Spannung von Abschied und Offenbarung, was bedeutet der gedoppelte Ausgangspunkt für den Fortgang der vorliegenden Arbeit? 2) In den Gedichten Hölderlins zeigt sich, wie zahlreiche leitende Perspektiven abendländischen Denkens sukzessive ihre Bedeutung verlieren: die Erneuerung der 1

Vgl. Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, 33; Heinrich, Parmenides und Jona, 11–28.

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1

Einleitung

Gesellschaft aus den Quellen der Vergangenheit, das utopisch-revolutionäre Projekt einer neuen Ära der Geschichte, die Suspendierung von Zeit im Augenblick mystischer Präsenz, die Erneuerung des Daseins in Analogie zu zyklischen Prozessen der Natur etc. Allerdings treten diese Verluste nicht unvorbereitet auf; einzelne Gedichte stellen eine behutsame Annäherung an jene leitenden Ideen dar und nehmen sie noch einmal auf, um sie dann zu verabschieden. Begleitet ist dieser Vorgang von der bedrohlichen Frage, ob die Formen des Verlustes letztlich in ein Verstummen münden oder ob sich im Gestus der Verabschiedung auch neue sprachliche Horizonte eröffnen – offenbaren – können. Besonders ab etwa 1800 kann jedes Gedicht Hölderlins als ein Ringen darum gelesen werden, im Abschied (neben all den Aspekten des Verlustes) auch ein eröffnend-offenbarendes Moment zum Ausdruck zu bringen. So vielfältig die Bedeutungen des Begriffes Offenbarung sein mögen, nicht selten ist er mit dem Attribut des Mehr konnotiert. Offenbarung meint ein durch Mitteilung, Inspiration oder Sendung erwirktes Mehr an Einsicht, Information, Handlungsanleitung oder Anregung der Einbildungs- und Gemütskräfte, ein Mehr an Kenntnis des Göttlichen, ein Mehr an Autorisierung für Texte oder an Legitimation für Positionen, ein Mehr gegenüber philosophischem, faktenbasiertem oder schlichtweg als säkular zu bezeichnendem Wissen. Eine Weise menschlicher Beteiligung ist in den Offenbarungskonzepten zwar meist impliziert, „Offenbarung“ fungiert jedoch als Chiffre dafür, dass die menschliche Komponente nicht ausreicht und es eines (Super-)Additums, einer Übersteigerung oder eines surplus bedarf. All dies hat zweifelsohne eine Relevanz, sei es, dass dieses Mehr als das Proprium der Religionen angesehen wird, das nur von diesen thematisiert werden kann, sei es, dass sich die Kritik genau dagegen wendet und es als Mythos, Märchen, Projektion, Illusion, übertriebene Hypothese oder Anmaßung durchschaut. Angeregt durch Hölderlins Dichtung stellt diese Arbeit die Frage, ob sich der Begriff der Offenbarung tatsächlich in so enger Weise mit dem Attribut des Mehr verbinden muss oder ob in ihm nicht auch der Gestus des Verabschiedens, der Reduktion und Schwächung gehört werden muss. Die Verbindung der beiden ausgeführten Motive, einerseits der Hoffnung, dass sich im Abschied neben dem Verlust auch ein eröffnendes Moment zeige, und andererseits der Notwendigkeit, im Begriff der Offenbarung auch den Aspekt der Verabschiedung und Schwächung wahrzunehmen, soll an einem Beispiel der Dichtung Hölderlins, einer Passage aus der siebenten Strophe der Elegie Brod und Wein, verdeutlicht werden: Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten, Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns. Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen, Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch, Traum von ihnen ist drauf das Leben. [. . . ] (Brod und Wein, VV 109–115)

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1.2 Standpunkt

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Ausgesagt wird ein Bruch, durch den die Welt der Götter von der der Menschen entfernt ist. Nur wenig scheinen die Götter die Menschen zu beachten, was zunächst als Verlust verstanden werden muss (VV 109–112). Noch in Vers 112, in welchem die Aussage über den Verlust ihren härtesten Ausdruck erhält, ereignet sich jedoch ein unerwarteter Umbruch, eine gänzlich neue Interpretation der Situation. Die schwindende Aufmerksamkeit der Götter wird als Schonung der Menschen interpretiert, als ein hohes Maß göttlicher Sorge: „so sehr schonen die Himmlischen uns“ (VV 112). Der folgende Vers gibt dafür eine kurze theologische Begründung: Der Mensch vermag als schwaches Gefäß die Fülle göttlicher Präsenz nur selten zu erfassen; zumeist nur in Gestalt eines Traumes kann die Gegenwart der Himmlischen im Leben erfahren werden. Nicht das endlose Wirken der Götter, sondern die Schonung, welche sie den Menschen zuteilwerden lassen, ist das entscheidende Moment ihres Offenbar-Seins. Der Rückzug der Götter wäre dann nicht nur als Verlust zu interpretieren, sondern als ein Abschied, der selbst eine Weise göttlicher Offenbarung ist.2 Eine theologische Überlegung, wie Offenbarung zu denken sei, wird an dieser Stelle zur fundamentalen Infragestellung eines Verständnisses von Totalität, welches das Kontingente nicht anzuerkennen vermag (in den Worten Hölderlins: es nicht zu schonen vermag), sondern es dem Streben nach umfassender Beherrschung und Kontrolle unterwirft. Von daher ist auch der Untertitel der Arbeit zu verstehen, der von einer poetisch-theologischen Kritik am Motiv der Totalität spricht. Nicht selten tritt Letzteres gerade im Umkreis der Religion auf, wird durch sie legitimiert und von ihr in Anspruch genommen, sodass Offenbarung und Totalität sich vereinigen: Offenbarung steigert das in ihr angelegte Mehr bis zur Totalität, was dann (bei all ihrer Unterschiedlichkeit) in Denkfiguren wie der allumfassenden Liebe, der Endentscheidung des Glaubens, der vollendeten innertrinitarischen Kommunikationsgemeinschaft, der Erst- und Letztbegründungen etc. führt. Nicht, dass diese Motive falsch wären – was aber, wenn auch sie noch einmal verabschiedet werden müssten, um Moment an einem Prozess zu werden, der das Menschliche so ernst nimmt, dass es in seiner Kontingenz, Verletzlichkeit und Fragilität gewürdigt würde? Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass totalisierende Tendenzen im Denken und in der Wahrnehmung, aber auch in den gesellschaftlichen Bereichen von Wirtschaft, Politik und Technik durch ihre Verbindung mit Offenbarung zu Machtstrukturen werden, die sich gegen jeden Einspruch immunisieren. Im Folgenden geht es deshalb darum, die Identifizierung von Offenbarung und Totalität aufzuspalten, Totalität lediglich als ein Moment am Gedanken der Offenbarung zu begreifen, das nicht bedeutungslos wird, jedoch überschritten werden muss zu seiner Selbst-

2

Vgl. Groddeck, Hölderlins Elegie Brod und Wein oder Die Nacht, 167–172. Anders als Groddeck sehe ich in der Wendung „so sehr schonen die Himmlischen uns“ nicht den „Anschein resignierter Ironie“ (Groddeck, Hölderlins Elegie Brod und Wein oder Die Nacht, 169), sondern einen Ausdruck göttlicher Offenbarung. Auf die wesentlich differenzierteren Analysen Groddecks, etwa zu Verschiebungen in den Zeitformen in unterschiedlichen Fassungen der Elegie oder zur Rolle des Dichters, kann an dieser Stelle, wo die Passage lediglich illustrativen Charakter hat, nicht eingegangen werden.

6

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Einleitung

relativierung, Schwächung, kénosis.3 Wenn es eine Form aktueller Relevanz dieser Arbeit gibt, liegt diese im Versuch, den Offenbarungscharakter der Religion(en) aus seiner Identifikation mit (totalisierenden) Machtdiskursen herauszulösen und als machtkritischen Diskurs zu bedenken. 3) An dieser Stelle möchte ich auf einige Grenzen der vorliegenden Arbeit hinweisen, welche vor allem die philosophische Kontextualisierung des Begriffes der Totalität, die kulturwissenschaftliche des Motivs des Abschieds, die religionsgeschichtliche des Pietismus und die theologiegeschichtliche des Begriffs der Offenbarung betreffen. Anknüpfend an den vorangehenden Absatz sei hinzugefügt, dass die Überlegungen zur Totalität von Hegel inspiriert sind, der im Kapitel Die Wirklichkeit in der Wesenslogik, dem zweiten Teil der Wissenschaft der Logik, die Totalität als ein (aufzuhebendes) Moment am Prozess der Selbstauslegung des Absoluten begreift.4 Die Ausführungen dieser Arbeit umgekehrt wieder in ein Gespräch mit der Wissenschaft der Logik zu bringen, wäre sehr interessant, ist mir aber nicht in verantwortbarer Weise möglich. So kann ich die Arbeit nur als ein Gesprächsangebot an jene verstehen, die durch ihre kontinuierliche Lektüre mit Hegel vertrauter sind als ich. Eine weitere Grenze betrifft die Kontextualisierung des Motives des Abschiedes. Karl Heinz Bohrer zeigt in seinem großangelegten Werk Der Abschied, wie dieses Motiv zu einer Matrix der literarischen Produktion nach 1800 wurde. Dabei gehe es nicht allein um inhaltlich zu bestimmende Abschiede von etwas, sondern um den Abschied als strukturbildende Figur. Die „Konstellation des SichVerabschiedethabens“5 werde zur Bedingung jeder Erfahrung und jeder Form von Gegenwart. Für Bohrer spielt Hölderlin dabei neben Novalis eine wichtige Rolle, sie sind die „beiden unterschiedlichen Repräsentanten des romantischen Abschiedsdiskurses“. Sie stehen dabei an einer Schwelle, denn bei beiden finde sich letztlich eine „Annihilation des Abschieds im Enthusiasmus einer höheren Kontinuität“6 . Diese sei – vor allem bei Hölderlin – motiviert durch einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang, an den er sich noch immer wenden könne, und durch die Erinnerung, die nicht gänzlich zerfallen sei: Der geschichtsphilosophische Gehalt von Hölderlins und Novalis’ wichtigsten Texten, vor allem Hölderlins späten Hymnen (Patmos) [. . . ], ist durch emphatische Zeitansagen gekennzeichnet, die teilweise unmittelbar mit der christlichen Heilsgeschichte und Christologie korrespondieren, sie allerdings ästhetisch brechen.7

3 Totalität als ein Moment zu begreifen meint etwas anders, als das Aufsprengen von Totalitäten, welches Karlheinz Ruhstorfer als ein Kennzeichen der Dekonstruktion versteht (Ruhstorfer, Christologie (Gegenwärtig Glauben Denken, Bd. 1), 21). Vollzogen im Namen einer Minderung von metaphysischer Gewalt (Vattimo), bliebe dies nichtsdestotrotz eine gewaltsame Handlung, welche der Zerstörung näher als der Öffnung auf neue kontingente Konfigurationen des Seins stünde. 4 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik II (Werke 6), 186–200. 5 Bohrer, Der Abschied, 10. 6 Bohrer, Der Abschied, 16. 7 Bohrer, Der Abschied, 480.

1.2 Standpunkt

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In radikalerer Weise werde der Abschied zu einem strukturbildenen Merkmal der Dichtung Baudelaires, der als erster Dichter überhaupt die Erinnerung nicht mehr als das geheimnisvolle Medium des Dichters begreift, zu dem es im Begriff der „Mnemosyne“ von den Griechen gemacht und von Hölderlin noch einmal – 50 Jahre vor dem Erscheinen Bauedelaires – als emphatisches Projekt für die beginnende moderne Poesie gefaßt worden ist [. . . ].8

Dass es Hölderlin darum geht, die Abschiede nicht in einen umfassenden Verlust münden zu lassen, und dass theologische Kategorien nicht destruiert, sondern ästhetisch gebrochen werden, darin stimme ich Bohrer zu. Dies soll im Folgenden die Interpretation von Patmos zeigen (vor allem Patmos, VV 109–115). Allerdings sehe ich den Schwerpunkt bei Hölderlin nicht so sehr in der Erinnerung als in der (mitunter anarchischen) Eröffnung neuer Sprache und in der Schwächung sämtlicher Strukturen und fundamentaler Prinzipien des Denkens. Die vorliegende Arbeit wird Figuren des Abschieds aus der Dichtung Hölderlins entwickeln und seine Bedeutung für einen theologischen Diskurs erfragen. Eine umfassende kulturwissenschaftliche Einbettung des Motivs, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Studien Bohrers, kann jedoch nicht geleistet werden. Eine weitere Kontextualisierung, die von dieser Arbeit nicht geleistet werden kann, ist die Diskussion der theologischen Gehalte von Hölderlins Dichtung in Bezug auf jenes pietistische Umfeld, dem der Dichter entstammt und von dem er geprägt ist. Der Pietismus ist selbst ein höchst vielgestaltiges und vielschichtiges Phänomen, das in seiner Differenziertheit darzustellen mir nicht möglich ist. Auch in diesem Fall möchte ich meine Arbeit als ein Gesprächsangebot sehen.9 Es wäre möglich, die folgenden Überlegungen mit einer theologiegeschichtlichen Entfaltung des Offenbarungsbegriffes in unterschiedlichen religiösen Traditionen zu beginnen – die jeweilige philosophische Kritik daran inbegriffen –, und dann auf Hölderlins Werk überzugehen, um die Frage zu stellen, ob dieses etwas für das Verständnis des Offenbarungsbegriffes eintrage. Allerdings wäre auf diese Weise das Feld bereits durch tradierte Problemzusammenhänge so vorstrukturiert und in seiner Ausdrucksweise festgelegt, dass ein Beitrag der Dichtung in der ihr eigenen Gestalt – Knut Wenzel spricht vom „Eigenwert der poetischen Sprache“10 – kaum mehr sichtbar werden könnte. Der Beitrag der Dichtung bliebe wohl auf den Aspekt ästhetischer Vermittlung des zuvor begrifflich Ausverhandelten beschränkt. Der eigentliche Diskurs vollzöge sich weiterhin im gewohnten Rahmen, Dichtung hätte ihren Ort lediglich in seiner Illustration. Zu Recht könnte man dabei von einer Vereinnahmung der Dichtung für theologische Anliegen sprechen.11 Demgegenüber sucht die vorliegende Arbeit einen anderen Weg zu gehen und ist ihr Hauptteil 8

Bohrer, Der Abschied, 38. Von den neueren Arbeiten zu Hölderlins Hintergrund im Pietismus verweise ich auf Priscilla A. Hayden-Roy, Zwischen Himmel und Erde: der junge Friedrich Hölderlin und der württembergische Pietismus, in: HJb 2006/07, 30–66. 10 Wenzel, Offenbarung – Text – Subjekt, 111. 11 Sensibel auf diese Gefahr weist auf Seiten der Theologie immer Jan-Heiner Tück hin: vgl. etwa Tück, Hintergrundgeräusche, 9. 9

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Einleitung

der Interpretation von Gedichten Hölderlin gewidmet. Zwar bleibt der Blick dabei auf die Frage nach Offenbarung (in einem weiten Sinn verstanden) und damit auf theologische Implikationen der Texte geschärft, gleichwohl müssen die Auslegungen der einzelnen Gedichte aber für sich stehen können und sich auch ohne anschließende systematisch-theologische Weiterführung als sinnvoll erweisen. Nur auf diese Weise besteht die Möglichkeit, Dichtung auch als Dichtung ernst zu nehmen, ohne sie auf bestimmte inhaltliche Aussagen, welche ebenso in Prosagestalt wiedergegeben werden könnten, derart festzulegen, dass ihr dichterischer Charakter belanglos würde.12 Erst in einem Epilog werde ich versuchen, Aspekte von Hölderlins Dichtung, insbesondere das zentrale Motiv des Abschiedes, explizit auf den theologischen Diskurs um Offenbarung zu beziehen. 4) Freilich sind in Hölderlins Dichtung keine unmittelbaren Antworten auf theologische Fragen zu finden – wie darin auch keine unmittelbaren Antworten auf andere Fragen, etwa gesellschaftliche oder politische, zu finden sind. Gedichte erlauben keinen direkten Zugriff auf ihre „Inhalte“, sind sie doch dadurch ausgezeichnet, dass jedes unmittelbare Aussagen-Wollen zurückgenommen ist und ihre inhaltliche Dimension erst durch mannigfache Vermittlungen, Brechungen und Verschiebungen zugänglich wird. Dichtung in ihrem Eigenwert zu respektieren, kann am ehesten dann gelingen, wenn man Gedichte möglichst zur Gänze interpretiert und nicht bloß von einzelnen Versen – man denke nur an „Spitzenaussagen“ wie „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott.“ (Patmos, V 1 f.) oder „bis Gottes Fehl uns hilft“ (Dichterberuf [Zweite Fassung], V 64) – Auskunft oder Inspiration erwartet. Eingebettet in den Zusammenhang eines Gedichtes erhalten einzelne häufig zitierte Verse einen Resonanzraum, der sie anders zum Klingen bringen kann. Es geht dabei um eine langsame Annäherung, welche in die sprachliche Bewegung der Gedichte eintritt, ihre innere Dynamik und ihr inneres Maß herausarbeitet: Wie lassen sich kleinste, kaum merkbare Schritte in der Entwicklung eines Gedichtes nachvollziehen? Wie nehmen sie Leser und Leserin in eine Sphäre des Gedichteten hinein? Wie gestalten sich Übergänge? Welche Schattierungen vermögen sie sichtbar zu machen, die eine begrifflich-denotative Sprache erst lernen muss? Wie halten sie Bedeutungen in Schwebe? In welcher Weise zeigen sie ein Oszillieren zwischen dem Aufbau von Sinn und Bedeutung einerseits und deren Zurücknahme andererseits? Dieser Versuch einer langsamen Annäherung an Hölderlins Gedichte steht einer Tendenz entgegen, das Werk Hölderlins zum Kampfplatz der Auslegungen zu machen. Ausgerechnet der Dichter, den Bruno Liebrucks als „Dichter des Friedens“13 interpretiert, wird bisweilen zum Gegenstand unerbittlicher Auseinandersetzungen, welche andere Deutungen als schlichtweg falsch oder ideologisch bezeichnen. Ich 12

„Die philosophische und theologische Frage nach der Bedeutung der Poesie oder des Ästhetischen ist auch die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Poetischen oder des Ästhetischen. Eine systematische Perspektive – sei sie theologisch, sei sie philosophisch – würde die Bearbeitung der Wahrheitsfrage vornehmlich einer begriffsorientierten Sprache vorbehalten“ (Wenzel, Offenbarung – Text – Subjekt, 108). 13 Liebrucks, Irrationaler Logos und rationaler Mythos, 230.

1.2 Standpunkt

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spreche an dieser Stelle, das sei mit Nachdruck hinzugefügt, nicht vom Umgang mit einer nationalsozialistischen Vereinnahmung Hölderlins als völkischen Dichter, welche scharf zurückzuweisen ist und gegen die man argumentativ angehen muss. Problematisch finde ich hingegen akademische Diskurse, welche Interpretationen nicht zulassen können, die von der eigenen abweichen, und diese nicht auch als mögliche Alternativen ansehen können. Nicht selten geht es um den Versuch, Dichtung auf eine Eineindeutigkeit festzulegen, die es ermöglicht, dann die Auslegungen einzelner Verse gegeneinander in Frontstellung zu bringen. Im Fragment philosophischer Briefe schreibt Hölderlin, dass „in eben dem Grade, in welchem die Verhältnisse sich über das physisch und moralisch nothwendige erheben, die Verfahrungsart und ihr Element auch unzertrennlicher verbunden sind“ (TS 14). Damit ist, zumal Dichtung weder dem physisch noch dem moralisch Notwendigen angehört, auch für den gesamten Interpretationsprozess eine Vorgabe gesetzt. Wenn Liebrucks’ Analysen nicht falsch liegen und Hölderlin als Dichter des Friedens zu bezeichnen ist, muss die Frage erlaubt sein, ob nicht gelegentlich der Frieden als Element, in welchem sich Hölderlins Dichtung zum Ausdruck bringt, und das Aggressiv-Kämpferische der Verfahrungsart mit seiner Dichtung auseinanderfallen. Der Schwerpunkt wird im Folgenden nicht auf der Abgrenzung von anderen Interpretationen liegen. Die hermeneutische Vorentscheidung meiner Arbeit lässt sich vielleicht darin zusammenfassen, dass sie einen Möglichkeitsraum verschiedener Deutungen offen halten möchte. Durch den Rückbezug auf Hölderlins Text und dessen wiederholte Lektüre finden sämtliche Deutungen jedoch eine Korrektur. Die Betonung eines Möglichkeitsraumes steht wohl der hermeneutischen Vorentscheidung von Anke Bennholt-Thomsen und Alfredo Guzzoni entgegen, von deren Arbeiten ich gleichwohl immens viel gelernt habe. Im Vorwort zu Analecta Hölderliniana III schreiben die beiden vom Versuch, jeweils ein Spektrum von Deutungen zu eröffnen, die jedoch nicht, trotz des rätselhaften, fragmentarischen, wenn nicht gar ruinösen Zustands der jeweiligen Handschrift, als gleichberechtigte behandelt worden sind; vielmehr wird meist eine Entscheidung getroffen und nur in seltenen Fällen dem Leser die Wahl überlassen.14

Meine hermeneutische Vorentscheidung gründet auf Hölderlins Interpretation der Modalitätskategorien Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit, wie er sie im Fragment Seyn, Urtheil, . . . sowie im Fragment philosophischer Briefe gibt, wenn er Möglichkeit als (freie) Wiederholung von Wirklichkeit interpretiert und darin das Moment des Geistigen verortet.15 Die folgenden Überlegungen sind auch nicht als Kommentar zu Hölderlins Gedichten zu verstehen, wenn man einem Kommentar die Aufgabe zumisst, möglichst viel erläuterndes Material zu Tage zu fördern, welches den Kontext einzelner Passagen zu erschließen vermag. Es wird auch nicht um den Versuch gehen, Gedichte 14

Bennholt-Thomsen / Guzzoni, Analecta Hölderliniana III, 9. Ich habe diesen Zusammenhang genauer behandelt im Aufsatz From Kant to Hölderlin: Poetry and Religion in the Wake of Philosophical Aesthetics.

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aus psychologischen Dispositionen, biographischen Umständen oder historischen Gegebenheiten zu rekonstruieren, sondern um eine Lektüre, welche die Gedichte als Texte in ihrer Gänze, d. h. mit einem Anfang, einem Ende und einer inneren Dynamik, in den Blick nimmt. Wenn gelegentlich nur Ausschnitte einzelner Gedichte zitiert und interpretiert werden, kann dies lediglich die Funktion einer Illustration von zuvor schon Dargestelltem oder des Aufzeigens von Analogien und Verweisen haben, nicht aber der Weiterführung des Gedankens dienen. Diese hat anhand jener Gedichte zu erfolgen, die als Ganze zitiert und interpretiert werden. Neben der oben bereits angedeuteten Schutzfunktion gegenüber einer allzu schnellen Funktionalisierung von Gedichten hat dies auch einen Grund im Werk Hölderlins selbst. Hölderlin lässt in seinen Gedichten zunehmend Motive auftreten, die über einige Verse hinweg entfaltet, dann aber wieder verabschiedet werden. Mitunter führt er einen Gedanken vor, um ihn dann abzubrechen und zu zeigen, dass der darin angezeigte Weg nicht weiterverfolgt wird. Isoliert man eine derartige Stelle aus einem Gedicht, kann der Eindruck entstehen, die entsprechende Passage wäre unmittelbar Teil der inhaltlichen Aussage eines Textes, wohingegen sie vielmehr verabschiedet wird. Freilich bleibt in jeder Verabschiedung auch ein Moment des Verabschiedeten aufgehoben . . . 5) Der Fokus lag im letzten Abschnitt auf der singulären Würde des einzelnen Gedichtes als abgeschlossener Größe und muss in den beiden nun folgenden Punkten auf Kontext und Zusammenhang gelegt werden. So wichtig es ist, Gedichte trotz der fluiden Gestalt, welche sie bei Hölderlin durch ihre sukzessive Überarbeitung gelegentlich annehmen, als singuläre Einheit mit Anfang und Ende, eigenem Rhythmus, Eigenzeit und spezifischem Aufbau sowie Auflösung von Bedeutung anzusehen, so können sie doch nicht aus ihrem Kontext und dessen Fragestellungen herausgenommen werden. Dies betrifft zunächst den Kontext ihres zeitlichen, historischen und kulturellen Umfeldes und sodann den Zusammenhang der Gedichte (vgl. Kap. 6). Gedichte müssen auch als genuiner Beitrag zu den in einer bestimmten Epoche verhandelten Debatten gesehen werden. Was Hölderlin betrifft, ist das geistige Umfeld, in welchem sich seine Dichtung in den 1790er Jahren entwickeln konnte, gut beschrieben.16 Wie sehr theologische und philosophische Fragen dabei eine Rolle spielen, soll mittels einiger Passagen aus Hölderlins Briefen kurz angedeutet werden. Ein Brief an Hegel vom 10. Juli 1794 weist auf den großen (im Übrigen wohl nie zurückgegangenen) Einfluss der kantischen Philosophie auf den Dichter hin: „Meine Beschäftigung ist jezt ziemlich konzentriert. Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lectüre. Mit dem ästhetischen Theile der kritischen Philosophie such’ ich vorzüglich vertraut zu werden.“17 Es liegt auf der Hand, dass Hölderlin auch in der Beschäftigung mit Fragen der Religion, insbesondere der Of16

Vgl. Henrich, Der Grund im Bewusstsein, Jamme, „Ein ungelehrtes Buch“, Violetta Waibel, Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schiller und Fichte in Jena, in: Schrader (Hg.), Fichte und die Romantik, 43–69. 17 Brief 84, 10. Juli 1794, MA II, 541.

1.2 Standpunkt

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fenbarung, von der kantischen Kritik geprägt ist. Allerdings wird Hölderlin, sich darin von Kant unterscheidend, Religion stärker von einem ästhetischen Blickwinkel her betrachten als ausgehend von den Idealen der reinen und den Postulaten der praktischen Vernunft. Dies zeigt sich deutlich in einem Brief, den Hölderlin am 24. Februar 1796 an den Philosophen und Freund Immanuel Niethammer adressiert. Dort entwirft Hölderlin in aller Kürze ein Programm für künftig zu schreibende philosophische Briefe, die er in die Tradition von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen stellt: In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, theoretisch, in intellektualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe „Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nennen. Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen.18

Wie bei Kant darf Offenbarung nicht in einen Gegensatz zur Vernunft treten.19 Allerdings kündigt Hölderlin, für den Kants Kritik der Urteilskraft von überragender Bedeutung war, an, die Frage der Religion, und nicht zuletzt die der Offenbarung, von einem ästhetischen Standpunkt aus betrachten zu wollen. Erste Ansätze dazu finden sich meines Erachtens bereits in den Tübinger Hymnen, besonders im Hymnus an die Göttin der Harmonie. Philosophie, Poesie und Religion dürfen dabei weder als antagonistisch betrachtet werden, noch unbezogen nebeneinander stehen bleiben. Hölderlin hat diesen Gedanken in obigem Brief nicht weiter ausgeführt. Wichtig für den Zusammenhang dieser Arbeit ist jedoch, dass für ihn ein Weg von der Philosophie zu Religion und Poesie führt, was zur Annahme berechtigt, dass in den Gedichten Hölderlins philosophische Diskurse und religiöse Fragen nachhallen. 6) Die Überlegungen hinsichtlich des Kontextes der Gedichte leiten weiter zur Frage, welchen Zusammenhang sie selbst im Rahmen dieser Arbeit auszubilden vermögen, was auch die Frage ihrer Auswahl in den Blick rückt. Im Rahmen zweier 18

Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 61 vgl. StA 6.2, 783–787. Zu Immanuel Niethammer vgl. Valérie Lawitschka, Freundschaften, in: Handbuch, 37–44, hier: 37. 19 „Wenn also gleich eine Schrift als göttliche Offenbarung angenommen worden, so wird doch das oberste Kriterium derselben als einer solchen sein: ‚Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nützlich zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung u. s. w.‘; und da das letztere, nämlich die moralische Besserung des Menschen, den eigentlichen Zweck aller Vernunftreligion ausmacht, so wird diese auch das oberste Princip aller Schriftauslegung enthalten. Diese Religion ist ‚der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leitet‘. Dieser aber ist derjenige, der, indem er uns belehrt, auch zugleich mit Grundsätzen zu Handlungen belebt, und er bezieht alles, was die Schrift für den historischen Glauben noch enthalten mag, gänzlich auf die Regeln und Triebfedern des reinen moralischen Glaubens, der allein in jedem Kirchenglauben dasjenige ausmacht, was darin eigentliche Religion ist. Alles Forschen und Auslegen der Schrift muß von dem Princip ausgehen, diesen Geist darin zu suchen, und ‚man kann das ewige Leben darin nur finden, sofern sie von diesem Princip zeuget‘“ (Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders., Werkausgabe VIII, 77 B 16 A15).

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Lektüreseminare zu Hölderlins Dichtung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien in den Jahren 2012 und 2013 bildete sich für mich eine gewisse Linie heraus, die durch das Werk Hölderlins zu führen vermag. Seitdem bin ich immer wieder auf dieselben Gedichte und ihren Zusammenhang zurückgekommen. Ich kann nicht angeben, ob es der wiederholte Durchgang durch diese Texte war, der mich zum Thema Abschied und Offenbarung geführt hat, oder ob es das Interesse für diese Thematik war, das mich hat entdecken lassen, dass jene Gedichte einen geeigneten Leitfaden für deren Behandlung bilden können. Vermutlich ist diese Frage unentscheidbar, denn man stößt hier auf einen Raum – in einem späteren Kapitel wird von Sphäre gesprochen –, in welchem man sich bewegt, für den sich aber kein Ausgangspunkt, kein erstes auslösendes Moment angeben lässt. Unabhängig davon gilt es die Frage zu stellen, was es bedeutet, die entsprechenden Gedichte in diesem Zusammenhang zu lesen. Interpretiert man mehrere Gedichte infolge und stellt sie dadurch in einen Zusammenhang, gleitet der Blick von einem Text zum nächsten und wieder zurück. Später interpretierte Texte werden von dem geprägt, was die Deutung der vorangehenden Texte zum Ausdruck gebracht hat. Das Verständnis, das sich bei fortschreitender Interpretation der Texte einstellt, leitet wiederum zu einer Revision der zuvor gedeuteten Texte an. Ein Netz aus Verweisungen beginnt sich zu entfalten, ein Diskursraum entsteht, in welchem einzelne Wendungen, einzelne Verse und einzelne Gedichte in einem anderen Licht erscheinen können, als es ihnen durch eine isolierte Interpretation zukäme. Dieser Diskursraum stellt einen allgemeinen Horizont dar, in welchem sich Bedeutungen sedimentieren können, welcher aber nicht als ein gegebener den Gedichten vorausliegt. Er lässt sich nicht aus einem ihm vorgeordneten Begriff deduzieren und stellt keine geschlossene Totalität dar. Die Interpretation kann ihn wieder und wieder durchlaufen auf Bahnen, die durch ihn zwar in gewissem Maße strukturiert sind, wodurch er aber gleichwohl selbst verändert wird. Diese Veränderungen stehen in Kontinuität zu seiner früheren Gestalt, folgen aber keiner vorgeordneten Regel. Jede Form systematischer Zusammenhänge, die sich darin einstellt, muss offen bleiben für Neukonfigurationen. Ein solcher Blick ist Hölderlins Werk nicht äußerlich, wie Karlheinz Stierle sehr schön zusammenfasst: Je rätselhafter Hölderlins Dichtung wird, desto mehr steht sie in inneren Verweisungen zu früherem [. . . ]. Der Leser Hölderlins muß bereit sein zur Erfahrung der Dynamik von Hölderlins Bewegung von Text zu Text, von Fassung zu Fassung. Die unendliche dichterische Bewegung, die nie in der Abgeschlossenheit der Form zum Stillstand kommt, sondern zu immer neuen Figuren sich löst und verbindet, ist Hölderlins Weise des dichterischen Wohnens.20

Immer wieder hat der Dichter selbst einzelne Texte in Konvoluten zusammengefasst, sie im Kontext des Konvoluts aber weiter bearbeitet. Ihnen eignet dadurch zwar eine fragile und fluide Gestalt, sie wollen aber dennoch aus einem Zusam20

Karlheinz Stierle, Dichtung und Auftrag. Hölderlins ‚Patmos‘-Hymne, in: HJb 1980/81, 47–68, hier: 68.

1.2 Standpunkt

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menhang heraus interpretiert werden. Der Prozess der Kompilation beginnt mit dem Marbacher Quartheft schon vor dem Eintritt ins Tübinger Stift, wo Hölderlin gemeinsam mit Hegel und Schelling studierte, zeigt sich auch in der Anlage der Tübinger Hymnen und geht u. a. über das Stuttgarter Foliobuch bis zum Homburger Folioheft. Letztgenanntes stellt das wohl am schwierigsten fassbare Konvolut dar.21 Es handelt sich um eine Zusammenstellung aus schon zuvor bestehenden Gedichten und neuen fragmentarischen Textstücken (Segmenten), deren Grad der Ausarbeitung stark differiert. Viele der Texte werden wiederholt überarbeitet, meist jedoch ohne eine Überarbeitungsschicht gegenüber den anderen als die gültige auszuzeichnen. Beim Lesen wird man gezwungen, zwischen unterschiedlichen Varianten zu entscheiden oder aber Bedeutungen in Schwebe zu halten. Segmente sind ineinandergeschoben und lassen sich vielfach nicht klar voneinander trennen. Anfang und Schluss eines Textstückes entziehen sich oftmals der genauen Lokalisierung. Die enigmatische Gestalt des Konvoluts legt eine immer neue Lektüre nahe, welche sich einen Weg durch den Text bahnen und immer wieder neue, kontingente Zusammenhänge suchen und erstellen muss. Dabei lassen sich Bezüge, Verweise, Tendenzen und Formen der Ordnung entdecken. Einerseits fallen die Textfragmente nicht ins Unbezogene auseinander, weil sie bewusst in einem Konvolut angeordnet wurden, andererseits kann der Text keine geschlossene Totalität mehr repräsentieren. Er bleibt fragil, an der schmalen Grenze, welche die Erschließung neuer Sinndimensionen und das Zerbrechen von Bedeutungsgebung trennt und zusammenhält. Am Homburger Folioheft werden in verdichteter Weise Aspekte deutlich, die für Hölderlins Werk insgesamt gelten. Deshalb muss sich die Annäherung an Hölderlins Dichtung zwischen den beiden angedeuteten Polen halten: Sie verlangt auf der einen Seite nach einer intertextuellen Lektüre und nach Entscheidungen im Dickicht der Varianten, wodurch sich ein allgemeiner Raum der Bedeutungsgebung aufbaut. Auf der anderen Seite verlangt ihre fragmentarische Gestalt nach einer Widerrufung und Rücknahme sich verfestigender Strukturen, um sie für einen Prozess der Neuinterpretation offen zu halten. Dies zu betonen ist insofern wichtig, als in der Beschäftigung mit dem fragmentarischen Werk Hölderlins dessen heterogenes Moment ständig in Gefahr ist, in den Tendenzen der Systematisierung zu verschwinden. Ob der in dieser Arbeit entlang bestimmter Gedichte Hölderlins begangene Weg einen sinnvollen Duktus ergibt, welcher beide Pole in einem Äquilibrium hält, kann sich erst in seinem Mitvollzug erweisen. Vorab möchte ich jedoch darüber Auskunft geben, an welchen Orten und in welcher Hinsicht ich in Hölderlins Werk Formen der Kontinuität sehe (oder vielleicht müsste man sagen: erstelle) und in welcher Weise ich eine gewisse Form der Systematisierung vornehme. Dies darzulegen halte ich – gerade um der Achtung des Unbezogenen und Heterogenen willen – für wichtig. Eine erste Form der Konti21

Das Homburger Folioheft besteht aus 22 in der Mitte gefalteten und ineinander gelegten Foliobögen sowie einem zusätzlichen Bogen. Die Bögen sind Großteils beidseitig dicht beschrieben. Hölderlin hat nach 1800 mehrere Jahre an dem Konvolut gearbeitet (vgl. FHA, Homburger Folioheft. Faksimile Edition).

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nuität besteht in der Verwendung gewisser Termini (bzw. Motive), die im Werk Hölderlins immer wieder auftreten. Zwar muss man darauf achten, wie der entsprechende Begriff in einem Gedicht jeweils eingeführt und vorbereitet wird, er kann jedoch, wenn er wiederholt auftritt, nicht so gelesen werden, als wäre man ihm in der Dichtung Hölderlins noch nie begegnet. Für diese Arbeit wichtige Begriffe sind u. a. Stille, Äther und Strahl sowie die Adverbien noch und fast. Eine weitere Form der Kontinuität sehe ich in der Entwicklung des Gedankens. Auf die gedankliche Entwicklung und Differenzierung, die in einem Gedicht erreicht ist, kann Hölderlin zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückgreifen, auch wenn sich nicht alle späteren Gedichte auf derselben gedanklichen Höhe halten. Aus diesem Grund werden im Folgenden die Gedichte Hölderlins möglichst in der zeitlichen Reihenfolge ihres Entstehens aufgegriffen, ohne dabei freilich dem Phantasma zu erliegen, eine geistige Entwicklung folge unmittelbar einer Chronologie. Die Kontinuität in der Entwicklung des Gedankens, die ich in Hölderlins Werk sehe, stellt keine bruchlose Fortschrittsgeschichte dar, ist doch die gedankliche Entwicklung meist auch mit einer Erfahrung des Verlustes verbunden, auf den sie antwortet, womit wir beim dritten Moment der Kontinuität angelangt sind. Wie bereits erwähnt, zeigt sich in Hölderlins Gedichten ein Zerbrechen sämtlicher das Dasein fundierender leitender Ideen. Was einmal fraglich geworden ist, bleibt es in Hölderlins Dichtung auch künftig und kann nicht mehr unmittelbar als Fundament vorausgesetzt werden. Wenn z. B. der Begriff der Natur als alles umfassende und lebensspendende Sphäre zerbrochen ist, kann er auch künftig nicht mehr als solche fungieren. Er kann jedoch weiterhin als Moment in einem Geschehen auftreten und hat als solcher seine Berechtigung. Er bleibt – im dreifachen hegelschen Sinn des Wortes – aufgehoben: Er wird außer Kraft gesetzt, bewahrt und auf eine andere Stufe gehoben, d. h. verwandelt. Aufgrund dieser Erfahrungen des Verlustes bleibt jede Form der Kontinuität, welche in Hölderlins Werk hineingelesen wird, fragil und darf nicht mit einem sicheren Fundament, auf dem die Dichtung aufbauen könnte, verwechselt werden. Sie stellt keine Metalogik dar und darf in der Interpretation lediglich dazu dienen, von ihr ausgehend und von ihr sich abstoßend in jedem Gedicht je neu die je spezifischen Formen des Aufbaus und der Auflösung von Sinn und Bedeutung zu erfragen. Auf diese Weise hoffe ich, jener Gefahr zu entgehen, die Michael Franz mitunter bei den Editoren von Hölderlins Werk gegeben sieht, nämlich dass sie in makrokosmischen Versuchen „immer größere, monumentalere Werkzusammenhänge stiften, [. . . ] aus denen dann die Einzelexegese zwangsläufig folgen müsse“22 .  Was hier nur theoretisch als Standpunkt, von dem ausgehend ich die Beschäftigung mit Hölderlins Werk aufnehme, dargelegt werden konnte, muss sich im Fortgang der Arbeit in den Abschnitten zwei bis fünf konkret an den Gedichten erweisen. In den folgenden Kapiteln der Einleitung wird zunächst ein knapper inhaltlicher Entwurf formuliert (Abschn. 1.3). Danach gebe ich Auskunft über die wichtigsten 22

Franz, Rezension, 78–86, hier: 79.

1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins?

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Quellen, die meine Hölderlin-Lektüre beeinflusst haben (Abschn. 1.4), und skizziere als Abschluss der Einleitung den Gang der weiteren Überlegungen (Abschn. 1.5).

1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins? Die Überlegungen dieses Kapitels nehmen ihren Ausgang von einem Vortrag Martin Brechts aus dem Jahr 1972, der den Titel Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793 trägt und die ineinander verwobenen historischen, geistesgeschichtlichen, philosophischen und theologischen Aspekte der Studienzeit Hölderlins, Hegels und Schellings im Tübinger Stift nachzeichnet.23 Bemerkenswert ist der Vortrag nicht allein aufgrund seiner konzisen und informativen Darstellung des Umfeldes, in welchem die drei Freunde ihre Studien absolvierten, sondern auch aufgrund der von ihm vertretenen Ansicht, Theologie müsse in das Gespräch einer interdisziplinären Annäherung an das Werk Hölderlins eingebunden sein. Ausgehend von einigen Passagen des Artikels wende ich mich zunächst der Frage nach der Eigenart einer theologischen Annäherung an das Werk Hölderlins zu (1) und gehe sodann auf die Theologie als eine mögliche Gesprächspartnerin für eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Werk Hölderlins ein (2). In einem dritten Punkt beziehe ich mich auf die erstaunliche Tatsache, dass der Historiker Brecht, der angibt, neue Erkenntnisse über Hölderlins Aufenthalt im Tübinger Stift gerade über die genaue Aufarbeitung der Rechnungen aus dem Stiftsarchiv erhalten zu haben24 , die Fortsetzung der Überlegungen im Rahmen eines interdisziplinäres Gespräches anhand der Dichtung Hölderlins vorschlägt (3). Abschließend wird – gleichsam als ein erstes Beispiel für den Einstieg theologischer Reflexion in die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Hölderlins Werk – eine unerwartete Bezugnahme Hölderlins auf ein biblisches Wort im Kontext der revolutionären Stimmung der 1790er Jahre betrachtet (4).

Die Gottes-Frage als offene Frage im Werk Hölderlins 1) Martin Brecht zufolge sei der „Ausgangspunkt der geistigen Leistung“25 von Hegel, Schelling und Hölderlin im Tübinger Stift zu suchen. Die Komplexität einer Annäherung an ihre Studienzeit beschreibt er folgendermaßen: „Religion, Philosophie, Poesie, Disziplin und Politik, das alles hängt miteinander zusammen, und eines beeinflußt das andere.“26 So verwundert es nicht, dass der Historiker eine Annäherung an Hölderlins Werk aus verschiedenen Disziplinen für notwendig hält:

23

Vgl. Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48. Vgl. Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48, hier: 20. 25 Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48, hier: 21. 26 Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48, hier: 21. 24

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Hölderlin erweist sich dabei nicht nur als ein Thema der Germanisten und Philosophen, sondern in eminentem Sinne auch der Theologen, denen heute [Brecht schreibt Anfang der 1970er Jahre] das Thema von Emanzipation und Revolution neu gestellt ist27 .

Theologie wird aufgefordert, die Beschäftigung mit Hölderlins Werk aufzunehmen, das „in eminentem Sinne“ auch für sie ein Thema sei. Was aber ist in eminentem Sinn Thema der Theologie? Grundsätzlich muss das, was in einem eminenten Sinne und nicht nur im Modus des „auch“ Gegenstand der Theologie ist, in irgendeiner Weise mit der Gottes-Frage in Verbindung stehen.28 Diese hat für Johann Kreuzer einen systematischen Ort im Werk Hölderlins; er zeigt, dass es „nichts weniger als zufällig – und auch nicht nur Folge von Hölderlins Herkommen aus dem Pietismus [. . . ] – ist, dass die Auseinandersetzung mit der Rede von Gott eine Konstante in Hölderlins Werk bildet“29 . Mit „Konstante“ meint Kreuzer nicht, dass Gott für Hölderlins Dichtung das unveränderliche An-Sich sei, über welches sie sich immer wieder äußere. Gott oder das Göttliche ist bei Hölderlin „keine noetische Instanz außerhalb oder jenseits der Sprache – wenn die Rede von der Sprache den logischen Ort und die Wirklichkeit jenes Verstehens meint, in dem Welt für uns überhaupt erst entsteht.“30 Gott ist demnach nicht Gegenstand, und Sprache ist nicht bloßes Medium der Mitteilung über ihn, vielmehr sind beide in den Prozess der Sprachwerdung eingebunden, über den Kreuzer sagt: „Gott ist unsagbar bzw. das Unsagbare. Aber das ist keine Grenze der Sprache, sondern das Motiv und die Motivation der Rede.“31 Dass Gott unsagbar und jenseits von Fixierungen seines Namens sei, bezeichnet nicht das Ende der Sprache und kann nicht dazu dienen, ihre Grenze bestimmen zu wollen, sondern wird zum auslösenden Moment, dass sie sich je neu erhebt, Bedeutungen aufbaut und wieder verabschiedet. Mit dem Werden von Sprache, dem Sich-Ausbilden von Bedeutung und der Verabschiedung ihrer Fixierung ist genau das angesprochen, was sich als Kennzeichen von Dichtung erweist. Gott verweist auf den dynamischen Charakter der Sprache, der sich besonders in der Dichtung eröffnet, und kann selbst nicht außerhalb der Sprache (theologisch gesprochen: jenseits seines Sich-Offenbarens) gedacht werden. 2) Wenn der unsagbare Gott als Motiv und Motivation einer sich dynamisch im Gedicht eröffnenden Sprache gedacht wird, ist die Frage nach Gott (im Werk Hölderlins) immer neu an die Interpretation von Gedichten gewiesen. Sie kann auf diese nicht verzichten, etwa um philosophisch bereits gesicherte „Ergebnisse“ einer vorangegangenen Lektüre zu präsentieren, die bedeutungslos wird, sobald sie in begriffliche Sprache überführt ist. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass fixierte Bestim27

Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48, hier: 21. Zur Frage nach dem revolutionär Neuen bei Hölderlin vgl. Hölderlins Brief an Ebel vom 10. Jänner 1797. 28 Die gilt zumindest von der biblischen Tradition, in welcher auch Hölderlin steht. 29 Johann Kreuzer, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“ Hölderlins Rede von Gott, in: Coincidentia (Bd. 7.2), 239–272, hier: 244 f. 30 Johann Kreuzer, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“ Hölderlins Rede von Gott, in: Coincidentia (Bd. 7.2), 239–272, hier: 248. 31 Johann Kreuzer, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“ Hölderlins Rede von Gott, in: Coincidentia (Bd. 7.2), 239–272, hier: 248.

1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins?

17

mungen des Gottesgedankens, welche in Hölderlins Werk wahlweise „Atheismus“, „Pantheismus“, eine „Renaissance der griechischen Götter“ oder eine „Rückkehr zum christlichen Gott“ sehen, an der Sache vorbeigehen müssen. Sie beruhigen eine im Werk Hölderlins entlang der Gottesfrage aufbrechende Dynamik, bevor sie überhaupt wahrgenommen werden kann. Dies hat Wolfgang Binder hervorragend zum Ausdruck gebracht: „Mensch und Gott sind [in Hölderlins Werk] nicht feste, bloß mit wechselndem Anteil in den Bezug eingesetzte Größen, sondern offene Fragen, die sich in jeder Veränderung des Bezugs neu stellen“32 . In jedem Gedicht kann – und vielleicht darf man sogar sagen: muss – die Konstellation des Verhältnisses von Gott und Mensch, die nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, neu erfragt werden. Wenig zielführend scheint mir auch der Versuch, angesichts der Rede von Gott, Göttern, Halbgöttern, den Himmlischen oder dem Höchsten in Hölderlins Dichtung eine strenge Trennung von griechischen und christlichen Vorstellungen vorzunehmen. Dies mag an einzelnen Stellen (etwa in Der Einzige) sinnvoll und wichtig sein, nicht aber als Prinzip der Lektüre Hölderlins überhaupt. Motive beider Traditionen werden vielmehr einander angenähert und sprachlich zu neuen Bildern geformt, wie mittels eines Beispiels aus der Elegie Brod und Wein verdeutlicht werden kann: Mit allen Himmlischen kommt als Fakelschwinger des Höchsten Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab. (Brod und Wein, VV 155 f.)

155

Zueinander in Verbindung gesetzt werden in diesen Versen ein Fackelschwinger und eine Gestalt als Sohn, der mit Syrien in Zusammenhang steht. Die erste Gestalt kann mit Dionysos, die zweite mit Christus in Verbindung gebracht werden. Gesteht man zu, dass Fackelschwinger und Sohn auf den griechischen Gott und den christlichen Gottessohn durchsichtig werden, zeigt sich ein interessanter Umstand: Der Umbruch des Verses erfolgt nicht zwischen dem griechischen Bild des Fackelschwingers und dem christlichen des Sohnes des Höchsten. Das Enjambement trennt vielmehr „des Höchsten“ und „Sohn“. So teilt der Riss nicht griechische und christliche Welt, sondern ragt in die christliche Bestimmung des göttlichen Sohnes selbst hinein: „des Höchsten || Sohn“. Hölderlin entflatet mithin in der konkreten Gestaltung des Übergangs von zwei Versen eine Bestimmung von höchster theologischer Tragweite: den Gedanken eines Bruches, der den göttlichen Logos selbst betrifft. Das Attribut im Genitiv („des Höchsten“) kann darüber hinaus sowohl dem Fackelschwinger als auch dem Sohn zugeordnet werden. Vers 155 baut als in sich abgeschlossene Einheit Bedeutung auf – „Mit allen Himmlischen kommt als Fakelschwinger des Höchsten“ – und lässt auf ein Subjekt (Dionysos?) warten, von dem man noch nicht wissen kann, wer es sei. In dieser Weise gelesen, könnte der Satz vollständig lauten: „Mit allen Himmlischen kommt als Fakelschwinger des Höchsten || [der] Sohn“. Damit wäre Dionysos als der Fackelschwinger unmittelbar auf 32

Wolfgang Binder, Hölderlin: Theologie und Kunstwerk, in: HJb 1971/72, 1–29; hier: 4.

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1

Einleitung

Christus, den Sohn, den Syrer, hingeordnet, was einem gängigen christlichen Umgang mit griechischem Mythos entspräche. Anders zeigt sich das Verhältnis, sobald sich der Blick nach dem Ende von Vers 155 dem Beginn des folgenden Verses zuwendet. Das Subjekt, weil ohne Artikel ausgesprochen, zieht den Genitiv an sich: „kommt als Fakelschwinger || des Höchsten Sohn“. In dieser Leseweise geht es stärker um die Bestimmung Christi als des Sohnes des Höchsten. Im Vorgang der Lektüre kann die Bestimmung des Höchsten ihre Zugehörigkeit wechseln: kommt als Fakelschwinger

des Höchsten ! Sohn

Möglich wird der Austausch oder Wechsel der Zugehörigkeit des Höchsten durch seine Erniedrigung in die Gestalt eines unselbstständigen Genitivs. Diese Entäußerung „unter die Schatten herab“, die keine Substanz für sich zurückhält, ist selbst ein christologisches Motiv.33 Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer übernimmt mit Bezug auf Lk 12,49 – „Ein Feuer bin ich gekommen, anzuzünden auf der Erde.“ – die von Hölderlin angestoßene Verbindung von griechischen und biblischen Motiven, indem er den Genitiv im Sinne der ersten Variante auf den Fackelschwinger bezieht: Weil Jesus rein in dem Lichte einer übergöttlichen Milde Gottes stand, ein „Fackelschwinger des Höchsten“, von allen Menschen gelöst und darum alles Menschliche erlösend, ward dem Urchristentum als Schicksal und Aufgabe, in seiner Erdennähe und -fremde ihm „nachzufolgen“.34

Lohmeyer interpretiert durch den Bezug auf Lk 12,49 das Bild des herabkommenden Feuers (der Fackelschwinger kommt herab), das man wohl eher in die Tradition griechischen Denkens stellte (die Blitze des Zeus), aus dem biblischen Kontext, was wiederum die Problematik eindeutiger Zuordnungen zu den entsprechenden Traditionen zeigt. Mit seiner Betonung des Feuers (Lk 12,49, Christus als Fackelschwinger) lenkt er den Blick auch auf die für Hölderlins Dichtung wichtige Frage, ob es den schattenhaften Menschen überhaupt gelingen könne, die Herabkunft des Göttlichen (im Feuer) anzunehmen. 3) So sehr die Frage nach Gott in Hölderlins Dichtung offen gehalten werden muss, so sehr auch die Frage nach den Adressaten der göttlichen Botschaft wie auch jene des dichterischen Wortes. Immer wieder geht es in den Gedichten Hölderlins um Prozesse der Subjektivierung, welche zeigen, wie sich das in einem Gedicht auftretende Ich im Fortgang der Dichtung – nicht zuletzt im Gegenüber zum Göttlichen – entwickelt. Um diese Prozesse im Vorgang der Interpretation nicht durch die Wahl der Begriffe frühzeitig festzulegen, wird im Rahmen der folgenden Auslegung in der allgemeinsten Weise von einem Ich der Dichtung, von einem lyrischen, dichterischen oder poetischen Ich oder aber vom Subjekt der Dichtung gesprochen werden. 33

Vgl. Phil 2,6 f., „der in der Gestalt Gottes war, hielt das Sein-gleich-Gott nicht für einen Raub, sondern entäußerte sich selbst, die Gestalt eines Knechtes annehmend, in die Gleichheit der Menschen, gefunden im Schema wie ein Mensch“. 34 Lohmeyer, Soziale Fragen im Urchristentum, 66.

1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins?

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Wenn sich Dichtung und Gebet sichtlich durchdringen, ist in den Interpretationen auch vom Ich als einem Beter die Rede; wenn seine Bewegung in den Vordergrund tritt, von einem Wanderer; wenn schließlich die Frage nach der Dichtung in der Dichtung selbst gestellt wird, kann das Ich als Dichter bezeichnet werden. Als ein Beispiel dafür, wie sich das lyrische Ich als Dichter konstituiert, sei erneut eine Passage aus Brod und Wein herangezogen, die in fundamentalter Weise nach der Bedeutung des Dichters fragt: [. . . ] Indessen dünket mir öfters Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? (Brod und Wein, 119–122)

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Gegenüber jeglicher Festlegung die Frage nach Gott und Mensch in ihrer Verschränkung je neu zu stellen, meint eine Durchdringung von Theologie und Anthropologie, die im Gedanken der Inkarnation wurzelt. Als Sphäre, diese Verschränkung je neu zu erfragen, muss die Sprache, konkret die Dichtung, fungieren. Theologisch gesprochen handelt es sich um die Frage der Offenbarung in ihrer allgemeinsten Weise. Im Werk Hölderlins wird sich zunehmend deutlicher zeigen, dass die zweiwertigen Relationen Gott-Mensch, Mensch-Sprache, Sprache-Gott auf das Dreieck Gott-Mensch-Sprache hin aufgebrochen werden müssen. Eine theologische Annäherung an Hölderlins Werk muss herausarbeiten, wie sehr dieses Dreieck das Werk des Dichters zunehmend prägt – nicht allein als ein Thema neben anderen, sondern als dessen inneres Movens.

Theologie als Gesprächspartnerin Martin Brecht sieht in den 1970er Jahren einen günstigen Zeitpunkt gekommen, die Beschäftigung mit Hölderlin von Seiten der Theologie aufzunehmen. Grund dafür sind wohl gewisse Entsprechungen der 1790er und 1970er Jahre: Das Tübinger Stift war von einer „Theologie in Verteidigungsstellung“35 geprägt, welcher sich Hölderlin und seine Freunde in einem hohen Freiheits- und Aufklärungspathos zunehmend entgegenstellten. Diese Verteidigungsstellung gegenüber der Moderne währte in den christlichen Kirchen (insbesondere der katholischen Kirche) bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein, konnte jedoch in den ebenfalls vom Streben nach Autonomie, Freiheit und Fortschritt geprägten 1960er und 70er Jahren teilweise überwunden werden36 , was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass Emanzipation und 35

Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48, hier: 21. Zur Theologie im Tübinger Stift vgl. 40–46. 36 Man denke nur an die Diskussionen, die auf dem 2. Vatikanischen Konzil (1962–65) angestoßen wurden, die Vertreterinnen und Vertreter der Neuen politischen Theologie (Metz, Moltmann, Sölle . . . ), die Gespräche zwischen Sozialismus/Marxismus und Theologie (Paulusgesellschaft), die Theologien der Befreiung.

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1

Einleitung

Revolution aus theologischer Sicht einer differenzierten Neubewertung unterzogen wurden. Dies ermögliche Brecht zufolge auch eine vertiefte theologische Auseinandersetzung mit jener Gemengelage, aus der das Denken Hölderlins hervorgegangen ist. Gegen Ende seines Aufsatzes weist Brecht darauf hin, dass sich Hölderlins Liebe zur Menschheit und seine Hoffnung auf ein freies kommendes Jahrhundert nicht von einer religiösen Sprache trennen ließen: „Hier ist sehr Großes gewollt mit der Menschheitsliebe und Menschheitshoffnung, und das alles entbehrt nicht der christlichen Substanz. Hölderlin konnte seine Hoffnung nur mit christlichen Sprachmitteln als Reich Gottes und unsichtbare Kirche denken“37 . Davon ausgehend müsse eine interdisziplinäre Beschäftigung mit Hölderlins Werk beginnen: Ob das, was Hölderlin in hoher Idealität am Ende seines Studiums wollte, realisierbar war, ob die Grundlagen tragfähig waren, darüber wäre nun zwischen den Philosophen und den Theologen das Gespräch anhand von Hölderlins Dichtung fortzusetzen. Das Thema ist so aktuell wie eh und je.38

Dreierlei scheint dabei bedenkenswert: 1) Die Beschäftigung mit dem Werk Hölderlins müsse in einem Gespräch verschiedener Disziplinen erfolgen, wobei Philosophie und Theologie explizit genannt werden. 2) Das Gespräch müsse sich mit konkretem Bezug auf Hölderlins Dichtung vollziehen. 3) Von der Thematik wird gesagt, sie sei – der Aufsatz ist Anfang der 1970er Jahre geschrieben worden – von hoher Aktualität. Seit Brechts Aufsatz ist die literaturwissenschaftliche und philosophische Erschließung von Hölderlins Werk weit vorangeschritten. Die Schriften Hölderlins sind in mehreren Ausgaben ediert und kommentiert worden. Mit der Frankfurter Ausgabe ist ein Bewusstsein für den fragmentarischen und unabgeschlossenen Charakter der Dichtung Hölderlins entstanden, die darauf aufbauende Bremer Ausgabe hat das Werk in seiner chronologischen Entwicklung zur Darstellung gebracht. Die Münchner Ausgabe ermöglicht in handlicher Weise (leicht transportierbar) eine ausgezeichnete Textbasis. Die Ausgabe im Deutschen Klassiker-Verlag bietet einen durchgängigen Kommentar, der – wie schon zuvor der Kommentar zur Stuttgarter Ausgabe – die Bezüge Hölderlins auf antike und biblische Tradition aufschlüsselt. Ebenso liefert auch Luigi Reitani in seiner italienischsprachigen Übersetzung einen hervorragenden Kommentar mit zahlreichen Literaturangaben. Bruno Liebrucks hat einen großangelegten philosophischen Kommentar zum Werk Hölderlins verfasst.39 Die Arbeiten von Dieter Henrich, Christoph Jamme und Violetta Waibel haben minutiös die Entstehung von Hölderlins Denken in den 1790er Jahren nachgezeichnet.40 Der Übergang, der in Hölderlins Dichtung um 1800 statthat, wurde von Johann Kreuzer anhand von Hölderlins theoretischen Texten in neuer Weise 37

Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48, hier: 45. Martin Brecht, Hölderlin und das Tübinger Stift 1788–1793, in: HJb 1973/74, 20–48, hier: 45. 39 Vgl. Liebrucks, „Und“. 40 Vgl. u. a. Henrich, Der Grund im Bewusstsein, Jamme, „Ein ungelehrtes Buch“, Violetta Waibel, Wechselbestimmung. Zum Verhältnis von Hölderlin, Schiller und Fichte in Jena, in: Schrader (Hg.), Fichte und die Romantik, 43–69. 38

1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins?

21

erschlossen.41 Das Hölderlin-Handbuch bietet reichhaltiges Material zu Hölderlin aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Internationalen Hölderlin-Gesellschaft ist es gelungen, mit ihren alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen (und dem sie begleitenden Hölderlin-Jahrbuch) einen Ort gemeinsamer Beschäftigung mit dem Werk des Dichters zu etablieren, der über alle ideologischen Gräben hinweg Akzeptanz findet. Allein die Theologie fehlt in dieser interdisziplinären Annäherungsweise bis heute weitgehend. Die erste umfangreiche explizit theologische Auseinandersetzung mit Hölderlin nach seiner Wiederentdeckung um 1914 erfolgte 1937 in Hans Urs von Balthasars Apokalypse der deutschen Seele. In seinem Monumentalwerk kommt Hölderlin42 eine wichtige Position zu, verkörpert er doch in einer Linie, die von Novalis über Schiller, Goethe und Jean Paul zu Hegel führt, das neue „Optimum zwischen Ideal und (voll entfaltetem) Leben“, womit Hölderlin „notwendig den Ort der entscheidenden Auseinandersetzung promethisch-dionysischer mit christlicher Apokalyptik“43 bezeichnet. Indem er „zögernd zwischen diesen beiden Möglichkeiten“44 steht, wird er zur Chiffre eben dieser Auseinandersetzung, die Balthasar als den Interpretationsschlüssel der deutschen Geistesgeschichte ansieht. Aus all diesem Pathos und der Überfrachtung der Gestalt Hölderlins – etwa: Hölderlin werde „zur vertieften Apokalypse der Seele“45 – fällt ein Satz heraus, der gleichwohl der Angelpunkt für Balthasars Hölderlin-Interpretation zu sein scheint. Er spricht von einer „Ehrfurcht und Verhaltenheit“, die er wie folgt charakterisiert: „Das Ineinander einer neuen Glut und Sehnsucht in neuem Tatendrang zum letzten Seinsgeheimnis hin, und der lebendigeren Erfahrung der Zerbrechlichkeit, Zerbrochenheit und Widerständlichkeit der Welt, durch die allein der Weg hinführt.“46 Die Verkörperung der Mitte zwischen den beiden Weltverständnissen ist zögernd und verhalten mit einer Sehnsucht nach dem Geheimnis des Seins und mit einer Erfahrung von dessen Verletzlichkeit verbunden. Der Hölderlin gewidmete Abschnitt in der Apokalypse der deutschen Seele bezieht sich zunächst auf Gedichte Hölderlins, sodann auf den Hyperion und hat sein Herzstück in einer Gegenüberstellung des Empedokles-Dramas mit biblischen Schriften, vor allem dem Johannes-Evangelium: „Hölderlins Spätwerk [gemeint ist wohl vor allem der Empedokles] wächst so aus einer Atmosphäre heraus, die eine höchst bezeichnende Übersetzung der ganzen johanneisch-paulinischen, neutestamentlichen Denk- und Fühlwelt ins Dionysische bezeichnet.“47 Später, besonders im Gedicht Patmos, kehre der Dichter jedoch zum „Hüten des Erbes des [biblischen] Wortes“ zurück und werde „seiner apokalyptischen Sendung vollends inne“48 . Festzuhalten für den Zusammenhang dieser Arbeit ist vor allem, dass Balthasar darin 41

Vgl. TS. Vgl. Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 293–346. 43 Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 294. 44 Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 296. 45 Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 294. 46 Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 294. 47 Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 323. 48 Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 343. 42

22

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Einleitung

eine Wende sieht, welche von der „pathetisch-berauschte[n] Hingabehandlung“ des Empedokles am Ätna – „Prometheus der Erlöser“ überschreibt er das Kapitel – zu einem „unscheinbaren Von-sich-weg-weisen“ führt, welches sich in einer in Patmos geschilderten „Gottesvision“49 zum Ausdruck bringt, wo es heißt: „nicht, daß ich sein sollt etwas, sondern / Zu lernen.“ (Patmos, VV 172 f.)50 Da der Großteil der Überlegungen Balthasars auf den Hyperion und den Empedokles bezogen ist, nicht aber auf die Dichtung, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht, kann auf seine Hölderlin-Interpretation nicht näher eingegangen werden. Vor einem ähnlich apokalyptischen Hintergrund zwischen hellenischem und biblischem Denken, jedoch stärker an den Gedichten orientiert, ist der von Erich Przywara 1949 verfasste Durchgang durch das Werk Hölderlins zu sehen, der den schlichten Titel Hölderlin trägt.51 Ein Exkurs am Ende des zweiten Abschnittes dieser Arbeit (Abschn. 2.5) bezieht sich darauf. Zwei Jahre nach Balthasar, im Jahr 1939, veröffentlichte Romano Guardini seine umfangreiche Studie zu Hölderlins Dichtung mit dem Titel Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit und ergänzte diese im Jahr 1946 durch den Aufsatz Form und Sinn der Landschaft in den Dichtungen Hölderlins. Er teilt seine Studie in fünf Kreise ein, von denen jeder einen bestimmten Sinnzusammenhang, eine Thematik oder ein Ensemble von Motiven in Hölderlins Werk zum Ausdruck bringt, die „immer aber das Ganze enthalten“52 . Guardinis Deutung einzelner Passagen wird im Rahmen dieser Arbeit in die Interpretation der jeweiligen Gedichte einfließen. Vereinzelt gab es auch danach noch theologische Bezüge auf Hölderlins Werk, von einer systematischen Rezeption in der Theologie kann jedoch nicht gesprochen werden. Ohne Anspruch, diese Lücke füllen zu können, möchte vorliegende Arbeit einen theologischen Beitrag zur Hölderlin-Rezeption leisten und ein Dialogangebot an andere Disziplinen sein, die sich ebenfalls mit dem Werk des Dichters beschäftigen. Sie geht davon aus, dass Hölderlins Dichtung auch für die Theologie ein wichtiger Bezugspunkt sein kann und dass umgekehrt auch die Theologie zur deren Interpretation etwas beitragen kann.

„anhand von Hölderlins Dichtung .. .“ Das von Brecht vorgeschlagene interdisziplinäre Gespräch solle sich „anhand von Hölderlins Dichtung“ vollziehen, müsse sich also an eine Interpretation seiner Gedichte halten, was auch dem Ansinnen der vorliegenden Arbeit entspricht. Ein Rückgang auf die Primärtexte ist für sie unerlässlich, zumal eine Beschäftigung mit Hölderlins Werk aus explizit theologischer Perspektive in der Sekundärliteratur bislang kaum zu finden ist. Freilich kann nicht das Gesamtwerk Hölderlins be49

Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele I, 343. Eine ähnliche Wende wird im vierten Abschnitt dieser Arbeit am Fortgang der Gedichte Hölderlins aufgezeigt. 51 Vgl. Przywara, Hölderlin. 52 Guardini, Hölderlin, 16. Die fünf Kreise lauten: „Strom und Berg“, „Der Mensch und die Geschichte“, „Die Götter und der religiöse Bezug“, „Die Natur“ und „Christus und das Christliche“. 50

1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins?

23

trachtet und muss eine Auswahl an Gedichten getroffen werden. Die sie leitenden Gründe lassen sich niemals in ihrer Totalität angeben; es bleibt zu hoffen, dass die Entscheidung für bestimmte Texte dem Leser und der Leserin im Fortgang der Arbeit einigermaßen nachvollziehbar erscheint. Vorerst mögen einige Hinweise zur Auswahl der Gedichte genügen. 1) Die ausgewählten Texte umfassen Hölderlins Werk von den frühesten Jugendgedichten über die großen nach 1800 entstandenen Gesänge bis zu den spätesten Gedichten, den sogenannten Turmgedichten. Bezüglich der Jugendgedichte möchte ich vorausschicken, dass darin bereits alle für die vorliegende Arbeit wichtigen Motive enthalten sind und sie deshalb nicht bloß als Vorbereitung auf spätere Gedichte heranzuziehen sind. Sie sind, wie auch die Turmgedichte, als integraler Bestandteil von Hölderlins Werk anzusehen. Bezüglich der Turmgedichte stimme ich Böschensteins vorsichtiger Aussage aus einem Vortrag 1965 zu, der gegen den Mainstream der Hölderlin-Interpretation sagte, dass „auch in einigen dieser spätesten Zeugnisse Denkformen der großen Hymnen wiederzufinden sind“53 . Durch den weiten Bogen von den Jugend- bis zu den Turmgedichten können einerseits Entwicklungen und kann andererseits die Stabilität bestimmter Motive sichtbar werden. 2) Eine wichtige Bedeutung kommt in den folgenden Ausführungen den Hymnen Hölderlins zu, die sich, folgt man Martin Vöhler, im Wesentlichen in zwei großen „Hymnengruppen“54 finden: den frühen Tübinger Hymnen (im Wesentlichen 1790–1793) und den sogenannten Späthymnen oder Gesängen (1800–1806). Zwei Gemeinsamkeiten der meist getrennt behandelten Gruppen benennt Vöhler, die für den Zusammenhang dieser Arbeit von hoher Relevanz sind. Zum einen spricht er von dem „vergleichsweise unscheinbare[n] Dichter-Ich, das die Hymnen trägt und zusammenhält“55 und sich von einem „‚Wir‘ der Gemeinde“56 abhebt. Zum anderen weist er auf den Charakter des Übergangs hin, der sich in beiden Hymnengruppen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, zeige: Im Zentrum der [frühen] Hymnen behandelt Hölderlin das Problem des geschichtlichen Übergangs, wobei die Zuversicht, das Getrennte lasse sich vereinen, grundsätzlich beibehalten wird. [. . . ] Während die Problematik der geschichtlichen Übergangssituation in den frühen Hymnen vom Schlussjubel verdeckt wird, legt Hölderlin sie in seinem späteren Werk offen.57

In der Sekundärliteratur ist die Bezeichnung von Hölderlins späten freirhythmischen Gesängen umstritten: Handelt es sich, nach einem Wort Hölderlins, um Va-

53

Bernhard Böschenstein, Hölderlins späteste Gedichte, in: HJb 1965/66, 35–56, hier: 36. Vöhler, Danken möcht’ ich, aber wofür, 7. 55 Vöhler, Das Hervortreten des Dichters. Zur poetischen Struktur in Hölderlins Hymnik, in HJb 2000/01, 50–68, hier: 50. 56 Vöhler, Das Hervortreten des Dichters. Zur poetischen Struktur in Hölderlins Hymnik, in HJb 2000/01, 50–68, hier: 51. 57 Vöhler, Das Hervortreten des Dichters. Zur poetischen Struktur in Hölderlins Hymnik, in HJb 2000/01, 50–68, hier: 53. 54

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Einleitung

terländische Gesänge, einfach um Gesänge oder um späte Hymnen?58 In diese Kontroverse vermag ich mich nicht einzuschalten, sehe aber meine Verwendung des Begriffes Hymne für die späten Gesänge Hölderlins durch die Ausführungen Vöhlers, nicht zuletzt zu den strukturellen Merkmalen dieser Gedichtform, als gedeckt an.59 Entscheidend für die Verwendung des Begriffes Hymne waren für mich jedoch nicht in erster Linie strukturelle Merkmale, sondern ein inhaltlicher Aspekt, der in Zusammenhang mit der Thematik der vorliegenden Arbeit steht. Kann man die Hymne als jene Gedichtform bezeichnen, welche die Ankunft eines Gottes preist, so die Elegie als jene, die über den Abschied der Götter klagt. Gerade dieser Unterschied wird jedoch im Werk Hölderlins immer fraglicher. Giorgio Agamben weist im Hinblick auf die späten Hymnen auf eine tiefe Ambivalenz hin: Tatsächlich handelt es sich bei ihnen im technischen Sinn um Hymnen, weil sie im wesentlichen Götter und [. . . ] Halbgötter zum Inhalt haben, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie nicht die Anwesenheit der Götter, sondern ihren Abschied feiern.60

Agamben sieht die Spannung, welche in Hölderlins Hymnen liegt, unterläuft aber meines Erachtens die dort ebenfalls angelegte Dialektik von Abschied und Wiederkunft des Göttlichen, indem er sie einseitig in Richtung eines Verlustes auslegt. Gerade um diese doppelte Bewegung aus Abschied und Wiederkunft nicht auseinanderfallen zu lassen und sie in ihrer Dynamik sichtbar zu machen, scheint es mir angemessen, den Begriff der Hymne zu behalten: Nicht in irgendeinem Text, sondern in jenem Preislied, welches von der Ankunft der Götter spricht, zeigen sich Abschied (im Sinne eines Verlustes zahlreicher für die Hymne typischer Elemente) und neue Formen des Sich-Nahens des Göttlichen. Hölderlin versucht im Gesang all diese Elemente zu balancieren. 3) Jene Dialektik aus Abschied und Wiederkunft des Göttlichen wird in den folgenden Überlegungen anhand des Motivs der Offenbarung herausgearbeitet. Dieses wird in Hölderlins Gedichten oftmals in Gestalt von Strahl, Zepter oder Stab figuriert, beginnend beim Jugendgedicht M. G., wo an Gott adressiert von „deiner Güte Straalen“ (M. G., V 6) die Rede ist.61 In den Tübinger Hymnen begegnet das Motiv, gerichtet an die Göttin der Harmonie: Dir entsprossen Myriaden Leben, Als die Stralen deines Angesichts, Wendest du dein Angesicht, so beben Und vergeh’n sie, und die Welt ist Nichts. (Hymnus an die Göttin der Harmonie, VV 21–24) 58 Vgl. Franz, Rezension, 78–86, hier: 80–83; Ulrich Gaier, „Heilige Begeisterung“. Vom Sinn des Hymnischen um 1800, in: HJb 2000/01, 7–49; ders., Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge, in: Handbuch, 162–174. 59 „Hölderlin gebraucht die Begriffe Gesang und Hymnus synonym“ (Vöhler, Das Hervortreten des Dichters. Zur poetischen Struktur in Hölderlins Hymnik, in HJb 2000/01, 50–68, hier: 51). 60 Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, 284. 61 Es wäre lohnend, der Bedeutung des Motivs des Strahls auch in der Kunstgeschichte nachzugehen, was jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist. Ich danke Knut Wenzel für diesen wertvollen Hinweis.

1.3 Eine theologische Annäherung an das Werk Hölderlins?

25

Als Hölderlin nach 1800 die Hymnenform mit Wie wenn am Feiertage . . . wieder aufnimmt, tritt auch das Motiv des Strahls an entscheidender Stelle wieder auf. Deutlich wird nun, dass es die Bedeutung von göttlicher Offenbarung hat: Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk’ ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen. (Wie wenn am Feiertage . . . , VV 56–60)

60

Steht das Motiv an dieser Stelle für eine höchste Präsenz des Göttlichen, taucht es in Am Quell der Donau in gemilderter Form auf, wobei die Bedeutung dieser Schwächung erst aus der Interpretation der entsprechenden Texte zu erfragen ist: Wenn aber Herabgeführt, in spielenden Lüften, Das Abendlicht, und mit dem kühleren Stral Der freudige Geist kommt zu Der seeligen Erde, (Am Quell der Donau, VV 56–60)

60

In Patmos schließlich begegnet das Motiv einmal mit Bezug auf Gott und einmal mit Bezug auf die Menschen, und zwar gerade als Symbol der Verabschiedung einer für den Menschen nicht fassbaren Gottesunmittelbarkeit. Von Gott heißt es: [. . . ] und zerbrach Den geradestralenden, Den Zepter göttlichleidend, von selbst, (Patmos, V 109–111)

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Die Antwort der Menschen darauf lautet: [. . . ] Nicht wollen Am scharfen Strale sie blühn, (Patmos, VV 188 f.)

Vorliegende Arbeit unterbreitet den Vorschlag, die Aufmerksamkeit für das Motiv des Strahls, das in der Spannung von höchster Präsenz Gottes und der Rücknahme dieser Präsenz steht, in ein interdisziplinäres Gespräch mit und über Hölderlins Dichtung einzubringen. Bettet sie dieses Motiv in den Gang der Entwicklung von Hölderlins Dichtung ein, kann ein möglicher, nachvollziehbarer Weg durch sein Werk gewiesen werden. 4) Nach den Überlegungen zur Gattung der Hymne sei noch ein Wort zu den Begriffen Gesang und Lied hinzugefügt. Wenn ich im Folgenden außerhalb der Diskussion um Gattungsbezeichnungen die beiden Begriffe verwende, verstehe ich sie meist im Sinne des Zur-Sprache-Kommens des Menschen vor dem drohenden Abgrund der Sprachlosigkeit. Hölderlins Schreiben kann als das Bemühen verstanden

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Einleitung

werden, angesichts der Erfahrungen des Verlustes sämtlicher geistiger Fundamente, leitender Ideen und (symbolischer) Ordnungen, ein Bleiben in der Sprache zu ermöglichen. Sowohl dem Dichter als auch dem Leser und der Leserin soll weiterhin ein Wohnen im Gesang, im Lied, in der Sphäre der Sprache, in der Erzählung möglich sein. In der Dichtung – man bedenke, wie viele Gedichte Hölderlins unvollendet blieben oder keine Verleger fanden – spiegelt sich die Gefahr des Verstummens wie die Hoffnung auf das Rettende, die Sprache.

„Altes und Neues!“ Martin Brecht bringt die Beschäftigung mit Hölderlin aus theologischer Perspektive in Verbindung mit den Begriffen Emanzipation und Revolution. Dieser Hinweis ist nicht allein der Entstehungszeit seines Vortrages in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts geschuldet, sondern hat einen allgemeinen Charakter, der für die Annäherung an Hölderlins Werk wichtig ist. Hölderlins Denken ist nicht von der Thematik der Freiheit zu lösen, die für die gesamte Philosophie des Deutschen Idealismus zentral ist, und enthält selbst revolutionäre Elemente. In einem berühmten Brief an seinen Freund Johann Gottfried Ebel schreibt Hölderlin am 10. Jänner 1797: Und was das Allgemeine betrift, so hab’ ich Einen Trost, daß nemlich jede Gährung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zu neuer Organisation nothwendig führen muß. Aber Vernichtung giebts nicht, also muß die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wieder kehren. Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah, wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues! [. . . ] Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird.62

Diese Passage allein auf das politische Umfeld (die Entwicklungen nach der Französischen Revolution) zu beziehen, greift zu kurz, zumal Hölderlin einleitend die allgemeine Bedeutung der folgenden Aussagen ankündigt: „Und was das Allgemeine betrift“. Überdies spricht er auch von einer „Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“. Damit ist ein Bezug zu Sprache und Bewusstsein, vielleicht sogar zur Dichtung hergestellt, zeigt sich doch darin das Allgemeine der Gesinnungen und Vorstellungsarten in besonders verdichteter Weise. Dass die Verlusterfahrungen nicht in eine „Vernichtung“ führen, ist jene Hoffnung, die sich auch in Hölderlins Dichtung ausspricht, in welcher ein fortwährendes Zerbrechen sämtlicher die symbolischen Ordnungen strukturierender Kategorien statthat, das schließlich in einer Trennung menschlicher und göttlicher Welt seinen umfassendsten Ausdruck findet.63 Ab etwa 1800 kann jedoch jedes der Gedichte als ein Versuch angesehen werden, vor dem Hintergrund dieses Verlustes wieder eine Dimension des Sinns und der Bedeutung auszuprägen. Dichtung ist die Suche nach einem Weg aus der „Verwesung“ hin zu neuem Reichtum (an Bedeutungen), wofür Hölderlin das Adjektiv 62 63

Brief 132, 10. Jänner 1797, MA II 643. Zu Johann Gottfried Ebel vgl. MA III, 715 f. Vgl. Der Abschied, Abschn. 3.6.

1.4 Quellen und Bezugspunkte

27

„bunt“ verwendet. Stabile Fundamente können dabei nicht mehr gelegt werden, vielleicht kann sich aus der Dichtung aber ein neuer Blick, eine neue Aufmerksamkeit, eine neue aisthesis entwickeln, welche der „ungeheure[n] Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten“ gewahr wird. Interessant ist überdies, dass die oben zitierte Stelle mit der Wendung „Altes und Neues!“, in der sich ihre Aussage in kürzest möglicher Form konzentriert, auf ein biblisches Motiv zurückgreift. Das Evangelium des Matthäus schildert, wie Jesus seine Gleichnisrede (Mt 13,1–53) beendet, indem er sich – diese zusammenfassend – an die Zuhörerschaft wendet: Habt ihr verstanden das alles? Sie sagen ihm: Ja. Der aber sprach zu ihnen: Deshalb ist jeder Schriftkundige, Schüler geworden des Königtums der Himmel, gleich einem Menschen, einem Hausherrn, welcher herausholt aus seinem Schatz(behälter) Neues und Altes. Und es geschah, als Jesus beendete diese Gleichnisse, brach er auf von dort. (Mt 13,51–53)

Wie in der Passage des Briefes an Ebel von einem neuen Reichtum an Bedeutungen in nicht synthetisierbarer Widersprüchlichkeit die Rede ist, geht es auch in den Gleichnissen Jesu, die jenem Logion vorangehen, um eine übergroße Ernte (hundertfach, sechzigfach, dreißigfach, Mt 13,8), um das enorme Wachstum des Senfkorns (Mt 13,31 f.) und um einen überreichen Fischfang, der Fische unterschiedlichster Art umfasst (Mt 13,47). An beiden Orten, im Evangelium und im Brief Hölderlins, ist nicht von einer Vernichtung des Alten und der gewaltsamen Einsetzung des Neuen die Rede, sondern von einer neuen Konfiguration, Hölderlin spricht von „neuer Organisation“ aus Altem und Neuem. Wie Jesu Nachfrage, ob die Jünger ihn verstanden hätten, und wie die immer neuen Anläufe, die Hölderlin in der Gestaltung seiner Gedichte nimmt, zeigen, bleibt diese neue Konfiguration fragil. Jesus besetzt den Ort des sich langsam einstellenden Neuen nicht, um ihn zu fixieren und das Neue mit Macht durchzusetzen. Das Neue erscheint nicht als Doktrin, noch überfordert Jesus damit; er verabschiedet sich, zieht weiter, lässt es wachsen . . .

1.4 Quellen und Bezugspunkte Die Einleitung ist bestrebt, einige für die anschließende Interpretation der Gedichte Hölderlins wesentliche Motive zu benennen, ohne die Entwicklung des Gedankens, die sich nur an den Gedichten selbst vollziehen kann, vorwegzunehmen. So sehr die Motive aus den Gedichten selbst entwickelt werden sollen, so sehr hängt doch die Interpretation von einem bestimmten Vorverständnis und einem durch andere Texte grundgelegten Zugang ab. Deshalb ist es angebracht, auch auf die Quellen einzugehen, welche die vorliegende Interpretation maßgeblich beeinflusst haben. Zwei Texte können dabei namhaft gemacht werden: Hegels Phänomenologie des Geistes und der Abschluss von Bruno Liebrucks siebenbändigem Werk Sprache und Bewußtsein, das den Titel trägt: „Und“. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos. Wirklichkeit und Realität. Im Folgenden werden Motive angeführt, die ich von diesen Texten gelernt habe und die für meine Interpretation

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1

Einleitung

Hölderlins prägend sind. Sodann werden andere mögliche Bezugspunkte benannt, von denen ausgehend man mit dieser Arbeit in ein Gespräch treten könnte, welche jedoch nicht weiter entfaltet werden können.

Denken in Bewusstseinsgestalten: Hegel 1) Interpretiert man Hegels Philosophie ausgehend von seinen Hauptwerken, der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik, stellt sich diese nicht, wie vielfach behauptet, als System einer metaphysischen Totalität, sondern als dessen vielleicht subtilste Auflösung dar.64 Die PhdG, auf die ich mich an dieser Stelle beschränken werde, kann mit einem Weg verglichen werden, der vom Bewusstsein entlang verschiedener Stationen durchschritten wird. Im Rahmen dieses Weges begegnen dem Bewusstsein unterschiedliche Gestalten des Denkens, die entwickelt und auf die Spitze getrieben werden und schließlich an ihren eigenen Widersprüchen zerbrechen und verabschiedet werden. Der Gestus ihrer Verabschiedung meint jedoch nicht ihre Zerstörung, sondern muss in der dreistrahligen Bedeutung des Verbes aufheben gesehen werden: Etwas wird außer Kraft gesetzt, dabei jedoch aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben. Die Entwicklung der PhdG repräsentiert mithin keine ungebrochene Fortschrittserzählung, die zu einem absoluten, d. h. totalen Wissen führte, sondern eine Verlustgeschichte, die sich immer mehr in ein Freilassen der Wirklichkeit einüben muss, das sich schließlich als absolutes, d. h. von unseren Versuchen der Fixierung sowie der noetischen und praktischen Bewältigung losgelöstes Wissen darstellt.65 In ähnlicher Weise deute ich auch die Dichtung Hölderlins als eine Geschichte der Verluste bzw. der Abschiede, die in ein Freilassen der Sprache aus sie fixierenden Bildern führt. Liegt bei Hegel der Akzent auf der Darstellung von Standpunkten des Bewusstseins (Wissensgestalten), die ein bestimmtes Sich-Verhalten zum jeweiligen Gegenstand des Bewusstseins anzeigen, sowie auf deren Zerbrechen und Veränderung66 , so ist bei Hölderlin der Fokus auf einem Verlust sämtlicher Fundamente, von welchen das Wort der Dichtung seinen Ausgang nehmen kann. 2) Ein weiterer Punkt, der Hegel und Hölderlin verbindet, ist der Gedanke, dass es weder außerhalb von Sprache und Bewusstsein stehende objektive Gegenstände gibt, auf die sich die Erkenntnis in einem äußerlichen Vorgang der Annäherung richtete, noch ein Subjekt, dessen noetische oder praktische Tätigkeit die Außenwelt der Gegenstände einfachhin hervorbrächte. Vielmehr geht es bei Hegel (im Rahmen des Weges der PhdG) jeweils um Gestalten des Denkens, in denen sich eine bestimmte Konfiguration von Subjekt und Objekt bzw. von Bewusstsein und Gegenstand zeigt. So stellt etwa die sinnliche Gewissheit als erste Station des Weges den Ver64

Vgl. Appel, Zeit und Gott, 202–316; Appel, Entsprechung im Wider-Spruch; Appel/Auinger (Hg.), Eine Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes. Teil I; Appel/Auinger (Hg.), Eine Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes. Teil II; Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. 65 Das Lateinische ab-solvere bedeutet loslassen, freilassen. 66 Hegel spricht von Erfahrung (vgl. PhdG, 68–81).

1.4 Quellen und Bezugspunkte

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such des Bewusstseins dar, in die ihm begegnende Wirklichkeit in Unmittelbarkeit und ohne Formen der Vermittlung einzutreten. Die Wahrnehmung als darauffolgende Bewusstseinsstufe beginnt die Welt als eine der Dinge und Eigenschaften zu ordnen, täuscht sich jedoch darin über ihren dynamischen Charakter, dem sie im Kapitel Kraft und Verstand als ein Spiel von Kräften einen Ausdruck gibt und den sie unter allgemeine Gesetze bringt. Sodann muss die Statik fixierter Gesetzmäßigkeit überwunden werden, um auch Phänomene des Lebendigen, des Selbstbewusstseins und später der Intersubjektivität und Geschichte in den Blick zu bekommen. Schon an diesen ersten Stationen des Weges lässt sich zeigen, dass sich Bewusstsein und Gegenstand den Versuchen, sie in einem fixierten Bild stillzustellen, entziehen, indem sie sich als niemals gänzlich mit sich selbst identisch zeigen. Im Versuch sie festzuhalten, zeigt sich ein ihnen innewohnender Hiatus, der diesen Versuch scheitern lässt und die Bewegung des Gedankens weitertreibt. Hegel nennt diesen jeglicher Fixierung sich entziehenden Charakter Negativität. Sie steht dem Bestreben, die Gegenstände des Bewusstseins zu positivieren67 (fixieren), entgegen. Die Konfigurationen oder Bewusstseinsgestalten erweisen sich mithin als dynamische. Ändert sich das Bewusstsein von einem Gegenstand bzw. die Weise des Zugriffs auf einen Gegenstand, ändert sich auch dieser. Umgekehrt zwingt das negative Moment des Gegenstandes das Bewusstsein, das seines eigenen Scheiterns am Gegenstand (an seiner Negativität) gewahr wird, sein Wissen von ihm zu ändern. Die Konfiguration von Bewusstsein und Gegenstand, die Bewusstseinsgestalt, kann in Entsprechung zu den Sphären gebracht werden, in welchen Hölderlin die Gegenstände der Dichtung zu gestalten beginnt. Jede Sphäre stellt eine bestimmte dynamische Konstellation dar, in welcher das dichterische Ich in Prozesse der Subjektivierung eingeht und sich auch sein Gegenstand, der Gehalt des Gedichtes, bildet. Dieser hat kein An-Sich, welches in irgendeinem Außerhalb fixiert werden könnte. Wie sich bei Hegel in der Bewegung des Gedankens, d. h. im Verlauf des Weges der PhdG, die einzelnen Bewusstseinsgestalten aufbauen und nicht einem äußeren Maßstab folgen, müssen die Sphären auch bei Hölderlin (ab einer bestimmten Phase seiner Dichtung) im Gedicht selbst gedichtet werden. Beide Denker führen aus, dass die Bewusstseinsgestalten bzw. Sphären die Tendenz zur Totalisierung haben, d. h., dass sie sich zunächst mit einem allumfassenden Anspruch der Integration sämtlicher in den Blick geratender Phänomene präsentieren, diese Totalität jedoch nicht die letzte Form ist, in der sie auftreten. Sie scheitern vielmehr gerade an diesem Anspruch, weil sie mit den inneren Widersprüchen ihres Gegenstandes (seiner Negativität) nicht umgehen können (in der PhdG) bzw. der sprachliche Charakter der Gegenstände stets über ihren unmittelbar festhaltbaren Bedeutungsgehalt und ihre aktuelle Artikulation hinausweist (Hölderlin). Wie sich innerhalb jeder Bewusstseinsgestalt bzw. Sphäre die Frage nach der Konstellation von Bewusstsein bzw. Dichter und Gegenstand stellt, erhebt sich auch die

67

Von lateinisch: ponere: setzen, stellen.

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Einleitung

Frage nach der Totalität der Bewusstseinsgestalt bzw. Sphäre und der Negativität bzw. Sprachlichkeit, die zu ihrer Auflösung führt. 3) Der Weg der Erfahrung, wie er sich in der PhdG zeigt, und die Geschichte der Abschiede, wie sie in den Gedichten erzählt wird, sind für Hegel und Hölderlin kein Weg in einen Nihilismus, sondern die Einübung in eine neue Wahrnehmung (aisthesis), welcher es um ein Freilassen der Wirklichkeit aus unseren Versuchen ihrer noetischen und praktischen Bewältigung geht. Im Mitvollzug des Weges der PhdG lernt man als Leser oder Leserin, auf die langsame Entwicklung eines Gedankens zu achten. Nichts tritt unmittelbar auf, ohne dass es eine Geschichte der Entwicklung hätte. Diese Weise der Lektüre kann auch eine Möglichkeit der Annäherung an die Gedichte Hölderlins darstellen. Es geht dabei nicht in erster Linie um das Finden großer Zusammenhänge, welche einzelne Verse eines Gedichtes mit anderen Versen aus anderen Gedichten verbinden, sondern um ein langsames Mitvollziehen und Nach-Erzählen einer Entwicklung. Der geistige Gehalt liegt weder bei Hegel noch bei Hölderlin (allein) in den Resultaten, sondern ergibt sich an den feinen Übergängen, welche sich im Text zeigen.

Dichtung als Dichtung von Sphären: Liebrucks Bruno Liebrucks verfasste in sieben Bänden eine Philosophie von der Sprache her68 , die einen Durchgang durch wesentliche Stationen der Philosophiegeschichte bietet, u. a. Humboldt, Kant, Hegel. Es geht darum, Erkenntnis sprachlich zu fassen, d. h. die „Leitvorstellung der Subjekt-Objektbeziehung“ lediglich als ein Moment eines intersubjektiv-sprachlichen Geschehens anzusehen, welches entsprechend dem Schema „Subjekt-Subjekt-Objekt“69 als ein bestimmter, in konkreten Bezügen situierter Weltumgang zu verstehen ist. Der siebente Band seines Werkes ist Hölderlin gewidmet und bietet in seinem zweiten, sehr umfangreichen Teil einen Durchgang durch „Bewußtseinsstufen im Werk Friedrich Hölderlins“70 . Mit dem Rekurs auf Bewusstseinsstufen deutet Liebrucks auf eine enge Verwandtschaft von Hegel und Hölderlin hin: „Meine These über Hölderlins Werk lautet, daß in ihm dichterisch ausgesprochen ist, wohin auch die Logik Hegels führt. Es ist, ins Didaktische übersetzt, die Thematik des Friedens.“71 Auch wenn die hegelschen Bewusstseinsgestalten und die die von Liebrucks identifizierten Bewusstseinsstufen sowie die ihnen entsprechende Zuordnung von Gedichten eine wesentliche Orientierung für die vorliegende Arbeit waren, kann diese Ordnung nicht unmittelbar übernommen werden. Auf diese Weise würden Hegels und Liebrucks’ Überlegungen zu einem bloßen Verfahren, welches die Bewegung des Gedankens, wie sie den Gedichten Hölderlins selbst entspringt, hinter 68

„Sprache ist Ausgangspunkt und Ziel alles menschlichen Verhaltens.“ (Liebrucks, Einleitung. Spannweite des Problems, 3). 69 Liebrucks, Einleitung. Spannweite des Problems, 3. 70 Liebrucks, „Und“, 249. 71 Liebrucks, Irrationaler Logos und rationaler Mythos, 222.

1.4 Quellen und Bezugspunkte

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sich lässt. Der kontingente Weg, der sich im Folgenden durch das Werk Hölderlins zeigt, muss sich im Durchgang durch die Gedichte selbst eröffnen. Liebrucks unterscheidet eine vorsubjektive, subjektive, objektive, sphärische, wesenhafte und gestalthafte Stufe sowie die Stufe der Meisterschaft. Mit Letzterer endet die Zuordnung einzelner Gedichte zu allgemeinen Kategorien. Die späten Hymnen oder Gesänge Hölderlins stehen jeweils für sich und haben all die anderen Stufen in sich aufgehoben – im dreifachen Sinn des Wortes: Die anderen Stufen sind aufbewahrt, dabei in ihrer je spezifisch vorherrschenden Zugangsweise jedoch außer Kraft gesetzt und auf eine neue Ebene gehoben, die einen neuen Umgang mit ihnen ermöglicht. Besondere Aufmerksamkeit legt Liebrucks auf die Gestaltung der Adjektive in den Gedichten Hölderlins. Tatsächlich erreicht ist eine Bewusstseinsstufe dann, „wenn diese im Einzelwort erscheint“72 , d. h. nicht mehr einen ganzen Vers oder eine ganze Strophe benötigt, um ausgesagt zu werden, sondern ihren Ausdruck in einem Adjektiv oder Nomen findet. In ihm konzentriert sich gewissermaßen das, was eine jeweilige Stufe ausmacht. Die vorsubjektive Stufe der Jugendgedichte versammelt zwar schon Motive, welche auch in den weiteren Stufen Bedeutung haben werden, schöpft diese aber noch aus konventionellen Bildern, die im Umfeld des Dichters gängig waren. Weder gibt sie ihnen selbst (subjektiv) Bedeutung noch finden sie in der Dichtung bereits einen inneren (objektiven) Zusammenhalt. Darauf folgen die subjektive und objektive Stufe, die Liebrucks rückblickend so zusammenfasst: Die Ausdrücke „subjektiv“ und „objektiv“ sollten darauf hinweisen, was in der Sprache der Dichtung Hölderlins bisher erschienen ist. In den ersten Stufen begegneten durch die Sprache als Medium subjektive und objektive Inhalte. Ich als nicht zu vergegenständlichende Wirklichkeit ist ohne Sprache nicht auf dieser Welt. Die Sprache selbst ist im Gedicht noch nicht erschienen.73

Ab der sphärischen Stufe ist die „Sprache mit ihren sogenannten Gegenständen verschränkt“74 . Subjektive und objektive Inhalte treten darin weiterhin auf, mit der Sphäre rückt aber nun jener Raum in den Mittelpunkt, in welchem sie ihre Bedeutung erhalten. Der einleitend angesprochene Prozess der Sprachwerdung beginnt mit dieser Stufe, gelangt als solcher aber noch nicht zu Bewusstsein. Die Sprache erscheint noch als das Allgemeine, als der Horizont, in welchem die Sphären angesiedelt sind. In der wesenhaften Stufe setzt eine Dynamisierung der Sphären ein, insofern sie von einem Geschehen der Wandlung her („Vermittlung von Göttlichem und Menschlichem“75 ) begriffen werden, das in ihnen statthat. Einzelworte können darin auftreten und einen Raum eröffnen, der sich als eine eigene Sphäre des Aufenthalts, als eine Form des Weltumgangs gestaltet. Damit beginnt die Sprache „an einigen Stellen der Dichtung selbst zu erscheinen“76 . Allerdings stehen die Formen der Weltbegegnung, wie sie in dieser Stufe auftreten, noch unter 72

Liebrucks, „Und“, 301. Liebrucks, „Und“, 295. 74 Liebrucks, „Und“, 296. 75 Liebrucks, „Und“, 320. 76 Liebrucks, „Und“, 508. 73

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Einleitung

einer Vorherrschaft des Wesens (im Sinne des zweiten Teils der hegelschen Logik) und damit einer Allgemeinheit. Sie begegnen noch nicht gestalthaft, d. h. in der Singularität der Gestalt (was im Sinne Hegels in die Begriffslogik deutet). Wo die Sphäre als Form sprachlichen Weltumgangs in der Einzelheit einer Gestalt auftritt, erhält sie einen Namen und kann angerufen werden. Dort erst ereignen sich Formen der Begegnung und erscheinen die Götter. Es ist die Stufe, in welcher sich Gedicht und Gebet einander annähern.77 Was Liebrucks mit etwas erhobenem Ton Stufe der Meisterschaft nennt, meint den Übergang zu einer Dichtung des metaphysischgeschichtlich-religiösen Aufenthaltsortes der Menschen und ist von der Frage nach dem Verlassen und Einkehren der Götter in die Zeit und den Gesang geprägt, was besonders in den Gestalten von Nacht und Tag variiert wird.78 Die bisherigen Stufen „kehren in der dichterischen Gestaltung der Metaphysik der Nacht und des Tages wieder“79 . Das Attribut „meisterhaft“ darf keinesfalls im Sinne von „herrschaftlich“ oder „beherrschend“ ausgelegt werden, sondern bezieht sich auf den freien Umgang mit den bisherigen Stufen. Dahinter steht der Gedanke des Freilassens der Wirklichkeit und all ihrer Rekonstruktionen (das Freilassen der einzelnen Bewusstseinsgestalten) in je neu zu erzählende Konfigurationen, wie er in der PhdG im absoluten Wissen auftritt. Davon ausgehend betrachtet Liebrucks schließlich die späten Elegien und Hymnen, die jede für sich stehen und jeweils die Dichtung eines Mythos darstellen. Den Anfang macht dabei Brod und Wein, als letztes Gedicht interpretiert er Mnemosyne.

Das Gedichtete und die Sphäre: Benjamin, Heidegger, Sloterdijk Der bereits mehrfach aufgetretene Begriff der Sphäre, der sich für die folgenden Ausführungen als zentral erweisen wird, lässt an drei weitere philosophische Entwürfe denken, welche im Rahmen dieser Arbeit zwar nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, aber mit ihr in einen Zusammenhang gebracht werden können. Die Rede ist von Walter Benjamin, Martin Heidegger und Peter Sloterdijk. 1) Als mit der Fertigstellung des vierten Bandes von Norbert von Hellingraths Hölderlin-Gesamtausgabe im Jahr 1914 zahlreiche der großen nach 1800 entstandenen Gesänge Hölderlins in einem Band zugänglich gemacht bzw. überhaupt erstmals veröffentlicht worden waren, setzte eine enorme Rezeption des Dichters ein. Einer der ersten, der eine eigenständige philosophische Interpretation der Dichtung Hölderlins entwickelte, war Walter Benjamin, der 1914/15 den Text Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. „Dichtermut“ – „Blödigkeit“ verfasste.80 Darin soll ein

77

Vgl. Liebrucks, „Und“, 508. Vgl. Liebrucks, „Und“, 508 f. 79 Liebrucks, „Und“, 509. 80 Vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105–126; eine Kurzinterpretationen geben Marlies Janz, Benjamin – Adorno – Szondi, in: Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 439–443, hier: 439–440 und Patrick Primavesi, „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“, in: Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch, 465–471. 78

1.4 Quellen und Bezugspunkte

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„ästhetischer Kommentar zweier lyrischer Dichtungen“81 versucht werden. Wichtiger als Benjamins Auslegung der Gedichte sind für den Zusammenhang dieser Arbeit seine „Vorbemerkungen über die Methode“82 . Mittels verschiedener Ausdrücke nähert sich Benjamin der Methode seiner Auslegung der Gedichte an. Zunächst spricht er von der inneren Form und dem Gehalt der Gedichte und weist damit darauf hin, dass die Interpretation ein in den Gedichten liegendes Maß herausarbeiten muss, nicht aber der Beurteilung anhand eines äußeren Maßstabes folgen darf. Allerdings werden jene beiden Ausdrücke nicht weiterverfolgt, vermutlich deshalb, weil ihr Charakter statisch im Sinne eines „Form-Stoff-Schema[s]“83 verstanden werden könnte und sie die Vorgänge von Dichtung und Interpretation zu wenig in ihrer Dynamik und Verschränkung zum Ausdruck zu bringen vermögen. Sodann spricht Benjamin von der Ermittlung der dichterischen Aufgabe, was in mehrfacher Hinsicht ein dialektischer Begriff ist. Sie muss aus dem Gedicht selbst abgeleitet werden und ist gleichwohl als dessen Voraussetzung anzusehen; dabei ist sie Voraussetzung sowohl des Gedichtes als auch seiner Interpretation. Weder persönliche Motive noch die Weltanschauung des Dichters seien für die Analyse relevant, sondern allein die dichterische Aufgabe, wie sie sich in einem Gedicht zeigt. In ihr objektiviert sich die „geistig-anschauliche Struktur der Welt, von der das Gedicht zeugt“84 , mithin ist sie als ein geistiger Raum bestimmt, in dem sich das Gedicht bewegt, der aber gleichwohl nur aus dem Gedicht selbst erkannt werden kann. Dieser geistige Raum wird im Gedicht selbst gedichtet und existiert nicht schon in objektiver Weise vor ihm. Er ist die Voraussetzung, welche die Dichtung selbst notwendig setzt, d. h., er hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern ist als Aufgabe mit einem „Ernst“85 verbunden. Für jenen Raum, in welchem „Aufgabe und Voraussetzung des Gedichts“86 liegen, verwendet Benjamin den Ausdruck der Sphäre; er nennt ihn die „besondere und einzigartige Sphäre“87 des Gedichtes. Sie hängt nicht allein mit dem Gedicht als vorliegendem Text zusammen, sondern zugleich auch mit dessen Untersuchung, Interpretation, Analyse. Auch diese muss aus der dichterischen Aufgabe erwachsen und hat mithin keinen anderen Grund, auf dem sie ruhte. Diese Sphäre ist Erzeugnis und Gegenstand der Untersuchung zugleich. Sie selbst kann nicht mehr mit dem Gedicht verglichen werden, sondern ist vielmehr das einzig Feststellbare der Untersuchung. Diese Sphäre, welche für jede Dichtung eine besondere Gestalt hat, wird als das Gedichtete bezeichnet.88

81

Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105. Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105; vgl. 105–108. 83 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 106. 84 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105. 85 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105. 86 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105. 87 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105. 88 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 105. 82

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Einleitung

In der Sphäre liegen Aufgabe und Voraussetzung des Gedichtes, und zugleich ist sie Erzeugnis und Gegenstand der Untersuchung. Gedicht und Interpretation, Text und Kommentar stehen beide in einem Verhältnis zur Sphäre. Die Sphäre setzt sie in ein Verhältnis und ist ihr verbindendes Band. Sie lassen sich nicht als voneinander geschiedene, in sich bestimmte Entitäten, die erst nachträglich aufeinander bezogen würden, trennen.89 Die Interpretation richtet sich nicht auf ein Gedicht als ihren Gegenstand, sondern sieht sich im offenen Raum einer Sphäre mit dem Gedicht vermittelt. Zum Thema wird damit in der Untersuchung nicht eigentlich das Gedicht als der Interpretation vorausliegendes Material, sondern immer schon der Beziehungszusammenhang der Sphäre, in welchem auch der Akt der Interpretation selbst inbegriffen ist. Die Konstellation der Sphäre wird im Prozess der Interpretation nicht schlichtweg vorgefunden, sondern geht aus der Untersuchung hervor, ist deren Erzeugnis. Die das Gedicht durchwaltende und es in die Offenheit des Verstehens bringende Sphäre stellt keinen gegebenen Bestand dar, sondern bildet sich in der Interpretation, ohne damit freilich der Beliebigkeit des Interpreten oder der Interpretin ausgeliefert zu sein. Sonst würde die Konstellation der Sphäre sofort zurücksinken auf den mechanischen Bezug eines Interpreten, einer Interpretin auf den Gegenstand, mithin auf eine bloße Subjekt-Objekt-Relation. Was als Sphäre herausgearbeitet wird, hat für jedes Gedicht eine besondere Gestalt. Benjamin nennt sie das Gedichtete. Entscheidend ist, dass die Sphäre keinen angebbaren Anfangspunkt hat. Was auch immer darin als Anfangspunkt isoliert wird (sei es das Gedicht, sei es die Interpretation) und zunächst auch isoliert werden muss, um überhaupt in die Darlegung der Sphäre einsteigen zu können, erweist sich, vom dynamischen Prozess, den die Sphäre darstellt, gesetzt zu sein. Das Gedichtete ist „Übergangssphäre“90 zwischen den zwei Polen Gedicht und Leben und stellt den Ort ihrer Vermittlung dar. Dieser Übergang wird bestimmt als „Gestaltung der Anschauung und Konstruktion einer geistigen Welt“91 und kann nicht übersprungen werden, als könnte ein Gedicht unmittelbar Leben abbilden oder die Interpretation Leben unmittelbar im Gedicht finden. Das Gedichtete ist „eine Sphäre der Beziehung von Kunstwerk und Leben“92 , die als isolierte Extreme dieser Beziehung nicht fassbar wäre. Interpretation sieht sich mithin immer verwiesen auf die Sphäre des Gedichteten. 2) Im Jahr 1943 hielt Heidegger einen Vortrag mit dem Titel „Heimkunft / An die Verwandten“, der sich mit Hölderlins gleichnamiger Elegie auseinandersetzte.93 Auf die Interpretation dieses Gedichtes kann hier nur insofern eingegangen werden, als er darin die für seine Philosophie zentrale Struktur der Lichtung aus

89

Für diesen Hinweis danke ich Daniel Kuran. Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 107. 91 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 107. 92 Benjamin, Gesammelte Schriften II.1, 108. 93 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), 9–31. In vorliegender Arbeit gehe ich auf die Rezeption Hölderlins durch Heidegger nicht ein. In Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen habe ich das ausführlich versucht, nicht zuletzt mit Bezug auf Heideggers Interpretation der Elegie Heimkunft. 90

1.4 Quellen und Bezugspunkte

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der Deutung des Gedichtes entwickelt. Er nimmt dabei den Ausgang bei den ersten beiden Versen: Drinn in den Alpen ists noch helle Nacht und die Wolke, Freudiges dichtend, sie dekt drinnen das gähnende Thal. (Heimkunft. An die Verwandten, VV 1 f.)

Vor jeder subjektiven Instanz dichte die Wolke Freudiges, d. h. eine Grundstimmung der Freude, die nicht schon bestimmte freudige Ereignisse meint. Sie sei Heidegger zufolge aber nicht selbst die Entstehung von Sprache und Gesang. Die Wolke verweile vielmehr in einer offenen Helle, d. h. einem offenen Raum, dem Heiteren, dem Aufgeräumten, das es vermag, „anderem seinen gemäßen Ort einzuräumen“94 . An dieser Stelle verweist Heidegger auf den Begriff der Lichtung: „Indem die Aufheiterung alles lichtet, gewährt das Heitere jeglichem Ding den Wesensraum, in den es seiner Art nach gehört, um dort, im Glanz des Heiteren, wie ein stilles Licht, genügsam mit dem eigenen Wesen, zu stehen.“95 Es wäre interessant, weiter zu verfolgen, wie Heidegger diesen eröffnenden Raum, etwa über den Begriff des Grußes96 , des Offenen97 und der Boten (Engel)98 weiterentwickelt und ihn in einen Zusammenhang mit dem Konzept der Sphäre bringt, dies muss hier aber unterbleiben. 3) Schließlich hat Sloterdijk sein großes dreibändiges Hauptwerk unter den Titel Sphären gestellt: „Die Sphäre ist das innenhafte, erschlossene, geteilte Runde, das Menschen bewohnen, sofern es ihnen gelingt, Menschen zu werden.“99 In diesem Werk spielt Hölderlin nur eine marginale Rolle und wird der Begriff der Sphäre auch nicht mit seiner Dichtung in Verbindung gebracht, weshalb eine Diskussion mit Sloterdijks Begriff der Sphäre, die sicherlich möglich wäre, im Folgenden unterbleiben muss. Allerdings wird im Epilog vorliegender Arbeit das von Sloterdijk auf Hölderlins Schreiben bezogene Wort von einer poetischen Theologie übernommen.100

94

Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), 16. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), 16. Ob mit dem stillen Licht ein Bezug auf Hölderlins Patmos gesetzt ist, in dessen dritter Strophe die Suche nach einem stillen Feuer im Mittelpunkt steht (Patmos, V 38) und wo später von stillleuchtender Kraft (V 194) und einem stillen Zeichen am donnernden Himmel (VV 20) die Rede ist, lässt sich nicht leicht entscheiden, ist aber nicht ganz unwahrscheinlich, zumal sich Heidegger später explizit auf Patmos bezieht (Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), VV 18, 2 30). 96 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), 17. 97 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), 18. 98 Vgl. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), 19. 99 Sloterdijk, Blasen, 28. 100 Vgl. Sloterdijk, Schäume, 517. 95

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Einleitung

1.5 Gang der Arbeit Am Ende der Einleitung (1) sei nun auf die Gliederung der Arbeit, die sechs Kapitel umfasst, verwiesen. Die Kapitel zwei bis fünf stellen einen Durchgang durch die Dichtung Hölderlins in vier Abschnitten dar, die jeweils eine gewisse Phase seines Werkes in den Blick nehmen. Das zweite Kapitel beginnt mit den Jugendgedichten und reicht bis zu den Ausläufern der Tübinger Hymnen. Es zeigt auf, wie in der Dichtung Hölderlins sukzessive Fundamente abendländischer Kultur zerbrechen (2). Das dritte Kapitel schließt daran an und interpretiert Gedichte, die bis etwa 1800 entstanden sind, als Dichtung sprachlicher Sphären im Sinne neuer symbolischer Ordnungen (3). Im vierten Kapitel werden drei der großen Gesänge aus der Zeit nach 1800 ausgelegt, welche den göttlichen Ursprung von Sprache thematisieren (4). Die Reihe der Gedichtinterpretationen wird beschlossen mit drei bereits nach 1806 im Tübinger Turm entstandenen Gedichten (5). In einem theologischen Epilog suche ich abschließend einige Konsequenzen aus dem zuvor Erarbeiteten zu ziehen (6). Die Kapitel drei bis fünf werden jeweils mit der Interpretation eines nicht-dichterischen Textes eingeleitet, und zwar mit Aufsätzen aus den Theoretischen Schriften (3 und 4) bzw. mit dem Prosafragment In lieblicher Bläue . . . (5). In aller Kürze werden im Folgenden die einzelnen Abschnitte, besonders die mit ihnen verbundene Auswahl an Gedichten vorgestellt: 1) Die einleitenden Überlegungen zur Frage nach der Annäherung an das Werk Hölderlins haben zum einen zur Notwendigkeit eines interdisziplinären Gespräches, an dem neben Literaturwissenschaft und Philosophie auch Theologie beteiligt sein soll, und zum anderen zur Verwiesenheit dieses Gespräches auf eine genaue Lektüre der Dichtung Hölderlins hingeführt. Als wichtige inhaltliche Bestimmungen haben sich der Strahl und die Sphäre ergeben. 2) Das Gespräch mit Hölderlins Dichtung bietet zunächst im 2. Abschnitt einen Durchgang, der von seinen ersten Jugendgedichten bis zum Ausgang der Tübinger Hymnen reicht, wobei die Auswahl der interpretierten Gedichte einerseits die Verbindung der Frage nach Gott und Mensch verfolgt und andererseits aufzeigt, wie für Hölderlin in diesen Jahren sämtliche das Dasein fundierende Ideen zerbrechen und in den Gedichten verabschiedet werden. Der Weg setzt mit dem Jugendgedicht M. G. ein, welches die Frage nach Gott und Mensch an seinen Anfang stellt. Das Gedicht gibt einen Hinweis darauf, wie sehr Hölderlins Dichtung im Gebet wurzelt, und dass Gedicht und Gebet bisweilen ununterscheidbar sind. In diesem frühen Gedicht/Gebet taucht außerdem bereits das Offenbarungsmotiv des Strahls auf. Das Augenmerk richtet sich jedoch nicht, wie das Motiv des Strahls vielleicht vermuten lässt, auf ein Geschehen umfassender Helle, sondern gerade auf Orte von deren Zurücknahme und Schwächung (vgl. Die Nacht). Ansichtig wird damit in einer ganz rudimentären Form bereits ein Bruch des Gedankens unmittelbarer, direkter, intentionaler Ausgerichtetheit des Menschen auf Gott und Gottes auf den Menschen, freilich in dieser Phase noch ohne explizite Reflexion darauf. In Die Meinige zeigt sich, wie sich die mystische Erfahrung der Präsenz im Augenblick, die wieder mit dem Gebet verbunden erscheint, nur in einer Distanz festhalten und beschreiben

1.5 Gang der Arbeit

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lässt. Die mystische Erfahrung wird dann, wie besonders das Gedicht Die Unsterblichkeit der Seele deutlich macht, in der Bewegung des Sich-Erhebens der Seele weiter ausgestaltet und findet in der Stille (vgl. Die Stille) einen allgemeinen Ausdruck. Die Tübinger Hymnen entwickeln diese beiden Motive schließlich in zwei Richtungen weiter, die noch als konkurrierend erscheinen und die sie letztlich nicht zu balancieren vermögen. Daran zerbrechen sie und mit ihnen auch die Hoffnung auf die Präsenz des Göttlichen in einer utopischen Zukunft: Einerseits steigert sich die Erfahrungen der Subjektwerdung, wie sie schon in Die Unsterblichkeit der Seele statthatte, zu einer überschwänglichen Präsenz des Ichs als Ausgangspunkt der Dichtung.101 Andererseits wird erstmals eine Struktur bewusst, welche jedes Anfangen und jedes Sich-Adressieren schon als ein Ermöglichtes begreift, wobei das Ermöglichende nicht außerhalb des Prozesses als etwas An-sich-Gegebenes aufgefasst werden kann. Diese anfangslose Struktur, die kein außerhalb Gegebenes kennt, kann als Sphäre bezeichnet werden (vgl. Hymnus an die Göttin der Harmonie). Die beiden Gedichte Griechenland und An die Natur zeigen, dass diese Sphäre nicht (mehr) in der Vergangenheit, für die das antike Griechenland steht, und nicht (mehr) in der Natur gefunden werden kann. Die Idee der Erneuerung der Kultur in Gestalt einer Renaissance aus geschichtlichen Quellen bzw. aus den zyklischen Prozessen der Natur wird damit verabschiedet. Mit dem Verlust der Aufgehobenheit in der Natur geht auch der Abschied vom Gedanken einer unmittelbaren Beheimatung in einer Form der Natürlichkeit einher. 3) Damit ist ein Bruch gesetzt. Die Sphäre, in welche das Ich im Gedicht nun eintritt, kann keine unmittelbar gegebene, d. h. natürliche, mehr sein, kann aber auch nicht mehr aus der Geschichte übernommen werden. Sie muss, wie der dritte Abschnitt zu zeigen sucht, sprachlichen Charakter haben, zumal Sprache der Ausdruck des Verlustes unmittelbarer Aufgehobenheit in der Natur und jeglichen anderen Bezugssystemen ist. Reflektiert wird dies zunächst anhand von Hölderlins Fragment philosophischer Briefe, in welchem der Begriff der Sphäre eine zentrale Rolle spielt. Der Eintritt in die Dichtung sprachlicher Sphären wird daraufhin mit dem Gedicht An den Äther deutlich gemacht. In Der Wanderer erfährt sich das Ich schließlich als bewegt, die Sphären durchwandernd, und beginnt Landschaften zu dichten, indem es sich von der konkreten Geographie abhebt und in erinnerte, mythologische, künstlerische Landschaften übergeht, um diese beiden Formen (die natürlichen und die erinnerten) schließlich in eine Sphäre aufzuheben, die man als sprachliche oder dichterische Landschaft bezeichnen könnte. Konkrete Geographie bzw. Natur bleibt darin präsent als das Unverfügbare und kann sich nun einer freien dichterischen Gestaltung öffnen. Was Hölderlin in diesem Gedicht poetologisch entwickelt, vermag das Gedicht selbst jedoch noch nicht einzuholen, die Vermittlung der Stufen gelingt dem Wanderer/Dichter noch nicht. Es bedarf dafür einer Einwirkung des himmlischen Strahls, die von außen unvermittelt ins Gedicht tritt. An diesem Vermittlungsgeschehen hat allerdings der Wanderer/Dichter selbst keinen Anteil mehr. Die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher Offenbarung 101

Bruno Liebrucks spricht von einer subjektiven Stufe der Dichtung (vgl. Liebrucks, „Und“, 259–280).

38

1

Einleitung

und menschlicher Dichtung, oder allgemeiner die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Bereich, erhält eine neue Dringlichkeit, was anhand zweier eng miteinander verwandter Gedichte gezeigt wird: Die Ode Die Prinzessin Auguste von Homburg handelt davon mit Blick auf den göttlichen Ursprung der Sprache und die Möglichkeit der Dichtung. Als ein Geschehen des Wandels, der sich im Gedicht einstellen muss, sucht die Ode Aus stillem Hause senden . . . jenes Verhältnis von Gott und Mensch zu fassen. Figur der Vermittlung in der Wandlung ist die Gestalt einer Priesterin. Allerdings kann auch dadurch die Geschichte der Verluste nicht abgehalten werden. Sie betrifft schließlich auch die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zum Göttlichen, wie Hölderlins Gedicht Der Abschied zu zeigen vermag, mit welchem – um 1800 – ein Tiefpunkt im Schreiben Hölderlins erreicht ist. Die Sphären des Göttlichen und der Menschen lassen sich nicht mehr aufeinander beziehen. Es handelt sich um einen nicht mehr partikulären, sondern sämtliche Abbrüche in sich zusammenfassenden Verlust. In einer frühen Version des mehrmals überarbeiteten Gedichtes heißt es: [. . . ] Seit der gewurzelte Allentzweinde Haß Götter und Menschen trennt, (Der Abschied, VV 13 f.)

In einer späteren Version ändern sich diese beiden Verse zu: [. . . ] Seit die gewurzelte Ungestalte die Furcht Götter und Menschen trennt, (Der Abschied, VV 13 f.)

Aus dem allentzweienden Hass wird die gestaltlose Furcht, die Trennung von Göttern und Menschen bleibt. Hölderlin beschreibt den Charakter der Bedrohung anders, nimmt jedoch auch in der Überarbeitung die Bedrohlichkeit nicht zurück. Allerdings kommt dem Gedicht Der Abschied nicht nur deshalb eine Schlüsselrolle zu, weil es den Verlust in der härtest möglichen Weise zum Ausdruck bringt, sondern weil es gleichzeitig auch einen zaghaften Umbruch hin zu einer Suche nach Elementen einer neuen Erzählung ausspricht (VV 17–36). Damit ist angedeutet, was Hölderlins Dichtung in den kommenden Jahren leiten wird. Sämtliche Gedichte müssen vor dem Hintergrund eines umfassenden Abbruchs verstanden werden und sind als Versuch anzusehen, angesichts dieses Verlustes eine neue Sprache zu finden. Diese muss dem Verlust Rechnung tragen, gleichwohl aber nach neuen Formen der Vermittlung der Sphäre Gottes und der Menschen suchen. 4) In diesem Zusammenhang gewinnt die Kategorie des Übergangs eine zentrale Bedeutung, für die Hölderlin im Aufsatzfragment Das untergehende Vaterland . . . eine Theorie zu entwerfen sucht, womit die Überlegungen des vierten Abschnittes ihren Ausgangspunkt nehmen. Es folgt die Interpretation dreier Gedichte, welche erstmals nach den Tübinger Hymnen die Hymnen-Form wieder aufgreifen: Wie wenn am Feiertage . . . , Am Quell der Donau und Patmos können als paradigmatische Stationen im Rahmen der Suche nach einer neuen Vermittlung des göttlichen und des menschlichen Bereichs in der Sphäre der Sprache gesehen werden. Wie

1.5 Gang der Arbeit

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wenn am Feiertage . . . rückt das Motiv der Unmittelbarkeit des Göttlichen, welches der Dichter aufzunehmen und in die Gestalt des Gesanges zu transformieren vermeint, in den Mittelpunkt. Allerdings scheitert der Dichter an diesem Anspruch und muss die Erfahrung machen, dass die Sphäre Gottes höher als die des Menschen102 ist. Am Quell der Donau sucht verschlungene Wege der Vermittlung, mittels derer die Sprache, die selbst göttlichen Ursprungs ist, die Menschen erreicht. Die Sphäre der Sprache tritt als Begegnungsraum von Menschlichem und Göttlichem auf. In Patmos hat die Sphäre der Sprache als Vermittlungsraum von Göttlichem und Menschlichem die Gestalt eines konkreten Textes, genauerhin des biblischen Textes. Am Motiv des Strahls als göttlicher Offenbarung, das in allen drei Gesängen begegnet, lässt sich die eben skizzierte Entwicklung nachvollziehen. 5) Den Abschluss bilden drei Gedichte Hölderlins aus jener Zeit, als er bereits im Tübinger Turm lebte: Mit Was ist der Menschen Leben . . . und Was ist Gott . . . schließt sich ein Bogen zur Frage nach Gott und den Menschen, wie sie in Hölderlins Jugendgedicht M. G. gestellt worden war und Hölderlins Werk begleitet hat. Aus der spätesten Phase der Gedichte wird einer der Texte, welche den Titel Der Frühling tragen, zitiert und interpretiert. Weder Ich noch Gottesname kommen darin explizit vor, wird das Gedicht jedoch in seiner Ganzheit betrachtet, scheint es auch als Gebet gelesen werden zu können. 6) In einem Epilog versuche ich einige theologische Konsequenzen aus den Interpretationen der Gedichte zu ziehen und spreche in diesem Rahmen von Momenten einer poetischen Theologie. Neben dem Versuch, Fäden der vorangehenden Ausführungen zusammenzufassen, findet sich darin zunächst die Überlegung, dass eine Theologie, die ihre Herkunft aus den neutestamentlichen Briefen bedenkt, auch ihre Nähe zur Dichtung erkennen kann. Ausgehend von den Motiven der Anrede/Widmung und des Endes/Abschiedes, die in Brief und Gedicht eine große Rolle spielen, werden zwei wichtige neutestamentliche Texte, die beide mit dem Motiv des Abschieds in Zusammenhang stehen, betrachtet: der Römerbrief mit seinem ausgedehnten Schluss und die Abschiedsreden im Johannes-Evangelium. Als Charakteristikum einer poetischen Theologie wird das Motiv der Verabschiedung des Gedankens einer Erzählung des Ursprungs sowie des Bildes der Vollendung als Totalität aller Erzählungen zugunsten einer Fortsetzung der Erzählungen und des Gesangs bedacht. Schließlich werden die Motive des Abschieds und der Offenbarung aufeinander bezogen und wird die Frage nach der Sprachproduktivität von Dichtung einerseits und biblischem Text andererseits gestellt.

102

Vgl. Stuttgarter Foliobuch, 33/17r.

2

Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Eine Interpretation von Gedichten aus Hölderlins Jugend- und Studienzeit muss diese in dem ernst nehmen, was sie sind: Offene, kreative Versuche der Sprachwerdung, die sich eng an Vorbilder anlehnen (Klopstock, Schiller . . . ) und doch von diesen abstoßen. Die später in Hölderlins großen Gesängen begegnenden Themen sind dabei bereits vorhanden. Sie werden in ihrer Vielfalt erstmals vorgestellt – und erweisen sich doch von Anfang an als von Formen des Verlustes bedroht. Der wachsend bewusst werdenden Gefahr des Zerfalls ihrer Bedeutung setzt Hölderlin Versuche der Rettung entgegen: die Beschreibung, die dem Kontingenten in unermüdlicher Aufzählung eine Sprache geben will (vgl. Die Meinige), die Bündelung verschiedener Momente in einem Wort (Nacht, Stille, Seele, Harmonie, Griechenland, Natur . . . )1, die Zusammenfügung einzelner Texte zu einer Sammlung, die sie aufbewahren und ihnen ein gedankliches Umfeld geben soll (Marbacher Quartheft)2 . Eine Verlusterfahrung ist dabei besonders hervorzuheben, weil sie für Jugendgedichte, wie man sie auch im Falle Hölderlins als stürmisch und wenig abgeklärt bezeichnen kann, auffällig erscheinen mag: der Verlust der Unmittelbarkeit. So sehr das erste Auftreten von Motiven, Themen und Gegenständen den Charakter der Unmittelbarkeit hat, so sehr wird dieser auch wieder zurückgenommen. Diese Rücknahme vollzieht sich jedoch nicht in der Erstellung komplexer Vermittlungsstrukturen, sondern in der Dichtung von Sphären, womit den einzelnen Gegenständen ein Umfeld, ein Bedeutungs- und Resonanzraum gegeben wird (vgl. besonders Die Nacht, Hymnus an die Göttin der Harmonie). Dahinter steht der Gedanke der Rettung des gefährdeten Unmittelbaren, dem im Rahmen der Sphäre wieder ein Aufenthalt ermöglicht werden soll. Von besonderer Relevanz erweist sich die Thematik von Unmittelbarkeit und Vermittlung in einer Sphäre gerade dann, wenn es um die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch geht.

1

Vgl. dazu im Folgenden die entsprechenden Gedichte: Die Nacht, Die Stille, Die Unsterblichkeit der Seele, Hymnus an die Göttin der Harmonie, Griechenland, An die Natur. 2 Für Hinweise zur Logik von Textsammlungen danke ich Johannes Deibl. 4. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J.H. Deibl, Abschied und Offenbarung, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04888-2_2

41

42 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Neben der Vorstellung wichtiger Motive, die diese Arbeit begleiten werden, sowie dem Aufzeigen der Spannung von Erfahrungen des Verlustes und Versuchen des Umgangs damit, wird im folgenden Kapitel besonders der die Gedichte prägende Charakter des Sich-Adressierens deutlich gemacht, der in Gestalt der Widmung (M. G., Hymnus an die Göttin der Harmonie, Griechenland. An Stäudlin, An die Natur), der Anrede (Die Nacht, Die Meinige) und des Gebetes (M. G., Die Meinige) begegnen kann.

2.1 Die Frage nach Gott und dem Menschen als Ausgangspunkt von Hölderlins Werk: M. G. und Die Nacht Ausgangspunkt der Dichtung im Gebet: M. G. In der Frage nach Gott und Mensch kann ein wesentlicher Ausgangspunkt von Hölderlins dichterischem Schreiben gesehen werden, wie sich in M. G., einem der frühesten Jugendgedichte Hölderlins, auf eindrückliche Weise zeigt. Dieses Gedicht weist einen höchst kunstvollen Aufbau auf und ist als Dichtung im vollen Sinn ernst zu nehmen. M. G. Herr! was bist du, was Menschenkinder? Jehova du, wir schwache Sünder, Und Engel sinds die, Herr, dir dienen, Wo ewger Lohn, wo Seeligkeiten, krönen. Wir aber sind es, die gefallen, Die sträflich deiner Güte Straalen In Grim verwandelt, Heil verscherzet, Durch das der Hölle Todt nicht schmerzet. Und doch o Herr! erlaubst du Sündern, Dein Heil zu sehn, wie Väter Kindern, Ertheilst du deine Himmelsgaben, Die uns, nach Gnade dürstend, laben. Rufft dein Kind Abba, rufft es Vater, So bist du Helffer, du Berather, Wann Todt und Hölle tobend krachen, So eilst als Vater du zu wachen.

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10

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Der Titel des Gedichtes stellt eine Widmung dar, welche Abbreviation und Überschreitung in äußerster Form in sich vereinigt: M. G. steht wohl für Meinem

2.1 Die Frage nach Gott und dem Menschen als Ausgangspunkt von Hölderlins Werk

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Gott(e).3 Gott als das schlechthin transzendierende Moment erscheint in extremer Verknappung der Sprache gerade noch als Andeutung vor dem Verschwinden. Kommt darin eine Vorsicht und Scheu zum Ausdruck, den Höchsten zu nennen? Man könnte auch sagen, dass an dieser Stelle Klarheit und Rückzug in eins fallen: Klarheit, weil der Name Gottes wie der einzige denkbare Adressat erscheint, den man nicht einmal auszusprechen braucht; Rückzug, weil die Abkürzung auch unendlich vieles andere bedeuten könnte. Die Widmung an Gott führt zu weitreichenden Fragen: Haben all die Widmungen in den folgenden Gedichten Hölderlins Anteil an diesem Sich-Adressieren, welches jeden bestimmten Adressaten übersteigt? Wird die Widmung dieses Gedichtes gleichsam zur tragenden Welle aller anderen Widmungen? Was bedeutet die strukturelle Nähe von Gebet und Gedicht für Hölderlins Dichtung? Muss diese nicht zuletzt auch aus dem Gebet verstanden werden?4 Was sich im Titel verhalten ankündigt, setzt sich im ersten Wort des Gedichts, der Anrede Gottes („Herr!“, V 1), fort. Diese macht deutlich, dass es sich beim Gedicht auch um ein Gebet handelt. Sie eröffnet einen Sprachraum, der Gedicht und Gebet ununterscheidbar sein lässt. Durch alle Strophen hindurch bleibt die Anrede präsent im „du“ (V 1), „Jehova du“ (V 2), „Herr dir“ (V 3), „deiner Güte“ (V 6), „o Herr! erlaubst du“ (V 9), „Dein Heil“ (V 10), „du deine“ (V 11), „Rufft dein Kind Abba, rufft es Vater“ (V 13), „du Helffer, du Berather“ (V 14), „als Vater du“ (V 16). Der erste Vers des Gedichtes bezieht sich auf Gott und den Menschen: „Herr! Was bist du, was Menschenkinder?“ (V 1) In einem Atemzug, bevor sich der Fluss des Gedichtes an der ersten Versgrenze zum ersten Mal wendet, begegnen Anruf („Herr“!) und Frage, wobei der Anruf Gott gilt, die Frage Gott und den Menschen („Was bist du, was Menschenkinder?“). Die beiden Teile der Frage rücken aufs Engste zusammen, das Tempo nimmt im Übergang vom ersten zum zweiten zu, zumal der zweite nicht mehr vollständig ausgesprochen wird. Er erscheint in extremer Verkürzung, ihm fehlen Verb und Artikel. Vollständig müsste die Frage lauten: „Was bist du und was sind die Menschenkinder?“ Die Frage nach den Menschenkindern hat – ohne eigenes Verb – Anteil am Verb, das die Frage nach Gott begleitet („bist“), obwohl dies grammatikalisch nicht korrekt ist. Der Aspekt des dynamisierend Verbalen fällt auf die Seite Gottes; die Not prekärer Verkürzung der Rede, der nicht mehr genug Zeit bleibt, zumal das Gedicht sich zum ersten Mal wendet, liegt auf der Seite der Menschen. Aus dem Versuch, die Frage zu stellen, was die Menschenkinder, d. h. die Menschen in ihrem Menschsein sind, wird deutlich, dass bereits dieses frühe Gedicht einen Raum des Allgemeinen sucht. Das Gedicht/Gebet beginnt damit, dass es die Frage nach Gott und dem Menschen aufs Engste miteinander verbindet. Wie gestaltet sich die Antwort darauf? Der zweite Vers richtet sich erneut an Gott und spricht auch wieder die Menschen an. Waren im ersten Vers beide noch in einem Atemzug genannt, so tritt zwischen sie nun eine deutliche Zäsur, die einen Abstand erkennbar werden lässt: Jehova du – wir schwache Sünder. Aus Menschenkindern (V 1) sind nun die „schwachen Sün3 4

BA I, 71 f. Vgl. Böhm, Hölderlin 1, 7.

44 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

der“ (V 2) geworden, wobei sich das Moment der Verfallenheit – bedenkt man die biblischen Konnotationen5 – in „Menschenkinder“ schon angedeutet hatte. An dieser Stelle bricht die Antwort ab. Der Satz bleibt unvollständig ohne die Bewegung eines Verbs, er hat lediglich deiktischen Charakter und verharrt an der Schwelle zur Sprachlichkeit: Jehova du – wir schwache Sünder. Es gibt zunächst keine sprachliche Entwicklungsmöglichkeit, keine Dynamisierung durch ein Verb, welche an dieser Stelle, an der der Abstand zwischen Gott und Mensch so deutlich aufklafft, weiterzutragen vermag. Das Gedicht verbliebe in Bewegungslosigkeit, würde nicht der Umschlag des Verses ein Ende der Fixierung auf das bloß Deiktische bedeuten. Was nun in der zwischen Gott und Mensch aufgerissenen Kluft weiterzutragen vermag, sind die Engel, die klassisch als die Begleiter in jenem Bereich zwischen Gott und den Menschen gelten. Unerwartet und ohne Vorbereitung werden sie eingeführt mit „Und Engel sinds . . . “ (V 3) und treten an jene Stelle, an der sich von Seiten des Menschen nichts mehr aussagen ließe. Durch die vermittelnde Rolle der Engel kann dann das Gedicht/Gebet in der zweiten Strophe die zuerst in Vers 2 abgebrochene Antwort wieder aufnehmen. „Wir aber sind es, die gefallen“ (V 5), führt „wir schwache Sünder“ (V 2) weiter und vermag nun über das bloß Deiktische hinausgehend die Rede vom Menschen in einen Satz mit erläuternden Relativsätzen zu integrieren. Wie sehr der in einem Bekenntnis erfolgende Neueinstieg in der zweiten Strophe noch von der vermittelnden Rolle der Engel abhängt, zeigt die analoge Einleitung der Rede von den Engeln und den Menschen: „Und Engel sinds“ (V 3) / „Wir aber sind es“ (V 5). Lediglich im Wort „aber“ (V 5) deutet sich eine Verschiebung an. Die gefallenen Menschen werden hier unter dem Gesichtspunkt eines umfassenden Verlustes der Nähe zu Gott betrachtet, was sich in der Wendung vom verscherzten Heil („Heil verscherzet“, V 7) ausdrückt. Damit wird nicht nur das Bild einer zeitweiligen Entfernung von Gott angesprochen, sondern ein Herausfallen aus der Ökonomie, dem Raum des Heiles überhaupt. Die verwirkte Beziehung Gottes zu den Menschen wird noch mit einem andern Terminus bezeichnet, der in den Gedichten Hölderlins ab etwa 1800 eine entscheidende Rolle spielen wird, wenn es darum geht, den Charakter der Verbindung von Göttlichem und Menschlichem zum Ausdruck zu bringen, nämlich dem Wort Strahl: „Die sträflich deiner Güte Straalen / In Grim verwandelt“ (V 6 f.). Vor dem Hintergrund der Verlusterfahrung des verscherzten Heils und der Verwandlung der Strahlen der Güte in Grimm ist das Erstaunen ob der Zuwendung Gottes zu sehen, mit dem die dritte Strophe beginnt. Das deiktische „wir schwache Sünder“ (V 2), das zur Anerkenntnis des Verlustes des Heils („Wir aber sind es, die gefallen“, V 5) geworden ist, wandelt sich nun zum Bild eines neuen Lebens der Sünder: „Und doch o Herr! erlaubst du Sündern, / Dein Heil zu sehn“ (V 9 f.). Auf die Frage, was denn die Menschenkinder seien, hat sich eine erste sprachlichtheologische Antwort ergeben: Sie sind sprachliche Wesen, weil sie aus dem bloß Deiktischen wieder in den Bereich der Sprache geführt werden, und sie sind schwache Menschen, die ihr Heil verloren haben, aber dennoch von Gott in den Raum des 5

„Menschenkind“ ist die Übersetzung des hebräischen „Ben Adam“, worin Bedrohtheit, Sündenverfallenheit und Sterblichkeit des Menschen anklingen.

2.1 Die Frage nach Gott und dem Menschen als Ausgangspunkt von Hölderlins Werk

45

Heils zurückgebracht werden. Mit der Antwort auf die Frage, was die Menschen seien, ist gleichzeitig auch eine Bestimmung verbunden, wer Gott sei. Er erscheint als Vater, der seine Kinder in ihrer Verlorenheit annimmt und als ein Geber von „Himmelsgaben“ (V 11) für die Dürstenden, d. h. für die in einer Erfahrung des Mangels und der Angewiesenheit Stehenden. Die vierte Strophe, auf die das Gedicht/Gebet zuläuft, führt die sprachlichtheologische Bestimmung des Menschen weiter und gelangt dabei auch zu einer über die unmittelbar religiöse Rede hinausgehenden Dimension der Reflexion. An ihrem Beginn steht erneut eine Anrede Gottes, welche nun aber selbst die Situation des Anrufes Gottes reflektiert: „Rufft dein Kind Abba, rufft es Vater“ (V 13). Im Gedicht/Gebet bezieht sich der Betende mithin auf die Situation des Gebetes zurück, wird das Motiv des Gebetes selbst thematisch. Dass es sich hier zweifellos um eine zentrale Stelle des Textes handelt, zeigt die Wiederholung der Rede vom Anruf Gottes: „Rufft dein Kind Abba“ wird in genau paralleler Weise weitergeführt mit „rufft es Vater“, wobei die biblische Diktion „Abba“ eine Übersetzung erfährt. Vater und Kind, Gott und Mensch, erscheinen nach ihrem Auseinanderfallen, welches mit dem zweiten Vers begonnen hat, wieder in einer Satzkonstruktion vereinigt, wobei jedoch keine unmittelbare Rückkehr zum Anfang des Gedichtes erfolgt. Waren dort Gott und Mensch noch in einem unmittelbaren Nebeneinander angeführt, so sind sie nun in einer komplexeren Weise in eine Satzkonstruktion verwoben. Sämtliche Wörter der Wendung „Rufft dein Kind Abba“ drücken die neu erfahrene Bezogenheit von Gott und Mensch aus: Das Rufen ist ein Sich-Adressieren des Menschen an Gott, das „dein“ ein Übereignen an ihn, „Kind“ und „Abba“ sind überhaupt nur als relationale, aufeinander verwiesene Begriffe zu denken. Im Gedicht/Gebet zeigt sich eine reflexive Struktur, die zu einer Bestimmung des Menschen als des Wesens wird, das in eine reflexive Bewegung über das Gebet und damit über eine grundlegende Sprachform (bzw. über die Sprache als solche) eintritt. Gleichzeitig mit der Bestimmung des Menschen aus einer Struktur der Reflexion heraus wird auch eine weitere Bestimmung Gottes gegeben – er begegnet als derjenige, der Not hört und zu Hilfe eilt (V 13, 16), als „Helffer“ und „Berather“ (V 14) und vor allem als Wächter im Chaos von Tod und Hölle (V 15 f.). Ein besonderer Akzent liegt dabei auf dem Motiv des Wachens, welches das letzte Wort des Gedichtes/Gebetes bildet.

Schatten und Übergang: Die Nacht Mit dem Motiv des Wachens ist das Stichwort gegeben, um auf ein weiteres Gedicht aus der Jugendzeit überzuleiten, welches mit Die Nacht betitelt ist und aus dem Jahr 1785 stammt. Wachen verweist auf den Übergang zwischen zwei Zeiten, der am deutlichsten am Beginn und am Ende der Nacht erfahrbar wird. Diese Zeit des Übergangs erhält in der Dichtung eine genauere Ausgestaltung.

46 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen D IE NACHT . Seyd gegrüßt, ihr zufluchtsvolle Schatten, Ihr Fluren, die ihr einsam um mich ruht; Du stiller Mond, du hörst, nicht wie Verläumder lauren, Mein Herz, entzükt von deinem Perlenglanz. Aus der Welt, wo tolle Thoren spotten, Um leere Schattenbilder sich bemühn, Flieht der zu euch, der nicht das schimmernde Getümmel Der eitlen Welt, nein! nur die Tugend liebt. Nur bei dir empfindt auch hier die Seele; Wie göttlich sie dereinst wird seyn, Die Freude, deren falschem Schein so viel Altäre, So viele Opfer hier gewidmet sind. Weit hinauf, weit über euch, ihr Sterne, Geht sie entzükt mit heilgem Seraphsflug; Sieht über euch herab mit göttlich heilgem Blike, Auf ihre Erd, da wo sie schlummernd ruht . . .

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[. . . ]

Als Gegenüber, an welches sich der Dichter adressiert, erscheinen „zufluchtsvolle Schatten“ (V 1). Sie sind Übergangsgestalten an der Schwelle von Licht und Dunkel, Realität und Idee, Erscheinung ohne Materie, Gestalt ohne eigene Substanzialität. In ihrem nicht fixierbaren Status stellen sie ein Gegenüber dar, welches durch die Nacht geleiten kann („zufluchtsvolle“, V 1). Nach dem Sich-Adressieren an die Schatten vermögen sich Konturen einer nächtlichen Landschaft im Übergang zu entfalten, wobei diese Landschaft, abgesehen vom poetischen Ich, noch menschenleer ist: „Fluren“ (V 2) ruhen um das Ich, womit eine rudimentäre Form von Räumlichkeit als um . . . herum gegeben ist – man könnte von einer Sphäre sprechen, in welche das Ich und der Leser, die Leserin hineingenommen werden. Die Verse drei und vier erzählen, wie in jenem um . . . herum eine erste Form von Begegnung entsteht: Der stille Mond (V 3) hört (anders als die Verleumder, die nicht zu hören vermögen) auf das Herz des Dichters, welches sich über den Glanz des matten Mondlichtes, das die Umgegend erleuchtet, freut (V 4). Mit Blick auf die Welt (2. Strophe), die von Spott und Eitelkeit geprägt ist, ändern die Schatten, zuvor noch zufluchtsvoll, ihre Bedeutung: Sie sind nun „leere Schattenbilder“ (V 6). Genannt wird ein unruhiges Lichtphänomen, ein Schimmern („schimmernde Getümmel“, V 7), welches dem matten, die nächtliche Landschaft erhellenden Mondlicht und dem mit ihm assoziierten „Perlenglanz“ entgegensteht (V 4). Die Abhebung von der „eitlen Welt“ (V 8) eröffnet (in der dritten Strophe) eine neue Landschaft, die der empfindenden Seele (V 9), sowie eine neue zeitliche

2.1 Die Frage nach Gott und dem Menschen als Ausgangspunkt von Hölderlins Werk

47

Dimension: Aus der bisherigen Zeitlosigkeit entsteht die Gespanntheit auf Zukunft hin („dereinst“, V 10), die Seele wird göttlichen Charakter haben. Dies lässt sich jedoch nicht allein aus der Abhebung von der eitlen Welt begründen, sondern bedarf einer Entfaltung, welche in der folgenden Strophe nachgeliefert wird. Die vierte Strophe erweitert das bisher geschilderte um . . . herum um die räumliche Dimension des Aufstieges, der mit Blick auf die Gestalt der Engel als „Seraphsflug“ (V 14) bezeichnet wird: „Weit hinauf, weit über euch“ (V 13). Diese Bewegung ist nicht statisch, wie die bisher waltende räumliche Ausgedehntheit, sondern dynamisch („weit über . . . “, V 13). Sie ermöglicht es der Imaginationskraft, über einen aktuell anvisierten Punkt noch hinauszugehen. So weitet sich auch die bisherige Konzentration auf die stille Lichtquelle des Mondes („Du stiller Mond“, V 3) zur Pluralität der Sterne (V 13), an die sich der Dichter nun wendet. Die sich ihrer Göttlichkeit und Tugendhaftigkeit (V 8) bewusst werdende Seele (V 9) überragt auch noch die Sterne. Damit erwächst aus dem unsicheren, schaurigen Raum der Nacht ein Gefühl, das entfernt an das Erhabene Kants erinnert. In der zweiten Hälfte der vierten Strophe kehrt sich die Blickrichtung um: Über die Sterne hinweg geht der göttlich heilige Blick der Seele (V 15) zurück auf die Erde, wo ihr eigentlicher Ort ist („wo sie schlummernd ruht . . . “, V 16). Im Gefühl des Erhabenen, dem Aufstieg der Seele und ihrer Rückwendung auf sich, ereignet sich eine Blickumkehr, die zu einer Form der Selbstreflexion führt, wendet sich doch die Seele auf sich selbst zurück. Der häufige Wechsel des Sich-Adressierens – zuerst an die Schatten, dann an den Mond, die Tugend (V 9, später auch V 19) und die Sterne – hängt wohl auch damit zusammen, dass es in den ersten vier Strophen des Gedichtes noch keine stabile Ich-Instanz gibt, welche sich einem Gegenüber dauerhaft zuwenden könnte. Vielmehr müssen diese Strophen als ein Sich-Ausbilden von Subjektivität gelesen werden, das erst in der Rückwendung der Bewegung der Selbstreflexion einen Ruhepunkt erreicht. Die zweite Hälfte des Gedichtes (Strophe V–VIII), führt – teilweise mit Bezug auf Mt 25 – vor, wie sich die zuvor im Gedichtes als selbstreflexiv konstituiert habende Seele die Aufgabe hat, sich der Anderen anzunehmen: „doch spricht er, gab Gott seine Gaben / Nur mir? nein auch für andre lebe ich.–“ (VV 23 f.).  Mit diesen beiden Gedichten aus frühester Jugendzeit stehen wesentliche Momente vor Augen, welche das Schaffen Hölderlins fortan begleiten werden: Dichtung ist sich adressierende Rede und wartet auf eine Antwort. Konkret ist das erste Gedicht an Gott adressiert und fragt nach dem Verhältnis von Gott und Mensch, wohingegen sich das zweite an wechselnde Instanzen wendet. In beiden Gedichten sind die Pole des Gespräches keineswegs als fixiert zu denken, sondern können in ihrer Bedeutung erst aus dem Gedicht erkannt werden: Wer Gott und wer die Menschenkinder (die Seele, das Ich) sind, zeigt sich erst im Durchgang durch den Text. Der Weg des Textes erweist sich bereits in diesen Gedichten anfanghaft als Konstitution einer Form von Subjektivität bzw. Selbstreflexivität. All diesen Momenten entspricht, dass die Dichtung Hölderlins nicht in erster Linie von Befindlichkeiten geprägt ist,

48 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

sondern einen Raum des Allgemeinen aufspannt und sprachliche Sphären dichten möchte, in welchen sämtliche Gegenstände und Gestalten eines Gedichtes vorkommen können. Die Beziehung von Gott und Mensch, die zur Frage wird, findet einen zusammenfassenden Ausdruck im Terminus „Strahl“. Darin kann auch bereits der Versuch gesehen werden, in einem Wort, einem Ausdruck gesammelt eine Erfahrungswelt zur Sprache zu bringen. Das Sich-Adressieren an Gott weist auf eine Nähe von Gedicht und Gebet hin, welche diese beiden Sprachformen ineinander übergehen lässt: Hölderlins Dichtung hat einen Ausgangspunkt im Gebet. Die Motive des Wachens und der Nacht hängen mit einer Form des Übergangs zweier Zeiten zusammen, welcher durch die Dichtung eine besondere Gestaltung erfahren soll: Nicht die „Orte“ ungetrübter Helle und eindeutiger Identifikation sucht Hölderlins Dichtung, sondern die einer gewissen Zurücknahme und noch nicht festgesetzten Identität.

2.2 Verlust der Unmittelbarkeit: Die Meinige und Die Unsterblichkeit der Seele Einen Teil seiner frühen Gedichte ordnet Hölderlin im Marbacher Quartheft an. Das Konvolut enthält siebzehn Gedichte aus den Jahren 1786 bis 1788. Zumal es sich dabei um eine Sammlung in Reinschrift von zuvor schon bestehenden Texten handelt, kann darauf geschlossen werden, dass der dichterische Ausdruck hier bereits aus dem Stadium des Versuches in eine erste Form der Dauerhaftigkeit übergegangen ist.6

Die Unmittelbarkeit des Augenblicks und das Gebet: Die Meinige Eröffnet wird das Quartheft in der heute vorliegenden Form durch das umfangreiche Gedicht Die Meinige (Plural für Die Meinigen) aus dem Jahr 1786, das Bruno Liebrucks wie folgt zusammenfasst: „Es ist als ein Gebet anzusehen, in das die Angehörigen eingeschlossen sind.“7 Dies machen besonders die ersten beiden der 22 Strophen deutlich, die als ein Prolog für das Gedicht/Gebet gedeutet werden können. Die erste Strophe lautet: D IE M EINIGE . 1786. Herr der Welten! der du deinen Menschen Leuchten läßst so liebevoll dein Angesicht, Lächle, Herr der Welten! auch des Betters Erdenwünschen, O du weist es! sündig sind sie nicht. Ich will betten für die lieben Meinen

6 7

Vgl. StA I.2, 32 MA 23; BA II, 70–81, 86–89; TL 1559 f. Liebrucks, „Und“, 251.

5

2.2 Verlust der Unmittelbarkeit: Die Meinige und Die Unsterblichkeit der Seele

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Wie dein großer Sohn für seine Jünger bat – O auch Er, er konnte Menschentränen weinen, Wann er bettend für die Menschen vor dich trat – (Die Meinige, VV 1–8)

Wie in M. G. begegnen im ersten Vers des Gedichtes Gott und die Menschen, wieder setzt das Gedicht mit der Anrede „Herr“ ein und finden sich die „Menschen“ am Ende des Verses: Herr! was bist du, was Menschenkinder? (M. G., V 1) Herr der Welten! der du deinen Menschen (Die Meinige, V 1)

Anders als in M. G. wird, um die Beziehung Gottes und der Menschen auszusagen, nicht das Motiv des Strahls aufgegriffen, aber doch das ihm verwandte des liebevollen Leuchtens von Gottes Angesicht (V 2). Mit dem Bezug auf den sogenannten Aaronssegen – „DER HERR segene dich / vnd behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht leuchten vber dir / Vnd sey dir gnedig.“ (Num 6,24 f.)8 – wird das folgende Gedicht/Gebet als Segensgebet ausgewiesen, es ist Bitte um den Schutz Gottes für die „Meinen“ (V 5). Christus erscheint in den Versen fünf bis acht als Vorbild, insofern sein Gebet in der Gestalt der Fürbitte zwischen Gott und die Menschen tritt. Er nimmt die Rolle des Mittlers ein, der „für die Menschen“ (V 8) bittet. Damit zeigt sich im letzten Vers der Strophe noch einmal jener Horizont der Allgemeinheit, der bereits im ersten Vers deutlich geworden ist. Hervorgehoben seien sodann die Strophen XV und XVI, die sich in jenen Passagen finden, welche Hölderlins Bruder Carl gewidmet sind, mit dem er in den folgenden Jahren in brieflichem Austausch stand, nicht zuletzt über Fragen der Philosophie. Die beiden Strophen beschreiben, wie der Dichter selbst ins Gebet eintritt. Wie M. G. adressiert sich Die Meinige zunächst direkt als Gebet an Gott (besonders V 1), zeigt aber nach dem Prolog auch einen Weg zum Gebet, eine Form der Annäherung. Deren Schilderung ist, wie sich zeigen wird, auch mit einer Erfahrung des Verlustes verbunden. Und mein Carl – – o! Himmelsaugenblike! – O du Stunde stiller, frommer Seeligkeit! – Wohl ist mir! ich denke mich in jene Zeit zurüke – Gott! es war doch meine schönste Zeit. (O daß wiederkehrten diese Tage! O daß noch so unbewölkt des Jünglings Herz, Noch so harmlos wäre, noch so frei von Klage, Noch so ungetrübt von ungestümmem Schmerz!)

8

115

120

Vgl. auch Psalm 119: „Las dein Andlitz leuchten vber deinen Knecht / Vnd lere mich deine Rechte.“ (Ps 119,135).

50 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen Guter Carl! – in jenen schönen Tagen Saß ich einst mit dir am Nekkarstrand. Fröhlich sahen wir die Welle an das Ufer schlagen, Leiteten uns Bächlein durch den Sand. Endlich sah ich auf. Im Abendschimmer Stand der Strom. Ein heiliges Gefühl Bebte mir durchs Herz; und plözlich scherzt’ ich nimmer, Plözlich stand ich ernster auf vom Knabenspiel. (Die Meinige, VV 113–128)

125

Das Gedicht wendet sich in der Anrede an den Bruder Carl zurück in die Vergangenheit, was über eine ganze Strophe hin variiert wird, zunächst in der Beschreibung dieser Zeit als schönster Zeit (VV 113–116), sodann im Wunsch, dass jene Zeit wiederkehren möge (VV 117–120). Der Charakter des Rückblicks findet seinen zusammenfassend-reflektierten Ausdruck im Wort: „ich denke mich in jene Zeit zurüke“ (V 115). In der folgenden Strophe erfolgt zunächst eine Beschreibung äußerer, an sich peripherer Umstände, welche darauf hindeutet, dass nun eine Erfahrung von besonderer Dichte geschildert werden soll. Es handelt sich um eine Erfahrung, welche gerade nicht innerhalb der Koordinaten bisherigen Denkens gedeutet werden kann, sondern diese neu konfiguriert. Gerade weil sie begrifflich nicht ableitbar ist, erfolgt die Annäherung an sie in der Erzählung bloß nebensächlich scheinender äußerlicher Eindrücke: „in jenen schönen Tagen / Saß ich einst mit dir am Nekkarstrand.“ (VV 121 f.). Zeit und Ort sind benannt, es folgt die Schilderung des Gemütszustandes („Fröhlich“, V 123) sowie dessen, was zu beobachten war: Die Wellen schlagen an das Ufer (V 123), das ungebundene Fließen des Stromes erfährt eine Grenze, was von den beiden Brüdern im Spiel nachgeahmt wird, indem sie Bächlein durch den Sand leiten (V 124). Der Strom bisherigen Erlebens wird unterbrochen durch ein Aufblicken, welches, obzwar unableitbar, im Rückblick wie ein schon lange ersehntes erscheint: „Endlich sah ich auf.“ (V 125) „Im Abendschimmer“ (V 125), d. h. in einer Situation des Überganges vom Tag zur Nacht und von der Helle zum Dunkel, „Stand der Strom“ (V 126). Die damit verbundene Unterbrechung des Fließens (des Flusses wie auch des Zeit-Flusses) wird durch das Sich-Wenden der Zeile nach „Im Abendschimmer“ noch verstärkt. Das Erratische des angehaltenen Flusses wird lautlich unterstützt durch die Alliteration der beiden einsilbigen Wörter „Stand“ und „Strom“. Dieser objektive Ausdruck höchster Dichte erfährt im nächsten Satz eine erste Deutung, welche sich aus der absoluten Gleichzeitigkeit und Gegenwart des stehenden Stromes wieder lösen muss, um das Geschehen gleichwohl als Erfahrung zu erhalten und mitteilbar zu machen: „Ein heiliges Gefühl / Bebte mir durchs Herz“ (V 126 f.). Die Affektivität als solche („Herz“) beginnt sich neu zu ordnen. Aus dem Scherz des Spiels geht der Ernst einer neuen Erfahrung hervor. Wie verspätet, wird nun zweimal das Wort „plötzlich“ im Nachhinein gesetzt, als es schon nicht mehr an der Zeit ist. Einen ähnlich paradoxen Charakter wie dieser Anachronismus hat auch die Verdoppelung („plötzlich [. . . ] / Plötzlich“), zumal gerade dieses temporale Adverb der Ausdruck einer Einmaligkeit ist, die nicht wiederholt werden kann. Die zweimalige Verwendung von „plötzlich“ vermag nicht den Stillstand des Stro-

2.2 Verlust der Unmittelbarkeit: Die Meinige und Die Unsterblichkeit der Seele

51

mes anzuzeigen (dieser bedarf keiner zusätzlichen erklärenden oder verstärkenden Worte), sondern findet sich versetzt dorthin, wo es um den Eintritt in den Raum einer neuen Erfahrung geht. Erst jetzt beginnen wieder zeitliche Dimensionen zu greifen. Die Antwort auf dieses Geschehen findet sich in der folgenden Strophe. Die adäquate Sprache dafür ist das Gebet: „wir wollen betten!“ (V 129) Die Schilderung dieser mystischen Erfahrung muss auch als ein Verlust gelesen werden. Mitteilbar ist sie nämlich erst aus der Distanz, als eine Erfahrung der Vergangenheit. Nur einen Satz lang („Im Abendschimmer / Stand der Strom.“ VV 125 f.) vermag sich das Bewusstsein auf der Ebene der Zeitlosigkeit völliger Präsenz zu halten. Der erfüllte Augenblick ist immer schon in eine Vergangenheit übergegangen und vermag lediglich nachträglich verbalisiert zu werden. Zweierlei ist davon für ein Verständnis von Hölderlins Dichtung abzuleiten: 1) Von nun an gilt es besonders darauf Acht zu haben, wie gerade die zeitlichen Verschiebungen, welche aus einer momenthaft und unmittelbar erfahrenen Gegenwart hinausführen, in Hölderlins Gedichten versprachlicht werden. Sie sind Ausdruck eines diffizil gestalteten Zeitbewusstseins. 2) Das unmittelbare Stehen in einem Geschehen und der unmittelbare Zugang zu Phänomenen, die in der Dichtung ihre Versprachlichung finden sollen, weicht Formen einer Vermittlung von Unmittelbarkeit und Vermittlung. Das Auftreten der Unmittelbarkeit von etwas Begegnendem muss eine Gestaltung erfahren, seine Thematisierung bedarf einer entsprechenden, mitunter sehr langsamen Annäherung. Diese sehr früh in Hölderlins Dichtung erreichte Einsicht muss jedoch, wie die Dichtung der auf Die Meinige folgenden Jahre zeigt, selbst erst einen adäquaten Ausdruck finden. Zu unmittelbar geht sie bisweilen auf ihren Gegenstand zu, zu ungebrochen meint sie, ihn unmittelbar zur Darstellung bringen zu können. Die Meinige stellt erst den Eintritt in einen Lernprozess dar.

Das Sich-Erheben des Menschen: Die Unsterblichkeit der Seele Ein hervorragendes Beispiel der schon in dieser Zeit erreichten Größe der Dichtung Hölderlins ist Die Unsterblichkeit der Seele, ebenfalls im Marbacher Quartheft zu finden und auf 1788 datiert. Das Gedicht führt das in Die Nacht noch sehr rudimentär auftretende Motiv der Seele in wesentlich differenzierterer Weise aus. Die Unsterblichkeit der Seele umfasst dreißig Strophen zu je vier Versen und hat ihre Grundaussage in dem Satz: „Ewig ist, ewig des Menschen Seele.“ (V 36), der nach langer Vorbereitung am Ende der neunten Strophe auftritt und am Ende der vorletzten Strophe wiederholt wird (V 116). In variierter Form tritt er auch in der zwanzigsten Strophe auf, wenn es heißt: „Dann ewig ist sie – tönt es nach ihr / Harfen des Himmels, des Menschen Seele.“ (V 79 f.). Im Folgenden wird diese Grundaussage des Gedichtes als strukturierendes Moment betrachtet, welches den Text in drei annähernd gleich lange Teile (VV 1–36; 37–80; 81–120) untergliedert, an deren Ende jeweils die Aussage über die Ewigkeit der Seele steht. Sie bedarf, um ausgesprochen zu werden, stets einer Form der Annäherung – der Dichter steht nicht unmittelbar in der Sphäre der Ewigkeit. Vielmehr stellt sich die Frage, wie diese überhaupt in der Sprache des Gedichtes gefasst werden kann.

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2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Die ersten drei Strophen (VV 1–12) zeigen das Ich des Dichters inmitten einer morgendlich erwachenden Landschaft, um abschließend erstmals die Seele hervortreten zu lassen als eine, die sich noch schöner freue als die erwachende Natur, zumal sie nicht in Vernichtung untergehe (VV 11 f.). Die darauffolgenden drei Strophen (VV 13–24) führen die Darstellung der Seele weiter. Sie nehmen nicht mehr bei der Natur ihren Ausgangspunkt, sondern bei „Adams Geschlechte“ (V 13), d. h. beim von Gott geschaffenen, doch schuldbeladenen Menschen, der sich anbetend Gott wieder zuwendet (VV 15 f.). „Adams Geschlechte“ erinnert an die Wendung „Menschenkinder“ aus M. G. (V 1), „Adam“ ist Symbol für die in Frage stehende Verbindung des Menschen mit Gott. Die Seele gelangt an dieser Stelle in den Blick als eine, die „sich zu Gott erhebt“ (Die Unsterblichkeit der Seele, V 20; vgl. V 24). Damit ist ein wesentliches Moment der Dichtung Hölderlins angesprochen: In vielen Anläufen ist sie – durch alle Phasen hindurch – Erzählung, in welcher gegenüber allen den Menschen annihilierenden Kräften eine Bewegung des SichErhebens statthaben soll, was nicht bloß beschrieben wird, sondern sich in der Dichtung ereignen soll. Darin ist, wie sich schon bei M. G. gezeigt hat, Hölderlins Dichtung dem Gebet, besonders dem Psalmengebet, verwandt. Als Ziel des Gedichtes erscheint es, in jenem Akt des Sich-Erhebens die Seele in „Klarheit [. . . ] zu denken“ (V 23). Die letzten drei Strophen des ersten Teils (VV 1–36) leiten über zur ersten Erwähnung des Motives der Ewigkeit der Seele, mit welchem dieser Teil abschließt: Ha! diese Eiche – streket die stolze nicht Ihr Haupt empor, als stünde sie ewig so? Und drohte nicht Jehovas Donner, Niederzuschmettern die stolze Eiche? Ha! diese Felsen – bliken die stolze nicht Hinab ins Thal, als blieben sie ewig so? Jahrhunderte – und an der Stelle Malmet der Wandrer zu Staub das Sandkorn. Und meine Seele – wo ist dein Stachel, Todt? O beugt euch, Felsen! neiget euch ehrfurchtsvoll, Ihr stolze Eichen! – hörts und beugt euch! Ewig ist, ewig des Menschen Seele. (Die Unsterblichkeit der Seele, VV 25–36)

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Diese drei Strophen führen in Bildern sich steigernder Dauerhaftigkeit von der vegetativen Natur, der stolzen Eiche (VV 25–28), über die unbelebte Natur, die stolzen Felsen (V 29–32), zur Seele, die – wie mit Anspielung auf 1 Kor 15,55 ausgeführt wird – im Tod nicht untergeht (VV 33–36). Deiktisch wird in den ersten Worten der drei Strophen mit „diese“ auf Eiche und Felsen, possessiv dann auf die Seele verwiesen. Aus dem Von-sich-weg-Zeigenden des „diese“ entsteht in einem Akt der Subjektivierung die Rückwendung auf das Meine, das Selbst, was die Basis abgibt, um dann objektiv über „des Menschen Seele“ (V 36) zu sprechen. Das Ge-

2.2 Verlust der Unmittelbarkeit: Die Meinige und Die Unsterblichkeit der Seele

53

dicht bleibt nicht stehen bei einem Akt höchster Subjektivität, die sich als eine neue Unmittelbarkeit („Und meine Seele“, V 33) aus der Überlegung über die Dauerhaftigkeit von Eiche und Felsen ergeben hat, sondern führt zu einer allgemeinen Aussage, die – sich ablösend von der Unmittelbarkeit – wieder in einen Raum der Vermittlung eintritt. Mithin ist es in Hölderlins Gedicht nicht um eine Selbstversicherung der Unsterblichkeit des Menschen zu tun, die es aller kantischen Kritik zum Trotz als unmittelbar gegeben annähme, sondern um die Suche nach einer allgemeinen Mitteilbarkeit eines Gedankens, der das Ich, den Dichter, in seiner innersten Unmittelbarkeit ausmacht. Eiche und Felsen wird schließlich wie von einem Herold die Ewigkeit der Seele verkündet: „Ewig ist, ewig des Menschen Seele.“ (V 36). Damit ist über einen Anweg von neun Strophen die zentrale Aussage des Gedichtes erreicht, bei der noch ein Augenblick zu verweilen ist. Der erste Teil des Satzes „Ewig ist“ wirkt zunächst wie ein abgebrochener unvollständiger Satz, der dann seine Fortsetzung findet: „ewig des Menschen Seele“. Durch die Wiederaufnahme des „ewig“ kommt es zu einer Verlangsamung innerhalb des Verses. Die Aufmerksamkeit fällt ganz auf das „ist“, welches zwischen die Worte „ewig“ gesetzt ist: Die Ewigkeit der Seele ist nicht allein Postulat, wie bei Kant, sondern wird im Modus des Seins ausgesagt. Allerdings will Hölderlin nicht hinter die kritische Wende Kants zurückgehen. Die Aussage von der Unsterblichkeit der Seele tritt auch bei Hölderlin nicht als unvermittelte Behauptung oder Gegenstandbestimmung auf: So findet sich etwa die Seele als grammatikalisches Subjekt des Satzes erst an der letzten Stelle des Verses, verzögert noch durch einen ihr vorangestellten Genitiv („des Menschen Seele“). Der entsprechende Vers des Gedichtes (1) unterscheidet sich durch seine Gestaltung (zweimaliger Neueinsatz mit „ewig“, Verlangsamung, Voranstellung des Genitivs, Auftreten des Subjektes erst an letzter Stelle des Verses) grundsätzlich von einer propositionalen Aussage (2): (1) Ewig ist, ewig des Menschen Seele. (2) Die Seele des Menschen ist ewig.

Es geht nicht darum, der Seele eine objektive Gegenstandsbestimmung zu geben, welche deren Ewigkeit als Prädikat aussagte. Neben dem kantischen Versuch, die Seele als ein Postulat der praktischen Vernunft zu fassen, sieht Hölderlin vielmehr den Weg einer ästhetischen Vermittlung. Er spricht in Form des Gedichtes, die – wiederum in kantischer Diktion gesprochen – eher in den Bereich ästhetischer Urteile fallen würde, d. h. Urteile, welche nicht der Gegenstandsbestimmung dienen, sondern den Bezug einer Vorstellung auf das Subjekt (als Allgemeines) zum Ausdruck bringen. In einem zweiten Teil, in welchem sich das Gedicht in einem neuen Anlauf dem Motiv der Ewigkeit der Seele annähert (VV 37–80), nimmt Hölderlin die Bilder des Sturmes, des Ozeans9 und der Sonne auf. Sie alle verblassen vor dem Tag (VV 43 f.; 9

An dieser Stelle könnte man an Kants Ausführungen zum Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft denken.

54 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

58; 70 f.), an welchem die verwesten Gebeine (vgl. V 43 f.; Ez 37) gesammelt werden und sich die Unsterblichkeit der Seele zeigt. Betrachten wir aus dem dritten Teil (VV 81–120), der erneut auf die refrainartige Wiederholung der Worte von der Ewigkeit der Seele zielt, die letzten beiden Strophen, die auch den Schluss des Gedichtes darstellen, genauer: Doch nein! der Seele Jubel ist Ewigkeit! Jehovah sprachs, ihr Jubel ist Ewigkeit! Sein Wort ist ewig, wie sein Nahme, Ewig ist, ewig des Menschen Seele. So singt ihn nach, ihr Menschengeschlechte! nach Myriaden Seelen singet den Jubel nach – Ich glaube meinem Gott, und schau’ in Himmelsentzükungen meine Größe. (Die Unsterblichkeit der Seele, VV 113–120)

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Die Ewigkeit der Seele (bzw. ihres Jubels) hat ihren Grund in der Zusage Gottes (V 114), sie muss von Gott selbst ausgesprochen werden. Sie ist Abbild der Ewigkeit des göttlichen Wortes wie auch SEINES Namens (VV 115 f.) und lässt sich von Hölderlin nur als deren Nachhall verstehen: Sein Wort ist ewig, wie sein Nahme, Ewig ist, ewig des Menschen Seele.

Der Dichter fordert das Menschengeschlecht, d. h. die vergänglichen Menschen aus Adams Geschlecht, auf, in den Jubel der Seele einzustimmen. Das Gedicht endet danach mit einem Bekenntnis zu Gott (V 119), aus dem das Bewusstsein der eigenen Bedeutung, der Bedeutung des poetischen Ichs, hervorgeht (V 120). Die Betonung der Unverfügbarkeit Gottes, welcher der Mensch in der Gestalt des Lobpreises antwortet, führt nicht in eine Gestalt der Heteronomie, sondern zu einem Akt der Subjektivierung.  Hatten M. G. und Die Meinige bewusst gemacht, dass für Hölderlin von Anfang an die Frage nach Gott und die Frage nach dem Menschen nicht voneinander zu trennen sind, so ist mit Die Unsterblichkeit der Seele ihr Verhältnis genauer bestimmt, und zwar in einer Weise, die für Hölderlins Dichtung weiterhin prägend sein wird: Anerkennung Gottes und Subjektivierung des Menschen sind keine gegenläufigen Bewegungen („Je mehr man Gott anerkennt, umso mehr geht die eigene Freiheit verloren . . . “), sondern weisen in dieselbe Richtung. Im Hinblick auf die Frage der Offenbarung könnte man festhalten, dass mit Letzterer die menschliche Freiheit und Vernunft nicht untergraben werden, sondern Vernunft und Freiheit im Licht der Offenbarung ihre Größe erkennen können.

2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille

55

Die Meinige schildert die Erfahrung eines mystischen Augenblicks, der gleichwohl von Verlust durchzogen ist, zumal er sich nicht in seiner Unmittelbarkeit festhalten lässt. Ein erster Versuch, dieses Motiv gedanklich weiterzuentwickeln, kann in Hölderlins Aufmerksamkeit für die Stille gelesen werden.

2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille In Hölderlins frühen Gedichten ist trotz eines ersten Hervortretens von Subjektivierung, die mit der Anerkennung Gottes in Verbindung steht, nicht diese der Ort der Offenbarung Gottes, d. h. der eigentlichen Begegnung von Mensch und Gott, sondern die Stille. Weil dieses Motiv bis zu den späten Hymnen Hölderlins von großer Bedeutung ist, muss seine Genese kurz betrachtet werden.10 Elena Polledri untersucht in ihrer Studie „. . . immer besteht ein Maas“, worin Hölderlins Dichtung in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung jeweils ihr inneres Maß finde. In den Gedichten der Jugendzeit liege dieses in der Stille und der Ruhe, wichtige Impulsgeber dafür seien Pietismus, Klopstock und Stolberg gewesen.11 Polledri sieht in den frühen Gedichten sogar den Gedanken einer Neuschöpfung im Wort angelegt, die sich aus dem Chaos der Welt erhebt. Am Gedicht zeigte sich ein Maß der Welt, das diese aus ihr selbst oder aus der ererbten Tradition nicht mehr erbringen könne: Die Poesie ist schon in der Jugend für ihn ein Ort des Maßes, in dem die stille Tugend, die stille heimatliche Natur, die ruhige Liebe und die friedliche Freundschaft den Platz finden können, den ihnen die unruhige Welt versagt hat. Der Dichter isoliert sich von der Welt, und in seiner Einsamkeit und in der schöpferischen Ruhe schreibt er ein göttliches Werk, das ihn vor dem Chaos rettet.12

Wie schon der Titel des ersten Kapitels, welches überschrieben ist mit „Das Maß im Kloster: Die Stille und die Ruhe“13 , und auch die zitierte Passage vom Ende des Kapitels, wo von Stille, schöpferischer Ruhe, Isolation von der Welt und Einsamkeit die Rede ist, anzeigt, treten in den luziden Analysen Polledris mehrere ähnliche Motive nebeneinander auf, womit die große Bedeutung der Thematik von Stille und Ruhe und der damit zusammenhängenden Gegenstände betont wird. Darüber hinaus versuche ich zu zeigen, dass es Hölderlin im Wort Stille gelingt, erstmals einen Fokuspunkt zu finden, in dem sich sämtliche Motive der bisherigen Gedichte zusammenfassen – und zwar in einem Wort. 10

Vgl. Patmos, V 38: „Ein stilles Feuer“; „Stilleuchtende Kraft aus heiliger Schrift“ (V 194), „Am stillen Blike sich üben.“ (V 196), „Still ist sein Zeichen / Am donnernden Himmel.“ (V 204). 11 Vgl. Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 23–35: „Wie Klopstock und Stolberg [. . . ] ist auch Hölderlin von der Ruhe der Natur tief entzückt und berührt; wie der Messiasdichter sieht er in der Stille einen heiligen Zustand; wie die Pietisten [. . . ] glaubt er, daß der stille Mensch von Gott erfüllt ist, wenn er im Gedicht beschreibt, wie die heilige tugendhafte Seele zum Himmel aufschwebt und ‚mit göttlich heilgem Blike‘ [. . . ] auf die Erde herabsieht [. . . ]“ (Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 30). 12 Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 35. 13 Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 23.

56 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Das Motiv der Stille soll nun in zwei Schritten betrachtet werden. Zunächst ist zu zeigen, dass es in zahlreichen der frühen Gedichte Hölderlins begegnet und dabei einen großen Bogen an Bedeutungen umspannt.14 Sodann wird es darum gehen, die Stille in Hölderlins gleichnamigem Gedicht als Zusammenfassung der frühen Dichtung in einem Wort zu lesen.

Die Stille in Hölderlins frühen Gedichten Die Bedeutung des Motives der Stille in Hölderlins frühen Gedichten kann in drei Felder aufgespannt werden: Stille ist erstens als Gegenbild zu einer geschwätzig verletzenden Welt zu sehen. Sie ist eine erstrebenswerte Haltung für den Einzelnen und ein ersehnter Zustand für die Gesellschaft. In Die Meinige weint die Mutter in „der Stille“ (Die Meinige, V 50) über Leute, die sie im Schmerz über den Tod ihres Gatten quälen, anstatt ihr Trost zu sein, und in Die Nacht spricht der Dichter den stillen Mond an („Du stiller Mond“, Die Nacht, V 3), der in einem Bereich jenseits von Verleumdung und lautem Spott wohnt. Die Stille wird dabei zum Zufluchtsort. In einem Gedicht, welches Hölderlin der Herzogin Franzisca von Würtemberg widmete und anlässlich ihres Besuches in Maulbronn übergab, kennzeichnet die Stille das angemessene Verhalten des Jünglings, welcher der Herzogin gegenübertritt: „Sittsamkeit / Stille zu stehn“ (Gedicht, VV 7 f.).15 Ähnlich stehen in Auf einer Haide geschrieben „die stille Freuden“ (Auf einer Haide geschrieben, V 8) den „Narrenbühnen der Riesenpalläste“ (V 29) entgegen und in Die Demuth „des stillen Mannes Freuden“ (Die Demuth, V 17) des „Lachers Possenspiel“ (V 20). Die Demut, angesprochen als Person, ist es auch, die von der „Narrenbühne“ weg „den stillen Reihen“ (V 40) eines freundschaftlichen Bundes Menschen hinzufügen kann. Elena Polledri betont dabei die gesellschaftliche Dimension, ist doch in diesen Gedichten „die Stille des demütigen Menschen und des aus der Demut entstandenen Bundes schon nicht mehr eine private persönliche Notwendigkeit des frommen Jünglings, sondern ein Bedürfnis für die Gesellschaft und die Geschichte“16 . Stille ist zweitens konnotiert mit Verlassenheit, Grab und Tod. Das Gedicht Mein Vorsatz enthält eine Fülle von Fragen, die sich auf das eigene Ungenügen und die eigene Unvollkommenheit richten. Die zweite der Fragen lautet: „Was zwingt mein armes Herz in diese / Wolkenumnachtete Todtenstille?“ (Mein Vorsatz, VV 3 f.). In Die Meinige kommt der furchtbare Todesengel in die „stille Hütte“ (Die Meinige, V 25), wo die Mutter am „stillen Sterbebette“ (Die Meinige, V 29) verzweifelt liegt. Allerdings ist die Stille auch in diesem Bedeutungsfeld nicht nur negativ zu sehen. Sie kann auch als Umschlagsort eines freilich immer ambivalent bleibenden Entkommens erscheinen. So ist des „Grabes Stille“ (Das Menschliche Leben, V 48) das abschließende Bild des Gedichtes Das menschliche Leben und erscheint 14

Zur Bedeutung von Stille und Ruhe in Hölderlins frühen Briefen, vgl. Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 27–29. 15 Vgl. KA, 526 f. 16 Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 33.

2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille

57

darin als letzter, ambivalenter Ort, der gleichwohl Ende des Lebens wie rettende Flucht aus einer Welt des Verfalls ist. Ähnlich zeigt sich dies in der Verbindung von Stille und Verlassenheit, wie sie das Gedicht An Stella ausdrückt, wenn der Dichter in den ersten Versen Stella fragt: „wähnest du mich beglükt, / Wann ich im Thale still und verlassen, und / Von dir vergessen wandle“ (An Stella, VV 1–3). Der einsame Weg durch das stille Tal ist von einer großen Sehnsucht geprägt, aber steht auch am Sprung, in Heiterkeit umzuschlagen: „Ach laß mich weinen! – nein! ich will heiter sein!“ (An Stella, V 17) Der Dichter als Pilger, d. h. als durch die Zeit Wandernder, dessen Erwarten sich nicht erfüllt, hofft auf einen Ort, an dem das Wünschen an ein Ende kommt. Dieser wird jedoch nicht als umfassendes Paradies vollständiger Befriedigung gezeichnet, sondern als Ort, an dem „Der Sterbliche sein Schiksaal preiset“ (An Stella, V 19). War schon die Wendung „still und verlassen“ Hinweis darauf, dass sich die Situation des Wandernden nicht auf die Verlassenheit beschränkt, sondern noch eine Entwicklung als möglich erscheinen lässt? Die Sphäre, aus der sich diese Entwicklung zu speisen vermöchte, wäre dann die Stille, das Adjektiv „still“ mithin nicht nur als verstärkend gegenüber „verlassen“ anzusehen, vielmehr hielte es die Verlassenheit noch für eine Wandlung offen. Drittens erscheint die Stille als Sphäre eines Aufgangs, Sich-Erhebens, Hervortretens, ein Aspekt, der – bevor auf die frühen Gedichte einzugehen ist – nicht besser als mit einer Formulierung aus dem Hyperion vorgestellt werden kann: „Hohe geistige Stille umfing uns.“17 In Die Meinige taucht die Stille in der Schilderung des ergreifenden Augenblicks der beiden Brüder am Neckar auf, als Hölderlin die Stunde dieser Begebenheit direkt anspricht: „O du Stunde stiller, frommer Seligkeit!“ (Die Meinige, V 114). Die Stille ist dabei – nach dem Ausruf „o! Himmelsaugenblicke!“ (Die Meinige, V 113) – die erste Charakterisierung, mit der Hölderlin die Erfahrung zu beschreiben beginnt. Ähnlich verhält es sich in einer Reisebeschreibung Hölderlins: „Eine unabsehbare Ebene lag vor meinen Augen. [. . . ] – Ich hielt lange still.“18 In dem ebenfalls im Marbacher Quartheft enthaltenen Gedicht An meine Freundinnen spricht Hölderlin in der ersten Strophe die „Mädchen“ (An meine Freundinnen, V 1) an und lässt am Beginn der zweiten Strophe die Verbundenheit mit den Freundinnen und auch den Gesang aus der Stille der Nacht hervorgehen: „In der Stille der Nacht denkt an euch mein Lied“ (An meine Freundinnen, V 5). In An meinen B., V 9 f.). ist Stille das erste Kennzeichen einer weiblichen Gestalt mit Namen Amalia, die sich nach der dreistrophigen Beschreibung einer Landschaft am Beginn der vierten Strophe von dieser abhebt, die dichterische Inspiration verkörpernd19 : „Stille, der Tugend nur / Und der Freundschaft bekannt, wandelt die Gute dort.“ (An meinen B., VV 13 f.) Die Stille ist dabei nicht allein eine Eigenschaft 17

MA I, 631. MA II, 424. 19 „Erst in An meinen B. scheint sich Hölderlin teilweise von einer pietistischen Auffassung der Stille zu entfernen: Still wandelt Amalia, die Protagonistin der Räuber Schillers, die hier die dichterische Inspiration verkörpert.“ (Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 31) Polledri bezieht sich dabei vor allem auf die Stelle: „Dort am schattichten Hain wandelt Amalia. / Seegne, seegne mein Lied, kränze die Harfe mir“ (An meinen B., V 9 f.). 18

58 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

des Mädchens, sie ist adverbiale Bestimmung ihres Wandelns. Sie ist die Sphäre, aus der heraus das Mädchen erst zu erscheinen vermag. In einer frühen Version des Gedichtes findet sich in einer für das Marbacher Quartheft gestrichenen Strophe überdies die Wendung: „stille Erhabenheit“ (An meinen B., V 5)20 . In Der Lorbeer drückt der Dichter die Hoffnung aus, „Daß die Stille höher deine Saiten / Stimmt“ (Der Lorbeer, VV 35 f.) und ihn, den Dichter, zum „Gesang [. . . ] reißt“ (V 36). Die Stille begegnet als die Sphäre, welcher die Dichtung (der Gesang) entspringt.21

Sammlung in einem Wort: Die Stille Von der verstreuten Präsenz der Thematik der Stille in beinahe allen frühen Gedichten Hölderlins hebt sich ein 1788 geschriebenes Gedicht ab, das Die Stille im Titel selbst trägt. D IE S TILLE . 1788 Die du schon mein Knabenherz entzüktest, Welcher schon die Knabenträne floß, Die du früh dem Lärm der Thoren mich entrüktest, Besser mich zu bilden, nahmst in Mutterschoos, Dein, du Sanfte! Freundin aller Lieben! Dein, du Immertreue! sei mein Lied! Treu bist du in Sturm und Sonnenschein geblieben, Bleibst mir treu, wenn einst mich alles, alles flieht. Jene Ruhe – jene Himmelswonne – O ich wußte nicht, wie mir geschah, Wann so oft in stiller Pracht die Abendsonne Durch den dunklen Wald zu mir heruntersah – Du, o du nur hattest ausgegossen Jene Ruhe in des Knaben Sinn, Jene Himmelswonne ist aus dir geflossen, Hehre Stille! holde Freudengeberin!

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BA I, 127. „Hölderlin stellt eine enge Verbindung her zwischen der Stille und der Poesie [. . . ] Die Stille bringt die dichterische Inspiration und ermöglicht dem jungen Dichter, vom ‚Gewirre der Welt‘ [. . . ] zu fliehen“ (Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 31).

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2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille Dein war sie, die Träne, die im Haine Auf den abgepflükten Erdbeerstraus Mir entfiel – mit dir ging ich im Mondenscheine Dann zurük ins liebe elterliche Haus.

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Fernher sah ich schon die Kerzen flimmern, Schon wars Suppenzeit – ich eilte nicht! Spähte stillen Lächelns nach des Kirchhofs Wimmern Nach dem dreigefüßten Roß am Hochgericht. War ich endlich staubigt angekommen; Theilt ich erst den welken Erdbeerstraus, Rühmend, wie mit saurer Müh ich ihn bekommen, Unter meine dankende Geschwister aus; Nahm dann eilig, was vom Abendessen An Kartoffeln mir noch übrig war, Schlich mich in der Stille, wann ich satt gegessen, Weg von meinem lustigen Geschwisterpaar. O! in meines kleinen Stübchens Stille War mir dann so über alles wohl, Wie im Tempel, war mirs in der Nächte Hülle, Wann so einsam von dem Thurm die Gloke scholl. Alles schwieg, und schlief, ich wacht’ alleine; Endlich wiegte mich die Stille ein, Und von meinem dunklen Erdbeerhaine Träumt’ ich, und vom Gang im stillen Mondenschein.

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Als ich weggerissen von den Meinen Aus dem lieben elterlichen Haus Unter Fremde irrte, wo ich nimmer weinen Durfte, in das bunte Weltgewirr’ hinaus; O wie pflegtest du den armen Jungen, Teure, so mit Mutterzärtlichkeit, Wann er sich im Weltgewirre müdgerungen, In der lieben, wehmutsvollen Einsamkeit. Als mir nach dem wärmern, vollern Herzen Feuriger izt stürzte Jünglingsblut; O! wie schweigtest du oft ungestümme Schmerzen, Stärktest du den schwachen oft mit neuem Muth.

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60 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen Jezt belausch’ ich oft in deiner Hütte Meinen Schlachtenstürmer Ossian, Schwebe oft in schimmernder Seraphen Mitte Mit dem Sänger Gottes, Klopstok, himmelan. Gott! und wann durch stille Schattenheken Mir mein Mädchen in die Arme fliegt, Und die Hasel, ihre Liebenden zu deken, Sorglich ihre grüne Zweige um uns schmiegt –

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Wann im ganzen seegensvollen Thale Alles dann so stille, stille ist, Und die Freudenträne, hell im Abendstrale Schweigend mir mein Mädchen von der Wange wischt – Oder wann in friedlichen Gefilden Mir mein Herzensfreund zur Seite geht, Und mich ganz dem edlen Jüngling nachzubilden Einzig vor der Seele der Gedanken steht – Und wir bei den kleinen Kümmernissen Uns so sorglich in die Augen sehn, Wann so sparsam öfters, und so abgerissen Uns die Worte von der ernsten Lippe gehn. Schön, o schön sind sie! die stille Freuden, Die der Thoren wilder Lärm nicht kennt, Schöner noch die stille gottergebne Leiden, Wann die fromme Träne von dem Auge rinnt. Drum, wenn Stürme einst den Mann umgeben, Nimmer ihn der Jugendsinn belebt, Schwarze Unglükswolken drohend ihn umschweben, Ihm die Sorge Furchen in die Stirne gräbt;

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O so reiße ihn aus dem Getümmel, Hülle ihn in deine Schatten ein, O! in deinen Schatten, Teure! wohnt der Himmel Ruhig wirds bei ihnen unter Stürmen sein. Und wann einst nach tausend trüben Stunden Sich mein graues Haupt zur Erde neigt, Und das Herz sich mattgekämpft an tausend Wunden Und des Lebens Last den schwachen Naken beugt:

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2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille O so leite mich mit deinem Stabe – Harren will ich auf ihn hingebeugt, Biß in dem willkommnen, ruhevollen Grabe Aller Sturm, und aller Lärm der Thoren schweigt.

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Inwiefern, so gilt es in der Interpretation zu fragen, lässt sich ausgehend von diesem Gedicht die Stille als Fokus-, bzw. Einheitspunkt von Hölderlins früher Dichtung verstehen? Zunächst fällt, nach der verstreuten Präsenz des Motives in so vielen anderen Gedichten, auf, dass Hölderlin die Stille nun auch als Überschrift für ein Gedicht wählt, in welchem alle drei oben herausgearbeiteten Bedeutungsfelder auftreten. So heißt es programmatisch in der ersten Strophe, die Stille entrücke dem „Lärm der Thoren“ (V 3). Von diesem Punkt an erscheint sie durch das gesamte Gedicht hindurch als Gegenbild zu einer unruhigen Welt. Die Stille erweist sich, wie Hölderlin unmittelbar danach sagt, als Erzieherin und Mutter des Dichters („Die du [. . . ] / Besser mich zu bilden, nahmst in Mutterschoos“, VV 3 f.), was darauf hindeutet, dass der Dichter mit seiner Existenz und seinem Werk aus der Sphäre der Stille hervorgeht und sich aus ihr entwickelt. Die Stille ist jedoch nicht allein Chiffre für den Ursprung des Dichters, sondern auch für jene Sphäre, in welche er mit seinem Tod eingeht: „O so leite mich [. . . ] / Biß in dem willkommnen, ruhevollen Grabe / Aller Sturm, und aller Lärm der Thoren schweigt.“ (VV 89–92) Der Titel des Gedichtes zeigt an, dass die Stille nun nicht mehr zufällig an verschiedenen Stellen verschiedener Gedichte begegnet, sondern ein Wort ist, unter das ein ganzer Text versammelt wird. Was auch immer in diesem Gedicht behandelt wird, bleibt durch die deutende Macht des Titels auf die Stille bezogen. Aus ihr erhalten alle Inhalte ihre Bedeutung. Die Einheitsfunktion der Stille unterstreicht auch Elena Polledri mit Hinblick auf den Aufbau des Gedichtes, der sich an den verschiedenen Lebensaltern eines Menschen orientiert: „Die Stille ist für ihn [Hölderlin] ein Seelenzustand, den der Mensch in jedem Alter zu bewahren versuchen sollte. Sie ist eine innere Notwendigkeit sowohl der Kindheit als auch des Mannesalters, die uns bis zum Tod und auch nach dem Tod begleiten soll“22 . Die ersten zehn Strophen wenden sich der Kindheit zu (VV 1–40), drei weitere sodann der Jugend (VV 41–52), sechs Strophen der Gegenwart (VV 53–76), zwei dem Erwachsenenalter (VV 77–84) und zwei Sterben und Tod (VV 85–92).

Strophe I–IV (VV 1–16) Von Beginn des Gedichtes an wird die Stille direkt angesprochen, auch wenn sie erstmals am Ende der vierten Strophe („Hehre Stille“, V 16) explizit genannt wird, sodass anfangs nur der Titel Auskunft gibt, wer mit „du“ (V 2) gemeint ist. Diese Anrede ist bezüglich des bisher betrachteten Auftretens der Stille eine Novität, kam sie doch bisher lediglich in adjektivischen (stille Reihen, stiller Bund . . . ) oder adverbialen Verbindungen (still wandeln . . . ) zur Bestimmung von etwas anderem 22

Polledri, „. . . immer besteht ein Maß“, 34.

62 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

oder in zusammengesetzten Verbindungen (Totenstille, des Grabes Stille), niemals aber als direkte Adressatin der Rede in den Blick. Auch in der Anrede „Du stiller Mond“ (Die Nacht, V 3) wird nicht die Stille selbst angesprochen. In der ersten Strophe findet sich ein Dreischritt aus Entzücken – Entrücken – Bilden, wobei Ersteres die Wahrnehmung (das Herz) öffnet, Zweiteres eine Versetzung aus dem gewohnten Umfeld („Lärm der Thoren“, Die Stille, V 3) bedeutet und Letzteres diesem Geschehen eine Dauerhaftigkeit in einem Prozess des Heranbildens verleiht. Damit ist von der ersten Strophe an klar, dass es im Gedicht nicht um subjektive Befindlichkeiten zu tun ist, sondern um die Darstellung einer tragenden Zugangsweise zur Welt, die sich von vordergründigem Lärm absetzt.23 Eine derartige Perspektive kann für Hölderlin nur aus der Stille entstehen. Wie die Widmung in der zweiten Strophe zeigt, ist Stille mit Sanftmut, Freundschaft und Treue konnotiert (vgl. VV 5 f.). Aus der von ihr erwiesenen Treue schließt der Dichter auch auf eine künftige unverbrüchliche Treue (vgl. VV 7 f.). Dabei handelt es sich um eine Erfahrung der Unverfügbarkeit fern jedes Automatismus und jeder Gewöhnung, wie die dritte Strophe ergänzt – so viele Male der Dichter die Stille, verglichen mit einem Aufgang der abendlichen Sonne in einem dunklen Wald, auch erfahren hatte, sie widersetzte sich doch jeder gewohnten Ordnung: „O ich wußte nicht, wie mir geschah“ (V 10). Die vierte Strophe, die an ihrem Ende zur expliziten Nennung der hehren Stille als holder „Freudengeberin“ (V 16) führt, preist sie als den einzigen Ursprung der Ruhe der Himmelwonne, d. h. einer Erfahrung des Numinosen. Von diesem Ursprung in der Stille hängen auch alle die genannten Wendungen, in welchen die Stille in Gestalt des Adjektivs oder Adverbs auftritt, ab. Der Ursprung wird dabei mittels der Metapher des Ausströmens („ausgegossen“, V 13; „geflossen“, V 15) gedacht. Damit geht Hölderlin einen Schritt weiter als in Die Meinige, wo zwar die Erfahrung des Göttlichen als „Stunde stiller, frommer Seligkeit“ (Die Meinige, V 114) angesprochen wird, aber noch kein „Grund“, aus dem diese Erfahrung hervorgehen kann, benannt wird. Mit der vierten Strophe sind die einleitenden allgemeinen Ausführungen des Gedichtes beschlossen und der Dichter geht nun anschaulicher daran, sein Leben vom Motiv der Stille ausgehend zu interpretieren.

Strophe V–X (VV 17–40) Die erste geschilderte Erfahrung ist die des Heimkommens ins Haus der Eltern (Die Stille, V 20) – eingeborgen in die Sphäre der Stille, welcher der Dichter eine Träne weint (VV 17–19). Die erlebte Heimkunft als Rückkehr zum eigenen Ursprung gewinnt ihre Bedeutung aus dem noch tieferen Ursprung in der Stille, die ihn im Mondschein geleitet: „mit dir ging ich im Mondenscheine / Dann zurük ins liebe elterliche Haus“ (VV 19 f.). Die Stille erscheint mithin nicht als dem ihr Entsprin23

Anders Wilhelm Böhm: „Doch hat der Prophet in ‚Die Stille‘ wieder gar zu viel mit sich selbst zu tun, und das liebe Herz erholt sich von seinen anstrengenden Ausflügen gar zu ausgiebig in der Stille, die ihm auch als Stille des Grabes willkommen wäre“ (Böhm, Hölderlin I, 18).

2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille

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genden gegenüber gleichgültiger, in sich ruhender Ursprung, sondern als einer, der mit dem aus ihm Entspringenden mitgeht. Kerzen leuchten dem Heimkehrenden entgegen, doch hat sein Gang keine Eile (VV 21 f.). Die erste Szene, die im Haus geschildert wird, ist eine des Schenkens und des Dankes (VV 26–28). Ihr folgt ein eilig eingenommenes Abendessen (VV 29 f.). Danach begibt sich der Dichter wieder zurück in die Stille, wobei dieser Rückzug keine Distanzierung von der Umgebung bedeutet, wie sie an mehreren anderen Stellen als Rückzug von der lauten Welt erfolgt ist. Die Unterbrechung der Stille ist auf die wesentlichen Grundvollzüge Schenken, Dank und Mahl reduziert, wobei diese kein Gegenbild zur Ruhe der Stille darstellen, sondern aus ihr erwachsen. Die Stille der Nacht wird für den Dichter zur Hülle, die ihn aufnimmt bzw. zu der er zurückzukehren vermag. Der nächtliche Schall der Glocke erweckt in ihm dabei das Gefühl, sich in einem Tempel aufzuhalten. Bruno Liebrucks bemerkt zu dieser Stelle: „Nicht in dem kleinen Stübchen, sondern in des kleinen Stübchens Stille erfährt er das Numinose, das er aber noch gar nicht auszudrücken weiß. [. . . ] Der Tempel steht als Ausdruck für das Fremde, das der Knabe – und wir – doch nur aus der Literatur kennen.“24 Nicht ein bestimmter Ort, sondern – wie am Ende der vierten Strophe schon angedeutet – die Stille ermöglicht den Aufgang des Göttlichen. Liebrucks zufolge stehen wir – und stand auch schon Hölderlin – nicht mehr so in der Präsenz des Göttlichen, als dass es unmittelbar erfahren werden könnte. Was wir dabei finden, sind zunächst vermittelte, angelesene Erfahrungen. Werden wir uns aber deren Fremdheit bewusst, ist ein erster Schritt in Richtung der Annäherung und Versprachlichung der Erfahrung des Numinosen gesetzt. Die Stille scheint zwar sehr in die Nähe der Imagination einer primordialen Geborgenheit zu rücken, kann damit aber doch nicht gänzlich erfasst werden. Die zehnte Strophe erzählt davon, dass die gesamte Umgebung in Schweigen und Schlaf gehüllt sei, der Dichter jedoch alleine wache: „Alles schwieg, und schlief, ich wacht’ alleine“ (V 37). Die Stille ist mithin nicht nur die Sphäre, die den Schlafenden umgibt und träumen lässt, aus ihr kommt vielmehr auch das einsame Wachen, das einen Riss in jeder primordialen Geborgenheit darstellt und in eine radikale Verantwortung ruft. In M. G. als Tätigkeit Gottes ausgesprochen, wird es an dieser Stelle auch zu einem Motiv, das den in der Stille Lebenden auszeichnet.

Strophe XI–XIII (VV 41–52) Die Strophen elf bis fünfzehn erzählen von der ersten Trennung vom Haus der Eltern, das bis jetzt den Referenzrahmen der Geschehnisse bildete. Der vertraute Weg der fünften und sechsten Strophe muss dem Umherirren in der Fremde weichen; die als tiefer Gefühlsausdruck vergossene Träne am Weg zum Elternhaus weicht einer Härte, in der es kein Weinen geben darf (VV 43 f.). An die Stelle des lustigen Treibens des Geschwisterpaares, dem sich der Dichter entzogen hatte (V 32) tritt 24

Liebrucks, „Und“, 254.

64 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

das bunte Weltgewirr, in welches er nicht langsam eintreten kann, sondern zu dem er weggerissen wird (VV 41–44). Gerade in dieser Situation wird die Stille als mütterlich bergend (VV 45–48), die Schmerzen zum Schweigen bringend (V 51) und ermutigend (V 52) erfahren.

Strophe XIV–XIX (VV 53–76) Das Gedicht wechselt mit der vierzehnten Strophe, die mit „Jezt“ (V 53) einsetzt, von der Vergangenheitsform ins Präsens und ist damit in der Gegenwart des Dichters angelangt. Die Stille nimmt hierbei eine neue Gestalt an. Sie erscheint als Hütte, d. h. – ähnlich dem Tempel (V 35) und dem Haus (V 42) – als umgebender, bergender Raum, und eröffnet einen Zugang zum Mythos, der Welt der Erzählung: „Jezt belausch’ ich oft in deiner Hütte / Meinen Schlachtenstürmer Ossian“ (VV 53 f.) und den „Sänger Gottes, Klopstok“ (V 56).25 Das Verweilen in der engen Hütte ist Ausweg aus der Zerstreutheit im Weltgewirr (VV 44, 46) und hat den Charakter der Sammlung und Fokussierung, die dem Dichter in dieser Phase nur in der oder besser als Stille möglich ist. Die familiäre Geborgenheit der Kindheit wird abgelöst vom Aufgehoben-Sein in einer Erzählung. So stellen sich für den Dichter auch wieder tragfähige Beziehungen ein: nach den literarischen Gestalten die Gemeinschaft mit seiner Freundin (XV–XVI) und einem guten Freund (XVII–XVIII), die wieder aus der Stille hervorgeht (V 62). Auf die Gefühlskälte, in der selbst noch der emotionale Ausdruck des Weinens verboten war (VV 43 f.), folgt eine Zeit, in der die freudige Träne ihm im Abendlicht ein Mädchen von der Wange wischt (V 63 f.) bzw. die „fromme Träne“ zum Ausdruck des Leidens werden kann (VV 75 f.). Das Zusammensein mit dem Freund bedarf nicht vieler Worte: „Wann so sparsam öfters, und so abgerissen / Uns die Worte von der ernsten Lippe gehn.“ (VV 71 f.) Geschildert wird ein Verklingen der Sprache, das aber nicht – wie in vielen späteren Gedichten – ein Verstummen bedeutet, sondern eher ein Übereinstimmen, das allzu vieler Worte nicht bedarf. Die Stille umfängt, wie die neunzehnte Strophe als Abschluss des der Gegenwart gewidmeten Teiles zeigt, sowohl Freude als auch Leid: Sie vermag die Freude vom wilden Lärm zu unterscheiden und das Leiden von seiner Ausdruckslosigkeit abzuheben.

25

Vgl. aus den Briefen Hölderlins aus der Zeit um die Abfassung der Gedichtes: „ist Dirs nicht besser ums Herz wann du den großen Messiassänger [Klopstok] hörst?“ (an Immanuel Nast, 18. Februar 1787, MA II, 400) „Eine Neuigkeit! eine schöne, schöne herzerquikende Neuigkeit! Ich habe den Ossian, den Barden ohne seines gleichen, Homers großen Nebenbuhler hab’ ich wirklich unter den Händen.“ (an Immanuel Nast, Mitte März 1787, MA II, 402) „Da leg’ ich meinen Ossian weg, und komme zu Dir. Ich habe meine Seele gewaidet an den Helden des Barden“ (an Immanuel Nast, nach dem 18. April 1788, MA II, 420). „Wenn ich nur die Messiade da hätte, so würde ich Dir einige Stellen ausheben“ (an Christian Ludwig Neuffer, 21.–24. März 1789, MA II, 440). Zum Verhältnis Hölderlins zu Klopstock vgl. Bernhard Böschenstein, Klopstock als Lehrer Hölderlins. Die Mythisierung von Freundschaft und Dichtung. (‚An des Dichters Freunde‘), HJb 1971/72, 30–42.

2.3 Stille als Ort der Offenbarung: Die Stille

65

Strophe XX–XXI (VV 77–84) Die letzten vier Strophen des Gedichtes sind vom Bild des Sturmes (VV 77, 84, 92) durchzogen. Zwei Strophen sind auf das Erwachsenenalter und damit auf die Zukunft („einst“, V 77) gerichtet. Eine Rückkehr in das Glück der Kindertage und die emotional überschwängliche Zeit der Jugend ist nicht mehr möglich (V 78). Als umgebende Sphäre erscheint nicht mehr die Stille, sondern erscheinen zunächst die Stürme (V 77) und dann in noch gesteigertem Maße die nicht einzuordnende Gefahr drohender Wolken, die den „Mann“ umschweben (V 77–79). Konkreter wird die Bedrohung, wenn er sie als „Sorge“ (V 80) des Erwachsenen bezeichnet, welche die Sammlung zerstreut („Getümmel“, V 81). Das Gedicht bittet nicht um das Ende der Stürme, sondern darum, dass die Stille wieder der umgebende Horizont werde, wobei sie in der fragilen Gestalt von Schatten auftreten möge („Hülle ihn in deine Schatten ein“, V 82), was an die zufluchtsvollen Schatten aus Die Nacht erinnert. Hölderlin baut mit den Schatten der Stille ein Bild auf, welches jede unmittelbare Anschaulichkeit hinter sich lässt und auf einen Bereich der Unverfügbarkeit hinweist: Sowohl Schatten als auch Stille ermangelt jegliche Substanz, sie entziehen sich der Repräsentation und sind auch nicht unmittelbar aufeinander beziehbar, zumal Schatten ein visuelles, Stille ein akustisches Phänomen ist. Die Unverfügbarkeit der Schatten der Stille gewährt dem Himmel ein Wohnen, sie erscheinen damit als das raumgebend Eröffnende schlechthin.

Strophe XXII–XXIII (VV 85–92) Am Ende des Gedichtes wird der Blick in eine noch weitere Ferne (V 85), auf das Sterben und den Tod gelenkt. Die Stille tritt dabei wieder, wie schon zu Beginn (V 4), als Erzieherin auf, die, so wie sie in das Leben geleitet hat, auch in den Tod geleiten möge: „O so leite mich mit deinem Stabe“ (V 89). Am Ende stehen die Bilder der Ruhe im Grab und des Schweigens von Sturm und Lärm. Die Stille umfasst auch den Tod – mithin ist, wie das Gedicht in seiner Gesamtheit zeigt, der fundamentale Gegensatz nicht der zwischen Leben und Tod, sondern der zwischen Stille einerseits und Zerstreuung, Lärm und Sturm andererseits. War die Stille am Anfang des Gedichtes in der Gestalt des Ursprungs aufgetreten, so begegnet sie nun in der des Ziels. Der Mensch geht aus ihr hervor, sie geleitet ihn durch das Leben und gewährt dabei Trost, schließlich geht er in sie zurück.  Die große Bedeutung dieses Gedichtes liegt darin, dass es dem Dichter gelingt, im Wort der Stille, d. h. in einem Wort bzw. in einem Wort, die gesamte Welterfahrung zu sammeln und zu fokussieren, sodass daraus eine Welt (jenseits der zerstreuenden Momente) neu erstehen kann. Dichtung ist Neuschöpfung der Welt im Wort, womit Hölderlin einen Grundgedanken aus dem biblischen Schöpfungsgedicht (Gen 1) aufnimmt. Davon ausgehend sind viele der späteren Gedichte Hölderlins zu verste-

66 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

hen. Die sogenannten Tübinger Hymnen können als erster Versuch gelesen werden, in entschiedener Weise das Entstehen einer neuen Welt im Wort zur Sprache zu bringen. Die Stille hat an einen Scheideweg geführt: Entwickelt sich Hölderlins Dichtung in eine Mythisierung der Welt, die den Dichter als Priester verklären muss, die Stille als Ursprung und Ziel allen Seins preist und unmittelbar religiöse Bedeutung generieren möchte, oder wird sie zur Einstimmung in einen Abschied des unmittelbaren Bezeichnen-Wollens (vgl. die Schatten der Stille), der – allenfalls – den Weg freigeben kann für ein freilich immer vom dem Scheitern bedrohtes Sich-Ereignen einer neuen Welt im Wort? Im Rahmen des Marbacher Quartheftes weist Am Tage der Freundschaftsfeier am deutlichsten in die erste der skizzierten Richtungen, wohingegen Die Stille eher einen Ausblick auf die zweite Richtung gibt. Diese Alternative wird in der Dichtung Hölderlins immer wieder auftreten, wobei Hölderlin – so die These dieser Arbeit – sich je neu gegen die unmittelbare Generierung religiöser Bedeutung wendet und immer entschiedener das Scheitern dieses Versuches zur Darstellung bringt.

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit: Hymnus an die Göttin der Harmonie Während seines Studiums in Tübingen verfasste Hölderlin Gedichte in hymnischem Ton, deren Titel, Form und Aufbau den Gedanken einer zumindest losen Zusammengehörigkeit, vielleicht sogar eines Projektes erwecken. Nach einem einheitlichen Muster benennt er sie als Hymne an die Wahrheit, Hymnus an die Göttin der Harmonie, Hymne an die Muse, Hymne an die Freiheit, Hymne an den Genius Griechenlands, Hymne an die Menschheit, Hymne an die Schönheit, Hymne an den Genius der Jugend, Hymne an die Freundschaft, Hymne an die Liebe, Hymne an den Genius der Kühnheit.26 Dilthey hat für die Gedichte den Ausdruck Hymnen an die Ideale der Menschheit geprägt, der nicht unwidersprochen geblieben ist.27 Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist ein Einwand Böckmanns wichtig, welcher „gegen die Konzentration auf den gedanklichen Gehalt“28 der Hymnen, d. h. auf die Darstellung der jeweiligen Ideale, den Gestus der Verehrung hervorhebt, worin sich die Tübinger Hymnen auch von Schiller abheben würden. In der Tat sind es nicht bloß Ideale, welche beschrieben werden sollen, sondern adressiert sich der Dichter an Götter und fordert eine „Gemeinde“ auf, dasselbe zu tun. Mehrmals kommen diese Götter in den Hymnen auch selbst zu Wort. Wolfgang Böhm weist darauf hin, dass es sich trotz aller mythologischen Anklänge um Texte handelt, die aus der Moderne leben und diese hineingesprochen sind: 26

Vgl. MA III, 6 67. Martin Vöhler hat den einheitlichen Aufbau der Hymnen, bestehend aus Prooimium, Aretalogie, Parainesis und Conclusio aufgezeigt (Vgl. Martin Vöhler, Frühe Hymnen, in: Handbuch, 290–308, hier: 30 ders., Das Hervortreten des Dichters. Zur poetischen Struktur in Hölderlins Hymnik, in HJb 2000/01, 50–68). 27 Vgl. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, 230. 28 Martin Vöhler, Frühe Hymnen, in: Handbuch, 290–308, hier: 298.

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

67

Daß die metaphysische Erregtheit besonders auf überlieferte mythologische Formen hingewiesen hätte, ist nicht zu finden. Zu modern sind diese Ideale der Menschheit und Freiheit, der Freundschaft und der Liebe, als daß Namen antiker Gottheiten sich ohne weiteres mit ihnen gedeckt hätten.29

Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang dem Hymnus an die Göttin der Harmonie zu, weil es sich um das einzige der Gedichte handelt, in welchem das entsprechende „Ideal“ bereits im Titel als Göttin bezeichnet wird. Damit wird explizit gemacht, was in all den Hymnen aus der Tübinger Zeit statthat: Werte erscheinen in der Gestalt von Göttern. In den Worten von Wolfgang Binder: „Denn Werte gelten nur, Götter aber sind.“30 Wenn Binder Recht zu geben ist, geht es Hölderlin nicht um die Beschreibung einer Welt, in welcher bestimmte Werte gelten, sondern um die Imagination einer Welt, in welcher das Göttliche in bestimmter Gestalt erscheinen kann. Entscheidend ist, dass diese Götter im Gedicht existieren und ihre Existenz nicht an einer dem Gedicht äußerlichen Realität gemessen werden darf. Aus diesem Grund wohl entrückt Hölderlin die Dichtung in dieser Phase seines Schreibens der Anschauung weit. Realität und Dichtung muss ein weiter Graben trennen, sodass der Gedanke unmittelbarer Bezugnahme beider Seiten aufeinander nicht sofort aufkommt. Es handelt sich in den einzelnen Gedichten um den Versuch der Gestaltung einer dichterischen Sphäre, die ein Maß innerer Komplexität und sprachlicher Differenzierung zum Ausdruck bringt und gleichsam eine neue Welt im Wort, im Gedicht entstehen lässt. Federführend dafür sind Freiheit, Schönheit, Harmonie, Freundschaft . . . Dabei tritt allerdings die bereits im Marbacher Quartheft begegnete Gefahr unmittelbarer religiöser Bedeutungsgebung in der Gestalt eines stilisierten Aufschwungs zu den als Göttern mythisierten Idealen wieder auf. Im Folgenden gilt es zunächst kurz zu zeigen, wie Hölderlin dieser Gefahr entgegentritt, indem er Momente des Bruches, der Schwächung und des Abschiedes in der Beziehung zu den Göttern herausarbeitet. Danach wird Der Hymnus an die Göttin der Harmonie einer genaueren Interpretation unterzogen, weil sich dieses Gedicht einerseits, wie bereits erwähnt, schon im Titel an die Gottheit adressiert und andererseits das Verhältnis von Gott und Mensch als schöpferisches in einer bislang nicht erreichten Tiefe reflektiert.

Momente des Bruches in den Geedichten der Tübinger Zeit 1) Bereits in Hölderlins ersten Gedichten waren Prozesse der Subjektwerdung des Ichs erkennbar, welche nicht selten die Gestalt eines Sich-Erhebens hatten, welches seinen Grund in der Zuwendung des göttlichen Gegenübers fand. Verbunden mit dem Freiheitspathos, das sich gesellschaftlich im Gefolge der Französischen Revolution und philosophisch im Gefolge Kants erhob, nehmen diese Prozesse 29

Böhm, Hölderlin I, 65. Vgl. Wolfgang Binder, Einführung in Hölderlins Tübinger Hymnen, in: HJb 1973/74, 1–19, hier: 4.

30

68 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

der Subjektwerdung und des Sich-Erhebens in den Tübinger Hymnen einen überschwänglichen Charakter an, der jedoch nicht ungebrochen ist. Dies zeigt Hölderlins Neufassung der Hymne an die Freiheit besonders deutlich. Die erste Fassung des dreizehnstrophigen Gedichtes beginnt mit den Worten: Wie den Aar im grauen Felsenhange Wildes Sehen zu der Sterne Bahn, Flammt zu majestätischem Gesange Meiner Freuden Ungestümm mich an; (Hymne an die Freiheit. Wie den Aar . . . , VV 1–4)

Der Blick erhebt sich, beginnend mit dem ersten Vers, nicht allein in jene Höhe, in welche der Adler aufzusteigen vermag, sondern dorthin, wohin auch er nicht fliegen kann. Die Gestirne können auch für ihn nur ein Ort der Sehnsucht sein. Nicht durch die Höhe seines Fluges ist der Adler Vergleichspunkt für die ungestüme Freude des Ichs, sondern darin, dass sein Sehnen über seinen Flug noch hinausreicht. Diesem Aufstieg zu den Gestirnen entspricht ihr Zurückstrahlen auf den Menschen, welches der Dichter unmittelbar nach einer Rede der Göttin (Strophen IV–IX) ausspricht: Froh und göttlichgroß ist deine Kunde, Königin! dich preise Kraft und That! Schon beginnt die Schöpfungsstunde, Schon entkeimt die seegenschwang’re Saat: Majestätisch, wie die Wandelsterne, Neuerwacht am off’nen Ozean, Stralst du uns in königlicher Ferne, Freies kommendes Jahrhundert! an. (Hymne an die Freiheit. Wie den Aar . . . , VV 69–72)

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Verbunden sind die beiden Passagen durch das Signalwort „majestätisch“ und das Motiv der Bahn der Sterne („der Sterne Bahn“, V 2; „Wandelsterne“, V 69). Der Strahl göttlicher Offenbarung erreicht die Menschen aus einer Zukunft, die sich ihnen als „Freies kommendes Jahrhundert“ (V 72) eröffnet. Göttliche Offenbarung erscheint als unableitbare, freie Zukunft. Diese wird jedoch allzu direkt in den Blick genommen, ohne dass ihr Kommen entwickelt würde: „Schon beginnt die neue Schöpfungsstunde, / Schon entkeimt [. . . ]“ (VV 67 f.). Retardierende Momente, Brüche, Verschränkungen der Zeitformen gibt es in diesem Gedicht nicht. Überdies bietet es kaum Anspielungen an geprägte mythologische Bilder, sondern entwickelt es die Thematik der Freiheit allein aus der Bewegung des Sich-Erhebens des Ichs, welchem das freie kommende Jahrhundert antwortend entgegenstrahlt. Diese Struktur der Bewegung bleibt für Hölderlins Dichtung zwar zentral, wird aber künftig in wesentlich komplexerer Form gestaltet. In einer zweiten Hymne fasst Hölderlin die Thematik der Freiheit noch einmal gänzlich neu – und zwar in einer wesentlich differenzierteren Weise und mit zahlreichen mythologischen und biblischen Bezügen, welche die Erstellung der Bilder in der Unmittelbarkeit des Aufschwungs des Ichs bremsen. Die ersten vier Verse bieten einen starken Einstieg, der darin mündet, dass das Ich des Gedichts der

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

69

„Göttin ganze Göttlichkeit“ (Hymne an die Freiheit. Wonne säng’ ich . . . , V 3) sah. Entscheidend ist jedoch, dass diese wie mit einem Paukenschlag das Gedicht eröffnende Totalität nicht weiterentwickelt, sondern in einem zweiten Schritt, beginnend mit der zweiten Hälfte der ersten Strophe (VV 5–8), zurückgenommen wird. Hölderlin führt ein Bild göttlicher Unmittelbarkeit vor, um im nächsten Atemzug mit seiner Schwächung zu beginnen. Es folgen zwei Bilder eines Vergleiches, die ein langsames Erwachen und stilles Staunen schildern: Wie nach dumpfer Nacht im Purpurscheine Der Pilote seinen Ozean, Wie die Seeligen Elysens Haine, Staun’ ich dich geliebtes Wunder! an.

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Die zweite Strophe führt sodann in einen Stillstand: Ehrerbietig senkten ihre Flügel, Ihres Raubs vergessen, Falk und Aar, Und getreu dem diamantnen Zügel Schritt vor ihr ein trozig Löwenpaar; Jugendliche wilde Ströme standen, Wie mein Herz, vor banger Wonne stumm; Selbst die kühnen Boreasse schwanden, Und die Erde ward zum Heiligtum.

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Wie in der ersten Hymne an die Freiheit tritt ein Adler auf, doch die mit ihm verbundene Bewegungsrichtung hat sich umgekehrt. Er steigt nicht in Höhen hinauf und sehnt sich nicht in noch höhere Gefilde, sondern senkt seine Flügel. Zwar ist durch „Falk und Aar“ (V 10) und die „kühnen Boreasse“ (V 15) der Bereich der Lüfte im Gedicht noch präsent, die Bewegungsrichtung des Senkens aus dem ersten Vers der Strophe zieht sich jedoch bis zum Ende weiter, sodass der letzte Vers auf der „Erde“ (V 16) anlangt. Der Stillstand der wilden Ströme (V 13) erinnert an die Erfahrung des Heiligen in der Gestalt des erfüllten Augenblicks aus Die Meinige und führt auch in der Hymne an die Freiheit in diesen Bereich: [. . . ] Im Abendschimmer Stand der Strom. Ein heiliges Gefühl Bebte mir durchs Herz [. . . ] (Die Meinige, VV 125–127)

|| || || || ||

Ströme standen ward zum Heiligtum Wie mein Herz, [. . . ] (Hymne an die Freiheit, VV 13–16)

War das Sich-Nahen des freien kommenden Jahrhunderts die Spitzenaussage, in welcher sich der Gehalt der ersten Hymne an die Freiheit am dichtesten zeigte, so tritt an deren Stelle die Rede von der Erde, die zum Heiligtum ward. Heiligkeit wird nicht in einem Akt des Sich-Erhebens über die Erde erfahren, sondern in deren Verwandlung. Hervorzuheben ist, dass sich entgegen der ersten Hymne an die Freiheit,

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2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

welche den Moment dichter Präsenz in die Zukunft verlegt (das freie kommende Jahrhundert), der Fokuspunkt an dieser Stelle in die Vergangenheit rückt: „ward“ ist eine mittelhochdeutsche Verbalform, die sich zu „wurde“ weiterentwickelt und ab etwa 1800 verschwindet.31 Dem Motiv der Erde, die zum Heiligtum wurde, entspricht die Anrede an die Brüder als „Könige der Endlichkeit“ (V 80), welche die Menschen in ihrer Endlichkeit ernst zu nehmen und darin gerade ihre hohe Würde zu entdecken sucht. Emphatischer formuliert diesen Gedanken die Hymne an die Menschheit, wo es heißt: „Schon geh’t verherrlichter aus unsern Grüften / Die Glorie der Endlichkeit hervor“ (Hymne an die Menschheit, VV 45 f.). Der hochfliegende Gestus der Tübinger Hymnen wird von einem Motiv durchbrochen, welches mehr zu denken aufgibt, als in dieser Stufe der Dichtung schon entfaltet werden könnte. Es handelt sich um Formulierungen, welche in Hölderlins Dichtung weit voraus weisen. Vielleicht könnte der Gedanke einer Würde der Endlichkeit, in der die Erde zum Heiligtum wird, als ein Programm für die gesamte folgende Dichtung Hölderlins angesehen werden. In der vierten Strophe kommt die Göttin selbst zu Wort, wobei in der Wiedergabe ihrer Rede im Gedicht – anders als in der ersten Hymne an die Freiheit – der Charakter der Vermittlung explizit betont und in den Mittelpunkt gestellt wird, indem auf ein Nachtönen ihrer Worte in der Seele und den Schöpfungen hingewiesen wird. Im Folgenden sind die der Rede der Göttin vorangehenden Verse in beiden Versionen der Hymne nebeneinander gestellt: Jeder Laut von ihrem Zaubermunde Adelt noch den neugeschaff’nen Sinn – Hört, o Geister! meiner Göttin Kunde, Hört, und huldiget der Herrscherin! (Hymne . . . Wie den Aar . . . , V 13–16)

|| || || || ||

Was sie sprach, die Richterin der Kronen, Ewig tönts in dieser Seele nach, Ewig in der Schöpfung Regionen – Hört, o Geister, was die Mutter sprach! (Hymne .. Wonne säng ich . . . , VV 21–24)

Die Rede der Göttin liegt in der zweiten Version der Hymne bereits in der Vergangenheit („sprach“, V 24, steht im Präteritum) und bringt sich erst in einem Nach-tönen zum Ausdruck. Seele und Welt werden zum Resonanzraum des göttlichen Wortes, das aufgrund einer zur Resonanz disponierenden Übereinstimmung wiederklingen kann. Während die erste Hymne an die Freiheit auf die Totalität der göttlichen Kunde – nicht nur inhaltlich, sondern in allen Formen der Äußerung („Jeder Laut“) – zielt, stellt die zweite zwar mit der Betonung der Ewigkeit ebenfalls eine Figur der Totalität heraus, allerdings erweist sich diese, wie aufgezeigt, an einen Prozess der Vermittlung gebunden. Die vorletzte Strophe der Rede der Göttin (Hymne an die Freiheit. Wonne säng’ ich . . . , VV 57–64) führt in einen Prozess der Subjektwerdung des Ichs, der anhand der Erzählung vom Sündenfall dargestellt wird. Dabei mündet der erste Teil der Strophe (VV 57–60) zunächst in eine zutiefst positive Bestimmung der Welt, die dem göttlichen Wort entsprechend lebt. Der Vers „Lebt die Welt ihr heilig Leben

31

Für diesen Hinweis danke ich Johannes Deibl.

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

71

frei“ (VV 48, 60) wird an dieser Stelle zum zweiten Mal angeführt ist. Davon hebt sich jedoch die Erwähnung des Menschen deutlich ab: Unentweiht von selbsterwählten Gözen, Unzerbrüchlich ihrem Bunde treu, Treu der Liebe seeligen Gesezen, Lebt die Welt ihr heilig Leben frei; Einer, Einer nur ist abgefallen, Ist gezeichnet mit der Hölle Schmach; Stark genug, die schönste Bahn zu wallen, Kriecht der Mensch am trägen Joche nach.

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Wo der Mensch erstmals in Singularität begegnet, erscheint er nicht in seiner Personalität oder im Gestus des Sich-Erhebens, sondern als der Eine, der aus dem heiligen Leben der Welt herausgefallen ist und damit die Perspektive, die Erde als Heiligtum wahrzunehmen, verloren hat. Während die Welt ihre Anlagen in Freiheit realisieren kann, kommt der Mensch seinen Möglichkeiten, nämlich „die schönste Bahn zu wallen“ (V 63), nicht nach. Nur durch das Eingreifen der Göttin in der letzten Strophe ihrer Rede (VV 65–72) kann der Mensch auf dem Weg der Subjektwerdung gehalten werden. Er bleibt dabei jedoch in der Gefahr, die entscheidende „Stunde“ (V 73), vermutlich die Stunde der Realisierung der Freiheit, zu versäumen und muss aufgefordert werden zu erwachen (V 80). In der ersten Fassung der Hymne an die Freiheit lebt das Ich so sehr im Pathos der Freiheit, dass Bedrohungen dieser Gestalt nicht in den Blick kommen konnten. Demgegenüber erscheint in der zweiten Version der Hymnne auch die Freiheit als gefährdet: Wenn der Schatten väterlicher Ehre, Wenn der Freiheit lezter Rest zerfällt, weint mein Herz der Trennung bittre Zähre Und entflieht in seine schön’re Welt.

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Freiheit erscheint nicht als das ungeteilte Einfache, als letzter Wert oder Ideal, sondern steht unter dem Zeichen von Vergänglichkeit und Trennung. Der Erde, die zum Heiligtum ward (V 16), tritt der Gedanke einer Flucht in eine andere Welt gegenüber. Die Freiheit der sich eröffnenden Zukunft fungiert nicht mehr als ungebrochene Leitidee, sondern muss dem Raub der Zeit je neu abgerungen werden. An die Stelle des freien kommenden Jahrhunderts tritt die bescheidenere Hoffnung auf ein „Morgen“ (V 90) und auf den „Lenz“ (V 91), die zu neuer Blüte führen können. Der Schluss des Gedichtes verlegt die Freiheit sogar in eine eschatologische Ferne: Ha! und dort in wolkenloser Ferne, Winkt auch mir der Freiheit heilig Ziel! Dort, mit euch, ihr königlichen Sterne, Klinge festlicher mein Saitenspiel!

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Ist jene Ferne auch unerreichbar, wird sie doch zum Ausgangspunkt des Saitenspiels. Dies ist ein Gedanke von höchster Wichtigkeit: Im Gedicht ist ein Punkt anvisiert, der nicht besetzt werden kann und sich dem Zugriff entzieht, zumal er in „wolkenloser Ferne“ (V 125) liegt. Dennoch ist er der Ort, an welchem das Saitenspiel erklingt und sich der Gesang, die Sprache eröffnet. Nur von ihm als einem Unverfügbaren her kann sich Sprache in ihrer Unverfügbarkeit („festlicher“, V 12832 ) eröffnen. 2) Die Gedichte der Tübinger Zeit zeigen zahlreiche Bilder der Erfüllung. Gerade an diesen setzt jedoch eine Differenzierung der Zeiten ein. Wie am Übergang von der ersten zur zweiten Hymne an die Freiheit deutlich wird, lagert sich die Erfüllung in eine eschatologische Zukunft aus und wird zur ersehnten Erfüllung. Die vierzehnstrophige Hymne an den Genius der Jugend beginnt zunächst ebenfalls mit Bildern präsentischer Fülle, bevor sich über vier Strophen (Strophen VII–X; VV 49–80) das Wort „noch“ in einer auffälligen Häufung findet und die zeitlichen Verhältnisse eine komplexere Gestalt annehmen33 : An der alten Thaten Heere Waidet noch das Auge sich. Ha! der großen Väter Ehre Spornet noch zum Ziele mich; Rastlos, bis in Plutons Hallen Meiner Sorgen schönste ruht, Die erkorne Bahn zu wallen, Fühl’ ich Stärke noch und Muth. Wo die Nektarkelche glühen, Seiner Siege Zeus genießt, Und sein Aar, von Melodien Süß berauscht, das Auge schließt, Wo, mit heil’gem Laub’ umwunden, Der Heroen Schaar sich freut, Fühlt noch oft, von dir entbunden, Meine Seele Göttlichkeit.

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In doppelter Hinsicht wird die präsentische Fülle anachronistisch gebrochen: Zum einen tauchen wie selbstverständlich Bilder griechischer Mythologie auf und werden als gegenwärtig gesetzt. Wo Zeus seine Siege genießt und die Heroen sich freuen, fühle die Seele ihre Göttlichkeit. Was als Anhaltspunkt angeführt wird, um die Göttlichkeit der Seele auszusagen, gehört jedoch einer vergangenen Zeit und ist nicht mehr lebendig. Das Gedicht zeigt mithin Vergleiche oder Begründungen, welche die Ahnung eines früher selbstverständlichen Zusammenhangs bieten, die32

Festlichkeit weist hin auf die Dimension der Unverfügbarkeit, ist doch das Fest nie gänzlich ins letzte planbar, sondern bedarf eines Glanzes, der nicht hergestellt werden kann (Vgl. Bahr, Zeit der Muße – Zeit der Musen). 33 Vgl. Sabine Doering, Der Trost der Jugend. Zeitvorstellungen in Hölderlins ‚Hymne an den Genius der Jugend‘ (1793) und ‚Der Gott der Jugend‘ (1796), in: HJb 2001/02, 223–237.

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

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sen aber nur mehr gebrochen aufrechterhalten können. Zum anderen trägt das Wort „noch“ eine eigentümliche Zeitstruktur in die Passage ein.34 Inhaltlich bringt es zum Ausdruck, dass etwas nach wie vor bestehe oder gelte: „An der alten Thaten Heere / Waidet noch das Auge sich“ (VV 65 f.). In performativer Hinsicht jedoch wird das „noch“ gerade zum Zeichen massiver Bedrohung.35 Was „noch“ besteht, ist längst schon zutiefst gefährdet und könnte jederzeit auch nicht mehr sein. Es nimmt einer Aussage jegliches Fundament und öffnet den minimalen Spalt zwischen Sein und Nichts, Null und Eins. Die häufige Verwendung des Wortes „noch“ bei Hölderlin zeigt, dass seine Dichtung wesentlich als Gestaltung dieses Raumes angesehen werden kann.36 In zeitlicher Hinsicht drückt es in den Worten von Sabine Doering „eine labile Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigen“37 aus: Eine Präsenz ist bereits von Vergangenheit durchsetzt, ist am Sprung des Übergangs in diese, ohne freilich unmittelbar überzugehen, wie dies die chronologische Zeit in ihrem Voranschreiten insinuiert. Es ist wohl nicht zufällig, dass Hölderlin das Motiv eines Verlustes des lebendigen Zusammenhangs mit der Welt der Griechen sowie den Charakter des „noch“ in einem Gedicht entwickelt, welches dem Genius der Jugend gewidmet ist. Dessen beschworene Wirklichkeit nimmt einen anachronistischen Charakter an, kann aber gleichwohl als ein erster Versuch angesehen werden, den Bezug zum Göttlichen aus linearen zeitlichen Relationen herauszulösen: Weder ist es in bloßer Präsenz bzw. Erfüllung noch in Vergangenheit bzw. Erinnerung oder Zukunft bzw. Sehnsucht zu finden, sondern allenfalls dort, wo zeitliche Relationen sich zu überkreuzen, zu durchdringen oder zu verschieben beginnen. Freilich deutet sich all das in diesem Gedicht erst an und ist noch nicht ausgeführt. In den auf die zitierte Passage folgenden letzten vier Strophen (XI–XIV; VV 81–112) tauchen nebeneinander Bilder von unmittelbarer Fülle göttlicher Präsenz und von Chaos und Verlust auf.

Die Entdeckung der Sphäre: Hymnus an die Göttin der Harmonie In einem Brief an Neuffer schreibt Hölderlin am 8. November 1790: „Leibniz und mein Hymnus auf die Wahrheit haußen seit einigen Tagen ganz in m. Capitolium. Jener hat Einfluß auf diesen.“38 Martin Vöhler sieht darin den „gedankliche[n] 34

„Wie auch in den anderen Tübinger Gesängen kommt den Zeitvorstellungen in der ‚Hymne an den Genius der Jugend‘ zentrale Bedeutung zu, was sich nicht zuletzt in der Häufigkeit der Temporaladverbien im einzelnen Gedicht wie in der gesamten Werkgruppe spiegelt.“ (Sabine Doering, Der Trost der Jugend. Zeitvorstellungen in Hölderlins ‚Hymne an den Genius der Jugend‘ (1793) und ‚Der Gott der Jugend‘ (1796), in: HJb 2001/02, 223–237. hier: 232). 35 Sabine Doering hingegen betont vor allem den „Trost in der Gewißheit einer nicht mehr selbstverständlichen Kontinuität“ (Sabine Doering, Der Trost der Jugend. Zeitvorstellungen in Hölderlins ‚Hymne an den Genius der Jugend‘ (1793) und ‚Der Gott der Jugend‘ (1796), in: HJb 2001/02, 223–237). 36 Vgl. An Neuffer. 37 Sabine Doering, Der Trost der Jugend. Zeitvorstellungen in Hölderlins ‚Hymne an den Genius der Jugend‘ (1793) und ‚Der Gott der Jugend‘ (1796), in: HJb 2001/02, 223–237, hier: 233. 38 Brief 35, 8. November 1790, MA II, 461.

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2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Ausgangspunkt der Tübinger Hymnen“39 ausgesprochen. Die Hymne an die Wahrheit wurde von Hölderlin vermutlich in der Zeit bis März 1791 umgearbeitet zum Hymnus an die Göttin der Harmonie.40 Veröffentlicht wurde er gemeinsam mit der Hymne an die Muse, der Hymne an die Freiheit (in der ersten Fassung) und dem Gedicht Meine Genesung an Lyda im von Gotthold Friedrich Stäudlin herausgegebenen Musenalmanach für das Jahr 1792. Es handelt sich um die ersten Veröffentlichungen Hölderlins. H YMNUS AN DIE G ÖTTIN DER H ARMONIE . Urania, die glänzende Jungfrau, hält mit ihrem Zaubergürtel das Weltall in tobendem Entzüken zusammen. Ardinghello. Froh, als könnt’ ich Schöpfungen beglüken, Kün, als huldigten die Geister mir, Nahet, in dein Heiligtum zu bliken, Hocherhab’ne! meine Liebe dir; Schon erglüht der wonnetrunkne Seher Von den Ahndungen der Herrlichkeit, Ha, und deinem Götterschoose näher Höhnt des Siegers Fahne Grab und Zeit. Tausendfältig, wie der Götter Wille, Weht Begeisterung den Sänger an, Unerschöpflich ist der Schönheit Fülle, Grenzenlos der Hoheit Ozean. Doch vor Allem hab ich dich erkoren, Bebend, als ich ferne dich ersah, Bebend hab ich Liebe dir geschworen, Königin der Welt! Urania. Was der Geister stolzestes Verlangen In den Tiefen und den Höh’n erzielt, Hab ich allzumal in dir empfangen, Sint dich ahndend meine Seele fühlt. Dir entsprossen Myriaden Leben, Als die Stralen deines Angesichts, Wendest du dein Angesicht, so beben Und vergeh’n sie, und die Welt ist Nichts.

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Martin Vöhler, Frühe Hymnen, in: Handbuch, 290–308, hier: 301. Vgl. BA III, 33–37; 50–53; 69–73; KA 56 StA 2.1, 437–440; Böhm, Hölderlin I, 56 f.

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit Thronend auf des alten Chaos Woogen, Majestätisch lächelnd winktest du, Und die wilden Elemente flogen Liebend sich auf deine Winke zu. Froh der seeligen Vermälungsstunde Schlangen Wesen nun um Wesen sich, In den Himmeln, auf dem Erdenrunde Sahst du, Meisterin! im Bilde dich. – Ausgegossen ist des Lebens Schaale, Bächlein, Sonnen treten in die Bahn, Liebetrunken schmiegen junge Thale Sich den liebetrunknen Hügeln an: Schön und stolz wie Göttersöhne hangen Felsen an der mütterlichen Brust, Von der Meere wildem Arm umfangen, Bebt das Land in niegefühlter Lust. Warm und leise wehen nun die Lüfte, Liebend sinkt der holde Lenz ins Thal: Haine sprossen an dem Felsgeklüfte, Gras und Blumen zeugt der junge Stral. Siehe, siehe, vom empörten Meere, Von den Hügeln, von der Thale Schoos, Winden sich die ungezälten Heere Freudetaumelnder Geschöpfe los. Aus den Hainen wallt ins Lenzgefilde Himmlischschön der Göttin Sohn hervor, Den zum königlichen Ebenbilde Sie im Anbeginne sich erkor: Sanftbegrüßt von Paradiesesdüften Steht er wonniglichen Staunens da, Und der Liebe großen Bund zu stiften, Singt entgegen ihm Urania: „Komm, o Sohn! der süßen Schöpfungsstunde Auserwählter, komm und liebe mich! Meine Küsse weihten dich zum Bunde, Hauchten Geist von meinem Geist in dich. – Meine Welt ist deiner Seele Spiegel, Meine Welt, o Sohn! ist Harmonie, Freue dich! Zum offenbaren Siegel Meiner Liebe schuff ich dich und sie.

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2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen Trümmer ist der Wesen schöne Hülle, Knüpft sie meiner Rechte Kraft nicht an. Mir entströmt der Schönheit ew’ge Fülle, Mir der Hoheit weiter Ozean. Danke mir der zauberischen Liebe, Mir der Freude stärkenden Genuß, Deine Thränen, deine schönsten Triebe Schuff, o Sohn! der schöpferische Kuß. Herrlicher mein Bild in dir zu finden, Haucht’ ich Kräfte dir und Künheit ein, Meines Reichs Geseze zu ergründen, Schöpfer meiner Schöpfungen zu sein. Nur im Schatten wirst du mich erspähen, Aber liebe, liebe mich, o Sohn! Drüben wirst du meine Klarheit sehen, Drüben kosten deiner Liebe Lohn.“ Nun, o Geister! in der Göttin Namen, Die uns schuff im Anbeginn der Zeit, Uns, die Sprößlinge von ihrem Saamen, Uns, die Erben ihrer Herrlichkeit, Kommt zu feierlichen Huldigungen Mit der Seele ganzer Götterkraft, Mit der höchsten der Begeisterungen Schwört vor ihr, die schuff und ewig schaft! Frei und mächtig, wie des Meeres Welle, Rein wie Bächlein in Elysium, Sei der Dienst an ihres Tempels Schwelle, Sei der Warheit hohes Priestertum. Nieder, nieder mit verjährtem Wahne! Stolzer Lüge Fluch und Untergang, Ruhm der Weisheit unbeflekter Fahne, Den Gerechten Ruhm und Siegsgesang! Ha, der Lüge Quell – wie todt und trübe! Kräftig ist der Weisheit Quell und süß! Geister! Brüder! dieser Quell ist Liebe, Ihn umgrünt der Freuden Paradieß. Von des Erdelebens Tand geläutert, Ahndet Götterlust der zarte Sinn, Von der Liebe Labetrunk erheitert, Naht die Seele sich der Schöpferin.

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2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit Geister! Brüder! unser Bund erglühe Von der Liebe göttlicher Magie. Unbegränzte, reine Liebe ziehe Freundlich uns zur hohen Harmonie. Sichtbar adle sie die treuen Söhne, Schaff’ in ihnen Ruhe, Muth und That, Und der heiligen Entzükung Thräne, Wenn Urania der Seele naht. Siehe, Stolz und Hader ist vernichtet, Trug ist nun und blinde Lüge stumm, Streng’ ist Licht und Finsterniß gesichtet, Rein der Warheit stilles Heiligtum. Unsrer Wünsche Kampf ist ausgerungen, Himmelsruh errang der heiße Streit, Und die priesterlichen Huldigungen Lohnet göttliche Genügsamkeit. Stark und seelig in der Liebe Leben Staunen wir des Herzens Himmel an, Schnell wie Seraphin im Fluge, schweben Wir zur hohen Harmonie hinan. Das vermag die Saite nicht zu künden, Was Urania den Sehern ist, Wenn von hinnen Nacht und Wolke schwinden, Und in ihr die Seele sich vergißt. Kommt den Jubelsang mit uns zu singen, Denen Liebe gab die Schöpferin! Millionen, kommt emporzuringen Im Triumphe zu der Königin! Erdengötter, werft die Kronen nieder! Jubelt Millionen fern und nah! Und ihr Orione hallt es wieder: Heilig, heilig ist Urania!

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Der im Titel genannten Göttin der Harmonie entspricht im Text des Gedichtes die Muse Urania, die auch in der Hymne an die Schönheit (V 70) begegnet. Dort spricht sie in den letzten drei Strophe mit „Götterstimme“ (V 110), im Hymnus an die Göttin der Harmonie hingegen in den mittleren drei Strophen. Daran orientiert kann die siebzehnstrophige Hymne entsprechend dem Schema 7–3–7 in drei Abschnitte untergliedert werden (wobei eine feinere Unterteilung im Rahmen der Interpretation ausgeführt wird). Sie beginnt mit sieben Strophen, die eine Vorbereitung auf die Rede von Urania darstellen, die sich in den mittleren Strophen des Gedichtes findet. Danach folgen erneut sieben Strophen, in denen wiederum der Dichter das Wort ergreift. Zweifelsohne gibt es auch andere Möglichkeiten, die Hymne zu strukturie-

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2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

ren.41 Binder, dessen Gliederung hier nicht im Einzelnen übernommen wird, hat auf die Symmetrie des Gedichtes hingewiesen. In der Tat kann, wie oben angedeutet, die Rede Uranias als Achse oder Spiegel für Anfangs- und Schlussteil angesehen werden. Hölderlin schreibt auf diese Weise die von Leibniz übernommene Spiegelmetapher („Meine Welt ist deiner Seele Spiegel“, V 61) dem Gedicht als Bauprinzip ein. Um die Worte der Göttin dreht sich der Text und erhält von ihnen seine Struktur. Die vom Gedicht aufgebaute Sphäre hat darin ihren Angelpunkt.

Strophe I–III (VV 1–24) Als eine erste Einheit können die ersten drei Strophen angesehen werden, zumal sie einen Bogen umspannen, welcher von den „Schöpfungen“ (V 1) bis zum Vergehen der Welt ins „Nichts“ (V 24) reicht. Die ersten beiden Verse beginnen in parallelem Aufbau jeweils mit einem einsilbigen Adjektiv (Adverb), das durch einen Beistrich vom Rest des Satzes getrennt ist, der jeweils mit „als“ eingeleitet und im Irrealis gehalten ist: Froh, als könnt’ ich [. . . ] Kün, als huldigten [. . . ]

Die beiden Adverbien geben genau jene Stimmung an, welche den Tübinger Hymnen nicht selten zugeschrieben wird: das Überschwängliche, die überspannte Begeisterung. Allerdings muss der Irrealis ernst genommen werden: Die Liebe des Dichters nahet der Hocherhabenen, an die er sich adressiert, in froher und kühner Weise, als könnte er Schöpfungen beglücken und würden ihm die Geister huldigen. Dass es sich dabei um eine Vorstellung handelt, die nicht einlösbar ist, weiß der Dichter. Er bedarf ihrer jedoch, um überhaupt in jenes Geschehen einer Annäherung an den Lobpreis der Harmonie von außen her eintreten zu können. Was die beiden Vorstellungen trotz ihrer Nicht-Einlösbarkeit zu veranschaulichen mögen, ist eine Struktur, die sich für das Verständnis des Gedichts als zentral erweist: Der Dichter wendet sich an ein anderes, ihn Überragendes, ihn Umgebendes („als könnt’ ich Schöpfungen beglücken“, V 1), und im selben Atemzug erfährt er sich selbst als angesprochen („als huldigten die Geister mir“, V 2). Sichtbar wird darin ein Prozess, der keinen Ursprung, kein erstes Moment kennt. Dass die beiden Motive in zwei aufeinanderfolgenden Versen geschildert werden, lässt nicht auf eine Form der Hierarchisierung schließen, sondern ist lediglich der Endlichkeit der Darstellungsmöglichkeiten in der Schrift geschuldet. Durch die parallele Gestaltung der 41 Böhm schlägt vor, die erste und letzte Strophe als Rahmen zu sehen, der fünf Abschnitte zu je drei Strophen umgreift (vgl. Böhm, Hölderlin I, 56). Vöhler unterteilt die Hymne entsprechend bestimmter Aufgaben, welche die Abschnitte zu erfüllen haben: 3 Strophen Prooimion, 7 Strophen Aretalogie, 4 Strophen Parainesis und 3 Strophen Conclusio (Vgl. Martin Vöhler, Frühe Hymnen, in: Handbuch, 290–308, hier: 306). Ausführliche Hinweise zum symmetrischen Aufbau des Gedichtes bietet Binder, der von einer Struktur 3–4–3–4–3 ausgeht (Wolfgang Binder, Einführung in Hölderlins Tübinger Hymnen, in: HJb 1973/74, 1–19, hier: 1).

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

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Verse wird das Nacheinander zurückgenommen und einem Bild der Gleichzeitigkeit angenähert. Das Sich-Stellen in die synchrone Struktur des Sich-Wendens an . . . und des Angesprochen-Werdens von . . . aus den ersten beiden Versen ermöglicht, auch wenn in seiner Verwirklichung als irreal durchschaut, einen entscheidenden Übergang: Der Blick öffnet sich aus der Selbstbezüglichkeit der ersten beiden Verse („als könnt’ ich“, V 1; „als huldigten mir“, V 2) auf ein Du, dem er sich nahen kann („dein Heiligtum“, V 3; „meine Liebe dir“, V 4). Das Ziel der Annäherung ist es, in das Heiligtum der Göttin blicken zu können. Im zweiten Teil der ersten Strophe (VV 5–8) erfolgt ein eigentümlicher Wandel im Subjekt des Geschehens. Einerseits scheint es auf dem Weg der Annäherung an das Heiligtum zu sein. Es fühlt sich „näher“ (V 7), die „Ahndungen der Herrlichkeit“ (V 6) lassen es erglühen. Andererseits erfolgt eine Objektivierung, ist doch nun nicht mehr von einem Ich die Rede, sondern von einem „Seher“ (V 5) bzw. Sieger (V 8). Steigert die distanzierte Schilderung des Geschehens in der dritten Person die Feierlichkeit der Szene oder zeigen sich darin Versuche, Typen zu finden, die sich als Subjekte jener Annäherung darstellen lassen – der Seher, der Sieger und der Sänger (V 10)? Kann das Ich die Subjektwerdung, welche es im Sich-Nahen des Göttlichen erfährt, selbst noch gar nicht übernehmen? Imaginierte es anfangs die Huldigung der Geister, muss es nun einsehen, dass ihm bereits die ersten Schritte der Annäherung zu schnell gehen. Diese für es nicht mehr fassbare Geschwindigkeit begegnet besonders im Wort „Schon“ (V 5), welches den zweiten Teil der Strophe eröffnet. Hatten die ersten vier Verse bloß Strukturen zum Ausdruck gebracht (die zirkuläre des Sich-Wendens an . . . und die der Annäherung an . . . ), so findet sich das Ich im nächsten Vers „Schon“ in ein Geschehen versetzt. Diesem gegenüber kann es sich nicht als souveränes Subjekt erhalten. Die im zweiten Teil der Strophe statthabende Distanzierung geht im letzten Vers (V 8) noch einen Schritt weiter: Nicht der Sieger selbst ist es, der Grab und Zeit zu höhnen sich getraut, es ist bloß sein Zeichen, welches dies zum Ausdruck bringt („des Siegers Fahne“, V 8). Es wirkt, als träte der Sieger hinter seinem Zeichen zurück, das mehr sagt, als er selbst repräsentieren könnte. War die erste Strophe in emotionalem Ton gehalten und musste schließlich eine Distanz aufbauen, so findet sich in der ersten Hälfte der zweiten Strophe (VV 9–12) der Versuch ihrer Weiterführung mit stärker logischem Charakter. Nicht mehr mit einsilbigen Adjektiven, welche die Unmittelbarkeit eines Gefühls zum Ausdruck bringen (VV 1 f.), beginnen nun die Verse, sondern mit mehrsilbigen Worten, die nichts unmittelbar Sinnlich-Emotionales an sich haben, sondern Ausdruck einer logischen Vermittlung sind: „Tausendfältig“ (V 9), „Unerschöpflich“ (V 11), „Grenzenlos“ (V 12). Der Sänger, der Seher und Sieger ablöst, ist nun als der Empfangende geschildert, der nichts mehr aus sich selbst heraus erbringt: „wie der Götter Wille, / Weht Begeisterung“ (V 9 f.) ihn an. Er vermag nichts aus eigener Begeisterung, sondern bedarf der Begeistung durch Gott. Vor ihm stehen dann die objektiven Bilder der Unerschöpflichkeit der Schönheit und der Grenzenlosigkeit des Ozeans. „Unerschöpflich“, „Schönheit“, „Fülle“, „Grenzenlos“ und „Hoheit“ sind allesamt Abstraktbildungen, logische Ausdrücke.

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War der Seher noch im Nominativ als Subjekt des Satzes aufgetreten, so musste der Sieger – in der Form eines Genitivs genannt – schon etwas anderem die erste Stelle des Satzes überlassen und tritt nun der Sänger im Akkusativ auf, was den Verlust jeglicher selbstgesetzter Aktivität zum Ausdruck bringt. Der Sänger wird von Hölderlin mithin als einer bestimmt, der vor einem geistigen Geschehen in den Hintergrund tritt. Allerdings kann auf diese Weise vielleicht eine neue Sprache, ein vertiefter Ausdruck entstehen. Die Bestimmung der Rolle des Sängers wird jedoch nicht unmittelbar weitergeführt. Das in den Hintergrund getretene Ich verschafft sich, indem es das sich entwickelnde geistige Geschehen mit einem „Doch“ (V 13) barsch unterbricht, wieder Raum und nennt sich in den folgenden drei Versen je einmal selbst. Es verlässt den langsamen Weg der Annäherung an das Göttliche über die Formen der Vermittlung, über die Erfahrungen des Schönen („Unerschöpflich ist der Schönheit Fülle“, V 11) und Erhabenen („Grenzenlos der Hoheit Ozean“, V 12), und drängt das Göttliche in den Akkusativ: Nicht mehr es erfährt sich als begeistet, sondern es behauptet nun, selbst das Göttliche erkoren zu haben (V 13). Es habe, zwar von „ferne“ (V 14), aber immerhin doch, das Göttliche gesehen (V 14) und wähnt sich damit bereits an dem in der ersten Strophe (V 3) anvisierten Ziel, ins Heiligtum blicken zu können. Das Ich erweckt den Eindruck, als sei nicht es allerst vom Göttlichen angenommen, sondern als schwöre es ihm die Liebe (V 15). Anstatt den Weg der langsamen Annäherung fortzusetzen, richtet es sich wieder direkt an das Göttliche und spricht es im letzten Vers auch direkt an: „Königin der Welt! Urania.“ (V 16) Dieser Versuch des Ichs, sich wieder in den Mittelpunkt zu stellen und das Göttliche zum Objekt seiner Annäherung zu machen, bleibt völlig leer und bringt bloß ein Beben zum Ausdruck, das es wiederholt ausspricht („Bebend“, VV 24 f.). In sprachlicher Hinsicht vermag er nichts zu eröffnen. Wie „Grab und Zeit“ (V 8) die erste Strophe beschließen, so ein wenig aussagekräftiges Sich-Adressieren an die Göttin Urania (V 16) die zweite Strophe. Immerhin gelangt das poetische Ich zu einer Adresse und einem Namen, d. h. zu einem Sich-Richten an ein Du. Dieses Sich-Adressieren hat eine Dynamik, welches das Ich selbst weder intendieren noch begreifen kann, und es erfährt, wie der Fortgang des Gedichtes zeigt, wieder eine Dezentrierung. Erneut kann das Du in den Mittelpunkt rücken. Mit der dritten Strophe beginnt der Versuch, der Göttin Konkretion zu geben. Das Ich tritt in den Hintergrund und kehrt zu einer logischen Tätigkeit zurück, nämlich dem Sammeln und damit einhergehend einem Verallgemeinern. Die Wendung „Was der Geister stolzestes Verlangen / . . . erzielt“ (VV 17 f.) gefällt sich nicht mehr selbst unmittelbar im Aufschwung zum Göttlichen, sondern fasst all die bisherigen Ausdrucksformen der Annäherung („erzielt“, V 18) zusammen, seien sie stolz im Sinne des Übermutes, seien sie stolz im Sinne des Bewusstseins der Größe des Gegenüberstehenden. Der umfassende Charakter dieser Sammlung wird durch die Pole der Tiefe und Höhe („In den Tiefen und den Höh’n“, V 18) zum Ausdruck gebracht. Die Vergangenheitsform dieser Strophe lässt den Leser, die Leserin auf die bisherigen Versuche der Annäherung an das Heiligtum zurückblicken, wie sie in den ersten Strophen erfolgt sind. In ihrem Scheitern und Gelingen werden sie nun zusammengefasst. Im Gedicht beginnt die Reflexion auf das, was das Gedicht

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

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bisher erbracht hat. Die folgenden beiden Verse (VV 19 f.) zeigen einerseits das Ich wieder als ein Empfangendes und sprechen andererseits erneut die Dimension des Gefühls an („Sint dich ahndend meine Seele fühlt“, V 20). Logisches Verallgemeinern und der Bezug auf das Gefühl sind erstmals vereint – freilich noch eine Ausdifferenzierung zu erfahren. Die logische Funktion geht über das Zusammenfassen von Gegensätzen noch nicht hinaus, die Seele nicht über die Betonung eines auf das Göttliche gerichteten Fühlens. Dennoch ist mit dieser Vereinigung ein wichtiger Schritt gesetzt. Die folgenden beiden Verse (VV 21 f.) geben an, worin dieser gründet. Das Gedicht greift dazu erstmals ein Offenbarungsmotiv auf und spricht von einer Unzählbarkeit des Lebendigen („Myriaden Leben“, V 21), das in Gestalt von „Stralen“ (V 22) dem göttlichen Angesicht entspringt. Nicht mehr der Mensch nähert sich in eigenem Antriebe dem Göttlichen an, sondern dieses offenbart sich ihm in seiner Leben spendenden Kraft. Der Dichter weiß um die Abhängigkeit von diesem Geschehen, welches einen Lebensraum, eine Sphäre des Lebendigen eröffnet. Mit Bezug auf den 104. Psalm sagt er, dass die Lebendigen vergingen und die Welt dem Nichts gleichgesetzt würde, wenn Gott sein Angesicht wendete (VV 23 f.). Die Verse 23 und 24 aus Hölderlins Gedicht können als Zitation des Psalms gelesen werden, lediglich ein kurzer Abschnitt ist weggelassen („du nimmst weg ihren Odem“): Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; du nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie, und werden wieder zu Staub. Psalm 104,29

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Wendest du dein Angesicht, so beben Und vergeh’n sie, und die Welt ist nichts. Hymnus an die . . . , VV 23 f.

Die Adresse an Urania, die griechische Muse, welche über das Bild ihrer Leben ermöglichenden Offenbarung eine erste Gestalt erhält, erfolgt an dieser Stelle mittels einer Wendung aus den Psalmen, d. h. aus dem biblischen Text. Damit ist auch eine erste Antwort auf die Frage gegeben, was Harmonie in diesem Gedicht bedeuten könne: Antikes griechisches Denken des Göttlichen sowie biblisches Gottesgedächtnis stellen keine Gegensätze dar, sondern können sich freundschaftlich einander zuneigen.

Strophe IV–VII (VV 25–56) Der zweite, bis zur Rede der Göttin reichende Abschnitt42 knüpft an seinem Beginn am Symbol der Welt als Nichts (V 24) an und entwickelt dieses, damit es nicht unvermittelt als Gegenpol zur schöpferischen Potenz der Harmonie stehen bleibt. Zu Hilfe kommen dem Dichter dabei Bilder der Mythologie. Das Nichts wird im 42

Wie oben erwähnt, fasst Vöhler die Verse 25–80 als Aretalogie zusammen. Eine detaillierte Analyse der Einflüsse findet sich in Vöhler, Danken möcht’ ich, aber wofür?, 132–137.

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Sinne des „alten“, d. h. mythologischen „Chaos“ verstanden, auf dessen „Woogen“ (V 25) die Harmonie thront. Das den neuen Abschnitt eröffnende Partizip „Thronend“ sowie das im nächsten Vers folgende „Majestätisch“ (VV 25 f.) lassen an die Worte „Froh“ und „Kün“ (VV 1 f.) zurückdenken und verweisen damit auf eine Entwicklung vom ersten zum zweiten Abschnitt: Der Mensch versucht nicht mehr, mit den ersten Worten der Verse seinen eigenen Ort zu bestimmen, sondern will nun den Ort der Harmonie genauer angeben. Nach den „Stralen“ (V 22) nimmt der Dichter an dieser Stelle ein neues Offenbarungsmotiv auf, den Wink: Dabei handelt es sich um eine Geste des Zeichengebens, welche Autorität beansprucht, aber leiser, zurückhaltender und unscheinbarer ist als ein Befehl.43 Dem „lächelnd winktest du“ (V 26), das sich auf die Göttin der Harmonie bezieht, folgt sogleich die Schilderung der Wirkung: Auf die „Winke“ (V 28) hin fliegen die chaotischwilden Elemente liebend einander zu, sodass im nächsten Satz, dem zweiten Teil der Strophe (VV 29–32), sogar von einer „seeligen Vermälungsstunde“ (V 29) die Rede sein kann. Damit ist nach der bloß abwehrenden Rede von der Zeit am Ende der ersten Strophe („Grab und Zeit“, V 8) ein neuer Zeitbegriff eingeführt: Zeit geht aus dem Sich-liebend-Zusammenfinden der streitenden Elemente hervor (Vermählungsstunde).44 Offenbarung wird an dieser Stelle weniger als etwas gedacht, das an irgendeinem Punkt in der Zeit erfolgt, denn als die Eröffnung von Zeit überhaupt. Darüber hinaus kommt es zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Raumes, der nicht mehr bloß im allgemeinen Verweis auf die „Tiefen“ und die „Höh’n“ einen Ausdruck findet, sondern in einem Bogen, welcher „Himmeln“ und „Erdenrunde“ (V 31) umfasst45 : In den Himmeln, auf dem Erdenrunde Sahst du, Meisterin! im Bilde dich. –

In dem aus dem Chaos hervorgegangenen Gefüge aus Himmeln und Erde sieht die Göttin Urania sich in einem Bild. Der Kosmos wird zum Spiegel des Göttlichen. Der Wunsch, ins Heiligtum der Göttin zu blicken, wie er anfänglich geäußert wurde (V 3), führt zum Bild einer Entsprechung von göttlicher Harmonie und Kosmos und nimmt damit allgemeinen Charakter an. Die folgenden drei Strophen (V–VII) entfalten einen Teil jenes Bildes, in welchem sich Urania sieht, und zwar das „Erdenrunde“ (V 31). Dieses wird nun offen für eine Beschreibung, die Himmel hingegen können vom Dichter nicht beschrieben werden. Doch kommt in drei weiteren Strophen (VIII–X) die Göttin, mithin die Stimme aus den Himmeln, zu Wort. Nur sie kann verbürgen, dass beide Seiten des Bildes Eingang ins Lied finden. 43

Vgl. Art. „Wink“, in: Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 30, 337–342. Hölderlin greift im Gedicht Rousseau wieder auf diesen Begriff zurück, wobei diese Stelle zu einem wichtigen Ausgangspunkt für Heideggers Hölderlin-Deutung wird: „[. . . ] Dem Sehenden war / Genug der Wink, und Winke sind / Von Alters her die Sprache der Götter.“ (Rousseau, VV 30–32). 44 Diese Passage hat eine große motivliche Nähe zum Beginn der Elegie Heimkunft (VV 1–6). 45 Diese Wendung verweist biblisch auf den Aufgang der Ordnung aus dem Chaos („Als Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“, Gen 1,1) und auf die Gebetstradition. Im sogenannten „Vater Unser“ heißt es: „kommen soll dein Königtum; geschehen soll dein Wille, wie im Himmel auch auf Erden“ (Mt 6,10).

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

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Die fünfte Strophe beginnt die Beschreibung des Bildes mit dem Verweis auf die Geste des Ausgießens, d. h. mit Rückbezug auf das Entströmen („entsprossen“, V 21) des Lebens aus dem Göttlichen: „Ausgegossen ist des Lebens Schaale“ (V 33). An dieser Stelle wird mit „Bächlein, Sonnen“ (V 34) noch einmal, wie Beissner ausführt, „die gesamte Schöpfung, Erde und Weltall“46 , umfasst, bevor die Dichtung mit der Beschreibung der Erde fortsetzt und dabei „Thale“, „Hügeln“, „Felsen“, „Meere“ und „Land“ (VV 35–40) genannt werden. Es handelt sich dabei um Grundformen der Landschaft. Deutlich vernehmbar ist noch deren Formierungsprozess aus dem Chaotischen, dem Streit der Elemente, die dann liebend einander sich zuneigen (VV 25–29): Zweimal taucht das Adjektiv „liebetrunken“ (VV 35 f.) auf, weiters ist von Beben und „niegefühlter Lust“ (V 40) die Rede. Von dieser mythisch erfahrenen Landschaftsformierung hebt sich die folgende sechste Strophe (VV 41–48) ab, in welcher der sich eröffnet habende Lebensraum mit Pflanzen und Tieren erfüllt wird. Dieser Vorgang wird durch eine Abkühlung, eine Linderung der bisher noch herrschenden demiurgischen Gewalt ermöglicht: „Warm und leise wehen nun die Lüfte“ (V 41). Der „holde Lenz“ (V 42) bricht nicht gewaltsam ins Tal ein, sondern senkt sich liebend (anstatt liebetrunken). Diese Erleichterung ist die Voraussetzung dafür, dass die schroffen „Felsgeklüfte“ (V 43) zu grünen beginnen können.47 Besondere Aufmerksamkeit verdient der nächste Vers: „Gras und Blumen zeugt der junge Stral“ (V 44). Wie sich bereits gezeigt hat, ist Letzterer eines der entscheidenden Offenbarungsmotive in der Dichtung Hölderlins. Als jung bezeichnet, hebt er sich offensichtlich von anderen Formen seines Auftretens ab, die eine mächtigere, das Leben vernichtende Präsenz entfalten können.48 Was nun dem ersten Auftreten von Hainen, Gras und Blumen folgt, ist so erstaunlich, dass der Dichter dies mit einem zweimaligen „Siehe, siehe“ (V 45) einleitet. Im Meer, auf den Hügel und in den Tälern zeigen sich freudetaumelnde Geschöpfe! Die Übereinstimmung mit der vorangehenden Strophe ist sehr genau – von den dort genannten landschaftlichen Grundformen treten mit Ausnahme des Landes alle in expliziter Erwähnung wieder auf, um von ihrer Belebung zu erzählen. In die auf diese Weise vorbereitete Landschaft wird in der siebenten Strophe (VV 49–56) der Sohn der Göttin gesetzt, womit wohl der Mensch gemeint ist, den das Gedicht im Gefolge biblischen Denkens als königliches „Ebenbilde“ (V 51) bezeichnet.49 Dass er der von Anbeginn Erkorene sei (V 52), lässt Züge Christi durchscheinen. Nach dem Seher, Sieger und Sänger erscheint die Gestalt des Menschen. Über ihn selbst erfährt man in dieser Strophe – wohl ob des Pathos’ im Hinblick auf das Auftreten des Menschen – nicht viel, wohl aber über die Weise, wie das Göttliche ihm begegnet. Das Adverb „Sanftbegrüßt“ (V 53) eröffnet jenen 46

StA 1.2, 440. Zu diesen Motiven vgl. auch die ersten beiden Strophen von Heimkunft, VV 1–36 und An den Äther, VV 50 f. 48 Die Frage nach der Gegenwart des (göttlichen) Strahls, nach seiner Unmittelbarkeit und Gewalt oder aber nach seiner leisen Vermitteltheit, stellt ein entscheidendes Motiv der Dichtung Hölderlins dar. Dies ist im Folgenden zu zeigen. Festzuhalten ist, dass bereits im Hymnus an die Göttin der Harmonie das Bewusstsein um die Notwendigkeit einer „Schwächung“ des Strahls begegnet. 49 Vgl. StA 1.2, 440; KA 561. 47

84 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Satz, welcher zum Auftreten Uranias hinführt, die den Menschen anspricht („Singt entgegen ihm“, V 56). Das im Gesang Angesprochen-Werden durch die Göttin ist ein sanftes Grüßen – anders könnte der Mensch es nicht aufnehmen.

Strophe VIII–X (VV 57–80) Seit dem Auftreten der Strahlen (V 22) als des ersten Offenbarungsmotives ist das Ich nicht mehr in den Vordergrund getreten, wodurch sich der Blick für die Umgebung weiten konnte (V–VII). Dieses Zurücktreten, nicht zuletzt auch vom Versuch, sich unmittelbar und direkt (d. h. ohne Vermittlung und Vorbereitung) an die Göttin zu wenden, ist die Voraussetzung, dass nun sie selbst zur Sprache kommen bzw. von den Menschen vernommen werden kann. Nun ist sie es, die den Menschen anspricht – und zwar als Sohn und Auserwählten (VV 57 f.). Wie wichtig der lange Anweg von sieben Strophen war, sieht man an der engen Verbindung der Rede der Göttin zu den vorausgehenden Strophen. Urania nimmt das Gespräch am Punkt seiner bislang höchsten Differenzierung wieder auf, und zwar einerseits dort, wo es um die belebende Wirkung der Offenbarung in den Strahlen des göttlichen Angesichts (VV 21 f.), und andererseits dort, wo es – in Entsprechung zum Kosmos – um das Sich-Finden des Göttlichen im Bild (VV 31 f.) ging. Mit Bezug auf die biblische Paradieseserzählung (Gen 2 f.) spricht die Göttin zunächst davon, dass sie dem Menschen Geist von ihrem Geist einhauche. Das bislang lediglich allgemein gefasste belebende Prinzip konkretisiert sich damit als göttlicher Geist und stellt vor die Frage, ob sich damit auch ein neuer Blick auf die Welt und ein neuer sprachlicher Horizont eröffnet. Als eine erste Konsequenz lässt sich das Motiv, dass sich das Göttliche in Entsprechungen im Kosmos wiederfinde, auch auf den Menschen wenden: „Meine Welt“, d. h. die von der Göttin geschaffene (V 1) und belebte (V 21 f.) Welt, in welcher sie ein Abbild findet (V 31 f.), ist auch Spiegel der Seele des Menschen (V 61). Es gibt keine direkte Bezogenheit von Göttin und Mensch aufeinander, jedoch gleichen sie einander darin, dass sie auf je ihre Weise Spiegel der Welt sind. Der Bezug auf Leibniz’ Monadologie ist evident. Er fasst jede einfache Substanz oder Monade (in diesem Fall lässt sich auch sagen: Seele, Ich) als immerwährenden lebendigen Spiegel des Universums auf.50 Stellt jede Monade eine bestimmte Perspektive des Universums dar, so steht Gott als Monas Monadum für den Zusammenhalt und die Harmonie dieser endlichen Perspektiven, sodass die Welt nicht in unbezüglicher Alogizität auseinanderfällt.51 Damit ist auch die zweite Konsequenz aus dem Charakter des Geistigen, in dem die Welt belebt ist, benannt: „Meine Welt“, d. h. die Welt aus dem Blick Gottes betrachtet, wird als Harmonie lesbar. Freilich ist 50

„Diese Verknüpfung oder Anpassung aller erschaffenen Dinge an jedes einzelne und jedes einzelnen an alle übrigen hat nun aber zur Folge, daß jede einfache Substanz Beziehungen hat, die alle übrigen ausdrücken, und daß sie folglich ein beständiger lebender Spiegel des Universums ist.“ (Leibniz, Monadologie § 56). 51 Vgl. Appel, Zeit und Gott, 40–63.

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

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Hölderlin nicht so naiv zu meinen, dieser Blick ließe uns die Endlichkeit einfachhin überspringen. So heißt es denn auch am Beginn der nächsten Strophe (VV 65 f.): Trümmer ist der Wesen schöne Hülle, Knüpft sie meiner Rechte Kraft nicht an.

Für Hölderlin stellt sich die Frage, ob der philosophisch von Leibniz entwickelte Gedanke einfach konstatiert werden kann oder aber eines dichterischen Ausdruckes bedarf, welcher den Menschen in eine Bewegung der Erhebung (vgl. Die Unsterblichkeit der Seele) hineinnimmt, die verhindert, dass er darauf reduziert wird, sich und die Welt als bloß endlich und determiniert zu interpretieren. Der Einstimmung darauf dienten in der Antike die Musen52 , so adressiert sich auch Hölderlin im Gedicht an eine von ihnen. Noch eine weitere Bezugnahme auf Leibniz fällt auf: Urania gibt an, das Universum mitsamt dem Menschen „Zum offenbaren Siegel“ (V 63) ihrer göttlichen Liebe geschaffen zu haben. In der Liebe Gottes ist für Leibniz die kontingente, sich in tausendfältige (V 9) Perspektiven brechende Welt zureichend begründet; darin findet sie jene Freiheit, die verhindert, dass sie als kausal determiniert zu betrachten ist. Es handelt sich hier um eine der ganz wenigen Stellen im Werk Hölderlins, an der das Wort „offenbar“ explizit genannt wird: Die Welt und der Mensch sollen zum Siegel, d. h. zum nicht austauschbaren Erkennungszeichen der Liebe Gottes werden. Die mittlere Strophe von Uranias Rede bestätigt zunächst (VV 65–68) noch einmal, dass ihr alles Leben, symbolisiert durch die ewige Fülle der Schönheit und die Erhabenheit des weiten Ozeans, entströmt. Im zweiten Teil (VV 69–72) ruft sie den Menschen zum Dank dafür auf. Danach, in der zehnten Strophe (VV 73–80), nimmt Urania den Diskurs vom Anfang ihrer Rede wieder auf und benennt drei Motive, warum sie dem Menschen Geist eingehaucht habe: Es gehe darum, dass die Göttin ihr Bild in ihm finden könne (V 73), dass der Mensch die Gesetze ihres Reiches, d. h. der Harmonie, erkenne (V 75) und darum, „Schöpfer meiner Schöpfungen zu sein“ (V 76). Sollte zuvor der Mensch die Welt als göttliche Schöpfung wahrnehmen und darin auch seine Seele gespiegelt erkennen (V 61), so soll er nun das Bild der Göttin in ihr finden. Die Konsequenz daraus wird nach der Rede der Göttin ersichtlich. Übernimmt dann ein menschliches Ich wieder die Rede, zeigt sich dieses gegenüber dem Anfang des Gedichts, als es ebenfalls gesprochen hatte, gewandelt: Es wendet sich nun an eine Gemeinschaft, an die „Geister“ (V 81), d. h. an jene, die aus demselben Geist leben. Die Zentrierung auf sich selbst ist überwunden. Der Mensch, der aufgefordert wurde, das Bild göttlicher Harmonie im Menschen zu erkennen, lässt von seinem anfänglichen Hochmut ab und erkennt jenes Bild in den anderen Menschen. Der zweite Aspekt, das Erkunden der göttlichen Gesetze der Harmonie (V 75) ist wohl in diesem Gedicht noch wenig eingelöst. Er müsste in eine neue Aufmerksamkeit und Offenheit für die Welt münden und ihrer Differenziertheit in gesteigerter 52

Vgl. Bahr, Zeit der Muße – Zeit der Musen, 186–188.

86 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Weise gewahr werden, was einen Niederschlag auf die Dichtung nicht zuletzt der Natur haben müsste. Darauf wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Der wohl kühnste Gedanke findet sich in Vers 76, wo es heißt: „Schöpfer meiner Schöpfungen zu sein“. Zunächst bedeutet dies, dass Gott dem Menschen an seiner schöpferischen Kraft Anteil gibt. In dieser Teilhabe findet der Mensch das Bild Gottes in sich (V 73). Bruno Liebrucks verbindet den Gedanken der Schöpfung eng mit dem der Freiheit und der Liebe: Hier ist der Mensch erst Mensch, wenn er die Welt der Göttin der Harmonie als eine Harmonie ansehen kann, die aus der Liebe der Göttin entsprungen ist. Ein Geschöpf, das aus der Liebe geschaffen wurde, ist als freies geschaffen. So sind seine Schöpfungen nicht andere als die der Göttin, sondern dieselben. Der Mensch ist so frei geschaffen, daß die Göttin darauf wartet, daß er der Schöpfer ihrer Schöpfungen werde. Frei ist er nur, wenn er die Welt als Siegel ihrer Liebe offenbar vor sich hat.53

Frei und schöpferisch ist der Mensch, wenn er die Welt mit einem Blick der Liebe betrachtet. Das Schöpferische erscheint darin ungeteilt; es in menschliche und göttliche Anteile aufspalten zu wollen, wäre demgegenüber bereits ein Werk des urteilenden Verstandes, das den Blick der Liebe verlassen hat. Erneut gibt es Bezüge auf Leibniz. Im sechsten Abschnitt der Monadologie heißt es: „Man darf daher behaupten, daß die Monaden nur mit einem Schlage beginnen und enden können, d. h., daß sie nur durch Erschaffung beginnen und nur durch Vernichtung enden können, während das Zusammengesetzte aus Teilen entsteht und in Teile vergeht.“54 Die Monade (als einfache Substanz, als Einheitspunkt) steht nicht innerhalb der chronologischen Zeit (im Sinne des newtonschen Behälters gedacht), sondern zeitigt und verräumlicht sich in ihren Perzeptionen, d. h. in ihren Interaktions- und Wahrnehmungsformen der Welt. Sie entsteht nicht an einem bestimmten Punkt der Zeit und vergeht wieder, sondern mit ihr entsteht ein Raum-Zeit-Gefüge, das einen bestimmten Blick auf das Universum darstellt: Die Monade ist Spiegel des Universums, welches mit ihr entsteht und vergeht – ohne dass freilich die Monade das Universum in einem wirkursächlich verstandenen Sinn hervorbrächte, als würde sie dem Universum vorangehen. Auf einer der Monade vorausliegenden und von ihr unabhängigen chronologischen Zeit lässt sich dieses Verhältnis nicht abbilden, weil auch die Zeit mit der Monade erschaffen wird. Hölderlin nimmt dieses Motiv auf und spricht davon, dass mit dem Ich auch die Welt erschaffen wird, es ist Schöpfer der Schöpfungen Gottes. Weder wird damit das Ich ontologisch auf eine Stufe mit Gott gestellt, dessen Primat bleibt bewahrt – es ist eben Schöpfer der Schöpfungen Gottes; noch gibt es eine vom Ich unabhängige und ihm chronologisch vorausgehende Schöpfung, in welche das Ich dann nachträglich gestellt würde – es ist Schöpfer der Schöpfungen Gottes. Das Verhältnis zu Gott als dem Schöpfer bestimmt Leibniz als Nachahmung. Weil die Geister (die begeisteten Monaden) nicht allein Spiegel des Universums sind, sondern auch „Bilder der Gottheit selbst oder des Urhebers der Natur“, seien sie fähig, „das System des 53 54

Liebrucks, „Und“, 269. Leibniz, Monadologie, § 6.

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

87

Universums zu erkennen und davon etwas in architektonischen Proben nachzuahmen“55 . Über Leibniz hinausgehend kann dies – vorbereitet durch die häufige Rede von Schönheit und Harmonie in diesen Abschnitten des Textes – auch als eine Annäherung an eine ästhetische Betrachtung gesehen werden, die für Hölderlin ihren Ausdruck besonders in der Dichtung findet. Jene ästhetische Betrachtungsweise geht nicht von einer objektiv gegebenen Welt aus, welche im Rahmen des Erkenntnisprozesses lediglich eine ihr mehr oder weniger nahekommende Abbildung erfährt, sondern davon, dass in der Dichtung (oder allgemeiner in der Kunst) diese Welt erst erschaffen oder neu erschaffen wird und zwar in einem unabschließbaren Reichtum der Differenziertheit, welcher sich in der gegenständlichen Erkenntnis nicht einstellen kann. Damit lassen sich zwei Missverständnisse abwehren. Dichtung ist (wenigstens bei Hölderlin) weder Beschäftigung mit bloßen Phantasiegegenständen oder die Erfindung von Phantasiewelten noch die schöne Darstellung einer zuvor gegebenen Realität. Sie ist Erschaffung von Welt, insofern sie sich ganz von der Schöpfung Gottes her versteht. Bei all dem handelt es sich um ein geistiges Geschehen (VV 60, 74), für das chronologisch kein Anfang und keine zeitliche Folge angegeben werden kann, was immer schon eine distanzierte, verobjektivierende Betrachtung verlangte. In seiner schöpferischen Kraft, nicht jedoch von einem äußerlichen Standpunkt, erkennt der Mensch, dass diese schöpferische Kraft immer schon eine von Gott ermöglichte war. Dieses geistige Geschehen, dieser Raum oder diese Struktur kann auch als Sphäre bezeichnet werden. Vielleicht war es gerade die Entdeckung des eben angesprochenen dichterischen Grundmovens, welche Hölderlin in den Tübinger Hymnen so hochfliegend hat dichten lassen, freilich um den Preis, auf die Entwicklung einer differenzierten Betrachtungsweise der Gegenstände der Natur, der Landschaft etc. erst einmal zu verzichten. Von daher lassen sich auch die ersten Verse (VV 1 f.) des Gedichtes verstehen: Sie zeigen den Versuch, in eine ähnliche zirkuläre Struktur, die keinen Anfang kennt, von außen einzusteigen. Das Ich, das die Schöpfungen beglücken möchte, erfährt sich als von den Geistern gehuldigt. Die Überschwänglichkeit, im Zaum gehalten gleichwohl von einem Irrealis, weist hin auf die bis zum Zerreißen gespannte Schwierigkeit, in ein derartiges Geschehen einzutreten. Die Schwierigkeit rührt wohl daher, dass das Gedicht mit einer zu starken Ich-Konzeption56 eingestiegen war, die dann erst zurückgenommen werden musste, aber immer wieder hervortreten wollte. Erst mit der ersten Erwähnung eines Offenbarungsmotives konnte sie einer anderen, nicht rein subjektiven Form der Darstellung des Geschehens, also einer Form, die in der Darstellung nicht primär und immer sich selbst finden möchte, Platz machen. In späteren Gedichten wird Hölderlin nicht mehr mit einem Ich einsteigen, sondern muss sich dieses erst aus der Wahrnehmung kleinster Verschiebungen und Differenzierungen bilden. 55

Leibniz, Monadologie, § 83. Bruno Liebrucks bezeichnet die Tübinger Hymnen auch als „Subjektive Stufe“ in der Dichtung Hölderlins (vgl. Liebrucks, „Und“, 259–280). 56

88 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

Ein Vergleich mit der Hymne an die Wahrheit kann einen weiteren bedeutsamen Aspekt in der Rede von Urania zum Ausdruck bringen: Mühsam wirst du meinen Stral erspähen, [. . . ] Drüben wirst du meine Klarheit sehen (Hymne an die Wahrheit, VV 77–79)

|| || || ||

Nur im Schatten wirst du mich erspähen, [. . . ] Drüben wirst du meine Klarheit sehen (Hymnus an die Göttin . . . , VV 77–79)

Das Bild des mühsamen Erspähens des Strahls macht deutlich, dass es an dieser Stelle um die Frage nach Offenbarung, genauerhin nach dem Charakter von deren Aufnahme geht. Die Schwierigkeit des Aufnehmens göttlicher Offenbarung spiegelt eine konventionelle theologische Frage wieder. Hölderlin gestaltet das Motiv in der Überarbeitung der Hymne jedoch weiter und greift auf das für ihn wichtige Bild des Schattens zurück (vgl. Die Nacht). Nun geht es nicht mehr um die Schwierigkeit des Erkennens des Göttlichen, sondern darum, den Ort der Offenbarung herauszustellen. Dieser ist, wie die Göttin selbst verkündet, nicht in der Helle der Unmittelbarkeit zu finden, sondern im Schatten – mithin dort, wo das Licht als gebrochen erscheint und Übergänge wahrnehmbar werden. Außerdem lässt sich diese Passage auch als eine Reminiszenz auf das paulinische Wort lesen, dass die Menschen jetzt nur stückweise, dann aber ganz erkennen würden (1 Kor 13,12).

Strophe XI–XIV (VV 81–112) Der dritte Abschnitt des Gedichtes, die Strophen elf bis siebzehn, ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Ich nicht mehr einsam an die Göttin adressiert, sondern eine Form der Gemeinschaft unter den Menschen sucht. Dies stellt eine Konsequenz der Rede von Urania dar, insofern die Isolation eines Ichs angesichts der Offenbarung der Harmonie nicht mehr möglich ist. Die Strophen sollen vor allem dazu motivieren, in die Huldigung der Göttin einzustimmen und zeigen darum nur mehr wenig Entwicklung und Bewegung. Eher könnte man von einer statischen Gleichzeitigkeit sprechen. Zweimal findet Urania noch eine explizite Erwähnung und zwar nach vier Strophen, im letzten Vers der vierzehnten Strophe (V 112), und am Ende des Gedichts, im letzten Vers der siebzehnten Strophe (V 136). Die erste Strophe des neuen Abschnitts (VV 81–88) stellt die Aufforderung dar, sich zur Huldigung der Göttin zu versammeln, wohingegen die zweite (VV 89–96) diesem Geschehen einen angemessenen Ort zuweist: Es handelt sich um einen „Dienst an ihres Tempels Schwelle“ (V 91), d. h. am Übergangsort, der in den Tempel führt. Dies ist eine deutliche Zurücknahme des überschwänglichen Anfangs, der vom Streben gekennzeichnet war, ins Heiligtum der Göttin zu blicken (V 3). Anders als in den hochfliegenden Gedanken der ersten Strophe erscheint nun gerade der unsicher-offene Ort des Übergangs als Ort des Lobes. Bedenkenswert sind jeweils die letzten Verse der beiden folgenden Strophen (VV 104, 112). Mündet die dreizehnte Strophe in den Gedanken, dass die Seele sich ihrer Schöpferin nähere (V 104), so kehrt die vierzehnte die Bewegungsrich-

2.4 Die Entdeckung der „Sphäre“ in der Tübinger Zeit

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tung um: Urania nähert sich der Seele (V 112). In der vom dritten Abschnitt des Gedichtes suggerierten Gleichzeitigkeit des Lobes wird damit eine Bewegung sichtbar, die von der Seele zur Göttin führt und von dieser zurück zur Seele. Dies ist wohl ein Nachhall jener für das Gedicht zentralen Struktur, im Ansprechen (und nur in ihm, nicht außerhalb von ihm) des anderen zu erfahren, dass man längst schon von ihm angesprochen ist.

Strophe XV–XVII (VV 113–136) Nachdem die Bewegung hin zur Göttin und von dieser zurück zur Seele vollendet ist, zeigt die fünfzehnte Strophe eine Situation völliger Ruhe, die vier Bilder aufbietet, welche in ebenmäßigem Aufbau zwei Verse umfassen: Stolz, Hader, Trug und Lüge haben keine Macht mehr (VV 113 f.). Licht und Finsternis, die Ur-Gegensätze, sind wohlgeordnet, das an dieser Stelle wieder auftretende Heiligtum taucht in eine Atmosphäre der Stille ein (VV 115 f.). Begehren, Kampf und Streit finden sich beruhigt (VV 117 f.). Die „göttliche Genügsamkeit“ (V 120), die Einfachheit des Göttlichen, nimmt den Lobgesang der Gemeinde an (VV 119 f.). Aus dieser Stille erhebt sich in der sechzehnten Strophe die Gemeinschaft noch einmal in einem Aufschwung „zur hohen Harmonie hinan“ (V 124). Dadurch wird nicht die in der fünfzehnten Strophe geschilderte Ruhe und Bewegungslosigkeit gestört, allerdings zeigt sich als Konsequenz ein tiefgreifender Verlust an: Was diese Erhebung zum Göttlichen für die Seher bedeutet, „Das vermag die Saite nicht zu künden“ (V 125). Waren die ersten drei im Gedicht aufgetretenen Gestalten der „Seher“ (V 5), der Sieger (V 8) und der „Sänger“ (V 10), so begegnet als letzte der Gestalten wieder der Seher (V 126). Der Sänger, der die Aufgabe hat, das Geschehen ins Lied zu fassen, muss hinter der Erfahrung der Erhebung zurückbleiben. Sein Lied kann den Aufstieg nicht in adäquater Weise zum Ausdruck bringen. Dichtung findet an der Erfahrung des Sich-Erhebens eine Grenze – und doch wäre dieses Sich-Erheben nicht ohne die Dichtung möglich. Die Strophe mündet nicht in die Erfahrung eines neuen Sprachhorizontes, sondern in das Sich-Vergessen der Seele in der göttlichen Harmonie. Was an dieser Stelle als Mangel der Dichtung gegenüber einer schließlich in Ruhe umschlagenden Begeisterung erscheint, wird Hölderlin später, wie besonders Am Quell der Donau zeigt, als eine neue Eröffnung ansehen, die in den Geist der (christlichen) Religion selbst weist. Die letzte Strophe stellt abschließend noch einmal eine Ermutigung dar, in das Lob der Schöpferin einzustimmen. In der Aufforderung zum Lobgesang begegnet dabei auch ein revolutionäres Moment: Die „Erdengötter“ (V 133), also wohl alle, die sich als Könige und Herrscher dieser Erde verstehen, werden aufgefordert, ihre Kronen niederzuwerfen. Angesichts des Gotteslobes müssen hierarchische Schranken in revolutionärer Weise schwinden. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in der Hymne an die Schönheit, die ein befreiendes Motiv unmittelbar mit der göttlichen Offenbarung in Verbindung bringt:

90 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen Was im eisernen Gebiete Mühsam das Gesez erzwingt, Reift, wie Hesperidenblüthe, Schnell zu wandelloser Güte, So mein Stral an’s Innre dringt; Knechte, vom Gesez gedungen, Heischen ihrer Mühe Lohn; Meiner Gottheit großen Sohn Lohnt der treuen Huldigungen, Lohnt der Liebe Wonne schon. (Hymne an die Schönheit, VV 121–130)

125

130

Dringt der „Stral“ (V 125) der göttlichen Offenbarung ins Innere der Welt, walten nicht mehr die eiserne Notwendigkeit des Gesetzes und die Mühe der Arbeit, sondern eine Haltung der Güte, die – vielleicht in Anlehnung an ein Wort des Paulus – aus den Knechten Söhne macht: „Weil ihr aber seid Söhne, ausschickte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der schreit: Abba, der Vater! Daher nicht mehr bist du Sklave, sondern Sohn; wenn aber Sohn, auch Erbe durch Gott.“ (Gal 4,6 f.)  Die Tübinger Hymnen sind in revolutionärem Pathos vom Gedanken der Gestaltung einer neuen Welt im Wort getragen. Dabei zeigen sich jedoch konkurrierende Tendenzen, die sie kaum zu balancieren vermögen. 1) Einerseits tritt das Ich in emphatischer Weise hervor und meint sogar, der „Göttin ganze Göttlichkeit“ (Hymne an die Freiheit. Wonne säng ich . . . , V 4) gesehen zu haben. Damit treiben die Hymnen in Richtung einer künstlichen Mythologie. Andererseits macht Hölderlin in dem Sich-Adressieren an das Göttliche, das nicht nur Stilmittel ist, sondern mit Verehrung zu tun hat – denken wir daran, wie sehr Hölderlins Dichtung aus dem Gebet lebt –, die Erfahrung einer reziproken Struktur, die keinen Anfang kennt. Im Sich-Adressieren an erkennt er, der immer schon Angesprochene zu sein. Im schöpferischen Handeln erkennt er, dass dieses immer schon das göttlich ermöglichte war. Diese Entdeckung kann als Sphäre bezeichnet werden und ist meines Erachtens die große Errungenschaft der Tübinger Zeit. In ihr müssen sich die Beziehungen der einzelnen Elemente der Gedichte konfigurieren, sie gibt ihren Horizont ab. 2) Dies führt noch in einer weiteren Weise zu auseinanderstrebenden Tendenzen: Die Sphäre zeigt sich einerseits als eine Totalität. Sie hat keinen ersten Anfangspunkt, steht nicht in der chronologischen Zeit, sondern konfiguriert Zeit und Wahrnehmungsformen neu. Andererseits haben sich auch Gestalten des Verlustes, der Schwächung und Veränderung (etwa im Übergang von der ersten zur zweiten Hymne an die Freiheit) angezeigt, welche sich nicht in jener Totalität, die die Sphären darzustellen scheinen, zum Ausdruck bringen lassen.

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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Zwei Fragen stellen sich: Wie kann das Ich fortan in die vom jeweiligen Gedicht aufgespannte Sphäre eintreten und sich in ihr bewegen? Wird die Sphäre eine geschlossene Totalität zum Ausdruck bringen oder vermag sie offen zu sein für Brüche, Verschiebungen und Entwicklungen? Zwei am Ausgang der Tübinger Hymnen stehende Gedichte, welche jeweils ein grundlegendes Motiv in ihr Zentrum stellen, die Geschichte und die Natur, können exemplarisch den weiteren Weg der Dichtung Hölderlins anzeigen: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur. Im ersten der beiden Widmungsgedichte erscheint die Vergangenheit als jene Sphäre, die in der Dichtung ersteht und in die das Ich eintritt, im zweiten die Natur.

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur Die Widmungsgedichte Griechenland. An Stäudlin und An die Natur stehen am Ausgang des Projektes der Tübinger Hymnen. Die Hymnendichtung wird vorerst nicht weitergeführt. Ob das Griechenland-Gedicht noch in Tübingen entstanden ist, gilt als umstritten.57 Vöhler bespricht es noch im Rahmen der Frühen Hymnen, wohl aber um deren Ende anzuzeigen. Es sei eine „Übergangsform, in der sich die Hymnenstrophe mit dem Pathos der Elegie verbindet“58 . Die Datierung von An die Natur ist ebenfalls unsicher, es dürfte wohl etwa eineinhalb Jahre nach Griechenland. An Stäudlin, d. h. bereits nach Hölderlins Aufenthalt in Jena, entstanden sein.59 Wie es sich mit der genauen Datierung auch verhalten mag, das Gedicht kann wohl als Ausgang aus den Tübinger Hymnen gelesen werden. So spricht etwa Przywara von der „wohl spätesten der frühen Hymnen“60 . Eine Nähe der beiden Gedichte drückt sich schon in ihrem Aufbau aus: Beide bestehen aus jeweils acht Strophen zu je acht Versen und haben dasselbe Silbenmaß.61 Wilhelm Böhm bringt die Gedichte in eine große Nähe zueinander und gibt an, dass sie einander an „Leidenschaftlichkeit“62 glichen, bezeichnet sie aber beide als Elegien. Das erste der beiden Gedichte entwerfe eine stärker auf die Menschheit, 57

Böhm, der über Parallelen zu Schiller und den Ossian hinaus die Aufnahme von Motiven aus Conz’ Sokrateskapelle herausarbeitet, verortet das Gedicht unter den letzten Tübinger Dichtungen (vgl. Böhm, Hölderlin I, 9). Beißner und Schmid führen es als letztes Gedicht der Sektion Tübingen 1788–1793 an (vgl. StA 1.1, 17 StA 1.2, 476–482; KA 152–154; 580–583). Auch Reitani und Knaupp scheinen es in dieser Zeit zu verorten (TL, 131 1323; MA I, 148–150; MA III, 7). Sattler hingegen datiert es auf Mitte April 1794 (vgl. BA 4, 26–28). 58 Martin Vöhler, Frühe Hymnen, in: Handbuch, 290–308, hier: 305. 59 Knaupp datiert auf Frühjahr 1795 (vgl. MA III, 82), Sattler ordnet es unter September 1795 ein (vgl. BA IV, 189–191), Beißner führt es in der Stuttgarter Ausgabe als letztes der Gedichte der Sektion Waltershausen Jena Nürtingen. 1794–1795 an (vgl. StA 1.1, 191–193; StA 1.2, 492–494). 60 Przywara, Hölderlin, 33. Die Interpretation der beiden Gedichte soll im Folgenden die Verwandtschaft von An die Natur mit Griechenland und damit auch mit den Tübinger Hymnen genauer erweisen. 61 Verse mit zehn Silben wechseln ab mit Versen mit neun Silben, fünfhebiger Trochäus, Reimschema: abab cdcd. 62 Vgl. Böhm, Hölderlin I, 169.

92 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

das zweite eine stärker auf den Einzelnen bezogene Perspektive. Entscheidend ist, dass Böhm beide Elegien als „Offenbarungen der Schönheit“ ansieht: Aber weil Griechenland und so Natur beides Offenbarungen der Schönheit sind, so machen sie, in intellektueller Anschauung erlebt, das Leben in seiner Nüchternheit lebenswert. Diesen positiven Sinn haben auch die beiden so schrankenlos verneinend ausklingenden Elegien.63

Im Folgenden gilt es zu fragen, wie die beiden Gedichte die Sphären der Vergangenheit Griechenlands und die Sphäre der zyklischen Zeit der Natur gestalten.

Rückgang in die Vergangenheit: Griechenland. An Stäudlin Wichtig für den Zusammenhang dieser Arbeit ist ein mit dem Gedicht verbundener Abschnitt eines undatierten Briefes an Neuffer, den Hölderlin vermutlich Ende Juli 1793 verfasst hat. Hölderlin schreibt von Stunden, wo ich aus dem Schoose der beseeligenden Natur, oder aus dem Platanenhaine am Ilissus zurükkehre, wo ich unter Schülern Platons hingelagert, dem Fluge des Herrlichen nachsah, wie er die dunkeln Fernen der Unterwelt durchstreift [. . . ] – da, Freund meines Herzens, bin ich dann freilich nicht so verzagt, und meine manchmal, ich müßte doch einen Funken der süßen Flamme, die in solchen Augenbliken mich wärmt, u. erleuchtet, meinem Werkchen, in dem ich wirklich lebe u. webe, meinem Hyperion mitteilen können, und sonst auch noch zur Freude der Menschen zuweilen etwas an’s Licht bringen.64

Wie Michael Franz in minutiöser Rekonstruktion gezeigt hat, nimmt Hölderlin in dieser hier nur teilweise zitierten Passage aus dem Brief in luzider Weise Bezug auf mehrere platonische Dialoge, allen voran den Phaidros.65 Wichtig festzuhalten ist, dass Hölderlin dabei die griechische Welt im Indikativ beschreibt: Er kehrt vom Ilissus zurück und ist unter die Schüler Platons hingelagert, was seine Verzagtheit mindert und ihm eine gewisse Hoffnung verleiht, mit jenem Werk, an dem er arbeitet (dem Hyperion), Menschen Freude bereiten zu können. Im Gedicht greift Hölderlin auf dieselben Bilder zurück, wechselt aber in den Irrealis. Jene Welt der Griechen kann nicht mehr in dem Maße ihre Lebendigkeit entfalten, dass der Dichter in ihr leben könnte. Im Folgenden ist die erste Fassung des Gedichtes wiedergegeben, die 1795 in der Urania erschien, eine leicht veränderte Version (ohne die fünfte Strophe, VV 33–40) wurde in der Neuen Thalia, herausgegeben von Friedrich Schiller, abgedruckt. Die Änderungen sind am Rand vermerkt.66

63

Vgl. Böhm, Hölderlin I, 171. Brief 60, [21./23. Juli 1793], MA II, 499. 65 Vgl. Michael Franz, „Platons frommer Garten“. Hölderlins Platonlektüren von Tübingen bis Jena, in: HJb 1992/93, 111–127. 66 Vgl. KA 580. 64

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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G RIECHENLAND . An Gotthold Stäudlin. Hätt’ ich dich im Schatten der Platanen, Wo durch Blumen der Ilissus rann, Wo die Jünglinge sich Ruhm ersannen, Wo die Herzen Sokrates gewann, Wo Aspasia durch Myrthen wallte, Wo der brüderlichen Freude Ruf Aus der lärmenden Agora schallte, Wo mein Plato Paradiese schuf, Wo den Frühling Festgesänge würzten Wo die Fluten der Begeisterung Von Minervens heil’gem Berge stürzten – Der Beschützerin zur Huldigung – Wo in tausend süßen Dichterstunden, Wie ein Göttertraum, das Alter schwand, Hätt’ ich da, Geliebter! dich gefunden, Wie vor Jahren dieses Herz dich fand; Ach! wie anders hätt’ ich dich umschlungen! – Marathons Heroen sängst du mir, Und die schönste der Begeisterungen Lächelte vom trunknen Auge dir; Deine Brust verjüngten Siegsgefüle. Und dein Haupt, vom Lorbeerzweig umspielt, Fülte nicht des Lebens stumpfe Schwüle, Die so karg der Hauch der Freude kült. Ist der Stern der Liebe dir verschwunden, Und der Jugend holdes Rosenlicht? Ach! umtanzt von Hellas goldnen Stunden, Fültest du die Flucht der Jahre nicht; Ewig, wie der Vesta Flamme, glühte Muth und Liebe dort in jeder Brust; Wie die Frucht der Hesperiden, blühte Ewig dort der Jugend süße Lust. Hätte doch von diesen goldnen Jahren Einen Theil das Schiksaal dir bescheert; Diese reizenden Athener waren Deines glühenden Gesangs so werth; Hingelehnt am frohen Saitenspiele Bei der süßen Chiertraube Blut, Hättest du vom stürmischen Gewühle Der Agora, glühend ausgeruht.

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der Cephissus rann

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Freunde

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Wo di Ströme

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Deinen Geist, vom Drükte nicht des

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der Jugen stolze Lust

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94 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen Ach! es hätt’ in jenen bessern Tagen Nichts umsonst so brüderlich und groß Für ein Volk dein liebend Herz geschlagen, Dem so gern der Freude Zähre floß; – Harre nun! sie kommt gewiß, die Stunde, Die das Göttliche vom Staube trennt – Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde, Edler Geist! umsonst dein Element.

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Für das Volk

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vom Kerker trennt

Attika, die Riesin, ist gefallen, Wo die alten Göttersöhne ruh’n, Im Ruin gestürzter Marmorhallen Brütet ew’ge Todesstille nun;

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Attika, die Heldin

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Lächelnd steigt der süße Früling wieder, Doch er findet seine Brüder nie In Ilissus heil’gem Thale wieder – Ewig dekt die bange Wüste sie. –

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der schönen Steht der Kranich einsam trauernd nun; kehrt der holde Frühling

Mich verlangt in’s beß’re Land hinüber Nach Alcäus und Anakreon, Und ich schlief im engen Hause lieber, Bei den Heiligen in Marathon! Ach! es sei die letzte meiner Thränen, Die dem heil’gen Griechenlande rann, Laßt, o Parzen, laßt die Scheere tönen, Denn mein Herz gehört den Todten an!

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Unter Schutt und Dornen schlummern sie.

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ins ferne Land

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Strophe I–II (VV 1–16) Die ersten beiden Strophen (VV 1–16) bestehen lediglich aus einem Satz, der einen Ausruf im Irrealis darstellt. Der gesamte Satz hängt ab vom ersten Vers („Hätt’ich dich im Schatten der Platanen“), der am Ende der zweiten Strophe wieder aufgenommen wird: „Hätt’ ich da, Geliebter, dich gefunden, / wie vor Jahren dieses Herz dich fand!“ (VV 15 f.). Auf diese Weise entsteht ein Rahmen, der gleichwohl unter dem Zeichen des Irrealis steht. In ihm finden sich Bilder einer subtil gestalteten Annäherung an die griechische Welt. Diese Annäherung beginnt im Schatten der Platanen, was eine Anspielung auf den Ort der platonischen Akademie und auf den Ort des Gespräches zwischen Sokrates und Phaidros außerhalb Athens darstellt.67

67

Vgl. Michael Franz, „Platons frommer Garten“. Hölderlins Platonlektüren von Tübingen bis Jena, in: HJb 1992/93, 111–127, hier: 112–114.

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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Darauf ist später noch einzugehen, vorerst gilt es lediglich die einzelnen Bilder zu betrachten. Am Anfang stehen zwei Naturbilder (VV 1 f.), die eine Steigerung der Lebendigkeit anzeigen von der Dichotomie Licht/Schatten hin zum Bach, der von einer Vielzahl von Blumen umgeben ist. In den Versen drei und vier treten erstmals Menschen auf, zunächst die nach Ruhm strebenden Jünglinge, sodann der nicht seinen eigenen Ruhm, sondern die Bildung der Herzen suchende alte Sokrates. Dieses Bild führt weiter zum Eros, der im fünften Vers angesprochen wird: Aspasia war Gattin des Perikles, die Myrthen sind Aphrodite geweiht und „deshalb der erotischen Sphäre zugehörig“68 . Der darauffolgende Vers weitet mit dem Bezug auf die Agora den Blick auf den öffentlichen Raum (VV 6 f.), um diesen schließlich in die geistige Dimension der Philosophie zu heben („Plato“, V 8). In der zweiten Strophe folgen Fest (V 9), Religion (VV 10–12) und Dichtung (VV 13 f.). Die beiden Strophen spannen einen Bogen von den fundamentalsten Regungen der Natur (Unterscheidung Licht/Schatten) über Philosophie und Religion zur Dichtung. Die Annäherung an die Welt griechischer Antike vollzieht sich schrittweise, wobei jeder neue Bereich mit der Konjunktion „Wo“ eingeleitet wird. Dies gibt den beiden Strophen den Charakter einer Litanei, deren strenge Form in der zweiten Strophe einen spielerischeren Charakter annimmt: Während in der ersten Strophe mit Ausnahme von Vers 1 und 7 alle Verse mit „Wo“ beginnen, findet sich das einleitende Pronomen in der zweiten Strophe nur in den Versen 9, 10 und 13. Das Gedicht will in den beiden ersten Strophen nicht die Welt des antiken Griechenlandes abbilden, sondern eine Hinführung zu dessen Sphäre bieten. Dort, in diesem Denken, in diesem geistigen Zusammenhang, möchte der Dichter den geliebten Freund, an den das Gedicht adressiert ist, finden. In dieser Sphäre möchte er ihm begegnen – allerdings scheint sie, wie der Irrealis (VV 1, 15) und auch der Bezug auf eine ferne Vergangenheit, mit dem die über zwei Strophen aufgebaute Figur der Hinführung endet („Wie vor Jahren dieses Herz dich fand!“, V 16), zeigen, leer zu bleiben und nicht mehr der Ort zu sein, an dem er den Freund treffen könne. Dass es nicht um die bloße Abbildung der antiken Welt, sondern um die Gestaltung einer Sphäre mit den je ihr eigenen Bezügen und Differenzierungen geht, zeigt eindrücklich ein Detail, auf welches Michael Franz hingewiesen hat.69 Die ersten vier Verse überblenden zwei Bilder: Zum einen lässt die Erwähnung von Sokrates im vierten Vers an den Ort des Gespräches zwischen Sokrates und Phaidros bei einer Platane nahe dem kleinen Fluss Ilissus denken. Zum anderen ruft die Eröffnung „im Schatten der Platanen“ (V 1) die Erinnerung an die Akademie wach, wo Platon lehrte, die allerdings am Fluss Cephissus gelegen ist. Im Brief an Neuffer wird die Verschränkung der beiden Orte noch deutlicher, wenn es heißt: „aus dem Platanenhaine am Ilissus zurükkehre, wo ich unter Schülern Platons hingelagert“. Für die in der Neuen Thalia erschienene Fassung wird „Ilissus“ zu „Cephissus“ geändert. Auf68

KA, 581. Vgl. Michael Franz, „Platons frommer Garten“. Hölderlins Platonlektüren von Tübingen bis Jena, in: HJb 1992/93, 111–127, hier: 112–119.

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grund von Hölderlins guter Kenntnis der Topographie des antiken Griechenlandes ist ein anfänglicher Irrtum nicht sehr wahrscheinlich. Franz spricht von einer Überblendung beider Bilder, die einer bestimmten Darstellung der Akademie diene. Sie solle im Sinne Hölderlins als der Ort erscheinen, an welchem Platon lehrt, d. h., wie Sokrates seine mündliche Lehre vorträgt, ohne diese aufzuschreiben. Die Akademie solle als philosophischer Garten erscheinen.70 Auf den Analysen von Franz aufbauend gibt Mauro Bozzetti der Überblendung der Bilder eine andere Bedeutung. Zumal beide Flüsse sich vereinigen, sieht er jenes Bild als ein harmonisches Zusammentreffen von Natur (Ilissus, Ort des Gespräches von Sokrates und Phaidros) und Kultur (Cephissus, Akademie), von Genuss der Natur und philosophischer Reflexion.71 Wichtig ist dabei der Umstand, dass Hölderlin mit topographischen Elementen frei umzugehen beginnt und diese in der Gestaltung einer dichterischen Sphäre neu konfiguriert.

Strophe III–VI (VV 17–48) Nachdem sich erwiesen hat, dass der Dichter seine Freundschaft in der Sphäre griechischer Vergangenheit nicht erneuern kann, finden sich vier Strophen, welche die Differenziertheit im Aufbau und der Entwicklung, wie sie die ersten beiden Strophen geprägt hat, vermissen lassen. Dargestellt ist auf diese Weise die Klage über den Verlust der Lebendigkeit der Vergangenheit. In der vierten und fünften Strophe kehrt dabei das Motiv der entschwindenden Jugendzeit immer wieder: „Deine Brust verjüngten Siegsgefüle“ (V 21), der Freund fühlte die „Flucht der Jahre“ (V 28) nicht, wäre der Eintritt in die Sphäre griechischen Denkens und Fühlens noch möglich. Der Dichter frägt, ob der „Jugend holdes Rosenlicht“ (V 26 f.) verloschen sei. Im Irrealis heißt es, dass „Ewig dort der Jugend süße Lust“ (V 32) blühte. Als Bilder der Ewigkeit werden diesem Abbruch das Spiel der immergrünen Lorbeerzweige, die zum Kranz geflochten sind (V 22), die Früchte der Hesperiden (V 31) und die Ewigkeit der Flamme der Vesta (V 29) gegenübergestellt. Die Klage setzt mehrmals zu Strophenbeginn neu an, dabei immer wieder das erste Wort des Gedichtes aufgreifend („Hätt’“; V 1): „Ach, wie anders hätt’ ich dich umschlungen!“ (V 17) „Hätte doch von diesen goldnen Jahren“ (V 33) „Ach! es hätt’ in jenen bessern Tagen“ (V 41). Dabei zeigt sich kaum eine thematische Weiterentwicklung an, bis schließlich eine harsche Unterbrechung erfolgt: „Harre nun!“ (V 45). Sie leitet die Ankündigung der Stunde ein, in welcher sich das Göttliche wieder vom Staub trenne (VV 45 f.). Die Klage wird vom Gefühl einer Gewissheit unterbrochen, die von einer klaren Unterscheidung spricht. Vom Staub trennt sich das unvergänglich Göttliche. Allerdings hat, wie die folgenden beiden Verse (VV 47 f.) zeigen, dieses Göttliche, in welchem auch der Mensch sein 70

Vgl. Michael Franz, „Platons frommer Garten“. Hölderlins Platonlektüren von Tübingen bis Jena, in: HJb 1992/93, 111–127, hier: 112–119. 71 Vgl. Bozzetti, Introduzione a Hölderlin, 24–27.

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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Bestehen finden kann, auf Erden keinen Ort mehr, sodass die Suche nach ihm „umsonst“ (V 48) ist.

Strophe VII–VIII (VV 49–64) Die letzten beiden Strophen öffnen wieder in einer differenzierteren Weise den Blick für das antike Griechenland – freilich auf ein Griechenland, welches im Gegensatz zu den beiden Anfangsstrophen in Trümmern liegt. Die siebente Strophe setzt mit einer Feststellung, welche die bisherigen Erfahrungen zusammenfasst, ein: „Attika, die Riesin, ist gefallen“ (V 49). Noch einmal greift der folgende Vers die in den ersten beiden Strophen leitende Konstruktion auf: Attika, die Riesin, ist gefallen, Wo die alten Göttersöhne ruh’n,

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Wie ein Echo klingt die Litanei des Anfangs nach, verstummt aber alsbald. Die Göttersöhne oder Halbgötter, die für Hölderlin wichtige Vermittlungsgestalten sind, ruhen. Menschlicher und göttlicher Bereich treten auseinander. Wo die Tübinger Hymnen noch von den vermittelnden Funktionen von Bild und Spiegel gesprochen haben, ist nun alles zerbrochen (VV 51 f.): Im Ruin gestürzter Marmorhallen Brütet ewg’e Todesstille nun;

Tempel („Marmorhallen“) und die ihnen entsprechende Ewigkeit erscheinen nun eingeschlossen zwischen den Begriffen Sturz, Ruin und Todesstille. Das Prädikat der Ewigkeit, in den hymnischen Gedichten Hölderlins so wichtig, erscheint invertiert als Symbol ewiger Öde: Es kennzeichnet nun die „Todesstille“ (V 52) und ist ferner auf die „bange Wüste“ (V 56) bezogen, welche die Landschaft Athens ewig bedecke. Allerdings wird im zweiten Teil der siebenten Strophe ein durchaus fröhliches Bild der Natur gezeichnet: „Lächelnd steigt der süße Früling nieder“ (V 53), der Ilissus fließt weiterhin durchs heilige Tal (V 55). Wenn der Dichter sagt, die bange Wüste decke diese Landschaft zu, dann ist dies nicht auf die Natur, sondern auf den Menschen bezogen, der in der Sphäre der Landschaft keinen Aufenthalt mehr findet. Der Frühling, welcher am Beginn der zweiten Strophe die Zeit des Festes einleitete, kehrt zwar unverändert wieder, doch vermag er nicht mehr festlich gestaltet zu werden – er findet keine Gemeinschaft, die ihn zu feiern wüsste (V 54). Der Ilissus fließt weiterhin in heiligem Tal (V 55), doch von den philosophischen Gesprächen ist nichts mehr zu hören. Der Verlust betrifft nicht die Natur, sondern die Welt der Menschen und die Vermittlung der göttlichen Welt. Vergangenheit und Geschichte sind nicht mehr der Ort, in welchem die Offenbarung des Göttlichen vernehmbar werden kann. Der Dichter sehnt sich nicht an einen anderen Ort oder in eine andere Zeit, sondern nach einer anderen Gemeinschaft – der mit den Dichtern Alcäus und Anakreon

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(VV 578). Das enge Haus der Heiligen von Marathon, d. h. ihr Grab, möge auch seine Wohnstadt sein (VV 59 f.). Damit ist der erste Teil der letzten Strophe höchst ambivalent. Die ersten beiden Verse können als die Hoffnung auf die Eröffnung einer neuen Sprache gelesen werden, die sich in der Gemeinschaft mit den antiken Dichtern einstellen kann. Dies scheint die einzige noch mögliche lebendige Bezugnahme auf die Welt des antiken Griechenlandes. Gleichzeitig ist von einer Verwandtschaft zu den Heiligen von Marathon die Rede, die in Gräbern ruhen. Dieses Bild nimmt der Dichter in den zweiten Teil der letzten Strophe mit, wo er zum Ausdruck bringt, dass sein Herz den Toten angehöre (VV 63 f.). Dieser Tod ist als ein Abschluss zu verstehen, der den Zustand ewiger Melancholie abhalten solle: Keine Träne mehr wolle er dem heiligen Griechenland weinen (VV 61 f.).  Die beiden ersten Strophen von Griechenland. An Stäudlin bieten eine großartige Annäherung an das Denken der griechischen Antike – wie, um am Ende auszusagen, dass diese Welt nicht mehr lebendig wird. Für Hölderlin zerbricht damit ein für die europäische Kultur grundlegendes Motiv: Das Denken und das gesellschaftliche Leben vermögen sich nicht mehr aus dem Bezug auf die Vergangenheit zu erneuern, der Gedanke der Renaissance trägt nicht mehr. Dieser Verlust wird im Gedicht langsam vorbereitet. Der Schluss des Gedichtes zeichnet Bilder des Todes, welche jedoch nicht bloß das Ende im Nichts aussagen, sondern nicht zuletzt auch ein Ende des Sehnens nach jener vergangenen Welt zum Ausdruck bringen wollen. Nimmt man dieses Ende der Melancholie ernst, gewinnt auch der – wie es zunächst schien – abgebrochene Hinweis auf die Dichter Alcäus und Anakreon eine neue Bedeutung. Er ist dann nicht allein Durchgangsstadium auf dem Weg zum Untergang. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Dichtung dem Ende der Melancholie folgen könne. Welche neue Sprache kann die Gemeinschaft mit jenen Dichtern hervorbringen, nachdem das vielleicht sogar zerstörerische Sehnen nach der Welt der Antike aufgehört hat? Unzerstört erscheint in dem von Hölderlin gezeichneten Gemälde der Trümmer des antiken Griechenlandes die Natur. Sie ist die Sphäre, welcher sich die Dichtung Hölderlins zuwendet.

Verlust der Natürlichkeit: An die Natur Zwischen Griechenland. An Stäudlin und An die Natur liegt Hölderlins Aufenthalt in Jena, wo er besonders den Umgang mit Fichte und Schiller suchte. Dass in der Hymne/Elegie An die Natur Letztere nicht allein als Objekt der Dichtung erscheint, sondern auch das Subjekt ist, an welches sich der Dichter adressiert, hat wohl mit dem in der Literatur viel beschriebenen Widerstand Hölderlins gegen eine Behandlung der Natur als eines dem Ich entgegengesetzten Objekts zu tun, wie er sie in Jena bei Fichte (und in anderer Weise auch bei Schiller) zu finden

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meinte.72 Nach seinem Abschied aus Jena musste Hölderlin neu nach einem Verständnis der subjektiven Dimension der Natur suchen und konnte jene unzerstörte Landschaft der Natur nicht unmittelbar aufgreifen, die am Ende von Griechenland. An Stäudlin gestanden war. Oder anders formuliert: Für Hölderlin stellt sich die Frage, wie sich der Dichter als Subjekt wieder in diese Landschaft einschreiben kann, welche am Ende von Griechenland. An Stäudlin menschenleer zurückgeblieben war. Von Böhm als Elegie, von Przywara als Hymne bezeichnet, steht das Gedicht wohl an jener Schwelle der beiden Formen, die im Übrigen Agamben mit Bezug auf die Dichtung Hölderlins besonders hervorhebt.73 Diese Unsicherheit in der Zuordnung kann als ein Hinwies darauf gelesen werden, dass sich Ankunft Gottes (Hymne) und Abschied Gottes (Elegie) zu durchdringen beginnen und nicht mehr klar zu unterscheiden sind. A N DIE NATUR . Da ich noch um deinen Schleier spielte, Noch an dir, wie eine Blüthe hieng, Noch dein Herz in jedem Laute fühlte, Der mein zärtlichbebend Herz umfieng, Da ich noch mit Glauben und mit Sehnen Reich, wie du, vor deinem Bilde stand, Eine Stelle noch für meine Thränen, Eine Welt für meine Liebe fand, Da zur Sonne noch mein Herz sich wandte, Als vernähme seine Töne sie, Und die Sterne seine Brüder nannte Und den Frühling Gottes Melodie, Da im Hauche, der den Hain bewegte, Noch dein Geist, dein Geist der Freude sich In des Herzens stiller Welle regte, Da umfiengen goldne Tage mich. Wenn im Thale, wo der Quell mich kühlte, Wo der jugendlichen Sträuche Grün Um die stillen Felsenwände spielte Und der Aether durch die Zweige schien, Wenn ich da, von Blüthen übergossen, Still und trunken ihren Othem trank Und zu mir, von Licht und Glanz umflossen, Aus den Höh’n die goldne Wolke sank –

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Vgl. Böhm, Hölderlin I, 169. Vgl. Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, 281–285.

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100 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen Wenn ich fern auf nakter Haide wallte, Wo aus dämmernder Geklüfte Schoos Der Titanensang der Ströme schallte Und die Nacht der Wolken mich umschloß, Wenn der Sturm mit seinen Wetterwoogen Mir vorüber durch die Berge fuhr Und des Himmels Flammen mich umflogen, Da erschienst du, Seele der Natur! Oft verlor ich da mit trunknen Thränen Liebend, wie nach langer Irre sich In den Ocean die Ströme sehnen, Schöne Welt! in deiner Fülle mich; Ach! da stürzt’ ich mit den Wesen allen Freudig aus der Einsamkeit der Zeit, Wie ein Pilger in des Vaters Hallen, In die Arme der Unendlichkeit. – Seid geseegnet, goldne Kinderträume, Ihr verbargt des Lebens Armuth mir, Ihr erzogt des Herzens gute Keime, Was ich nie erringe, schenktet ihr! O Natur! an deiner Schönheit Lichte, Ohne Müh’ und Zwang entfalteten Sich der Liebe königliche Früchte, Wie die Erndten in Arkadien. Todt ist nun, die mich erzog und stillte, Todt ist nun die jugendliche Welt, Diese Brust, die einst ein Himmel füllte, Todt und dürftig, wie ein Stoppelfeld; Ach! es singt der Frühling meinen Sorgen Noch, wie einst, ein freundlich tröstend Lied, Aber hin ist meines Lebens Morgen, Meines Herzens Frühling ist verblüht. Ewig muß die liebste Liebe darben, Was wir lieben, ist ein Schatten nur, Da der Jugend goldne Träume starben, Starb für mich die freundliche Natur; Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen, Daß so ferne dir die Heimath liegt, Armes Herz, du wirst sie nie erfragen, Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.

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Die ersten vier Strophen bieten ähnlich der Elegie Griechenland. An Stäudlin eine langsame Annäherung an die Natur, die Gegenstand und Adressat des Gedichtes ist. Diese Annäherung ist – aus oben genannten Gründen – notwendig, um eine subjektive Dimension der Natur wiederzugewinnen, die nicht bloß behauptet wird.74 Abgeschlossen ist der Anweg mit dem letzten Vers der vierten Strophe, in welchem schließlich das Erscheinen der Natur ausgesprochen werden kann: „Da erschienst du, Seele der Natur!“ (V 32) Dieser Satz, als eine der beiden Stellen, an denen im Gedicht das Wort „Natur“ explizit genannt wird, rückt (blickt man auf die Vers- und Strophenanzahl) ganz an die Mitte des Textes, an den Übergang von Strophe vier und fünf, heran. Ausgehend von diesem starken Zentrum, lässt sich das Gedicht in zwei Teile untergliedern, den Anweg hin zum Erscheinen der Natur (Strophen I–IV) und deren Entschwinden (Strophen V–VIII).

Strophe I–IV (VV 1–32) Ähnlich wie die Konjunktion „Wo“ für Griechenland, ist die Konjunktion „Da“ ein Leitwort für An die Natur. Es begegnet an neuralgischen Stellen: am Beginn der ersten Strophe (V 1), am Beginn der zweiten Hälfte der ersten Strophe (V 5), an den entsprechenden Stellen der zweiten Strophe (VV 9, 13) sowie am Ende der zweiten und der vierten Strophe (VV 16, 32). Es leitet hin auf das Erscheinen der Natur, in dem es sein Ziel findet: „Da erschienst Du . . . “ (V 32). Im Gegensatz zum „Wo“ der Griechenland-Elegie hat es nicht räumlichen, sondern zeitlichen Charakter. Damit stellt es nicht zuletzt vor die Frage, um welche Gestalt von Zeitlichkeit es im Gedicht geht. Dass es wesentlich um den Gestus der Annäherung an die Natur zu tun ist, zeigt der erste Vers des Gedichtes, der noch keine „Beschreibung“ der Natur bietet, sondern den Schlüssel für das Verständnis der folgenden Verse. Das dichterische Ich spielt um den Schleier der Natur und zerstreut damit die Versuche jedes unmittelbaren und intentionalen Zuganges. Es spielt um den Schleier der Natur, ohne ihn zu ergreifen oder zu lüften. Der Schleier lässt etwas sehen, was sich jenseits der Dichotomie von Verborgenheit und Präsentation befindet. Unklar ist jedoch, in welche Richtung der Partikel „noch“ weist, der stets eine unsichere Zone des Übegangs 74

Die subjektive Dimension der Natur zeigt sich darin, dass sie weder vollständig in Formen objektivierender (theoretischer) Beschreibung aufgeht noch bloß das Material menschlicher Freiheitsverwirklichung in praktischer Hinsicht ist. Es scheint mir nicht zufällig, dass Hölderlin mit An die Natur an den Hymnus an die Göttin der Harmonie anknüpft, für die Leibniz wichtiger Ausgangspunkt war. Mit Leibniz lässt sich Natur als Monade, d. h. analog zum Ich, denken. Als lebendig ist sie Entelechie auch noch in ihren Teilen und deshalb niemals in endlichen Kategorien vollständig beschreibbar: „Man erkennt daraus, daß jeder lebende Körper eine herrschende Entelechie besitzt, die beim Tier die Seele ist; aber die Glieder dieses lebenden Körpers sind voll von anderen Lebewesen, von Pflanzen und Tieren, von denen jedes wiederum seine Entelechie oder herrschende Seele hat.“ (Leibniz, Monadologie, § 70). Die Annäherung an die Natur, wie sie Hölderlin in den ersten vier Strophen des Gedichtes aufbaut, ist keine sukzessive Annäherung an den unerreichbaren Punkt ihrer vollständigen Beschreibung, sondern an einen neuen Blick, welchem sich die subjektive Dimension der Natur eröffnen kann.

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anzeigt: Will er dem Spiel um den Schleier die künftige Totalität der Präsenz gegenüberstellen (noch halbverborgen durch den Schleier, dann völlige Sichtbarkeit) oder erinnert er sich zurück an eine Zeit, in welcher jener vorsichtige Zugang noch möglich war, weil eine lebendige Beziehung des Menschen zur Natur noch nicht durch die Allgegenwart von Herrschaftsverhältnissen verhindert war? Der Partikel „noch“ wird am Beginn des zweiten und des dritten Verses ein weiteres Mal aufgegriffen. Das Ich hing an der Natur wie eine Blüte (V 2), d. h., es war von ihr abhängig und unterjochte sie noch nicht zum Material der Verwirklichung seiner Erkenntnis oder seines moralischen Handelns. Noch fühlte das Ich das Herz der Natur in jedem Laut (V 3): Es vermochte in einem Klangraum zu leben, in welchem die Natur in ihrer Eigenart (ihr Herz) zum Ausdruck kommen konnte. Dieser Laut umfing das Herz des Dichters, womit er zur sanften Brücke zwischen Natur und Mensch wird: Ihr Herz erklingt in jedem Laut, der seinerseits das Herz des Menschen umschließt. Der zweite Teil der ersten Strophe meint, nach dem kurzen Anweg der ersten vier Verse, schon vor dem Gesuchten zu stehen: Er gibt an, in einem Reichtum, welcher der Natur entspricht, vor dieser zu stehen, und beruft sich dabei auf die beiden Erkenntisformen des Glaubens und des Sehnens (VV 5 f.). Allerdings ist das Ich, wie es bisher im Gedicht aufgetreten ist, alles andere als reich, sei es in inhaltlicher Bestimmung, sei es in der Differenzierung seiner Wahrnehmungsformen. Mit „wie du“ wird ein Vergleich zwischen dem nicht entwickelten Ich und der noch in keiner Weise erfassten Natur insinuiert, der ins Leere gehen muss. Das Ich hat noch keine der Natur adäquaten Formen der Auffassung ausgeprägt. Zwar meint es, die Natur bereits in einem Bilde fassen zu können, dieser Gedanke wird jedoch nicht weitergeführt, das Bild nicht näher entfaltet. Differenzierter sind die beiden folgenden Verse zu betrachten (VV 7 f.). Wenn das Ich sagt, es habe in der Natur noch eine Stelle, d. h. einen bestimmten Ort für seine Tränen gefunden, steht dahinter eine Erfahrung. Diese steht jedoch sofort wieder in der Gefahr, überschwänglich verlassen zu werden, wenn die Stelle für die Tränen im nächsten Vers zur Welt für die Liebe wird. Auch dies kann ein von Erfahrung geprägter Satz sein – doch fehlt ihm noch ein Weltbegriff, der sich in all seinen Antinomien weiter entfalten ließe. Dem versucht sich die zweite Strophe anzunähern. Sie erzählt im ersten Vers (V 9), wie das Herz sich zur Sonne wendet und damit, zum ersten Mal in diesem Gedicht, ein Gegenüber hat, das nicht bloß sein Bild (V 6) ist. Es handelt sich um ein Gegenüber, welches nicht der Subjektivität des Ichs, seinem Glauben, Sehnen oder Wissen, entspringt, sondern ihm objektiv gegenübertritt. Dies kommt im Verb „wandte“ zum Ausdruck: Nicht das Ich erzeugt die Sonne als Bild, sondern es muss sich zu ihr umwenden. Die beiden Erkenntnisformen des Glaubens und Sehnens aus der ersten Strophe sind nicht verabschiedet, sie zeigen sich im folgenden Vers (V 10) erneut, nur zurückhaltend-verdeckt und im Irrealis. Die Sehnsucht geht dahin, dass das erste wirkliche Gegenüber, das nicht bloß Bild ist, doch die Töne des Herzens vernähme. Der Fortschritt gegenüber der ersten Strophe, als das Bild der Natur ein lediglich behauptetes war, ist, dass es nun zu einer anfanghaften Entfaltung des Gegenübers kommt: Die Sterne werden Brüder genannt, der

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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Frühling tritt als Gottes Melodie auf (VV 11 f.). Das Bild zeigt nun erste Differenzierungen: Werden Sonne und Sterne sichtbar, so ist damit der Wechsel von Tag und Nacht gesetzt. Der Frühling verweist darüber hinaus auf die Folge der Jahreszeiten und bringt, wenn er zur Melodie wird, eine innere Ausgestaltung zum Ausdruck. Der zweite Teil der Strophe vermag die Differenzierungen in subtilerer Weise weiterzuführen, sodass nach den planetarischen Bewegungen der Sonne und der Sterne, die sich in Regelmäßigkeit vollziehen und für die Jahreszeiten verantwortlich sind, sogar ein Hauch (V 13), der durch den Hain weht, vernehmbar wird. Zumal er die geringste nur anzeigbare Luftbewegung bezeichnet und das Kontingente, nicht Systematisierbare schlechthin aussagt, verlangt er eine besondere Aufmerksamkeit. In dieser schwächsten aller Regungen offenbart sich der Geist der Freude (V 14). Der Frühling wird zur Vermittlung von Gottes Melodie, der Hauch zum Ausdruck des Geistes, der sich in der Natur (im Bewegen des Hains, V 13) zeigt und gleichwohl in „des Herzens stiller Welle regte“ (V 15). Deutlich wird darin erstmals ein gemeinsamer Geist von Natur und Mensch, was dazu führt, dass unmittelbar danach der Eintritt in eine Sphäre ausgesprochen werden kann – die Sphäre der goldenen Tage der Natur, die das Ich umgeben: „Da umfiengen goldne Tage mich.“ (V 16) Hatte der Hymnus an die Göttin der Harmonie bereits in den ersten beiden Versen den Eintritt die Sphäre der Harmonie zu erwirken versucht, braucht es in An die Natur zwei Strophen, bis der Eintritt in eine umgebende Sphäre erreicht wird. Allerdings kann auch dabei nur ein Geschehen der Vergangenheit beschrieben werden. Die beiden folgenden Strophen gestalten die Sphäre, welche den Dichter umfasst, weiter aus. Zunächst führen sie hinein in das bergend Umgebende eines Tales. Dort gewährt ihm das belebende Wasser Kühlung (V 17) und werden die Felswände vom Grün der Pflanzen umspielt (VV 18 f.), womit die Leichtigkeit des Schleiers aus dem ersten Vers des Gedichtes wiederkehren kann. Durch die Zweige der Pflanzen hindurch scheint der Äther (V 20), das nicht mehr gegenständlich zu fassende umgebende Element schlechthin. Die Blüten aus dem zweiten Vers wieder aufgreifend, erfährt sich der Dichter „von Blüthen übergossen“ (V 21), innerlich erfüllt vom göttlichen Trank (V 22) und „umflossen“ (V 23) von Licht und Glanz, sodass sich die „goldne Wolke“ (V 24) nieder auf das Tal senken kann.75 Hatte sich die Natur in der dritten Strophe in ihrer lebensspendenden Kraft gezeigt, so entrückt sie in der vierten Strophe in eine Unnahbarkeit. Aus dem kühlen Tal findet sich das Ich auf eine nackte Haide (V 25) versetzt. Es gibt nichts Spielerisches mehr, das Ich ist umgeben vom Schall titanischen Gesanges (V 27) und vom „Sturm mit seinen Wetterwoogen“ (V 29). Das umschließende Motiv des Schoßes (V 26) bleibt erhalten, erscheint aber nun in unwirtlicherer Gestalt. Die Bilder steigern sich, sodass aus dem „Quell“ (V 17) Ströme werden. Nicht mehr die goldene Wolke sinkt auf das Tal nieder, sondern die „Nacht der Wolken“ (V 28), statt Licht und Glanz umfliegen ihn „des Himmels Flammen“ (V 31). Die den Dichter umgebende Sphäre zeigt sich in bedrohlicher Gestalt, führt jedoch zum Erscheinen 75

Vgl. Heimkunft, VV f.

104 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

der Seele der Natur (V 32), das genau in die Mitte des Gedichtes gesetzt ist. Es ist die Seele der Natur, die erscheint, und nicht eine Göttin oder ein Genius wie in den Tübinger Hymnen. Das Göttliche erscheint nicht einfachhin in der Natur oder als Natur, sondern ihr sich entziehender, nicht assimilierbarer Charakter, ihre Fremdheit, die jede subjektive Annäherung verhindert, wird zum Verweis auf das Göttliche.

Strophen V–VIII (VV 33–64) Nachdem sich die vom Schleier bis zu des Himmels Flammen steigernde Klimax im Erscheinen der Natur entladen hat, folgen eine Strophe lang (VV 33–40) Bilder, die den Eindruck erwecken, als finde das Ich eine Form des Umgangs mit den sich noch kurz zuvor (Strophe IV) als übermächtig erwiesen habenden Gewalten der Natur. In der ersten Hälfte der Strophe (VV 33–36) begegnen Ozean und Ströme in einem Vergleich oder einer Metapher und dienen dem Ich zur Beschreibung seines Weltverhältnisses: Das Ich verliert sich in der es umgebenden Fülle der Natur und irrt umher, findet aber letztlich wie die Ströme den Weg ins Meer, den Weg in die Fülle der Natur. Vom titanischen Gesang der Ströme ist nicht mehr die Rede, waren sie kurz zuvor noch das mit ihrem Getöse das Ich Umschallende, so kann das Ich sie nun in einen Vergleich, eine Metapher, aufnehmen. Hatte das Erscheinen der Natur (V 32) den Charakter der Singularität, so berichtet das Ich danach von dem, was „Oft“ (V 33), d. h. mit einer gewissen Häufigkeit oder sogar Regelmäßigkeit geschah. Auf der Ebene der Singularität, die für die Länge eines Verses präsent wird, kann es sich nicht halten und taucht zurück in die es umgebende Sphäre, ja es stürzt, wie der zweite Teil der Strophe aussagt (VV 37–40), in die „Arme der Unendlichkeit“ (V 40). Auch an dieser Stelle begegnet ein Vergleich, diesmal nicht aus dem Bereich der Natur, sondern der Religion: „Wie ein Pilger in des Vaters Hallen“ (V 39). Zum einzigen Mal im Gedicht tritt eine Form von Gemeinschaft auf, freilich sehr blass gezeichnet: „mit den Wesen allen“ (V 37). Größere Bedeutung scheint der freudigen Bewegung „aus der Einsamkeit der Zeit“ (V 38) in die Unendlichkeit zuzukommen. Betrachtet man den Kontext, in welchem von Unendlichkeit die Rede ist, kann diese nur als die zyklische Zeit der Natur, genauer der sich zyklisch erneuernden Natur, gesehen werden. Das Bild der Zeit, auf welches sich das Gedicht zubewegt, zeigt sich in der ewigen Wiederholung der Natur, nicht in der Vergangenheit (Griechenland) noch in der Zukunft (Tübinger Hymnen). Die sechste Strophe (VV 41–48) stellt die Armut des Lebens der Fülle der Entfaltung der Natur gegenüber. Anders als in den Tübinger Hymnen hat Freiheit ihren Ort nicht in der Entwicklung der Geschichte, sondern in der Natur („Ohne Müh’ und Zwang“, V 46). Allerdings zeigt sich im weiteren Verlauf des Gedichtes immer deutlicher, dass der Mensch aus dieser Freiheit zu fallen droht: Die Einheit mit der Natur (besonders V 2), welche die Erziehung der guten Anlagen des Herzens ermöglicht hat, wird nun als „goldne Kinderträume“ (V 41) bezeichnet und erweckt damit den Eindruck, nicht mehr gegeben zu sein. Das Band zur Natur ist offensicht-

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

105

lich zerrissen, das Ich fällt aus ihr heraus.76 Was dies bedeutet, führt der erste Teil der siebenten Strophe (VV 49–56) aus: Todt ist nun, die mich erzog und stillte, Todt ist nun die jugendliche Welt, Diese Brust, die einst ein Himmel füllte, Todt und dürftig, wie ein Stoppelfeld;

50

Die zeitliche Bestimmung „nun“ hebt die Passage zunächst von der Zeit der Kindheit ab, sodann aber von allem, was bislang im Gedicht ausgesagt war. Erstmals wechselt das Gedicht ins Präsens, die Darstellung ist in der Gegenwart des Ichs angelangt, kann aber, so scheint es zunächst, von nichts als dem Tod erzählen. So deutlich dieser Tod ausgesprochen ist, zumal drei der vier Verse mit „Todt“ beginnen, so subtil ist dennoch die Annäherung an den damit ausgesagten Verlust. Der erste Vers spricht nicht aus, wer als tot zu gelten habe, sondern beginnt mit einer Beschreibung, welche nur auf dem Boden der sechsten Strophe verständlich ist: „die mich erzog und stillte“ (V 49) verweist auf den erziehenden Charakter der Natur in den Versen 43 f. Die erste Hälfte des folgenden Verses bleibt unverändert, danach jedoch wird ausgesprochen, dass es die „jugendliche Welt“ (V 50) ist, die nicht mehr besteht. Die Vorwegnahme eines Adjektivs oder anderer Formen der näheren Bestimmung vor dem dadurch Bestimmten, die mit einem Neueinsatz durch den Artikel einhergeht (die mich erzog und stillte, [. . . ] die jugendliche Welt) ist ein bei Hölderlin häufig anzutreffendes Stilmerkmal, das sich etwa auch in der ersten Strophe von Brod und Wein zeigt, wo es heißt: „die Schwärmerische, die Nacht kommt“ (Brod und Wein, V 15). Der Neueinsatz fügt eine minimale Verzögerung ein, welche Substantiv und Adjektiv (bzw. die entsprechende Konstruktion) ein wenig voneinander löst, um die geringe Zeit des Bezeichnens, des Näher-Bestimmens, die sonst unhörbar bliebe (z. B.: die schwärmerische Nacht), zur Sprache zu bringen. An dieser Stelle kann dies als Versuch langsamer Annäherung an das Phänomen des Todes einer vergangenen Welt gedeutet werden. Entscheidend ist die dritte Aufnahme des Wortes „Todt“ im vierten Vers der Passage (V 52). War es zuvor noch die jugendliche Welt, die erst in einer Verzögerung benannt werden konnte, so tritt nun der Tod mit einer gewissen Verzögerung auf, indem er anders als in den beiden vorangehenden Versen der Wendung „Diese Brust, die einst ein Himmel füllte“ (V 51) nachgestellt wird. Vermag diese Verzögerung die Opazität des „Todt ist“ aufzuweichen? Sicherlich ist dies der Fall durch die Beifügung des Adjektivs „dürftig“, die sonderbar erscheint. Welche andere Bestimmung sollte der Totalität des Todes noch beigesellt werden, zumal das in ihm verkörperte Nichts jede andere Bestimmung annihiliert? An jenem Punkt jedoch, an dem das Nichts in der stärksten Form ausgesagt zu werden scheint, in der dritten Proklamation des „Todt ist“, tritt eine Spaltung auf, welche den Tod nur mehr als einen von zwei Polen ansichtig werden lässt. Freilich ist es nicht das reiche Leben, welches ihm gegenüberstünde, sondern 76

Angekündigt hatte sich dies schon zu Beginn des Gedichtes durch die Verwendung der Vergangenheitsform sowie die häufige Betonung des „noch“.

106 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

lediglich eine Qualität, die als „dürftig“ bezeichnet wird. Näher erklärt wird sie mit dem Begriff des Stoppelfeldes, d. h. des Feldes nach der Ernte. Mithin wirft der Vers die weitreichende Frage auf, was jenes „dürftig“ meinen könne, das nach dem Tod noch erscheint („Todt und dürftig“). Wie kann es gestaltet werden? Hölderlin wird dies später als den Raum der Dichtung selbst bestimmen. Dies kommt in einer Version von Brod und Wein zum Ausdruck: [. . . ] Indessen dünket mir öfters Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? (Brod und Wein, VV 119–122)77

120

Auf die Frage nach der Gestaltung jener Zeit nach dem Ende findet Hölderlin in An die Natur noch kaum eine Antwort. Der zweite Teil der siebenten Strophe verweist zwar auf das tröstende Lied des Frühlings, das „Noch, wie einst“ (An die Natur, V 54) erklingt, allerdings vermag es für den Dichter nicht mehr zu einem neuen Morgen, zu einem neuen Frühling seines Herzens zu werden. Er macht die Erfahrung des Verlustes, dass zwar die Natur zyklisch in immer neuen Frühlingen lebendig bleibt, der Mensch jedoch aus dieser Sphäre herausfällt und daran keinen Anteil hat. Die letzte Strophe (VV 57–64) bietet einen Abgesang. Zum zweiten Mal im Gedicht wird die Natur explizit erwähnt, nun allerdings bereits als eine, die für den Dichter gestorben ist: „Starb für mich die freundliche Natur“ (V 60). Nicht die Natur ist tot, sie vermag lediglich für den Menschen, der sich nicht mehr in ihr aufgehoben fühlt, nicht mehr lebendig zu werden. „Freundlich“ ist bei Hölderlin und Hegel ein Verweis auf die Verbindung von Gott oder Göttern und Menschen. Die Natur kann nicht mehr als dieser Ort der Verbindung angesehen werden. Im ersten Teil der letzten Strophe (VV 57–60) zeigt sich lediglich ein leiser Hinweis auf ein möglicherweise über den Tod hinausführendes Motiv: „Was wir lieben, ist ein Schatten nur“ (V 58). Zunächst drückt sich darin die Unwirklichkeit und Flüchtigkeit dessen, was uns teuer erscheint, aus. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, welch große Bedeutung Nacht und Schatten für Hölderlin haben. Anders als die Unmittelbarkeit des Tages und die Helle sind sie Orte, die nicht zuletzt auch das vernehmbar werden lassen, was sich der Präsentierbarkeit versagt. Was wir lieben, ist unverfügbar und immateriell, wie ein Schatten, aber gerade deshalb lieben wir es. Heimat gibt es, wie der zweite Teil der letzten Strophe aussagt, nur in dieser leisen und unverfügbaren Gestalt, nicht jedoch im Sinne einer ungebrochenen Präsenz. Dieser letzte Teil des Gedichtes verweist auf eine Erfahrung (V 61), die mit dem Tode der Beziehung zur Natur verbunden ist. Diese Erfahrung betrifft letztlich das Verhältnis zur Totalität, wie sie die Sphäre der Natur in wiederholter Aufnahme des Wortes „Gold“ zum Ausdruck brachte (VV 16, 24, 41, 59). Das letzte Wort des Gedichtes hat jedoch nicht das edle und überdauernde Metall, sondern ein Ablas77

FHA, Homburger Folioheft. Faksimile Edition, 307/9.

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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sen von der darin verkörperten Totalität: „Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt“ (V 64). Das Gedicht endet mit dem Wort genügt.  Die Annäherung an das Erscheinen der Natur, wie es die ersten vier Strophen des Gedichtes bieten, zeigt schließlich eine unwirtliche Natur, welche das dichterische Ich zwar noch zu durchwandern vermag, in welcher es sich aber nicht mehr aufgehoben fühlen kann. Hölderlin führt auf diese Weise im Gedicht das Entstehen einer objektiven Dimension vor, welche das Ich nicht aus seiner Subjektivität entwerfen kann.78 Diese objektive Dimension (Liebrucks spricht vom „objektiven Bildcharakter“79 ) tritt zunächst in einer feindlichen, vom Subjekt nicht anverwandelbaren Gestalt auf, die „nicht in der Subjektivität eines absoluten Ichs“80 , d. h. eines sich absolut setzenden Ichs, zu finden ist. Damit öffnet sich Dichtung verstärkt dafür, Ausdruck einer Erfahrung zu sein. Unter Erfahrung verstehe ich die Begegnung des Ichs mit einem Gegenstand, welchen es nicht als von ihm selbst hervorgebracht (d. h. als objektiv) betrachten kann. In der Begegnung wird das Ich ein anderes, verändert sich der Standpunkt seines Wissens, von dem aus es zuvor Welt wahrgenommen, gestaltet und beurteilt hat.81 In An die Natur macht es die Erfahrung, aus der Aufgehobenheit in der Natur herauszufallen. Deren zyklisch-zeitliche Totalität vermag das Ich nicht mehr zu repräsentieren. Zur Erfahrung wird dieser Verlust, wenn es ihn im Sinne einer Genügsamkeit („genügt“, V 64), d. h. eines Ablassens vom „Sehnen“ (V 5) nach der Wiederherstellung der Totalität, zu gestalten beginnt. Nicht in der Vergangenheit (Griechenland. An Stäudlin) oder der Zukunft (Hymne an die Freiheit), aber auch nicht in einem Augenblick mystischer Präsenz (Die Meinige) oder in der zyklischen Zeit der Natur (An die Natur) zeigt sich der eigentliche Charakter der Zeit – oder in anderen Worten: offenbart sich das Göttliche in der Zeit. Nicht die ewige Wiederholung der Abläufe der Natur, sondern ihre Entzogenheit, wie sie im Erscheinen der „Seele der Natur“ (V 32) aufblitzt, ist Offenbarung des Göttlichen. Diese Offenbarung in der Entzogenheit wird im Gedicht selbst noch nicht reflektiert, vielmehr versucht es in den beiden Strophen, die auf das Erscheinen der Natur folgen, die Entzogenheit wieder in bekannten Kategorien zu symbolisieren. Allerdings taucht das Entzogenheitsmoment des Göttlichen in anderer Weise im Oszillieren zwischen Hymne und Elegie auf, welches das Gedicht an die Schwelle von Ankunft und Abschied des Göttlichen stellt. Was aber – besonders in den letzten beiden Strophen – sehr wohl reflektiert wird, ist die Rolle des Ichs in diesem Geschehen. Gezeigt hat sich, dass Vergangenheit und Zukunft, Augenblick und ewige Wiederholung dem Dasein des Menschen keine vollständige Repräsentanz mehr zu gewähren vermögen. Sie sind kein Fun78

Hier legt sich ein Bezug auf das Erhabene in Kants Kritik der Urteilskraft nahe. Liebrucks, „Und“, 283. 80 Liebrucks, „Und“, 283. 81 Später wird sich zeigen, dass in dieser Begegnung auch der Gegenstand ein anderer wird (vgl. PhdG, 68–81). 79

108 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen

dament mehr, auf welches Dasein aufbauen könnte. Allerdings fällt es auch nicht in ein Nichts, welches lediglich den unterschiedslosen Zusammenfall all der genannten Zeitformen darstellte, sondern es eröffnet sich nach dem Verlust der Raum eines Danach.82 Für diesen gibt es vorerst bloß die Worte „genügt“ (V 64) und „dürftig“ (V 52) als Platzhalter, um ihn davor zu bewahren, sofort wieder geschlossen zu werden. In welcher Weise kann dieser Raum noch eine Gestaltung erfahren? Die letzte Strophe des Gedichtes hat mit dem Verlust lebendiger Beziehung zur Natur auch die Unmöglichkeit, sich ungebrochen in der Präsenz der Heimat wiederzufinden, angezeigt. Dies ist als eine erste Konsequenz aus dem Verlust lebendiger Beziehung zur Natur anzusehen. Mit ihm geht ein Verlust der Natürlichkeit überhaupt, d. h. der unmittelbaren Aufgehobenheit, in welcher Sphäre auch immer, einher. Fortan wird sich die umgebende Sphäre, in welcher das Ich sich bilden, in welcher es leben und welche es durchwandern kann, in jedem Gedicht neu als eine sprachliche Sphäre ausgestalten, weil Sprache gerade die Aufgehobenheit jeglicher unmittelbarer Referenz, jedes unmittelbaren Bei-den-Dingen-Seins bedeutet. Weil Sprache der Ausdruck aufgehobener Natürlichkeit ist, kann sie dem Ich künftig einen Raum des Aufenthalts bieten. Das Projekt der Tübinger Hymnen beginnt gedanklich da, wo sie, anders als die vorausgehenden Bundeslieder, in all der überschwänglichen Begeisterung Sphären als Aufenthaltsorte des Ichs zu dichten beginnen, und es reicht bis zu jenem äußersten Punkt, als jede Form des Sich-unmittelbar-Verortens in einer Sphäre, d. h. jede Usurpation einer Natürlichkeit verabschiedet werden muss. Aus diesem Grund konnten Griechenland. An Stäudlin und An die Natur unabhängig von ihrer Entstehungszeit als Abschied oder Ausgang von diesem Projekt betrachtet werden. Ihr Oszillieren zwischen Hymne und Elegie, Ankunft und Abschied des Göttlichen ist Ausdruck ihres Übergangscharakters, der aber auf dieser Stufe selbst noch nicht reflektiert werden kann. Er ereilt die Gedichte gewissermaßen noch, ohne dass er selbst gestaltet würde. Wenn in künftigen Gedichten emphatische Bezüge auf die bereits als verloren geschilderten Motive (Griechenland bzw. Vergangenheit, Freiheit bzw. Zukunft, Augenblick bzw. Erfüllung in der Gegenwart, Natur bzw. zyklische Zeit) auftreten, stellen diese lediglich Reminiszenzen dar an etwas, von dem ein Traum genügen muss (V 64). Sie haben ihre bleibende Bedeutung und Dignität als Momente und spielen als solche weiterhin eine wichtige Rolle. Sie stellen jedoch kein Fundament mehr dar, auf welches die Dichtung noch aufbauen könnte. Dies muss in der weiteren Interpretation der Gedichte Hölderlins Berücksichtigung finden.

82

Die Ausführungen zur Temporalität wissen sich den Arbeiten von Kurt Appel verpflichtet, der auch den Begriff der „postapokalyptischen Zeit“ geprägt hat. Vgl. dazu Appel, Zeit und Gott; ders. Tempo e Dio sowie die Beiträge in ders. (Hg.), Preis der Sterblichkeit.

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

109

Exkurs: An die Natur in der Deutung Erich Przywaras Im Jahr 1949 veröffentlichte Przywara83 einen Durchgang durch Hölderlins Werk, in welchem An die Natur eine wichtige Vermittlerrolle zukommt, weshalb es sich lohnt, Przywaras Hölderlin-Buch an dieser Stelle kurz in den Blick zu nehmen. Das Buch besteht aus einer Fülle kurzer Kapitel, welche pointierte, äußerst komprimierte Hinweise zu einzelnen Gedichten Hölderlins, zum Hyperion-Roman und dem Empedokles-Drama geben, aber niemals längere detaillierte Auslegungen. Im Wesentlichen geht Przywara (ab dem zweiten Kapitel) entlang einer Chronologie der Texte von den frühen Gedichten bis zu den Fragmenten im Homburger Folioheft vor, ohne sich jedoch streng daran zu halten. Meist gruppiert er mehrere Texte, die er mit einer programmatischen Überschrift versieht und als Ausgangspunkt für die Überlegungen eines Kapitels nimmt. Der Schlüssel zum Buch wird im ersten Absatz des ersten Kapitels ausgesprochen, dessen Referenztexte eine große zeitliche Spannweite umfassen: Bücher der Zeiten, Patmos und der Vatikan. Przywara zufolge handle es sich bei allen drei Texten um Hymnen: Vom ersten der Gedichte, das Przywara als „Frühhymnus“ bezeichnet, lasse sich direkt ein Bogen zur großen Hymne Patmos und weiter zur Seite 89 des Homburger Folioheftes schlagen, welche einen Entwurf enthält, dessen erste Worte „der Vatikan“ lauten und den Przywara ebenfalls Hymnus nennt.84 Die verbindende Linie sei das Johanneisch-Apokalyptische: Dieses sei nicht nur Mittelpunkt der Gedichte, in ihm liege auch die Berufung Hölderlins. Im zweiten Kapitel bezieht sich Przywara auf den Frühhymnus An die Vollendung, den er als „Revolte des hellenischen gegen den johanneisch-apokalyptischen Hölderlin“85 sieht. Dieser Strang dränge den apokalyptischen Gestus von Hölderlins Werk bisweilen bis zur Unkenntlichkeit zurück, beide träten einander „in letzter Gegensätzlichkeit“86 gegenüber. Die Vehemenz der Scheidung, welche Przywara dem Werk Hölderlins als hermeneutischen Schlüssel unterlegt, hat selbst apokalyptischen Charakter. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass Hölderlin für ihn nicht allein der „Prototyp dessen [ist], was in der deutschen Klassik überhaupt sich vollzieht“ – sie versuche, „mit ihrem Ideal einer deutschen Antike das Christentum zu erledigen“ –, sondern „der Ort ur-abendländischen Geschehens: nämlich des Konfliktes zwischen dem eigentlich Christlichen des Abendlandes und seiner hellenisch-römischen Vollendungs83

Für Informationen zu Erich Przywara danke ich Marie-Theres Igrec. Vgl. Norbert Brieskorn, Die Religion in der deutschen Kultur. Ein philosophisch-literarischer Exkurs, in: Kobylínska / Lawaty, Religion und Kirchen in der modernen Gesellschaft. Polnische und deutsche Erfahrungen, 75–94, hier: 88 f. 1957 veröffentlichte Przywara auch eine Interpretation der Friedensfeier unter dem Titel: Die Friedensfeier als die Hymne dreier Reiche (in: Der Streit um den Frieden, Nürnberg 1957). Ein Kapitel zu Hölderlin (Um Hölderlin) findet sich auch in In und Gegen – Stellungnahmen zur Zeit (Nürnberg, 1955). 84 Vgl. Przywara, Hölderlin, 11–13; FHA, Homburger Folioheft. Faksimile Edition, 307/89. 85 Przywara, Hölderlin, 17. Laut Sattler sind beide Gedichte (Bücher der Zeiten und An die Vollendung) etwa zur selben Zeit im Sommer 1787 entstanden (vgl. BA I, 143–150). 86 Przywara, Hölderlin, 18.

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und Ordnungsform“87. Przywara bringt Johannes, den Seher von Patmos, in eine enge Verbindung zu Hölderlin88 , in dessen Werk sich das Geschick des Abendlandes offenbare. Sichtbar werde in seinem Werk das Bild eines „zerrütteten Abendlandes“89 , das „Verlöschen des Tages in den Abend“90 . Dieser ist ambivalent: Er strahlt einerseits die abendliche Ruhe aus und ist andererseits der Übergang in das nächtliche Grauen. Darin enthülle sich (analog zur Johannes-Apokalypse) der „Wahnsinn der Welt und Menschheit“91 . Allerdings ist der Wahnsinn nicht das letzte Wort, welches Przywara über diese Welt gesprochen sieht, nicht das letzte Symbol, in welchem sich das Dasein der Menschheit repräsentiert. Przywaras Geschichtstheologie folgt folgendem Schema: Jede Mitte, jeder Ausgleich, jede Harmonie, die gefunden wird, ist zunächst nur als „der Vordergrund von gewitterndem Feuer“92 anzusehen. Sichtbar wird der äußerste Abgrund, wo jegliche menschliche vermittelnde Funktion und jede Intention zusammengebrochen ist. Darin aber offenbare sich eine Umkehrung hin zur nicht mehr ableitbaren, ereignishaften Wahrheit des Kreuzes. Nur in der Umnachtung öffne sich dem gebrochenen Auge diese Wahrheit.93 Darin sei der Hölderlin der verwirrten Zeilen des Homburger Folioheftes dem Johannes der Apokalypse verwandt. Diese Gestalt eines dialektischen Umschlages zeigt sich für Przywara in einer der frühesten Formen in An die Natur, dem deshalb auch eine Schlüsselstellung in seinem Werk zukommt. Dem von Przywara als Hymne bezeichneten Gedicht An die Natur ist ein eigenes Kapitel gewidmet, welches die Überschrift Natur an Stelle Gottes trägt.94 Vorweg sei gesagt, dass dieser Titel insofern irreführend ist, als Przywara im Laufe seiner Argumentation nicht bei der Ansicht bleibt, im Gedicht würde Natur an die Stelle Gottes gesetzt. Vielmehr entwickelt er gerade den Gedanken, dass sich das Göttliche nur in den sich entziehenden Momenten der Naturerfahrung offenbaren könne. In der Natur zeige sich die „letzte Überhüllung“95 des Apokalyptischen, die nicht mehr nur als dessen Antipode auftrete, sondern es gleichsam assimiliere, als wäre die Menschwerdung Christi in Gestalt der Natur erfolgt. Allerdings werde die Natur auch zum Ort einer Wende: Wo sie sich im zweiten Teil des Gedichtes als verlorene darstellt, breche das Apokalyptische unerwartet und unverhüllt durch. Es kann als die Dialektik der Natur bezeichnet werden, dass sie, wo das Apokalyptische gänzlich umhüllt schien, umschlägt, „das Geheimnis einer ehemaligen und jetzt verlorenen Göttlichkeit“96 auszusagen. Diese Wende, deren tiefe Wahrheit dar-

87

Przywara, Hölderlin, 19. Vgl. Przywara, Hölderlin, 169–170. 89 Przywara, Hölderlin, 20. 90 Przywara, Hölderlin, 161. 91 Przywara, Hölderlin, 169. 92 Przywara, Hölderlin, 173. 93 Vgl. Przywara, Hölderlin, 177. 94 Vgl. Przywara, Hölderlin, 31–36. 95 Przywara, Hölderlin, 33. 96 Przywara, Hölderlin, 36. 88

2.5 Geschichte und Natur: Griechenland. An Stäudlin und An die Natur

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in liegt, dass das Göttliche niemals direkt und unmittelbar ausgesagt werden kann, lässt die Natur-Hymne schließlich zur Vermittlung der drei für Przywara leitenden apokalyptischen Hymnen werden: Das Johanneisch-Apokalyptische, das durch die Religion der reinen Natur überwunden sein soll, bricht so weit hier durch, daß das Motiv der Natur fast wie eine Mitte zwischen dem Frühhymnus „Bücher der Zeiten“, dem „Patmos“-Hymnus und den verwirrten Zeilen des „Vatikan“ erscheinen kann, d. h. die „Natur“ Hölderlins, die scheinbar völlig achristliche, in Wirklichkeit bereits als das Anheben des kosmischen Christus der Späthymnen.97

War die in Hölderlins Dichtung begegnende Natur für Przywara anfänglich die Verhüllung des Apokalyptischen schlechthin, die sich an die Stelle Gottes setzte, kann er am Ende des Kapitels in der Ekstase der Natur die Ekstase jener Natur sehen, „die sich Gott zum sakramentalen Zeichen nimmt“98 . Er schreitet damit einen Weg ab, der von der Natur als verbergender zur Natur als offenbarender führt – und zwar gerade der in ihrer Fremdheit offenbarenden. Im Mitvollzug der Entwicklung des Gedichtes können Leser und Leserinnen erfahren, wie ihr eigener Standpunkt sich wandelt, weil kein Bild der Natur mehr assimiliert werden kann. An dieser Stelle begegnet erneut die Verwandtschaft von Dichtung und Gebet, ist doch Letzteres gerade mit der Erfahrung einer derartigen Umkehr des Bewusstseins verbunden, wofür die Psalmen eindrückliches Zeugnis sind. Festzuhalten ist an dieser Stelle noch, dass Przywara die Hymne An die Natur in konstantem Bezug zum Späthymnus Wie wenn am Feiertage . . . liest. Mit jener Umkehr im Verständnis der Natur ist auch ein Bild dafür abgegeben, wie Przywara das Abendland sieht. Ins nächtliche Grauen übergehend ist die „andräuende Mitternächtlichkeit“ gleichwohl der Augenblick der Wende zum „aufblühendere[n] Charisma des Abendlandes“99 . Die vielen von Hölderlin im Homburger Folioheft angeführten topographischen Bezeichnungen (Städte, Regionen . . . ) als Landkarte des Abendlandes sind für Przywara „Symbol des Imperium Sacrum: als erträumte Gottes-Ordnung auf Erden“. Tiefer jedoch gehe die Wahrnehmung vom immer neuen „Zusammenbrechen dieser Träume bis zum Widerspruch gegen Gott“, in welchem Symbol sich jedoch erst „die eigentlichste Offenbarung“100 eröffnen könne, die letztlich – wie Przywara mit der zweiten Fassung des hymnischen Entwurfes Griechenland sagt – in der „Treue Gottes“101 bestehe. Die Angelpunkte von Przywaras Hölderlin-Lektüre sind ein Wort aus dem Frühhymnus Bücher der Zeiten und der Schluss von In lieblicher Bläue . . . , beide im letzten Kapitel mit dem Titel Göttliche Mania zitiert.102 In Bücher der Zeiten heißt es in der Diktion der Johannes-Apokalypse:

97

Przywara, Hölderlin, 36. Przywara, Hölderlin, 36. 99 Przywara, Hölderlin, 165. 100 Przywara, Hölderlin, 171. 101 Przywara, Hölderlin, 173; Vgl. Griechenland. Zweite Fassung, V 16 (StA 2.1, 256). 102 Przywara, Hölderlin, 175–180. 98

112 2 Figuren des Verlustes: Von den Anfängen bis zum Ausgang aus den Tübinger Hymnen Jesus Christus Kreuzestod! Des Sohnes Gottes Kreuzestod! Des Lamms auf dem Throne Kreuzestod! (Bücher der Zeiten, VV 119–121)

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Aufgenommen aus der Johannes-Apokalypse werden die Akklamationen an das „geschlachtete Lamm“ (Offb 5,12), das auf dem Thron sitzt und – jeder Macht beraubt – die Weltgeschichte zu entziffern vermag: „Das Heil unserem Gott, dem Sitzenden auf dem Thron, und dem Lamm!“ (Offb 7,10) Das Lamm erhält das versiegelte Buch (vgl. Offb 5), das bei Hölderlin transformiert als Bücher der Zeiten wieder auftritt. Das vermutlich nach 1806 entstandene Prosafragment In lieblicher Bläue . . . endet hingegen mit den Worten: „Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.“103 Darin erkennt Przywara die Sprache der Osterliturgie wieder. In diesem Bogen, der von den Symbolen des geschlachteten Lammes, welches die Weltgeschichte zu lesen vermag, zum österlichen Tag führt, der aus der Nacht hervorgeht, liest Przywara Hölderlin. Es ist dies gleichzeitig ein Bogen, der von den frühesten Gedichten bis zu den Fragmenten der letzten Schaffensphase reicht. Przywara erkannte bereits in den Vierzigerjahren die Bedeutung der „Entwürfe und Bruchstücke“104 und konnte sie mit dem Gesamtwerk Hölderlins in Verbindung bringen. In diesen Entwürfen und Bruchstücken brechen jene Grundmotive hervor, die durch den gesamten Hölderlin hindurch wirken, aber verhüllt. Sie bleiben offenbar in einem tieferen Sinne Entwürfe und Bruchstücke: in dem Sinne, daß es ihm versagt bleibt, diese tieferen Grundmotive in voller Klarheit auszusprechen.105

An der Größe des Schauens bricht – ähnlich dem prophetischen Lallen106 – die Sprache und doch spreche sich gerade darin das Tiefste aus. Das große Verdienst von Przywaras Hölderlin-Buch, das weder in der HölderlinForschung noch in der Theologie besonders zur Kenntnis genommen wurde, liegt trotz aller Anfragen, die man an seine Lektüre stellen kann, einerseits darin, dass er einen Weg zu den sich einem unmittelbaren Verstehen entziehenden späten Fragmenten gelegt hat,107 und andererseits in der Herausarbeitung eines apokalyptischen Unterstroms, der in Hölderlins Dichtung leicht übersehen werden kann, wenn man sie lediglich von ihrer Nähe zu Bildern der griechischen Antike oder der Natur liest.

103

MA I, 909; StA 2.1, 374. Przywara, Hölderlin, 151. Der zweite Band der Stuttgarter Ausgabe, der diese Entwürfe und Bruchstücke umfasst, wurde erst 1951, d. h. zwei Jahre nach Przywaras Hölderlin-Buch publiziert. 105 Przywara, Hölderlin, 151. 106 Vgl. Przywara, Hölderlin, 149–157. 107 Durch den gänzlichen Verzicht auf Fußnoten und Versangaben sowie die Nennung der verwendeten Hölderlin-Ausgabe ist es für Leser und Leserin gerade bei diesen Texten nicht immer leicht, die Lektüre nachzuvollziehen. 104

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Schon in den frühen Gedichten Hölderlins stößt man auf eine Struktur, welche ich in der Kommentierung als Sphäre bezeichnet habe, auch wenn dieser Begriff, der ein Begriff der (philosophischen) Reflexion und nicht primär der Dichtung ist, in den Texten Hölderlins bislang nicht gefallen ist. Von Sphäre habe ich dann gesprochen, wenn Dichtung auf ein dem Gedicht vorausliegendes Fundament, ein erstes Moment, ein Prinzip verzichtet, auf dem das Gedicht aufbauen könnte und auf das alle seine Elemente bezogen wären, dabei aber in einen geistigen Raum hineinnimmt, in welchem sich erst alle Bezüge konfigurieren: Nacht, Stille, Harmonie, Griechenland und Natur waren bisher aufgetretene Motive, welche mit dem Begriff der Sphäre in Verbindung gebracht werden können. Im Ausgang der Tübinger Hymnen, der mit Griechenland. An Stäudlin und An die Natur endgültig erreicht ist, stellen sich zwei Aufgaben: Einerseits zeigt sich, dass Hölderlin nicht mehr ungebrochen auf überlieferte Motive zurückgreifen kann, die als Sphären der Dichtung fungieren könnten: Weder in der erwarteten Zukunft noch in der Vergangenheit noch in der Natur lassen sich Motive auffinden, die als Sphären fungieren und lebendige Beziehungen ermöglichen könnten. Was künftig Sphäre der Dichtung sein kann, bedarf erst der sprachlichen Gestaltung, die gelingen, aber auch misslingen kann. In welchem Raum kann sich Dichtung, wenn ihr jegliche natürliche und geschichtliche Einbettung verloren geht, noch erheben? Andererseits geht es nach An die Natur auch um die Wiedergewinnung eines Subjektes der Dichtung, mag es nun einfach als Ich, als lyrisches oder poetisches Ich oder als Subjekt bezeichnet werden oder in einer bestimmten Gestalt in der Dichtung auftreten. Die intensive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Verlust natürlicher und geschichtlicher Einbettung beginnt um 1796, als Hölderlin philosophisch den Begriff der Sphäre entwickelt und dichterisch den des Äthers. Überdies gewinnt die Thematik der Subjektivierung, etwa in der Gestalt des Wanderers, später der Priesterin und des Dichters neu an Bedeutung und tritt auch das Motiv des Strahls wieder auf. Die dichterische Auseinandersetzung mit diesen Aufgaben kann in ersten Ansätzen in den Gedichten An Herkules und Diotima gesehen werden. In © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J.H. Deibl, Abschied und Offenbarung, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04888-2_3

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

philosophischer Hinsicht widmet sich Hölderlin der Thematik der Sphäre im Fragment philosophischer Briefe. Vorausgeschickt sei noch ein Wort zur Chronologie der im Folgenden behandelten Texte. Im eingangs zitierten Brief an Niethammer vom 24. Februar 1796 spricht Hölderlin von philosophischen Briefen, welche er „Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nennen wolle, worin er „von der Philosophie auf Poesie und Religion kommen“ werde.1 Zur selben Zeit entsteht, folgt man der Sattlerschen Chronologie, das Fragment philosophischer Briefe.2 Nicht nur chronologisch, sondern auch inhaltlich legt sich ein Zusammenhang der Bemerkung im Brief mit dem Fragment philosophischer Briefe nahe. Die ältere Fassung des Diotima-Gedichtes datiert Sattler auf die erste Junihälfte 1796, An Herkules auf Jänner 1797.3

3.1 Philosophische Annäherung an den Begriff der Sphäre: Fragment philosophischer Briefe Am Begriff der Sphäre hängt für Liebrucks der (philosophische) Zugang zum Werk Hölderlins: „Von der richtigen Bestimmung des Begriffs der Sphäre, der eigentlich schon ein logischer ist, hängt weitgehend der Zugang zum Werk Hölderlins ab.“4 Wie eingangs ausgeführt, spricht er von einer sphärischen Stufe als der, in welcher die eigentliche sprachliche Gestaltung der „Gegenstände“ von Hölderlins Dichtung beginnt. Diese treten nicht mehr als dem Gedicht äußerliche Entitäten objektiv gegenüber, können aber gleichwohl nicht als (Reflexions-)Produkt des Subjektes angesehen werden, sondern sind immer schon in sprachlich intersubjektive Beziehungen (Subjekt-Subjekt-Objekt-Relationen) eingebettet. Als Gedichte dieser Stufe führt er unter anderen Der Wanderer und An den Äther an.5 Der Begriff der Sphäre wird dabei nicht von außen an Hölderlins Dichtung herangetragen, sondern kommt in seinem Werk selbst an mehreren Stellen vor, von denen ich zwei als neuralgisch ansehe. Die erste, im Folgenden zu betrachtende, ist das Fragment philosophischer Briefe (TS 10–15), die zweite eine Randnotiz der Hymne Wie wenn am Feiertage . . . : „Die / Sphäre / die höher / ist, als / die des / Menschen / diese ist / der Gott.“6 An beiden Orten geht es nicht zuletzt auch um die Frage nach dem Zusammenhang von Dichtung und Religion.7 1

Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 61 vgl. StA 6.2, 783–787. Vgl. BA V 10–16. 3 Vgl. BA V 27–30; 85–87. 4 Liebrucks, „Und“, 296. 5 Vgl. Liebrucks, „Und“, 301–304; 311 f. 6 Stuttgarter Foliobuch, 33/17a. 7 Detaillierte Informationen zum Begriff der Sphäre bei Hölderlin gibt Helmut Bachmaier in seinem Aufsatz Der Mythos als Gesellschaftsvertrag. Zur Semantik von Erinnerung, Sphäre und Mythos in Hölderlins Religions-Fragment, in: ders./Rentsch, Poetische Autonomie?, 135–161. Zur Verwendung des Begriffs Sphäre bei Hölderlin vgl. 152 f. Zahlreiche Belegstellen zum Begriff der Sphäre finden sich im Aufsatzfragment Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist . . . (TS 39–62; hier: 52–56). Hölderlin habe sich in der Aufnahme des Begriffes möglicherweise auf Herder, Fichte und Schiller bezogen (vgl. Bachmaier, Der Mythos als Gesellschaftsvertrag, 146–152), 2

3.1 Philosophische Annäherung an den Begriff der Sphäre

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Der Anfang des wenige Seiten umfassenden Fragments philosophischer Briefe ist nicht erhalten, auch fehlt in der Mitte ein Textstück. Der Text bricht schließlich mitten im Satz ab. Es folgt eine letzte, mit „Winke zur Fortsetzung“ überschriebene Passage (TS 14), die offensichtlich Notizen für eine weitere Ausarbeitung enthält. Michael Franz spricht von drei Teilen des Textes, einem Brief A, dessen Anfang fehlt (TS 10 f.), einem Brief B, dessen Ende nicht erhalten ist (TS 11–14) und dem Entwurf in den Winken zur Fortsetzung (TS 14 f.).8 Der Ausgangspunkt des erhaltenen Teils des Fragments liegt in der Gottes-Frage und könnte so paraphrasiert werden: Was ist mit der Rede „von einer Gottheit“ (TS 10) gemeint, wenn diese nicht bloß die unbeteiligte Wiederholung von Tradiertem („aus einem dienstbaren Gedächtniß“, TS 10) oder der souveräne Umgang des beruflich damit Befassten („aus Profession“, TS 10) ist? Die Antwort hängt mit der Frage zusammen, wie der Mensch erfahren könne, dass die Welt mehr als „Maschinengang“9 , d. h. mehr als eine wirkursächlich determinierte lückenlose Verknüpfung ihrer Elemente, sei. Nicht aus einer Analyse der Subjektivität oder Introspektion des Ich noch aus einer isolierten Betrachtung der Gegenstände der Erkenntnis, könne dies erschlossen werden. Dafür müssen vielmehr die Abstraktionen einer Betrachtung der Welt unter dem Schema Subjekt-Objekt zu einer intersubjektiv-sprachlich geteilten Welt als Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation erweitert werden. Diese vermag in den Blick zu bringen, dass der Mensch „in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung“ mit „dem was ihn umgiebt“ (TS 10), steht.10 Für diese Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation, welche Ausdruck der lebendigen Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung ist, verwendet Hölderlin den Begriff der Sphäre. Sie steht für eine Form des Weltumgangs des Menschen und zwar sowohl in individueller als auch in gemeinschaftlicher Sicht („gemeinschaftliche Sphäre“, TS 10). Deren Gestaltung, d. h. die jeweilige Konfiguration des Subjekt-Subjekt-ObjektVerhältnisses oder der jeweilige Weltumgang, steht in Zusammenhang mit der „Empfindungsweise und Vorstellung“ (TS 10) von Gott, der nicht vorbei an der wobei Bachmaier, darin Böckmann folgend, Fichtes Verwendung des Begriffes in der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796) für am wichtigsten ansieht (vgl. 146). Eine detaillierte Darstellung von Hölderlins Fichterezeption gibt Violetta Waibel, Hölderlins Rezeption von Fichtes „Grundlage des Naturrechts“, in: HJb 1996/97, 146–172. 8 Vgl. Michael Franz, Theoretische Schriften, in: Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 224–246, hier: 233. Zur Rekonstruktion des Textes vgl. ders., Einige Editorische Probleme von Hölderlins theoretischen Schriften. Zur Textkritik von ‚Seyn, Urtheil, Modalität‘, ‚Über den Begriff der Straffe‘ und ‚Fragment philosophischer Briefe‘, in: HJb 2000/01, 330–344, hier: 335–344. Eine Interpretation des Textes gibt Kreuzer im Vorwort seiner Edition des Textes, vgl. TS XV–XVIII und 12, ders., Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung, in: ders (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 147–161. Vgl. auch MA III, 387–389; Böckmann, Hölderlin und seine Götter, 203–210; Ulrich Gaier, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“ Säkularisierung der Religion und Sakralisierung der Poesie bei Herder und Hölderlin, in: Vietta/Uerlings (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung I, 75–92, besonders: 83–85; 91 f. 9 TS 10. 10 Hier zeigt sich eine enge Nähe Hölderlins zu den Jugendschriften Hegels (vgl. Appel, Entsprechung im Wider-Spruch).

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Sphäre, d. h. weder außerhalb ihrer noch in unmittelbarer Beziehung des Menschen auf ihn, gedacht werden kann. Vielmehr ist der Bezug des Menschen zu Gott in der Sphäre vermittelt. Das Eigene jeder Sphäre ist mit einer bestimmten Vorstellung Gottes verbunden, allerdings ist Gott nicht einfach mit dem Wesen oder Innersten der Sphäre gleichzusetzen. An seiner Gestalt werden auch der Unterschied der Sphären und die Notwendigkeit, „sich in die Lage des andern [zu] versezen“ (TS 10), d. h., die eigene Sphäre zu überschreiten, bewusst, was zur Frage nach einer gemeinschaftlichen Gottheit führe. Gott ist mithin nicht außerhalb der Sphäre zu denken, aber auch nicht in sie eingeschlossen; sie ist der Ort seiner Vermittlung, in welcher er aber nicht aufgeht – mit ihm ist ein Gestus der Transzendenz verbunden. Der Begriff der Sphäre bedeutet die Erhebung über die unmittelbaren Bedürfnisse und den bloß „mechanischen Zusammenhange“ (TS 11) des Seins. Daran anschließend stellt Hölderlin die Frage, warum sich die Menschen von diesem „höhere[n] Zusammenhang“ (TS 11), der dem mechanischen entgegensteht und also Freiheit meint, ein „Bild machen müssen“ (TS 11). Darin geht es weder um Gegenstandserkenntnis, die dem gilt, was „vor den Sinnen liege“ (TS 11), noch um eine Reflexion des Ichs. Die Antwort Hölderlins nennt zuerst Erinnerung und Dank für das Leben11 als Weisen, wie sich der Mensch „auch“ (TS 11) über seine Not, in lückenlose Zusammenhänge eingefügt zu sein, erhebt. Darüber hinaus führt Hölderlin aber noch zwei weitere Motive an, nämlich zum einen, dass der Mensch „seinen durchgängigern Zusammenhang mit dem Elemente, in dem er sich regt, auch durchgängiger empfindet“ (TS 11). Die Kontinuität, welche ihm aus der Zugehörigkeit zu einer Sphäre erwächst, muss auch seinen affektiven Haushalt betreffen bzw. wird dieser entscheidend durch sie geprägt. Sie muss eine Gestaltung erhalten, welche den Menschen in seiner Affektivität aufnimmt und sich in einem Bild zum Ausdruck bringt. Zum anderen muss er aus dem höheren Zusammenhang eine unendlichere Befriedigung erfahren, welche ihn über die notdürftige Befriedigung erhebt. Diese bedeutet „Stillstand des wirklichen Lebens“ (TS 12), Lösung von dessen Gespanntheit und Intentionalität, wohingegen die unendlichere Befriedigung die Wiederholung der notdürftigen im Geiste meint. Violetta Waibel zeigt in Anlehnung an Fichte auf, wie die Wiederholung als Stiftung des durchgängigeren Zusammenhangs zu sehen ist und spricht dabei auch von der „Konstruktion eines inneren Zusammenhangs“12 :

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Kreuzer fasst dies (in Abhebung von Fichte) so zusammen: „An die Stelle des absolut gesetzten Ich tritt die Einsicht in Erinnerung und Dank als Weisen praktisch(-ästhetisch)en Verhaltens innerhalb der Grenzen unserer Erfahrung. ‚Dank‘ ist ein Selbstverhältnis von Natur, das Freiheit bedeutet und transitorisch verwirklicht.“ (TS XVII) Zur Thematik des „praktisch(ästhetisch)en Verhaltens“ vgl. Kreuzer, Ästhetik als Ethik. Überlegungen im Anschluß an die ‚Kritik der Urteilskraft‘, in: Lawitschka (Hg.), Hölderlin, 7–23. 12 Violetta Waibel, Hölderlins Rezeption von Fichtes „Grundlage des Naturrechts“, in: HJb 1996/97, 146–172, hier: 159 und auf 165: „Die erinnernde Vorstellung stiftet Kontinuität, die dankende Verbundenheit.“

3.1 Philosophische Annäherung an den Begriff der Sphäre

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Die Wiederholung des Lebens im Geiste ist eine Wiederholung des wirklichen Lebens, so aber, daß die Vorstellung den durchgängigeren Zusammenhang zu erzeugen vermag. Dieser vorgestellte, erinnernde, dankende Zusammenhang drängt ins wirkliche Leben zurück.13

Hölderlin bestimmt, wie daran abzulesen ist, das geistige Leben, das Leben der Freiheit, den mehr als mechanischen Zusammenhang, als Wiederholung des wirklichen Lebens. Das geistige Leben kann mithin nicht ohne das Leben in seiner Sinnlichkeit und Affektivität, mit seinen Notwendigkeiten und Beschränktheiten gedacht und kann niemals direkt und unmittelbar zur Darstellung gebracht werden. Es darf nicht bloß deren Aufhebung in den Gedanken, die Reflexivität, den Verstand, das Gedächtnis, das Gesetz oder die Allgemeinheit sein. Mit der Idee oder dem Bild, das wir uns vom geistigen Leben machen müssten, spielt Hölderlin wohl nicht zuletzt auf die ästhetischen Ideen in Kants KdU an, die für einen Reichtum und eine Differenzierung stehen, welche nicht durch einen übergeordneten Begriff repräsentiert werden können: [. . . ] unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann [. . . ]14

Für Kant ist es die „Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann“15 ; angelegt ist darin aber auch eine Ausdehnung des Blicks auf Kunst und Erzählung im Allgemeinen. Das Bild, von dem Hölderlin spricht, hat nicht den Charakter der beliebigen Neuschöpfung, sondern stellt eine Wiederholung dar, in welcher Natürliches aufgehoben und neu konfiguriert wird und somit nicht mehr unter der Notwendigkeit des mechanischen Zusammenhangs steht.16 Eine Wiederholung „blos im Gedächtniß“ (TS 12) entspricht noch nicht dem höheren Zusammenhang. Hölderlin kommt im Laufe dieses Textes nicht mehr direkt auf das Bild zu sprechen, um diesem eine weitere Entfaltung zu geben, sondern wechselt, immer noch im Rahmen seiner Antwort auf die Frage, warum es des Bildes (wir können an dieser Stelle hinzufügen: der Kunst und der Dichtung) bedürfe, zur Religion. Anders als die Menschen im Zeitalter der Aufklärung hätten die Menschen früherer Zeiten um eine gesteigerte Differenziertheit der Verhältnisse im Rahmen des Geistigen gewusst, welchen Blick ihnen die Religion eröffnet habe. Sie sahen jene höheren Verhältnisse „als religiose das heißt, als solche Verhältnisse [. . . ], die man nicht so wohl an und für sich, als aus dem Geiste betrachten müsse, der in der Sphäre

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Violetta Waibel, Hölderlins Rezeption von Fichtes „Grundlage des Naturrechts“, in: HJb 1996/97, 146–172, hier: 165. 14 KdU, § 49, 249 f. 15 KdU, § 49, 251. 16 Vgl. zum kreativen Charakter der Wiederholung der Natur in Kants KdU: „Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt“ (KdU, § 49, 250).

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herrsche, in der jene Verhältnisse stattfinden“ (TS 13 f.). Diese Perspektive, welche Subjekt und Objekt und ihren Zusammenhang aus der Sphäre, in welcher sie vorkommen, betrachtet, gelte es wiederzugewinnen als „höhere Aufklärung“ (TS 14). Hatte sich die Aufklärung als eine Bewegung dargestellt, welche alle Bewusstseinsinhalte aus ihrem konkreten Zusammenhang löst und sie verallgemeinert, so ist die höhere Aufklärung deren Rückerstattung an den Geist, d. h. an den „unendlichere[n] Zusammenhang“ (TS 14), in dem sie stehen und der es ermöglicht, sie nicht als bloß mechanisches Produkt der Poiesis oder bloßen Gegenstand der Reflexion zu sehen. Die erreichte Allgemeinheit, die fixierte partikulare Perspektiven hinter sich gelassen hat, darf dabei freilich nicht aufgegeben werden. Der Begriff der Sphäre als der geistige Raum, auf welchen sämtliche Überlegungen bezogen sein müssen, ist, wie oben angemerkt, niemals als isoliert zu sehen, sondern hat eine Tendenz der Überschreitung individueller Grenzen. Wo Hölderlin von höherer Aufklärung spricht, bricht der Gedanke ab, zumal ein Textstück fehlt.17 Nach der Lücke kommt Hölderlin alsbald unter dem Titel „Winke zur Fortsetzung“ (TS 14) erneut auf die Religion zu sprechen und gibt ihr eine genauere Bestimmung. Er sieht die religiösen Verhältnisse in einer Brückenfunktion zwischen intellektualen, moralischen und rechtlichen Verhältnissen einerseits und den physischen, mechanischen und historischen Verhältnissen andererseits. Was verbindet die Elemente der beiden genannten Reihen jeweils und was unterscheidet die beiden Gruppen voneinander? Die intellektualen, moralischen und rechtlichen Verhältnisse bringt Hölderlin mit Persönlichkeit in Verbindung, sie weisen auf das sich gegenseitig beschränkende Individuelle, das Subjektive, das Ich als Zweck an sich selbst, das negative Eine, das sich von allen anderem unterscheidet. Die physischen, mechanischen und historischen Verhältnisse fasst Hölderlin vom Gedanken des innigen Zusammenhangs, der Kontinuität, des Aufeinander-bezogen-Seins her auf. Religion verbinde beide Bereiche, was er als „intellectuell historisch“ (TS 14) bzw. mythisch bezeichnet. Deutet intellectuel historisch auf eine Brücke vom Reich der Ideen zum Handeln in historischen Zusammenhängen, so mythisch darauf, dass diese Synthese der Gestalt einer Erzählung (bzw. eines Bildes, eines Ausdruckes) bedarf. Dies legen auch die weiteren Ausführungen nahe, die drei verschiedene Formen der Erzählung (der Mythe) ansprechen, welche in jeweils unterschiedlicher Weise die Anteile der beiden Bereiche, deren Verbindung sie darstellen, verkörpern. Die „epische Mythe“, die „dramatische Mythe“ und das „lyrischmythische“ sind komplexe Formen, das fragile Gleichgewicht der beiden Bereiche zu gestalten. In Hölderlins Ausdruck vom „Gott der Mythe“ (TS 15), der an dieser Stelle fällt, fassen sich die Überlegungen zusammen: Zum einen wird mit dieser Wendung (Gott der Mythe) noch einmal deutlich, dass es bei jenen drei Formen der Balance der beiden Reihen (auch) um Bestimmungen der Religion zu tun ist. Letztere ist erst in einer Erzählung, welche die beiden Bereiche zu balancieren vermag.

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Vgl. TS 14, 121.

3.1 Philosophische Annäherung an den Begriff der Sphäre

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Zum anderen wird mit dem Ausdruck (Gott der Mythe) darauf hingewiesen, dass sich die Komplexität der Vermittlungsaufgabe der Religion als des IntellectuellHistorischen gar nicht anders als in einer Erzählung oder einem Bild vollziehen kann. Ein bestimmter Begriff oder ein Akt der Reflexion kann sie nicht leisten. Damit wird unterstrichen, dass das geistige Leben einer Darstellung im Bild bedarf. Zusammengefasst erscheinen diese Überlegungen im Satz: „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“ (TS 15)18 Ausdrucksformen der Religion lassen sich nur von der bildhaften Darstellung, der Mythe, der Dichtung her begreifen und müssen sich auch in dieser immer wieder (neu) zum Ausdruck bringen. Sie bedürfen der Wiederholung (vgl. TS 12), die nicht als fixierte Form des Gedächtnisses verstanden werden darf.19 Ihren Gehalt (in den Worten Hölderlins „Stoff“, TS 14) gibt es nicht ohne ihren Vollzug („Vortrag“, TS 15). Mit diesen Überlegungen ist der Ort der Dichtung als ästhetischer Ausdrucksform der Religion benannt. In Klammern gesetzt, spricht Hölderlin von weiteren Feldern, die im Anschluss daran zu entfalten wären: Religion stehe zwischen singulärem Ausdruck des Individuums und Ausdruck der Gemeinschaft. Dies zeige sich in der Verehrung Gottes und der mythischen Feier des Lebens. Ferner müsste über die Rolle von Priestern und Religionsstiftern gesprochen werden. All dies ist jedoch nur mehr angedeutet. In den folgenden Kapiteln möchte ich zeigen, wie Hölderlin diese theoretischen Überlegungen in der Dichtung weiterführt, und dabei besonderes Augenmerk auf die Sphäre als den Ort, in welchem sich das Verhältnis von Mensch und Gott vermittelt, legen.

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Es wird mir nicht klar, wie Ulrich Gaier in seiner Analyse des Textes, besonders im Hinblick auf den Satz vom poetischen Wesen der Religion, zur Auffassung kommen kann, es handle sich um „die kühnste denkbare Form der Säkularisierung der Religion“, der dann eine Sakralisierung der Poesie folge (Gaier, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“, in: Vietta/Uerlings (Hg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung I, 75–92, hier: 85 und ähnlich: 91). Ich sehe in diesem Text eher eine tiefe Einsicht in das Wesen der Religion, die ausgehend von der Erzählung gedacht werden muss (vgl. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, § 12, 197–210). 19 Kreuzer weist besonders darauf hin, dass gerade aufgrund der zeitlichen, d. h. endlichen, Dimension, welche vom wirklichen Leben (vgl. TS 12) nicht übersprungen werden könne, der Gedanke (als vermeintlich nicht der Zeit unterliegende Reflexion) oder das Gedächtnis (als Informationsspeicher) die Bilder niemals erschöpfen könne. „Das Sich-Erheben über die ‚Not‘ endlichen Daseins erfüllt sich erst dann, wenn es Zeit als Bedingung endlichen Daseins nicht aus-, sondern einschließt. [. . . ] Nicht weil es ‚irrational‘ wäre, sondern weil es eben dieser zeitlichen Bedingung unterliegt, ‚erschöpft der Gedanke [. . . ] die unendlicheren mehr als nothwendigen Beziehungen des Lebens‘ nicht.“ (Kreuzer, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“), 24 Im Hintergrund dessen steht, wie Hölderlin im Brief an Hegel vom 26. Jänner 1795 (Brief 94, MA II, 56) ausführt, dass die Beziehung von Bewusstsein und Gegenstand nur als zeitlich („also nicht absolut“) gedacht werden kann. Mithin können Dank, Erinnerung, Mythe und Bild niemals einen definitiven Charakter annehmen, sondern müssen sich erneuern. Die ästhetische Absicht (vgl. KdU, § 49, 253), welche mit diesen Formen in Verbindung steht, bestimmt Kant überdies, worin sich ihr zeitlich-flüchtiger, gleichwohl aber produktiver Charakter zeigt, als „ein Vermögen, das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen“ (KdU, § 49, 254).

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

3.2 Dichterische Annäherung an die Begriffe Äther und Strahl: An Herkules und Diotima Vergangenheit, Zukunft und Natur können im Ausgang der Tübinger Hymnen nicht mehr als Sphären gelten, in welchen das Ich unmittelbar aufgehoben wäre. Der Gedanke der Sphäre muss grundsätzlicher gefasst werden, was Hölderlin dichterisch mit dem Begriff des Äthers versucht. Schmidt fasst diesen prägnant als „Inbegriff einer alles durchwaltenden, alles belebenden und alles verbindenden – deshalb auch gemeinschaftsstiftenden – Naturmacht, die in dieser Qualität zugleich ‚Seele‘ und ‚Geist‘ der Welt ist“20 . Ob der Äther für Hölderlin tatsächlich Naturmacht ist, kann bezweifelt werden. Nach der Absage an den Gedanken, dass die Natur die Menschen noch lebendig umfange (vgl. An die Natur, Abschn. 2.5), kann der Äther meines Erachtens nicht mehr unmittelbar mit Natur in Verbindung gebracht werden. Was Natur bedeutet, ist selbst fraglich geworden.21 Vielmehr stellt sich die Frage, ob sich über die Dichtung der Sphäre des Äthers wieder neu ein Zugang zur Natur eröffnen kann. Die Annäherung an den Äther erfolgt in dem An Herkules gerichteten Gedicht jeweils über einzelne Phänomene der Natur, wobei einmal die Tier- und einmal die Pflanzenwelt den Vergleichspunkt abgibt. Dabei handelt es sich jedoch um Formen der Annäherung, die nicht schon dazu berechtigen, den Äther selbst als Naturmacht zu fassen. An zwei Stellen wird der Äther explizit genannt: Wie der Adler seine Jungen, Wenn der Funk’ im Auge klimmt, Auf die kühnen Wanderungen In den frohen Aether nimmt, (An Herkules, VV 9–12) Was ergriff und zog vom Schwarme Der Gespielen mich hervor? Was bewog des Bäumchens Arme Nach des Aethers Tag empor, (An Herkules, VV 33–46)

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Zahlreiche Motive, die bereits aus früheren Gedichten bekannt sind, bündeln sich hier: Wie schon in den Tübinger Hymnen stellt sich die Frage nach der Möglichkeit des Eintritts in die Sphäre. Wieder begegnet der Adler, der nun – die Sonnenstrahlen im Auge (V 10) – zum Flug ansetzt und dabei seine Jungen mitnimmt. Nach seinem Vorbild hofft auch Dichter in die Sphäre des frohen Äthers getragen zu werden. Verbunden mit dem Bild des Adlers wie auch mit dem des Bäumchens (VV 35 f.) 20

KA 598 f. Aus diesem Grunde würde ich auch das Gedicht An den Äther anders als Böhm nicht als ein „philosophisches Naturgedicht“ (Böhm, Hölderlin I, 221) bezeichnen und anders als Böckmann, nicht von einem „mythischen Naturgedicht“ (Böckmann, Hölderlin und seine Götter, 160) sprechen.

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3.2 Dichterische Annäherung an die Begriffe Äther und Strahl

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ist eine Figur des Sich-Erhebens bzw. des Emporgehoben-Werdens („zog . . . / . . . hervor“, VV 33 f.; „Hub die Seele mir empor“, V 20). Interessant ist, dass dort, wo die Sphäre des Äthers in den Mittelpunkt des Interesses rückt, auch das Motiv des Strahls wieder auftritt: Schmerzlich brannten, stolzes Licht Mir im Busen deine Stralen, Aber sie verzehrten nicht. (An Herkules, VV 22–24)

Die Strahlen, die eine Verbindung von himmlischer und irdischer Welt ausdrücken, stellen für den Menschen eine tödliche Gefahr dar, wenn sie nicht in irgendeiner Weise gemildert werden. Die eben zitierte Stelle führt genau an jene Linie heran, an welcher ein Überleben noch möglich ist, ohne verzehrt zu werden. Die Linie zwischen Verzehrt-Werden und Überleben kann jedoch der Mensch kaum ausloten, Hölderlin setzt für diese Aufgabe die Gestalt eines Halbgottes, des Herkules, ein. Eine mythisierte Gestalt, mit der sich bei Hölderlin auch biographische Elemente verbinden, begegnet darüber hinaus in Diotima, der ein Gedicht gleichen Namens gewidmet ist.22 Der Prozess mehrmaliger Umarbeitung dieses Gedichtes kann auch als Ausdruck von Hölderlins Suche nach einem Adressaten seiner Texte und einem Gegenüber in der sich ausbildenden Sphäre gelesen werden kann. Die von Anfang an in Hölderlins Dichtung gegenwärtige Frage nach Subjektwerdung tritt hier wieder auf. Lediglich zwei Strophen aus der älteren Fassung des Gedichtes werden im Folgenden genauer betrachtet. Sie nehmen einerseits das Motiv des Strahls wieder auf und bringen andererseits mit dem Ozean einen dem Äther verwandten Begriff der Sphäre: Da ich flehend mich vergebens An der Wesen kleinstes hieng, Durch den Sonnenschein des Lebens Einsam, wie ein Blinder, gieng, Oft vor treuem Angesichte Stand und keine Deutung fand, Darbend vor des Himmels Lichte, Vor der Mutter Erde stand; Lieblich Bild mit deinem Strale Drangst du da in meine Nacht! Neu an meinem Ideale Neu und stark war ich erwacht; Dich zu finden, warf ich wieder

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Zum mythischen Hintergrund und den biographischen Anspielungen, die sich in der dichterischen Gestalt Diotimas überblenden, vgl. KA 594.

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Warf ich meinen trägen Kahn Von dem todten Porte nieder In den blauen Ozean. – (Diotima [Ältere Fassung], VV 49–64)

Die erste der beiden zitierten Strophen ist von Vergeblichkeit geprägt. Nicht einmal das kleinste der Wesen (geschweige denn ein Heros wie Herkules) gewährt Gemeinschaft (V 50). Diese Einsamkeit lässt das Ich blind durch den Sonnenschein gehen, dessen Strahlen es nicht aufzufangen vermag (VV 51 f.). Es ist in keiner Weise empfänglich für das, was ihm begegnet. Das treue, vertraute Angesicht, dem es gegenübersteht, bleibt ihm verschlossen, opak (VV 53 f.) und wird nicht zum Du. Die Unmöglichkeit, eine Deutung zu finden, erinnert an die späten Worte aus Mnemosyne, wo von einer Verkörperung der Deutungslosigkeit, von Unberührbarkeit und Sprachlosigkeit die Rede ist: Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren. (Mnemosyne, VV 1–3 bzw. HF 91)

Vers 55 macht erneut deutlich, dass das Ich nicht (mehr) fähig ist, das Licht des Himmels, d. h. seine Strahlen, aufzufangen. Was im Gefolge des Herkules – freilich an der Grenze tödlicher Gefahr – noch möglich war, bleibt in diesem Gedicht zunächst versagt. Wie vor des Himmels Licht (Diotima, V 55) steht das Ich auch bedürftig, unkundig und deutungslos „Vor der Mutter Erde“ (V 56), die nicht mehr, wie noch in An die Natur, in ihrer demiurgischen, gleichwohl sich entziehenden Gewalt zu erscheinen vermag und in ihrem Entzug Verweis auf das Göttliche ist. Hier steht das Ich unbestimmt vor einer nicht näher entfalteten Mutter Erde, welche keinen Prozess der Subjektivierung oder der weiteren Differenzierung der Wahrnehmung anregen kann. Vielmehr ist es die Gestalt von Diotima, deren Bild nun in die Stumpfheit der Szenerie („Nacht“, V 58) mit ihrem „Strale“ (V 57) einbricht. Diese Anregung führt zu einem Erwachen des Ichs, was zunächst an die Stimmung der Tübinger Hymnen erinnert, ist es doch als ein Erwachen am „Ideale“ (V 59) beschrieben. Entscheidend ist der zweite Teil der Strophe, der mit der Suche nach jenem Gegenüber beginnt, dessen Strahl ihn bereits erreicht hat. Dabei ist das Pronomen „Dich“ an die erste Stelle des Verses gesetzt und steht hiermit vor dem Ich, das sich erst konstituieren muss: „Dich zu finden, warf ich wieder“ (V 61). Der ersten Aktivität, die es wieder zu setzen vermag, wird dadurch eine besondere Bedeutung verliehen, dass das Verb „warf“ wiederholt wird: „warf ich wieder / Warf ich meinen trägen Kahn“ (VV 62 f.). Es handelt sich, unterstrichen durch die Wiederholung, um die Wiederaufnahme einer Tätigkeit, welche das Ich schon einmal gesetzt hatte, die ihm vertraut ist. Weder geht es um die Suche nach dem absolut Neuen, wie sie bisweilen die Tübinger Hymnen prägte, noch um die Rückkehr in eine vergangene oder die Einkehr in eine zyklisch-zeitlich wiederkehrende Sphäre, wie sie

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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in der Griechenland- und Natur-Hymne/Elegie gesucht wurden. Vielmehr geht es um den Wiedereintritt in etwas, das bereits vertraut ist, sich aber zuvor nicht öffnen konnte (das treue, d. h. vertraute, Angesicht blieb deutungslos). Der Eintritt in die Sphäre, die in der Gestalt des Ozeans erscheint, ist mit einer Verschränkung der Zeiten verbunden. Er ist die Rückkehr zu etwas, was sich als das Neue erweist und gleichwohl nicht der chronologischen Zeit unterworfen ist. Der Kahn wird „In den blauen Ozean geworfen“ (V 64) und taucht damit in eine ihn umgebende, unbegrenzte („blaue“) Sphäre ein. Wie der Äther ist er das Medium, in welchem die weitere Fahrt erfolgen kann. Er verkörpert die nicht durch den Chronos bestimmte Zeitlosigkeit, ohne sie wie die Natur jeden Morgen und jedes Jahr durch das Absterben und Aufblühen darstellen zu müssen. Der Ozean, der Äther ist einfachhin. Dieser Eintritt in die Sphäre des Ozeans hat Konsequenzen im Gedicht, die nur kurz angeführt werden: Der Himmel wird als „heilig offen“ (V 99), d. h. nicht mehr deutungslos verschlossen, erfahren; das „Nichts“ (V 112), welches das Ich sein Eigen nannte, weicht „reicher Stille“ (V 105), womit ein Grundmotiv der frühen Gedichte Hölderlins wieder aufgenommen ist. Auch eine neue Form der Gottesbegegnung kann sich einstellen, freilich nur im leisen Vorüberziehen: Aber, wie in zarten Zweigen, Liebend oft von mir belauscht, Traulich durch der Haine Schweigen Mir ein Gott vorüberrauscht, (Diotima [Ältere Fassung], VV 113–116)

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Nur wie der kaum vernehmbare Hauch eines Windes, der lediglich an der Bewegung der feinen Zweige sichtbar und allein einem aufmerksamen Lauschen bemerkbar wird, wenn die Landschaft schweigt, rauscht ein Gott vorbei. Gänzlich unbestimmt, steht er für das Sich-Entziehende, das im Ausgang von An die Natur bewusst werden konnte.

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer Die Überlegungen zum Herkules- und dem Diotima-Gedicht haben vor eine Fülle neuer oder neu lebendig werdender Motive geführt: die Sphäre des Äthers bzw. Ozeans, die Suche nach einem personalen Gegenüber (Diotima), das Sich-Erheben oder Emporgehoben-Werden, den Strahl, den Reichtum der Stille, welche dem Nichts gegenübersteht, den heilig offenen Himmel, das Lauschen auf die leisen Bewegungen des Windes, den sich im Vorüberrauschen entziehenden Gott. Allerdings haben all diese Motive erst eine lose Verbindung und begegnen meist, ohne näher ausgeführt zu werden. Darin zeichnet sich die Aufgabe ab, welcher sich Hölderlin mit An den Aether und Der Wanderer zu widmen beginnt. Das erste der beiden Gedichte ist im Hexameter verfasst, das zweite ist Hölderlins erste Elegie im ele-

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

gischen Distichon. Zu beiden Gedichten existieren mehrere Entwürfe, entstanden sind sie 1797.23

Die Sphäre und der gebrochene Stab: An den Äther Das Gedicht wendet sich an den Äther. Sein Titel ist in derselben Weise gestaltet wie der von An die Natur. Mit Natur und Äther ist jeweils die Sphäre eines Aufenthaltes für das dichterische Ich bezeichnet, an welche sich die Gedichte adressieren: An die Natur, An den Äther. Im Folgenden ist zu zeigen, dass der Weg von der Natur zum Äther nicht der in eine Abstraktheit ist, sondern gerade die Möglichkeit einer neuen Beschreibung von Natur mit sich bringt, welche diese in konkreterer Weise in ihrer Bewegtheit wahrzunehmen ermöglicht. Unterteilt wird das Gedicht im Folgenden in vier Abschnitte, die jeweils einer Annäherung an die Sphäre des Äthers entsprechen (Strophe I–II, III–IV, V, VI als Epilog).24 A N DEN A ETHER . Treu und freundlich, wie du, erzog der Götter und Menschen Keiner, o Vater Aether! mich auf; noch ehe die Mutter In die Arme mich nahm, und ihre Brüste mich tränkten, Faßtest du zärtlich mich an und gossest himmlischen Trank mir, Mir den heiligen Othem zuerst in den keimenden Busen. Nicht von irrdischer Kost gedeihen einzig die Wesen, Aber du nährst sie all’ mit deinem Nektar, o Vater! Und es drängt sich und rinnt aus deiner ewigen Fülle Die beseelende Luft durch alle Röhren des Lebens. Darum lieben die Wesen dich auch und bliken und streben Unaufhörlich hinauf nach dir in freudigem Wachstum. Himmlischer! sucht nicht dich mit ihren Augen die Pflanze, Streckt nach dir die schüchternen Arme der niedrige Strauch nicht? Daß er dich finde, zerbricht der gefangene Saame die Hülse, Daß er belebt von dir in deiner Wooge sich bade, Schüttelt der Wald den Schnee wie ein überlästig Gewand ab. Auch die Fische kommen herauf und hüpfen verlangend Über die glänzende Fläche des Stroms, als begehrten auch diese Aus der Wooge zu dir; auch den edeln Thieren der Erde

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Vgl. BA V, 227–232; KA 597 f. Vgl. KA 597–601; Böhm, Hölderlin I, 221–224, Böckmann, Hölderlin und seine Götter, 162–165. Die ausführlichste Interpretation des Gedichtes findet sich meines Wissens in der bislang leider nicht publizierten Diplomarbeit von Anna Bachofner, Hölderlins An den Äther als gedichtete Offenbarungsgestalt. 24

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer Wird zum Fluge der Schritt, wenn oft das gewaltige Sehnen, Die geheime Liebe zu dir sie ergreift, sie hinaufzieht. Es verachtet den Boden das Roß, wie gebogener Stahl strebt In die Höhe sein Hals, mit der Hufe berührt es den Sand kaum. Wie zum Scherze, berührt der Fuß der Hirsche den Grashalm, Hüpft, wie ein Zephyr, über den Bach, der reißend hinabschäumt, Hin und wieder und schweift kaum sichtbar durch die Gebüsche. Aber des Aethers Lieblinge, sie, die glüklichen Vögel Wohnen und spielen vergnügt in der ewigen Halle des Vaters. Raums genug ist für alle. Der Pfad ist keinem bezeichnet, Und es regen sich frei im Hauße die Großen und Kleinen. Über dem Haupte frolocken sie mir und es sehnt sich auch mein Herz Wunderbar zu ihnen hinauf; wie die freundliche Heimath Winkt es von oben herab, und auf die Gipfel der Alpen Möchte’ ich wandern und rufen von da dem eilenden Adler, Daß er, wie einst in die Arme des Zeus den seeligen Knaben, Aus der Gefangenschaft in des Aethers Halle mich trage. Töricht treiben wir uns umher; wie die irrende Rebe, Wenn ihr der Stab gebricht, woran zum Himmel sie aufwächst, Breiten wir über dem Boden uns aus und suchen und wandern Durch die Zonen der Erd’, o Vater Aether! vergebens, Denn es treibt uns die Lust, in deinen Gärten zu wohnen. In die Meersfluth werfen wir uns, in den freieren Ebnen Uns zu sättigen, und es umspielt die unendliche Wooge Unsern Kiel, es freut sich das Herz an den Kräften des Meergotts. Dennoch genügt uns nie, denn der tiefere Ocean reizt uns, Wo die leichtere Wooge sich regt – o wer an die goldnen Küsten dort das wandernde Schiff zu treiben vermöchte! Aber indeß ich hinauf in die dämmernde Ferne mich sehne, Wo du die fremden Ufer umfängst mit der bläulichen Wooge Kömmst du säuselnd herab von des Fruchtbaums blühenden Wipfeln, Vater Aether! und sänftigest selbst das strebende Herz mir, Und ich lebe nun gerne, wie sonst, mit den Blumen der Erde.

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Strophen I–II (VV 1–11) Die ersten beiden Strophen können als eine Annäherung an die Sphäre des Äthers gelesen werden, welche in diesem Gedicht eigens in den Blick genommen und gestaltet wird. Die erste Annäherung an das alles Umgebende des Äthers ist dabei in der Vergangenheitsform formuliert (Strophe I: „erzog“, V 1; „nahm“, „tränkten“, V 3; „Faßtest“, „gossest“, V 4). Der Dichter spricht hinsichtlich der ihn umgebenden Sphäre von Erfahrung und nicht mehr von Idealen, was sich bereits in Diotima in der Verwendung der Vergangenheitsform und im Bild, den Kahn wieder in den

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Ozean zu werfen (Diotima [Ältere Fassung], VV 61–64), angekündigt hat. Illustrierende Bilder aus der Natur werden, anders als in An Herkules, der Erfahrung erst nachfolgen (besonders in den Strophen III und IV) und gehen ihr nicht voraus. Mit der Vergangenheitsform geht eine Distanzierung des Geschehens einher, wobei dies nicht in dem Sinne einer Abgrenzung verstanden werden darf, sondern als Objektivierung, welche eine Beschreibung erst ermöglicht. Sie ist erster Versuch, jenem Umgebenden, in welches man ganz eingelassen ist, eine Darstellung im Gedicht zu geben. Im jenem Geschehen der Vergangenheit zeigt sich eine Differenzierung in zwei zeitliche Ebenen an: Die in der Vergangenheitsform geschilderten Erfahrungen verweisen noch auf eine andere, davor liegende Ebene zurück, die mit den temporalen Adverbien „noch ehe“ (V 2) und „zuerst“ (V 5) zum Ausdruck gebracht wird. Die Aufnahme in die Sphäre des Äthers wird als ein Geschehen unvordenklicher Vergangenheit, das allen Formen menschlicher Erziehung, Ernährung und Erhaltung noch vorausgeht, beschrieben. Das Gedicht setzt mit den Adverbien „Treu und freundlich“ (V 1) ein, was wie eine Aufnahme des „Todt und dürftig“ (An die Natur, V 52) wirkt. Liest man An den Äther nach An die Natur, erscheint der Äther-Hymnus als ein Versuch der Gestaltung jenes schmalen Bereiches, der sich mit dem Wort „dürftig“ nach dem Verlust („todt“) noch eröffnete. Offensichtlich war das Leben von einer in An die Natur noch nicht zum Ausdruck gebrachten Treue umfangen, welche nach dem Tod der Natur das Schöpferische der Sprache noch weitertragen konnte, sodass ein neues Gedicht zu beginnen vermag, das eine Form von Kontinuität zum Ausdruck bringt (wie etwa die bereits erwähnte Ähnlichkeit der Titel aussagt). Überdies ist von einer Freundlichkeit die Rede, für welche im Rahmen des ersten Verses noch nicht einmal zwei einander gegenüber tretende Pole genannt werden können, die ein als freundlich bezeichnetes Verhältnis verbände. Lediglich ein „du“ ist genannt, auf das hin sich „Treu und freundlich“ beziehen kann, ein Ich kommt noch nicht vor. Die beiden Adverbien eröffnen somit einen Raum, welcher dem Ich uneinholbar voraus liegt, in welchem es jedoch wachsen kann, worauf das Verb „erzog“ bereits hindeutet. Bevor jedoch dessen Objekt mit dem Wort „mich“ (An den Äther, V 2) genannt werden kann, wird noch eine fundamentalere Aussage getätigt. Mit dem „du“ als der ersten Adresse des Gedichtes sind weder Götter noch Menschen gemeint, sondern „Vater Aether“, den Przywara treffend „das Schwebende“25 nennt, das sich jeglicher Fixierung entzieht. Es kann nicht darum gehen, im Drang unausgesetzten Hierarchisierens und Kategorisierens den Äther als den älteren, höheren oder logisch den Begriffen Gott und Mensch vorausgehenden Begriff darzustellen. Dies setzte voraus, dass das Gedicht bereits über ein Verständnis chronologischer Zeit bzw. logische Schemata verfügte. Überdies würde der Versuch, die Sphäre des Äthers mit einem blinden primordialen Streben in Verbindung zu bringen, die Adverbien „Treu und freundlich“ unterlaufen, mit denen das Gedicht seinen Anfang nimmt. Gedichtet wird jedoch die Sphäre, in welcher erst all jene Unterscheidungen getroffen und in welcher Gott und Mensch erst zur Sprache 25

Przywara, Hölderlin, 63.

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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gebracht werden können, indem sie dazu erzieht. Sieht man die sprachliche Sphäre, wie Hölderlin sie zu dichten sucht, nicht in dieser Grundsätzlichkeit, bleiben meines Erachtens manche Wege zu seinen späteren Gedichten verschlossen. Noch im zweiten Vers wendet sich das Bild von einem väterlichen zu einem mütterlichen, dessen zeitliche Bestimmung „noch ehe“ auf dieselbe vorgängige Zeitstruktur verweist wie sie in den bisherigen Ausführungen statthat. Wohl ist der Äther als Vater angesprochen, bevor der Vers jedoch in sein Ende gehen kann, taucht die Rede von mütterlichen Tätigkeiten auf. Die Sphäre, um deren Dichtung es zu tun ist, liegt vor eindeutigen Zuordnungen der Geschlechterdifferenz. An der Grenze vom vierten zum fünften Vers stellt sich durch die Wiederholung des Pronomens „mir“ ein wichtiger Schritt zur Subjektwerdung ein. Das Wort leitet über zum Schöpfungsmotiv des Eingießens des heiligen Atems (V 5), was – ausgesprochen im Wort „keimenden“ (V 5) – sofort zu einer ersten Form von Wachstum führt. Der Prozess der Subjektwerdung verbleibt vorerst bei dieser kurzen Andeutung. Nicht das Ich, sondern das Motiv des Keimens übernimmt die Weiterentwicklung des Gedichtes und breitet sich in der zweiten Strophe über alle Lebewesen aus. Das Ich in seiner sich erst langsam ausbildenden Subjektivität tritt vor der reinen Freude des Gedeihens der durch den Äther genährten „Wesen“ (V 6) in den Hintergrund. Nicht allein aus einer „irrdischen“ (V 6), d. h. natürlichen Sphäre ist ihr Wachstum zu verstehen, sondern erst aus der Sphäre des Äthers. Nur aus dieser Sphäre, welche die verlorene unmittelbare Natürlichkeit in die Sprache aufgehoben hat, ist auch das Bild der Totalität in Vers sieben zu verstehen: Es vermag von den Wesen „all’“ (V 7) zu sprechen, was der natürlichen Anschauung des Ichs, d. h. seiner Anschauung der Natur (noch) nicht gelänge. Es gibt an dieser Stelle noch kein Ich, welches im Sinne fortgesetzter Synthesis des Verstandes unter dem Regulativ der Vernunft oder in intellektueller Anschauung zum Begriff einer Totalität der Welt bzw. der Natur käme. Die nächsten beiden Verse (VV 8 f.) geben an, worin das Bild der Totalität seine Berechtigung hat, d. h., warum es so rasch zu einem Bild des Naturganzen kommt. Nicht übersteigt der Blick des Ichs überschwänglich die Erscheinungen zu Begriffen der Totalität und Ewigkeit („ewigen Fülle“, V 8), sondern ist es die ewige Fülle des Äthers, in welcher erst die Natur ansichtig werden und sich das Ich ausbilden kann. Im Hinblick auf das Ich wird diese Entwicklung vorerst (bis V 31) jedoch nicht weitergeführt, allerdings werden die Folgen des alles beseelenden Geschehens in Bezug auf die Natur breit entfaltet: In zwei Versen (VV 10 f.) wird zunächst von der Liebe der Wesen zum Äther und dann von deren unaufhörlichem Emporstreben und Wachstum gesprochen, welches in den beiden folgenden Strophen (III–IV) zur Darstellung kommt. Es fällt auf, dass mit dem Wort „hinauf“ (V 11) sowie mit den Verben „bliken und streben“ (V 10) erstmals eine Richtung angegeben ist, wie sie in den Bildern des Beseelens, Nährens, Durchdringens und Rinnens bislang nicht vorkommen konnte. Damit kündigt sich am Ende der beiden einleitenden Strophen ein Verlassen des Gedankens des Äthers als alles durchdringenden Elements an.

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Strophe III–IV (VV 12–36) Die Schilderung des Emporstrebens der Natur beginnt mit einem Anruf an den Äther, welcher diesen den Himmlischen nennt (V 12), mithin ihm eine Lokalisierung in einem Oben gibt, welche dem Äther, der anfänglich ohne räumlich ausgezeichnete Ausrichtung geschildert wurde, nicht zukam. Die Begeisterung, überall in der pflanzlichen wie tierischen Natur ein Emporstreben wahrzunehmen (VV 10 f.), hat dazu geführt, dass das beschreibende Ich dem Äther einen klaren Ort gibt. Er wird damit zu einem Gott gemacht, wie er im griechischen Mythos am Olymp oder in biblischer Bildsprache im Himmel verortet wird. Eine Gleichsetzung dieser Art war zuvor vermieden worden. Vielleicht kann man sagen, dass die problematische Zuweisung eines Ortes an den Äther notwendig wurde, weil sonst das Emporstreben der Lebewesen nicht verständlich scheint. Bis zum Vers 16 finden sich Bilder, welche der pflanzlichen Natur entnommen sind und in langsamer Entwicklung aufgebaut werden. Das Auge der Pflanze sucht den Äther – man mag dabei an die Blumen mit ihren Augen, den Blüten, denken, die sich suchend der Sonne zuwenden (V 12). Der „niedrige Strauch“ (V 13), ein wenig höher schon als die Blumen, streckt seine Zweige schüchtern empor. Beides ist noch vorsichtig in Form einer Frage formuliert. Nicht die Größe steigert sich im darauffolgenden Vers (V 14), sondern die Intensität des möglichen Wachstums, die Potenzialität – die Rede ist vom Samen der Pflanzen, der die Entfaltungsmöglichkeit schlechthin ausdrückt. Explizit ist nun der Zweck des Emporstrebens angegeben, das Finden des Äthers. Dieser Zweck wird im folgenden Vers genauer spezifiziert: belebt zu werden und sich in Übereinstimmung mit dem vom Äther vorgegebenen Rhythmus (seiner „Wooge“, V 15) zu bewegen. Das Subjekt dieser Bewegung ist erstmals ein kollektives, der Wald (V 16), der – wie zuvor der Same die Hülse – die Decke des Schnees abschüttelt. Umfassten die ersten drei Bilder je genau einen Vers (VV 12–14) und das Bild vom Wald zwei Verse (V 15 f.), so die folgenden jeweils zweieinhalb Verse (VV 17–19 und 19–21), wobei auch die Satzstruktur komplizierter wird. Die unmittelbare Beschreibung der Anschauung wird ergänzt durch modale („als begehrten . . . “, VV 18 f.) und temporale („wenn . . . / . . . sie ergreift“, VV 20 f.) Verknüpfungen. Das erste Bild, welches den Blick in die Welt der Tiere eröffnet, spricht von Fischen, welche die „Spiegelfläche“26 des Wassers, in welcher der Himmel sich reflektiert („glänzende Fläche“, V 18), momenthaft durchbrechen. Von der Pflanzen- in die Tierwelt mitgenommen wird dabei das Motiv des Durchbrechens einer umgrenzenden Hülle in Richtung der umfassenden Sphäre des Äthers. Dieses Durchbrechen erhält in der Tierwelt eine genauere Bestimmung als Überschreiten des jeweils angestammten Bereiches: Die Fisch springen, als wären sie Landtiere, die festen Boden unter den Füßen hätten (VV 17 f.). Den „edlen Thieren der Erde / wird zum Fluge der Schritt“ (VV 19 f.), ebenso strebt das Ross über den Boden hinaus in die Luft (VV 22 f.) und der Hirsch gleicht beinahe schon dem Wind26

Zur Verwendung dieses Bildes vgl. Anna Bachofner, Hölderlins An den Äther als gedichtete Offenbarungsgestalt.

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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gott Zephyr (VV 24–26). Die Vögel schließlich überschreiten die Lüfte hin zur „ewigen Halle des Vaters“ (VV 27 f.), was an den Äther denken lässt. Dort kommt das intentionale Streben in zweierlei Hinsicht an sein Ziel: bildhaft ausgedrückt im vergnügten Spiel der Vögel, welches jegliche Intentionalität außer Kraft setzt, logisch im Satz „Raums genug ist für alle“ (V 29). Der Anfang der Bewegung war das Suchen der Blumen, welches paradigmatisch für die Pflanzenwelt steht (V 12), abgelöst wurde dieses vom Verlangen und Begehren der Fische (VV 17 f.), welches die Darstellung der Tierwelt eröffnet. Gesteigert hat sie sich schließlich zum Sehnen (V 20) und Streben (V 22) und gelangt in der „Halle“ (V 28) und dem „Hauße“ (V 30) zum Stillstand. Der lange Anweg (beginnend mit Vers 12) hat schließlich zur Sphäre des Äthers, dargestellt als Haus und Halle, geführt. Diese repräsentieren ihn in seinem umschließend eröffnenden Charakter (das Haus ist begrenzt und öffnet dadurch Raum) als ein dynamisches Ganzes (jede Form der Bewegung ist in ihn zurückgegangen und wird sich aus ihm wieder erheben), nicht jedoch in seinem alles durchdringenden Charakter. In der Sphäre des Äthers angelangt, beginnt die Bewegung wieder von neuem als ein Sich-Regen (V 30), was die erste wahrnehmbare Form von Bewegung nach einem Stillstand anzeigt. Sie betrifft die „Großen und Kleinen“, d. h., sie ist noch nicht in binäre Unterscheidungen auseinandergetreten. Alle Lebewesen haben in diesem dynamischen Ganzen, in welches sie – ihre jeweilige natürliche Umgebung überschreitend – sich einschreiben, ihren Ort. Das dynamische Ganze des Äthers stellte sich nicht als naturgegebene Notwendigkeit, sondern als Freiheit dar: „Der Pfad ist keinem bezeichnet“ (V 29), die Bewegung ist „frei“ (V 30). In diesem Gang hat sich die Wahrnehmung für die Natur geöffnet, die nun auch den Prozess der Subjektwerdung des Ichs weiterführt. Es vernimmt zunächst das Frohlocken der Wesen aus Halle und Haus über ihm und sein Herz schwingt in die von ihm beobachtete Bewegung der Sehnsucht ein (VV 31 f.). Die Bewegung des Hinauf kehrt sich daraufhin um und erreicht das Ich „von oben herab“ (V 33) als ein Winken, der nur angedeuteten Geste der Götter den Menschen gegenüber, was zu einer neuerlichen Umkehr der Bewegung führt. Das Ich möchte auf „die Gipfel der Alpen“ (V 33) wandern, was jedoch im Status eines Wunsches verbleibt, anders als die Bewegung der Natur, die Realität hatte. Auch der Verweis auf ein Bild aus der Mythologie (nicht mehr der Natur), nämlich das Emporgezogen-Werden des Ganymed, vermag nicht über den Wunsch hinaus zur Erfüllung zu verhelfen (V 35).27 Zwar zerbrach der Same die Verschlossenheit der Hülse (V 14), das Ich jedoch vermag seine Verschlossenheit nicht zur Halle des Äthers zu überschreiten (V 36). Das Ich, das sich zunächst emphatisch und allzu schnell in der Sphäre des Äthers geborgen wusste (Strophe I), erfährt sich nun – im Gegenüber der differenzierten Bewegtheit der Natur – als daraus ausgeschlossen.

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Diese Bilder kehren in gewandelter Gestalt in der Patmos-Hymne wieder.

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Strophe V (VV 37–47) Mit dem Adverb „Thöricht“ (V 37) ist am Beginn der fünften Strophe ein Neueinsatz markiert. Unterstrichen wird dieser auch durch einen nicht vorbereiteten Wechsel vom Ich zum Wir. Das Adverb „Thöricht“ (V 37) zeigt eine Erfahrung oder Stimmung an, welche sich nicht mehr unter den Adverbien „Treu und freundlich“ (V 1) vom Beginn der ersten Strophe fassen lässt. Eröffneten diese den Raum, in welchem alle Formen der Annäherung an die Darstellung der dem Ich immer schon vorausliegenden Sphäre des Äthers erfolgten, weist das „Thöricht“ nun in eine gänzlich andere Richtung. Es leitet die Rede von einem Umhertreiben ein, welches sich von allen bisherigen Bewegungsrichtungen, seien sie suchend, strebend, sehnend, wünschend oder spielend unterscheidet. Von der vorherrschenden vertikalen Bewegungsrichtung sich abhebend, lässt es an ein zielloses Kreisen in der Ebene, d. h. in horizontaler Richtung denken. Es beginnt mit einem Sich-Ausbreiten „über dem Boden“ (V 39), das sich nicht wie der Lauf der Landtiere kühn oder spielerisch vom Boden abhebt, und ist ein Suchen und Wandern (freilich ein Suchen ohne Aufstreben, VV 12 f.), welches „Durch die Zonen der Erd’“ (V 40) führt, ohne in Halle und Haus sein Ziel zu finden. Diese aus der bisherigen Darstellung des Äthers als Totalität ausgeschlossene Bewegung verweist auf die mit der Umdeutung des alles beseelenden Äthers in den „Himmlische[n]“ (VV 10–12) verlorenen Dimensionen. Die Richtungslosigkeit des Umherirrens ist letzte Erinnerung an die Ungerichtetheit des alles durchdringenden Äthers. Ein Bild der Natur, das sich als einzelnes von der Fülle der zuvor genannten abhebt, dient der Veranschaulichung dessen: „die irrende Rebe“ (V 37), die keinen Halt hat, der ihr die Richtung angäbe. Während alles Lebendige zum Himmel emporstrebt, fehlt ihr diese Ausrichtung. Entscheidend für den Zusammenhang dieser Arbeit ist das in diesem Umfeld auftretende Wort vom Brechen des Stabes (V 38), welcher wie der Strahl eine Verbindung von Himmel und Erde darstellt („woran zum Himmel sie aufwächst“, V 38). Diese erscheint als gebrochen, ohne dass Gründe dieses Zerbrechens näher ausgeführt würden. Die ersten vier Verse der Strophe, welche vor eine gewandelte Stimmung gestellt haben, enden mit dem Wort „vergebens“ (V 40), in welchem eine Erfahrung ausgesprochen ist, welche die Intentionalität der Natur, die stets ihr Ziel erreichte, nicht kennt. Fasst man den Anfang der fünften Strophe nicht als einen neuen Abschnitt auf, sondern als Teil der vorangehenden Naturschilderung, welcher schließlich auch den Menschen auftreten lässt28 , so könnte man zunächst befinden, der Mensch sei durch das „vergebens“ charakterisiert und als solcher keineswegs über den Pflanzen und Tieren stehend, die alle ihre Bestimmung erreichen. Bindet man die Verse jedoch noch enger an das, was über die Tierwelt gesagt wurde, nämlich dass sie den ihnen angestammten Bereich je überschreiten (die Fische zum Land, die Landtiere zur Luft . . . ), stellt sich die Frage, worin sich am Menschen eine derartige Erfah28

„Eine Stufenleiter von der Pflanze über niedrige und höhere Tiere bis zum Menschen bildet das Wirkungsgebiet des Äthers“ (Böhm, Hölderlin I, 223).

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

131

rung des Überschreitens zeige. Diese wird deutlich im „vergebens“, welches freilich zunächst als eine Erfahrung der Zersetzung oder gar Zernichtung gesehen werden muss, allerdings auch als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass der Mensch eben nicht in Formen intentionalen Strebens aufgeht. Darin ist er dem vergnügten Spiel der Vögel verwandt (V 28), die jedoch auf natürliche Weise vollziehen, was für den Menschen bloß als Möglichkeit dämmert, aber noch von der Erfahrung mangelnden Erfolges überdeckt ist. Tatsächlich stellt sich an dieser Stelle ein unerwarteter Umschwung ein, der mit „denn“ (V 41) eingeleitet wird. Das Suchen und Wandern durch die Zonen der Erde erhält eine neue Bedeutung, indem es als von Lust bewirktes Wandeln in den Gärten des Äthers nun nicht mehr in Abgrenzung zur Pflanzen- und Tierwelt als defizient gesehen wird. Möglicherweise steht diese neue Bedeutungsdimension mit dem „vergebens“ in Verbindung, dessen Erfahrung auch zur Folge hatte, dass das Ich/Wir den Blick von der Faszination für die Pflanzenund Tierwelt abwenden konnte. Dadurch wurde es ihm in ersten Versuchen möglich, das dem Menschen Eigene zu dichten. Für diese Interpretation spricht, dass die Sphäre des Äthers anders als in der Pflanzen- und Tierwelt nicht als Halle oder Haus, sondern als Garten gefasst wird. Freilich tritt dieser Übergang in die Gärten ähnlich schnell und unvorbereitet auf wie das Bild der Totalität der Natur in den ersten beiden Strophen. Es stellt sich die Frage, was daraus im Gedicht entwickelt werden kann. Die folgenden sechs Verse (VV 42–47) sind ein Versuch, das Eigene des Menschen in der Sphäre des Äthers zu dichten. Das Motiv des Gartens, dem im Übrigen auch die irrende Rebe angehört, bleibt unentfaltet, zumal die Dichtung zu einer anderen, bereits aus Diotima bekannten Darstellung des Äthers wechselt, dem Ozean. In der ungestümen Weise, wie sich das Ich/Wir auf einmal in den Gärten fand, wirft es sich nun „In die Meersfluth“, die – wohl gegenüber Halle, Haus und Garten – als die „freieren Ebnen“ (V 42) erscheint. Zwei Bilder, die einander abwechseln, aber zu keinem Ausgleich kommen, treten auf: einerseits das Spielerische des Umspielens, die Freude (VV 43 f.) und die „leichtere Wooge“ (V 46), andererseits ein sich immer stärker manifestierendes Streben, dem es um Sättigung (V 43) geht, das jedoch nie Genügen findet (V 45) und das es in den tieferen Ozean verlangt (V 45). Die Nichtvermittelbarkeit der beiden Bilder endet mit einem Ausruf der Suche nach jemandem, der die wandernde Bewegung an goldene Küsten zu führen vermag.29 Diese werden wie der Äther im Rahmen der Naturbilder „oben“ (V 47) lokalisiert. Damit ist der erste Versuch, den Aufenthalt des Menschen im Äther zu dichten, zu Ende.

29

Böhm sieht hier einen Bezug zur Griechenland-Elegie: „Hoffender als in der Elegie ‚Griechenland‘ blickt sie [die Sehnsucht] nach den goldenen Küsten Griechenlands“ (Böhm, Hölderlin I, 223).

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Strophe VI, Epilog (VV 48–52) Es folgen fünf weitere Verse, die man als Epilog bezeichnen könnte, weil sie nicht mehr der Absicht entspringen, die Sphären des Äthers zu dichten. Zum ersten Mal wird der Dichter von einem Geschehen überrascht, das – objektiv – an ihn herantritt. Die ersten zwei Worte – „Aber indeß“ (V 48) – machen deutlich, dass die Darstellung von etwas Neuem anhebt. Als Subjekt tritt anstatt des Wir wieder ein Ich auf, welches vom letzten Vers der fünften Strophe (V 47) die Bewegung des Hinauf mit in den Epilog genommen hat. Das Ich nimmt nun, zum ersten Mal im Gedicht, nicht mehr ungestüm sein Ziel in den Blick, sondern entlässt es in eine „dämmernde Ferne“ (V 48), nach welcher es sich sehnt. Die Ferne wird näher bestimmt als Ort, wo der Äther noch die fremden Ufer umfängt (V 49). Der Bezug zum Äther wird mithin über das Fremde, d. h. das Nicht-Assimilierbare, das nicht der eigenen Verfügung untersteht, vermittelt. Er erscheint im Bild des Zusammenfassenden, Zusammenhaltenden, in welchem auch, was neu gegenüber den bisherigen Darstellungen ist, Fremdes Aufnahme findet. Knaupp und Reitani setzen anders als Beißner und Schmidt nach „Wooge“ in Vers 49 keinen Beistrich, was bedeuten könnte, dass die Wendung „mit der bläulichen Wooge“ sowohl zu dem, was vor ihr, als auch zu dem, was nach ihr steht, gezogen werden kann.30 Entweder umfängt der Äther die fernen Ufer mit der bläulichen Wolke oder kommt er säuselnd mit der bläulichen Wolke herab. Wo du die fremden Ufer umfängst Wo du die fremden Ufer umfängst (An den Äther, VV 49 f.)

mit der bläulichen Wooge ||

Kömmst du säuselnd herab

|| mit der bläulichen Wooge !

Kömmst du säuselnd herab

Geht man, wie in obiger Grafik, von der Variante ohne Komma aus, spielt die Zuordnung der bläulichen Wolke inhaltlich eine geringere Rolle als der Aspekt, dass das alles Durchdringende des Äthers in Gestalt der Wooge eine sprachliche Darstellung findet. Während sich das Ich in die dämmernde Ferne sehnt, kommt der Äther ihm entgegen und zwar in Gestalt eines Säuselns, d. h. der ganz leisen, zurückgenommenen Sprache. Die Herabkunft im Säuseln ist ein Verweis auf die Erzählungen um den Propheten Elija, der Gott nicht im Sturm, Erdbeben oder Feuer zu erfahren vermag, sondern in einem sanften, leisen Säuseln: „Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.“ (vgl. 1 Kön 19,11–13)31 Die Weise der Begegnung mit dem Äther im herabkommenden Säuseln erinnert auch an das Vorüberrauschen des Gottes im

30

Vgl. StA 1.1, 205 – allerdings ist auch bei Beißner eine Variante ohne Beistrich angeführt (vgl. StA 1.2, 511); KA 184; MA I, 49; TL 49. In der Italienischen Übersetzung behandelt Reitani die Stelle so, als ob ein Komma nach „Wooge“ stünde. 31 Vgl. Bachofner, Hölderlins An den Äther als gedichtete Offenbarungsgestalt; Wenzel, Offenbarung – Text – Subjekt, 118–120.

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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Diotima-Gedicht (Diotima [Ältere Fassung], V 116). Jenem Sehnen des Ichs, welches unbestimmter, offener und zurückhaltender geworden ist, kann der Äther in einer an der Grenze der Hörbarkeit angesiedelten Sprache entgegenkommen. So bildet sich erstmals tatsächlich die Sphäre des Äthers als sprachliche, in welcher das Ich Aufnahme findet: Das Streben seines Herzens hört nicht auf, sondern wird gesänftigt (V 51), d. h. erleichtert und zurückgenommen. Das Ich kann darauf eine kurze Antwort geben, die eine über das Gedicht hinausführende Bedeutung hat: Es lebe nun gerne – mit den Blumen der Erde. Bedenkt man, dass Letztere für Hölderlin nicht selten eine Metapher für die „Worte“ sind32 , wird deutlich, dass das Ich in die durch die leise Herabkunft des Äthers eröffnete sprachliche Sphäre eingetreten ist. Wo dieser Eingang vollzogen ist, wird das Ich auch weiterhin als Dichter sprachlich zu Wort zu kommen suchen. Die Blumen, als Augen der Pflanzen am Beginn des Weges (V 12) angesprochen, treten im letzten Vers wieder auf und oszillieren zwischen Natur und Sprache. Nicht eigentlich um Metaphorik, sondern um jenes Oszillieren ist es am Ende des Gedichtes – vielleicht zum ersten Mal in Hölderlins Werk – zu tun. Dies zur Darstellung gebracht zu haben, ist die große Leistung dieses Gedichtes.  Das Herausfallen aus jeglicher natürlichen Aufgehobenheit führt nicht in ein Schweigen, weshalb man auch – mit Bezug auf den Beginn des Gedichtes („Treu“, V 1) – von einer Treue der Sprache sprechen kann. Die Erfahrung, weiterhin in ihrem Raum sich zu bewegen, muss jedoch gedanklich eingeholt werden, was Hölderlin im Gedicht An den Äther in Angriff nimmt. Nach einer primordialen Urszene wird in wenigen Versen das Bild einer Totalität aufgebaut. In so raschen Schritten wird ihm das künftig nicht mehr gelingen, zu sehr ist sich Hölderlin der kantischen Antinomien der Vernunft bewusst. Immerhin kann der äußerst rasch beschrittene Weg in diesem Gedicht eine reichhaltige und differenzierte Beschreibung des Wachstums und Emporstrebens der Natur ermöglichen, von welcher sich im Gegenzug das Bild des Menschen abheben kann. Die anfänglich eingeführte genaue Scheidung der Sphäre des Äthers von den Göttern (VV 1 f.) wird im Gedicht nicht durchgehalten und der Äther als Himmlischer in einem Oben lokalisiert. Dieser Tendenz entspricht eine Darstellung der Natur als intentional Strebender, was eine Verengung des Naturbegriffs darstellt, zumal sie in ihre (mit An die Natur entschwundenen) Möglichkeiten, auch als eine umgebende Sphäre (Landschaft) wahrgenommen zu werden, nicht wieder eingesetzt wird. Dennoch wird durch die neuen Möglichkeiten des Gedichtes (den Gedanken der sprachlichen Sphäre als aufgehobener Natürlichkeit) eine grandiose Beschreibung der Natur möglich.

32

Vgl. KA 596; „Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehen“ (Brod und Wein [1. Fassung], MA I, 372, V 90).

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3

Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Das Gedicht nähert sich der Sphäre des Äthers in vier Gängen an und denkt diesen immer wieder von anderen Bildern her (die alles beseelende Luft, die Halle und das Haus, der Garten, der Ozean). Der erste Gang entspricht dem Weg von der mythischen Urszene bis zum Bild der Totalität der Welt (Strophe I–II), der zweite ist die Beschreibung der Bewegung vom Sich-Ausrichten der Blume nach der Sonne bis zur Gestalt des Äthers als Halle oder Haus und weist eine wesentlich feinere Gliederung als der erste Gang auf (Strophe III–IV). Verglichen mit der differenzierten Entfaltung des Strebens der Pflanzen und Tiere zum Äther, hat auch die neuerliche Annäherung des Menschen an den Äther, wie sie sich in der fünften Strophe vollzieht, nur wenig Zeit zur Entwicklung. Wenn es um den Menschen zu tun ist, löst sich die Geduld in überhastete Bilder auf und will noch kein differenzierter Blick gelingen (dritter Gang). Der Epilog (Strophe VI) steht nicht mehr unter dem Zeichen von unmittelbarer, direkter Intentionalität und Formen (überhasteten) Strebens und kann so erstmals einen Blick für den seit dem Ausgang von An die Natur angesagten sprachlichen Charakter der Sphären gewinnen, die im Wort gedichtet werden müssen (vierter Gang). Allerdings gibt es in diesem Gedicht, abgesehen von jener Andeutung im letzten Vers, die von den „Blumen der Erde“ (V 52) spricht, noch keine Reflexion auf die Dichtung und die Gestalt des Dichters selbst. Erstmals aufgetreten ist in diesem Gedicht das Motiv vom Brechen des Stabes, der Verbindung von irdischem und himmlischem Bereich. Damit rückt zunächst eine weitere Verlustgestalt in den Blick, nämlich ein Auseinanderfallen der seit dem ersten Vers von M. G. aufeinander bezogenen Frage nach Gott und den Menschen. In weiterer Ausfaltung kann dieses Motiv jedoch auch eine dichte theologische Bedeutung annehmen, wie die Hymne Patmos zeigt, wenn sie in ihrem Zentrum vom Zerbrechen des geradestrahlenden Zepters (Patmos, VV 109–111) spricht.

Geographie und Poesie: Der Wanderer Im Äther-Hymnus waren dem Ich mit Bezug auf Pflanzen- und Tierwelt zwar bereits differenzierte Bilder des Äthers als Sphäre gelungen, jedoch waren bis zum Epilog alle Versuche des Ich, sich darin zu verorten, an ihrer eigenen Hast und Überschwänglichkeit gescheitert. Mit Der Wanderer legt Hölderlin den Schwerpunkt auf den langen Weg einer Annäherung an die Ausbildung einer sprachlichen Sphäre durch das Ich. Zurückgreifen kann er dabei auf das Wort vom „suchen und wandern / Durch die Zonen der Erd’“ aus An den Äther (VV 39 f.), welches einer Entfaltung harrt. Im Folgenden wird jene Version des Gedichtes abgedruckt, welche die Münchener Ausgabe als Erste Fassung bezeichnet.33

33

MA I, 178–181. Auf die Unterschiede der Fassungen sowie auf Fragen möglicher Korrekturen durch Schiller kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. In der etwas rascher fortschreitenden Interpretation des Gedichtes werden diese andernorts gut dokumentierten Fragen von geringerer Rolle sein. Vgl. KA 601–603; TL 1332–1340; StA 1.2, 512–523.

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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D ER WANDERER . [Erste Fassung] Einsam stand ich und sah in die Afrikanischen dürren Ebnen hinaus; vom Olymp reegnete Feuer herab. Fernhin schlich das haagre Gebirg, wie ein wandernd Gerippe, Hohl und einsam und kahl blikt’ aus der Höhe sein Haupt. Ach! hier sprang, wie ein sprudelnder Quell, der unendliche Wald nicht In die tönende Luft üppig und herrlich empor. Hier frolokten die Jünglinge nicht, die stürzenden Bäche Ins jungfräuliche Thal hoffend und liebend herab. Freundlich blikte kein Dach aus der Blüthe geselliger Bäume So, wie aus lieblichem Silbergewölke der Mond. Keiner Heerde vergieng am plätschernden Brunnen der Mittag, Und dem Hirten entlief nirgend das lustige Roß. Unter dem Strauche saß ein scheuer Vogel gesanglos, Ängstig eilte das Chor wandernder Störche vorbei. Nicht um Wasser rief ich dich an, Natur! in der Wüste, Wasser bewahrte mir treulich das fromme Kameel. Um der Haine Gesang, um Gestalten und Farben des Lebens, Bat ich, vom heiligen Vaterlandsboden verwöhnt. Schönheit wollt’ ich, es gab die Natur mir Scherze zur Antwort, Schönheit – aber sie gab fast mir Entsetzen dafür. – Auch den Eispol hab’ ich besucht; da thürmten, chaotisch Untereinandergewälzt, schröcklich die Gletscher sich auf. Todt in der Hülse von Schnee schlief hier das gefesselte Leben, Und der eiserne Schlaf harrte des Tages umsonst. Ach! hier schlang um die Erde den wärmenden Arm der Olymp nicht, Wie Pygmalions Arm um die Geliebte sich schlang. Hier bewegt’ er ihr nicht mit dem Sonnenblike den Busen, Und in Reegen und Thau sprach er nicht freundlich zu ihr. Mutter Erde! rief ich, du bist zur Witwe geworden, Dürftig und kinderlos lebst du in langsamer Zeit. Nichts zu erzeugen und nichts zu pflegen in sorgender Liebe, Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehn, ist der Tod. Aber vieleicht erwarmst du dereinst am Strale des Himmels, Aus dem dürftigen Schlaf schmeichelt sein Othem dich auf. Und, wie ein Saamenkorn, durchbrichst du die eherne Hülse, Und die knospende Welt windet sich schüchtern heraus. Deine gesparte Kraft flammt auf in üppigem Frühling, Rosen glühen und Wein sprudelt im kärglichen Nord. Aber die Erde schwieg zur Freude, so ich verheißen, Und vergebens gesagt war das belebende Wort. Drum kehr’ ich zurük an den Rhein, in die glükliche Heimath, Und es wehen, wie einst, zärtliche Lüfte mich an. Und das strebende Herz besänftigen mir die vertrauten Friedlichen Bäume, die einst mich in den Armen gewiegt,

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Und das heilige Grün, der Zeuge des ewigen schönen Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um. Alt bin ich geworden indeß, mich blaichte der Eispol, Und im Feuer des Süds fielen die Loken mir aus. Doch, wie Aurora den Titon, umfängst du in lächelnder Blüthe Warm und fröhlich, wie einst, Vaterlandserde, den Sohn. Seeliges Land! kein Hügel in dir wächst ohne den Weinstok, Nieder ins schwellende Gras reegnet im Herbste das Obst. Fröhlich baden im Strome den Fuß die glühenden Berge, Kränze von Zweigen und Moos kühlen ihr sonniges Haupt. Und, wie die Kinder hinauf zur Schulter des herrlichen Ahnherrn, Steigen am dunkeln Gebirg Vesten und Hütten hinauf. Friedsam geht aus dem Walde der Hirsch ans freundliche Tagslicht; Hoch in heiterer Luft siehet der Falke sich um. Aber unten im Thal, wo die Blume sich nährt von der Quelle, Strekt das Dörfchen vergnügt über die Wiese sich aus. Still ists hier: kaum rauschet von fern die geschäfftige Mühle, Und vom Berge herab knarrt das gefesselte Rad. Lieblich tönt die gehämmerte Sens’ und die Stimme des Landmanns, Der am Pfluge dem Stier lenkend die Schritte gebeut, Lieblich der Mutter Gesang, die im Grase sizt mit dem Söhnlein, Das die Sonne des Mais schmeichelt in seeligen Schlaf. Aber drüben am See, wo die Ulme das alternde Hofthor Übergrünt und den Zaun wilder Holunder umblüht, Da empfängt mich das Haus und des Gartens heimliches Dunkel, Wo mit den Pflanzen mich einst liebend mein Vater erzog; Wo ich froh, wie das Eichhorn spielt’ auf den lokenden Aesten, Oder in’s duftende Heu träumend die Stirne begrub. Heimatliche Natur! wie bist du treu mir geblieben! Zärtlichpflegend, wie einst, nimmst du den Flüchtling noch auf. Noch gedeihn die Pfirsiche mir, noch wachsen gefällig Mir ans Fenster, wie sonst, köstliche Trauben herauf. Lokend röthen sich noch die süßen Früchte des Kirschbaums, Und der pflükenden Hand reichen die Zweige sich selbst. Schmeichelnd zieht mich, wie sonst, in des Walds unendliche Laube Aus dem Garten der Pfad, oder hinab an den Bach, Wo ich einst im kühlen Gebüsch, in der Stille des Mittags Von Otahitis Gestad oder von Tinian las. Und die Pfade röthest du mir, es wärmt mich und spielt mir Um das Auge, wie sonst, Vaterlandssonne, dein Licht. Feuer trink’ ich und Geist aus deinem freudigen Kelche, Schläfrig lässest du nicht werden mein alterndes Haupt. O, die einst mir die Brust erwekte vom Schlafe der Kindheit Und mit sanfter Gewalt höher und weiter mich trieb, Mildere Sonne! zu dir kehr’ ich getreuer und weiser, Friedlich zu werden und froh unter den Blumen zu ruhn.

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3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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Drei Zonen durchstreift der Wanderer im Gedicht, nämlich Wüste (VV 1–20), Polargebiet (VV 21–40) und die Gegend entlang des Rheins (VV 41–90). Das Gedicht fasst dabei den Gedanken der Sphäre konkreter als Landschaft. Die Wanderung gibt dem Gedicht, das keine Gliederung in Strophen hat, eine gewisse Ordnung: Den ersten beiden Zonen sind je zwanzig Verse gewidmet, die überdies Parallelen im Aufbau aufweisen, wie Beißner aufzeigt: „Die Symmetrie wird dadurch noch verstärkt, daß beide Male vier Zeilen objektiv berichtend vorangehen und die fünften [V 5 und V 25] mit einem gefühlsbetonten Ach! fortfahren. Diese fünften Zeilen sind überdies ganz gleich gebaut, sie ‚reimen‘ aufeinander“34 : Ach! hier sprang . . . nicht (V 5) Ach! hier schlang . . . nicht (V 25)

Der Heimat entlang des Rheins ist der weitaus breiteste Raum gewidmet, allerdings kommt ihr im Gedicht eine andere Form der Präsenz zu als den anderen beiden Zonen. In sie tritt der Wanderer nicht direkt ein, sie wird gegenwärtig lediglich in einer Rückkehr: „Darum kehr’ ich zurük an den Rhein, in die glükliche Heimath“ (V 41). Die Bewegung hin zur Heimat kann nicht mehr nach jenem Modell des Strebens, Verlangens, Sehnens und Suchens gedacht werden, wie es die Äther-Hymne beherrschte, in welcher bis zum Epilog immer eine unmittelbare und direkte Ausgerichtetheit auf das Ziel gegeben war. Infrage gestellt wurde dieser Gestus erst mit dem Auftreten des Menschen, der trotz all der Zielgerichtetheit auch seines Verlangens die Erfahrung des ungerichteten Umhertreibens (die Erfahrung der irrenden Rebe) macht, das kein Ziel mehr unmittelbar anvisieren kann. Im undeutlichen Sehnen in eine dämmernde Ferne konnte diese Erfahrung vom Ich übernommen werden, in Der Wanderer erhält sie eine entscheidende Rolle betreffend den gedanklichen Aufbau des Gedichtes: Es gibt keinen direkten und unmittelbar in die Heimat zurückführenden Weg, sondern eine Wanderung, die von der Wüste über das Polargebiet, d. h. über die Extreme, zurück an den Rhein erfolgt. Dabei tritt eine Form der Fremdheit auf, welche sich niemals unmittelbar in Heimat verwandeln, sondern sich lediglich in eine andere Form von Fremdheit transformieren lässt. Erst und nur in diesem Prozess der Verwandlung der Fremdheit vermag sich Heimat einzustellen. Die Kategorie der Verwandlung selbst wird in diesem Gedicht jedoch noch nicht thematisiert.

Wüste (VV 1–20) Der erste Abschnitt gliedert sich in drei Teile: die Schilderung der Wüste, in welche sich der Wanderer gestellt sieht (VV 1–4), die Erinnerung an die heimatliche Landschaft, welche sich in der Wüste einstellt (VV 5–11), sowie die Thematisierung der sprachlichen Gestaltung der Landschaft (VV 12–20). Am Beginn des Gedichtes steht ein Ich, welches jeglicher kontextueller Einbettung und innerer Differenzierung zu entbehren scheint: „Einsam stand ich“ (V 1). 34

StA 1.2, 521.

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Es vermag nicht mehr wie in An den Äther, in die Erzählung seiner primordialen Vorgeschichte einzusteigen, die alsbald zu Bildern der Fülle, des Lebens und des Wachstums führte, sondern ist reine Erwartung. Sein Blick öffnet sich, es muss erst sehen lernen: „sah in . . . / . . . hinaus“ (VV 1 f.). Dieses Sehen ist dementsprechend noch nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, die Bewegung des In-Hinaus hat eine unbestimmtere Offenheit als der in An den Äther sofort auf ein Oben ausgerichtete Blick („bliken und streben / Unaufhörlich hinauf“, An den Äther, VV 10 f.), der zu einer allzu schnellen Identifikation von Äther und himmlischem Gott geführt hat. Anders als in der Äther-Hymne begegnen in Der Wanderer dem Ich zunächst lediglich dürre Ebenen (Der Wanderer, VV 1 f.), womit das Gedicht noch deutlicher an den dürftigen und in Hinkunft in der Dichtung auszugestaltenden Bereich aus An die Natur (V 52) anknüpft als die Äther-Hymne. Nach dem Blick In-Hinaus beginnt eine vertikale Bewegung, die allerdings nicht eine des Hinaufstrebens ist, sondern zuerst von oben herab kommt. Vom Olymp – oder vom Himmel35 – regnet Feuer auf die Erde herab (V 2). Anders als der leise im Säuseln herabkommende Äther, vermag – man kann erneut an 1 Kön 19 denken – das himmlische Feuer vom Ich nicht aufgenommen zu werden. Dennoch ist mit jenen beiden Richtungen – dem horizontalen Hinausblicken des Menschen in die Ebenen und der vertikalen Herabkunft des göttlichen Feuers auf die Erde – eine räumliche Szenerie aufgespannt. Nicht eine Fülle von Lebewesen in ihrem Gedeihen gestaltet diese (wie in der Äther-Hymne), vielmehr steht sie unter dem Zeichen des Dürftigen, wie die nächsten beiden Verse (VV 3 f.) eindringlich veranschaulichen. Das auf diese Weise entworfene Bild vermag aus sich selbst keinen Fortgang des Gedichtes anzustoßen und bedarf des Ichs, das für sieben Verse (VV 5–11) mit Bildern seiner Erinnerung36 aushilft, welche in der Entwicklung des Gedichtes selbst keinen Anhaltspunkt und keine Vorbereitung haben. Die Aufzählung von Bildern aus der Tier- und Pflanzenwelt erinnert an die Darstellung der Natur im ersten Teil von An die Natur und in der dritten Strophe von An den Äther, unterscheidet sich jedoch von beiden durch den Charakter der Verneinung sowie durch die Komplexität der Bilder. Vom Status der Schwebe des „noch“ wie in An die Natur ist sie in den des „nicht“ übergegangen und steht nunmehr unter dem Zeichen der Negation der Präsenz sämtlicher Bilder. Am Beginn der Reihe der Aufzählungen begegnet das den Status der Aussage bestimmende „Nicht“ unerwartet an der letzten Stelle des Verses: „hier sprang, wie ein sprudelnder Quell, der unendliche Wald nicht“ (V 5). Ein Bild wird entfaltet, am Ende jedoch negiert – ohne dass dadurch freilich die zuvor statthabende Imagination eingedämmt werden könnte. Auffällig ist, wie kühn die Metaphern in dieser Passage gewählt sind, etwa:

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Vgl. KA 602. Im Folgenden verwende ich die Begriffe „Erinnerung“ und „Imagination“ synonym. Dies wäre an anderen Stellen in Hölderlins Werk nicht zulässig, etwa dort, wo es um die Frage der Erinnerung selbst zu tun ist (Vgl. Mnemosyne, Andenken). Zur Thematik der Erinnerung vgl. Johann Kreuzer, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“ Hölderlins Rede von Gott, in: Coincidentia (Bd. 7.2), 239–272, hier: 241–244.

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3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer Freundlich blikte kein Dach aus der Blüthe geselliger Bäume So, wie aus lieblichem Silbergewölke der Mond.

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Beinahe jedes Wort in diesem Distichon hat metaphorischen Charakter, wobei die einzelnen Bilder aus unterschiedlichen, miteinander nicht ohne weiteres kompatiblen Bereichen geschöpft sind, sodass es zu einer ständigen Verschiebung der Bedeutungsebene kommt. In karger Umgebung formt sich mithin in der Erinnerung oder Imagination für den Zeitraum weniger Verse eine reichhaltig mit kühnen Bildern beschriebene Landschaft, in deren Darstellung allerdings das einsame Ich des Wanderers nicht vorkommt, es sei denn in der Konstatierung des (verneinten) Wirklichkeitsgehaltes. Interessant ist zudem, dass sich die Darstellung zweier Sphären ineinander schiebt: die Geographische der Wüste und die Erinnerte der heimatlichen Landschaft. In Griechenland wie auch in An die Natur gab es jeweils nur eine Sphäre, die zur Darstellung gebracht werden sollte, im Äther-Gedicht trat der Äther unter verschiedenen Namen auf und erfolgte eine je neue Annäherung an ihn, gab es mithin viele Darstellungen derselben Sphäre nacheinander. Überlagerungen und Einschübe – etwa der Sphäre, wie sie sich als umgebender und belebender Raum der pflanzlichen und tierischen Natur gab, und der Sphäre, in welche der Mensch sich eingeschrieben fühlt – waren nicht zu finden. Der Wanderer weist demgegenüber eine komplexere Struktur der Darstellung auf. Die karge Umgebung führt ohne Vorbereitung zu den Bildern der Imagination, welche nach wenigen Versen zugunsten einer Rückkehr in den Raum der Wüste wieder verlassen werden. Durch die erinnerten Bilder wurde die Wahrnehmung geschärft, sodass der Wanderer unter einem Strauch einen scheuen Vogel, der keinen Laut von sich gibt („gesanglos“, V 13), zu entdecken vermag. Diese Verfeinerung der Aufmerksamkeit von der Ferne der Gebirge (V 3) zu dem unter einem Strauch sitzenden Vogel lenkt schließlich den Blick auf das Adverb „gesanglos“, welches exponiert an der letzten Stelle des Verses steht und das Ziel der Bewegung „aus der Höhe“ (V 4) auf den Boden darstellt. Die Lautlosigkeit, die ein schwacher Fingerzeig auf die in Hölderlins Dichtung immer wieder auftretende Stille ist, bildet den Anfang einer neuen Entfaltung der Wüste als sprachlicher Sphäre. Es folgt ein flehender Anruf des Wanderers an die Natur, der zunächst in zwei Versen (VV 15 f.) von dem spricht, was er – erstaunlich genug – nicht erbittet, nämlich Wasser. Vorbereitet wird damit die Bitte um Gesang, der aus der Landschaft, den Hainen, hervorgeht und zunächst nicht vom Ich ausgeht, welches danach erst in ihn einstimmen, ihn übernehmen kann. Der Gesang (oder das dichterische Wort) möge sich in „Gestalten und Farben des Lebens“ (V 17) zum Ausdruck bringen, d. h., es geht mithin um seine Gestaltung, seinen farblichen Reichtum und seine Differenziertheit. Der Wunsch danach wurde durch die Erinnerung der Heimat einerseits (V 18), den gesanglosen Vogel andererseits angestoßen. Der Weg in diesem Abschnitt über die Wüste verläuft von der Beschreibung der Landschaft, in welche der Wanderer gestellt ist, über die erinnerte Landschaft zur dichterisch gestalteten. Diese hat die beiden ihr vorausgehenden Formen in sich aufgehoben: Der Wanderer/ Dichter befindet sich wieder in der Wüste, ist jedoch von der erinnerten Landschaft

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

„verwöhnt“ (V 18), und bittet darum, in Formen und Farben den Gesang zu gestalten, der, wenn er gelingt, weder bloße Beschreibung des außerhalb seiner an sich Gegebenen noch dessen bloße Erfindung ist. Der reale, harte Ausgangspunkt in der Landschaft (was hier als erste Form bezeichnet wurde) kann nicht übersprungen werden.

Eispol (VV 21–40) Wenn Gesang dichterisch gestaltete Sphäre als Aufhebung unmittelbar natürlicher Landschaft ist, kann es auch keine starre, äußerlich vorgegebene Entwicklung des Gesanges mehr geben, die sich nicht aus der eigenen Logik des Gedichteten ergäbe. Dies wird im zweiten Abschnitt des Gedichtes deutlich, der zwar hinsichtlich des Aufbaus symmetrisch zum ersten gestaltet ist, in seiner gedanklichen Entwicklung aber eigens bedacht werden muss. Dem „Einsam stand ich und sah . . . “ (V 1) steht gegenüber: „Auch den Eispol’ hab ich besucht“ (V 21). Der Wanderer/Dichter hat an Aktivität gewonnen, er steht nicht mehr einfachhin irgendwo, sondern hat einen Ort aufgesucht, was mit „Auch“37 eingeleitet wird. Dieses Wort deutet darauf hin, dass der Wanderer/Dichter dem Ort nicht mehr gänzlich ausgeliefert ist, er kann ihn in eine Reihe neben andere Orte stellen, besuchen und wieder verlassen. In eindrücklicher Darstellung wird eine Landschaft geschildert, welche nur mit dem Gefühl des Erhabenen in der Natur beschrieben werden kann. Dachte das Ich am Ende des ersten Abschnitts (VV 19 f.), es könne nun, wo sich die Landschaft als sprachliche zu dichten beginnt, die Schönheit ergreifen, so zeigte sich ihm die Natur als entsetzlich, was erst am Beginn des zweiten Abschnittes weiter ausgeführt wird. Im Gegenüber zu den Phänomenen der Natur verliert das Ich sofort wieder jene Souveränität der Beurteilung der Szenerie, die es kurzfristig erlangt zu haben meinte, muss aber auch seinen Versuch einer unbekümmerten Distanzierung von ihr aufgeben („Auch den Eispol’ hab ich besucht“, V 21). Allerdings führt dieser Verlust der Souveränität des Ichs dazu, dass es sich seiner Sprachlichkeit neu bewusst wird und eine großartige Beschreibung des Eispols in nur vier Versen zu geben vermag (VV 21–24). Nicht wie zuvor in die Erinnerung eigener Heimat wendet sich danach im zweiten Teil des Abschnittes (VV 25–32) der Blick, sondern in die Mythologie, zur Gestalt des Pygmalion, jenes Künstlers, dem Venus gewährte, dass sein Kunstwerk (eine weibliche Statue) lebendig werde. Erneut steht der zweite Teil des Abschnittes unter dem Zeichen des „nicht“ (VV 25, 27, 28). Die Belebung des Kunstwerkes gelingt „Hier“ (V 27) nicht, die in die Sprache gehobene Landschaft (VV 17) wird nicht lebendig. Die „Mutter Erde“ (V 29) lebt „Dürftig [. . . ] in langsamer Zeit“ (V 30), aus ihr vermag nichts mehr zu entspringen. Von hier aus lässt sich sehr genau der Status bestimmen, welcher der Natur in dieser Phase von Hölderlins Dichtung zukommt. Nach jenem Abschied, der sich in An die Natur kristallisiert 37

Bahnbrechend ist Hegels Reflexion über das „auch“ im Kapitel Die Wahrnehmung oder das Ding und die Täuschung in der PhdG, 93–107.

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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hat, kann die Natur nicht mehr einfachhin als alles umgreifende und hervorbringende Sphäre erscheinen. Sie wird aber auch nicht zum toten Aggregat; die Aspekte des alles Leben Umgreifenden, Hervorbringenden, des die Reflexion unverfügbar Anstoßenden bleiben als der Natur eigene erhalten, jedoch als Momente. Sie können nicht mehr als ein An-Sich vorausgesetzt werden, sondern stehen nun – das war die Erkenntnis von An den Äther – in Verbindung mit Sprache, d. h., sie müssen als Sphäre gedichtet (nicht erfunden!) werden. Im Gedicht kann die Natur wieder als hervorbringende Sphäre entstehen und als solche dann auch unverfügbarer Anstoß für die Imagination werden, sie kann jedoch nicht mehr einfachhin in Anspruch genommen werden, als wüssten wir noch, was sie bedeutet, und lebten natürlich in ihr. Was oben hinsichtlich der Landschaft angedeutet wurde, gilt auch für die Natur. Es geht um den Zusammenhang oder die Oszillation von Landschaft und Sprache, von Natur und Sprache. Im zweiten Teil des zweiten Abschnittes gelingt die Dichtung von Natur nicht. Es kommt zu keiner Oszillation oder gegenseitigen Anregung von Natur und Sprache, die Zeit bleibt dürftig und „langsam“ (V 30). Es stellt sich die Frage, ob es im dritten Teil zu einer Vermittlung von Natur (Beschreibung des Eispols, VV 21–24) und Kunst/Mythologie (VV 25–32) kommt. Möglich werden könnte sie künftig durch die Herabkunft des „Strale[s] des Himmels“ (V 33), allerdings gibt es dafür keine Sicherheit („vielleicht“, V 33). Wenn auch die Darstellung im Modus des Vielleicht bleibt, so tritt der Wanderer/Dichter dennoch in ein Bild der Vermittlung ein, das sich in den folgenden Versen zu formen beginnt (VV 33–40)38 : Am göttlichen Strahl erwarmt der Eispol aus dürftigem Schlaf zum Leben (VV 33 f.). Was sich anfänglich in der Gestalt von Gewalten gezeigt hat, tritt nun auf als „gesparte Kraft“ (V 37), die in üppigen Frühling umschlägt. Die sprachlich-geistige Dimension dieses Wandels zeigt sich im Glühen der Rosen und im Sprudeln des Weins, die sich „im kärglichen Nord“ (V 38) einstellen. Die Ausgangsstufe, der Eispol oder der kärgliche Nord, ist für die Entwicklung nicht bedeutungslos geworden und geht nicht verloren, sondern wird transformiert. Wie am Ende des ersten Abschnittes das Auftreten des Entsetzens statt der Schönheit, so überrascht im letzten Distichon des zweiten Abschnittes (VV 39 f.) der Hinweis, dass die Erde zu jener Freude schwieg, die ihr der Dichter verheißen, und dass das „belebende Wort“ vergebens gesprochen war. Das Gedicht gelangt bis zum Gedanken, dass die Verwandlung, Vermittlung oder Oszillation der Natur, des Natürlichen, Gegebenen, Unmittelbaren und der Kunst, Mythologie, Erinnerung kein automatisches Geschehen darstellt, sondern vom „Strale des Himmels“ (V 33) ermöglicht wird. Allerdings kann der Wanderer/Dichter seine Rolle in diesem Geschehen noch nicht bestimmen, überschätzt vielleicht noch die Kraft seines Wortes. Er muss seine Wanderung fortsetzen und zurückkehren an den Anfang – nicht des Gedichtes, sondern weit dahinter zurück, in die Heimat: „Darum kehr’ ich zurük an den Rhein, in die glükliche Heimath“ (V 41), womit ein neuer Abschnitt des Gedichtes beginnt.

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Angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophen ist das von Hölderlin verwendete Bild heute als zutiefst bedrohlich anzusehen und nur mehr in seiner historischen Situierung vertretbar.

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Heimat (VV 41–90) Nicht das unmittelbare Streben in die Heimat hat den Wanderer/Dichter dorthin zurückgebracht, sondern das zweimalige Scheitern in der Ferne versetzt ihn an jenen Ort, von dem aus sein Weg neu beginnen muss. Die folgenden Verse (VV 42–44) machen deutlich, dass der Wanderer/Dichter dort wieder anknüpfen kann, wo die Äther-Hymne aufgehört hat: Und es wehen, wie einst, zärtliche Lüfte mich an. Und das strebende Herz besänftigen mir die vertrauten Friedlichen Bäume (Der Wanderer, VV 42–44)

|| Kömmst du säuselnd herab || und sänftigest selbst das strebende Herz mir || von des Fruchtbaumes blühenden Wipfeln || (An den Äther, VV 50 f.)

Der ausführliche dritte Teil führt von der Gegend des Rhein zu Haus und Garten (V 69), in den Wald als den Ort jugendlicher Lektüre (VV 79–82), an einen Ort der Ruhe „unter den Blumen“ (V 90), der das Grab sein kann, aber auch der Ort neuer Sprache. Das Wohnen unter den Blumen wäre dann – ähnlich wie in der ÄtherHymne – Bild für das Leben mit der Sprache. Gegenüber den ersten beiden Abschnitten strahlt dieser Teil des Gedichtes eine kaum bewegte Ruhe aus. Lediglich zwei Passagen seien im Folgenden hervorgehoben. Heimatliche Natur! wie bist du treu mir geblieben! Zärtlichpflegend, wie einst, nimmst du den Flüchtling noch auf. Noch gedeihn die Pfirsiche mir, noch wachsen gefällig Mir ans Fenster, wie sonst, köstliche Trauben herauf. Lokend röthen sich noch die süßen Früchte des Kirschbaums, Und der pflükenden Hand reichen die Zweige sich selbst. (Der Wanderer, 73–77)

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Die Verse 73–78, die mit dem Anruf „Heimatliche Natur“ (V 73) eingeleitet werden, bieten eine in sich abgeschlossene Passage. Sie beginnt mit der Aufnahme des nachhause flüchtenden Wanderers/Dichters und reicht bis zu dessen Aufbruch in den Wald bzw. in die Lektüre. Die gedichtete Szenerie kann als Gestaltung des Bildes verstanden werden, welches sich dem Blick aus dem „Fenster“ (V 76) des Hauses eröffnet. Dabei werden verschiedene Früchte von Obstbäumen (Vgl. An den Äther, V 50: „des Fruchtbaums“) genannt, nämlich Pfirsiche, Trauben und Kirschen, welche sich der pflückenden Hand von selbst darreichen. Es handelt sich um ein genau begrenztes paradiesisches Bild, welches unter dem Zeichen des schwebenden „noch“ steht, das viermal vorkommt.39 Bemerkenswert ist diese Passage vor 39

Ob Hegel auch von dieser Stelle inspiriert war, als er den poetischen, sehr an Hölderlin erinnernden Absatz sechs des Kapitels über die offenbare Religion in der PhdG schrieb? „Aber wie das Mädchen, das die gepflückten Früchte darreicht, mehr ist . . . “ (PhdG, 548) Für diesen Hinweis danke ich Friedrich Kern.

3.3 Dichtung sprachlicher Sphären: An den Äther und Der Wanderer

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allem deshalb, weil sie als ein Einsprengsel, eine Intarsie gesehen werden kann, die als ein im Wesentlichen eigenständiges Bild in den Duktus des Gedichtes eingefügt ist. In diesem Gedicht hat die Passage eine enge Verbindung zum Gesamtduktus, in späteren Gedichten Hölderlins kann dieser Zusammenhang loser werden. Das Großartige von Hölderlins Dichtung von Sphären ist, dass sie unterbrochen werden können von derartigen Intarsien, die in ihrer stillen Schönheit die totalisierende Tendenz der Sphären, nämlich alles zu umfassen und aus sich zu entlassen, sprengen. Sie können nicht gänzlich aus dem Gedichteten der Sphäre, sei es Landschaft, Natur, Epoche (Griechenland), erklärt werden, sondern stoßen sich davon ab, um anschließend wieder in es zurückzugehen. Die zweite Stelle, auf die noch eingegangen sei, findet sich am Ende des Gedichtes, in den Versen 87–90. War die Sonne zuerst jene Kraft, welche den Wanderer/ Dichter emporstreben und weiterwandern („weiter mich trieb“, V 88) ließ, so stellt sie sich nun als „Mildere“ (V 89) dar und ermöglicht die Rückkehr zu ihr, d. h. unter ihre Strahlen. Der Feuerregen im zweiten Vers wird zur milderen Sonne im vorletzten Vers. Wie in der Äther-Hymne erscheint die Herabkunft des Göttlichen am Ende des Gedichtes geschwächt und damit erst aufnehmbar. Diese Tendenz spiegelt sich auch in der Abfolge der Abschnitte: Nach der Hitzezone folgt die Eiszone und sodann die sogenannte gemäßigte Zone40 , was erneut die Bedeutung des Motives der Milderung für Hölderlin zeigt.  Die ersten beiden Abschnitte des Gedichtes stellen eine kleine Poetik dar. Sie zeigen, wie im Gang durch die geographische Landschaft und sodann durch die Erinnerungs-Landschaft bzw. die Landschaft der Mythologie dichterische Landschaft entstehen kann. In der Dichtung selbst wird das Entstehen von Dichtung reflektiert, was in Hölderlins Gedichten ab etwa 1800 zu einem wichtigen Motiv wird. In Der Wanderer zeigt sich dieser Prozess als ambivalent: Einerseits begegnet immer wieder ein Scheitern, weil sich die Natur dem Bemühen ihrer Aufhebung in die Dichtung zu entziehen scheint und darin nicht lebendig wird. Andererseits aber stoßen sich aus dem Fortgang des Gedichtes immer wieder kleine „Intarsien“ ab, wo sich aus dem Gedicht selbst gleichsam neue Dichtung erheben kann. Als Vermittlung von Natur einerseits und Erinnerung, Mythologie, Kunst andererseits zur sprachlichen Sphäre der Dichtung fungiert schließlich der himmlische Strahl, wobei dessen Verhältnis zum Wanderer/Dichter ungeklärt bleibt. Dies kann als Ausgangspunkt eines intensivierten Ringens um die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Menschen als sprachlichem Verhältnis gelesen werden. Zugespitzt erscheint damit jene Frage, die in der Einleitung des dritten Kapitels dieser Arbeit als Wiedergewinnung des Subjektes der Dichtung bezeichnet worden war.

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Vgl. KA 602.

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

3.4 Die Suche nach dem Göttlichen und die abendliche Zeit: Sonnenuntergang Im Folgenden seien drei Gedichte bzw. Gedichtausschnitte zitiert, die Sattler zufolge zwischen Sommer und Frühherbst 1799 entstanden sind41 und zu zeigen vermögen, wie die Frage nach dem Göttlichen und seiner Beziehung zum Menschen in der Dichtung Hölderlins den Vordergrund rückt. Die „Kurzode“42 Sonnenuntergang ist aus der zwei weitere Strophen umfassenden Ode Dem Sonnengott hervorgegangen und wurde neben anderen Gedichten, darunter auch der Ode Der Zeitgeist, in einem von Neuffer herausgegebenen Taschenbuch für das Jahr 1800 veröffentlicht. Bereits im Jahr zuvor hatte sich Hölderlin am Taschenbuch beteiligt.43 S ONNENUNTERGANG . Wo bist du? trunken dämmert die Seele mir Von aller deiner Wonne; dann eben ists, Daß ich gelauscht, wie, goldner Töne Voll, der entzükende Sonnenjüngling Sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt’; Es tönten rings die Wälder und Hügel nach. Doch fern ist er zu frommen Völkern, Die ihn noch ehren, hinweggegangen.

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Den Einstieg des Gedichtes bildet die suchende Frage: „Wo bist du?“ (V 1) Nicht nur der Aufenthalt des Du und der Zeitpunkt seiner Rückkehr sind ungewiss, für Leser und Leserin bleibt zunächst unklar, wer überhaupt gesucht werde. Erst das letzte Wort der ersten Strophe verrät, dass es sich um den Sonnenjüngling, den Gott Apoll handelt (V 4), der auch der Gott der Musik ist („himmlischer Leier“, V 5). Die Suche nach Gott kann sich im Gedicht nicht unmittelbar ausdrücken und nicht direkt ausgesprochen werden, sondern bringt eine zeitliche Versetzung, eine Verlangsamung, eine Aufspaltung hervor, die man etwa so darstellen könnte: „Wo bist du [. . . ] / [. . . ] / [. . . ] / [. . . ] Sonnenjüngling“ (VV 1–4). Die zweite Strophe weist dieselbe Struktur auf. Sie führt den Bezug auf Apoll unmittelbar weiter und hebt an mit: „Sein Abendlied“ (V 5) und bezieht auch das letzte Wort wieder explizit auf ihn: „hinweggegangen“ (V 8). Dieses antwortet auf die zu Beginn des Gedichtes ausgesprochene Frage „Wo bist du?“ (V 1). Die Kurzode entfaltet mithin lange Bögen, die sich jeweils vom Beginn der Strophe bis zu deren Ende und vom Anfang des Gedichtes bis an dessen Schluss ziehen. Dies mag an Apoll erinnern, der den Sonnenwagen steuert, welcher die Sonne von Ost nach West führt. 41

Vgl. BA VII, 122–124, 181; BA VIII, 28–30. KA 615; vgl. MA III, 113. 43 Vgl. TL, 1371–1373. 42

3.4 Die Suche nach dem Göttlichen und die abendliche Zeit: Sonnenuntergang

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Wo bist du – Sonnenjüngling // Sein Abendlied – hinweggegangen.

Den Bogen des Tagesverlaufes vom Morgen über den Mittag und Abend zur Nacht kann man auch in den Worten „dämmert“ (V 1) – „goldner Töne / voll“ (VV 3 f.) – „Abendlied“ (V 5) – „hinweggegangen“ (V 8) wiederfinden. Das Gedicht beschreibt, wie sich die Wahrnehmung zu öffnen beginnt, von „dämmert“ (V 1) zu „gelauscht“ (V 3), und sich dabei auch die zeitlichen Relationen subtil zu entfalten beginnen. In der Zeit des Dämmerns sind noch keine zeitlichen Unterscheidungen möglich, weil jede Differenzierung verschwimmt oder alles bloß unbestimmbares Übergehen ist. Mit „denn eben ists, / Daß ich gelauscht“ (VV 2 f.) ist eine erste feine zeitliche Unterscheidung gesetzt. Sprachlich verfügen wir über keine Möglichkeit (keine Worte) einer noch feineren Unterscheidung als der mit „eben“ ausgedrückten. Der sich eröffnet habende Raum lässt sich nicht noch weiter teilen. Die Öffnung der Wahrnehmung führt das Ich über das Abendlied in einen Klangraum: „Es tönten rings die Wälder und Hügel nach.“ (V 6) Das Wort „rings“ lässt die Landschaft zur klanglichen Sphäre werden, in welche das Ich aufgenommen ist. In Vers sechs findet sich der einzige Satz des Gedichtes, der genau den Umfang eines Verses benötigt, um zu enden. Es gibt keine Überhänge (Enjambement), die Sphäre scheint vollkommen in sich geschlossen. Allerdings zeigt das Wort „nach“ (V 6), dass sie den Charakter des Echos, des Nachhalls hat. In sie ist bereits eine zeitliche Verschiebung eingeschrieben, sie vermag sich nicht als ungebrochene Präsenz zu artikulieren. Überdies erfährt sich der Dichter mitsamt seiner Umgebung am Ende des Gedichtes als nicht mehr der Sphäre zugehörig. Sie hat ihren Ort nun bei fremden Völkern, wo Apoll noch geehrt werde, d. h., wo das menschliche Lob Gott noch erreichen könne. Angezeigt ist ein fundamentaler Verlust: In wenigen Versen wird in subtiler Weise ein Klangraum aufgebaut, in welchem das göttliche Lied (die Weise des Sich-Zeigens Gottes) vernehmbar ist. Das Ich erfährt jedoch, dieser Sphäre nicht mehr anzugehören, weil die menschliche Sprache Gott nicht mehr erreicht, um ihn zu ehren. Der Titel des Gedichtes deutet auf die geschichtsphilosophische Relevanz dieses Geschehens hin, das Leben in einer Zeit des Sonnenuntergangs (Abendland), in der die Geschichte in eine Phase eingeht, in welcher die Sonne in all ihren mythologischen, religiösen und philosophischen Konnotationen nicht mehr sichtbar ist. Mutet dieses Motiv auch apokalyptisch in einem bestimmten Sinn an, Hölderlin wird nie, das sei hier vorausschauend gesagt, zu einem Apokalyptiker dergestalt, dass er in allem nur mehr Untergang sehe und auf den Umschlag der Nacht in einen neuen Tag als neu anbrechenden Äon hoffe. Vielmehr gilt sein dichterisches Bemühen gerade der Gestaltung des Abends bzw. der Nacht (ähnlich auch der „dürftigen“ bzw. „langsamen“ Zeit), die sein Gesang in freundschaftlicher Liebe begleitet. Zwei unterschiedliche Weisen, mit diesem Herausfallen aus der vom göttlichen Lied eröffneten Sphäre umzugehen, zeigen sich in der Folge in anderen Gedichten, nämlich die sehnsuchtsvolle Steigerung des Wunsches nach göttlicher Unmittelbarkeit, welche den vermittelnden Raum der Sphäre aufgibt, oder aber die Gestaltung der abendlichen Zeit, in welcher sich – wenn auch abgemildert – erneut ein Erfah-

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

rungsraum für das Göttliche eröffnen kann. Um dies zu konkretisieren, seien im Folgenden einige Passagen aus den Gedichten Der Zeitgeist und Mein Eigentum zitiert. Lass’ endlich, Vater! offenen Aug’s mich dir Begegnen! hast denn du nicht zuerst den Geist Mit deinem Stral aus mir gewekt? Mich Herrlich an’s Leben gebracht, o Vater! – (Der Zeitgeist, VV 9–12)

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Bei der zitierten Strophe handelt es sich um die mittlere der fünf Strophen von Der Zeitgeist. In einer Situation, in der es fraglich wird, ob sich die menschliche Welt noch an die göttliche adressieren kann, bricht in inständiger Bitte der sehnsuchtsvolle Wunsch nach Unmittelbarkeit und Klarheit der Schau Gottes durch. Bekannt ist das Bild, Gott in dieser Weise zu begegnen, aus dem Mythos der Semele, die Zeus, ihren Geliebten, direkt erblicken möchte. Wohl weiß das dichterische Ich um die Vermessenheit dieses Ansinnens, führt es aber auf Gott selbst zurück, der es nicht nur habe lebendig werden lassen (VV 11 f.), sondern der auch „zuerst“ (V 10) den Geist mit seinem Strahl im Ich geweckt habe. Der Wunsch wird im Gedicht nicht auf der Ebene dieser Intensität weiter entfaltet, die folgenden Strophen nehmen ihn wieder zurück. Zwar ist in der vierten Strophe von der Begegnung mit einem Gott die Rede, diese hat aber einen gegenüber dem ursrpünglichen Wunsche abgeschwächten, unbestimmteren Charakter. Gott wird nicht als Vater angesprochen, sondern als ein Gott, der „Heiternd“ (V 16), d. h. aufklarend, den Sterblichen „In milderer Luft“ (V 14) begegnet. In der Hymne Wie wenn am Feiertage . . . wird der Wunsch jedoch erneut aufgegriffen und weiter entfaltet. Die dreizehnstrophige Ode Mein Eigentum ist situiert an einem „Herbsttag“, mithin zu jener Jahreszeit, die den Höhepunkt des Jahres bereits überschritten hat und an der Schwelle zum Einbruch des Winters steht. Das Licht erscheint bereits gemildert. In gewisser Weise setzt die Ode damit knapp vor dem Ende des Gedichtes Sonnenuntergang ein, nämlich in der abendlichen Zeit, welche den Übergang zur Nacht bildet. Dieser Zeit des Herbstes bzw. des Abends versucht sie eine Gestaltung zu geben, um deren bloßes Übergehen in den Winter bzw. das Hinweggehen des Sonnengottes (Sonnenuntergang, VV 7 f.) in die Nacht zu verhindern. Die dritte Strophe zeigt deutlich den Unterschied zum Verlangen nach Unmittelbarkeit, wie es sich in Der Zeitgeist findet: Vom Himmel bliket zu den Geschäfftigen Durch die Bäume milde das Licht herab, Die Freude theilend, denn es wuchs durch Hände der Menschen allein die Frucht nicht. (Mein Eigentum, VV 9–12)

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Eine direkte Begegnung mit Gott wird an dieser Stelle nicht ersehnt. Das himmlische Licht erreicht die „Geschäfftigen“ (V 9), die dies kaum zu bemerken scheinen, als mildes Licht, das durch die Bäume „vermittelt“ wird. Die Stimmung ist nicht

3.5 Sprache und Verwandlung

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das hochfliegende sehnsuchtsvolle Wünschen, sondern die geteilte Freude und die Dankbarkeit für die lebenspendende Kraft Gottes. Das Gedicht gestaltet den Herbst als eine Sphäre, in welcher das Ich Aufnahme finden und das himmlische Licht (VV 13–15) wahrnehmen kann, wenn auch freilich vermittelt und indirekt. Dem steht allerdings noch immer die mächtige Versuchung der Gottesunmittelbarkeit gegenüber, wie die achte Strophe zeigt: Zu mächtig ach! ihr himmlischen Höhen zieht Ihr mich empor; bei Stürmen, am heitern Tag Fühl ich verzehrend euch im Busen Wechseln, ihr wandelnden Götterkräfte.

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Doch heute laß mich stille den trauten Pfad Zum Haine gehen [. . . ] (Mein Eigentum, 29–34)

Die Sehnsucht der Gottesunmittelbarkeit hat nur noch momenthaften Charakter und ist in die Gestaltung des Herbsttages eingebettet. Sie erhält darin einen Ort, wird aber verabschiedet, wie die Fortsetzung in den Versen 33 und 34 zeigt.  Das Motiv der ersehnten Unmittelbarkeit und das ihrer Rücknahme in Formen der Vermittlung, langsamen Annäherung und Schwächung ist bereits in zahlreichen Gedichten begegnet. Neu ist jedoch, dass die Motive in dieser Dichte auf die Beziehung des Menschen zum Göttlichen, auf dessen Sich-Zeigen und Sich-Offenbaren bezogen werden. Mit der Erfahrung, dass das Ich, der Dichter, der Wanderer aus den sprachlichen Sphären, die aufgebaut werden, immer wieder herausfällt, rücken zwei miteinander verschränkte Fragen ins Zentrum: die Frage nach der Sprache und die Gottes-Frage. Schien das Göttliche durch seine vermittelnde Tätigkeit (der „Strale des Himmels“, Der Wanderer, V 33) bislang die Dichtung der Sphären, die Fortsetzung der Wanderung und die sprachliche Gestalt eines Aufenthaltsortes für das Ich zu ermöglichen, so wird sein Bezug zum Bereich der Menschen nun selbst fraglich.

3.5 Sprache und Verwandlung: Der Prinzessin Auguste von Homburg und Aus stillem Hauße senden ... Sprache und Gottesfrage: Der Prinzessin Auguste von Homburg Zu ihrem 23. Geburtstag widmete Hölderlin Prinzessin Auguste von Homburg, welcher er sich sehr verbunden fühlte, eine achtstrophige „Geburtstagsode“44 , die 44

KA, 632.

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„durchgehend als Gespräch“45 gestaltet ist. Vor dem Hintergrund des zweiten Koalitionskrieges 1799–1802 entwirft Hölderlin das Friedensbild einer freien Gesellschaft, in welcher auch der Dichter einen Platz erhält. Erscheint er darin auch als der Geringste (Strophe VI), so stößt seine Gestalt doch die Reflexion über das Verhältnis von Sprache und Gottesfrage an.46 D ER P RINZESSIN AUGUSTE VON H OMBURG Den 28ten Nov. 1799. Noch freundlichzögernd scheidet vom Auge dir Das Jahr, und in hesperischer Milde glänzt Der Winterhimmel über deinen Gärten, den dichtrischen, immergrünen. Und da ich deines Festes gedacht’ und sann, Was ich dir dankend reichte, da weilten noch Am Pfade Blumen, daß sie dir zur Blühenden Krone, du Edle, würden. Doch Andres beut dir, Größeres, hoher Geist! Die festlichere Zeit, denn es hallt hinab Am Berge das Gewitter, sieh! und Klar, wie die ruhigen Sterne, gehen Aus langem Zweifel reine Gestalten auf; So dünkt es mir; und einsam, o Fürstin! ist Das Herz der Freigebornen wohl nicht Länger im eigenen Glük; denn würdig Gesellt im Lorbeer ihm der Heroë sich, Der schöngereifte, ächte; die Weisen auch, Die Unsern sind es werth; sie bliken Still aus der Höhe des Lebens, die ernsten Alten.

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Geringe dünkt der träumende Sänger sich, Und Kindern gleich am müßigen Saitenspiel, Wenn ihn der Edlen Glük, wenn ihn die That und der Ernst der Gewalt’gen aufwekt.

45

Rolf Zuberbühler, Drei Oden. Widmungsgedichte bei Horaz, Klopstock und Hölderlin, in: HJb 1984/85, 229–251, hier: 247. 46 Vgl. KA 64 TL 1659–1662; Rolf Zuberbühler, Drei Oden. Widmungsgedichte bei Horaz, Klopstock und Hölderlin, in: HJb 1984/85, 229–251, hier: 243–251.

3.5 Sprache und Verwandlung Doch herrlicht mir dein Nahme das Lied; dein Fest Augusta! durft’ ich feiern; Beruf ist mirs, Zu rühmen Höhers, darum gab die Sprache der Gott und den Dank ins Herz mir. O daß von diesem freudigen Tage mir Auch meine Zeit beginne, daß endlich auch Mir ein Gesang in deinen Hainen, Edle! gedeihe, der deiner werth sei.

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Strophen I–II (VV 1–8) Die ersten beiden Strophen setzen, Bezug nehmend auf die Zeit des Geburtstages der Prinzessin, mit Bildern der Herbstes oder eher des Winters ein und situieren das Gedicht damit erneut in einer Zeit, in welcher der Höhepunkt des Jahres, seine volle Kraft und Ernte, bereits überschritten sind. Der erste Satz hält sich in der Spannung von Bezug auf den Geburtstag, Beschreibung der Jahreszeit und Bestimmung des geschichtsphilosophischen Ortes jener Epoche, in welcher Hölderlin lebt: „Noch freundlichzögernd scheidet vom Auge dir / Das Jahr“ (VV 1 f.). Ein Lebensjahr nimmt Abschied an der Wende des Geburtstages, dessen Zeitpunkt vor der Wende des Jahres in der Zeit des anbrechenden Winters liegt. Erneut ist damit aber auch auf eine Erfahrung eines Abschiedes angespielt, die einen tieferreichenden metaphysisch-religiösen Charakter hat. Die dreifache Zeitbestimmung (Geburtstag, Jahreszeit, Epoche) erhält durch das eröffnende „Noch freundlichzögernd“ (V 1) eine gesteigerte Dringlichkeit, insofern es zum Ausdruck bringt, dass eine bestimmte Weise der Deutung der Abschiede möglicherweise nicht mehr gelingen werde. Der Aspekt des Freundlichen des Abschiedes könnte in das Zersetzende des Untergangs umschlagen, das Zögernde in eine Unmittelbarkeit, die keine langsamen Annäherungs- und Gestaltungsformen mehr zulässt. Nach dem Hinweis auf die Unsicherheit, welche der gesamten folgenden Beschreibung innewohnen wird – gelingt die freundlichzögernde Darstellung noch? – folgt ein erstes Bild jener frühwinterlichen Zeit, welches sie in grandioser Weise als Sphäre gestaltet. Die hesperische Milde (V 2) gibt dem winterlichen Bild sogleich eine geschichtsphilosophische Komponente, insofern Hesperien bei Hölderlin für das Abendland in der Epoche seines Überganges in den Abend, den Winter, die Zeit des überschrittenen Höhepunktes, der entschwindenden Unmittelbarkeit steht. Das gemilderte Licht dieser Zeit ist jedoch keineswegs stumpf, sondern glänzt als Winterhimmel über den Gärten der Prinzessin. Sein Glänzen bringt zum Ausdruck, dass es um eine Stimmung des Festlichen, über das Kalkulierbare Erhobenen zu tun ist. Frei wird dadurch der Blick auf die Gärten, die als dichterisch und immergrün bezeichnet werden (V 4). Als immergrüne sind sie nicht dem Wandel der Natur und Geschichte unterworfen (Winter, Hesperien), sondern weisen auf eine Dimension des Göttlichen hin. So können sie auch als die Dichterischen erscheinen, aus denen sich Sprache zu erheben vermag und die zum Anstoß für einen neuen sprachlichen Ho-

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rizont werden können. Die Gärten oszillieren hiermit zwischen Natur bzw. realem Ort („deinen / Gärten“, VV 3 f., bezogen auf die Gärten der Prinzessin) und Sprache („den dichterischen“, V 4), was die hohe erreichte geistige Stufe dieses Gedichtes ausmacht. Ermöglicht wird dieses Oszillieren vom leise angedeuteten Bezug auf das Göttliche, wie ihn das letzte Wort der Strophe bietet („immergrünen“, V 4). Damit ist die eigentliche Thematik des Gedichtes angesprochen, die – wie ich meine – auch in allen weiteren Strophen mitgehört werden muss, bis sie in den letzten beiden Strophen (VII–VIII) explizit aufgegriffen wird. Es bedurfte einer Strophe der Annäherung und Vorbereitung, in der Umfeld, Zeit und Stimmung geschildert werden, bis der Blick in der zweiten Strophe auf das Fest gelenkt werden kann. Dieses wird jedoch nicht unmittelbar beschrieben, sondern wird erst aus dem Nachdenken und Sinnen (V 5) vernehmbar, welches auf die Frage gerichtet ist, wie das Ich der Prinzessin Auguste von Homburg seinen Dank erweisen könne. Die Schilderung hat einen etwas komplizierten Gestus an sich, wie er den Gratulationen und Ansprachen im Rahmen von Festen gelegentlich eignet, wenn die Direktheit der Sprache (als Mitteilung) zurückgehalten wird, als würde einem die Feierlichkeit des Augenblicks Einhalt gebieten. In seinem Nachdenken, so berichtet das Ich, das sich an Auguste von Homburg wendet, seien ihm am Weg die trotz einbrechenden Winters noch vorhandenen Blumen aufgefallen, aus denen es eine Krone für die Jubilarin hätte formen können. Die Blumen können an dieser Stelle wieder für die Worte stehen, die zum Schmuck der Jubilarin werden sollen. Allerdings muss dieser unmittelbare Zugang auf den sprachlichen Charakter des Geschenkes, den der Dichter Hölderlin mit seinem Gedicht für Auguste von Homburg ja tatsächlich gewählt hat, etwas verlangsamt und zurückgehalten werden. Mit der dritten Strophe setzt ein Umweg ein, welchen der Dichter Hölderlin das lyrische Ich nehmen lässt.

Strophen III–V (VV 9–20) Die Blumen, die Worte, sind zu wenig; anderes oder mehr biete („beut“, V 9) die festlichere Zeit selbst. Nicht die am Wegrand vom Ich aufgelesenen Blumen sind ihr adäquat, sondern das von oben („Am Berge“, V 11) herab in die winterliche Sphäre einbrechende und sie erfüllende Gewitter: Es „hallt hinab“ (V 10), worin sich zwei Dimensionen finden, die bereits aus den Überlegungen zu Sphäre und Offenbarung bekannt sind: eine in diesem Fall akustisch beschriebene Bewegung des Herab und ein die Umgebung erfüllendes Sich-Ausbreiten. Dieses Offenbarungsmotiv wird jedoch nicht weitergeführt; eine Fortsetzung der Lektüre lässt Donner und Blitz des Gewitters als Vorbereitung einer Szenerie erkennbar werden, in welcher „Gestalten“ (V 13) auftreten können, deren Zweifel sich zur Klarheit durchgerungen hat. Es sind die aufgeklärten „Freigebornen“ (V 15), zu denen auch Auguste von Homburg zählt und die sich nun vereinen. Ihrem Bunde beigesellt werden weiters Heroen, Weise und ernste Alte (VV 17–20).47 47

Vgl. KA, 643.

3.5 Sprache und Verwandlung

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Ihr klar-aufgeklärtes Gemüt, ihre Ruhe (V 12) und Stille (V 20) folgt dem Gewitter, d. h. den kriegerischen Auseinandersetzungen, nach. Im erwarteten Frieden bestehe das schönste Geschenk für die kunstsinnige Auguste von Homburg. Legte die dritte Strophe ein Verständnis des Gewitters als göttlicher Offenbarung nahe, entwickeln die vierte und fünfte Strophe das Bild in Richtung eines Verständnisses des Gewitters als Krieg weiter, dem die Ruhe der Gemeinschaft der Freien, Heroen, Weisen und Alten gegenübersteht. Dies zeigt, dass sich die anfänglich zu vermutende Interpretation des Gewitters in Verbindung mit dem Göttlichen nicht durchhalten lässt: Ihre Gewalt ist von den Menschen nicht aufnehmbar und kann nicht als Geschenk (Strophe II) weitergegeben werden. Die Bedeutung des Gewitters hat sich umgekehrt.

Strophe VI–VIII (V 21–32) Der Gemeinschaft, die sich von der dritten bis zur fünften Strophe geformt hat, wird sodann der „Sänger“ (V 21), der als der Träumende nicht einfachhin den in der Geschichte Handelnden zugeordnet werden kann, hinzugefügt. Zwar erscheint er angesichts der Taten und des Ernstes der Gewaltigen nur als gering, dennoch zielte die Entfaltung der Gemeinschaft in den vorangehenden Strophen auf seine Gestalt, welche in den letzten beiden Strophen (VV 25–32) in einigen Strichen entfaltet wird. Während die fünfte Strophe in der Distanz der dritten Person von ihm redet, wechselt die sechste Strophe in die erste Person und identifiziert das lyrische Ich mit dem Sänger oder Dichter. Die Beschreibung des Gesangs (Strophe VII) nimmt beim Namen von Auguste, welcher als der Erhabene das Lied des Sängers auszeichnet, ihren Ausgangspunkt. Durch seinen edlen Gegenstand erhält es, obwohl vom Geringsten gesungen, seine Würde. Das Fest als eigentliches Zentrum des Liedes, das bislang als ein noch bevorstehendes schien, ist nun in die Vergangenheit gerückt („dein Fest / Augusta! durft’ ich feiern“, VV 25 f.), wird also selbst im Gedicht nie direkt thematisiert. Die Verweise auf Name und Fest bereiten den Versuch vor, die Eigenart des Gesanges genauer zu fassen. Als seine erste Bestimmung wird die Rühmung des Höheren (VV 26 f.) genannt, d. h., der Gesang wird als Hymnus gefasst. Um dieser Aufgabe willen gab Gott dem Dichter Sprache und Dank ins Herz (VV 27 f.). Explizit ausgesprochen ist damit der Ursprung der (dichterischen) Sprache in Gott, wie er sich am Ende der ersten Strophe bereits angedeutet hatte („Gärten, den dichterischen, immergrünen“, V 4). Nimmt sich von menschlicher Seite der Beruf der Dichtung als Rühmung aus, so von Gott her als „Dank“ (V 28), dessen Möglichkeit er dem Dichter gewährt. Für Hölderlin bilden der Dank und die Möglichkeit, ihn zu adressieren, ein wichtiges Movens der Dichtung. Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl die letzte Strophe der Elegie Heimkunft, in der dem berühmten Wort vom Fehlen der heiligen Namen die Frage vorausgeht: „wie bring’ ich den Dank?“ (Heimkunft, V 98) Die letzte Strophe der Geburtstagsode offenbart die Gefahr eines Scheiterns des Gesanges. Der Dichter hat sich nicht nur aus vornehmer Bescheidenheit als „Ge-

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ringe“ (Der Prinzessin Auguste von Homburg, V 21) bezeichnet, sondern weil sein Werk, sein Beruf, im Gegensatz zu den Taten und dem „Ernst der Gewalt’gen“ (V 24) zerbrechlich ist. Seine Existenz und sein Beruf machen in der festlichen Sphäre, die keineswegs eine Täuschung war (immer noch ist von „diesem freudigen Tage“ die Rede, V 29) eine Grundlosigkeit bewusst, die nicht auf neue Fundamente gestellt werden, aber – vielleicht – im Lied einen Ausdruck erhalten und zur Eröffnung einer neuen Sprache führen kann. So bittet der Dichter, dass der Tag des Festes für ihn zum Ausgangspunkt werden möge, dass ein Gesang gedeihe, welcher der Prinzessin würdig sei.  Interessant ist die Zeitstruktur des Gedichtes: Vor dem Geburtstag von Auguste von Homburg geschrieben und ihr zum Festtag übergeben, schildert das Gedicht zunächst einen langsamen Anweg zu ihrem Fest und danach unvermittelt einen Rückblick darauf (Strophen VII–VIII). Im Rückblick ist vom Wunsch die Rede, dass das Fest zum Beginn einer neuen Zeit werde, in welcher – künftig – der Gesang glücke. Es geht mithin um die künftige Möglichkeit der Dichtung. Das Fest macht deutlich, dass die von Gott dargereichte Sprache keineswegs selbstverständlich aufgenommen und zum Lied entfaltet werden kann. Die Thematisierung zweier Fragen drängt sich auf: Die erste Frage betrifft den Zusammenhang des Bereiches Mensch – Sprache – Gott. Die andere Frage bezieht sich auf die Rolle der Prinzessin. Sie tritt in diesem Gedicht mit überragender Bedeutung als eine neue Gestalt der von Hölderlin gedichteten Sphären auf, ihre Rolle wird jedoch kaum entfaltet. Beide Fragen führen zu der vermutlich ein halbes Jahr später48 entstandenen Ode Aus stillem Hauße senden . . . , in welcher eine Gestalt, ähnlich Auguste von Homburg, begegnet.

Vermittlung und Verwandlung: Aus stillem Hauße senden ... Zunehmend taucht in Hölderlins Gedichten die Frage der Vermittlung des Göttlichen auf und wird von ihm an verschiedenen Orten thematisiert. Durch die Überlegungen zum göttlichen Ursprung der (dichterischen) Sprache erhält jene Frage eine zusätzliche Dringlichkeit. In der Ode Aus stillem Hauße senden . . . wird sie schließlich eigens in den Blick genommen. Das nicht ganz vollendete Gedicht (ein Vers ist unvollständig) hat keinen Titel, kann aber als eine Ode angesehen werden, die wohl Prinzessin Amalie von Anhalt-Dessau, der Schwester von Auguste von Homburg, gewidmet ist.49

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Sattler datiert die Ode auf April 1800 (vgl. BA VIII, 196–198). In der Stuttgarter Ausgabe ist die Ode, die ohne Überschrift überliefert ist, geführt als An eine Fürstin von Dessau (StA 1.1, 30 1.2, 628–630), in der Ausgabe im Klassiker-Verlag als Der Prinzessin Amalie von Dessau (KA 23 648–652).

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3.5 Sprache und Verwandlung

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AUS STILLEM H AUSSE SENDEN . . . Aus stillem Hauße senden die Götter oft Auf kurze Zeit zu Fremden die Lieblinge, Damit, erinnert, sich am edlen Bilde der Sterblichen Herz erfreue. So kommst du aus Luisiums Hainen auch, Aus heilger Schwelle dort, wo geräuschlos rings Die Lüfte sind und friedlich um dein Dach die geselligen Bäume spielen, Aus deines Tempels Freuden o Priesterin! Zu uns, wenn schon die Wolke das Haupt uns beugt Und längst ein göttlich Ungewitter über dem Haupt uns wandelt. O theuer warst du, Priesterin! da du dort Im Stillen göttlich Feuer behütetest, Doch theurer heute, da du Zeiten Unter den Zeitlichen seegnend feierst. Denn wo die Reinen wandeln, vernehmlicher Ist da der Geist und offen und heiter blühn Des Lebens dämmernde Gestalten Da, wo ein sicheres Licht erscheinet.

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Und wie auf dunkler Wolke der schweigende, Der schöne Bogen blühet, ein Zeichen ist Er künftger Zeit, ein Angedenken Seeliger Tage, die einst gewesen, So ist dein Leben, heilige Fremdlingin! Wenn du Vergangnes über Italiens Zerbrochnen Säulen, wenn du neues Grünen aus stürmischer Zeit betrachtest.

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Strophe I (VV 1–4) Der Einstieg des Gedichtes nimmt viele bereits bekannte Motive auf. Ausgangspunkt göttlicher Sendung ist das stille Haus (V 1). In der Äther-Hymne (An den Aether, V 30) war das Haus Sphäre des Aufenthalts der zu ihm strebenden Lebewesen. Die Stille ist seit den frühesten Gedichten Ursprung und Ziel jeden Hervorgangs von Leben und Sprache. In dieser Passage sind beide Motive vereint und erscheinen als der Ort, von dem aus die Götter ihre freundschaftlichen Botschaften senden (VV 1 f.). Das Gedicht behauptet diese Sphäre zunächst einfach, ohne sie zu

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entwickeln. Es lässt auch das Ich nicht langsam in sie eintreten, sondern gibt sofort das Ziel der Sendung der göttlichen Botschaften, deren Medium das „edle Bild“ (V 4) ist, an. Dieses wird den Menschen in Gestalt der Erinnerung präsent, sodass sie sich an ihm zu erfreuen vermögen. Das Geschehen der Sendung ist kein dauerhaft Gegebenes, sondern erreicht die Menschen stets nur „Auf kurze Zeit“ (V 2), worin sowohl sein Charakter der Unverfügbarkeit als auch jener der Schwächung, der die Botschaft für die Menschen aufnehmbar macht, ausgedrückt ist. Hölderlin präsentiert, genau auf die erste Strophe begrenzt, ein Modell, das keiner Entwicklung mehr bedarf. Allerdings wird es im Gedicht lediglich die Bedeutung haben, als Ausgangspunkt für eine danach zu entfaltende Ähnlichkeit zu dienen.

Strophen II–III (VV 5–12) Dem stillen Hause entsprechen die Gartenanlagen des Luisiums, eines kleinen Schlosses in Dessau-Rößlau, das nach Luise, der hochgebildeten Fürstin von Anhalt-Dessau benannt ist. Den von den Göttern gesandten Boten entspricht das „du“ des fünften Verses, von dem sich jedoch erst im neunten Vers herausstellt, dass es sich auf die Mittlergestalt einer Priesterin bezieht, nämlich auf die Fürstin Luise oder aber (wahrscheinlicher) auf ihre Schwiegertochter, die Homburger Prinzessin Amalie.50 Sie stellen den historischen Ausgangspunkt des Bildes dar, der jedoch mit dem Beginn seiner Entwicklung schon überschritten ist, indem er wie in eine imaginierte Welt antik-griechischen Mythos („Hainen“, V 5, statt Gärten, „Tempels“, V 9, statt des Hauses) getaucht erscheint. Die Sphäre erfährt nun in räumlichen Bildern eine genaue Ausstattung, beginnend bei der Nennung der Haine, für Hölderlin stets Hinweis auf einen Ort der Begegnung mit dem Göttlichen. Hervorgehoben wird sodann der Ort der heiligen „Schwelle“ (V 6), mithin der Ort eines Überganges zweier Räume, wobei unklar ist, welche diese seien. Während die Schwelle die Linie des Übergangs symbolisiert, baut das nächste Bild den Gedanken der umgebenden Sphäre aus: „wo geräuschlos rings / Die Lüfte sind“ (VV 7 f.). Das „Dach“ (V 8) der geselligen Bäume, d. h. des Parks oder Waldes, gibt der umgebenden Sphäre den Charakter des Umschlossen-Seins und führt sie hin zum Bild des „Tempels“ (V 9). Anders als das stille Haus im ersten Vers hat der Tempel eine schrittweise Annäherung erfahren. Zur räumlichen Entwicklung hinzu treten außerdem die Momente des Spiels (V 8) und der geräuschlosen Bewegung der Lüfte (VV 6 f.), welche das Bild als ein leichtes erscheinen lassen, verglichen mit den in anderen Gedichten begegneten Formen ersehnter Gottesunmittelbarkeit, die nichts Spielerisches an sich hatten. Es stellt überdies einen Kontrast zum göttlichen „Ungewitter“ (V 11) dar, welches das Haupt der Menschen beugt. Das Unwetter steht einerseits für die kriegerischen Ausbrüchen der Zeit, von denen sich das friedliche Fürstentum Anhalt-Dessau abhob, andererseits für das von den Menschen nicht mehr aufnehmbare gewaltige Sich50

Vgl. KA 648–651, BA VIII, 196–198.

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Nahen des Zeus. Ist es Zufall, dass gerade an dieser Stelle (V 12) drei Silben fehlen? Von der Priesterin heißt es, sie komme „Zu uns“ (V 10), der im Gewitter sprechende Gott hingegen vermag die Menschen sprachlich nicht mehr zu erreichen, er ist es, der „über dem Haupt uns wandelt“ (V 12). Allerdings kann das letzte Wort des Verses („wandelt“), welches zunächst für das gemächliche Einherschreiten steht, das um die Menschen wenig bekümmert ist, auch eine andere Bedeutung annehmen, indem vom Gewitter gesagt wird, dass es „uns wandelt“, d. h. verändert. Freilich lässt sich diese Deutung nur schwer mit der Lokalisierung „über dem Haupt“ vereinbaren. Die Passage eröffnet Möglichkeiten, die sie selbst nicht mehr zur Gänze ausführen kann, vermag aber immerhin aufmerksam zu machen für ein Motiv, nämlich das Geschehen einer Wandlung, um das es dann im Folgenden gehen wird.

Strophe IV–V (VV 13–20) Nachdem in den vorangehenden beiden Strophen die Sphäre ausgeführt worden war, in welcher die Priesterin auftritt, fasst die vierte Strophe (VV 13–16) ihre Gestalt genauer. Am Übergang von der dritten zur vierten Strophe wird sie auf subtile Weise von der Mittlerin zur Wandlerin weiter bestimmt und sodann in einem Anruf als „theuer“ (V 13) gepriesen, weil sie – gleich den Vestalinnen – das göttliche Feuer hütet (V 13 f.). Sich von den Ungewittern abhebend, geschieht dies „Im Stillen“ (V 14). Hatte die Annäherung an den Tempel (V 9) dazu geführt, das unvorbereitet eingeführte Motiv des Hauses (V 1) einzuholen, ist nun auch dessen ebenso unvorbereitete adjektivische Bestimmung als still aus dem Gedichteten hervorgebracht. Teurer als das Hüten des Feuers erscheint für den Dichter das segnende Feiern der Zeiten „Unter den Zeitlichen“ (V 16), d. h. unter denen, die selbst in der Zeit leben – anders als die ewigen Götter. Wenn die Priesterin auch die Wandlerin ist, meint das segnende Feiern wohl das Verwandeln der Zeit – von der unheilvoll kriegerischen in eine friedliche, von der chronologisch vergehenden in eine festliche. Bereits im nächsten Vers, dem Beginn der fünften Strophe (V 17), tritt das Verb „wandeln“ wieder in der oben angedeuteten Doppeldeutigkeit auf: Wo die Reinen wandeln, d. h. einherschreiten, werde der Geist vernehmlich und offen. Wo die Reinen wandeln, d. h. in ein Geschehen der Verwandlung eintreten, werde der Geist vernehmlich und offen. Die dämmernden Gestalten (V 19) als Gestalten des Übergangs, des Schattens, des Zwischen, werden dabei nicht durch übergroße Helle zum Verschwinden gebracht, sondern blühen als die dämmernden Gestalten heiter. Das diese Verwandlung ermöglichende sichere Licht (V 20) war schon vorbereitet durch das im Stillen behütete Feuer (V 14), tritt mithin nicht unvorbereitet auf, und rückt in der Strophe – sich selbst zurücknehmend – an die letzte Stelle. So ist es auch für die dämmernden Gestalten aufnehmbar.

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3

Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Strophe VI–VII (VV 21–28) Die letzten beiden Strophen zeichnen die Priesterin zunächst als Hoffnung auf Frieden und lassen sie sodann den Ort bestimmen, welcher der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Hinsicht zukommt. Die sechste Strophe bringt als neues Bild, welches die stillen Motive des Gedichtes weiterführt, den schweigenden, schönen (Friedens-)Bogen51 auf den dunklen Wolken (VV 21 f.). Gestaltet wird sein Erscheinen in der bei Hölderlin an wichtigen Stellen häufig anzutreffenden Verzögerung durch Verdoppelung des bestimmten Artikels: „der schweigende / Der schöne Bogen“ (VV 21 f.). Der Friedensbogen tritt in einem Vergleich auf, dessen Gestaltung eine weitere Verzögerung mit sich bringt: Zwischen die beiden in Entsprechung zu bringenden Glieder („Und wie [. . . ] Der schöne Bogen blühet, [. . . ], So ist dein Leben“, VV 21–25) sind zwei eigenständige Hauptsätze eingefügt: „ein Zeichen ist / Er künftiger Zeit, ein Angedenken / Seeliger Tage, die einst gewesen“ (VV 22–24). Die bislang von der Gegenwart her gedachte Sphäre erhält damit auch die Dimension der Vergangenheit wie der Zukunft, was vom Bild des Friedensbogens auch auf die Priesterin übertragen wird (VV 26–28). Ihr Blick („betrachtest“, V 28) bestimmt den Ort der Gegenwart zwischen den Verlusten der Vergangenheit („Zerbrochene Säulen“, V 27) und dem neuen „Grünen“ (V 28) einer noch stürmisch-offenen Zukunft.  Mit der Einführung einer Priesterin erscheint die Vermittlung (von Göttlichem und Menschlichem) selbst als Gestalt in der Sphäre des Gedichteten. Überdies ist von einer heiligen Schwelle (V 6) die Rede, die als Ort des Übergangs von Menschlichem und Göttlichem Ort der Priesterin ist. Im Durchgang durch das Gedicht muss sie auch als Ort der Verwandlung gedacht werden. Hatte die Gestalt des Wanderers gezeigt, dass das Ich nicht statisch in die Sphäre gesetzt ist, sondern diese durchwandern muss, so dynamisiert sich die Sphäre nun zu einem Ort der Wandlung. Die fortschreitende Verlusterfahrung, die den menschlichen und göttlichen Bereich als einander nicht mehr entsprechend erscheinen lässt, kann dadurch jedoch nicht aufgehalten werden, wie die unterschiedlichen Varianten von Der Abschied zeigen werden. Hatte bislang die göttliche Vermittlung die Möglichkeit der Dichtung garantiert, wie besonders die Tübinger Hymnen zeigten, so muss in Hinkunft diese die Dichtung ermöglichende Vermittlung in der Dichtung selbst gedichtet werden, ohne dass Dichtung sich freilich der göttlichen Vermittlung gegenüber als Erstes setzen könnte. Gleichwohl kann jenes Geschehen, das Dichtung immer schon ermöglicht, nur insofern als An-Sich vorausgesetzt werden, als es von der Dichtung selbst gedichtet, d. h. gesetzt wird. Diese Schwierigkeit bewirkt, dass sich Hölderlins Dichtung zunehmend in der Dichtung der Frage nach der Dichtung selbst zuwenden muss.

51

Vgl. Gen 9,8–17.

3.6 Der Abschied

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3.6 Trennung von menschlicher und göttlicher Sphäre und Aufbruch zu einer neuen Erzählung: Der Abschied Wie bereits erwähnt, beteiligte sich Hölderlin an dem von Neuffer herausgegebenen Taschenbuch für das Jahr 1799, und zwar mit vierzehn kurzen Oden, von denen manche lediglich vier Verse umfassten. Reitani weist darauf hin, dass es sich dabei keineswegs um beiläufige, sondern um für die Entwicklung von Hölderlins Dichtung wesentliche Arbeiten handelt. Nicht zuletzt nehme das lyrische Subjekt eine neue Bedeutung an: „nicht beschreibt es die objektive Welt, noch bringt es die eigenen Erfahrungen zum Ausdruck, sondern es evoziert, reflektiert und ermahnt“52 . Mit dem Verweis auf „evocare“ rückt Reitani eine Tätigkeit, ähnlich der, die zuvor als Aufhebung (Abschn. 3.2) oder Verwandlung (Abschn. 3.3) des Vorausgesetzten (Natur, Landschaft . . . ) bezeichnet wurde, in den Mittelpunkt. Unter den kurzen Oden findet sich auch die Dichtung Die Liebenden, welche Hölderlin Sattler zufolge im Frühjahr 1800 leicht umarbeitete, um acht weitere Strophen ergänzte und mit dem Titel Der Abschied versah. Weitere Bearbeitungen folgten, sodass das Gedicht heute in unterschiedlichen Versionen existiert. Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass Hölderlin die im Titel ausgesprochene Thematik immer wieder variieren und ihr neue Ausdruckformen geben wollte. Im Folgenden wird die von Knaupp im Gedichtband angeführte und von Sattler auf Mai 1801 datierte Fassung zitiert (Reitani spricht vom revidierten Text aus dem Homburger Odenfaszikel), die freilich nicht die erste ist, in welcher das Gedicht den vollen Umfang von neun Strophen aufweist. An einer wichtigen Stelle habe ich eine Variante einer früheren Version des Textes hinzugefügt.53 D ER A BSCHIED Trennen wollten wir uns? wähnten es gut und klug? Da wirs thaten, warum schrökte, wie Mord, die That? Ach! wir kennen uns wenig, Denn es waltet ein Gott in uns. Den verrathen? ach ihn, welcher uns alles erst, Sinn und Leben erschuff, ihn, den beseelenden Schuzgott unserer Liebe, Diß, diß Eine vermag ich nicht.

52

5

TL, 1354 [Übersetzung J.D.], vgl. auch 1353–1359. MA I, 32 BA VIII, 191–193; BA IX, 15 TL 896–902; vgl. Binder, Hölderlin-Aufsätze, 278–288. Ich muss zugeben, dass mir selbst nach längerer Beschäftigung mit diesem Text die Schritte der Rekonstruktion seiner Entstehung in den unterschiedlichen Ausgaben nicht klar geworden sind. Eine Interpretation dieses Gedichtes habe ich bereits gegeben in Deibl, Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen, 95–104. Zwar gehe ich dort von einer anderen Fassung aus, nämlich jener, welche Sattler als die erste mit neun Strophen bezeichnet (BA VII, 191–193), dennoch überschneiden sich die beiden Interpretationen an vielen Stellen. 53

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Aber anderen Fehl denket der Weltsinn sich Andern ehernen Dienst übt er und anders Recht, Und es listet die Seele Tag für Tag der Gebrauch uns ab. Wohl! ich wußt’ es zuvor. Seit die gewurzelte Ungestalte die Furcht Götter und Menschen trennt, Muß, mit Blut sie zu sühnen, Muß der Liebenden Herz vergehn. Laß mich schweigen! o laß nimmer von nun an mich Dieses Tödtliche sehn, daß ich im Frieden doch Hin ins Einsame ziehe, Und noch unser der Abschied sei!

10

|| ||

[. . . ] Seit der gewurzelte Allentzweiende Haß [. . . ] 15

20

Reich die Schaale mir selbst, daß ich des rettenden Heilgen Giftes genug, daß ich des Lethetranks Mit dir trinke, daß alles Haß und Liebe vergessen sei! Hingehn will ich. Vieleicht seh’ ich in langer Zeit Diotima! dich hier. Aber verblutet ist Dann das Wünschen und friedlich Gleich den Seeligen, fremde gehn Wir umher, ein Gespräch führet uns ab und auf, Sinnend, zögernd, doch izt mahnt die Vergessenen Hier die Stelle des Abschieds, Es erwarmet ein Herz in uns, Staunend seh’ ich dich an, Stimmen und süßen Sang, Wie aus voriger Zeit hör’ ich und Saitenspiel, Und die Lilie duftet Golden über dem Bach uns auf.

25

30

35

Mit Hinblick auf die Thematik der vorliegenden Arbeit lässt sich der Text in drei Abschnitte untergliedern: In den ersten beiden Strophen (VV 1–8) erweist sich Gott trotz oder gerade in der Erfahrung einer Trennung als lebendiger Bezugspunkt. Dieses Verhältnis zerbricht jedoch in den folgenden drei Strophen (VV 9–20). Nach diesem Tiefpunkt suchen die letzten vier Strophen (VV 21–36) wieder eine Sphäre zu dichten, die sich „bewohnen“ lässt und eine neue Form symbolischer Ordnung für die Menschen darzustellen vermag.

3.6 Der Abschied

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Strophe I–II (VV 1–8) Anders als die zuletzt behandelten Texte setzt Der Abschied nicht mit der Dichtung einer Sphäre ein, in welcher sich die „Gegenstände“ des Gedichtes bewegen, sondern mit deren Auflösung. Eine Form der Gemeinschaft, in welcher und aus welcher das lyrische Ich und seine Geliebte lebten, geht in eine Trennung über. Wie der Eingang in eine Sphäre der Annäherung bedarf, so auch die Darstellung von deren Zerbrechen. Die ersten beiden Verse (VV 1 f.) führen mittels dreier Fragen vor die Problematik jener Auflösung. Ausgehend von der kürzest möglichen Gestalt: „Trennen wollten wir uns?“ (V 1) gewinnen sie an Ausführlichkeit und Komplexität. Durch die Konjunktion „und“ wird in der zweiten Frage bereits eine erste Form innerer Differenzierung ermöglicht („wähnten es gut und klug?“ V 1), die dritte Frage hängt von einem Gliedsatz („Da wirs thaten, warum . . . “, V 2) ab und umfasst einen Vergleich („wie“, V 2). Keineswegs klar wird jedoch, was die Trennung überhaupt bedeuten könne: Die zweite Frage zweifelt ihre früher einmal gegebene Folgerichtigkeit und Vernünftigkeit an, wohingegen die dritte Frage ein Zurückschrecken vor der Tat der Trennung zum Ausdruck bringt. Besteht zunächst der Anschein, als ginge es um individuelle Gefühle, die mit der Trennung von einer Geliebten („Diotima“, wie Vers 26 zeigt) verbunden sind, wird alsbald deutlich, dass es um eine Zerrissenheit der Epoche des Dichters zu tun ist, die direkt nicht zur Sprache gebracht werden kann. Wäre die Trennung Liebender im Mittelpunkt, würde der Übergang vom zweiten auf den dritten Vers kaum verständlich: Der Dichter schreckt vor der Tat der Trennung zurück, die ihm wie Mord erscheint (V 2), wohingegen er im nächsten Vers aussagt, die Liebenden würden einander kaum kennen: „Ach! wir kennen uns wenig“ (V 3). Eher wäre zu vermuten, dass die Trennung wie Mord erschiene, wenn die Liebenden gewahr würden, wie untrennbar sie einander verbunden waren. So kann vermutet werden: Durch die Trennung, welche zu Beginn als selbstgesetzte, wohl überlegte Tat erscheint, sich dann aber als höchst fragwürdig entpuppt, wird eine fundamentalere Entfremdung bewusst, von der die geschilderte Trennung selbst nur der nach außen hin sichtbare Ausdruck ist. Ohne jegliche Vorbereitung tritt im vierten Vers Gott ins Gedicht ein, und zwar in einem Satz, der – eingeleitet mit „denn“ – eine Begründung zum Ausdruck bringen soll: „Denn es waltet ein Gott in uns“ (V 4). Statt das bislang geschilderte, schwer verständliche Szenarium zu erklären, gruppiert sein Auftreten Bedeutungen um, allen voran die der Fremdheit (V 3), die nun nicht mehr als Mangel erscheint. Das Göttliche im Menschen verhindert ein gänzliches Durchschauen des anderen und macht dessen Unverfügbarkeit deutlich: Das Einander-nicht-Kennen wird zum Verweis auf die Entzogenheit des Anderen. Auch das Leid der Trennung erhält damit eine andere Bedeutung: Die Menschen vermögen jener Unverfügbarkeit, die ihnen durch das Motiv des göttlichen Waltens in den anderen zu Bewusstsein gelangt, nicht zu antworten. Das unerwartete Auftreten Gottes am Ende der ersten Strophe führte nicht dazu, die in Auflösung begriffene Sphäre wieder zu ordnen, sondern verfremdete die in ihr aufgetretenen Bedeutungen. Umso überraschender kommt deshalb die emphatische Affirmation Gottes als dessen, der „Sinn“ (V 6) stiftet, und als „Schuzgott“ (V 7) der

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Liebe. Entscheidend für den Dichter ist wohl, dass er am Gedanken Gottes als Gewähr der Ordnung, in diesem Gedicht der Sphäre der Liebe, festhält. Gerade dieses Verhältnis zum Göttlichen wird jedoch, wie die folgenden drei Strophen ausführen, einer fundamentalen Erschütterung, ja einem Verlust, ausgesetzt. Die emphatische Weise, wie das Festhalten an Gott als der die Sphäre beseelenden Gestalt (V 6) ausgesprochen wird, kann diesen Verlust nicht abhalten.

Strophe III–V (VV 9–20) Die ersten beiden Verse der dritten Strophe (VV 9 f.) stehen unter dem Leitwort „anderen/anders“, das dort dreimal vorkommt. Entgegen dem von Gott gewährten Sinn (V 6) tritt der „Weltsinn“ (V 9) auf, welcher nicht dem sich überraschend eröffnet habenden Einblick in die Unverfügbarkeit folgt, sondern anderes denkt, was mit „Fehl“ (V 9) apostrophiert wird. Er steht nicht für die von Gott garantierte Sphäre, sondern für eine, welche von einem ehernen, maschinellen Dienst und einem anderen Recht geprägt ist. Alltäglichkeit und Gewohnheit („Tag für Tag“, V 12) verlangen mit List (V 11) einen hohen Tribut von der Seele, welche in dieser Sphäre keinen adäquaten Ausdruck zu finden vermag. Der Bezug auf den Weltsinn ist ein weiteres Indiz, dass die Rede von Trennung aus dem Bereich individueller Befindlichkeit auch auf die allgemeine Ebene einer Darstellung der geschichtlichen Epoche gehoben werden muss. In dieser Linie steht auch der Beginn der vierten Strophe, der auf ein Wissen („ich wußt’ es zuvor“, V 13) verweist. Damit ist ausgesprochen, was sich bisher schon angedeutet hat, aber noch zu sehr von Gefühlen überlagert war, um einen Ausdruck zu finden: Die Auseinandersetzung mit der Trennung der Liebenden zielt auf eine Wissensstruktur angesichts eines fundamentalen Verlustes. Diese Wissensstruktur wird nicht als ein abstraktes Phänomen behandelt, sondern mit einer Zeitangabe versehen („Seit“, V 13), die auch die Tiefendimension („gewurzelte“, V 13) der Zerrissenheit benennt: „Seit die gewurzelte / Ungestalte die Furcht Götter und Menschen trennt“ (VV 13 f.). An dieser Stelle wechselt Hölderlin von der Rede von „Gott“ zur Rede von den „Göttern“. Sie erscheinen nur mehr als partikuläre Größen, untergeordnet einer höheren schicksalhaften Macht, die über Göttern und Menschen waltet, nämlich der Furcht, in früheren Versionen dem Hass. Die Drastik ihrer Schilderung wird durch die beiden Adjektive „gewurzelte“ und „ungestalte“ (VV 13 f.) noch gesteigert, wobei das erste der beiden Worte ihre Tiefe, das zweite ihre amorphe, nicht fassbare Gestalt zum Ausdruck bringt. Trennung wird zur fundamentalen Perspektive, unter der fortan die Welt betrachtet wird. Mit diesem Verlust verbunden ist, wie in den beiden folgenden Versen angedeutet, die Herrschaft ehener Notwendigkeit (vgl. V 10; beide Verse beginnen mit „Muß“, VV 15 f.), die nichts mehr vom Spielerischen des Äthers (wie am Ende der Äther-Hymne) noch vom Beseelenden Gottes, wie es in der Liebe erfahren wurde (V 6 f.), an sich hat. Ausgelöst wird ein Mechanismus („anders Recht“, V 10), der „Fehl“ (V 9) und Sühne mittels Blut (V 15) aneinanderbindet. Die Liebenden kommen in dieser maschinellen Sphäre nur mehr insofern vor, als ihr Herz darin vergehen muss (V 16).

3.6 Der Abschied

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Betrachtet man Der Abschied innerhalb der von mir unterstellten Entwicklung der bis etwa 1800 verfassten Gedichte Hölderlins, die ich als eine Geschichte der Abschiede zu lesen versuche, erscheinen all diese nun zusammengefasst in einem Verlust von nicht mehr partikulärem Charakter, einem Verlust nämlich, welcher das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem, Kontingentem und Absolutem betrifft. In geschichtsphilosophischer Hinsicht bedeutet die Trennung von menschlichem und göttlichem Bereich für Hölderlin, wie Luigi Reitani aufzeigt, den Eintritt in die Moderne. Es sei das „‚Fehlen‘ Gottes, mit dem sich das Zeitalter der Moderne eröffnet“54 habe. Die Menschen vermögen Gott nicht mehr zu nennen. Der Dichter antwortet in der fünften Strophe auf den Verlust des Göttlichen mit einer Reihe von Bitten, wenngleich nicht mehr klar ist, an wen sich diese noch zu richten vermögen. Kann nach dem Wissen um Furcht und Hass, die Götter und Menschen trennen, noch eine Bitte an Gott adressiert werden? Oder bleibt hier eine Struktur der Sprache, nämlich das Sich-Adressieren an . . . , erhalten, obgleich ihm aufgrund der fundamentalen Trennung kein Adressat mehr korrespondiert? Der Dichter bittet zunächst um ein Schweigen (V 17), was als ein Hinweis dafür gelesen werden kann, dass der Abschied der Götter auch eine Auswirkung auf die Sprache hat. Der bisherige Sprachhaushalt ist zerfallen, eine neue Form von Sprache hat sich noch nicht eingestellt. Das Tödliche, so bittet der Dichter, möge nicht mehr die Wahrnehmung bestimmen, sodass er – wenn auch der Gemeinschaft, der Visionen und Hoffnungen beraubt – in Frieden seinen Weg gehen könne (V 18 f.). Schließlich bittet er, dass „noch unser der Abschied sei!“ (V 20). Der Abschied möge ein letzter Ausdruck der Liebenden sein und seine Deutung nicht unter der Ägide einer ehernen, impersonalen Notwendigkeit stehen. Der Abschied möge in der von Gott gewährten Sphäre der Liebenden und nicht der des Weltsinns vollzogen sein. An dieser Stelle erhebt sich die für Hölderlins Dichtung zentrale Frage, wie jene sich in ihr aussprechenden Abschiede zu deuten seien: Ist Abschied lediglich der Übergang in anonyme Prozesse der Auflösung sämtlicher Strukturen, Fundamente und Bindungen, oder kann er eine sprachliche Gestaltung erfahren, sodass er (vielleicht) auch wieder in die Dichtung einer neuen Sphäre des Aufenthalts des dichterischen Ichs führt?

54 Reitani, L’“errore“ di Dio, XLIX [im Original Italienisch]. Einer anderen Deutung folgt Jochen Hörisch in seiner großartigen Studie über das Abendmahlsverständnis Hegels und Hölderlins. Er sieht in Hölderlins Dichtung weniger den Abgrund der Trennung von menschlichem und göttlichem Bereich, sondern betont gerade die Überwindung der Distanz – freilich indem sich Letzterer auflöse. Darin zeige sich Hölderlins „geschichtsphilosophische Intuition“: „Der am Kreuz gestorbene Gottessohn hat den ‚Übergang vom Unendlichen zum Endlichen‘ befreiend geleistet; er hat den Chorismos von Göttern und Menschen, von Unsterblichen und Sterblichen überwunden. Deshalb könnte er wahrhaft der Gott der Befreiung vom paradigmatischen Herrschaftsgefälle zwischen Ewigem und Zeitlichem sein“ (Hörisch, Brot und Wein, 202).

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3

Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

Epilog: Strophe VI–IX (VV 21–36) Die vier weiteren Strophen der Ode können als Epilog gelesen werden: Der Tiefpunkt, der sich in der Furcht und der Zerrissenheit der Welt der Menschen und der Götter zum Ausdruck gebracht hat, ist erreicht. Der Dichter weiß um die Auswirkungen auf Sprache und Liebe, jene beiden fundamentalen Ausdrucksweisen des Menschen. Er bittet darum, dass wenigstens der Abschied von allen bisherigen Sicherheiten und Fundamenten noch einen persönlichen Ausdruck erhalten und eine weitere Gestaltung erfahren könne. Dem sind die vier letzten Strophen gewidmet. Hölderlin gibt dort eine Skizze für eine Erzählung, die nach jenem Verlust entstehen könne. Es scheint mir nicht zufällig, dass gerade dieser Teil des Gedichtes, der um den neuerlichen Eintritt in eine dichterische Sphäre ringt, in den unterschiedlichen Varianten des Gedichtes am häufigsten überarbeitet wurde. Als Bedingung für die Gestaltung des weiteren Weges erscheint ein umfassendes Vergessen, wie es in der sechsten Strophe (VV 21–24) zur Darstellung kommt. Es geht an dieser Stelle nicht um den herbeizuführenden Tod (VV 21 f.), sondern um eine Abgrenzung gegenüber den bisherigen Perspektiven, die nicht überwunden werden können, sondern denen lediglich mit einem Vergessen begegnet werden kann. Dies wird im Bild des „Lethetranks“ (V 22) ausgedrückt, der alles, was zwischen den Extremen „Haß und Liebe“ (V 24) angesiedelt ist, vergessen lässt. Dies bedeutet wohl kaum, dass Hölderlin eine fühllose Existenz imaginiert, welche dem Abschied des Göttlichen folgen möge, zumal in den weiteren Strophen ja wieder vom Erwarmen des Herzens „in uns“ (V 32) die Rede ist. Viel eher scheint er an eine Weise der Neubegründung des affektiven Haushaltes und der symbolischen Ordnung nach dem Verlust zu denken, die den Durchgang durchs Vergessen nehmen muss. Dies wird für Hölderlin nicht die letzte Antwort auf die Frage, wie ein mögliches Bewohnen der Zeit nach dem Abschied gedacht werden kann, sein. In Mnemosyne heißt es später: und vieles wie auf den Schultern eine Last von Scheitern, ist Zu behalten (Mnemosyne, VV 5–8 bzw. HF 90)

Der Ausdruck „Scheitern“ (V 7) verweist nicht allein auf Holzscheite, sondern auch auf den Vorgang des Scheiterns, welcher nicht mehr durch den Fluss des Vergessens von der künftigen Erzählung der Existenz getrennt werden müsse. Die siebente Strophe versucht erste Schritte auf dem Weg zur Entwicklung einer Erzählung nach der Trennung von Menschlichem und Göttlichem zu gehen, was primär darin einen Ausdruck findet, dass sich erstmals eine Form von Ferne eröffnet, die den eingeengten Blick wieder sich weiten lässt. Die Strophe setzt dementsprechend mit dem Vorsatz ein zu gehen, die Wanderung von neuem aufzunehmen, was in der größtmöglichen Kürze und Gerafftheit ausgesprochen wird: „Hingehen will ich“ (V 25). So entschlossen und ruhig dies klingt, so ambivalent ist die Wendung, kann sie doch auch als Wunsch nach Verschwinden oder Sterben verstanden

3.6 Der Abschied

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werden. Der Eröffnung eines Raumes, der sich mit dem Wunsch zu gehen auftut, entspricht die danach ausführlicher geschilderte Eröffnung der Zeit („Vieleicht seh’ ich in langer Zeit / Diotima! dich hier.“ V 25 f.), die mit einer ersten personalen Begegnung und einem Blick in die Zukunft einhergeht. Der Rest der Strophe vermag alle drei sich eröffnet habenden Momente (Raum / Zeit / Begegnung) in einem Bild zu vereinen, das auch eine affektive Komponente erhält. Gerade dieses Bild wird in unterschiedlichen Varianten des Gedichtes gänzlich anders gefasst: Hingehn will ich. Vieleicht seh’ ich in langer Zeit Diotima! dich einst. Friedlich und fremde gehn || Diotima! dich hier. Aber verblutet ist Wie Elysiums Schatten || Dann das Wünschen und friedlich Wir im alternden Haine dann. || Gleich den Seeligen, fremde gehn Und ein ruhig Gespräch führet uns ab und auf,

||

Wir umher, ein Gespräch führet uns ab und auf

(Der Abschied, VV 25–29)55

Beide Versionen beginnen mit der Hoffnung, dass das Ich Diotima in späterer Zeit wieder sehen werde, und münden in ein Gespräch, welches die beiden zu führen vermag, d. h. dem sie sich anvertrauen können („ein [ruhig] Gespräch führet uns ab und auf“, V 29). Die ältere Version (linke Spalte) setzt sofort nach dem Wunsch, Diotima wieder zu sehen, mit dem gemeinsamen Gehen der beiden, dem das Gespräch folgt, ein, während die jüngere Version (rechte Spalte) davor „das Wünschen“ selbst thematisiert. In der älteren Version heißt es, dass Diotima und der Dichter einst wandern werden wie in einem alternden Hain (VV 26–28). Freilich kann dies kein Bild einer beruhigten Ankunft in einem ungebrochenen Zuhause sein, die beiden bleiben Fremde (V 26). Sie finden auch nicht mehr zu voller Präsenz, die das bisherige Leben fortsetzte, sondern haben schattenhaften Charakter, der mit einem mythologischen Bild ausgedrückt wird: „Wie Elysiums Schatten“ (V 27). Dies ist wohl nicht so sehr eine Aussage über eine mögliche Existenz nach dem Tod, sondern meint den Eintritt in die Mythologie, in eine Erzählung, in der Diotima und der Dichter wieder Raum zum Leben finden, nachdem ihnen alle anderen Fundamente und Sicherheiten zerbrochen sind. Wichtig scheint mir, dass Hölderlin den Ort des Wanderns mit einem alternden Hain vergleicht (V 28). Das Altern steht an dieser Stelle als positives Bild56 dem Abschied gegenüber, der nur als abrupter, anonymer Abbruch verstanden werden kann. Überdies war der Hain in der Antike der Ort, an dem Menschen und Götter einander begegnen konnten. Davon ist zwar im Gedicht nicht mehr die Rede, dennoch scheint es mir nicht bedeutungslos, dass die 55

Die in der linken Spalte gedruckte Variante ist der von Sattler als erster neunstrophiger Version angeführten Fassung des Gedichtes entnommen und wird von ihm auf März 1800 datiert (vgl. BA VII, 191–193). 56 Zwei Stellen seien angeführt, um diese Bedeutung des Alters zu unterstreichen: „es ist ruhig das Alter und fromm“ (Meiner Verehrungswürdigsten Grosmutter zu Ihrem 72sten Geburtstag, V 32) und „Friedlich und heiter ist dann das Alter“ (Abendphantasie, V 24).

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

beiden Wanderer nach dem Abschied des Göttlichen ihren Weg am Ort einstiger Begegnung mit den Göttern weiter fortzusetzen suchen. Die jüngere Version bestimmt den Weg zur Eröffnung einer neuen Sphäre über zwei negative Figuren: das Vergessen (Strophe VI) und die Verabschiedung des Wünschens, das blutleer geworden ist (Strophe VII). Es gibt mithin keinen direkten Weg zur Eröffnung einer neuen Sprache (dem Gespräch). Zwar spricht auch die ältere Version nicht davon, dass die neue Sprache schon durch den Wunsch danach ermöglicht sei, die jüngere Version verabschiedet diese Möglichkeit jedoch bewusst und lenkt damit den Blick noch deutlicher auf die Unableitbarkeit der Sprache. Darüber hinaus treten in dieser Fassung des Gedichtes das wiederaufgenommene Gehen und die Sprache in einen engeren Zusammenhang. Am Übergang der siebenten zur achten Strophe heißt es von den Liebenden, sie würden fremde umhergehen, ein Gespräch führe sie auf und ab (VV 28 f.), wohingegen die beiden Vorgänge in der älteren Version durch die Strophengrenze klarer getrennt sind (Gehen: VV 26–28 // Gespräch: V 29). Dem Wiedereintritt in die Sprache ist ein Gehen vorgelagert: Wo die Sprache ausgesetzt hat, gibt es noch einen festen tragenden Untergrund, der ein Voranschreiten ermöglicht. Vielleicht klingt darin die Erfahrung des Ichs als Wanderers aus dem gleichnamigen Gedicht nach. Im Gehen, Schritt für Schritt, finden die beiden zur Sprache zurück. Die Kontinuität und Struktur, die aus dem Zusammenhang der Schritte hervorgehen, führen wieder ins Gespräch.57 Danach wird jedoch, noch im Vers 29, das Gespräch als das bestimmt, welches sie auf und ab führt, d. h., ihr Gehen lenkt. War es zuerst die leibliche Erfahrung der Schritte, die wieder in die Sprache geführt hat, so sind es nun die wieder eröffneten Gespräche, die den weiteren Weg ermöglichen. Damit ist erneut die Struktur der Sphäre ausgesprochen: Was sich als Erstes gezeigt hat, erweist sich, selbst schon ein Ermöglichtes zu sein, ohne dass ihm eine noch ursprünglichere Instanz voranginge, die ihrerseits als ein Erstes bezeichnet werden könnte. Es ist vielmehr der Eintritt in einen Prozess, welcher das, was sich je als Ausgangspunkt zeigt, als ein bereits Ermöglichtes in den Prozess zurückholt. In den Versen 30–34 erfährt der sich als Gespräch wieder eröffnende Sprachraum eine Ausgestaltung in einzelnen verlangsamenden Momenten: „Sinnend, zögernd“ (V 30) leite das Gespräch die beiden Liebenden. Verhindert ist damit die Möglichkeit unmittelbarer Aussagen, die sprachliche Sphäre unterscheidet sich darin vom technischen Weltumgang (dem „Weltsinn“, V 9). Zu fragen ist, wer die „Vergessenen“ sind, die „die Stelle des Abschieds“ (VV 30 f.) mahnt. Sind es diejenigen, welche die Geschichte des Verlustes der Einbettung und der vorsichtigen Entwicklung einer neuen sprachlichen Sphäre vergessen haben und wieder auf sichere Bestimmungen und Resultate zielen, anstatt sich langsam in die neue Sphäre einzugewöhnen und einen gewandelten Blick auf die Welt einzuüben? Die Erinnerung an den Abschied hat dieser Tendenz gegenüber eine verzögernde, kritische Funktion. Dem technischen Weltumgang steht die affektive Dimension des Herzens gegenüber, das wieder erwacht (V 32). Das darauffolgende Wort vom staunenden 57

Vgl. zu diesem Motiv Bahr, Die Sprache des Gastes, 90–137.

3.6 Der Abschied

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Sehen (V 33) drückt aus, dass es sich dabei nicht um sentimentales Sehnen nach einer Vergangenheit, sondern um die unableitbare Eröffnung eines neuen Wahrnehmens, einer neuen Perspektive auf die Welt handelt. Ob sich in der Epoche, die durch die Trennung der Menschen und Götter gekennzeichnet ist, dieses neue Sehen einstellen kann, entscheidet sich nicht zuletzt daran, ob es auch die Entfaltung einer neuen Sprache, einer neuen Erzählung ermöglichen kann. Hölderlin bringt dies vorsichtig und nur andeutend mit Bezug auf Hören und Klang zum Ausdruck, wenn er „Stimmen und süßen Sang“ (V 33) sowie das Hören von „Saitenspiel“ (V 34) erwähnt. Nach dem Bezug auf Sehen und Hören bringt das Gedicht abschließend ein Bild hervor, das eine Synästhesie von Geruch („duftet“) und Sehen („golden“) darstellt: Und die Lilie duftet Golden über dem Bach uns auf. (Der Abschied, VV 35 f.)

Die beiden Zeilen wirken wie ein kurzes Gedicht im Gedicht, eine Intarsie. Die dichterische Sphäre, die sich sinnend und zögernd entwickelt hat und vor den sofort wieder auftretenden Tendenzen technischen Weltumgangs bewahrt werden muss, bringt am Ende eine neue Sprache hervor, die nicht in die starren Grenzen bestimmter Wahrnehmungsformen (Geruch, Farbe etc.) eingeschlossen werden kann. Das Bild öffnet sich, wie das Wort „uns“ knapp vor dem Ende des Gedichts zum Ausdruck bringt, auf die Liebenden hin und nimmt sie in seine Ordnung auf.  Mit dem Gedicht Der Abschied ist, wie schon mit An die Natur, ein Bruch gesetzt. Der Versuch, diesem Bruch einen Ausdruck zu geben, zieht sich, wie die verworrene Geschichte immer neuer Überarbeitungen des Textes zeigt, über einen längeren Zeitraum. Die Trennung von der Natur bzw. jeder natürlichen Umgebung verschärft sich zum Gedanken einer Trennung von menschlichem und göttlichem Bereich. Die Sprache vermag nicht mehr als Ort der Vermittlung von Menschlichem und Göttlichem zu fungieren, Natur ist nicht mehr in den göttlichen Äther eingeborgen, Geschichte kann nicht mehr an Gott adressiert werden. Dabei steht Hölderlin nicht wie die Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts vor dem Unterfangen, das Göttliche als Projektion zu betrachten, seine Existenz zu bezweifeln oder seinen Tod zu verkünden. Er wird vielmehr einer Krise der Sprache gewahr, insofern diese nicht mehr als verbindende Sphäre zu fungieren vermag, in welcher eine Begegnung von Gott und Mensch erfolgen kann. Der Abschied entwirft nach der Furcht und dem Hass, der Götter und Menschen trennt, zwar noch den Raum einer künftigen Erzählung, einer neu sich eröffnenden sprachlichen Sphäre, geht aber nicht mehr auf das Verhältnis Gottes, dem das Ich die Treue halten wollte (VV 5–8), zu der neu sich eröffnenden Sphäre ein. Die Dichtung Hölderlins wird diesem Verhältnis auch künftig keinen festen Ausdruck mehr geben können, sondern muss in jedem Gedicht je neu mit der Frage nach ihm

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Umbrüche: Dichtung sprachlicher Sphären

beginnen. Nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeit dieser Aufgabe erhalten viele Gedichte ab etwa 1800 keine endgültige Gestalt mehr, bleiben Fragment oder gehen in einen Prozess wiederholter Überarbeitung ein. Die Offenheit jener Frage macht es unmöglich, einen definitiven Ausdruck der religiösen Einstellung Hölderlins (Atheismus, Pantheismus, Renaissance der griechischen Götter, Rückkehr zum biblischen Gottesgedächtnis . . . ) aus den Gedichten ableiten zu wollen. Sämtliche Gedichte müssen nicht nur neu mit dem Versuch der Dichtung einer sprachlichen Sphäre beginnen, sondern darin auch das Verhältnis zum Göttlichen, das vordem als Referenzpunkt für die Dichtung gegolten hat, neu in Sprache bringen. Oder anders gesagt: Dichtung bleibt weiterhin durch die Offenbarung Gottes ermöglichte Sprache, allerdings muss sie nun in jedem Gedicht neu diese Gabe dichten, die nur als gedichtete die dem konkreten Gedicht vorausgesetzte und es ermöglichende ist. Das lyrische Ich bzw. das Subjekt der Dichtung, um dessen Subjektwerdung es in den Gedichten immer auch zu tun ist, hat sich in den Überlegungen des letzten Abschnitts, welche der Dichtung sprachlicher Sphären gewidmet waren, zur Gestalt des Dichters konkretisiert. Dichtung Hölderlins ist zunehmend Selbstreflexion über Dichtung, das lyrische Ich kann als Dichter angesprochen werden. Darüber hinaus begegnet es auch in der Gestalt des Wanderers, d. h. in der Gestalt dessen, der auf dem Weg ist und keinen fixierten Platz innerhalb der gedichteten Sphären hat. Offen bleibt, ob es auch in der Gestalt des Priesters oder der Priesterin, welche in der dichterischen Sphäre Menschliches und Göttliches vermittelt (wandelt), gesehen werden kann.

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Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Um etwa 1800 wird in Hölderlins Dichtung die Frage immer drängender, wie mit den Verlusterfahrungen, welche zunehmend das Verhältnis von Menschlichem und Göttlichem betreffen, umzugehen sei. Von dieser zentralen Fragestellung lassen sich zahlreiche andere Fragen ableiten, die insgesamt zu einem Neuansatz von Hölderlins Dichtung führen. Zu fragen ist, ob es Aufgabe des Dichters sei, gleich einem Priester, einer Priesterin, ein Geschehen der Wandlung zu vollbringen, welches das Göttliche in Menschliches und das Menschliche in Göttliches transformiert. Damit wäre die Erfahrung des Verlustes in der Gestalt des Kultes, welcher in der Dichtung seinen Ausdruck fände, ausgeglichen. Die Hymne Wie wenn am Feiertage . . . wird diese Frage aufnehmen. Kommt es nicht zur erhofften Form der Wandlung, kann dann, so gilt es weiter zu fragen, die massive Verlusterfahrung, ohne ihr einen Sinn unterstellen zu wollen, immerhin zum Ausgangspunkt für eine neue Sprache der Dichtung werden? Zu fragen ist ferner, in welcher Weise sich diese Abbrüche und Änderungen sowie mögliche Neuaufbrüche in der Dichtung selbst reflektieren. Einerseits werden nun die Gestalt des Dichters und die Frage nach der Möglichkeit des Gesanges in fast jedem Gedicht thematisiert, andererseits greift Hölderlin wieder zu größeren Strukturen und nimmt die Gestalt der Hymne erneut auf, welche die Ankunft der Götter im Lied preist. Allerdings kann der Dichter nicht unmittelbar an die Tübinger Hymnen (und deren Ausläufer) anschließen, sondern muss sich der Form der Hymne neu annähern. Die beiden nicht zu einer endgültigen Gestalt gelangten Gesänge Wie wenn am Feiertage . . . und Am Quell der Donau sind Ausdruck dieser Suche. Zu fragen ist weiters, in welcher Weise dieser Umbruch in den theoretischen Texten Hölderlins reflektiert wird. Ende 1799 entsteht Hölderlins Aufsatzfragment Das untergehende Vaterland . . . , vermutlich wenige Monate später der umfangreiche, jedoch ebenfalls nicht fertiggestellte Text Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist . . . Der erste der beiden Texte kann in gewisser Weise als eine Fortsetzung des Fragments philosophischer Briefe gelesen werden, insofern er

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J.H. Deibl, Abschied und Offenbarung, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04888-2_4

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

die Thematik der Sphäre, wenngleich unter dem Namen des Vaterlandes, erneut aufnimmt.1

4.1 Übergang: Das untergehende Vaterland ... Der Aufsatz ist ins Stuttgarter Foliobuch eingetragen, und zwar unmittelbar nach dem Abbruch des mehrmals neu konzipierten Empedokles-Projektes. Bereits in seinem ersten Satz verweist er programmatisch auf die Thematik des Übergangs: Das untergehende Vaterland, Natur und Menschen insofern sie in einer besondern Wechselwirkung stehen, eine besondere idealgewordene Welt, und Verbindung der Dinge ausmachen, und sich insofern auflösen damit aus ihr und aus dem überbleibenden Geschlechte und den überbleibenden Kräften der Natur, die das andere reale Prinzip sind, eine neue Welt, eine neue, aber auch besondere Wechselwirkung, sich bilde, so wie jener Untergang aus einer reinen aber besondern Welt hervorgieng (TS 33).

Die Konzeption der Sphäre, welche Natur und Menschen in Gestalt eines bestimmten Weltumgangs umfasst, wurde im Fragment philosophischer Briefe entwickelt. Außer dem Sich-Verbinden oder der Annäherung verschiedener Sphären aneinander wurden diese jedoch nicht als veränderliche betrachtet. Der Aufsatz Das untergehende Vaterland . . . hingegen nimmt die Sphäre in ihrem Untergehen und Hervorgehen, d. h. in ihrem Übergehen, in den Blick und antwortet damit in theoretischer Weise auf die Erfahrung des Verlustes, wie sie sich in Hölderlins Dichtung zeigt. Wenn dieser Verlust nicht nur Untergang bedeutet, gilt es, ihn auch als Übergang zu verstehen. Hölderlin entwirft in diesem Text Grundlinien für eine Theorie des Übergangs. Zunächst bestimmt er ihn als jene Schwelle, an welcher einzig sich die Totalität des Seins darstellt: Denn die Welt aller Welten, das Alles in Allen, welches immer ist und aus dessen Seyn alles angesehen werden muß, stellt sich nur in aller Zeit – oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar (TS 33).

Der Übergang als der „Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn“ (TS 34), das reine Übergehen (vgl. TS XXIII), bedeutet das Moment einer Öffnung auf eine Dimension, welche für theoretische Vernunft niemals erreichbar ist („Alles in Allen“), an dieser Stelle aber auch nicht als Postulat einer praktischen Vernunft gedacht wird, sondern als das Schöpferische schlechthin: Es ist die „Möglichkeit aller Beziehungen“ (TS 33), aus der heraus die besondere Beziehung (die neue Sphäre, der neue Weltumgang) entstehen müsse, „sodaß durch sie als Unendlichkeit die 1

Vgl. TS 33–62; XX–XXXIV. Auch Kreuzer sieht eine Kontinuität des Fragments philosophischer Briefe und des Textes Das untergehende Vaterland . . . gegeben, führt diese aber primär auf den Dank des Erinnerns, der „zwischen Vergangenem und Gegenwärtigen“ (TS XXII) verbinde, zurück. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich auch in Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist . . . (TS 39–62; hier: 52–56) der Begriff der Sphäre immer wieder findet.

4.1 Übergang: Das untergehende Vaterland ...

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endliche Wirkung hervorgeht“ (TS 33). Jene Totalität hat mithin nicht Seins- oder Sollenscharakter, sondern ist als der Moment der Schwelle vor dem Umschlag in die Besonderung, die immer Begrenzung bedeutet, zu sehen. Der Übergang hat ein Analogon in der Sprache. Wie sie ist er „Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendigen aber besondern Ganzen, welches eben wieder in seinen Wirkungen dazu wird“ (TS 33). Es geht um ein lebendiges, d. h. veränderliches, in sich differenziertes, als Subjekt-Subjekt-Objekt Relation verstandenes Ganzes, das an der Schwelle der Besonderung steht. Wie sich dieses Ganze in Untergang und Anfang zu einem Besonderen konfiguriert, so auch die Sprache in jedem Akt des Sprechens. Das sich besondernde Ganze wird „eben wieder in seinen Wirkungen dazu“ (TS 33), ist also in seiner Besonderung Wiederholung2 der lebendigen Ganzheit – Wiederholung der lebendigen Ganzheit in jenem Element, das diesem Vorgang der Besonderung entspricht. Diese Wiederholung der lebendigen Ganzheit hat das Moment der Freiheit an sich, Hölderlin spricht auch von einer „freien Kunstnachahmung“ (TS 34). Der Raum zwischen Sein und Nichtsein, den Hölderlin dichterisch immer wieder mit den Wörtern „noch“ und „fast“3 anspricht und der in diesem Text theoretisch betrachtet wird, ist aber nicht allein der schöpferische, sondern auch der Abgrund „des unbegreifbaren, des Unseeligen der Auflösung, und des Streites des Todes selbst“ (TS 34). Damit dieser Zwischenraum nicht in die Alogizität bloßen Abbruches und die Auflösung in bloßen Verlust fällt, bedarf es der „Erinnerung der Auflösung“ (TS 34, 35). Es geht um einen Rükblik auf den Weg, der zurükgelegt werden mußte, vom Anfang der Auflösung bis dahin, wo aus dem neuen Leben eine Erinnerung des Aufgelösten, und daraus, als Erklärung und Vereinigung der Lüke und des Kontrasts, der zwischen dem Neuen und dem Vergangenen stattfindet, die Erinnerung der Auflösung erfolgen kann (TS 34).

Hat das Neue seine ihm vorausliegende Geschichte der Auflösung (seine Verlustgeschichte) nicht an sich – und zwar als „idealisches Object“ (TS 34) –, verfällt es dem unbegreifbaren Abgrund der „Lüke und des Kontrasts“. Im Rahmen des Rückblickes wird zunächst der „Anfang der Auflösung“ erkennbar, der als solcher zunächst kaum wahrgenommen werden konnte, weil er sich lediglich in einzelnen, noch unverbundenen Phänomenen zeigte, die auch anders hätten gedeutet werden können. Dann tritt das Aufgelöste selbst gegenständlich in die Erinnerung, d. h. als idealisches Objekt, woraus der Versuch erwächst, diesen Verlust ins Wissen zu heben („als Erklärung“, TS 34) und so Lücke und Kontrast zwischen Neuem und Vergangenem zu vereinigen, was zur „Erinnerung der Auflösung“ (TS 34), d. h. des Prozesses als eines reflektierten und ins Wissen gehobenen (vom Anfang der Auflösung zur Erinnerung des Aufgelösten zur Erinnerung der Auflösung als 2

Auch das Motiv der Wiederholung (in diesem Text freilich lediglich in der Kurzform des „wieder“ ausgesprochen) stellt eine Fortführung des Fragments philosophischer Briefe dar (vgl. TS 12). 3 Vgl. etwa „. . . Unschikliches liebet ein Gott nicht, / Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.“ (Heimkunft. An die Verwandten, VV 9); „Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“ (Mnemosyne, VV 1–3 bzw. HF 91).

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

des gesamten Prozesses), führt. Das Annehmen dieses Erinnerungsweges, dessen Anfangs- und Endpunkt feststehen, ermöglicht es erst, die Dynamik von Auflösung und Hervorbringung zu durchschreiten und sie nicht an einem beliebigen Punkt zu fixieren, d. h. die Bewegung vorzeitig abzubrechen. Jener fixierte Punkt, an dem die Bewegung abgebrochen wird, läuft sofort Gefahr, in den Abgrund des unbegreifbaren Streites des Todes gerissen zu werden. Erst im Durchschreiten des gesamten Weges kann Leben als Lebendiges, das keinen fixierten Status behält, sondern die Kontinuität der Auflösung seiner „Puncte“ (TS 35) und des Sich-wieder-Herstellens „in dem nächsten“ (TS 35) Punkt ist, verstanden werden. Ein geistiger Blick auf das Bestehende hängt daran, dieses nicht in seiner Unmittelbarkeit aufzufassen, sondern ausgehend von seinem Weg der Entstehung (der Geschichte der Auflösung, der Verluste), d. h. von seinem Charakter der Übergänglichkeit („entstanden aus jenem Übergange oder entstehend zu jenem Übergange“, TS 36 f.). Von daher rechtfertigt es sich auch, die Gedichte Hölderlins nicht isoliert nebeneinander zu betrachten, sondern sie aus einer Geschichte der Verluste, aus einem Prozess der Auflösung und Hervorbringung zu verstehen, der reflektiert werden muss und seine Bedeutung als geschichtlicher Vorgang nicht in der Konstatierung von Resultaten verliert.  Hölderlins Aufsatz Das untergehende Vaterland . . . bleibt Fragment und spricht viele Fragen an, die nicht ausgeführt werden. Er verweist auf die Dichtung (die freie Kunstnachahmung), anhand derer das Gespräch darüber fortzusetzen ist. Als eine mögliche Fortsetzung kann die Feiertags-Hymne angesehen werden, die wohl wie kaum ein anderes Gedicht selbst den Übergangscharakter zum Ausdruck bringt. Kreuzer bezeichnet es als zugleich erste und letzte Hymne nach dem Tübinger Hymnen-Projekt: Hölderlins erste Hymne belegt – durch ihren Abbruch – jenen entscheidenden Wandel in seiner poetischen Arbeit, der sich mit der Jahrhundertwende 1799/1800 vollzieht. [. . . ] Definiert sich hymnisches Sprechen durch die Gegebenheit eines noetischen Bezugsrahmens, auf den es verweist, so könnte man sagen, dass Wie wenn am Feiertage . . . Hölderlins letzte Hymne und sein erster „Vaterländischer Gesang“ ist.4

Die Eigenart hymnischer Dichtung hängt Kreuzer zufolge mit einem gegebenen noetischen Bezugsrahmen, auf den sie verweist, zusammen. Was er noetischen Bezugsrahmen nennt, kann in die Nähe des Begriffs der Sphäre gerückt werden. Wo jede unmittelbare, natürliche und voraussetzbare Gegebenheit einer Sphäre zerbricht, muss diese neu gedichtet werden, was Kreuzer in jenen Gesängen verwirklicht sieht, die mitunter als vaterländische bezeichnet werden, d. h. als solche, in welchen es um nichts anderes als um die Dichtung der Sphäre, der bewohnbaren Ordnung des Vaterlandes geht. 4

Kreuzer, „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“, 249 f.

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

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Die Thematik der Sphäre bleibt, wie sich mit Hölderlins programmatischem Aufsatz abzeichnet, auch für die nach 1800 entstandenen freirhythmischen Hymnen oder Gesänge präsent. Die jeweiligen Sphären (Vaterland) als Formen des Bewohnens oder Aufenthalts von Mensch, Natur und Gott können kein unangefochtenes Bestehen als alles umschließender Raum mehr beanspruchen, sondern sind von Untergang und Anfang, d. h. von ihrer Übergänglichkeit her, zu verstehen. Für jedes Gedicht muss in diesem Gedicht je neu die ihm eigene Sphäre, aus der es gleichwohl selbst spricht, gedichtet werden. Hölderlins theoretische Überlegungen können dabei zu einer neuen Sensibilität führen, wie jedes Gedicht nun versucht, Formen des Verlustes auch als ein Geschehen des Überganges zu denken, sodass sich die Verluste nicht als das Enigmatische „des unbegreifbaren, des Unseeligen der Auflösung“ (TS 34) mit sich selbst zusammenschließen und keine Form der Öffnung mehr kennen. Freilich bedeutet dies nichts weniger, als den Verlusten einen gegebenen Sinn unterstellen zu wollen. Erst in der freien Kunstnachahmung, in der dichterischen Gestaltung einer Sphäre können sich derartige Übergänge als Öffnung auf einen neuen Horizont einstellen. Wie fragil diese Konzeption bleibt, sieht man nicht zuletzt daran, dass viele in dieser Zeit entstehenden Gedichte Hölderlins keine endgültige Gestalt mehr finden, sondern vorzeitig abbrechen oder in einen Prozess der Überarbeitung eingehen.

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ... Umfeld und Resonanzraum I Der Gang der Überlegungen hat in Hölderlins sogenanntes Stuttgarter Foliobuch geführt, welches für die vorliegende Arbeit von hoher Wichtigkeit ist. Es handelt sich um eine vom Dichter selbst gestaltete Textsammlung, einen Ort der Komposition und Überarbeitung von Gedichten, Übersetzungen und theoretischen Texten, dessen Anordnung mindestens einmal geändert wurde. In seiner heutigen Gestalt wird das Stuttgarter Foliobuch mit Aus stillem Hauße senden . . . (Abschn. 3.5), d. h. mit der Frage der Vermittlung von Menschlichem und Göttlichem, eröffnet. Bald danach folgt Der Abschied (Abschn. 3.6) in der oben angeführten Version, mithin jenes Gedicht, das in härtester Weise eine Trennung von Menschlichem und Göttlichem zum Ausdruck bringt, dabei aber von Hölderlin immer wieder neu gestaltet wird. Unmittelbar darauf finden sich Stimme des Volks, eine Ode, in welcher der Künstler sein Werk zerbricht, weil es den Göttern nicht zu entsprechen vermag, und eine Übersetzung des Anfangs von Die Bacchantinnen des Euripides, worauf im Folgenden noch einzugehen ist. Danach ist der umfangreiche Entwurf Wie wenn der Landmann . . . eingetragen, der zum Gedicht Wie wenn am Feiertage . . . umgearbeitet wird. In diesem Gedicht ist die Rede vom Dichter, der vermeint, die göttliche Offenbarung selbstständig ins Lied bringen zu können, daran aber scheitern muss, woraus sich jedoch der Gesang neu zu erheben vermag. Später im Konvolut findet

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

sich die theoretische Schrift Das untergehende Vaterland . . . (Abschn. 4.1), welche den Charakter des Übergangs theoretisch reflektiert.5 Betrachtet man, was im Folgenden lediglich in der Gestalt von Andeutungen möglich ist, das Umfeld, in welches Wie wenn am Feiertage . . . im Rahmen des Stuttgarter Foliobuches gestellt ist, erhält die Feiertags-Hymne einen breiteren Resonanzraum. In der zweiten Fassung von Stimme des Volks heißt es, in den Staub geworfen liege, Betenden gleich, Freiwillig überwunden des Menschen Kunst Vor jenen Unnachahmbaren da; er selbst, Mit eigner Hand zerbrach, die reinen Götter zu ehren, sein Werk der Künstler. Doch, minder nicht sind jene den Menschen hold Sie lieben wieder so wie geliebt sie sind Und hemmen öfters, daß er lang’ im Lichte sich freue, die Bahn der Menschen. (Stimme des Volks [2. Fassung], VV 25–32)

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Eine erste Frage betrifft das Verhältnis von Kunst und Gebet. Vor den Unnachahmbaren, den Göttern, die nicht ins Lied gebracht werden können, unterwirft sich die Kunst und scheint auf diese Weise in einen Akt der Anbetung überzugehen. Der Künstler zerbricht – anders als in Wie wenn am Feiertage . . . , wo er des Vaters Strahl „mit eigner Hand“ (V 58) erfassen und ins Lied bringen möchte – „Mit eigner Hand“ (Stimme des Volks, V 27) sein Werk, um dadurch die reinen Götter zu ehren. Es handelt sich dabei um einen freiwilligen Akt des Sich-Überantwortens, was noch dadurch hervorgehoben wird, dass die Wendung „er selbst“ (V 26) an den Beginn des entsprechenden Satzes gesetzt wird, obwohl das Subjekt erst an dessen letzter Stelle genannt wird: „er selbst, / Mit eigner Hand zerbrach, die reinen / Götter zu ehren, sein Werk der Künstler.“ Die Götter werden als rein bezeichnet, an der Kunst hingegen zeigt sich immer eine Form der Endlichkeit. Sie ist die Vermischung verschiedener Vorstellungen, Motive, Techniken. Sie lässt sich niemals aus einem reinen Begriff deduzieren und durch diesen erfassen, sondern gibt „viel zu denken“, kann aber durch „keine Sprache völlig erreicht und verständlich“6 gemacht werden. Um der Reinheit der Götter willen, die der Künstler wie im Gebet ehren möchte, muss sein Kunstwerk überwunden, ja zerbrochen werden.7

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Die Anordnung des Stuttgarter Foliobuches entspricht nicht unbedingt der chronologischen Ordnung der Entstehung der Texte, die sich nur mehr teilweise rekonstruieren lässt (vgl. TL 1663–1665). 6 Vgl. KdU, § 49, 249 f. 7 Das Motiv des Zerbrechens wird in Patmos, allerdings in gewandelter Gestalt, wieder auftreten (vgl. Patmos, VV 109–111).

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

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Die von den Menschen geliebten Götter lieben auch selbst die Menschen, wie die folgenden Verse zum Ausdruck bringen (V 29 f.). Ihre Liebe zeigt sich darin, dass sie „die Bahn des Menschen“ (V 32) hemmen, d. h. seinen Lauf verlangsamen, sodass er sich lange am Licht erfreuen könne. Während der Künstler meint, in einem gewaltsamen Akt sein Kunstwerk zerbrechen zu müssen, sind es die Götter selbst, die seinen direkten Weg, vielleicht darf man sagen seinen unmittelbaren Versuch, sich ihnen zu nahen, verlangsamen. Diese Überlegungen können als eine Hinführung zum Thema der nicht fassbaren Unmittelbarkeit des Göttlichen, welches Wie wenn am Feiertage . . . prägt, gelesen werden und bieten im Motiv der Verlangsamung einen Weg an, den dieses Gedicht nicht aufgreift, der mithin als eine Möglichkeit über es hinausweist. Wie Stimme des Volks sind auch die Bacchantinnen des Euripides in der Nähe der Feiertags-Hymne zu finden. Der Anfang des Stückes führt, indem er den Mythos der Geburt des Bacchus durch Semele erzählt, motivisch an Wie wenn am Feiertage . . . heran. Wenn dieses Gedicht tatsächlich den Versuch eines Neueinsatzes oder eines Überganges darstellt, so ist dieser für Leserinnen und Leser, die dem Stuttgarter Foliobuch von Beginn an folgen, gut vorbereitet.

Wie wenn am Feiertage . . . Wie Das untergehende Vaterland . . . theoretisch den Charakter des Übergangs reflektiert, stellt Wie wenn am Feiertage . . . den Versuch dar, den Übergang in eine neue dichterische Gestalt zu vollziehen.8 Verfasst wurde das Gedicht wohl in der ersten Hälfte des Jahres 1800.9 W IE WENN AM F EIERTAGE . . . Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn Ein Landmann geht, des Morgens, wenn Aus heißer Nacht die kühlenden Blize fielen Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner, In sein Gestade wieder tritt der Strom, Und frisch der Boden grünt Und von des Himmels erfreuendem Reegen

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Es verwundert nicht, dass bei einem Gedicht, welches in so deutlicher Weise Übergangscharakter hat, Deutungen und Positionen der Auslegung aneinanderprallen, wie die etwa die Kontroverse von Wolfgang Lange und Jochen Schmidt in der Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVJS) zeigt: Wolfgang Lange, Das Wahnsinns-Projekt oder was es mit einer „antiempedokleischen Wendung“ im Spätwerk Hölderlins auf sich hat, 645–678; Jochen Schmidt, Stellungnahme, 679–711; Wolfgang Lange, Replik, 712–714; alle in: DVJS 63/4 (1989). Vgl. auch Heidegger, „Wie wenn am Feiertage . . . “, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), 49–77. 9 Sattler datiert es auf Juli 1800 (vgl. BA IX, 12–19), Schmidt erwägt einen Zeitraum von Ende 1799 bis Mitte 1800 (vgl. KA 656).

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800 Der Weinstok trauft und glänzend In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines: So stehn sie unter günstiger Witterung, Sie die kein Meister allein, die wunderbar Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen Die mächtige, die göttlichschöne Natur. Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern So trauert der Dichter Angesicht auch, Sie scheinen allein zu seyn, doch ahnen sie immer. Denn ahnend ruhet sie selbst auch. Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort. Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten Und über die Götter des Abends und Orients ist, Die Natur ist jezt mit Waffenklang erwacht, Und hoch vom Aether bis zum Abgrund nieder Nach vestem Geseze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt, Fühlt neu die Begeisterung sich, Die Allerschaffende wieder. Und wie im Aug’ ein Feuer dem Manne glänzt, Wenn hohes er entwarf; so ist Von neuem an den Zeichen, den Thaten der Welt jetzt Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter. Und was zuvor geschah, doch kaum gefühlt, Ist offenbar erst jetzt, Und die uns lächelnd den Aker gebauet, In Knechtsgestalt, sie sind erkannt, Die Allebendigen, die Kräfte der Götter. Erfrägst du sie? im Liede wehet ihr Geist Das auch der Sonne, wie Blumen und dunkler Erd Entwächst, und Wettern, die in der Luft, und andern Die vorbereiteter in Tiefen der Zeit, Und deutungsvoller, und vernehmlicher uns Hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, Still endend in der Seele des Dichters, Daß schnellbetroffen sie, Unendlichem Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung Erbebt, und ihr, von heilgem Stral entzündet, Die Frucht in Liebe geboren, der Götter und Menschen Werk Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt.

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4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ... So fiel, wie Dichter sagen, da sie sichtbar Den Gott zu sehen begehrte, sein Bliz auf Semeles Haus Und die Asche der göttlichgetroffnen gebahr, Die Frucht des Gewitters, den heiligen Bacchus. Und daher trinken himmlisches Feuer jezt Die Erdensöhne ohne Gefahr. Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk’ ins Lied Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen. Denn sind nur reinen Herzens, Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände Des Vaters Stral, der reine, versengt es nicht Und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest. Doch weh mir, wenn von

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Und sag ich gleich, Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen, Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden, Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich Das warnende Lied den Gelehrigen singe, Dort

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Vermutlich war das Gedicht auf neun Strophen zu je neun Versen angelegt, wobei sich die neun Strophen in drei Triaden aufteilten. Jede der drei Strophen der Triaden ist metrisch anders gestaltet, aber analog zu den entsprechenden Strophen der anderen Triaden, sodass ein Schema abc || abc || abc entstünde.10 Auffallend ist, dass es, wie nicht selten in Hölderlins späten Gedichten, eine Anomalie gibt. Die mittlere Strophe umfasst nur acht Verse. Eine erste Lektüre könnte die Vermutung nähren, die erste Triade spreche von der Natur, die zweite von der Geschichte, die dritte von der Dichtung oder aber die erste spreche von der Natur, die zweite von der Entstehung der Dichtung und die dritte konkret von der Gestalt des Dichters. Dies ist nicht falsch und kann einer ersten Orientierung dienen, setzte allerdings voraus, dass es nach all den Erfahrungen des Verlustes noch klar voneinander abgrenzbare Sphären gäbe, welche sich unter 10

Vgl. MA III, 139–143, hier: 141; KA 656–667; Liebrucks, „Und“, 687–695. Sehr herzlich möchte ich Marlene Deibl, Lisa Achathaler, Daniel Kuran und Josef Neuwirth für die gemeinsame Lektüre und Interpretation dieses Textes danken.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

ein Prinzip bringen ließen: Natur, Geschichte und Sprache (Dichtung) würden weiterhin als gegebene Größen vorausgesetzt. Eine derartige Ordnung war wohl für die Tübinger Hymnen möglich, lässt sich aber für die Hymnen oder Gesänge, die nach 1800 entstanden sind, nur mehr mit Vorbehalt als gestaltendes Prinzip angeben. Wichtiger ist es, die mannigfaltigen Übergänge, Entsprechungen und Bezugnahmen innerhalb des Gedichtes (nicht zuletzt auch zwischen den einzelnen Triaden) sowie die Bestimmung des Verhältnisses (des Maßes) seiner Bezugsgrößen – Natur und Geschichte und Dichtung – wahrzunehmen.

Strophen I–III (VV 1–27) Die ersten beiden Strophen enthalten ein breit ausgeführtes Gleichnis, dessen erster Teil („Wie wenn . . . “, V 1) genau die erste Strophe, dessen zweiter Teil („So . . . “, V 10) die ersten vier Verse der zweiten Strophe umfasst. Davon abhängig ist der zweite Teil der zweiten Strophe, der eine Folge des ersten Bildes zur Darstellung bringt, selbst aber wieder ein Gleichnis darstellt („Drum wenn . . . “, V 14; „So . . . “, V 16; „Denn . . . “, V 18). Die ersten beiden Strophen sind in der Schwebe gleichnishafter Rede gehalten, die überdies in konditionale Gefüge eingebettet ist: Es heißt nicht „Wie am Feiertage der Landmann . . . geht“, sondern „Wie wenn am Feiertage der Landmann . . . geht, wenn . . . “ Es gibt offensichtlich keinen festen, an sich bestehenden Punkt, von dem das Gedicht seinen Ausgang nehmen könnte, alles ist vielmehr in Strukturen der Verweisung hineingenommen, die kein Erstes als identifizierbar erscheinen lassen. Ein Thema der ersten Triade lässt sich nicht unmittelbar, sondern nur in Gestalt einer Beziehung angeben, wodurch sich auch zum Ausdruck bringt, dass Bedeutungsgebug nicht mehr direkt erfolgen kann. Man könnte bezogen auf die erste Triade vielleicht von der Thematik Natur und Dichtung sprechen. Die ersten beiden Verse können als eine Einleitung gelesen werden, welche den Leser und die Leserin in vier kleinen Schritten, die beinahe unverbunden nebeneinanderstehen, in die vom Gedicht aufzubauende Sphäre hineinnehmen möchte: Wie wenn am Feiertage, || das Feld zu sehen || Ein Landmann geht, || des Morgens

Man vertraut sich dem Schritt des Landmanns, der kundig des Terrains ist, an und lässt wie er den Blick über das Feld, d. h. in die Ebene, rundherum, schweifen. Damit hat bereits eine erste Öffnung statt, doch währt diese beruhigte Szenerie nicht lange genug, um sich weiter entfalten zu können. Kaum hat man das Feld betreten, wird die zweidimensionale Ebene vertikal jäh durchbrochen, so wie das weiterführende „wenn“ (V 2) an der letzten Stelle des zweiten Verses einbricht und eine neue Bedeutungseinheit ankündigt. Der dritte, vom „wenn“ (V 2) abhängige Vers schildert die Vorgeschichte, das, was dem Morgen vorangeht, nämlich die Zeit der Nacht, die als heiße, demiurgische, chaotische beschrieben wird. Wohl als Zeichen der Götter oder des Gottes Zeus wird sie von „kühlenden Blizen“ (V 4) durchbrochen. Ungewohnt wirkt die Zuteilung der Adjektive, sollte man doch die Nacht als kühle und die Blitze als hei-

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

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ße vermuten. Die Blitze als Offenbarung Gottes wirken im Chaotischen der Nacht kühlend. Sie heben sich von der primordialen Szenerie ab, indem sie sich als das erste Wahrnehmbare, d. h. Unterscheidbare, wenngleich in keiner Weise Festhaltbare, erweisen. Im nächsten Vers (V 4) eröffnet sich, ihrem plötzlichen Auftreten gegenüber, durch den Donner, der dem Blitz nachfolgt, doch länger als dieser verweilt, ein Klangraum. Sein Tönen erfüllt den Raum von der Ferne her und lässt eine erste Raumwahrnehmung entstehen, welche gegenüber dem Blick auf das ebene Feld (V 1) dreidimensional ist. Mit dem vierten Vers sind Leser und Leserin wieder am Morgen (V 2), mit welchem das Gedicht einleitend begann, angekommen. Die von Blitzen durchzogene Nacht ist vorbei, der Donner kündet „noch“ von ihr, weiß dabei aber um ihren Rückzug („und fern noch“, V 4). Die beruhigte Szenerie der ersten beiden Verse erscheint wieder hergestellt und hat in diesem Prozess ein mythisches Voraus erhalten. Die kommenden fünf Verse schildern in beruhigter Weise, was der Landmann auf seinem Weg sieht: Der Strom tritt wieder in die Ufer und folgt seinem ihm zugemessenen Lauf (V 5), der Boden grünt (V 6). Der „Weinstok“ (V 8) lässt an seinen Blättern den erfreuenden Regen sichtbar werden, der wie die Blitze vom Himmel kommt, aber die Erde in einer viel abgeschwächteren Weise als sie zu erreichen vermag und deshalb in einer nachhaltigeren Weise von den Pflanzen gebunden werden kann. Der Weinstock ist überdies, was allerdings an dieser Stelle noch nicht in den Vordergrund tritt, Symbol für Dionysos/Bacchus, den Gott der Dichtung. Die Dichtung geht, so ließe sich im Ausgang von dieser Stelle sagen, aus dem Regen, nicht dem Blitz hervor, was als (nicht weiter verfolgte) Alternative zu einem später vorgestellten Modell in Erinnerung bleiben kann.11 Mit dem Stehen „In stiller Sonne“ (V 9) hat das in der ersten Strophe entfaltete Bild einen bleibenden (stehenden) Abschluss gefunden. Die Strahlen der Sonne vermögen wie der Regen, jedoch anders als die Strahlen der Blitze, von den Bäumen aufgenommen zu werden, die in ihrem Stehen gemeinsam einen Raum eröffnen, den Wald oder Hain, von dem man weiß (ausgeführt ist das an dieser Stelle noch nicht), dass er Begegnungsort der Götter und Menschen ist. Betrachten wir an dieser Stelle die erste Strophe im Vergleich mit dem entsprechenden Abschnitt des Entwurfs: Wie wenn der Landmann am Feiertage das Feld zu betrachten hinausgeht, des Abends, wenn aus heißer Luft die kühlenden Blize fielen den ganzen Tag, und fern noch hallet der Donner und wieder in sein Ufer der Strom sinkt

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Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn Ein Landmann geht, des Morgens, wenn Aus heißer Nacht die kühlenden Blize fielen Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner, In sein Gestade wieder tritt der Strom,

Der Zusammenhang von Dichtung und Regen (im Gegenüber zu Dichtung und Blitz) führt das Motiv der Verlangsamung weiter, das in Stimme des Volks aufgetreten war: „Und hemmen öfters, daß er lang’ im / Lichte sich freue, die Bahn der Menschen.“ (Stimme des Volks [2. Fassung], VV 3) Wie wenn am Feiertage . . . wird jedoch zunächst einen anderen Weg gehen und Dichtung aus dem Gewitter entsehen lassen, um diesen Weg dann jedoch wieder zu verlassen.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800 aber frischer grünet die Wiese und der Kornhalm richtet sich auf, vom erquikenden Reegen des Himmels und glänzend stehn in stiller Sonne die Bäume des Hains Entwurf Wie wenn der Landmann . . . (VV 1–8)

Und frisch der Boden grünt Und von des Himmels erfreuendem Reegen Der Weinstok trauft und glänzend In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines: Wie wenn am Feiertage . . . (VV 1–9)

Drei Veränderungen, welche alle die Einleitung (Wie wenn am Feiertage . . . , VV 1 f.) betreffen, sind besonders auffallend: Der Landmann wird aus dem ersten in den zweiten Vers zurückgestellt, sein Ziel ist es zu „sehn“, nicht mehr zu „betrachten“, die Zeit seines Ganges ist der Morgen, nicht der Abend. Der Landmann und seine Tätigkeit rücken etwas aus dem Zentrum, was seiner Rolle im Verlauf des Gedichtes besser entspricht. Er führt in die landschaftliche Sphäre, ist aber keine zentrale Gestalt des Gedichtes. Nach der Einleitung kommt er nicht mehr vor. Das Verb „sehen“ ist allgemeiner, diffuser, weniger auf Bestimmtes ausgerichtet als „betrachten“ und darum besser geeignet, den allgemeinen Raum der Sphäre zu eröffnen. Das Gewitter wurde vom Tag in die Nacht verlegt, die Eröffnung der Sphäre (der Beginn des Weges) vom Abend auf den Morgen. Die Gestaltung des Abends bzw. der Nacht hat für Hölderlin zwar eine große Bedeutung (vgl. Brod und Wein), für den Übergangstext Wie wenn am Feiertage . . . ist aber doch die dichterische Gestaltung des Morgens als neuer Beginn treffender. Entfaltet der Entwurf ein anschauliches Naturbild, welches vom in die Ufer sinkenden Strom bis zu den Bäumen des Hains in stiller Sonne reicht (Wie wenn der Landmann . . . , V 5–8), hat die entsprechende Stelle im Gedicht bei weitgehender Konstanz der Motive abstrakteren Charakter. Nicht primär Landschaft soll beschrieben, sondern eine Sphäre geöffnet werden. Deutlich sieht man dies am erfrischenden Grünen, welches im Entwurf von der „Wiese“ ausgesagt wird, im Gedicht jedoch vom „Boden“ (Wie wenn am Feiertage . . . , V 6). Von der Wiese erhebt sich im Bild sogleich ein „Kornhalm“ (Wie wenn der Landmann . . . , V 6), wohingegen der „Weinstok“ (Wie wenn am Feiertage . . . , V 8) zwei Verse auf seine Nennung warten lässt. Am Übergang vom Entwurf zum Gedicht stellt sich mithin eine gewisse Verzögerung ein. Die Wendung von der Wiese zum Boden drückt aus, dass es um die Frage nach einem festen Grund geht, welcher nach der chaotischen Nacht wieder einen Weg eröffnet, der beschritten werden kann. Anders ist auch die Stellung des Wortes „wieder“ (jeweils V 5), welches im ausgeführten Gedicht in die Mitte des Verses rückt und dadurch präsenter wird: Es findet sich dort im mittleren Vers der Strophe, genau in der Mitte (drei Wörter || „wieder“ || drei Wörter). Folglich geht es nicht mehr allein darum, dass nach einem Gewitter der Fluss zurück in die Ufer tritt, sondern dass die gesamte Szenerie ein Geschehen ist, das von einer Wiederholung gekennzeichnet ist. Es handelt sich um ein natürliches Geschehen, das sich zyklisch erneuert. Das Wort Natur ist in der ersten Strophe noch nicht vorgekommen, für sie steht in gewisser Weise das „wieder“. Ihm gelingt es, die aus

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

179

dem Chaotischen hervorgehenden Elemente, die in einer Bewegung hin zur Stille („in stiller Sonne“, V 9) sind, so zu binden, dass sie eine Sphäre, einen umgebenden Raum, bilden. Die zweite Strophe (VV 10–18) bringt, eingeleitet mit „So“ (V 10), den zweiten Teil des Gleichnisses. Als ein Scharnier, welches erste und zweite Strophe zusammenhält, kann das Wort „stehn“ angesehen werden: In stiller Sonne stehn die Bäume des Hains:

||

So stehn sie unter günstiger Witterung

Das Stehen der Bäume kann, mehr als Gras (V 6) und Weinstock (V 8), die ebenfalls aus dem Boden emporwachsen, eine erste im Gedicht erreichte Form der Festigkeit zum Ausdruck bringen, welche den Übergang zum zweiten, der Bestimmung der Dichter gewidmeten Teil des Gleichnisses ermöglicht: „stehn die Bäume“ – „So stehn sie“, die Dichter. Werden im Entwurf die Dichter bereits im ersten Satz der zweiten Strophe genannt („So stehen jetzt unter günstiger Witterung / die Dichter“; Wie wenn der Landmann . . . , VV 9 f.), werden sie im ausgeführten Gedicht innerhalb des Gleichnisses, das bis Vers 13 reicht, gar nicht genannt. Erst im sechzehnten Vers wird im Rahmen des zweiten Gleichnisses („Drum wenn . . . “, V 14; „So . . . “, V 16) klar, dass von den Dichtern die Rede war. Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern So trauert der Dichter Angesicht auch,

15

Auf diese Weise ergibt sich eine interessante Struktur mehrfacher Verzögerung: Die erste Strophe (erster Teil des ersten Gleichnisses) erzählte von der Natur, ohne sie explizit zu nennen. Die zweite Strophe spricht zunächst (zweiter Teil des ersten Gleichnisses) von den Dichtern, ohne sie zu nennen. Genannt wird jedoch in diesem, den Dichtern gewidmeten Teil, und zwar als letztes Wort des Gleichnisses, „Die mächtige, die göttlichschöne Natur“ (V 13), die mithin in einer Versetzung in den ihr eigentlich nicht zukommenden Teil des Gleichnisses erscheint. Die Art ihrer Erwähnung bewirkt durch die Voranstellung eines quasi substantivierten Adjektivs und die Wiederholung des bestimmten Artikels danach zusätzlich zur Versetzung eine weitere Verzögerung („Die mächtige, die göttlichschöne Natur“ statt „Die mächtige göttlichschöne Natur“). Eine Versetzung ergibt sich auch dadurch, dass die Dichter erst im zweiten Teil des zweiten Gleichnisses genannt werden. Verzögerung und Versetzung sind ein Hinweis darauf, dass Bedeutungen im Gedicht12 , hier sichtbar an den großen Worten „Natur“ und „Dichter“, nicht unmittelbar und intentional erzeugt werden können, sondern ihre Zeit und ein gestaltetes Umfeld brauchen, um sich zu konsolidieren. Während im Entwurf „Natur“ einmal (Wie wenn der Landmann . . . , V 12), die „Dichter“ aber zweimal (VV 10, 15) genannt werden, hält das ausgeführte Gedicht die Häufigkeit ihrer Erwähnung (je einmal) in einem Äquilibrium. Die Gleichnis12

Zu fragen wäre, ob dies für Sprache überhaupt gilt.

180

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

struktur (Thema Natur – Thema Dichter || Thema Natur – Thema Dichter) sowie die Ausgewogenheit der Häufigkeit ihrer expliziten Nennung und die Einfügung des auf Bacchus, den Gott der Dichtung verweisenden Weinstockes ins Bild berechtigt zur Annahme, dass die Thematik der ersten Triade das Verhältnis von Natur und Dichtung ist. Die Sphäre, die in diesen Strophen gestaltet wird, erhält einen sprachlichen Ausdruck (in den Worten des Fragments philosophischer Briefe ein „Bild“, TS 11) in der Wendung „unter günstiger Witterung“ (V 10). Witterung umfasst all die Phänomene des Wetters, welche in der ersten Strophe aufgetreten waren, und hat – gegenüber Wetter oder auch Wetterlage – einen sich allgemein in die Zeit ausdehnenden Charakter.13 Sie bezieht sich auf einen bestimmten Raum und ist – wie der Äther – alles umgebend und durchdringend. Die Bestimmung der Witterung als günstiger gibt dem Gedicht eine grundsätzlich positive Stimmung. Vom allgemeinen Charakter der Witterung ausgehend ist es möglich, die Natur nicht allein in konkreten Phänomenen, wie sie in der ersten Strophe beschrieben werden, sondern als „Allgegenwärtig“ (V 12) zu reflektieren. Ihr Charakter des „leichte[n] Umfangen[s]“ (V 12) kann hervortreten. Wie dem Äther oder der Witterung eignen auch der Natur sphärische Eigenschaften, diese können jedoch nach den Erfahrungen des Verlustes, wie sie besonders An die Natur zeigt, nicht mehr einfach vorausgesetzt werden, sondern bedürfen der Ermöglichung durch die Dichtung. Darin zeigt sich die Struktur der Sphäre: Mehr als jeder „Meister“ (V 11) erzieht die Natur die Dichter und ist ihnen darum vorausgesetzt. Also solche erscheint sie aber erst, nachdem im Gedicht die Sphäre ihres Vorkommens gedichtet ist. Man könnte also eine Dialektik von Natur und Dichtung vermuten: Die Natur erzieht die Dichter, sodass sie ihrem Beruf nachkommen können, während sie selbst es sind, welche die Natur in dieser Rolle dichten. Der Terminus „Witterung“ steht auch für eine nicht genau bestimmbare Ahnung, die noch kein Wissen darstellt und sich nicht begrifflich differenzieren lässt (etwas wittern). Vielmehr verlangt die Witterung andere Formen der Annäherung und Versprachlichung. Die letzten beiden Verse nehmen mit der zweimaligen Verwendung des Wortes „ahnen“ (VV 17 f.) diese Bedeutungsdimension von Witterung auf: Zwar scheinen die Dichter allein zu sein, doch sind sie – darin der Natur verwandt – die Ahnenden. Sie sind es, die am ehesten den sphärischen Charakter des sie Umgebenden, der Witterung, der Natur, erspüren und zur Darstellung bringen können. Es handelt sich dabei um einen Aspekt, welcher im Entwurf noch nicht vorkommt. Das zweite Gleichnis (VV 14–18) findet im Schlaf der Natur einen Vergleichspunkt von Natur und Dichtern. Der Schlaf der Natur entspricht der Trauer der Dichter, d. h. ihrer Wahrnehmung bestimmter Formen des Verlustes und ihrer Einsamkeit. Was aber kann die Dichter aus Schlaf und Trauer aufwecken, sodass ihre Witterung und Ahnung zur Erzählung zu werden vermag?

13

Im Grimmschen Wörterbuch ist zu lesen: „der zustand der atmosphäre überhaupt, im gegensatz zu wetter sich auf einen längeren zeitraum erstreckend“ (Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 30, 825).

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

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Die dritte Strophe (VV 19–27) setzt mit einem Einschnitt ein: „Jetzt aber tagts!“ Durch das „aber“ stößt sich der erste Vers der Strophe von den Ausführungen zuvor, welche zwar am Morgen begonnen haben, aber in den Schlaf und das Ahnen geführt haben, ab. Allerdings tritt dieser Einbruch nicht unvorbereitet auf: Ein derartiger Einbruch fand sich schon im zweiten Vers der ersten Strophe, als an seiner letzten Stelle die Konjunktion „wenn“ die Schilderung des Herniederfallens der Blitze in ihrer Unmittelbarkeit überraschend einleitete. Das Resultat des Ausrufs, nämlich die Ankunft des Tages, wiederholt auch in inhaltlicher Hinsicht, was in den ersten beiden Versen schon geschildert worden war: das Werden des Morgens. Was am Beginn des Gedichtes noch unmittelbar aufgetreten war, ist nun aus einer Bewegung des Gedichtes hervorgegangen und kann in einer Wendung („Jetzt aber tagts!“) in Sprache gebracht werden. Dass es sich um ein im Gedicht vorbereitetes Geschehen handelt, wird auch im weiteren Verlauf des ersten Verses der dritten Strophe bewusst, wenn es dort heißt: „Ich harrt und sah es kommen“ (V 19). Witterung und Ahnung des Dichters beziehen sich also gerade nicht auf ein Vorauswissen von diesem und jenem, sondern verweisen auf jene in den bisherigen Strophen des Gedichtes statthabende Vorereitung, die es ermöglicht, das, was dann unvermittelt auftritt, ins Wort zu heben: „sei mein Wort“ (V 20). Die ersten beiden Verse der dritten Strophe (VV 19 f.) lassen dem Ausruf eine schrittweise Entwicklung des Gedankens folgen, die dem Schema harren – sehen – werden zum Wort folgt, wobei letzter Schritt im Modus des Wunsches steht. Man könnte auch von einer kleinen Poetologie sprechen, die in sich Warten, Wahrnehmung und Wunsch nach Sprachwerdung vereinigt. Dabei tritt mit der Wiederholung des Verbes sehen erneut ein retardierendes Moment auf: „und sah es kommen / Und was ich sah“. Was als kommend gesehen wird, wird übernommen und möge zum Wort werden. Genau dies vollzieht sich noch in jenem Vers, innerhalb jener Wendung selbst: Das erharrte gesehene Kommende wird das „Heilige“ genannt – ein Wort, das bislang im Gedicht nicht vorgekommen ist und an dieser Stelle neu auftritt. Der schöpferische Akt der Sprachwerdung wird nicht allein in seiner Struktur vorgeführt, sondern hat in diesen Versen auch explizit statt. Angesprochen ist mit dem Kommenden, welches dann das Heilige genannt wird, wohl der Übergang von der Nacht zum Tag („Jetzt aber tagts“, V 19), der als grundlegender Übergang das gesamte biblische Textcorpus begleitet (vgl. den Anfang der Bibel in Gen 1,3–5). Allerdings bedarf der Akt der Sprachwerdung, der zu einer Nennung des Heiligen geführt hat, einer weiteren Entfaltung, wie sie die folgenden Verse der dritten Strophe bieten, die mit der Konjunktion „Denn“ (V 21) den Beginn einer Begründung anzeigen. Für die Begründung des fast überraschend aufgetretenen Wortes des Heiligen greift das Ich, das nach diesem Akt der Sprachwerdung wohl bereits als Dichter angesprochen werden kann, auf den aus den ersten beiden Strophen bekannten Zusammenhang von Natur und Dichter zurück: Als Dichter konnte es das Heilige aussprechen, weil die Natur in einem alles umfassenden14 und

14

Sie ist älter denn die Zeiten, steht über den Göttern und umfasst Ost und West, Äther und Abgrund (VV 21–24).

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alles erschaffenden15 Prozess in ihrer Begeisterung sich selber fühlt, d. h. Selbstbewusstsein erlangt (sich selber fühlt), und den Kosmos zu einem affektiven Raum werden lässt (sich selber fühlt), wobei dieses Geschehen sowohl das Primordiale („älter denn die Zeiten“, V 21) als auch das Aktuelle („ist jetzt [. . . ] erwacht“, V 23), sowohl das unableitbar Neue („Fühlt neu“, V 26) als auch das Sich-Wiederholende ist („wieder“, V 27). Für dieses in einem Satz entfaltete Bild bedarf der Dichter lediglich sieben Verse, wohingegen er dafür in der Tübinger Zeit einen Kreis von mehreren Hymnen brauchte. Die Erinnerung an das Projekt der Tübinger Hymnen und dessen Verabschiedung, besonders die Verabschiedung unmittelbarer Beheimatung in der Natur, lässt daran zweifeln, ob nun in so wenigen Versen ein tragfähiges Bild der Natur als alles umfassender Sphäre gelingen kann. Fürs Erste scheint der Verweis auf das Wort „Heilig“ zu genügen, es stellt sich jedoch die Frage, ob damit der Boden für das weitere Gedicht, das ja überdies eine Rückkehr zum Projekt der Hymnen oder die Neuaufnahme eines Projektes von Gesängen ist, gelegt ist. Überdies meint der Dichter, sich selbst aus diesem Geschehen heraushalten zu können, kommt er doch in dem von ihm entworfenen Bild der Natur noch gar nicht vor. Dass seine Gestalt aus dem Prozess des Werdens von Sprache in ihrem Bezug zum Göttlichen und der Natur nicht herausgelöst werden kann, wurde in den Oden aus der Zeit vor 1800 deutlich. So grandios das Bild in der dritten Strophe der Feiertags-Hymne entworfen ist, stellt es doch die Gefahr eines Rückfalls aus dem Denken der Sphäre (Subjekt-Subjekt-Objekt) in ein Denken der Gegenüberstellung Dichter-Natur (Subjekt-Objekt) dar. Zwar wird die Natur auf inhaltlicher Ebene als Subjekt gefasst, in ihre Konstitution ist aber der Dichter nicht einbezogen, d. h., er steht der Natur in einem gegenständlichen Verhältnis gegenüber. Das Bild kann nicht auf subjekthafter Ebene gehalten werden, die Natur droht zum Objekt abzusinken. Die objekthafte Gegenüberstellung Natur-Dichter wird für eine Begründung der Dichtung nicht ausreichend sein, wie sich in der nächsten Triade zeigt, die expliziter nach dem Werden von Dichtung frägt.

Strophen IV–VI (VV 28–53) Die zweite Triade nimmt die Thematik des Werdens von Dichtung auf und setzt wie die erste mit einem Gleichnis ein, welches der Gestalt des Dichters eine Bestimmung geben soll (VV 28–31). Das Bild ist wesentlich kürzer als das in den ersten beiden Strophen und nimmt nicht mehr die Natur, sondern die Geschichte als Analogie. Vom Motiv der Blitze (V 3) aus dem ersten Gleichnis bleibt gleichsam ein Nachbild erhalten, wenn nun vom „Feuer“ (V 28) im Auge des Planenden die Rede ist. Zwar konnten die Blitze als Offenbarung Gottes nicht festgehalten werden, als Motiv oder Bild in der Sprache vermögen sie jedoch transformiert weiterzuwirken. Stehen sie für das Unmittelbare schlechthin, so erweist sich ihre Wirkung dennoch, eine vermittelte zu sein. Die Gedanken des Mannes kehren die bisher vorherrschende Richtung, die von oben herab führte („Blize“, V 3; „Reegen“, V 7; „Und hoch 15

Aus Chaos entsteht das feste Gesetz (V 25).

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

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vom Aether bis zum Abgrund nieder“, V 24), um und weisen in die Höhe („Wenn hohes er entwarf“, V 29). Der Vergleichspunkt zur Gestalt des Dichters ist das Feuer; den Dichtern ist nämlich an „den Thaten der Welt“, d. h. den geschichtlichen Ereignissen (Französische Revolution, Napoleon . . . ), ebenfalls ein Feuer entzündet.16 Wer in der Geschichte handelt, bedarf des Feuers im Auge und damit des begeisternden und klaren Blickes, wer jedoch dichtet, dem muss das Feuer innerlicher werden und in die Seele reichen. Der Dichter überhöht nicht einfachhin die Taten der Geschichte in seinen Preisliedern, sondern steht vor der Frage, was ihm so innerlich werden kann, dass er es zu einer neuen Erzählung, einem neuen Narrativ zu gestalten vermag. Wenn aber Dichtung nicht bloß überhöhende Abbildung geschichtlicher Taten ist, stellt sich erneut die Frage nach ihrem Wesen. Sodann wird wiederum eine kleine Poetik, und zwar eine Poetik der Geschichte, entwickelt, die sich gegenüber jener der ersten Triade, der Poetik der Natur, als wesentlich komplexer ausnimmt. Die Poetik baut sich anhand folgender Wendugnen auf: „zuvor geschah“, „kaum gefühlt“ (V 32), „offenbar“ (V 33), „erkannt“ (V 35), „Erfrägst“, „im Liede“, „ihr Geist“ (V 37). Den Ausgangspunkt bildet ein Geschehen, das, noch bevor es Gegenstand der Reflexion ist, in einer ersten, noch nicht differenzierten Weise gefühlt wird. Danach wird es offenbar und kann erkannt werden. Bis dahin (d. h. bis zum Ende der vierten Strophe) geht der Prozess der Annäherung an die Geschichte in Gestalt der Reflexion. Die fünfte Strophe jedoch beginnt mit der Frage: „Erfrägst du sie?“ (V 37), die auf ein nochmaliges Fragen nach dem, was bereits Gegenstand der Erkenntnis bzw. der Reflexion war, zielt. Dies ist bereits Aufgabe des Dichters, wie sich im zweiten Teil des Verses zeigt, der mit „im Liede“ (V 37) beginnt und den Übergang von der Reflexion zum Gesang, von der Erkenntnis zur Dichtung markiert. In der Dichtung kann Erkenntnis als geistige („Geist“, V 37) zur Darstellung kommen. Die Poetologie wird im Rahmen eines theologischen Bildes entfaltet, das zunächst vom Übergang des nur Gefühlten zum Offenbaren („Ist offenbar erst jezt“, V 33) spricht, wobei die inhaltliche Dimension dieser Offenbarung im Sinne eines bestimmbaren etwas keine Ausführung findet. An ihre Stelle tritt vielmehr das logisch zusammenfassende was („Und was zuvor geschah [. . . ] / Ist offenbar erst jetzt“, VV 32 f.). Dies unterstreicht, dass die Passage, wie oben mit der Rede von einer Poetologie angedeutet, in allgemeiner Weise, nicht aber schon auf konkrete Inhalte hin gelesen werden muss. Zwei stärker inhaltlich geprägte Bilder tauchen ineinander verwoben danach aber doch auf: „Und die uns lächelnd den Aker gebauet, / In Knechtsgestalt, sie sind erkannt, / Die Allebendigen, die Kräfte der Götter.“ (VV 34–36) Der antikgriechische Hintergrund des Bildes ist die Strafe des Apollon für die Tötung der Kyklopen, die darin bestand, „als Knecht und Hirt dem König Admet“17 zu dienen. 16

Geschichte wird im Deutschen Idealismus nicht bloß als Sammlung empirischer Ereignisse verstanden, die in ihrer Beurteilung immer ambivalent sind, sondern als Freiheitsgeschichte. Es geht folglich um die Frage, inwiefern sich geschichtliche Ereignisse als Zeichen aufbrechender Freiheit interpretieren lassen. 17 KA 661; vgl. MA III, 143.

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In biblischer Tradition ist das Erscheinen göttlicher Kräfte in Knechtsgestalt ein Hinweis auf das Motiv der kénosis aus dem Philipperbrief (Phil 2,5–11). Die beiden Bilder haben ihre Gemeinsamkeit darin, das Göttliche in Gestalt einer Schwächung zur Darstellung zu bringen. Vorsichtig klingt damit der Gedanke an, dass sich Sprachwerdung (Poesie) und Schwächung des Göttlichen (kénosis) verschränken, ohne dass dieser Gedanke in der Feiertags-Hymne weiter verfolgt würde. Überlagert wird er in den folgenden Strophen von einem viel kraftvoller auftretenden Entwurf der Begründung der Dichtung, wobei der erste Vers der fünften Strophe – „Erfrägst du sie? im Liede wehet ihr Geist“ (V 37) – wie ein Scharnier zu beiden poetologischen Versuchen gehört, Dichtung eine Begründung zu geben. Einmal handelt es sich um dessen Abschluss (VV 32–37), einmal um den Beginn (VV 37–53). Anhand dieser doppelten Zugehörigkeit lässt sich bereits viel über den Charakter der beiden Versuche aussagen. Die Poetologie der Geschichte bzw. der Schwächung (VV 32–37) spricht nach mehreren vermittelnden Stationen an ihrem Ende, d. h. als Resultat, davon, dass der göttliche Geist im Lied wehe, wohingegen der darauf folgende Entwurf (VV 37–53) davon seinen Ausgang nimmt. Über eineinhalb Strophen (VV 37–49) wird ein kompliziertes Gefüge von Nebensätzen und Appositionen aufgebaut, das sich syntaktisch nur schwer auflösen lässt und dessen Wendungen nicht immer eindeutig zuzuordnen sind. Erfrägst du sie? im Liede wehet ihr Geist Das auch der Sonne, wie Blumen und dunkler Erd Entwächst, und Wettern, die in der Luft, und andern Die vorbereiteter in Tiefen der Zeit, Und deutungsvoller, und vernehmlicher uns Hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, Still endend in der Seele des Dichters, Daß schnellbetroffen sie, Unendlichem Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung Erbebt, und ihr, von heilgem Stral entzündet, Die Frucht in Liebe geboren, der Götter und Menschen Werk Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt.

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Subjekt des Satzes ist „ihr Geist“, wobei das Possessivpronomen „ihr“ auf die „Allebendigen, die Kräfte der Götter“ (V 36) aus der vorangehenden Strophe verweist: [. . . ] im Lied wehet ihr Geist Das auch der Sonne, wie Blumen und dunkler Erd Entwächst, und Wettern [. . . ] (VV 37–39)

Mit „Das“ (V 38) setzt ein Relativsatz ein, welcher das Lied genauer bestimmt. Reitani weist darauf hin, dass in der Handschrift „Entwacht“ statt „Entwächst“ zu

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lesen ist, was mit dem Motiv des Schlummers der ersten Triade korrespondiert.18 In beiden Fällen ist die Passage nicht einfach zu verstehen: Geht das Lied hervor (entwacht / entwächst es) aus der Sonne wie auch (d. h. und) aus den Blumen, der dunklen Erde und den Wettern? In dieser Lesart wäre die Sonne der wichtigste Ort des Hervorgangs des Liedes, ihm beigeordent mit „wie“ (verstanden als „und“) wären auch die Blumen, die dunkle Erde und die Wetter. Dabei wären Sonne und Wetter auf einer semantischen Ebene angesiedelt und bildeten (verbunden über ein „und“) den Rahmen, wohingegen der Verweis auf die Blumen und die dunkle Erde ein Einschub wäre, der sich auf einer anderen Ebene abspielt. Die Passage hätte demnach folgende Struktur: Sonne – Blumen und dunkle Erde – Wetter. Sonne und Wetter stünden dann für einen himmlischen Bereich, Blumen und Erde für einen irdischen. Dadurch würde bereits die Wendung „Himmel und Erd“ aus Vers 42 vorweggenommen und vorbereitet, dass das Lied in einem Bereich des Zwischen von Himmel und Erde entsteht. Oder aber ist „wie Blumen“ als ein Vergleich zu verstehen (der freilich der Ergänzung eines Kommas nach „Blumen“ bedürfte): Das Lied geht wie die Blumen aus der Sonne hervor (entwacht / entwächst aus ihr). Die Passage lautete dann: Wie die Blumen der Sonne, der dunklen Erde und den Wettern entwachen / entwachsen, so auch das Lied. In dieser Variante kehrte die Sphäre, die sich anfänglich als Natur gezeigt hat, nun in der Gestaltung des Weges zur Dichtung wieder. Die Blumen können dabei als Bild für Worte oder Sprache im Allgemeinen gelesen werden. In inhaltlichher Hinsicht scheinen beide Varianten nachvollziehbar. Die Unsicherheit über die genaue Zuordnung der einzelnen Worte (steht „wie Blumen“ auf derselben Ebende wie Sonne, Erde und Wetter und ist das „wie“ mithin im Sinen eines „und“ zu verstehen oder aber handelt es sich um einen Vergleich) resultiert aus der etwas vertrackten Form der Aufzählung oder Beiordnung einzelner Wendungen, wie sie der gesamte Passage von Vers 37 bis 49 eignet. Die in dieser Passage entwickelte Poetik beginnt sofort und ohne Vorbereitung mit der geistigen Dimension des Liedes, die in der zuvor ausgeführten Poetik (VV 32–37) erst am Ende steht. Die komplizierten, nicht ganz durchschaubaren Aufzählungen zeigen, dass die zweite der beiden Poetiken von Anfang an zu hoch zu greifen droht. Sie kann selbst noch nicht erfüllen, was sie an ihrem Beginn ausspricht; sie vermag sich nicht auf jener geistigen Ebene zu bewegen, die sie im ersten Vers ankündigt. Darin weist sie auf eine Problematik der Feiertags-Hymne überhaupt hin, die in der Gefahr steht (und diese Gefahr auch reflektiert), dass der Zugang zum Dichterischen zu rasch und zu sehr als eigenmächtige, intentionale Handlung erfolgt, der kein geistiges Geschehen korrespondiert. Betrachten wir die nächste Passage des Textes: und Wettern, die in der Luft, und andern Die vorbereiteter in Tiefen der Zeit, Und deutungsvoller, und vernehmlicher uns Hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern (VV 39–42) 18

Vgl. TL 1675.

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War die Witterung schon in der ersten Triade der entscheidende Begriff, der als Sphäre, aus dem das Gedicht lebt, bezeichnet wurde, so erfährt sie erneut eine ausführliche Fortbestimmung. Die Wetter differenzieren sich mittels eines Relativsatzes in solche, die in der Luft (wohl entweder in der Natur oder in der Ahnung, im Gefühl) und solche die in den Tiefen der Zeit (wohl in der Geschichte) uns hinwandeln (auf welche Wendung später noch zurückzukommen ist). Sie leiten damit von der Natur in die Geschichte über. und Wettern, die in der Luft, und andern [Wettern] Die vorbereiteter in Tiefen der Zeit, Und deutungsvoller, und vernehmlicher uns / Hinwandeln (VV 39–42)

Natur und Geschichte werden parallelisiert: Wie die natürlichen Wetter wandeln auch die geschichtlichen Wetter, d. h. die großen Ereignisse und Revolutionen, uns hin, und zwar in einer in den Tiefen der Zeit vorbereiteteren, deutungsvolleren und vernehmlicheren Weise. Die drei Komparative („vorbereiteter“, „deutungsvoller“ und „vernehmlicher“) sind adverbiell auf „Hinwandeln“ bezogen. Was in den Tiefen der Zeit vorbereitet war, drängt dazu, gedeutet und anschließend vernommen (d. h. mit Vernunft erfasst) zu werden, um schließlich zu einem Geschehen der Wandlung zu führen. Ähnliche Elemente wie in der vorangehenden Poetologie tauchen wieder auf: Vorbereitung, Deutung, Vernehmen, Wandlung (VV 32–37). Der extensive Gebrauch unüblicher Komparativformen legt ein stärkeres Gewicht auf das Geschehen in der Geschichte als auf das der Natur und bringt einen drängenden Charakter im Prozess der Wandlung zum Ausdruck. uns / Hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern (VV 41 f.)

Die Wetter führen uns, die Adressaten, zu einem Geschehen der Wandlung, welches sich zwischen Himmel und Erde, d. h. zwischen dem göttlichen und menschlichen Bereich, und in der Gemeinschaft der Völker ereignet. Das Geschehen der Wandlung, in welches wir inbegriffen sind und welches den Endpunkt des geschilderten Prozesses (Vorbereitung, Deutung, Vernehmen, Wandlung) darstellt, hat mithin eine religiöse und eine geschichtliche Dimension. Die Wendung „unter den Völkern“ ist im Satzgefüge nicht eindeutig zuordenbar, sie kann auch zu den folgenden Versen gezogen werden und als gleichrangig mit „im Liede wehet ihr Geist“ gesehen werden. Das aus zwei Hauptsätzen bestehende Gefüge lautete dann: im Liede wehet ihr Geist [. . . ] und unter den Völkern / Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, / Still endend in der Seele des Dichters, (VV 37–44)

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Das verbindende Motiv beider Hauptsätze wäre dann der Geist, der im Lied weht und als das die Völker vereinende Motiv in der Seele des Dichters (vgl. V 31) endet, d. h., in diese niedersteigt. Von dort aus muss er seinen Ausgang nehmen, um Gesang zu werden. Die beiden Varianten der Zuordnung von „unter den Völker“ können so dargestellt werden: uns / Hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern || Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, / Still endend in der Seele des Dichters, uns / Hinwandeln zwischen Himmel und Erd || und unter den Völkern / Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, / Still endend in der Seele des Dichters,

Der inhaltliche Unterschied der beiden Varianten ist nicht groß, eher sieht man daran den komplexen Prozess des Werdens von Dichtung aufgezeigt, der immer wieder in nicht auflösbare Uneindeutigkeiten führt. In der Seele des Dichters ist nach den komplexen Gefügen kurzfristig ein Ruhepunkt erreicht, ähnlich wie am Ende der ersten Strophe bei den Bäumen des Hains, die „In stiller Sonne stehen“ (V 9). Die Bewegung der Strophe hat damit ein Ende gefunden, wenngleich dieser Strophe ein Vers fehlt. Das Ende stellt somit keine Vollendung in Totalität dar, sondern vollzieht einen Bruch mit dieser Vorstellung. Wäre das Gedicht auch fertig geschrieben worden, würde doch dieser fehlende Vers in der mittleren Strophe die perfekte Struktur von neun Strophen zu neun Versen, die Strophen angeordnet in dreimal drei Gruppen, brechen. Der Satz reicht in die sechste Strophe hinüber und bildet einen mit „daß“ eingeleiteten Gliedsatz, welcher von den beiden Hauptsätzen in der fünften Strophe abhängig ist. Der Gliedsatz besteht selbst wiederum aus zwei Teilen: im Liede wehet ihr Geist, Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, / Still endend in der Seele des Dichters, Daß schnellbetroffen sie, Unendlichem / Bekannt seit langer Zeit, von Erinnerung / Erbebt, und ihr, von heilgem Stral entzündet, / Die Frucht in Liebe geboren, der Götter und Menschen Werk / Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt. (VV 37–49)

Nach den Kräften der Götter und des Geistes Gedanken, welche die Subjekte der beiden Hauptsätze darstellen, kommt es in der sechsten Strophe zweimal zu einem Subjektwechsel. Zunächst fungiert „sie“ (V 45; „ihr“, V 47), das zunächst auf die „Seele des Dichters“ (V 44) bezogen erscheint, und dann die in Liebe geborene Frucht, der Gesang, als Subjekt. Aus dem zweiten Teil der Strophe erfährt man, dass auch die mythologische Gestalt der Semele (V 51) das nicht genannte Subjekt des ersten Satzteils sein könnte, wohingegen mit der in Liebe geborenen Frucht Bacchus (V 53) gemeint ist. Die Bewegung reicht somit von der allebendigen Kraft der Götter über des gemeinsamen Geistes Gedanken und Semele zu Bacchus, dem Gott der Dichter. Die Nennung von Semele und Bacchus erfolgt erst gegen Ende der sechsten Strophe, sodass diese retrospektiv als eine Neuinterpretation des entsprechenden

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Mythos gedeutet werden kann. Zunächst mag man beim Erbeben der Erinnerung, die Unendlichem seit langer Zeit bekannt ist (VV 45–47), an die Anamnesislehre Platos denken.19 Das Getroffenwerden der Seele – auffallend ist die Häufung der Motive treffen, Blitz, Strahl, Gewitter – weckt die bereits seit unvordenklichen Zeiten bestehende Erinnerung auf. Diese kann, auch wenn das Motiv im Gedicht nicht explizit weiterverfolgt wird, als ein Moment in den Prozess des Werdens der Dichtung eingehen. Deutet man die Passage (VV 45–47) bereits ausgehend vom Mythos der Semele, so ist die Bekanntschaft mit Unendlichem wohl Chiffre für die Liebe der menschlichen Semele und des Zeus, der ihr in Menschengestalt begegnete. Semele erwartet ein Kind von ihm, Hera jedoch sät in ihr den Zweifel, ob tatsächlich Zeus ihr Geliebter sei, worauf Semele den Wunsch äußert, ihn in seiner Gestalt selbst zu sehen (VV 50 f.). Sein Blitz verbrennt sie (V 50), der Efeu löscht den Brand des Palastes, sodass ihr Kind gerettet werden kann. Zeus trägt es in seinem Oberschenkel weiter, um es schließlich als den Gott Bacchus (Dionysos), den Gott der Dichtung, zur Welt zu bringen (VV 52 f.). Er ist „Die Frucht des Gewitters“ (V 53). Liebrucks weist darauf hin, dass Hölderlin die Erzählung des Mythos modifiziert: „Die Hymne hat im Text einen anderen Mythos von der Semele. Diese hat den Dionysos zur Welt gebracht, ohne daß Zeus ihn erst noch in seinem Schenkel austragen mußte.“20 In Hölderlins Version wird Bacchus aus der Asche des Brandes, nicht aus dem Schenkel des Gottes geboren. Der Gesang, um dessen Entstehung es geht, ist nicht einfachhin Werk Gottes, sondern entsteht im Zwischenraum von Göttern und Menschen: „der Götter und Menschen Werk“ (V 48). „Die Frucht des Gewitters“ (V 53) erscheint als in Liebe geborene Frucht (V 48) – ein Anklang, der beim ersten Auftreten des Gewitters am Anfang des Gedichtes noch nicht möglich gewesen wäre und auf eine Entwicklung des Motivs hinweist: War es anfänglich das unfassbare Unmittelbare, das keine Frucht haben konnte, stellen Natur, Geschichte, Philosophie21 und Mythos eine Vorbereitung dar, die nun eine Form der Aufnahme des Gewitters durch den Menschen (in gewissen Grenzen freilich) als möglich erscheinen lassen. Ausdruck dafür ist der Gesang, von dem nun zweierlei ausgesagt werden kann: Erstens hat er in seinem Hintergrund die alles überwältigende Erfahrung des Gewitters (er ist „Frucht des Gewitters“, V 53) und damit eine unverfügbare Herkunft; andererseits ist er im Zwischenraum von Göttern und Menschen angesiedelt, damit er von beiden Zeugnis ablege und auch beide aus ihm neu entstehen. Gott offenbart sich dem Menschen im menschlich-göttlichen Gesang, in welchem (wie schon in M. G.) beide Seiten nicht in Konkurrenz stehen, sondern der das Werk beider ist. Es gelingt, „Götter und Menschen“ (V 48) innerhalb eines Verses zu nennen. Nicht geklärt ist dabei jedoch die Rolle, die dem Dichter in diesem Geschehen zukommt. Weiters ist zu fragen, ob dieser Mythos überhaupt geeignet ist, um die Bedeutung des Gesangs weiter zu entfalten – seine Aufnahme ins Gedicht verlangte eine Modifikation der ursprünglichen Erzählung, 19

Vgl. KA 661 f. Liebrucks, „Und“, 689. 21 Man denke an die Anspielung auf die Anamnesislehre (VV 45–47). 20

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

189

was freilich bereits als schöpferischer Akt angesehen werden kann. Dennoch bleibt die Frage, ob das Bild der Semele, die in jenem Geschehen zu Tode kommt, nicht zu stark ist und durch alle Modifikationen hindurch den Versuch, jenen Zwischenraum von Menschlichem und Göttlichen als Ursprung des Gesangs zu dichten, zersetzen muss.

Strophen VII–IX (VV 54–73) Die siebente Strophe benennt an ihrem Beginn eine Konsequenz aus dem vorher geschilderten Entstehen des Gesangs für dessen Hörererinnen und Hörer: Menschen können „himmlisches Feuer“ (V 54), das vorher nur in den Augen der geschichtlich wirkmächtig Handelnden und den Seelen der Dichter aufschien und das als Blitz Semeles Haus traf, ohne Gefahr trinken (VV 54 f.). Die Zeitangabe „jetzt“ (V 54) weist darauf hin, dass das Geschehen einer mythischen Vorzeit nun in der Gegenwart angekommen ist. Innerhalb eines kleinen, lediglich zwei Verse umfassenden Bildes gelingt es erneut, den himmlischen und den irdischen Bereich in ihrer Verbundenheit auszusprechen: Und daher trinken himmlisches Feuer jezt Die Erdensöhne ohne Gefahr.

55

An dieser Stelle könnte das Gedicht zu Ende sein: Natur, Geschichte, Philosophie und Mythos gehen in die Dichtung über, das primordiale gefahrvolle Geschehen hat sich beruhigt, ein Prozess der Wandlung ist eingetreten, die Menschen der Gegenwart können gefahrlos an dem, was vom Himmel gesandt wurde, teilhaben, Götter und Menschen werden wieder in einer Gemeinschaft genannt. Ungeklärt ist jedoch, wie bereits erwähnt, die Gestalt eines vermittelnden Subjektes, sei es der Landmann (V 2), der Dichter (V 16, 31, 44) oder aber eine Priesterin wie in Aus stillem Hauße senden . . . (V 9). Bislang haben derartige Figuren in der Feiertags-Hymne keine nennenswerte Rolle im Prozess der Entstehung des Gesangs gespielt. Allerdings sind Gestalten der Vermittlung in der Dichtung Hölderlins bereits zu stark hervorgetreten, als dass die Frage nach ihrer Bedeutung übergangen werden könnte. Tatsächlich taucht sie nach den beiden ersten Versen der siebenten Strophe auf und zeigt einen Einschnitt an: „Doch uns [. . . ] / Ihr Dichter!“ (VV 56 f.). Gleichsam als Sprecher der Dichter beginnt das Ich innerhalb eines Satzes mit einer klaren Bestimmung des Ortes, des Modus des Stehens und der Aufgabe (VV 56–60) der Dichter: Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk’ ins Lied Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen.

60

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Souverän greift der Dichter auf Motive zurück, die zuvor schon im Gedicht aufgetreten sind; einer langsamen Heranführung an das von ihm entworfene Bild, d. h. einer Darstellung jener Übergänge, die zu ihm führen, bedarf er nicht. Gegenüber der bis zum Verlust der Nachvollziehbarkeit der syntaktischen Struktur gespannten Entwicklung der Entstehung des Gesangs in den beiden vorangehenden Strophen nimmt sich die Schilderung der Gestalt des Dichters sehr klar aus. Als „Frucht des Gewitters“ (V 53) war Bacchus, der Gott der Dichtung, bezeichnet worden, folglich stehen auch die Dichter unter Gottes Gewittern. Allerdings fällt jegliche Vermittlung, sei es durch Natur, Geschichte, Philosophie oder Mythologie, weg, sind sie doch „mit entblößtem Haupte“ (V 57) unmittelbar den Wettern ausgesetzt. Der Vermittlungsraum der Sphäre erscheint als suspendiert: Aus dem Stehen „unter günstiger Witterung“ (V 10), dem unaufdringlichen, aber viel umfassenderen Raum, ist das Stehen „unter Gottes Gewittern“ geworden. Die Ausgeliefertheit an das Plötzliche der Blitze kann den Aufbau eines umgebenen Raums nicht ermöglichen. Eines solchen scheint es auch nicht zu bedürfen, vermag doch der Dichter – anders als Semele – „Des Vaters Stral [. . . ] mit eigner Hand / Zu fassen“ (VV 58 f.). Weil diese Botschaft so unglaublich klingt, wird – genau in der Mitte des Verses, in der Mitte der Strophe – die Aussage über „Des Vaters Stral“ durch die Wendung „ihn selbst“ bekräftigt (drei Wörter || „ihn selbst“ || drei Wörter). Der Dichter reicht, wie ein Priester zwischen Göttern und Menschen vermittelnd, diesen Strahl, schützend umhüllt und gewandelt ins Lied, dem Volk als „himmlische Gaabe“ (V 60). Nachdem in fünf Versen die Dichterrolle scheinbar fraglos und klar umrissen wurde, muss sich der Dichter doch zu deren Begründung äußern, was schließlich mehr Raum einnimmt, als die vorangehende Deklaration, nämlich sechs Verse (VV 61–66). Herz und Hände müssten schuldlos sein, dann würde der Strahl des Vaters „es“ (V 63), nämlich das Herz (diese Zuordnung ist bereits schwer zu erkennen), nicht versengen. Von einer derartigen Bedingung war im Pathos der Ansprache an die Dichter nicht die Rede. Im zweiten Teil der Antwort (VV 64–66) ist die anfängliche Klarheit endgültig gewichen. Das Herz erfährt sich als „tieferschüttert“ (V 64) und „Mitleidend“ (V 66) und muss seine Souveränität aufgeben. Die Gewitter sind nicht mehr abstrakte Wetter, sondern zeigen sich als von oben, aus dem Bereich Gottes, hochherstürzende Stürme (VV 65 f.), die das Nahen Gottes begleiten. Die Beteuerung, dass darin das Herz doch fest „bleibt“ (V 65) und, um mit einem bekannten Bild zu sprechen, wie die „Bäume des Hains“ (V 9) fest stehe, wirkt kaum mehr glaubhaft. Die „Leiden des Stärkeren“, d. h. des Göttlichen, mitzuleiden, vermag das Herz des Dichters nicht. Nicht erst mit dem klagenden Ruf „Doch weh mir!“ (V 67) setzt ein Umschwung ein, die Auflösung der Begründung der Rolle des Dichters als Priester hat schon zuvor begonnen. Der Dichter hat in der Deklaration seiner Rolle zu hoch gegriffen. Am Leiden Gottes war selbst Jesus zerbrochen, jene Compassion noch als ein Element in eine Poetologie einzubauen, kann wohl kaum gelingen. So wenig der Abbruch an dieser überspannten Stelle überrascht, so interessant ist doch das nur fragmentarisch ausgearbeitete Nachspiel, gleichsam der Epilog, den der scheiternde Dichter gibt. Nach der Unterbrechung durch den Ausruf „Doch weh mir!“ (V 67), der ihn aus dem Plural der Dichter (VV 56 f.) wieder auf den Singular

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

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seines Ichs zurückwirft, setzt er zu einer Erklärung an, die mit „wenn von“ (V 67) sofort wieder Bedingungen und Rücksichten aufmachen möchte. Diese Sprache der Reflexion ist ihm jedoch ebenso verwehrt wie die direkte Bezeichnung, worum es denn hier gehe („Und sag ich gleich,“, V 68). Er bricht diese Versuche ab, um dann nach einer Pause – einige Verse fehlen offensichtlich – wieder eine Sprache zu finden. Selbst auszusprechen, den Himmlischen nahe gekommen zu sein, um sie zu schauen, ist ihm nicht mehr möglich. Die auf die Himmlischen bezogene Wendung „Sie selbst“ (V 70) greift das auf des Vaters Strahl bezogene „ihn selbst“ (V 58) wieder auf, allerdings erhält es eine höchst ambivalente Bedeutung: die Himmlischen zu schauen, Sie selbst, || sie werfen mich tief unter die Lebenden die Himmlischen zu schauen, || Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden

„Sie selbst“ kann sich als Bekräftigung auf die Himmlischen zurückbeziehen, die der Dichter schauen möchte (V 69), verweist aber gleichzeitig auch voraus auf das Subjekt „sie“ (V 70), das die Himmlischen als diejenigen anspricht, die den Dichter „tief unter die Lebenden werfen“ (V 70). Er erscheint als falscher Priester (V 71), d. h. als einer, der sich ein Geschehen der Wandlung von Menschlichem und Göttlichem illegitimer Weise angemaßt hat. Der sich als Vermittler zwischen Göttern und Menschen stehend dachte, ist aufgrund des Verfehlens seines Maßes tief „unter die Lebenden“ (V 70) geraten, nämlich „ins Dunkel“ (V 71). War das Gedicht aus der Nacht hervor- und in den Morgen übergegangen, ist nun der Dichter in die Nacht zurückgekehrt, ohne dass er den Übergang von Dunkel und Licht begleiten könnte, der mit der Erwähnung der anfänglichen Morgenszene und dem Motiv des Erwachens aus dem Schlaf den Beginn des Gedichtes prägte (vgl. Strophen I–III). Damit ist jedoch das Ende des Gedichtes noch nicht erreicht. Der Dichter erhält im Dunkel eine Aufgabe, die er sich, anders als die zuvor entworfene Rolle des Dichters, nicht mehr selbst zuschreibt: Er solle den Gelehrigen, also denen, die bereit sind zu hören, „Das warnende Lied [. . . ] singe[n]“ (V 72). An einer Stelle, an der man es nicht mehr erwartet hätte, wird er nun tatsächlich zum Dichter ermächtigt, der eine Aufgabe erhält und eine Botschaft an die Menschen vermitteln soll. Im Dunkel möge er ein Lied singen, wodurch das Dunkel eine Gestaltung erfährt und nicht mehr bloß opaker Raum ist. Der Inhalt des Liedes ist zunächst weder die Natur noch die Geschichte noch die Mythologie, sondern das Verhältnis des Menschen zu Gott, das nicht in einem direkten und selbstmächtigen Aufstieg begründet liegt. Das Gedicht bricht mit dem Wort „Dort“ (V 73) ab, das einen neuen Vers beginnt, ohne diesen fortzuführen. Zwar endet das Gedicht abrupt und verfrüht, es ist jedoch der erste Schritt der sprachlichen Gestaltung eines Raumes gesetzt, der sich vielleicht zu einer Sphäre entwickeln kann. Zu mehr als einem Wort reicht es freilich in diesem Gedicht nicht mehr; immerhin ist ein Ort bezeichnet, von dem aus sich der Gesang wieder erheben kann. 

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

An den Rand des Blattes, neben die Verse 63–67, notierte Hölderlin eine Bemerkung, die eine theoretische Reflexion auf die Einsicht der abbrechenden letzten Strophen darstellt: Die / Sphäre / die höher / ist, als / die des / Menschen / diese ist / der Gott

Damit ist nicht allein eine Verhältnisbestimmung von Mensch und Gott ausgesagt, wie sie ausgehend vom Schluss des Gedichtes bereits deutlich geworden ist, sondern wird der Blick erneut auf den Begriff der Sphäre gelenkt. Sie erscheint in der im Diktum ausgesagten Trennung von Mensch und Gott als das verbindende Motiv, insofern sie sowohl auf Gott als auch auf den Menschen bezogen wird und ihre Verhältnisbestimmung ausdrückbar macht. In den folgenden Gedichten muss sich zeigen, ob es gelingen kann, Sphären zu dichten, in denen Gott und Mensch (und damit auch die Gestalt des Dichters) vorkommen und ihr Verhältnis entsprechend gewahrt bleibt. Diese Frage ist, wenngleich der Dichter mit dem Wort „Dort“ (V 73) einen ersten Anfang gemacht hat, den Gesang fortzuführen, keineswegs entschieden. Die Niederschrift von Wie wenn am Feiertage . . . fällt in jene Zeit, in der Hölderlin immer wieder die Arbeit an Der Abschied aufnimmt, wo er mit einem Auseinanderbrechen von göttlichem und menschlichem Bereich in Hass oder Furcht ringt. Nach dem Durchgang durch Wie wenn am Feiertage . . . können wir jedoch die Frage stellen, ob dieses Ringen und dieser Verlust vielleicht auch als die Verabschiedung eines bestimmten Bildes, einer bestimmten Konfiguration des Verhältnisses von Mensch und Gott gelesen werden können. Freilich sieht zunächst alles nach Verlust aus. Wenn dieser jedoch auch den Charakter einer Verabschiedung hat, kann daraus eine gewandelte Konfiguration hervorgehen?

Umfeld und Resonanzraum II Nach dem Abbruch in der achten Strophe („Doch weh mir, wenn von“, V 67) lässt Hölderlin auf Seite 33/17r des Stuttgarter Foliobuches einige Zentimeter frei und setzt mit jenen Partien, die man als Teil der neunten Strophe rekonstruieren kann, auf der folgenden Seite (34/17v) wieder an, aber nicht am oberen Rand, sondern nach etwa einem Drittel der Seite. Oben auf Seite 34/17v stehen drei Überschriften und darunter einige Worte: Die Rose. holde Schwester!

Die Schwäne.

Der Hirsch. Edles Wild!

Vermutet wird, dass die Niederschrift der Titel und der darunter stehenden Worte zuerst erfolgt ist und danach die als Teil einer neunten Strophe rekonstruierten Passagen (VV 68–73) sowie einige Verse aus An die Deutschen hinzugekommen

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

193

sind.22 Später wurden dann zwei neue Titel hinzugefügt und unter die Titel kurze Texte (in folgender Übersicht nicht wiedergegeben) eingetragen: Die letzte Stunde. Die Rose.

Die Schwäne.

holde Schwester!

Im Walde. Der Hirsch. Edles Wild!

Auf diese Weise drängen sich in die in der dritten Triade von Wie wenn am Feiertage . . . auftuende Lücke andere Texte hinein, die in Kolumnen nebeneinander geschrieben wurden. Die Kolumne, die unter Die Rose folgt, lässt sich kaum von dem Segment der neunten Strophe abgrenzen; was unter Die Schwäne geschrieben ist, wirkt hingegen wie eine autonome Insel. Der dritte Text, der gewöhnlich mit der Überschrift Im Walde wiedergegeben wird, ist der deutlich längste Text. Die von ihm ausgefüllte Kolumne schmiegt sich zuerst an den Text von Die Rose, dann an den darunter stehenden Text der neunten Strophe von Wie wenn am Feiertage . . . und schließlich an die noch weiter darunter stehenden Verse von An die Deutschen an. Lesen heißt in diesem Fall auch einen Raumeindruck wahrnehmen, Text ist als ästhetisches Ereignis gestaltet. Wie schützend legen sich die einzelnen Segmente um die Passage aus der neunten Strophe, die in der Mitte der Seite steht und doch klar erkennbar zu Wie wenn am Feiertage . . . gehört, begegnet man ihr doch fast wörtlich am Ende des Entwurfs (Wie wenn der Landmann . . . , VV 67–72). Wo der Dichter am deutlichsten in seiner Schwäche erscheint, hinabgeworfen in das Dunkel, das noch unter dem Wohnort der Menschen liegt, schützt ihn der Text, genauer einzelne Segmente, die sich um ihn sammeln. Es ist kein geschlossener Text, der zum umschließenden Behälter würde, sondern es sind einzelne kleine Entwürfe, die eine Umgebung aufbauen, in welcher die Passage, in der der Dichter in seiner höchsten Einsamkeit erscheint, nicht mehr allein wirkt. Sie geben ihren Anspruch auf, lediglich als selbstständige Texte gelesen und interpretiert werden zu wollen und stellen sich zur Verfügung, wieder ein Netz an Bedeutungen aufzubauen, wo zunächst alles ins unbezogene, deutungslose Dunkel zu münden schien. Sie springen stellvertretend dort ein, wo mit dem letzten Wort des Gedichtes, einem einzelnen „Dort“ (Wie wenn am Feiertage . . . , V 73), das Gedicht suchend nach einem Raum, der sich gestalten ließe, aufhört. Es muss auf andere Texte vertrauen, die wieder Bedeutung und Sinnzusammenhänge zu generieren vermögen. Die Segmente geben dabei ihre Eigenständigkeit nicht auf, es geht nicht um eine Form des Opfers. Vielmehr werden Teile von ihnen (vor allem Die Rose und Die Schwäne) später mit gewissen Modifikationen zum Text Hälfte des Lebens zusammengefügt. Im Folgenden werden die einzelnen Segmente betrachtet:

22

Vgl. MA III, 142–144.

194

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800 D IE ROSE

holde Schwester! Wo nehm ich, wenn es Winter ist Die Blumen, daß ich Kränze den Himmlischen winde? Dann wird es seyn, als wüßt ich nimmer vom Göttlichen, Denn von mir sei gewichen des Lebens Geist; Wenn ich den Himmlischen die Liebeszeichen Die Blumen im kahlen Felde suche und dich nicht finde.

5

Das Ich des Gedichtes kann als Dichter bezeichnet werden, ist es doch auf der Suche nach den Blumen, die bei Hölderlin bekanntlich zwischen Pflanze und Wort oszillieren. Der Dichter spricht die Rose als holde Schwester an und fürchtet, sie im „Winter“ (V 2) „im kahlen Felde“ (V 7) nicht zu finden. Die Suche nach den „Blumen im kahlen Felde“ (V 7) evoziert die dürftige Zeit und das Stoppelfeld aus An die Natur, die ausgehend von diesem Gedicht eine Gestaltung erfahren sollten. Die Kargheit motiviert die Frage, woher die Blumen zu nehmen seien, mit denen er den Himmlischen „Kränze“ (V 3) winden, und woher die Worte, die er zu einem Kranz, einem Lied, für die Himmlischen verbinden könne. Mit der Frage nach der Möglichkeit der Dichtung tritt auch die nach dem Göttlichen auf und zwar in einer Weiterführung von Wie wenn am Feiertage . . . Vom Göttlichen, das der Dichter in der Hymne dem Volk ins Lied gehüllt übergeben wollte, droht er nun selbst nichts mehr zu wissen: „Dann wird es seyn, als wüßt ich nimmer vom Göttlichen“ (V 4). Darüber hinaus stellt Die Rose auch einen Kommentar zu einer Passage aus der ersten Triade von Wie wenn am Feiertage . . . dar, welche dort im Rahmen der Gleichnisse, wo alles auf das Erwachen des Morgens hindrängte, beinahe untergegangen war: Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern So trauert der Dichter Angesicht auch, Sie scheinen allein zu seyn, doch ahnen sie immer. Denn ahnend ruhet sie selbst auch. (Wie wenn am Feiertage . . . , VV 14–18)

15

Den Zeiten des Jahres, in denen die Natur zu schlafen scheint, entspricht die Zeit des Winters (Die Rose, V 2) mit den kahlen Feldern (V 7) aus Die Rose. Der Dichter steht jeweils in einem engen Verhältnis zur aktuellen Gestalt der Natur. Seit An die Natur ist jedoch klar, dass sich, was den Menschen und seine Sprache betrifft, nicht mehr in Korrespondenz mit der Natur erneuert. Das in unmittelbarer Nähe der Feiertags-Hymne notierte Segment Die Rose lässt mit ihrem Verweis auf jene Passage aus der zweiten Strophe von Wie wenn am Feiertage . . . jedoch auch eine Gestalt der Hoffnung deutlich werden: Der Dichter kann motivisch an Worte und Bilder aus dem bereits Gedichteten anknüpfen. Nicht alles auf dem Weg, der zum Scheitern verschiedener Bilder geführt hat, ist gescheitert. Es zeigt sich auch einiges

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

195

Haltbares, das wieder aufgegriffen werden kann. Der Verlust ist nicht gänzliche Vernichtung. Freilich bestimmt sich damit die Rolle des Dichters neu: Nicht mehr des Vaters Strahl fasst er mit eigner Hand und bringt ihn in origineller Weise ins Lied, vielmehr nimmt er Bruchstücke der Sprache auf und gibt diesen eine neue Präsenz und eine neue Bedeutung. In der Ode Der Prinzessin Auguste von Homburg waren trotz winterlicher Zeit (V 3) noch Blumen am Wegrand zu finden gewesen, die der Dichter zum Schmuck gestalten konnte. [. . . ] da weilten noch Am Pfade Blumen, daß sie dir zur Blühenden Krone, du Edle, würden. (Der Prinzessin Auguste von Homburg, VV 6–8)

Genau dies sieht der Dichter in Zukunft in Frage gestellt: „Wo nehm ich, wenn es Winter ist / Die Blumen, daß ich Kränze den Himmlischen winde?“ (Die Rose, VV 2 f.) Wenn der Dichter keine Sprache mehr findet, die er den Himmlischen weihen kann, wird es in Zukunft so erscheinen, als wüsste er nicht mehr vom Göttlichen und könnte sich nicht mehr an es adressieren: „Dann wird es seyn, als wüßt ich nimmer vom Göttlichen“ (Die Rose, V 4). Vermag er am kahlen Feld die Blumen nicht mehr zu finden und folglich die Götter nicht mehr zu preisen, verliert das Dasein seine geistige Dimension: „Denn von mir sei gewichen des Lebens Geist“ (V 5). Um das Bewahren des Geistes geht es im Segment Im Walde: I M WALDE . Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger ist achtsamer auch und daß er bewahre den Geist, wie die Priesterin die himmlische Flamme, diß ist sein Verstand. Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen, der Güter gefährlichstes, die Sprache dem Menschen gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden, zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was er sei geerbet zu haben, gelernt von ihr, ihr Göttlichstes, die allerhaltende Liebe.

Es handelt sich um eine kurze Miniatur, welche auf Blatt 17v des Stuttgarter Foliobuches in einer Kolonne den gesamten rechten Rand ausfüllt, d. h. alle auf der Seite wiedergegebenen Segmente begleitet. Die Miniatur besteht aus zwei Sätzen, wobei der erste den Wohnort des Menschen dichtet. Die Hütte ist wie die äußere ihn umgebende Sphäre, die ihm einen Ort zuweist und den Aufbau einer Konstellation, in die er gefügt ist, ermöglicht. Das „Gewand“ umgibt ihn in einer noch innerlicheren Weise als die Wände und das Dach des Hauses. Wohnort und Gewand dienen der Bewahrung des Geistes, was durch einen Vergleich mit der Bewahrung der himmlischen Flamme durch die Vestalinnen unterstrichen wird. Dafür sind Verstand und Reflexion („diß ist sein Verstand“) nötig, nicht allein die Unmittelbarkeit des Gefühls oder der Anschauung.23 23

An dieser Stelle gilt es, ein Missverständnis in Bezug auf die Dichtung von Sphären abzuwehren. Wie wohl die Sphäre als umgebender Raum verstanden wird, welchen die Menschen bewohnen

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Diese Bilder können in einen Zusammenhang mit Wie wenn am Feiertage . . . gebracht werden: Der Mensch steht nicht „mit entblößtem Haupte“ unmittelbar „unter Gottes Gewittern“, um „Des Vaters Stral“ zu fassen (Wie wenn am Feiertage . . . , 56–58). Er wohnt in Hütten, die ihn vor den Wettern schützen, er bekleidet sich, um nicht dem Regen und dem Sonnenschein direkt ausgesetzt zu sein. Der Verstand kann vor der nicht aufnehmbaren Unmittelbarkeit, vor einer nicht mehr in geordnete Bahnen zu bringenden Begeisterung schützen. Nicht in der Unmittelbarkeit vermag der Geist bewahrt zu werden, vielmehr sind dafür Formen des Schutzes, d. h. der Vermittlung, nötig. Der zweite Satz ist der Sprache gewidmet und lotet dabei die Grenzen ihres kohärenten Zusammenhangs aus. Ich versuche, ihn im Folgenden durch eine bestimmte Aufteilung der Zeilen zu strukturieren: Und darum ist die Willkür || ihm und höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen || dem Götterähnlichen, der Güter gefährlichstes, die Sprache || dem Menschen gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden, zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was er sei geerbet zu haben, gelernt von ihr, ihr Göttlichstes, die allerhaltende Liebe.

Ihm, „dem Götterähnlichen“, „dem Menschen“ sind Willkür, die höhere Macht, zu fehlen und zu vollbringen, und die Sprache als der Güter gefährlichstes gegeben. Dreimal wird dabei auf den Menschen als Adressaten verwiesen; ausgehend vom unbestimmten „ihm“ wird er dann als der Götterähnliche bezeichnet, bis man schließlich erfährt, dass vom Menschen die Rede ist. Mit diesen drei Schritten sind drei Gaben verbunden: Dem als „ihm“ noch Unbestimmten ist die Willkür gegeben, die ein Moment seiner Freiheit ausmacht. Die höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen ist mit seiner Orientierung an Gott („dem Götterähnlichen“) verbunden. Mit dem gefährlichsten der Güter, der Sprache, ist dieser Weg abgeschlossen, und der Adressat der Gabe wird als Mensch bezeichnet. Nach der Dichtung seines Wohnortes, der Hütten, gibt der Text eine Bestimmung des Menschen über Freiheit, Moralität und Sprache wieder. Dichtung einer Sphäre, Subjektivierung und Sprachwerdung stehen erneut in engem Zusammenhang. Ein Finalsatz („damit“) bringt danach zum Ausdruck, worin die Bedeutung dieser Gaben liegt. Der Satz entfaltet sich in zwei Teilen, die jeweils mit „damit“ eingeleitet werden. Lässt man die untergeordneten Perioden weg und ändert die Wortstellung geringfügig, könnte man den Satz so zusammenfassen: können, ist die Sphäre nicht im Sinne eines geschlossenen Raumes zu verstehen, der nicht auch mit Verstand und Reflexion auf seine Grenzen, sein Außen und seine Durchlässigkeit befragt werden könnte.

4.2 Die Sphäre von Mensch und Gott: Wie wenn am Feiertage ...

197

Und darum ist Willkür und höhere Macht und Sprache dem Menschen gegeben, damit er ihr Göttlichstes, die allerhaltende Liebe, zeuge.

Die allerhaltende Liebe erweist sich als Zentrum und Ziel des Textes. Freiheit, Moralität und Sprache sind ambivalent – wenn sie nicht sogar gefährlich sein können – und erfahren ihre tiefste Bestimmung in der Liebe. Diese fasst einen Prozess zusammen, in welchem der Mensch als „schaffend, zerstörend“ sowie „untergehend und wiederkehrend“ vorkommt. Die beiden letzten Bestimmungen sind die des Übergangs, wie er in Das untergehende Vaterland . . . entfaltet wird. Die Wiederkehr zur ewiglebenden Meisterin und Mutter, wohl der Natur, ist nicht die Rückkehr in einen primordialen Raum, sondern ist mit einer genau bestimmten Aufgabe verbunden. Der Mensch möge die Liebe zeugen, sodass er das, was er ist, im Sinne eines Erbes übernimmt und auch als Gelerntes erkennt. Der Akt der Zeugung weist wohl auch auf die Sprache hin, ist mithin ein Akt sprachlicher Zeugung. Dieser hat seinen Grund, anders als in Wie wenn am Feiertage . . . , nicht mehr in der herausgehobenen Stellung der Dichter, die einsam mit entblößtem Haupt unter Gottes Gewittern stehen, sondern darin, dass die in Hütten Wohnenden, d. h. auf Bleibendes Achtenden („allerhaltende“), den Prozess der Sprachwerdung als einen der Liebe verstehen. Abschließend sei noch ein Versuch zum Titel angestellt: „Im Walde“ versetzt in eine landschaftliche Sphäre. Dabei wird der Blick vom Motiv des Waldes zu dem einer Ansammlung von Hütten gleitet, in welchen die Menschen als Sprachliche wohnen. Die Miniatur oszilliert zwischen Landschaft und Sprache und gibt der Botschaft der Gefahr aus Wie wenn am Feiertage . . . einen anderen Rahmen. Sie ist nun nicht mehr auf die Selbstüberschätzung des Dichters konzentriert, sondern in eine Sphäre des menschlich-sprachlichen Bewohnens von Welt integriert. Darin erscheint die Sprache als eine Macht, die gefährlich, aber auch schöpferisch ist und in der Liebe ihre Tiefendimension hat. Die Frage nach der Sprache wird von der individuellen Gestalt des Dichters gelöst und in einen philosophischen Horizont eingebracht. D IE S CHWÄNE . und trunken von Küssen taucht ihr das Haupt ins heilignüchterne kühle Gewässer.

Diese kleine für selbst stehende Miniatur hat in einem Naturbild die Dichtung zum Thema. Die Schwäne sind ein geläufiger Topos für den Dichter, beinahe formelhaft wird über viele Jahrhunderte auch die Wendung von der nüchternen Trunkenheit gebraucht und mit der Stimmung, aus welcher der Gesang des Dichters entstehen kann, in Verbindung gebracht.24 Begeisterung und Rationalität müssen im Prozess der Dichtung in ein Äquilibrium gebracht werden, was sich leicht auf Wie wenn am Feiertage . . . beziehen lässt, wo der Dichter in der siebenten Strophe zu sehr von der 24

Vgl. dazu ausführlich und mit vielen Belegen KA 836–839.

198

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Begeisterung überwältigt scheint. Hölderlin fügt dem Topos der nüchternen Trunkenheit etwas hinzu, indem er ihn mit dem Wort „heilig“ verbindet. Dichtung steht mithin in einen Raum des Heiligen hinein und kann an diesem auch scheitern. Wie die „kühlenden Blize“ (Wie wenn am Feiertage . . . , V 3) ist auch das Gewässer, in welches die Schwäne eintauchen, kühl. Das Heilignüchterne muss mit einer Form der Abkühlung verbunden sein, um in es eintauchen zu können, sonst führt es entweder zum Tod (Semele) oder zur Überheblichkeit (wie beim Dichter in Wie wenn am Feiertage . . . ). Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass der Kollektivbegriff „Gewässer“ ähnlich wie „Witterung“ (Wie wenn am Feiertage . . . , V 10) ein sphärischer Ausdruck par excellence ist. Einerseits kann er eine einzelne Wasseransammlung, andererseits die Verschiedenheit möglicher Wasseransammlungen, die eine gewisse Stabilität und ein Dauern haben, bezeichnen. Immer steht er für einen bestimmten Umfang an Wasser, nie für das abstrakte Element.25 Er meint ein Umgebendes, in dem der Schwan (wie die Vögel im Äther) lebt und in das er eintauchen kann. Aus dem Durchgang durch Wie wenn am Feiertage . . . und dem Versuch, dem Gedicht einen Resonanzraum zu geben, bleibt die Frage, ob die Dichtung einer Sphäre möglich ist, in welcher Gott und Mensch einander begegnen können. Man muss diese Frage nicht allein als eine religiöse Frage verstehen, die von der Beziehung des Menschen zu Gott handelt. Sie kann darüber hinaus und ohne die Annahme eines glaubenden Verhaltens auch als Stimulans für eine vertiefte Überlegung zum Wesen der Sphäre als sprachlichem Raum dienen.

4.3

Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

In zahlreichen Gedichten Hölderlins hat sich ein Gestus des Verlustes oder der Verabschiedung einer Gottes-Unmittelbarkeit angezeigt. In Wie wenn am Feiertage . . . wird diese Verabschiedung zum Inhalt, welchen der Dichter künftig ins Lied bringen soll. Nach mehreren Anläufen, in kleinen Poetiken das Werden von Dichtung und der Gestalt des Dichters zu dichten, erfolgt das eigentliche Zur-SpracheKommen des Dichters an jenem Punkt, wo er – seiner sonstigen Sicherheiten und Ansprüche beraubt – die Aufgabe erhält, von jener Verabschiedung der Gottesunmittelbarkeit zu singen. Die Frage, ob der daraus motivierte Gesang auch in der Dichtung Hölderlins selbst hörbar wird, hat in einem ersten Schritt auf die Umgebung geführt, welche Hölderlin für die Feiertags-Hymne gestaltet hat. Die Miniatur Die Rose greift Wie wenn am Feiertage . . . an diesem Punkt auf, wenn es heißt: „Wenn ich den Himmlischen die Liebeszeichen / Die Blumen im kahlen Felde suche und dich nicht finde.“ (Die Rose, VV 6 f.). In einem zweiten Schritt muss nach größeren Gedichtformen Ausschau gehalten werden, in denen jene Verabschiedung der Gottesunmittelbarkeit (in Verbindung mit der Frage nach der Sprach-Werdung des Dichters) einen Ausdruck erhält.

25

Vgl. Art. „Gewässer“, in: Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 6, 5368–5377.

4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

199

Die Spuren führen zur selten kommentierten Hymne Am Quell der Donau26 , deren experimentellen Charakter Böschenstein betont. Anders als die später entstandene thematisch verwandte Hymne Wanderung sei sie davon geprägt, noch auf der Suche nach einer „neuen Hymnenform“ bzw. „Dichtungsform“27 zu sein. Auch Ernst Bloch streicht den Aspekt des Werdens und des Neuen in diesem Gedicht heraus: Und Jugendlicht, produzierendes, das auch im uralt Geschehenden, als wäre es gar kein Uraltes, sondern Verkündigung, sich zu begegnen versteht, hält bei Hölderlin den Morgen in der Welt noch unter Verfinsterungen wach, mit der großen Hymne auf Ex oriente lux, auf den neuen und sprechenden Tag.28

Wie bei der Feiertags-Hymne kann man folglich von einem Gedicht des Übergangs sprechen, welches sich jenem Raum verpflichtet sieht, welchen Hölderlin in Das untergehende Vaterland . . . eröffnet hat.

... verlorener Ursprung (Prosaentwurf) In der erhaltenen Reinschrift umfasst die Hymne sieben Strophen, doch verweisen die Prosaentwürfe zum Gedicht sowie formale Überlegungen auf ein mögliches Fehlen zweier Strophen am Anfang. Folgende Rekonstruktion der Struktur des Gedichtes legt sich nahe: In vollständiger Ausführung würde der Text 117 Verse umfassen, aufgeteilt auf neun Strophen (drei Triaden) gemäß dem Schema [12–12]–15; 12–12–16; 12–12–14.29 Die folgenden Ausführungen beziehen sich zunächst auf den von Sattler auf Mitte Februar 1801 datierten Entwurf und zwar bis zu der Stelle, an der er inhaltlich mit der ausgeführten Reinschrift des Gedichtes korrespondiert.30

26

Vgl. Schwarz, Vom Strom der Sprache; StA 2.2, 686–698; KA, 842–849; MA III, 195–199; TL 1831–1834; Böschenstein, Von Morgen nach Abend, 13–25; Böschenstein, ‚Am Quell der Donau‘. Zusammenfassung des in der Arbeitsgruppe entwickelten Gedichtverständnisses, in: HJb 2000/01, 150–157; Guardini, Hölderlin, 46–51; Przywara, Hölderlin, 9 Liebrucks, „Und“, 721–729; vgl. auch Jakob Deibl, Schwächung und Sprach-Werdung. Gottes-Frage in Hölderlins Hymne Am Quell der Donau, in: HJb 2016/17, 190–209. Der folgende Beitrag folgt über weite Strecken dieser Auslegung des Gedichtes. 27 Böschenstein, Von Morgen nach Abend, 20, 23. 28 Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 136. 29 Vgl. BA IX, 196, StA 2.2, 691, KA I, 842 f. Die oben angeführten Zahlen beziehen sich auf die Versanzahl pro Strophe. 30 Vgl. BA IX, 119. Die Reinschrift datiert Sattler auf die erste Hälfte des Monats Juli 1802 (vgl. BA IX, 196), die Überarbeitung, die das Gedicht offensichtlich Carl Philipp Conz widmete, auf Anfang April 1803 (vgl. BA IX, 39–43).

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

A M Q UELL DER D ONAU . Dich Mutter Asia! grüß ich und fern im Schatten der alten Wälder ruhest, und deiner Thaten denkst, der Kräfte, da du, himmlischer Feuer voll und trunken ein unendlich Froloken erhubst, daß uns nach jener Stimme das Ohr noch jezt, o Tausendjährige tönet, Nun aber ruhest du, und wartest, ob vieleicht dir aus lebendiger Brust ein Wiederklang der Liebe begegne, mit der Donau, wenn herab vom Haupte sie dem Orient entgegengeht und die Welt sucht und gerne die Schiffe trägt, auf kräftiger Wooge komm ich zu dir (Am Quell der Donau, Prosaentwurf, MA I, 350)

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Der nur im Entwurf erhaltene Titel des Gedichtes gibt Anlass zu einer ersten Beobachtung, denn er verweist auf einen sich entziehenden Ursprung. Das Konzept setzt mit einem Gruß an das mütterliche Asien ein, erwähnt dabei aber die im Titel angekündigte Quelle, die eigentliche Mutter des Stromes, nicht. Von ihr wird der Blick vielmehr auf das andere Extrem, das hinter der Mündung und dem Meer sich erstreckende Land, gelenkt. Zudem lässt auch die Gestalt, in der das Gedicht heute begegnet, den „Ursprung“ in die Ferne rücken: Der Anfang des Textes ist nicht erhalten und lässt sich nur über eine nachträgliche Rekonstruktion anhand des Konzeptes erschließen. Beginnt man das Gedicht in der Reinschrift zu lesen, findet man sich mithin in einer Versetzung gegenüber allem anfänglich Ursprünglichen wieder, die eine bleibende Distanz zu ihm wahrt. Als geographischer Hintergrund dessen kann der nicht fassbare Ursprung der Donau nahe der Europäischen Wasserscheide gesehen werden. In den folgenden Zeilen wird der Orient als ruhender Ort der Erinnerung an die „Unmittelbarkeit des Göttlichen“31 in den Blick gebracht. Es geht um das Gedenken der Taten und Kräfte einer Zeit, in welcher Asia „himmlischer Feuer voll und trunken ein unendlich Froloken“ (VV 3 f.) erhob. Dessen Klang kann, mag der Orient auch zeitlich („Tausendjährige“, V 5) und räumlich „fern“ (V 2) sein, „noch jetzt“ (V 5) vernehmbar werden. Darin besteht Hölderlins Hoffnung. Wo aber vermag diese „Stimme“ (V 4) tiefster religiöser Innigkeit eine lebendige Aufnahme zu finden, so dass die Menschen zu ihrem „Wiederklang“ (V 7) würden?32 Gestalt dieses Echos kann nicht mehr die dionysische Trunkenheit („himmlischer Feuer“, V 3), sondern müsste die „Liebe“ (V 7) sein. Als Träger der Vermittlung jener Stimme tritt die Donau auf, welche „die Schiffe trägt“ (V 9). Sie ist einerseits die Verbindung von Westen und Osten („wenn herab vom Haupte sie dem Orient entgegengeht“, VV 8 f.) und setzt andererseits das gegenwärtige Europa und die religiöse

31 32

Pryzwara, Hölderlin, 99. Vgl. Ermunterung, V 1.

4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

201

Unmittelbarkeit der Frühzeit Asiens in eine Verbindung, indem sie „die Welt sucht“ (V 9).33 Drei Aspekte gilt es festzuhalten: 1) Wie in vielen späten Gedichten Hölderlins werden geographische zu theologisch-geschichtsphilosophischen Größen. Dabei handelt es sich nicht um bloße Metaphern, als ob Flüsse, Gebirge, Inseln und Landschaften Bilder für etwas anderes, etwa einen dahinterliegenden Sinn, wären. Vielmehr stößt sich die Beschreibung landschaftlicher Phänomene ab in Dichtung, sodass eine Oszillation aus Geographie und Poesie – Luigi Reitani spricht von einer „topographischen Differenz“, Karlheinz Stierle von „poetischer Geographie“34 – entsteht, aus welcher sich neue sprachliche Horizonte erheben können. 2) Der Abschied von jedem unmittelbaren Zugang zum Ursprung, von einem Wohnen an der Quelle, meint den Verlust religiöser Unmittelbarkeit und steht damit, wie Luigi Reitani bemerkt, geschichtsphilosophisch für den Eintritt in die Moderne: Für Hölderlin ist es das „‚Fehlen‘ Gottes, mit welchem sich das Zeitalter der Moderne eröffnet“35 . 3) Gleichzeitig kann hierin meines Erachtens auch ein (Wieder-)Einstieg Hölderlins in eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem christlichen Narrativ gesehen werden. Diesem zufolge gibt es, wie besonders das Johannes-Evangelium in immer neuen Variationen entfaltet, keinen unmittelbaren Zugang zu Gott, dem Vater und Ursprung: „Gott hat keiner gesehen jemals; (der) einziggezeugte Gott, der ist im Schoß des Vaters, jener legt (ihn) aus.“ (Joh 1,18) Jesus ist Vermittlung und Verweis auf den Vater und muss so auch als Verkörperung einer bleibenden Distanz zum Ursprung gesehen werden: „keiner kommt zum Vater, außer durch mich“ (Joh 14,6). Mit Bezug auf die Abschiedsreden im Johannes-Evangelium (Joh 13–16) kann vom Christentum als einer Religion gesprochen werden, in deren Zentrum der Abschied von einer ungebrochenen Gottes-Unmittelbarkeit steht.

Am Quell der Donau Im Folgenden ist jene Fassung des Gedichtes wiedergegeben, welche Hölderlin, wie in Vers 105 deutlich wird, Karl Philipp Conz widmete. Dieser war von 1789–1792 Repetent am Tübinger Stift und verfasste einige wohlwollende Rezensionen von Gedichten Hölderlins sowie vom Hyperion.36 Denn, wie wenn hoch von der herrlichgestimmten, der Orgel Im heiligen Saal, Reinquillend aus den unerschöpflichen Röhren, Das Vorspiel, wekend, des Morgens beginnt 33

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Zu Hölderlins Verständnis des Orients als eigenständiger geschichtsphilosophischer Größe neben griechischer Antike und Moderne vgl. Kocziszky, Hölderlins Orient. 34 Luigi Reitani, Ortserkundungen, Raumverwandlungen. Zur poetischen Topographie Hölderlins, in: HJb 2006/07, 9–29, hier: 24; Karlheinz Stierle, Dichtung und Auftrag. Hölderlins ‚Patmos‘Hymne, in: HJb 1980/81, 47–68, hier: 52. 35 Luigi Reitani, L’“errore” di Dio, TL, XXV–LXVII, hier: XLIX (Übersetzung J.D.). 36 Vgl. MA III, 707 f.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Und weitumher, von Halle zu Halle, Der erfrischende nun, der melodische Strom rinnt, Bis in den kalten Schatten das Haus Von Begeisterungen erfüllt, Nun aber erwacht ist, nun, aufsteigend ihr, Der Sonne des Fests, antwortet Der Chor der Gemeinde; so kam Das Wort aus Osten zu uns, Und an Parnassos Felsen und am Kithäron hör’ ich O Asia, das Echo von dir und es bricht sich Am Kapitol und jählings herab von den Alpen Kommt eine Fremdlingin sie Zu uns, die Erwekerin, Die menschenbildende Stimme. Und es faßt’ ein Staunen die Seele Der Getroffenen all und Nacht War oftmals über den Augen der Besten. Denn vieles vermag Und die Fluth und den Fels und Feuersgewalt auch Bezwinget mit Kunst der Mensch Und achtet, der Hochgesinnte, das Schwerdt Nicht, aber es steht Vor Göttlichem der Starke niedergeschlagen, Und gleichet dem Wild fast; das, Von süßer Jugend getrieben, Schweift rastlos über die Berg’ Und fühlet die eigene Kraft In der Mittagshizze. Wenn aber Herabgeführt, in spielenden Lüften, Das Abendlicht, und mit dem kühleren Stral Der freudige Geist kommt zu Der seeligen Erde, dann erliegt es, ungewohnt Des Schönsten und schlummert wachenden Schlaf, Noch ehe Gestirn naht. So auch wir. Denn manchen erlosch Das Augenlicht schon vor den göttlichgesendeten Gaben, Den freundlichen, die aus Ionien uns, Auch aus Arabia kamen, und froh ward Der theuern Lehr’ und auch der holden Gesänge Die Seele jener Entschlafenen nie, Doch einige wachten. Und sie wandelten oft Zufrieden unter euch, ihr Bürger schöner Städte, Beim Kampfspiel, an des Alpheus Bäumen Wo beschattet die glühenden Wagen des Mittags Und die Sieger glänzten und lächelnd die Augen des Richters. Ein unaufhörlich Lieben wars und ists.

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4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau Und wohl geschieden, aber darum denken Wir aneinander doch, ihr Fröhlichen am Isthmos, Und am Cephyß und am Taygetos, Auch eurer denken wir, ihr Thale des Kaukasos, So alt ihr seid, ihr Paradiese dort Und deiner Patriarchen und deiner Propheten, O Asia, deiner Starken, o Mutter! Die furchtlos vor den Zeichen der Welt, Und den Himmel auf Schultern und alles Schiksaal, Taglang auf Bergen gewurzelt, Zuerst es verstanden, Allein zu reden Zu Gott. Die ruhn nun. Aber wenn ihr Und diß ist zu sagen, Ihr Alten all, nicht sagtet, woher? Wir nennen dich, heiliggenöthiget, nennen, Natur! dich wir, und neu, wie dem Bad entsteigt Dir alles Göttlichgeborne. Zwar gehn wir fast, wie die Waisen; Wohl ists, wie sonst, nur jene Pflege nicht wieder; Doch Jünglinge, der Kindheit gedenk, Im Hauße sind auch diese nicht fremde Sie leben dreifach, eben wie auch Die ersten Söhne des Himmels. Und nicht umsonst ward uns In die Seele die Treue gegeben. Nicht uns, auch Eures bewahrt sie, Und bei den Heiligtümern, den Waffen des Worts Die scheidend ihr den Ungeschikteren uns Ihr Schiksaalssöhne, zurükgelassen Ihr guten Geister, da seid ihr auch, Oftmals, wenn einen dann mein Konz die heilige Wolk umschwebt, Da staunen wir und wissens nicht zu deuten. Sie aber würzen mit Nectar uns den Othem Und dann frohloken wir oft oder es befällt uns Ein Sinnen, lieben sie aber einen zu sehr Er ruht nicht, bis er ihrer einer geworden. Darum, ihr Gütigen! umgebet ihn leicht, Damit er bleiben möge, denn noch ist manches zu singen, Jetzt aber endiget, seeligweinend, Wie eine Sage der Liebe, Mir der Gesang, und so auch ist er Mir, mit Erröthen, Erblassen, Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Das Wort aus dem Osten und die menschenbildende Stimme (VV 25–42) Der erste Abschnitt der Reinschrift des Gedichtes besteht lediglich aus einem Satz, der über die Strophengrenze hinausreicht. Eingeleitet mit „Denn“ (V 25) setzt eine Begründung ein, welche die Gestalt eines Gleichnisses („wie wenn“, V 25 – „so“, V 35) im Stil Homers hat.37 Der Beginn ist mithin ähnlich wie in Wie wenn am Feiertage . . . , nur handelt es sich dort primär um Naturbilder, während es hier um Klangbilder geht. Nicht leicht zu sehen ist allerdings, was begründet werden soll („Denn“, V 25) und welche Funktion das Gleichnis hat. Mit Blick auf den Prosaentwurf kann man vermuten, es gehe um die Rolle der Donau als Vermittlerin der Epochen und als Verbindung der unterschiedlichen geographischen und kulturgeschichtlichen Räume. Diese Verbindung wurde in den ersten Zeilen des Konzeptes bloß behauptet und soll nun in langsamer gedanklicher Entwicklung ausgeführt werden. Wo der Ursprung nicht zugänglich ist, kann vielleicht nur mehr in der Gestalt des Gleichnisses gesprochen werden. Das Sprechen in Gleichnissen hebt sich vom Rückgang auf einen Ursprung, auf eine arché dadurch ab, dass es konstitutiv zwei in Beziehung zu setzende Seiten hat. Diese lassen einen neuen Bedeutungsraum, eine neue Ordnung entstehen, die nicht auf ein ihr vorgängiges Ursprungsmotiv zurückgeführt werden kann. In diesem Fall handelt es sich um ein Gleichnis, das aus der griechischen Welt geborgt ist, welche zwischen der orientalischen Frühzeit und der hesperischen Moderne steht. Im ersten Teil des Gleichnisses (VV 25–35)38 folgen drei Motive aufeinander: das Strömen des (Orgel-)Klangs (VV 25–30), ein dadurch ausgelöstes Erwachen (VV 31–33) und die chorische Antwort auf das Geschehen (VV 33–35). Am Beginn steht die Annäherung an das Phänomen des Strömens. In einer herabführenden Bewegung strömt der Klang aus unerschöpflichen Röhren, d. h. einer nicht versiegenden, erhabenen Quelle, in den heiligen Saal und breitet sich aus. Dass die Orgel herrlich gestimmt ist, mithin ihr Maß in sich trägt, deutet auf den Charakter eines guten Anfangs hin. Damit nimmt Hölderlin erneut, wenn er darangeht, ein ursprunghaftes Geschehen darzustellen, eine Verschiebung vor: Nach dem Bild der Quelle der Donau und dem Ursprung der Stimme in Asien wird wieder ein neues Bild aufgebaut. Ein Sprechen vom Ursprung ist nur in immer neuen Versetzungen möglich. Das Strömen des Klangs ist noch nicht gemischt mit anderem („Reinquillend“, V 27), hat mithin Ursprungsqualität und ist als solches nicht fassbar und begrifflich fixierbar. Es geht vorerst allein darum, den Moment des Werdens als solchen zu beschreiben, ohne dass dieser schon auf bestimmte Objekte, die entstünden, gerichtet wäre. Weder gibt es an dieser Stelle bereits eine Subjekt-Objekt-Spaltung, wie sie für sämtliche Akte des Bewusstseins, des Handelns und Herstellens kennzeichnend ist, noch eine Sukzession einzelner Schritte. Vielmehr finden sich in Vers 28 vier Wortverbindungen nebeneinander, welche sich alle an dem das Werden cha37

Für diesen Hinweis danke ich Martin Voehler und Alfred Dunshirn. Vgl. Wolfgang Schadewaldt, Hölderlin und Homer. Zweiter Teil, in: HJb 1953, 1–53, hier: 45–50. 38 Vgl. Bennholdt-Thomasen / Guzzoni, Analecta Hölderliniana I, 42–47.

4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

205

rakterisierenden Übergang von Sein und Nichts halten: „Vorspiel“, „wekend“, „des Morgens“, „beginnt“ (sowie „Hell aufgeht“ in V 27 in einer anderen Textvariante). Hölderlin schreibt damit auch dieses Gedicht in den von Das untergehende Vaterland . . . eröffneten Horizont ein. Im unerschöpflichen Strömen zeigt sich sodann eine erste Veränderung an: Aus dem Reinquillenden vermögen Qualitäten zu entstehen, nämlich „erfrischend“ und „melodisch“ (V 30), wobei letztere Eigenschaft auf eine erste Form der Strukturierung hinweist. Es geht um einen Vorgang der Öffnung der Wahrnehmung, welche in weiterer Folge Qualitäten in ihrer Reichhaltigkeit und Ordnung erfahrbar werden lassen soll. Die Bewegung des erfrischenden melodischen Strömens führt zum Erwachen des Hauses (VV 31–33), welches eine erste umschließende und bleibende Sphäre (oíkos) darstellt, von der auch die weitere Entwicklung ausgeht. Zunächst stößt sich eine aufsteigende Gegen-Bewegung ab, die schließlich den Charakter der Antwort auf die klanglichen Phänomene vom Anfang der Strophe annehmen kann (VV 33–35). Der entsprechende Satzteil weist zum ersten Mal im Gedicht auf eine Genese von Subjektivität hin, die von den leblosen („kalten“, V 31) Schatten (der Unterwelt) zum begeistet-begeisterten „Chor der Gemeinde“ (V 35) führt. Aus dem Strömen konstituiert sich ein Antworten im Chor, d. h. ein Zurückströmen, dem Reinquellenden entgegen. So finden wir in elementarster Weise Ausgang und Rückgang, d. h. eine Form von Reflexion, in der sich der Chor als reflektierendes Subjekt konstituiert. Durch diese Gegenbewegung fällt auch ein neues Licht auf das anfängliche, nicht fassbare Strömen, das nun rückblickend in eine Ordnung integriert erscheint. Es geht an dieser Stelle um die Ausbildung einer Struktur des unverfügbaren Verströmens einerseits und der responsiven Geste andererseits. Das Wort „so“ (V 35) leitet über zum zweiten Teil des Gleichnisses, welcher anders als die zeitlose Struktur im ersten Teil geschichtlichen Charakter hat, wie die Verwendung des Präteritums anzeigt: „so kam / das Wort aus Osten zu uns“ (VV 35 f.). Damit werden zwei bedeutsame Entwicklungen ausgesprochen: der Eintritt aus dem geschichtslos Mythischen in die Geschichte und das Werden der Sprache. Vorbereitet durch die bisher geschilderten klanglichen Phänomene tritt die Sprache auf, die uns erreicht und zur Sprache kommen lässt. Dabei ist noch nicht von einzelnen sprechenden Subjekten die Rede, sondern wird erst der Weg der Sprache beschrieben, der von Osten über die Stationen Griechenland und Rom (benannt werden ihre heiligen Orte39 ) in das Gebiet nördlich der Alpen führt (VV 35–42). In der dem Flusslauf der Donau entgegengesetzten Richtung gelangt die „menschenbildende Stimme“ (V 42) zu uns, wobei die Erwähnung Letzterer den Abschluss und Höhepunkt dieses ersten Abschnittes des Gedichtes bildet. Nicht haben die Menschen unter anderem auch die Fähigkeit zu sprechen, sondern ist es das Wort, welches sich in die vielen Stimmen der einzelnen Menschen bricht. Nach Guardini „handelt es sich [. . . ] um ein besonderes, von einer besonderen Stimme gespro-

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Vgl. KA, 845 f.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

chenes Wort, durch das [. . . ] der Mensch erst zum eigentlichen Menschen wird“40 : Sprach-Werdung als Mensch-Werdung. Zwei Motive müssen besonders hervorgehoben werde: 1) Das „Echo“ (V 38) Asias hat eine nicht einordenbare, fremde Gestalt („Fremdlingin“, V 40) und erreicht uns als ein von Station zu Station schwächer werdender Wiederhall, der dennoch eine erweckende Kraft entfalten kann (V 42). Das Motiv der Kulturwanderung41 von Osten nach Westen erscheint nicht in der Gestalt des Aufstiegs, sondern als ein Verlust der Innigkeit und Unmittelbarkeit, der Schwächung und dabei gerade des Aufgangs eines (neuen) sprachlichen Horizontes. Mit Bezug auf die Prosaeinleitung bedeutet dies, dass die Sprache aus einem sukzessiven Verlust der Unmittelbarkeit göttlicher Präsenz hervorgegangen ist. 2) Schien es anfänglich so, als könnten wir uns dem mächtigen Strom der Donau folgend dem Orient annähern, so hat sich diese Bewegung umgekehrt und gewandelt. Die Sprache erweist sich als das schwache verbindende Band, das uns von Osten her erreicht. Der geographische Ort ihrer Ankunft hat überdies eine zeitliche Komponente, insofern es sich auch um einen Weg in unsere Zeit, die Epoche der Moderne, handelt. Zwei Fragen stellen sich: Wie kann für die Sprache, die „herab von den Alpen“ (V 39) sich bricht, ein Ort der Aufnahme vorbereitet werden? Welche Bedeutung kann das Religiöse am Ende dieser Wanderung noch haben?

Die Transformation des Religiösen (VV 43–62) Verglichen mit der Komplexität des ersten Satzes ist der zweite (VV 43–45) kurz und einfach gebaut. Er nennt die Konsequenzen aus der Translatio der Sprache, kann diese allerdings nur andeuten: Ein Staunen erfasste die in der Seele getroffenen Menschen; über die Augen der Besten brach Nacht herein. Was lässt die Menschen erstaunen und wer sind die Besten? Eingeleitet mit „denn“ setzten die Verse 46–50 zu einer Deutung an. Während der erste Teil des Satzes noch gänzlich unbestimmt ein weitreichendes Vermögen ausspricht („Denn vieles vermag“, V 46), nennt der zweite Teil in Anklang an das erste Stasimon der Antigone drei Urgewalten, die mit Technik bezwungen werden: Feuer, Fels und Wasserflut. Erst am Ende dieser Periode wird mit „der Mensch“ das Subjekt des Satzes ausgesprochen. Ihn kann auch, wie im Nachsatz hinzugefügt wird (VV 49 f.), die Gewalt des Schwertes nicht überwältigen. Mit „aber“ scheint in den folgenden Versen (VV 50–56) ein Gegensatz zu dem zuvor geschilderten Vermögen der Menschen angezeigt zu werden: „aber es steht / Vor Göttlichem der Starke niedergeschlagen“ (VV 50 f.). Es legt sich nahe, die Starken (vgl. V 80) und die Besten (V 45) mit den vom Staunen Getroffenen (VV 43 f.) zu identifizieren. Als der von Gott Getroffene ist der Mensch der Starke, der Beste, aber gleichwohl nie-

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Guardini, Hölderlin, 47. Ähnlich Bart Philipsen, Gesänge (Stuttgart, Homburg), in: Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 347–378, hier: 351. 41 Vgl. KA, 843–845.

4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

207

dergeschlagen. Aufgrund seines technischen Weltumgangs42 bzw. der Hybris der Selbstsetzung43 kann er die Eröffnung der Sprache nicht fassen, über ihn kommt Nacht (VV 44 f.). Die Menschen schlummern wie das Wild „wachenden Schlaf“ (V 61) und können die „göttlichgesendeten Gaben“ (V 63) nicht empfangen, wohingegen „einige wachten“ (V 68), womit wohl auf Sokrates am Ende des Symposions (223 b–d) und Jesus am Ölberg (Mt 26,36–46) angespielt sein dürfte.44 Diese Interpretation lässt sich konsequent bis zum Ende der Hymne weiterführen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein Gedicht, welches die Möglichkeit verabschiedet, beim Ursprung seinen Ausgangspunkt zu nehmen, und in ein Spiel von Versetzungen führt, in einer so eindeutigen und bruchlosen Interpretation abgebildet werden kann oder seinen Gehalt erst dort offenlegt, wo der Versuch einer direkten und eindeutigen Identifizierung seiner sprachlichen Bilder, d. h. der Versuch einer Herausarbeitung ihres realen Gehaltes (Was ist gemeint? Wofür stehen die Getroffenen, die Besten, das Wild? Wie lassen sich die Verweise auf Antigone, Symposion und Evangelien auflösen?), verlassen wird. Das Gedicht würde dann nach alternativen Leseweisen verlangen, die auch möglich sind. Darin zeigte sich das Schöpferische eines Weltzugangs, dem der Rückgang (metaphysisch, religiös, literarisch-hermeneutisch) zum Ursprung nicht mehr unmittelbar möglich ist, der aber gleichwohl nicht aufhören kann, von diesem Ursprung zu sprechen. Es ginge dann um die Gewinnung von Bedeutung und deren Versetzung, um die Gewinnung von Bedeutung in der Versetzung, sodass ein Zwischen-Raum produktiver Uneindeutigkeit als ein drittes, sich jeglicher binärer Opposition entziehendes Moment entstünde. Mit Bezug auf ein Wort des Gedichtes, auf das später noch einzugehen ist, könnte man dies das Geistige nennen: „Der freudige Geist kommt zu / Der seeligen Erde.“ (VV 59 f.) Im Folgenden sei eine Lektüre vorgeschlagen, die sich von der geschilderten Eindeutigkeit immer wieder abstößt. Dabei gehe ich von dem in der Einleitung erwähnten Diktum Binders aus, dass Gott und Mensch in dem, was sie bedeuten, bei Hölderlin je neu zur Disposition stehen und sich ihre Bedeutung nicht unabhängig voneinander erschließen lässt. Mit dem Verlust der Unmittelbarkeit des Göttlichen und der Ankunft der Sprache als der zunächst Fremden (VV 39 f.) ist das bisherige Verständnis von Gott und Mensch erschüttert. Sie müssen sich in ihrer Bedeutung neu konstituieren, was im ersten Satz nach dem Gleichnis zum Ausdruck kommt. Dass sie dort lediglich in undeutlicher Anspielung auftreten, soll wohl den Anschein eines vorschnellen Wissens um ihre Bedeutung vermeiden: Und es faßt’ ein Staunen die Seele Der Getroffenen all und Nacht War oftmals über den Augen der Besten.

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Vgl. TL 1833. Vgl. Adorno, Parataxis, 447–491, hier: 485. 44 Für diesen Hinweis danke ich Martin Voehler. 43

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Die von der Sprache getroffenen Menschen staunen, d. h., sie öffnen die Augen weit ob des sich – in der Sprache – erschließenden Reichtums der Welt. Über die Augen der Besten, nämlich der Götter, breitet sich hingegen Finsternis; sie erweisen sich als der neu anhebenden Sichtweise der Welt nicht mehr entsprechend. Auch im nächsten, erläuternden Satz begegnen Menschen und Götter in derselben Reihenfolge: Denn vieles vermag Und die Fluth und den Fels und Feuersgewalt auch Bezwinget mit Kunst der Mensch Und achtet, der Hochgesinnte, das Schwerdt Nicht, aber es steht Vor Göttlichem der Starke niedergeschlagen,

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Aufgrund seiner Sprachlichkeit ist der Mensch der Vermögende, während der Starke niedergeschlagen steht und die unmittelbare (starke) göttliche Präsenz zerbricht. Das Göttliche (VV 51), vor dem die bisher manifesten, starken Göttergestalten niedergeschlagen erscheinen, ist die Sprache, das alles durchdringende und jede Unmittelbarkeit des Seienden aufhebende Element.45 Ihr gegenüber erweisen sich die bisherigen göttlichen Manifestationen als depotenziert.46 Das sich verändernde Verhältnis von Gott und Mensch wird sodann in einem Naturgleichnis (VV 52–62) entfaltet, das entsprechend den Tageszeiten (Früh, Mittag, Abend, Nacht) verschiedene Intensitäten des Gottesbezugs veranschaulicht. Ähnlich dem Wild47 (VV 52–56) sind die Götter nicht in die Sphäre der Sprache eingegangen, die Begegnung mit ihnen bedeutet nicht Sammlung im Wort (lógos), sondern getriebenes und rastloses Umherschweifen. Die Jugendlichkeit („Von süßer Jugend getrieben“, V 53) geht zwar über in die Kraft der „Mittagshizze“ (V 56) und verweist auf den Höhepunkt eines sich plastisch (in der Kunst) vermittelnden Göttlichen in der Antike, diese Darstellungsweise weicht jedoch der Nacht: „und schlummert wachenden Schlaf“ (V 61, vgl. auch VV 44 f.). So droht es auch uns zu ergehen („So auch wir.“, V 62), zumal die neue Wahrnehmung des Gottesbezugs noch nicht ausgeprägt ist. Stärke kann nicht mehr als das Paradigma der Religion gelten. Das Göttliche selbst erfährt eine Transformation: von der Unmittelbarkeit seines Auftretens in der Antike zu einer sprachlichen Gestalt, die auf eine Genese zurückblickt. In seiner sprachlichen Gestalt bestimmt sich das Göttliche selbst zur Vermittlung – in den Worten von Bart Philipsen: „die Apriorität der Sprache stemmt sich [. . . ] wider die 45

Für diesen Hinweis danke ich Friedrich Kern. Auch Guardini betont das Göttliche der Sprache: Das „Wort ist kein bloßes Sinnzeichen oder Verständigungsmittel, sondern eine Macht, ein Wesen“ (Guardini, Hölderlin, 47). 46 An dieser Stelle lässt sich eine Parallele zum Übergang von Kunstreligion zu offenbarer Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes ziehen. Im Rückblick auf die Komödie, welche jeden substantiellen Gehalt zerlacht, spricht Hegel von der „Kraft des Geistes, dem aus der Zermalmung der Götter und Menschen die Gewißheit seiner selbst hervorging“ (PhdG, 547). 47 Zur Bedeutung des Wildes bei Hölderlin vgl. Tobias Christ, Die ‚ruinöse‘ Textstruktur von ‚Lebensalter‘, in HJb 2014/15, 157–161.

4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

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Sehnsucht des individuellen Ichs nach einer Unmittelbarkeit des Göttlichen bzw. nach einer identifikatorischen Vermittlung des Heiligen“48 . Die Transformation des Gottesbezuges findet im Gedicht auch eine theoretische Reflexion, welche sich in das Gleichnis vom Wild einschiebt: [. . . ] Wenn aber Herabgeführt, in spielenden Lüften, Das Abendlicht, und mit dem kühleren Stral Der freudige Geist kommt zu Der seeligen Erde, dann erliegt es, ungewohnt Des Schönsten und schlummert wachenden Schlaf, Noch ehe Gestirn naht. So auch wir. [. . . ]

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Der veränderte Charakter des Gottesbezugs deutet sich durch die einleitenden Konjunktionen „Wenn aber“ (V 56) an, die eine hypothetisch-entgegensetzende, und damit reflektierende Passage vorbereiten. Das „aber“ hebt den Satz vom zuvor geschilderten Bild der Stärke des Wildes ab, betrachtet wird die Weise des SichNahens des Göttlichen, sein Übergang in die Welt der Menschen. Wesentlich ist dabei der Abschnitt der Verse 57–60. Herabgeführt [. . . ] Das Abendlicht, und mit dem kühleren Stral Der freudige Geist kommt zu / Der seeligen Erde

Den äußeren Rahmen dieser Passage bildet das Motiv der Herabkunft, den inneren Rahmen stellen – an den Beginn zweier aufeinanderfolgender Verse gesetzt – „Abendlicht“ und „Geist“ dar. In Gestalt des Geistes gelangt das Abendlicht, in einer anderen Version das „heilige Licht“, auf die Erde, die deshalb selig genannt werden kann. In der Mitte dieser Passage, zwischen Abendlicht und Geist, findet sich ein Wort über den Modus des Übergangs vom Göttlichen zum Menschlichen, ausgedrückt mit dem Motiv des Strahls: „mit dem kühleren Stral“ (V 58). Anders als in Wie wenn am Feiertage . . . ist es nicht mehr der Dichter, welcher den Strahl mit eigener Hand erfassen und ins Lied gefasst den Menschen weiterreichen möchte. Am Quell der Donau nimmt sich dagegen viel bescheidender und gleichwohl komplexer aus: Die Rolle der Vermittlung wird zunächst mit dem Landschaftsbild der Donau, die Offenbarung mit einem „kühleren Stral“ (V 58) beschrieben. Die Schwächung, welche sich im Übergang vom einen zum anderen Gedicht eingestellt hat, vollzieht sich auch in letzterem selbst. Dies zeigt sich in mehrfacher Hinsicht, etwa in der Entwicklung von den himmlischen Feuern in den ersten Zeilen des Prosaentwurfs über die Stationen des Wegs der Sprache in Richtung Westen bis zu ihrer Ankunft oder auch anhand der mit den Tageszeiten in Verbindung gebrachten Intensitäten des 48

Bart Philipsen, Gesänge (Stuttgart, Homburg), in: Handbuch, 347–378, hier: 352.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Gottesbezugs im Gleichnis vom Wild. Ein weiterer Hinweis auf jene Schwächung findet sich in der Änderung vom „heilige[n] Licht“ zum milderen „Abendlicht“ in Vers 58.49 Noch in einer anderen Hinsicht erscheint die zitierte Stelle vom „Abendlicht“ und dem „kühleren Stral“, die beide auf eine Schwächung hinweisen, als bedeutsam. Setzt man die mit neun Strophen rekonstruierte Struktur der Hymne voraus, findet sie sich im 58. Vers des insgesamt 117 Verse umfassenden Gedichtes, also unmittelbar vor jenem Vers, der die Hälfte des Gedichtes markiert: „Der freudige Geist kommt zu“ (V 59) der seligen Erde.50 Die Ankunft des Geistes bildet die Mitte des Textes, die Schwächung der Unmittelbarkeit des Göttlichen geht ihr voraus.

Verabschiedung antiker Bilder der Religion (VV 62–91) Die neue Gestalt göttlicher Offenbarung, ihr abgeschwächter Charakter, ist bisher erst in einem Einschub (VV 58–60) theoretisch reflektiert worden, hat aber noch keinen neuen Adressaten und keine mit ihr einhergehende affektive Kultur angestoßen. Zuerst müssen die antiken, bisher manifesten Bilder der Religion verabschiedet werden. Erst aus diesem Akt, der nichts mit einem jähen Abbruch oder einer Distanzierung zu tun hat, kann in „Treue“ (V 99) zu diesen nun zu Momenten einer Entwicklung gewordenen Bildern etwas Neues entstehen. Ohne Treue gleicht man den „Entschlafenen“ (V 67), von denen es im ersten Teil des Abschnittes (VV 62–67) heißt, sie könnten die „freundlichen“ (V 64) Gaben, die eine für den Menschen fassbare Verbindung von Göttern und Menschen ausdrücken, nicht erwarten. Was göttlichgesendet (V 63) aus der griechischen („Ionien“, V 64) und orientalischen („Arabia“, V 65) Welt uns erreicht, vermögen sie nicht aufzunehmen. Ihnen „erlosch / Das Augenlicht“ (VV 62 f.), d. h., sie können dafür keine Wahrnehmung mehr ausprägen. Sie lassen sich nicht mit dem Strom der Donau Richtung Osten tragen, um dessen Reichtum aufzugreifen, sodass er – wie abgeschwächt auch immer – in unsere Epoche verschoben werde. Über die teure „Lehr’“ und die „holden Gesänge“ (V 66) entsteht bei ihnen keine Freude mehr. Die Wachenden hingegen leiten in die Welt antiker Dichtung über (VV 68–78), welche unmittelbar die Kluft zur Gegenwart überbrücken zu können scheint: „Ein unaufhörlich Lieben wars und ists.“ (V 73) Im darauffolgenden Vers aber schon heißt es: „Und wohlgeschieden“ (V 74) – die beiden Welten erscheinen als getrennt und bedürfen der Vermittlung des Denkens bzw. Eingedenkens. Wird dies auch kunstvoll in den Versen 74–78 vorgeführt, vermag es doch nicht mehr die anfängliche Unmittelbarkeit zu erreichen. 49

Vgl. StA 2.2, 692. Wolfgang Binder hat mit Bezug auf die späten Gedichte Hölderlins auf die Bedeutung von Symmetrien und der Mitte bezogen auf die Anzahl der Verse aufmerksam gemacht. Bezüglich Am Quell der Donau konnte ich bei ihm zwar keinen Hinweis finden, meine aber, dass sich die Betonung der Mitte entsprechend der Versanzahl auch auf dieses Gedicht ausweiten lässt (vgl. Binder, Hölderlin-Aufsätze, 402).

50

4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

211

Danach (V 79–91) richtet Hölderlin den Blick in den Orient auf die biblische Tradition und bezieht sich besonders auf Mose, der am Sinai „Zuerst es verstanden, / Allein zu reden / Zu Gott“ (VV 84–86). Aber auch die Gestalten dieser Welt „ruhn nun“ (V 86). Wenn aber die Auskunft der „Alten“ (V 88) über diese Überlieferungen, die griechische wie die biblische, gänzlich versiegte, wären wir zurückgeworfen in das Schwärmerische einer Naturunmittelbarkeit, wie sie der Dichter für drei Verse aufblitzen lässt: „heiliggenöthiget, nennen, / Natur! dich wir, und neu, wie dem Bad entsteigt / Dir alles Göttlichgeborne.“ (VV 89–91)51 Dieser Gedanke bleibt jedoch lediglich ein Moment im Rahmen des geschilderten Weges, er lässt kein Verweilen mehr zu, zumal es für Hölderlin kein Stehen in einer Naturunmittelbarkeit mehr gibt.

Dichtung als Abschied von der Gottes-Unmittelbarkeit (VV 92–117) Verabschiedet sind die Bilder einer Rückkehr in die Unmittelbarkeit des griechischen Götter-Tages, der zeichenhaft aufgeladenen (prophetischen, V 79) biblischen Welt wie auch der sich ewig erneuernden Natur. Bruno Liebrucks nennt die letzten beiden Strophen einen „Abklang“52 : Weder die „dichterische Aufnahme und Einverwandlung der Tradition“ („nur jene Pflege nicht wieder“, V 93) noch die „Aussöhnung unserer gedoppelten [der griechischen und der biblischen] Tradition“53 gelingt in unserer Epoche noch. Wir gehen fast wie Waise und sind auf uns zurückgeworfen, auch wenn äußerlich keine Veränderung wahrnehmbar ist: „Wohl ists, wie sonst“ (V 93). Dadurch, dass die Bedrohung verborgen bleibt, wird die Situation noch gefährlicher. Das „fast“ (V 92) lässt allerdings einen Spalt offen, dem die beiden letzten Strophen gewidmet sind. Dieser Raum entspricht dem dürftigen, kahlen Feld (An die Natur, Die Rose), das für den Verlust der Unmittelbarkeit des Göttlichen steht. Diesen Raum gilt es zu gestalten, in ihm hat der Dichter sein Lied zu singen. Zu schnell jedoch drohen alle diesbezüglichen Versuche wieder in eine imaginierte Unmittelbarkeit zu kippen oder scheinen keine weitere Entwicklung zuzulassen. Die ersten Anläufe werden in kurzen, sehr bald zu einem Ende kommenden Sätzen (VV 94 f., 96 f., 98–100) vorgestellt. Zunächst (VV 94 f.) ist von Jünglingen die Rede, die noch immer das Haus, die Welt der Kindheit, bewohnen und denen folglich die gesamte Tradition als eigene („nicht fremde“, V 95) erscheint. Schwächung und Abbruch werden in diesem Fall nicht hinreichend ernst genommen. Der zweite Versuch (VV 96 f.) bezieht sich auf das dreifache Leben der Jünglinge und meint vielleicht drei Stadien eines Lebensalters, nämlich Kindheit, Reife und Alter.54 Der damit verbundene Gedanke eines Grundgesetzes der Reifung des Lebens, welches in allem Wandel sich gleich bleibt, wird nicht weiterverfolgt. Der dritte 51

Vgl. StA 2, 695 f. Liebrucks, „Und“, 728. 53 Liebrucks, „Und“, 728 f. 54 Vgl. StA 2.2, 697; TL 1834. 52

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Versuch (VV 98 f.) verlässt sich nicht mehr auf derartige Modelle, sondern nennt einzig das Motiv der Treue, das uns nicht umsonst gegeben ward, sondern zur Aufgabe wird gegenüber den Bildern und Vorstellungen, die wir verabschieden und als Verlorene bewahren müssen: Und nicht umsonst ward uns In die Seele die Treue gegeben. Nicht uns, auch Eures bewahrt sie

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Damit ist eine Dezentrierung der zu sehr auf das Eigene Zurückgeworfenen eingeleitet („Nicht uns“, V 100), die Länge der Sätze nimmt wieder zu, größere Gedankenbögen entstehen, denen man sich anvertrauen kann. Die erste Ausgestaltung, welche die Treue findet, ist ein Sich-Überlassen der Bewegung der Sprache, die uns etwas zu sagen hat, bevor wir sprechen, d. h., in der sich eine Geistigkeit zu sedimentieren vermag, die wir niemals aus uns selbst aktiv hervorbringen können: Scheidend haben die Götter uns die „Waffen des Worts / [. . . ] / [. . . ] zurükgelassen“ (VV 101–103) – auch wenn uns die Möglichkeiten seiner Deutung noch ermangeln (V 106). Zwei Beobachtungen schließen sich daran an: 1) Die gedankliche Bewegung des Gedichtes ist ein zweites Mal bei der Sphäre der Sprache angelangt. Die erste Form der Aufnahme des Wortes aus dem Osten (V 36) erfolgt in der Stimme, die überhaupt erst den Menschen werden lässt: „Kommt die Fremdlingin sie / Zu uns, die Erwekerin, / Die menschenbildende Stimme.“ (VV 40–42) Wohl zeigten sich die großen Möglichkeiten der alles umfassenden Sprache an, eine souveräne Übernahme durch den Menschen war jedoch noch nicht möglich, sie brach noch beinahe unvermittelt „jählings herab von den Alpen“ (V 39). Es bedarf einer weiteren Vergewisserung des Weges der Sprache durch die verschiedenen Ausgestaltungen von Religion und Kultur hindurch, bis erneut der Horizont der Moderne erreicht ist (besonders VV 62–91).55 Dieser zweite Gang erfolgt jedoch schon in dem durch die Stimme eröffneten Raum. Nun kommt das Wort in konkreterer Weise zu den Menschen – in seiner Erhabenheit („Heiligtümern“, V 101) und Zweckdienlichkeit („Waffen des Worts“, V 101). 2) Die Moderne („wir“, V 106) steht vor der Notwendigkeit und Aufgabe, sich zur Epoche der Interpretation zu bestimmen: „Das staunen wir und wissens nicht zu deuten“ (V 106). Dies gilt besonders und in authentischer Weise für die Religion, wenn man bedenkt, dass uns die Sprache als Echo der religiösen Innigkeit über mehrere Stationen erreicht, die allesamt Kultstätten darstellen, und nun die Worte 55

Bernhard Böschenstein betont in seiner Zusammenfassung eines Arbeitsgespräches zur Hymne im Rahmen einer Tagung der Hölderlin-Gesellschaft einerseits den Zusammenhang mit der Feiertags-Hymne, andererseits die Bedeutung der kulturellen Vermittlung: „Im Gegensatz zur ersten Hymne ‚Wie wenn am Feiertage . . . ‘ wird hier die Berufung des Dichters mit stärkerer Betonung der die Eingebungen vermittelnden Instanzen, des Alten Testaments und der griechisch-römischen Antike in ihrer historischen Verkettung, dargestellt. Daher tritt neu die kulturgeschichtliche Situierung an den Orten der einstigen Erfüllung der Zeiten hinzu“ (‚Am Quell der Donau‘. Zusammenfassung des in der Arbeitsgruppe entwickelten Gedichtverständnisses, in: HJb 2000/01, 150–157, hier: 156).

4.3 Die Sprache als Sphäre: Am Quell der Donau

213

als Heiligtümer bezeichnet werden. Ihre Aufgabe besteht im Ausprägen einer Hermeneutik, die ihr nichts Äußerliches ist, sondern zuinnerst ihrem Geist angehört. Diesen Lernprozess begleiten die „guten Geister“ (V 104). Noch einmal „befällt uns“ (V 108) in den Versen 107–110 die Versuchung, in ein unmittelbares Verhältnis zu den Göttern treten zu wollen. Demgegenüber spricht der Dichter ein Nein aus. Er bittet die „Gütigen“ (V 111), die Götter, die Geister, seinen Freund Konz leicht zu umgeben, d. h., ihn nicht mit ihrer Fülle zu schlagen, sodass er bleiben könne, um noch „manches zu singen“ (V 112). Im Rahmen der Widmung an Konz ändert Hölderlin in einigen Passagen (VV 111 f.) Aussagen, welche ursprünglich dem dichterischen Ich galten, und adressiert sie an Konz. Damit ist eine Bewegung weg vom Selbstverständnis des Ich als Dichter gegeben, welche jener Zurücknahme entspricht, die Am Quell der Donau verglichen mit Wie wenn am Feiertage . . . insgesamt prägt. Der Beruf des Dichters wird nun nicht mehr selbst in Anspruch genommen, die Krise der Dichtung, in welche Wie wenn am Feiertage . . . geführt hat, erlaubt noch kein neuerliches Sich-Einfinden in diese Rolle. Vielmehr wird er dem Freund Konz zugesprochen. Die Absage, unmittelbar bei Gott zu sein zugunsten weitergehender Arbeit unter den Menschen („Damit er bleiben möge, denn noch ist manches zu singen“, V 112) stellt eine Reminiszenz an Paulus dar, der an die Gemeinde von Philippi schreibt: Denn mir (ist) das Leben Christos und das Sterben Gewinn. Wenn aber das Leben im Fleisch, (ist) dies mir Frucht (des) Werkes, und was ich wählen soll, erkenne ich nicht. Bedrängt werde ich aus den Zweien, das Verlangen habend zum Auflösen und mit Christos Sein, [denn] (das ist) um viel mehr besser; das Bleiben aber [in] dem Fleisch (ist) notwendiger wegen euch (Phil 1,21–24).

Die Bestimmung des Dichters als desjenigen, der die göttliche Fülle erfahren könnte, aber um des Gesanges, um des Zur-Sprache-Kommens der Sprache willen, darauf verzichtet, entspricht der Schwächung der göttlichen Offenbarung im kühleren Strahl. Mit dem Motiv der Offenbarung geht das einer Schwächung einher, das zur Sprach-Werdung führt. Jetzt aber endiget, seligweinend, Wie eine Sage der Liebe, Mir der Gesang, und so auch ist er Mir, mit Erröthen, Erblassen, Von Anfang her gegangen. Doch Alles geht so.

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Die letzten Verse (VV 113–117) sagen das Enden des Gedichtes aus. „Von Anfang her“ (V 117) war der Weg der Donau ein Weg der Annäherung an die uns von Osten erreichende Bewegung der Schwächung der göttlichen Unmittelbarkeit und ein Weg des Werdens von Sprache: ein Weg zur Stimme (V 42), zum Wort (V 101), zur Deutung (V 106), zum Gesang (VV 112, 115). Dieser wird mit seligem Weinen (V 113) und Liebe (V 114) verbunden und ist dem Dichter „mit Erröthen, Erblassen“ (V 116) gegangen, d. h., der Gesang begleitet ihn und stellt den Strom dar, der seine Affekte trägt, die sich nie gänzlich auf die subjektiv-intentionale Dimension

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

des Daseins abbilden lassen. Der Gesang, der sich uns eröffnete, darf nicht in eine endgültige, sich wieder in göttlicher Unmittelbarkeit wähnende Gestalt führen. Darum muss auch noch sein Ende ausgesagt werden. Er stellt lediglich eine kontingente Ausdrucksweise dar und muss offen auf Interpretation, Neuschreibung und Rekonfiguration sein. Außerhalb dieses vermittelnden Horizontes der Interpretation gibt es nichts, was Unmittelbarkeit beanspruchen könnte – „Alles geht so.“ (V 117) –, nichts Göttliches, nichts Menschliches.56  Am Quell der Donau gestaltet keine spezifische sprachliche Sphäre mehr, in welcher sich die Gestalten und Gegenstände des Gedichtes bewegten, sondern stellt einen Weg zur Sprache als solcher dar, die nun selbst als die Sphäre des Gedichtes erscheint. Dies hat Auswirkungen auf die Konfiguration des Verhältnisses von Menschlichem und Göttlichem, welches in diesem Gedicht radikaler noch als in Der Abschied zur offenen Frage wird. Letzteres Gedicht fand mit Hass und Furcht noch Begriffe, um jenes Verhältnis zu benennen und in ein Bild zu bringen. Mit dem Hervortreten der Sprache als der menschenbildenden Stimme (V 42), der „Fremdlingin“ (V 40), der „Erwekerin“ (V 41), sind derartige unmittelbare Bezeichnungen und Relationen nicht mehr möglich. „Staunen“ und „Nacht“ sind die ersten Reaktionen, die „Kunst“ des Menschen gelangt an ein Ende, seine Götterbilder sind „niedergeschlagen“ (V 51). Die „heilige Wolk“ (V 105), die göttliche Sphäre, umschwebt uns, zu deuten wissen wir sie nicht. Diese radikale Ausgesetztheit und Offenheit kann das dichterische Ich vorerst nicht auf sich nehmen und versprachlicht sie in Bezug auf einen Dichter-Freund, an den es sich unerwartet wendet. War das poetische Ich in zahlreichen Gedichten Hölderlins auch als Dichter ansprechbar, so fallen nun beide Figuren auseinander. Der Rückgang zum Ursprung ist nur mehr in mannigfaltigen Vermittlungs- und Versetzungsschritten möglich, Bilder des Göttlichen sind zerbrochen; es gab aber vielleicht in keinem Gedicht eine größere Freiheit, Aufmerksamkeit und Sensibilität, wie am Ende von Am Quell der Donau. Wie der Ursprung der Donau nicht angegeben werden kann und im Gedicht fehlt, so entspricht auch dessen offenes und unbestimmtes Ende dem sich verzweigenden Donaudelta. Das Gedicht kommt an seinem Ende zu keinen konkreten Aussagen mehr über das Verhältnis von Mensch und Gott – „Doch Alles geht so.“ (V 117) –, will sich aber nicht als letztes Wort verstanden wissen, sondern ist Hinweis auf künftige Gespräche oder künftigen Gesang: „noch ist manches zu singen“ (V 112). Welche Gestalt können diese annehmen und wer kann in ein solches Gespräch oder solchen Gesang noch eintreten, zumal „wir fast, wie die Waisen“ (V 92) gehen und auch die Dichter die umgebende heilige 56

Man könnte hier ans Hegels Dikum aus der Wissenschaft der Logik denken, „daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt“ (Hegel, Wissenschaft der Logik (Werke 5), 66).

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

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Wolke „nicht zu deuten“ (V 106) wissen? Oder anders gewendet: Können jene Formen von Verlust und radikaler Offenheit noch einen realen Ort erhalten und sich in eine Textur einschreiben, die ihnen vorausliegt, d. h. nicht Produkt der Reflexionstätigkeit des Dichters ist, die an dieser Stellte nichts mehr vermag (man denke an Hölderlins Umarbeitung des Textes, die am Ende vom Sprechen in der ersten Person abgeht)? Mit der Hymne Patmos soll im Folgenden gezeigt werden, dass jener Verlust und jene Offenheit mit Bezug auf einen realen Ort und einen reale Text, die zu ihrem Resonanzraum werden, wieder einen bestimmteren Ausdruck erhalten können.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos Äußerer Anlass, die Hymne Patmos zu verfassen, ist die Sorge des Landgrafen Friedrich V. von Hessen-Homburg, eines Zeitgenossen Hölderlins, dass die neu aufgekommene, an der Aufklärung orientierte Bibelexegese mit ihrer kalten Rationalität ein affektives Bewohnen der Heiligen Schrift verunmögliche. Landgraf Friedrich bat den von ihm verehrten Klopstock, in einem Gedicht jene Bibelkritik zu entkräften. Als dieser dem Anliegen nicht in der entsprechenden Weise nachkam, übernahm Hölderlin die Aufgabe und verfasste das Gedicht Patmos, welches vermittelt über Issak von Sinclair dem Landgrafen vermutlich zu seinem 55. Geburtstag am 30. Jänner 1803 überreicht wurde.57 Betrachtet man Patmos im Lichte von Am Quell der Donau, muss das Gedicht als eine Auseinandersetzung mit der Frage verstanden werden, inwiefern die Erfahrungen der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Rückbindung an einen Ursprung sowie die sich damit einstellende Offenheit an einen Text, konkret den biblischen Text, rückgebunden werden können. Anders als Wie wenn am Feiertage . . . sind Am Quell der Donau und Patmos als Gespräch konzipiert. In Wie wenn am Feiertage . . . war der Dichter zunächst in der Rolle des (vermeintlichen) Mittlers der göttlichen Offenbarung aufgetreten und wähnte sich in einer Unmittelbarkeit zu Gott, welche einen Gesprächspartner gar nicht zulassen konnte. Mit dem Eintritt in Strukturen der Vermittlung, die auch eine Schwächung der Position des Dichters bedeuten, wandelt sich der Charakter der Gedichte zu freundschaftlich adressierter Rede.

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Vgl. KA, 969–1011; Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, 185–288; Binder, Hölderlin-Aufsätze, 362–402; Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 142–189; Karlheinz Stierle, Hölderlins ‚Patmos‘-Hymne, in: HJb 1980/81, 47–68; Przywara, Hölderlin, 11–13, 124–128; Ludolf Müller, ‚Patmos‘. Hölderlins Gespräch mit dem Landgrafen Friedrich von Homburg über die Bestimmung des Dichters in der gegenwärtigen Weltenwende, in: Lawitschka (Hg.), Hölderlin, 195–233; Liebrucks, „Und“, 807–821; TL 1514–1526; Johann Kreuzer, Philosophische Hintergründe der Gesänge Patmos und Der Einzige von Friedrich Hölderlin, in: Düsing/Klein, Geist und Literatur, 107–135; Robert André, „Und weit, wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht“. Hölderlin liest Johannes in Patmos, in: Moog-Gründewald/Lobsien, Apokalypse. Der Anfang im Ende, 129–156.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

War die Feiertags-Hymne vermutlich auf neun Strophen mit je neun Versen angelegt, wobei in der mittleren Strophe ein Vers fehlte, umfasst Patmos 15 Strophen zu je 15 Versen, wobei die zehnte Strophe einen Vers zu viel aufweist. In beiden Gedichten wird dadurch eine ideale Struktur gebrochen (9 mal 9, 15 mal 15 Verse), was zumindest für die Interpretation von Patmos von erheblicher Bedeutung ist. Man kann in Patmos eine Folge von fünf Triaden sehen, dies legt sich aber von der Textgestaltung her nicht zwingend nahe.58 PATMOS . Dem Landgrafen von Homburg Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brücken. Drum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gieb unschuldig Wasser, O Fittiche gib uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren. So sprach ich, da entführte Mich schneller, denn ich vermuthet Und weit, wohin ich nimmer Zu kommen gedacht, ein Genius mich Vom eigenen Hauß’. Es dämmerten Im Zwielicht, da ich gieng Der schattige Wald Und die sehnsüchtigen Bäche Der Heimath; nimmer kannt’ ich die Länder; Doch bald, in frischem Glanze, Geheimnißvoll Im goldenen Rauche, blühte Schnellaufgewachsen, Mit Schritten der Sonne, Mit tausend Gipfeln duftend,

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Roland Reuß betonte wiederholt, dass eine Strukturierung in Triaden keinerlei Anhaltspunkt im Text der Hymne selbst habe.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos Mir Asia auf, und geblendet sucht’ Ich eines, das ich kennete, denn ungewohnt War ich der breiten Gassen, wo herab Vom Tmolus fährt Der goldgeschmükte Pactol Und Taurus stehet und Messogis, Und voll von Blumen der Garten, Ein stilles Feuer; aber im Lichte Blüht hoch der silberne Schnee; Und Zeug unsterblichen Lebens An unzugangbaren Wänden Uralt der Epheu wächst und getragen sind Von lebenden Säulen, Cedern und Lorbeern Die feierlichen, Die göttlichgebauten Palläste. Es rauschen aber um Asias Tore Hinziehend da und dort In ungewisser Meeresebene Der schattenlosen Straßen genug, Doch kennt die Inseln der Schiffer. Und da ich hörte Der nahegelegenen eine Sei Patmos, Verlangte mich sehr, Dort einzukehren und dort Der dunkeln Grotte zu nahn. Denn nicht, wie Cypros, Die quellenreiche, oder Der anderen eine Wohnt herrlich Patmos, Gastfreundlich aber ist Im ärmeren Hauße Sie dennoch Und wenn vom Schiffbruch oder klagend Um die Heimath oder Den abgeschiedenen Freund Ihr nahet einer Der Fremden, hört sie es gern, und ihre Kinder Die Stimmen des heißen Hains, Und wo der Sand fällt, und sich spaltet Des Feldes Fläche, die Laute Sie hören ihn und liebend tönt Es wieder von den Klagen des Manns. So pflegte Sie einst des gottgeliebten, Des Sehers, der in seeliger Jugend war

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800 Gegangen mit Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich, denn Es liebte der Gewittertragende die Einfalt Des Jüngers und es sahe der achtsame Mann Das Angesicht des Gottes genau, Da, beim Geheimnisse des Weinstoks, sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals, Und in der großen Seele, ruhigahnend den Tod Aussprach der Herr und die lezte Liebe, denn nie genug Hatt’ er von Güte zu sagen Der Worte, damals, und zu erheitern, da Ers sahe, das Zürnen der Welt. Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon. Und es sahn ihn, wie er siegend blikte Den Freudigsten die Freunde noch zulezt, Doch trauerten sie, da nun Es Abend worden, erstaunt, Denn Großentschiedenes hatten in der Seele Die Männer, aber sie liebten unter der Sonne Das Leben und lassen wollten sie nicht Vom Angesichte des Herrn Und der Heimath. Eingetrieben war, Wie Feuer im Eisen, das, und ihnen gieng Zur Seite der Schatte des Lieben. Drum sandt’ er ihnen Den Geist, und freilich bebte Das Haus und die Wetter Gottes rollten Ferndonnernd über Die ahnenden Häupter, da, schwersinnend Versammelt waren die Todeshelden, Izt, da er scheidend Noch einmal ihnen erschien. Denn izt erlosch der Sonne Tag Der Königliche und zerbrach Den geradestralenden, Den Zepter, göttlichleidend, von selbst, Denn wiederkommen sollt es Zu rechter Zeit. Nicht wär es gut Gewesen, später, und schroffabbrechend, untreu, Der Menschen Werk, und Freude war es Von nun an, Zu wohnen in liebender Nacht, und bewahren In einfältigen Augen, unverwandt Abgründe der Weisheit. Und es grünen Tief an den Bergen auch lebendige Bilder,

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4.4 Der Text als Sphäre: Patmos Doch furchtbar ist, wie da und dort Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott. Denn schon das Angesicht Der theuern Freunde zu lassen Und fernhin über die Berge zu gehen Allein, wo zweifach Erkannt, einstimmig War himmlischer Geist; und nicht geweissagt war es, sondern Die Loken ergriff es, gegenwärtig, Wenn ihnen plözlich Ferneilend zurük blikte Der Gott und schwörend, Damit er halte, wie an Seilen golden Gebunden hinfort Das Böse nennend, sie die Hände sich reichten – Wenn aber stirbt alsdenn An dem am meisten Die Schönheit hieng, daß an der Gestalt Ein Wunder war und die Himmlischen gedeutet Auf ihn, und wenn, ein Räthsel ewig füreinander Sie sich nicht fassen können Einander, die zusammenlebten Im Gedächtniß, und nicht den Sand nur oder Die Weiden es hinwegnimmt und die Tempel Ergreifft, wenn die Ehre Des Halbgotts und der Seinen Verweht und selber sein Angesicht Der Höchste wendet Darob, daß nirgend ein Unsterbliches mehr am Himmel zu sehn ist oder Auf grüner Erde, was ist diß? Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Waizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. Ihm fällt die Schaale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn, Und nicht ein Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern. Nicht alles will der Höchste zumal. Zwar Eisen träget der Schacht, Und glühende Harze der Ätna, So hätt’ ich Reichtum,

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Ein Bild zu bilden, und ähnlich Zu schaun, wie er gewesen, den Christ, Wenn aber einer spornte sich selbst, Und traurig redend, unterweges, da ich wehrlos wäre Mich überfiele, daß ich staunt’ und von dem Gotte Das Bild nachahmen möchte’ ein Knecht – Im Zorne sichtbar sah’ ich einmal Des Himmels Herrn, nicht, daß ich seyn sollt etwas, sondern Zu lernen. Gütig sind sie, ihr Verhaßtestes aber ist, So lange sie herrschen, das Falsche, und es gilt Dann Menschliches unter Menschen nicht mehr. Denn sie nicht walten, es waltet aber Unsterblicher Schicksaal und es wandelt ihr Werk Von selbst, und eilend geht es zu Ende. Wenn nemlich höher gehet himmlischer Triumphgang, wird genennet, der Sonne gleich Von Starken der frohlockende Sohn des Höchsten, Ein Loosungszeichen, und hier ist der Stab Des Gesanges, niederwinkend, Denn nichts ist gemein. Die Toten weket Er auf, die noch gefangen nicht Vom Rohen sind. Es warten aber Der scheuen Augen viele Zu schauen das Licht. Nicht wollen Am scharfen Strale sie blühn, Wiewohl den Muth der goldene Zaum hält. Wenn aber, als Von schwellenden Augenbraunen Der Welt vergessen Stilleuchtende Kraft aus heiliger Schrift fällt, mögen Der Gnade sich freuend, sie Am stillen Blike sich üben. Und wenn die Himmlischen jetzt So, wie ich glaube, mich lieben Wie viel mehr dich, Denn Eines weiß ich, Daß nemlich der Wille Des ewigen Vaters viel Dir gilt. Still ist sein Zeichen Am donnernden Himmel. Und Einer stehet darunter Sein Leben lang. Denn noch lebt Christus. Es sind aber die Helden, seine Söhne Gekommen all und heilige Schriften Von ihm und den Bliz erklären

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4.4 Der Text als Sphäre: Patmos Die Thaten der Erde bis izt, Ein Wettlauf unaufhaltsam. Er ist aber dabei. Denn seine Werke sind Ihm alle bewußt von jeher. Zu lang, zu lang schon ist Die Ehre der Himmlischen unsichtbar. Denn fast die Finger müssen sie Uns führen und schmählich Entreißt das Herz uns eine Gewalt. Denn Opfer will der Himmlischen jedes, Wenn aber eines versäumt ward, Nie hat es Gutes gebracht. Wir haben gedienet der Mutter Erd’ Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, Unwissend, der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.

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Strophen I–III (VV 1–45) 1) Wer den Text von Patmos zu lesen beginnt, wird im ersten Vers ohne Vorbereitung mit einer unbestimmten Nähe konfrontiert („Nah ist“, V 1), von der noch unentschieden ist, ob sie bedrohlichen oder verheißungsvollen Charakter annimmt.59 Wer Patmos zu lesen beginnt, erfährt im zweiten Vers, dass Gott schwer zu fassen sei. Am Ende der beiden enigmatischen Verse findet sich ein Punkt, der sie als eine Sinneinheit, einen Satz, eine Ganzheit ausweist. Für die Interpretation bedeutet dies, dass man die Frage nach dem Übergang vom ersten zum zweiten Vers bzw. nach dem Verhältnis der beiden Verse stellen muss. Die Thematik des Übergangs wird sich dann auch als Interpretationsschlüssel für die gesamte erste Strophe herausstellen. Nähern wir uns der Frage von unterschiedlichen Ausgangspunkten und betrachten die Anfangsverse einmal ausgehend von den zuvor interpretierten Gedichten (a), sodann ausgehend von der Widmung des Gedichtes (b) und schließlich von seinem Titel (c). a) Ein erster Versuch die beiden Verse miteinadner zu verbinden, kann sich auf das Verhältnis von „Nah“ und „Gott“ richten, jenen Worten, die den Rahmen des Satzes und wohl auch seine beiden Schwerpunkte bilden: NAH ist und schwer zu fassen der GOTT.

Auch wenn in der Mitte des Satzes die Worte „schwer zu fassen“ zu finden sind, wiegen doch „Nah“ und „Gott“ so schwer, dass sich zuallererst die Frage ihrer Ver59

Für diesen Hinweis danke ich Friedrich Kern.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

bindung aufdrängt. Mit der Nähe Gottes ist ein Thema angesprochen, das bereits aus anderen Gedichten bekannt ist. Wenden wir uns darum zunächst an den gedanklichen Zusammenhang von Hölderlins Gedichten und vertrauen ihm soweit, dass eine wenigstens schwache Kontinuität der Texte herstellbar ist. Das Bild vom Stehen unter Gottes Gewittern aus der Feiertags-Hymne, das eine unmittelbare Nähe des Göttlichen imaginiert, in der Hymne aber selbst bereits problematisiert wurde, kann wohl nicht als Vorbild dienen, den Übergang der beiden Verse zu denken. Patmos steht nicht dem Motiv der Unmittelbarkeit des Göttlichen nahe, sondern steht für die Erfahrung, dass Gott schwer zu fassen ist. Es zieht vielmehr die Konsequenz aus dem Scheitern der ungestümen Proklamation der Gottes-Nähe aus Wie wenn am Feiertage . . . Einen Anknüpfungspunkt findet die in Patmos ausgesagte unbestimmte Nähe jedoch in der radikalen Offenheit, welche sich im Ausgang von Am Quell der Donau gezeigt hat. Der Unterschied ist jedoch, dass die Donau-Hymne über mannigfaltige Schritte der Vermittlung zu jenem offenen Horizont, den wir auch als Sprache bezeichnet haben, kommt, wohingegen am Beginn von Patmos die Vermittlung des Verhältnisses von Gott und Mensch durch eine Sphäre gänzlich ausfällt. Die einzelnen Elemente des ersten Satzes stehen beinahe unverbunden nebeneinander. Die radikale Offenheit von Am Quell der Donau scheint so weit gesteigert, dass nicht ersichtlich ist, woraus sich die weitere gedankliche Entwicklung der Elemente des ersten Satzes speisen könnte. Von der Feiertags-Hymne und der sie begleitenden Miniatur Im Walde wissen wir um die Gefahr, die mit der Unmittelbarkeit zum Göttlichen verbunden ist. Diese Gefahr findet einen sprachlichen Ausdruck im Wort „nahen“: Wenn das dichterische Ich sagt, „Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen“ (Wie wenn am Feiertage . . . , V 69), wird es tief unter die Sterblichen geworfen. Die Donau-Hymne beginnt dagegen mit weit ausschlagenden Bögen der Ferne, die das Ich, sobald es meint, einen festen Punkt (oder gar Ursprung) gefunden zu haben, wieder versetzen (vom Quell der Donau nach Asia, von der Welt griechischer Dichtung in die Gegenwart etc.). Dass mithin die Verbindung des unbestimmten Nahens mit der Frage nach Gott in einen Horizont der Gefahr stellt, kann aus den Patmos vorangehenden Gedichten übernommen werden; der dritte Vers findet darin eine schwache Begründung: „Wo aber Gefahr ist, wächst“ (Patmos, V 3). Die Frage nach dem Rettenden („Das Rettende auch“, V 4) ergibt sich erst aus dem Bewusstsein der Gefahr. Hölderlins Dichtung nimmt bei aller Rede von Verlusten nie nihilistischen Charakter an, sondern ist eine wiederkehrende Frage nach Rettung. Ohne schon angeben zu können, wie der Übergang von der Gefahr zur Frage der Rettung aus dem Fortgang von Patmos selbst motiviert ist, kann erneut mit Rückgriff auf den Zusammenhang der Patmos vorangehenden Gedichte gesagt werden, dass es für Hölderlin unumgängliche Pflicht ist, um des weitergehenden Gesanges willen nach der Rettung vor dem Nichts des Untergangs zu fragen. In der Donau-Hymne heißt es: „Damit er bleiben möge, denn noch ist manches zu singen“ (Am Quell der Donau, V 112). Der Ausdruck „manches“ steht für eine kontingente Vielfalt, nicht für eine Totalität. Man könnte folglich den Vers auch wiedergeben mit: Nicht, weil es eine totale, alle Erzählungen umfassende Erzählung geben muss, ist es die Aufgabe des Dichters, nach Rettung und dem Fortgang des Gesanges zu

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

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fragen, sondern weil es weiterhin endliche Erzählungen der Menschen geben müsse. Damit ist der gedankliche Hintergrund der ersten vier Verse, die auch als eine Art Prolog des Gedichtes angesehen werden können, abgesteckt. Im Folgenden gilt es, deren Dynamik aus der Entwicklung des Textes selbst zu betrachten. Dabei spielen Widmung und Titel eine wichtige Rolle. b) Betrachten wir nun die ersten beiden Verse als zwei selbstständige, freilich unvollständige Hauptsätze: „Nah ist || Und schwer zu fassen der Gott.“ Die Deutung drängt sich auf, dass Gott zwar nahe sei, aber doch schwer zu fassen. Meines Erachtens gibt der Text diese Interpretation nur unter einigen Zusatzannahmen her. Man müsste dafür erstens „der Gott“ von der letzten Stelle des Hauptsatzgefüges im zweiten Vers in den ersten vorziehen und den unbestimmt verbindenden Charakter des „Und“ adversativ auslegen: „Nah ist der Gott, aber schwer zu fassen.“ Oder: „Nah ist der Gott und doch schwer zu fassen.“ Viel naheliegender ist es, den fragmentarischen Charakter des anfänglichen Sprechens, das noch nicht Teil einer Sphäre ist, zu betonen. „Und schwer zu fassen“ könnte dann als eine Interjektion gelesen werden, welche der unbestimmten Aussage „Nah ist“ antwortet oder gar ins Wort fällt. Zwar bleibt das Gespräch in seiner Bedeutung (noch) unklar, der Verweis auf den Gesprächscharakter bedarf jedoch keiner in den Text hineingelegten Zusatzannahmen oder Ergänzungen; er ist bereits durch die dem Titel nachgestellte Widmung – „Dem Landgrafen von Homburg“ – evoziert.60 c) Der Titel legt aber noch ein anderes Verständnis der ersten Verse nahe, verweist er doch auf die Apokalypse des Johannes, die auf der Insel Patmos verschriftlicht wurde. Den Text der Apokalypse im Hintergrund behaltend, erscheint der erste Vers („Nah ist“) wie ein abgebrochenes Zitat, das uns nur mehr fragmentarisch erreicht und auf den Anfang und das Ende der Apokalypse Bezug nimmt: Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest und diejenigen, die sie hören und sich an das halten, was in ihnen geschrieben ist; denn nah ist die Zeit (Offb 1,3). Und er sagt zu mir: Versiegle die prophetischen Worte dieses Buches nicht! Denn nah ist die Zeit . . . (Offb 22,10)

Mit der Aufmerksamkeit für diese Verweise ist noch kein Wissen darum verbunden, ob sich das Nahen herausstelle, „Gefahr“ (V 3) oder das „Rettende“ (V 4) zu sein. Zwar sind die Zitate einem Buch entnommen, welches als Trostbuch von Rettung spricht, allerdings erreichen uns dessen Worte im Gedicht nur mehr fragmentarisch. Man wird sich zunächst also eines Verlustes bewusst: Ausgelassen ist der Begriff der Zeit, der jedoch in seinem Fehlen eine gesteigerte Präsenz erhält. Wolfgang Binder ist sogar der Ansicht, dass sich das Gedicht genau um diesen Begriff drehe: „Hölderlins Anschauungs- und Gestaltungsformen sind durch und durch temporal bestimmt. Nur darum kann die Zeit auch das zentrale Thema des Gedichtes werden.“61 Die mittlere Strophe des Gedichtes wird zeigen, wie das hier erst in seinem 60

Zum Gesprächscharakter der Hymne vgl. Ludolf Müller, ‚Patmos‘. Hölderlins Gespräch mit dem Landgrafen Friedrich von Homburg über die Bestimmung des Dichters in der gegenwärtigen Weltenwende, in: Lawitschka (Hg.), Hölderlin, 195–233. 61 Binder, Hölderlin-Aufsätze, 400 f. Freilich könnte man mit Blick auf die in Patmos erfolgende Gestaltung von (Text-)Landschaften auch von einer räumlichen Bestimmung der Formen sprechen.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Fehlen angezeigte, jedoch als zentral apostrophierte Thema der Zeit gerade in einer Versetzung aus dem Zentrum wieder auftaucht. Der Titel des Gedichtes und die leise anklingende Zitatstruktur sind ein Hinweis darauf, dass das Gedicht in einer Verbindung mit dem biblischen Text steht. Tatsächlich zeigen sich im weiteren Verlauf des Gedichtes zahlreiche Anspielungen auf biblische Motive, niemals jedoch in Gestalt des direkten Zitates, sondern in Abbrüchen, Verschiebungen und Überblendungen von griechischer und biblischer Symbolwelt.62 Meine These ist, dass Patmos weder Paraphrase noch Kommentar des biblischen Text ist; dieser bildet vielmehr die nie auf direkte Weise thematisch werdende Sphäre, in welcher sich das Gedicht bewegt. Umgekehrt erfährt der biblische Text im Gedicht eine Refiguration, indem Zitate in versetzter, neu gestalteter Weise darin auftreten.63 2) In einem nächsten Schritt werden die beiden folgenden Verse betrachtet, welche die Ambivalenz der beiden ersten Verse weiterführen: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ (VV 3 f.) Die Unsicherheit, ob das Sich-Nahende das Bedrohliche oder Verheißungsvolle ist, spiegelt sich in der Aufnahme der Motive Gefahr und Rettung. Diese werden nun zwar innerhalb eines vollständigen Satzes in ein Verhältnis gebracht, ihre Beziehung zueinander lässt sich jedoch erneut nicht unmittelbar und eindeutig auflösen: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ (Patmos, V 3 f.) Alle drei oben angeführten Zugangsweisen zu den Eröffnungsversen – ihr Verstehen aus dem Kontext der vorangehenden Gedichte, aus der Gesprächsstruktur von Patmos oder aber aus dem Bezug auf den biblischen Text – können einen Hintergrund bilden, vor dem die gedankliche Weiterentwicklung des Gedichts möglich ist. Dass mit den Versen drei und vier ein vollständiges Satzgefüge mit – wenn auch in seiner Bedeutung nicht unmittelbar einsehbarem – Zusammenhang vor den Augen des Lesers und der Leserin steht, ist mithin nicht unbegründet. Die Sprache findet zu einer Selbstständigkeit zurück und kann sich wieder in vollständigen Sätzen artikulieren.

62

Auf den Charakter der Versetzung ist im Folgenden noch genauer einzugehen. Eine gewisse Nähe besteht zur Interpretation Uwe Beyers: „Der Gott ist ‚schwer zu fassen‘ nicht trotz, sondern wegen seiner Nähe, also deshalb, weil er kein Objekt, kein Teil der Welt und damit gegenständlicher Erfahrung nicht zugänglich ist. Er, das Ganze der gestalteten Wirklichkeit, lässt sich nur in Sinnzusammenhängen wahrnehmen: in Ordnungsmustern, wie Hölderlin sie in der geschichtlichen Entwicklung – besonders im Gefüge von Antike und Abendland – sich manifestieren sieht.“ (Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 156) Anders als Beyer würde ich die ersten beiden Verse nicht so eng im Sinne einer positiven Folge aneinanderbinden: „Der Gott ist ‚schwer zu fassen‘ nicht trotz, sondern wegen seiner Nähe“. Meines Erachtens ist an dieser Stelle stärker der fragmentarische Charakter zu betonen als Strukturen der Folge oder Begründung. Gewiss erfolgt die „Wahrnehmung“ Gottes immer in Sinnzusammenhängen und nicht in „Subjekt-ObjektRelationen“ (Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 156). Dennoch würde ich Gott nicht als „das Ganze der gestalteten Wirklichkeit“ ansehen und die Sinnzusammenhänge nicht nur als Ordnungsmuster verstehen wollen. Die Idee Gottes wird sonst mit der Idee der Welt identifiziert, und Gott kann nicht, wie mir dies bei Hölderlin als zentral erscheint, gestalthaft in die Sinnzusammenhänge des Gedichts eintreten und diese verändern. Überdies ist mit der Erfahrung des Göttlichen auch ein Ablassen von Totalitäten verbunden.

63

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

225

Anders als das unmittelbare und unbestimmte „Nah ist“ vermag „Wo“ (V 3) einen Raum zu eröffnen, eine Umgebung, in welche sich fortan die Gegenstände der Dichtung einschreiben können. Mit dem ersten, wenn auch noch sehr unscheinbaren Auftreten einer Sphäre als Vermittlungsraum („Wo“, V 3) stellen sich auch wieder Relationen („aber“, V 3; „auch“, V 4) und Dynamiken („wächst“, V 3, gegenüber „ist“, V 1) ein, der Blick lernt daran wieder eine differenziertere Wahrnehmung. Dabei muss jedoch eine eigentümliche Versetzung auffallen. Die Verse drei und vier lauten nicht Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch

sondern: Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.

Die erste, aus syntaktischen Gründen nachvollziehbarere Variante könnte in inhatlicher Hinsicht als ein Zynismus erscheinen, denn nicht überall, wo Gefahr ist, wächst automatisch auch das Rettende. Durch die Verschiebung der Versgrenze hinter das Wort „wächst“, ändert sich jedoch der Sinn des Satzes. Jenes Wort, welches das Aufkeimen der Hoffnung zum Ausdruck bringt („wächst“), ist in den Satzteil versetzt, der von der Gefahr erzählt. Hoffnung kann nur das sein, was bereits in die Bedrohung eingeht und diese verändert, gleichsam spaltet. Der dritte Vers kann sich nicht mehr in der Rede von der Gefahr abschließen, nicht mehr sich mit sich selbst zusammenschließen, indem er sein eigenes Enden in der Präsenz der Gefahr („Gefahr ist“, V 3) sieht, sondern wird vom Wachsen des Rettenden unterbrochen. Durch die Versetzung von „wächst“ in den dritten Vers rückt überdies „Das Rettende“ an die erste Stelle des vierten Verses und gelangt dadurch deutlicher in den Blick. Allerdings steht es weiterhin in der Ambivalenz des „auch“ („Das Rettende auch“, V 4) – nicht allein das Rettende wächst, es wächst mit anderem („auch“). Die Gefahr wird nicht einfachhin vom Rettenden vertrieben und als nichtig erklärt. Das Rettende kann nicht allein und aus sich die Deutungshoheit über den Satz übernehmen, es bleibt in den Horizont der Gefahr eingeschrieben. Roland Reuß weist aus editionsphilologischen Erwägungen darauf hin, dass die Niederschrift des Gedichtes mit den Versen drei und vier begonnen habe. Vers drei spricht von der Existenz der Gefahr („Wo aber Gefahr ist“) und korrigiert sich anschließend sofort durch das Wort „wächst“: Wo aber Gefahr ist, ja, wo die Gefahr wächst . . . „Die nachträgliche Steigerung durch das zweite Verbum ist ein direkt intervenierendes Verhalten des Redenden zur eigenen Äußerung.“64 Durch die bewusste Setzung der Versgrenze wird ein Ansteigen der Bedrohung vom „ist“ zum „wächst“ hörbar. Damit sind die Überlegungen zur Versgrenze noch nicht erschöpft: Indem im Durchgang durch die Versgrenze die Rede tatsächlich unbeschadet wiederkehrt – diese Wiederkehr verdankt sich nicht nur einem Tun des poetischen Ich, sondern mindes64

Reuß, „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch [. . . ]“, 6.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

tens ebenso einer unableitbaren Gabe, über die es keine Macht hat, nicht verfügt – hat es die Kraft, die syntaktischen Bezüge umzugruppieren und neue Bezüge zu setzen: Erst jetzt wird das Wort „wächst“, durch das Redehandeln des Ich, zum Prädikat des Subjekts „das Rettende“.65

Die Versgrenze stellt ein Ende dar, auf welches Sinn und Bedeutung, wie sie im Rahmen eines Verses aufgebaut werden, zulaufen und an dem sie gleichwohl einen Abbruch erfahren. Auch das kontinuierliche Anwachsen der Gefahr erfährt hier eine Begrenzung.66 In jedem Gedicht liegt ein Moment der Hoffnung (Rettung), weil nach dem mit der Versgrenze gegebenen Ende (dem Tod) die Sprache von neuem aufgenommen wird und dadurch Sinnzusammenhänge erweitert und neu konfiguriert werden können. In grandioser Weise hat dies Rilke zum Ausdruck gebracht, wenn er in seinem Gedicht An Hölderlin, adressiert an den Dichter, schreibt: Die Zeile schloß sich und wie Schicksal, ein Tod war selbst in der lindesten, und du betratest ihn; aber der vorgehende Gott führte dich drüben hervor. (Rilke, An Hölderlin, VV 9–11)67

Der vorgehende Gott, d. h. der Gott, wie er sich Israel im Exodus gezeigt hat, ermöglicht es dem Schreiben, aus dem mit der Versgrenze angezeigten Tod wieder aufzustehen und Kontinuität der Bedeutung über die Versgrenze hinweg zu begründen. Durch die Setzung von Versgrenzen, die u. a. ein Gedicht von Prosa unterscheidet, spiegelt jedes Gedicht den Übergang in den Tod des Sinns, das Ruhen des Sinns im Zwischen der Verse und dessen Neuschöpfung am Beginn des folgenden Verses wider.68 Mit Bezug auf die Verse drei und vier von Patmos kann festgehalten werden: Dass in der Gefahr auch die Rettung wachse, stellt kein sicheres Wissen dar. Es handelt sich vielmehr um eine fragile Hoffnungsaussage, die mit einer Versetzung von Bedeutung einhergeht und ohne diese nicht ausgesagt werden könnte. Das Moment der Versetzung steht mit dem Rettenden, wie sich später noch genauer zeigen wird, in einem engen Zusammenhang. Die bewusste (Ver-)Setzung der Versgrenze ermöglicht, dass in einem Bild der Horizont wachsender Gefahr und die Hoffnung auf Rettung ausgedrückt werden können. 3) Der Rest der Strophe kann in zwei Teile untergliedert werden: Die Verse fünf bis acht entfalten die Thematik von Gefahr und Rettung im Bild einer Gebirgslandschaft, in dessen Zentrum die Frage nach der Überwindung eines Abgrundes (V 7) steht. Danach folgt, in Gestalt eines Gebetes, die Bitte, diesen Abgrund überbrücken zu können (VV 9–15). 65

Reuß, „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch [. . . ]“, 7 f. Für diesen Gedanken danke ich Lisa Achathaler. 67 Zitiert nach: Rodewald (Hg.), An Friedrich Hölderlin, 34 f. Eine genauere Interpretation des Gedichtes habe ich zu geben versucht in: Deibl, Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen, 76–84. 68 Diese poetologischen Überlegungen sind inspiriert von den zeittheologischen Ausführungen von Kurt Appel (vgl. Kurt Appel, Das Fest, der Sabbat und die Ankunft des Messias unter Aufnahme einiger Gedanken Giorgio Agambens, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 40/2 (2011), 138–144, hier: 139). 66

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

227

Zunächst ist von Adlern die Rede, die „Im Finstern wohnen“ (V 5). Das Bild weckt die Assoziation des hoch aufsteigenden Adlers, der sich über die landschaftliche Szenerie und ihre Abgründe erheben und einen Blick einnehmen kann, der den Leserinnen und Lesern (ein Ich ist im Gedicht noch nicht aufgetreten) nicht möglich ist. Sie können sich dem Blick des Adlers anvertrauen, sodass das landschaftliche Bild, welches den Rest der ersten Strophe ausmacht, sich vor ihnen zu entfalten vermag. Während die Erwähnung der Adler aufgrund des assoziativen Potenzials des Bildes keiner näheren Ausführung hinsichtlich der Weise, wie sie den Abgrund überwinden können, bedarf, muss dasselbe Unterfangen, wenn die Rede auf Menschen oder Heroen kommt, eine genauere Darstellung erhalten. Die „Söhne der Alpen“ (V 7), also die, die der Berge kundig sind, vermögen „Auf leichtgebaueten Brüken“ (V 8) zu gehen, wobei ihre Kennzeichnung als leichtgebaute auf ihre Fragilität sowie auf ihren geistigen Charakter hinweist.69 Bevor im Gedicht ein Ich oder die Gestalt des Dichters aufgetreten ist, geht es um Formen des Übergangs. Das Bild der Söhne der Alpen kann motivlich an die in anderen Gedichten eingeführte Gestalt des Wanderers anknüpfen, ohne diese freilich explizit zu nennen. Zwar gibt es in Hölderlins Dichtung ab etwa 1800 eine immer stärkere Betonung der Figur des Dichters, dennoch tritt die Gestalt des Wanderers nicht gänzlich in den Hintergrund und geht nicht völlig in der Figur des Dichters auf. Mit der Bewegung des Hinübergehens, Überschreitens und Wiederkehrens verkörpert sie Aspekte, auf welche eine Dichtung sprachlicher Sphären nicht verzichten kann. 4) Mit Vers neun beginnt ein neuer Abschnitt in der ersten Strophe, der – wie sich in Vers 13 zeigt – als Gebet formuliert ist und gleichzeitig eine nähere Entfaltung und eine Konsequenz aus dem zuvor gestalteten Bild des Überquerens der Abgründe darstellt. Die Abgründe (V 7) entstehen, weil rings herum die „Gipfel der Zeit“ aufragen, was vor allem aus der Position des Adlers sichtbar wird. Mit dem Verweis auf die Gipfel der Zeit werden die seit dem Flug der Adler und den leichtgebauten Brücken im Gedicht präsenten Übergänge als Übersetzung von einer geistigen Gestalt, einer Wissensform, einer geistigen Errungenschaft, einer Disziplin, einer Denk- oder Sprachform in die andere transparent, worauf in Kürze noch einzugehen ist. Übergänge sind notwendig, weil „die Liebsten“ (V 10) „auf / Getrenntesten Bergen“ (VV 11 f.) wohnen. Im Gebet wird die Bitte um Wasser ausgesprochen, das die Täler ausfüllen möge, sodass man von Berg zu Berg gelangen könne; es wird ferner um Flügel gebeten, um die Distanz in der Luft zu überwinden. Die Strophe schließt mit einer Begründung, welche an die zuvor ausgesprochenen Bitten angefügt wird: Der Beter hofft darauf, auch weiterhin Treue üben zu können („treuesten Sinns“, V 14), indem ein Hinübergehen und Wiederkehren (V 15) möglich bleibt oder überhaupt erst möglich wird. Eine erste wichtige Beobachtung ist, dass im Gebet ein Akt der Subjektivierung erfolgt. Bisher war im Gedicht kein Ich vorbekommen, allenfalls könnte man, wenn 69

Auch in Am Quell der Donau lässt das Adjektiv „leicht“ an die Dimension des Geistigen denken: „Darum ihr Gütigen! umgebt ihn leicht“ (Am Quell der Donau, V 111). Für diesen Hinweis danke ich Friedrich Kern.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

man die ersten beiden Verse als Interjektionen versteht, damit ein Ich in Verbindung bringen. Mit der Bitte „So gieb . . . , . . . gib uns“ (VV 13 f.) treten der Beter und sein Adressat auf. Das Gebet erscheint als jene Sphäre, in welcher sich sowohl das Ich als auch sein Adressat, als der freilich immer schon Vorausgesetzte, der auch das Ich erst hat werden lassen, konstituieren. Gedicht und Gebet bilden an dieser Stelle wieder, wie am Anfang von Hölderlins Schreiben (M. G.), eine Einheit. Das Landschaftsbild ist besonders von den Gipfeln der getrennten Berge geprägt und wird von ihnen – als Landschaftsbild – auch überschritten, werden sie doch Gipfel der Zeit genannt. An dieser Stelle tritt das Gedicht in die Oszillation aus Geographie und Poesie ein. Die Gipfel der Zeit haben in der Auslegung des Gedichtes verschiedene Bedeutungen angenommen, die allerdings nicht wie getrennte Gipfel nebeneinander stehen müssen, Brücken scheinen mir leicht zu bauen. Binder sieht die Gipfel der Zeit als Augenblicke der Erfüllung, welche aus dem Strom der Geschichte herausragen und am Ende gehäuft nebeneinander stehen.70 Für Ludolf Müller sind sie die großen Gestalten der Vergangenheit vom Alten Testament über die griechische Antike zum Neuen Testament und den Philosophen der Neuzeit. Mit Hinblick auf einen späteren Entwurf des Gedichtes sagt er: „Sie alle sind für den Dichter ‚Liebste‘, sie alle sind ihm ‚nahe‘, aber sie ‚ermatten‘ jeder für sich auf ihren ‚Gipfeln‘, weil sie alle nicht allein ‚Gott fassen‘ können.“71 Auch Beyer sieht die Gipfel in ähnlicher Weise „restrospektiv“72 , wobei ihr Getrennt-Sein auf ein Herausfallen aus dem Zusammenhang kultureller Vermittlung und der Möglichkeit der Erstellung einer geschichtlichen Kontinuität hindeutet. Reitani hingegen streicht die Vorstellung der Geschichte als Landschaft heraus, welche der Dichter in seiner Wanderung durchquert und welche folglich als das verbindende Moment der herausragenden Punkte erscheint.73 Ergänzen möchte ich die Deutungen insofern, als das Landschaftsbild auch ein Bild der gegenwärtigen Zeit sein kann. Sich immer weiter spezialisierende Wissensformen ragen wie Gipfel aus dem Bewusstsein unserer Zeit heraus. Je höher, d. h. je spezialisierter, diese Wissensformen sind, desto tiefer wird der sie trennende Abgrund und desto schwieriger werden Prozesse der Übersetzung, die helfen können, eine Gemeinschaft zu stiften. Der Autor von Patmos entwirft nicht nur ein Bild der Geschichte, sondern auch der Gegenwart – darin ähnlich der Apokalypse des Johannes, die nicht allein eine Dechiffrierung der Geschichte, sondern auch eine Lektüre der eigenen Zeit bedeutet. Darüber hinaus ist aber auch eine explizit theologische Lektüre möglich, wie sie Schmidt vorschlägt, wenn er die Gipfel als unterschiedliche Formen göttlicher Offenbarung deutet: „Der Geist versöhnt auch alle in der Geschichte jemals geoffenbarten Formen des Göttlichen miteinander.“74 Diesen historischen, aktuellen und theologischen Deutungen möchte ich noch drei weitere Aspekte an die Seite stellen, die zwar nicht unmittelbar in den Gipfeln 70

Vgl. Binder, Hölderlin-Aufsätze, 372 f. Ludolf Müller, ‚Patmos‘, in: Lawitschka (Hg.), Hölderlin, 195–233, hier: 200. 72 Beyer, Hölderlin. 10 Gedichte, 158. 73 Vgl. TL 1519. 74 Schmidt, Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen, 202. 71

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

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der Zeit, aber in dem mit ihnen eng verbundenen Motiv des Hinübergehens und Wiederkehrens ihren Anknüpfungspunkt haben. a) Wenn mit dem Gebet ein erster Akt der Subjektivierung auftritt, ist es naheliegend, jene Bewegung des Hinübergehens und Wiederkehrens als ein Sich-Herausbilden einer Reflexionsstruktur zu lesen. Diese bedeutet zunächst nichts anderes als ein Von-sich-Ausgehen, in dem das Ich sich selbst zum Objekt wird („Hinüberzugehen“, V 15), und die Rückkehr in sich, die erkennt, dass dieses Objekt nichts anderes ist als es selbst („wiederzukehren“, V 15). Diese Struktur wird im Gedicht nicht aus einer Reflexion auf die grundlegenden Charakteristika des Ichs abgeleitet, sondern aus der Erfahrung der Wanderung, eben des Hinübergehens und Wiederkehrens (V 15). Sie stellt den Boden für alle weiteren Formen der Reflexion im Gedicht dar, so auch für die rekapitulierende Wendung „So sprach ich“ (V 16) am Beginn der zweiten Strophe. b) Friedrich Kern hat in der gemeinsamen Lektüre von Patmos vorgeschlagen, die doppelte Bewegung des Hinübergehens und Wiederkehrens als eine des Übergangs vom Menschen zu Gott und von Gott zum Menschen anzusehen. Die folgenden Strophen müssen zur Entfaltung bringen, wie sich diese Bewegung vollzieht. c) Mit Hinblick auf den Anlass der Abfassung des Textes und mit Hinblick auf die Betrachtung des biblischen Textes als Sphäre des Gedichtes lässt sich das Hinübergehen auch als der Weg einer Entfremdung und eines Verlassens des biblischen Textes (dies ist die Angst des Landgrafen Friedrich) und die Wiederkehr als Rückkehr in die Sphäre des Textes interpretieren. Diese Rückkehr kann im Sinne des Fragments philosophischer Briefe als „höhere Aufklärung“ (TS 14) verstanden werden, d. h. als eine Rückkehr, welche die Erfahrungen der Entfremdung und der Kontingenz, kurzum der Aufklärung, nicht auflöst. 5) Die zweite Strophe (VV 16–30) fasst die erste im Wort „So sprach ich“ (V 16) zusammen und zeichnet retrospektiv ein neues Bild von ihr. In der Sprache rekapituliert das erstmals direkt genannte Ich den bisherigen Weg, der vom unbestimmt drohend Verheißungsvollen des Sich-Nahens zu einer Form der Reflexion geführt hat. Die Wahrheit der zusammenfassenden Aussage „So sprach ich“ liegt in einem ersten Einblick, den das Ich in die Bedeutung der Sprache erhält, was an das Auftreten der Sprache in Am Quell der Donau (VV 46–50) denken lässt, womit ebenfalls ganz neue Möglichkeiten für den Menschen verbunden waren. Die Unwahrheit aber liegt darin, dass das Ich, ähnlich wie der Dichter in Wie wenn am Feiertage . . . , vermeint, diese Entwicklung als die von ihm erkannte und ausgesprochene schon auf sich nehmen zu können: So sprach ich. Unmittelbar danach wird das zunächst souverän erscheinende Ich („So sprach ich“, Patmos, V 16) hinweggerissen auf einen langen Weg des Lernens, über den es nicht verfügen kann. Die Einleitung zu seiner Reise oder Wanderung findet sich in den Versen 16–20, die mit einem Punkt beendet werden und einen eigenständigen Satz bilden. Sie heben sich damit von der danach erfolgenden Schilderung der Reise ab, die bis zum Ende der dritten Strophe keine Unterbrechung mehr durch einen Punkt finden wird.

230 So sprach ich, || da entführte Mich schneller, denn ich vermuthet Und weit, wohin ich nimmer Zu kommen gedacht, ein Genius mich Vom eigenen Hauß’. || Es dämmerten

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

20

Das Ich wird aus dem gewohnten Umfeld (dem „eigenen Hauß’“, V 20) versetzt und verliert seinen affektiven und noetischen Bezugsrahmen, indem es in eine Entwicklung genommen ist, die all seinem Vermuten und Erspüren zuvorkommt („schneller, denn ich vermuthet“, V 17) und das Vermögen seiner Imagination übersteigt („wohin ich nimmer / Zu kommen gedacht“, VV 18 f.).75 Nach der Einleitung (VV 16–20) ist eine Zäsur gesetzt, die den Beginn der Schilderung der Reise, die bis zur Mitte des Gedichtes in der achten Strophe reicht, anzeigt: War gerade noch von einer nicht fassbaren Unmittelbarkeit der Versetzung die Rede, welche an die Unmittelbarkeit des „Nah ist“ (V 1) erinnert, so wird das Ich am Beginn seiner Reise als behutsam gehend geschildert. Diese Langsamkeit ist notwendig, um überhaupt etwas von der Entfremdung erfahren zu können, welche dem Ich auf seiner Reise widerfährt. Die Wanderung beginnt im dämmernden Zwielicht (VV 20 f.), mithin in einem Raum der Unbestimmtheit zwischen Licht und Dunkel, Sein und Nicht-Sein, der keine festen Konturen erkennen lässt und reiner Übergang ist. Die Wendung „da ich gieng“ unterbricht dieses Zwielicht und gibt ihm eine erste Strukturierung durch die Schritte des Wanderers, sodass sich das Bild nach dieser Unterbrechung genauer differenzieren kann: Der „schattige Wald“ (V 22) und „die sehnsüchtigen Bäche“ (V 23) heben sich in der Dämmerung vernehmbar von anderem ab. Der schattige Wald stellt eine Sphäre dar, indem er einerseits das umgebende Gesamt der Bäume in einem Gebiet ist und andererseits darin Wege freigibt. Seine Erwähnung scheint mir von hoher Relevanz: Der Wanderer bewegt sich im Raum einer Sphäre, auch wenn sich diese vorerst nur als dunkel und (in der Nacht) kaum begangen erweist. Zumindest ermöglicht sie elementare Formen der Wahrnehmung, die eine weitere Entwicklung finden können. Aus der Dämmerung hebt sich auch das Fließen der sehnsuchtsvollen Bäche ab, das für ein erstes noch nicht weiter differenziertes Streben steht, das lediglich eine Richtung anzuzeigen vermag. Diese folgt der natürlichen Schwerkraft und hat noch nichts mit absichtsvollem Planen oder Intentionalität zu tun, das Streben entspricht eher einer affektiven Grundspannung, welche sich in den sphärischen Raum des schattigen Waldes einschreibt.

75

Es kann dabei mythologisch an die Entführung des Ganymed gedacht werden. Ich bin mir nicht sicher, ob man vielleicht auch biblisch an den Adler, das Symboltier, des Evangelisten Johannes, denken kann, der in den biblischen Text, besonders die Apokalypse, mithineinnimmt (vgl. TL 1519). Meines Erachtens ist der biblische Text zwar durchgängig präsent (weshalb ich ihn als Sphäre des Gedichts bezeichne), im Verlauf der Reise des Ichs muss jedoch erst eine langsame Annäherung an ihn erfolgen und sind es zunächst griechische Motive, welche die (Text-)Landschaft prägen. Sowohl aufgrund des Aufbaus der Hymne als auch aufgrund der expliziten Nennung eines „Genius“ (V 19) scheint mir der Adler eher auf die Entführung des Ganymed als auf das Johannes-Evangelium oder die Johannes-Apokalypse zu verweisen.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

231

In Vers 24 ist „Der Heimath“ als Genitiv den sehnsüchtigen Bächen nachgestellt, um anzuzeigen, wo diese ihren Ort und ihre Zugehörigkeit haben. Das Wort „Heimath“, das in einer Verspätung unerwartet nach der Versgrenze auftaucht, fungiert aber eher als ein paradoxer Hinweis auf den Zustand der Entfremdung denn als eine tatsächliche Verbindung zur Heimat. Zu stark wirkt an dieser Stelle die Entführung vom eigenen Haus (VV 16–20). Allerdings führt die Fremde zu einer ersten Erfahrung des Ichs, welche es noch im selben Vers ausspricht und welche aus der Beschreibung der Landschaft insofern herausfällt, als es sich um einen Akt der Reflexion handelt: „nimmer kannt’ ich die Länder“ (V 24). Diese Passage ist auch dadurch hervorgehoben, dass sie zwischen zwei Strichpunkte eingebettet ist, was sie aus dem Duktus des Satzes etwas herausnimmt. Das Ich spricht also von den sehnsüchtigen Bächen der Heimat, scheint jedoch im Aussprechen durch die sich zwischen die Bäche und die Heimat schiebende Versgrenze zu bemerken, dass ihm die Heimat fremd geworden ist. In der Reflexion darauf spricht es aus, dass ihm die Länder, die Gegenden, die Landschaften überhaupt unbekannt erscheinen, dass es mithin keine Heimat mehr zu finden vermag. Wie sich aus dem Zusammenhang des gesamten Gedichtes zeigt, hat der versetzte Bezug auf die Heimat auch einen geistvollen Charakter: Heimat gibt es nie in unmittelbarer Identität als ein Sichmit-sich-selbst-Zusammenschließen, sondern nur in Versetzungen, die in das Bild der Heimat bzw. des Subjektes eine Lücke, eine Öffnung eintragen. Eine derartige Einsicht ist aber auf der gegenwärtigen Stufe der Entwicklung des Ich noch nicht möglich. 6) Die Entfremdung von der Heimat lässt den Wanderer offener werden für das Geschehen, das ihm begegnet, die Bewegung beschleunigt sich wieder, nicht länger ist er es, der geht, sondern ist es Asia76 (V 31), das ihn anzieht und in die nächste Strophe mitnimmt: Doch bald, in frischem Glanze, Geheimnißvoll Im goldenen Rauche, blühte Schnellaufgewachsen, Mit Schritten der Sonne, Mit tausend Gipfeln duftend,

25

30

Mir Asia auf,

Strophe zwei und drei sind durch ein Enjambement verbunden, das erste Ziel der Reise liegt jenseits der Strophengrenze, d. h. jenseits einer Grenze, innerhalb derer sich der Wanderer noch zu orientieren vermochte. Aus der Dämmerung ist frischer Glanz geworden, der jedoch den Charakter des Geheimnisses bewahrt, wie das Wort „Geheimnißvoll“ (V 26) unterstreicht, das gemeinsam mit dem wenig später auftretenden Adverb „Schnellaufgewachsen“ (V 28) als einziges Wort des Gedichtes einen ganzen Vers umfasst und dadurch besonders hervorgehoben wird. Asia, das 76

„Gemeint ist mit diesem lateinischen Namen das griechisch-römische Kleinasien“ (Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 158).

232

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Subjekt zu „blühte“ (V 27), wird erst spät, nach einigen beigeordneten Wendungen genannt; sein Auftauchen aus dem geheimnisvollen „goldenen Rauche“ (V 27) wird langsam vorbereitet. Die Schritte des Wanderers („da ich gieng“, V 21) werden zu „Schritten der Sonne“ (V 29), deren Lauf die Strukturierung des Weges übernimmt. Was zuerst von Aisa sichtbar wird, sind tausend duftende Gipfel (V 30). Das poetische Ich kann auf ein Motiv zurückgreifen, welches ihm aus der ersten Strophe vertraut ist und bereits in die Sprache gehoben wurde („So sprach ich“, V 16). Aus den getrenntesten Gipfeln sind duftende Gipfel geworden, mithin hat sich im Rahmen der Reise eine erste Form der Wandlung eingestellt. Die dritte Strophe will Asia eine genauere Bestimmung geben und führt dabei jenen Satz weiter fort, der schon in Vers zwanzig mit „Es dämmerten“ begonnen hat und bis zum Ende der dritten Strophe (V 45) reicht. Die gesamte erste Etappe der Reise ist in einen Satz gebracht, der lediglich in den Versen 38 und 39 sowie zweimal in Vers 24 durch einen Strichpunkt eine leichte Unterbrechung erfährt. Die Beschreibung der sich eröffnenden Landschaft Asias wird dadurch erschwert, dass der eben noch in der Dämmerung des schattigen Waldes gehende Wanderer nun „Mit Schritten der Sonne“ (V 29), d. h. im Sonnenwagen über die Landschaft hinwegbraust. Dadurch bietet sich ihm zwar jener Blick, den in der ersten Strophe der Adler einnahm, der Unterschied ist jedoch, dass er die Landschaft in blendendem Licht sieht (V 31). Sie kann von ihm nicht aufgenommen werden und wird ihm nicht vertraut, weshalb ihm nichts anderes übrig bleibt, als „eines“ zu suchen, das er „kennete“ (V 32). Gestaltet wird ein fein strukturiertes Bild griechischer Landschaft, das an die grandiose Reminiszenz antiker Welt in der späten Tübinger Griechenland-Hymne erinnert. Die Strophe kann in zwei Teile untergliedert werden, der erste Teil reicht von Vers 32 bis 37 und steht unter dem Zeichen des Ungewohnten („ungewohnt“, V 32), während der zweite Teil, der die Verse 38 bis 45 umspannt, als unzugangbar („unzugangbaren“, V 41) geschildert wird. Der erste Abschnitt nennt drei Gebirge (Tmolus, Taurus, Messogis) und greift damit die Gipfel der Zeit, die zum Schmuck Asias geworden sind (V 30), wieder auf. Außerdem erwähnt er einen Fluss (Pactol) und einen Blumengarten. Die Gebirge werden im zweiten Teil der Strophe als glänzend geschildert, weil hoch auf ihnen „der silberne Schnee“ (V 39) blühe. Die Metapher des Blühens des Schnees ist durch das Bild des Blumengartens in Vers 37 vorbereitet. Danach begegnen zwei weitere Bilder, denen gemeinsam ist, dass ihr Gegenstand unzugangbar (V 41) ist: Das „Zeug unsterblichen Lebens“ (V 40), der uralte „Epheu“ (V 42), steht, auf das Bild von der Geburt des Bacchus anspielend, für die Dichtung. Die Bäume bilden die lebenden Säulen der von Gott gebauten Paläste (VV 42–45), was auf den Kult hinweist. Weder Landschaft noch Dichtung noch Kult werden für den unversehens nach Griechenland versetzten und es überfliegenden Wanderer noch lebendig. Der blendenden Fülle griechischer Welt, in welcher es kein Verweilen gibt, steht ein stilles Feuer entgegen (V 38), welches sich als das eine Gesuchte erweist, das dem Wanderer vertraut ist. Kaum sichtbar bildet es doch die Mitte der Strophe, ihren achten Vers. Die Suche erscheint vorerst nicht erfolgreich, es gibt kein Verweilen

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

233

in dieser Welt. Ihre Schilderung wird am Ende der dritten Strophe mit einem Punkt abgeschlossen und die Reise fortgesetzt.

Strophen IV–VI (VV 46–90) 1) Die Fortsetzung der Wanderung führt in eine gewandelte Szenerie: Der Weg verläuft nicht mehr in der Luft (VV 25–45), sondern im Wasser. War in der dritten Strophe das Sehen der vorherrschende Sinn, ist es in der darauffolgenden Strophe das Hören. An die Stelle des Blendenden tritt das Dunkle (V 56). Statt vorwiegend vertikal orientierter Elemente (Gipfel, Gebirge, Flüsse, die herabströmen, Wände, Säulen . . . ) werden nun waagrecht ausgerichtete Wege und Flächen („Meeresebene“, V 48) sichtbar. War die dritte Strophe auf die antike griechische Welt bezogen, beginnt mit der vierten der Eintritt in den biblischen Kosmos, wenngleich die griechische Welt immer präsent bleibt. Mit dem Schiffer (V 50) tritt eine Vermittlergestalt auf, welche den Genius ablöst. Zwar war auch dieser bereits eine Vermittlergestalt, allerdings konnte das Ich mit ihm in keinerlei Interaktion treten, wohingegen der Wanderer mit dem Schiffer offensichtlich ein Gespräch führt. Schon der Einstieg in die Strophe unterscheidet sich deutlich vom Beginn der dritten Strophe: Bricht Asia im ersten Vers sofort in den Verlauf des Textes ein („Mir Asia auf“, V 31), hebt die Schilderung der darauffolgenden Etappe der Reise leise, unbestimmt und abwartend an: „Es rauschten aber . . . “ (V 46). Dass mit „Es“ die „schattenlosen Straßen“ (V 50), d. h. die Schifffahrtswege77 , gemeint sind, erfährt man erst mehrere Verse später. Das Rauschen ist ein erster noch gänzlich undifferenzierter Laut, der darauf vorbereitet, dass der Wanderer später Worte hören (V 51) kann und in der fünften Strophe die Landschaft mit dem Werden von Klang und Sprache verknüpft wird. Anders als die geradlinige Bewegung der dritten Strophe, in welcher es weder Verweilen noch Umwege gibt, ist die Richtung zu Beginn der vierten Strophe noch keineswegs bestimmt, sondern „Hinziehend da und dort“ (V 47) bewegen sich die Straßen „In ungewisser Meeresebene“ (V 48). Die Wege haben sich vervielfältigt, es bedarf des kundigen Schiffers, welcher in der sich eröffnenden Weite die Inseln kennt, auf denen ein Verweilen möglich ist. Das Gedicht ist in einem auffälligen Kontrast zur vorangehenden Strophe zu langsamen Schritten der Annäherung an ein Phänomen, das seine Darstellung im Text finden soll, zurückgekehrt. Wohin aber deutet diese Annäherung? Der Wanderer erfährt von der Nähe der Insel Patmos, indem er von ihr hört. Das Hören weckt ein Verlangen („Verlangte mich sehr“, V 54), das konkreter ist als die zuvor aufgetretene Sehnsucht (V 23) und die Suche (V 31). Das Motiv der Nähe begegnet zweimal: Patmos sei eine nahegelegene Insel (V 52), auf welcher sich der Wanderer einer dunklen Grotte nahen wolle (V 56). Anders als beim unbestimmten bedrohlich-verheißungsvollen Sich-Nahen vom Beginn des Gedichtes (V 1) handelt es sich um die Annäherung an einen konkreten Ort, der als gastfreundlich geschildert wird (V 61). Anders als bei den nahe, doch getrennt wohnenden 77

Vgl. KA 980.

234

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Liebsten (VV 10 f.) kann der Weg zum Ziel überbrückt werden und das Verlangen einen Ort der Einkehr finden. Entscheidend für diese Wende ist, dass der Wanderer auf seinem Weg bereits von der Dialektik der Nähe erfahren hat. Die griechische Welt war ihm bedrohlich nahe gekommen, konnte von ihm aber nicht aufgenommen werden. In der Fülle ihrer Nähe blieb sie ihm fern, sodass er ein neues Suchen (nach dem stillen Feuer) entfalten musste. Die nahekommende Insel versucht er nun nicht mehr mit seinem Verlangen sofort zu okkupieren, sondern hält sie in einer Schwebe aus Nähe und Distanz, die darin einen Ausdruck findet, dass er die näher kommende Insel mit der zweimaligen Nennung des Adverbs „dort“ (V 55) in einem angemessenen Abstand hält. Der Weg der Annäherung nimmt auf diese Weise eine differenzierte Gestalt an: Und da ich hörte Der nahegelegenen eine Sei Patmos, Verlangte mich sehr, Dort einzukehren und dort Der dunkeln Grotte zu nahn.

Nähe realer Ort Ferne / Nähe Ferne Nähe

Patmos wird im Rahmen der vierten Strophe nicht direkt beschrieben, sondern in den letzten Versen lediglich der reichen, für die Fülle der griechischen Welt paradigmatischen Insel Cypros gegenübergestellt (VV 57–59). Die nähere Bestimmung der Insel Patmos muss bis zur nächsten Strophe warten. Die fünfte Strophe beginnt analog zur ersten Strophe: Nah ist

Gastfreundlich aber ist

Jene Nähe, die sich als bedrohlich oder verheißungsvoll erweisen konnte, hat sich im Verlauf des Gedichtes zur Gastfreundlichkeit gestaltet. Die Insel vermag, wenn auch ärmer denn die anderen Inseln (V 62), dem der „Ihr nahet“ (V 67) Verweilen und Aufnahme zu bieten. Historisch war die karge Insel Patmos unter römischer Herrschaft Verbannungsort und später Zufluchtsort für Flüchtlinge (VV 64–68).78 Sie nimmt den Wanderer auf, wie sie früher den gottgeliebten Seher Johannes, den Autor der Apokalypse, aufgenommen hat (VV 73–75). 2) Die Insel wird in der fünften Strophe als menschenleer geschildert, wohl um den Blick für eine fundamentale Entwicklung freizugeben: Als Landschaft vermag sie zum Klangraum zu werden, welcher den Ankommenden den Wiedereintritt in eine sprachliche Sphäre ermöglicht. Wurden dem Ich in der dritten Strophe die Augen und in der vierten Strophe die Ohren geöffnet, so gestaltet sich in der fünften Strophe die Landschaft zu einem Resonanzraum. Dies beginnt damit, dass die Insel die Klagen der auf ihr Ankommenden gern hört (VV 64 f., 68). Es sind Klagen um die verlorene „Heimath“ (V 65), d. h. um die Zugehörigkeit, die symbolische Ordnung, das „Vaterland“ (vgl. Abschn. 4.1), die sprachliche Sphäre, in welche die 78

Vgl. KA 980.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

235

Ankommenden eingefügt waren und welche ihnen verloren gegangen ist. Die Klagen finden eine Aufnahme. Der zweite Schritt auf dem Weg des Werdens der Insel zum Klangraum bzw. zur sprachlichen Insel, ist in einem komplexen Satz ausgedrückt: [. . . ] hört sie es gern, und ihre Kinder Die Stimmen des heißen Hains, Und wo der Sand fällt, und sich spaltet Des Feldes Fläche, die Laute Sie hören ihn und liebend tönt Es wieder von den Klagen des Manns.

70

Die Insel hört die Klagen der auf ihr Ankommenden gern, ebenso hören ihre Kinder, die Stimmen des heißen Hains und die Laute, die Klagen gern: hört sie es gern, und ihre Kinder Die Stimmen des heißen Hains, die Laute Sie hören ihn

Die Kinder der Insel, also das, was auf ihr wird, was auf ihr entstehen kann, was von ihr seinen Ausgang nimmt79 , werden zunächst als reine aufnehmende Offenheit gezeichnet. Daran wird deutlich, warum diese Strophe, die Unbestimmtheit des Gedichtanfangs („Nah ist“, V 1) wieder aufnehmen konnte. Das noch jeder prädikativen Bestimmung und Subjektivität vorausliegende „Nah ist“ (V 1) hat sich zur Offenheit für die Klage und damit das Leid der Menschen wie der Schöpfung insgesamt (die Strophe zeigt die Insel zunächst als menschenleere) entwickelt. Es begegnet eine Form der Sprache, die ihren Ursprung in der Klage um den Verlust der Eingebundenheit in eine Heimat, d. h. in der Entfremdung vom eigenen noetischen und affektiven Bezugsrahmen hat. Was die Insel hervorbringt, ihre Kinder, sind Stimmen des heißen Hains und Laute. Diese Stimmen und Laute, also selbst Phänomene klanglicher Artikulation, sind es, die die Klagen aufnehmen, nicht jedoch ist von besonders aufmerksamen Ohren die Rede, was für die weitern Überlegungen wichtig wird. Und wo der Sand fällt, und sich spaltet Des Feldes Fläche, die Laute

70

Den Lauten vorangestellt, ist eine genauere Explikation, wie sie zum Klang werden: Der Sand fällt und des Feldes Fläche spaltet sich. Dafür lassen sich, wie Binder und Beyer zeigen, Naturphänomene anführen.80 Liebrucks weist auf ein subjekthaftes, vielleicht darf man sogar sagen sprachliches Verständnis der Natur hin: „Diese 79 80

Vgl. KA 980. Vgl. Binder, Hölderlin-Aufsätze, 377; Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 160.

236

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Kinder der Insel hören den Fremdling, der bei ihr Schutz sucht. Das ist die Gegenwart der in Innigkeit erfahrenen organisch begegnenden Natur selbst in diesem Gesang.“81 Darüber hinaus aber geht es um eine Reflexion über die Entstehung des Klangs, der Lautung, der Sprache: „Sand fällt“ (V 70) und folgt damit dem Gang der natürlich wirkenden Kräfte. Er zeigt dabei eine Grundrichtung aller Orientierung auf. Der Boden, auf den er fällt, „Des Feldes Fläche“ (V 71), spaltet sich zur Zweiheit und vermag keine ungebrochene Einheit darzustellen, auf welche der Sand auftreffen und auf welcher er sich anhäufen könnte. Der fallende Sand (und mit ihm das Streben, die Bewegung) findet keinen Schirm, der ihn reflektieren oder aber seine Sammlung ermöglichen könnte. Sein Strom spaltet sich selbst auf: Ein Teil zerstreut sich, ein Teil fällt in die Risse. Die fundamentale Kraft natürlichen Strebens bildet somit selbst keine ungebrochene Einheit mehr. Dieser Ort („wo“, V 70) einer Spaltung der Einheit sowohl der grundlegenden Kraft als auch der aufnehmenden Fläche ist der Ursprung des Klangs. Die Laute gehen aus einem Bruch der natürlichen Kontinuität und Einheit hervor. Als solche sind sie selbst vergänglich und können keine dauerhafte Einheit bilden. In ihrem Auftreten verschwinden sie auch wieder. Die Stimmen des heißen Hains, die Laute Sie hören ihn und liebend tönt Es wieder von den Klagen des Manns.

Wie oben ausgeführt sind es die Stimmen und Laute (nicht Ohren), die den Fremden hören und von den Klagen des Mannes tönen. Sie hören und werden zum Träger der Klage, welche in ihnen einen Resonanzraum findet, um selbst hörbar zu werden. Sie sind die Trägerwelle, die eine andere Botschaft mittragen kann. In ihnen vermag sich die Klage auszusprechen. Zunächst ist es also die Insel, welche die Klagen aufnimmt. Dann werden ihre Kinder, die Stimmen oder Laute, zu dem die Klagen aufnehmenden Element (wobei sich in die Schilderung eine sprachphilosophische Überlegung über das Werden von Klang und Sprache einschiebt). Auf diese Weise ermöglichen sie die Sprachwerdung der auf der Insel Ankommenden. Die gastliche Landschaft ist Resonanzraum, der den auf ihr Einkehrenden nicht nur Raum, sondern auch Sprache gibt. 3) Bis zu diesem Punkt könnte man die Überlegungen, freilich mit gewissen Akzentverschiebungen, auch aus der Hymne Am Quell der Donau entwickeln. Geschildert wurde ein Prozess des Zur-Sprache-Werdens oder der menschenbildenden Stimme (Am Quell der Donau, V 42), der in die Gestalt des Gesangs oder der Klage übergehen soll. Patmos jedoch geht darüber hinaus, weil es diesen Vorgang des ZurSprache-Werdens auf seinen Ermöglichungsgrund befragen wird, der in einem Text besteht. Dieser Aufgabe ist der nächste inhaltliche Bogen des Gedichtes gewidmet, der nicht erst in der folgenden Strophe, nicht erst im folgenden Vers einsetzt, sondern dessen Beginn sich unmittelbar nach der Rede von den „Klagen des Mannes“ (Patmos, V 73) findet: „So pflegte / Sie einst [. . . ]“ (VV 73 f.). 81

Liebrucks, „Und“, 815.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

237

Die Insel Patmos hatte einst den gottgeliebten Seher aufgenommen, „der in seeliger Jugend war // Gegangen mit / Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich“ (VV 75–77). Hölderlin schließt an die bereits altkirchlich bezeugte Tradition der Überblendung mehrerer Gestalten des Neuen Testaments an, nämlich des im Johannes-Evangelium namentlich nicht identifizierten Jüngers, den Jesus liebte („gottgeliebten“, V 74; „unzertrennlich“, V 77), des Schreibers des Johannes-Evangeliums und der Johannes-Briefe und des Sehers Johannes aus der Apokalypse.82 Damit ist die Reise an ihrer nächsten Station angelangt, im biblischen Text. Bis zur Mitte des Gedichts in der achten Strophe werden Gestalten der biblischen Landschaft vor Augen gestellt. Der Einstieg in den biblischen Text ist die Zeit des öffentlichen Auftretens Jesu, bei dem ihn seine Jünger begleiteten: „Gegangen mit / Dem Sohne des Höchsten, unzertrennlich“ (VV 76 f.). Als nächste Erzählung wird auf das letzte Abendmahl, als „sie / Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals“ (VV 81 f.; vgl. VV 79–88), angespielt, bei dem der Jünger, den Jesus liebte, in großer Nähe zu Jesus lag, sodass „der achtsame Mann / Das Angesicht des Gottes genau“ (V 79 f., Joh 13,23) sah. Jesus spricht in den sogenannten Abschiedsreden (Joh 14–16) vom „Geheimnisse des Weinstoks“ (V 81): „Ich bin der Weinstock, ihr die Reben. Der Bleibende in mir und ich in ihm, dieser trägt viel Frucht, denn getrennt von mir könnt ihr gar nichts tun.“ (Joh 15,5) Er spricht den geahnten Tod ruhig aus (V 83, Joh 16,5) und „die lezte Liebe“ (V 84): „Gleichwie mich liebte der Vater, auch ich liebte euch; bleibt in meiner Liebe!“ (Joh 15,9) Die Rede von Liebe und Güte hat nie genug der Worte, „damals“ (V 86; vgl. VV 84–86) – sie wird in den Abschiedsreden immer neu aufgenommen und muss diese überschreiten (Joh 21,25), ins Heute. Das Zürnen der Welt, die Verfolgung der Jünger, soll verwandelt und damit erheitert werden (VV 86 f., Joh 15,18 f., 16,20–22).83 Danach wird in knappen Worten vom Tod Jesu berichtet (VV 88 f.): Denn alles ist gut. Drauf starb er. Vieles wäre Zu sagen davon.

Im Johannes-Evangelium heißt es: Es ist vollendet und neigend den Kopf, übergab der den Geist (Joh 19,30).

Im Evangelium geht dem Abschied Jesu das Wort „Es ist vollendet“ voraus, bei Hölderlin das Wort „Denn alles ist gut“. Beide drücken eine Totalität aus („alles“, „vollendet“), die jedoch nicht das letzte Wort darstellt, sondern den Blick auf eine neue Vielfalt richtet, die im Geist gegeben ist. Im Johannes-Evangelium heißt es von der Gabe des Geistes: 82 Vgl. Jörg Frey, Das Corpus Johanneum und die Apokalypse des Johannes. Die Johanneslegende, die Probleme der johanneischen Verfasserschaft und die Frage der Pseudonymität der Apokalypse, in: Akier/Hieke/Nicklas/Sommer (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, 71–133. 83 Vgl. KA, 982; Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 161.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Aber ich sage euch die Wahrheit: Es nützt euch, daß ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, wird der Fürsprecher nicht zu euch kommen; wenn aber ich gehe, schicken werde ich ihn zu euch (Joh 17,7).

Johannes, der die Kenntnis der synoptischen Evangelien voraussetzt, kann über den Tod Jesu in einer anderen Weise schreiben als diese: Das Leben Jesu ist vollendet, dies ist der Beginn seiner Gegenwart im Geist (Paraklet, Fürsprecher). So sind die Abschiedsreden nicht allein auf den Tod Jesu bezogen, sondern auch auf die Verabschiedung seiner unmittelbaren Präsenz und seine Wiederkunft im Geist, die in immer neu zu gebenden Interpretationen des Textes des Evangeliums bezeugt werden muss: Es gibt aber auch viele andere (Dinge), die (der) Jesus tat, welche, wenn sie in einem [„entlang einem“ – in einem Zug] (auf)geschrieben werden, auch nicht der Kosmos selbst umgreifen / aufnehmen / erfassen könnte, die geschriebenen Bücher / die zu schreibenden Bücher (Joh 21,25).84

Bei Hölderlin erscheint diese Formulierung in verkürzter Form: „Vieles wäre / Zu sagen davon.“ (VV 88 f.) Sie zeigt eine Transzendenz des Textes an, der nicht als die Totalität der Erzählungen angesehen werden darf, sondern sich auf immer neu zu gebende öffnet. Vor dem hohepriesterlichen Gebet (Joh 17) enden die Abschiedsreden mit den Worten: „doch habt Mut, ich habe besiegt die Welt“ (Joh 16,33). In Patmos sehen die „Freunde“ (V 90, Joh 15,15) Jesus, „wie er siegend blikte“ (V 89). Die sechste Strophe des Gedichtes (VV 76–90) erweist sich als eine Relektüre der Geschichte Jesu von seinem irdischen Auftreten bis zu seinem Tod, wobei als Vorlage dieser Relektüre die Abschiedsreden Jesu dienen. Die gesamte Strophe stellt eine Paraphrase von Motiven aus dem Johannes-Evangelium dar. Der Wanderer ist damit zum Leser geworden und in den biblischen Text eingetaucht. Ungeklärt ist aber noch die Frage, in welcher Weise dieser zum Träger seiner Klage und seiner Sprache werden könne.

Strophen VII–IX (VV 91–120) 1) Die dritte Triade erzählt vom Leben der Freunde Jesu nach seinem Tod und erweist sich über weite Strecken erneut als eine Refiguration biblischen Textes. Am Beginn steht die Trauer der Freunde, deren Zeit der Abend ist: „Doch trauerten sie, da nun / Es Abend worden, erstaunt“ (VV 91 f.). Dies erinnert an die Wanderung der traurigen Jünger nach Emmaus, bei der sie vom auferstandenen Jesus begleitet werden, diesen aber nicht erkennen: „und ihnen gieng / Zur Seite der Schatte des Lieben“ (VV 98 f.). Als die Jünger in ein Dorf kommen, bitten sie ihren Begleiter zu bleiben: „Bleib bei uns, weil es gegen Abend ist und sich geneigt hat schon der Tag!“ (Lk 24,29). Das Erstaunen (V 92) mag auf das Unverständnis der Jünger hinweisen und die anschließende Öffnung ihrer Augen (Lk 24,31). Ludolf Müller verneint den Bezug auf Emmaus und will dem Abend unmittelbar und 84

Für die Übersetzung danke ich Alfred Dunshirn.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

239

ausschließlich eine gesichtsphilosophische Deutung geben: „es ist der Abend eines Weltentages, das Ende der Epoche, in der das Göttliche sichtbar in Erscheinung getreten war. Christus war die letzte Erscheinung dieses Weltentages.“85 Der Deutung ist meines Erachtens zuzustimmen, nicht jedoch der Absage an den Bezug auf die Emmaus-Perikope. Hölderlin nimmt immer wieder den Ausgang von Motiven der Landschaft oder der Geschichte, um diese in eine Oszillation mit anderen Bedeutungsebenen – griechisch-antiken, biblischen und geschichtsphilosophischen – zu bringen, die sich nicht selten überlagern. Die Freunde hatten „Großentschiedenes“ (V 93) in der Seele, sie stehen an einem Übergang der Zeiten, den zu gehen sie auf sich nehmen. Sie verkörpern damit jene Zwischenphase, die Hölderlin im Fragment Das untergehende Vaterland . . . beschreibt. Allerdings hängen sie noch der Fixierung eines Bildes (Punctes in der Diktion von Das untergehende Vaterland . . . ) an und können die Auflösung dieses Bildes nicht zulassen, um zum nächsten überzugehen (VV 94–97, vgl. TS 35). Hölderlin spricht an dieser Stelle von der „Heimath“ (V 97), von der sie nicht lassen wollen, was sehr an den Terminus Vaterland aus dem entsprechenden Aufsatzfragment erinnert. Weil den Freunden Jesu der Übergang nicht von selbst gelingt und weil sie traurig bleiben, „sandt’ er ihnen / Den Geist“ (VV 100 f.), der im Johannes-Evangelium auch Paraklet, d. h. Tröster oder Beistand, genannt wird (Joh 14,26). Dabei waren die Jünger wie beim Pfingstereignis im Haus versammelt (Apg 2,1–13). Die Geistsendung wird mit dem Bild eines Gewitters geschildert, welches zuvor schon einmal auf Jesus übertragen worden war („der Gewittertragende“, V 78), die Freunde Jesu werden als die „ahnenden Häupter“ (V 104) bezeichnet. Dies ist dieselbe Bildsprache, die auch in Wie wenn am Feiertage . . . verwendet worden war. In Patmos sind es jedoch nicht die Dichter, die sich mit entblößtem Haupte in die Präsenz Gottes stellen wollen, sondern die ahnenden Häupter der Freunde Jesu, über welche die „Wetter Gottes rollten“ (V 102) und der Geist in unverfügbarer Weise kommt. Er soll den Übergang in eine neue Zeit ermöglichen. 2) Jesus kann, wie der Beginn der achten Strophe sagt, „scheidend / Noch einmal ihnen erscheinen“ (VV 106 f.), womit auf die Himmelfahrt Christi angespielt ist (Apg 1,4–11). Im Abschied, wenn die Freunde Jesus nicht mehr festhalten wollen (man denke an die Begebenheit mit Maria von Magdala, Joh 21), vermag er ihnen noch einmal zu erscheinen. Das Ablassen vom Versuch der Fixierung ist bereits eine Folge der Geistsendung und erfährt in den folgenden Versen, welche die Mitte des Gedichtes bilden, eine theologische Deutung: Denn izt erlosch der Sonne Tag Der Königliche und zerbrach Den geradestralenden, Den Zepter, göttlichleidend, von selbst, Denn wiederkommen sollt es Zu rechter Zeit. [. . . ]

85

110

Ludolf Müller, ‚Patmos‘, in: Lawitschka (Hg.), Hölderlin, 195–233, hier: 210.

240

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Der königliche Tag der Sonne, der an das blendende Licht der Fülle der griechischen Welt in der dritten Strophe erinnert, ist erloschen. Jetzt hat tatsächlich der Übergang in eine neue Epoche statt, die von der Unmittelbarkeit, sei es der griechischen Götterwelt, sei es des Umgangs mit Jesus, ablassen muss. Der nächste Satz schlägt eine Deutung dieses Geschehens vor: „göttlichleidend, von selbst“ (V 111) wird der geradestrahlende Zepter zerbrochen. Subjekt scheint noch immer „der Sonne Tag“ (V 108) zu sein. Durch die Wendung „göttlichleidend, von selbst“ legt sich jedoch nahe, dass der Sonne Tag letztlich auf Gott verweist, der den geradestrahlenden Zepter im Leiden Jesu von selbst zerbrochen hat. Das Wort „gerade“ wurde zur Zeit Hölderlins auch im Sinne von „direkt“, „unmittelbar“ verwendet. Jener göttliche Strahl, den der Dichter in Wie wenn am Feiertage . . . mit eigener Hand erfassen und weiter vermitteln wollte, erwies sich in Am Quell der Donau bereits als abgekühlt und erscheint in Patmos als von Gott selbst gebrochener. Als gebrochen erscheint der Gedanke einer geraden, unmittelbaren, direkten Offenbarung Gottes, verabschiedet wird – von Gott selbst – das Bild einer Gottesunmittelbarkeit. Konnte bisher der Eindruck entstehen, der Verlust der Gottesunmittelbarkeit sei dem Unvermögen der Menschen oder dem Weltlauf anzulasten, so eröffnet sich in Patmos eine andere Perspektive. Der Verlust inniger Beziehung zu Gott in Gebet und Kultus soll keineswegs geleugnet werden, in ihm kann sich aber auch eine Erfahrung göttlicher Offenbarung zeigen, welche dem Verlust den opaken, undurchdringlichen Charakter nimmt. Er wird, wie „Des Feldes Fläche“ (V 71), gespalten und für eine andere Deutung geöffnet. In der Dichtung Hölderlins hatten sich zahlreiche Erfahrungen des Verlustes leitender Ideen gezeigt, die im Wort vom Hass oder der Furcht, die Götter und Menschen trennt, kulminiert waren. Nun ragt der Verlust in Gestalt eines Bruches in Gott selbst hinein. Dies entspricht zwei Grundmotiven des christlichen Narrativs: Der Gedanke der Inkarnation meint ein Geschichtlich-Werden des Absoluten, das einen Bruch mit der Vorstellung eines der Geschichte enthobenen Absoluten darstellt. Das Kreuz schließlich bedeutet einen Verlust, der bis in den göttlichen Logos selbst hineinreicht. Eine Darstellung finden diese Motive in der Feier der Eucharistie im gebrochenen Leib des Herrn. Die Substanz erscheint als gebrochen, der Logos als geteilt. Wenn der Bruch das Absolute selbst affiziert, erweisen sich auch sämtliche Bilder der Totalität außer Kraft gesetzt. Es handelt sich hierbei um eine Wendung von höchster theologischer Relevanz (VV 109–111). Sie zielt, wie die nächsten beiden Verse zeigen (VV 112 f.), auf die Wiederkunft im Geist: „Denn wiederkommen sollt es / Zu rechter Zeit.“ (VV 112 f.). Die Konjunktion „Denn“ weist darauf hin, dass nun der Hintergrund oder die Deutung dieses Geschehens angegeben wird: Gott hat selbst die Unmittelbarkeit göttlicher Offenbarung gebrochen, um die Wiederkunft im Geist zu ermöglichen. Das Wesen, oder besser der Geist der Religion läge demnach im Motiv der Wiederkehr, welche die Geschlossenheit der Unmittelbarkeit versetzt. Dieser Gedanke dringt bis in die Struktur des Gedichtes Patmos ein: Die Zeitangabe von der rechten Zeit würde, wenn das Gedicht seinen regelmäßigen Aufbau (15 Strophen zu je 15 Versen) durchhielte, genau in der Mitte des Gedichts zu stehen kommen. Durch die Hinzufügung eines Verses in der zehnten Strophe wird

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

241

die Symmetrie (225 Verse, in der Mitte Vers 113 mit der Rede von der rechten Zeit) verschoben und erscheint die „rechte Zeit“ leicht aus der Mitte versetzt. Wiederkunft ereignet sich nicht als Wiedereinsetzung ungebrochener Identität oder als Schließung einer Identität mit sich, sondern in Gestalt einer Versetzung oder Verschiebung.86 Damit hat auch die Hoffnung auf Rettung in der Gefahr, wie sie sich in den Versen drei und vier am Beginn des Gedichtes ankündigte, eine Begründung aus der Logik des Gedichtes erfahren. Dass das Rettende in der Gefahr wachsen konnte, war nur aufgrund einer Versetzung des Verbes „wächst“ (V 3) denkbar. Diese ist Nachvollzug (Wiederholung) jener Versetzung, welche mit der Wiederkunft im Geist gegeben ist. Allgemein bedeutet dies: Die Totalität des Seins schließt sich nicht undurchdringlich mit sich selbst zusammen, sondern erfährt Versetzungen. Theologisch kann das als Offenbarung im Geist bezeichnet werden. Sprachlich sind die Versetzungen als Öffnungen und Übergänge zu gestalten, was Hölderlin immer wieder mit den Worten fast und noch versucht. Jene Versetzungen entsprechen auch der Spaltung von „Des Feldes Fläche“ (VV 70 f.), die zum Werden des Klangs bzw. der Sprache geführt hat. 3) Die nächsten Verse führen aus, warum es zu einer Verabschiedung der unmittelbaren Präsenz des Göttlichen, wie sie in Jesus gegeben war, kommen musste: Nicht wär es gut Gewesen, später, und schroffabbrechend, untreu, Der Menschen Werk,

115

Eine längere Zeit von Jesu Gegenwart („später“, V 114) hätte den Menschen die Möglichkeit gegeben, sein Auftreten wieder in fixierte Kategorien einzuordnen und ihm seine Singularität zu nehmen, d. h. es doch bloß als „Der Menschen Werk“ (V 115) anzusehen.87 Andererseits wäre ohne die Verabschiedung Jesu, wie sie sich in den Abschiedsreden vollzieht, sein Werk „schroffabbrechend“ (V 114) gewesen. Beide Male zeigt sich eine andere Form der Zeitlichkeit als die des Oszillierens zwischen rechter Zeit und deren Versetzung, wie sie mit der Wiederkunft statthat: Die erste Form steht für eine ungebrochene Kontinuität, die zweite für den unvermittelten Abbruch. Das Wort „untreu“ (V 114) nimmt die Wendung vom „treuesten Sinn“ (V 14) wieder auf, die am Ende der ersten Strophe der Modus des Ausgangs und der Rückkehr der dort anhebenden Bewegung war. Mit dem Abschied Jesu stellt sich die das Gedicht im weiteren Verlauf prägende Frage, wie dem Geschehen der Versetzung, d. h. der Wiederkunft im Geist, die Treue gehalten werden könne. In den folgenden Versen (VV 115–120) wird jene neue Zeit, die mit der Wiederkunft Christi im Geist eröffnet ist, in einigen ihrer Momente beschrieben. Am 86

Bezüglich eines Bruches unmittelbarer Identifizierungen und Fixierungen des Geschehens der Wiederkunft hält Beyer mit Bezug auf das unbestimmte Pronomen „es“ (V 112) fest: „Es geht darum, das an sich numinose, ungegenständliche Geschehen nicht auf unangemessene Weise im Wort zu fixieren“ (Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 164). 87 Vgl. Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 165.

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

wichtigsten erscheint dabei ein neues Verständnis der Nacht, die nicht mehr Zeit des Untergangs ist, sondern als liebende angesprochen werden kann (VV 115–117). Nicht der neue Tag einer neuerlichen Gottesunmittelbarkeit wird ersehnt, sondern die Nacht wird verwandelt. Sie wird zum bewohnbaren Aufenthaltsort für die Menschen und ermöglicht es, „Abgründe der Weisheit“ (V 119), d. h. ein nicht aus der Reflexion ableitbares Wissen zu bewahren.88 Die Freude lässt den zum Leser gewordenen Wanderer von lebendigen Bildern an den Füßen der Berge erzählen. Anders als in der ersten Strophe hat er nicht mehr den Anspruch, deren Gipfel (V 10) zu erreichen, doch geht der Übergang zu neuerlicher bildhafter Repräsentanz nach der Verabschiedung der Unmittelbarkeit der Gottesbilder zu schnell. Er wird nicht über das Ende der Strophe weitergeführt. Vielmehr wendet sich der Blick zurück auf die Freunde Jesu und ihre Versuche, mit der neuen Situation umzugehen, was zuallererst zu einem Bild der Zerstreuung führt. Das „Lebende“ (V 122), das eben noch als besondere Qualität der Bilder erschienen war (V 120) begegnet nicht als integrative Kraft, welche auseinanderstrebende Tendenzen in einem Organismus zusammenzuhalten vermag, sondern als Gott zerstreuend. Den Vereinzelten, die keine Gemeinschaft zu bilden vermögen, begegnet Gott als das Zerstreute, wobei der Grad der Zerstreuung als „Unendlich“ (V 122) bezeichnet wird. Hier trifft man auf das Scheitern des viel zitierten Bildes aus dem Fragment philosophischer Briefe, dass jeder in seiner Sphäre Gott anbete und diese Sphären dann eine Vereinigung finden könnten (TS 10). Die Gestalt des Lesers, zu der sich der Wanderer am Ende der sechsten Strophe entwickelt hatte, als er in den biblischen Text Eingang gefunden hatte, tritt in den folgenden Versen wieder zurück, wenngleich der biblische Text als Hintergrund oder Sphäre, in der sich die alle Aussagen bewegen, nicht ganz vergessen wird. In den Blick rücken die vereinzelten Freunde nun wieder als Wanderer, welche „fernhin über die Berge“ (V 125) gehen. Zwar können sie damit jenen Übergang zwischen den getrenntesten Bergen leisten, der in der ersten Strophe ersehnt war, doch erfolgt dieser Weg „Allein“ und führt zu keiner Form der Gemeinschaft – das Adverb „Allein“ ist durch ein Enjambement als einziges Wort dieses Satzteils in einen neuen Vers gerückt, wodurch es eine besondere Betonung erhält „Und fernhin über die Berge zu gehen / Allein“ (VV 125 f.). Der himmlische Geist hingegen „War“ (V 128), wie das Gedicht im Präteritum ausdrückt, dort, wo „zwei zusammenstimmen“ (Mt 18,19)89 . Diese Übereinstimmung („einstimmig“, V 127) wird nicht mehr erreicht, was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass der mit „Denn schon“ (V 123) begonnene Satz nicht zu Ende geführt werden kann. Dieser Abbruch der Begründung („Denn schon“, V 123) in Vers 128 führt vor ein Bild höchster Ambivalenz: Die Zäsur scheint durch ein letztes Aufscheinen göttlicher Unmittelbarkeit (VV 128–135) ausgelöst, die dem vom verlorenen Zusammenstimmen erzählenden Satz gleichsam ins Wort fällt. Zusammengefassst wird diese Unmittelbarkeit im Wort „gegenwärtig“ (V 129). Sie ist nicht vorhersehbar 88

In den Abgründen ist keine Bewegung des Hinübergehens und Wiederkehrens möglich, weshalb sie als Chiffre für ein nicht aus der Bewegung der Reflexion stammendes Wissen gelten können. 89 Vgl. KA 989 f.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

243

(„nicht geweissagt war es“, V 128; „plötzlich“, V 130) und widersetzt sich dem zuvor gegebenen Versuch einer Begründung des Geschehens. Der Dichter nimmt, um das Ergriffen-Werden der Verstreuten ins Wort zu bringen, auf Worte aus den Büchern der Propheten Bezug: „Die Loken ergriff es“ (V 129) ist ein von Ezechiel übernommenes Bild der Sendung des Propheten, der an den Haaren gefasst und aus allen Zusammenhängen herausgerissen wird (Ez 8,3).90 Dabei wird er in den Bereich zwischen Himmel und Erde versetzt. An dieser Stelle zeigt sich die tiefe Ambivalenz der Passage: Was der Prophet, der in einer Vision zum Tempel nach Jersusalem gebracht wird, sieht, ist die Entweihung des Heiligtums durch ein Götzenbild, das für den Versuch der Repräsentation des Göttlichen steht (vgl. Ez 8). Vor dem Hintergrund der Passage aus dem Buch Ezechiel zeigt sich nachträglich die Problematik der „lebendige[n] Bilder“ (V 120), die am Ende der achten Strophe aufgetreten waren, in der neuten Strophe aber nicht wieder aufgenommen wurden. Es zeigt sich überdies die Problematik des nun wieder neu auftretenden Bildes einer Gottes-Unmittelbarkeit. Seiner Beschreibung, die mithilfe eines biblischen Wortes erfolgt, ist schon die Kritik an jener Vorstellung inhärent. Das sich noch einmal einstellende Moment göttlicher Unmittelbarkeit wird nach dem Verweis auf Ezechiel in einer komplizierten Konstruktion gefasst, die nichts von der Unmittelbarkeit an sich hat, die sie eigentlich ausdrücken will: Wenn ihnen plözlich Ferneilend zurük blikte Der Gott und schwörend, Damit er halte, wie an Seilen golden Gebunden hinfort Das Böse nennend, sie die Hände sich reichten –

130

135

Das Lebende hat das Göttliche zerstreut (V 122), die Freunde wandern vereinzelt (V 126). Sie vermögen jedoch einen Blick Gottes zu erhaschen, der die beiden Formen der Zerstreutung überwindet und vereinen sich kurzfristig wieder zu einer Gemeinschaft, indem sie sich schwörend die Hände reichen (VV 132 und 135). Eingeschoben in die Rede vom Schwur sind, wie Jochen Schmidt detailliert aufgelöst hat, auf Augustinus und den Propheten Hosea (in einer Wendung, die in pietistischer Frömmigkeit geläufig war) zurückgehende Zitate bzw. Anspielungen.91 Die Freunde hoffen, sie könnten durch ihren Schwur verhindern, dass sie sich wieder zerstreuen und von Gott entfernen. Das abzuhaltende „Böse“ (V 135) ist Ausdruck einer sich vereinzelnden Individualität, die keine Form der Gemeinschaft sucht. Das Göttliche lässt sich jedoch auch auf diese Weise nicht in ein fixiertes Bild bringen. Während die Jünger „fernhin [. . . ] gehn“ (V 125), wird Gott als „Ferneilend“ (V 131) geschildert und muss ihnen somit entschwinden. Unklar ist, ob es der in der Ferne oder der in die Ferne eilende Gott ist – jedenfalls ist es nicht der 90

Vgl. KA 990. Vgl. KA 991: „wie an goldenen Seilen gebunden, kommen sie nicht vom Wege Gottes ab“ (Augustinus, Enarratio in Psalm. 89, 13, I, C.C., Bd. 39, S. 1251); Hosea 11,4.

91

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Gott, der „Nah ist“ (V 1). So wird auch über eine fortdauerende Wirkung dieses Versuches der Jünger nichts mehr ausgesagt, die Strophe endet mit einem Gedankenstrich, der in die folgende Triade überleitet (V 135). Das von Vers 128 bis 135 reichende Bild findet einen Abschluss und muss verabschiedet werden. Die neunte Strophe führt in die stärkste im Gedicht vorkommende Vereinsamung; die seit der fünften Strophe auftretende Figur des Lesers, der aus dem biblischen Text lebt, diesen in immer neuen Anspielungen rekonfiguriert und aus ihm seine Wahrnehmung gestaltet, tritt wieder hinter die des Wanderers zurück. Dennoch lässt sich die traurige Situation der Freunde immer noch mit Bezug auf den biblischen Text deuten. In der neunten Strophe ereignet sich das, was sich auf der Insel Patmos in der fünften Strophe angekündigt hat, die Klage der vereinsamten Freunde wird vom biblischen Text getragen, in welchen sie sich einschreibt, ohne sich darin aufzulösen. Wie der landschaftliche Resonanzraum der Insel Patmos wird nun der biblische Text zur Trägerwelle für den Ausdruck der traurigen Situation der Freunde.

Strophen X–XII (VV 136–181) 1) Die zehnte Strophe unterbricht das Wohnen oder Sich-Bewegen im biblischen Text, wiewohl sie ihn nicht vergisst – sie schlägt eine neue Herangehensweise vor, nämlich die der Reflexion. Eingeleitet mit dem aus Am Quell der Donau bereits bekannten „Wenn aber“ (V 136)92 werden nun verschiedene Szenarien aufgebaut und kritisch auf ihre Bedeutung befragt. Nach den Strophen über das Wohnen im biblischen Text (Strophen VI–IX) ist mit der kritisch reflektierenden Zugangsweise genau jene Haltung angesprochen, welche Landgraf Friedrich in Sorge versetzte. Hölderlin lehnt diese nicht ab, sondern baut sie in den Gesamtzusammenhang ein, der vom biblischen Text eröffnet ist. Die zehnte Strophe besteht aus drei jeweils mehrere Verse umfassenden Perioden, die mit „wenn“ eingeleitet werden und schließlich in die Frage „was ist dieß?“ (V 151) münden, welche dem überzähligen, die Symmetrie des Gedichtes versetzenden Vers angehört. Der erste der drei Teile (VV 136–140) fragt, was es bedeute, dass mit dem Tode Jesu und dem Übergang zu seiner Präsenz im Geist der Abschied von der unmittelbaren Gegenwart des Göttlichen in der Schönheit vollzogen ist. Dass an seiner Gestalt „Ein Wunder war“ (V 139) und dass die anderen himmlischen Gestalten auf ihn hindeuten, vermag nicht mehr wahrgenommen zu werden. Im Hintergrund steht der dritte Vers des Psalms 45, der vom „Schönsten der Menschenkinder“ spricht, was in der Tradition der Kirche auf Jesus bezogen wurde. Im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, das wohl unter dem Einfluss Hölderlins von Hegel verfasst wurde, ist noch von der Idee der Schönheit als einer alle anderen Ideen vereinigenden Idee die Rede.93 Dieser Gedanke wird mit dem Übergang in die von Christus eröffnete Zeit nicht einfachhin zerstört (dann wäre er 92 93

Vgl. Am Quell der Donau, V 56. Hegel, Frühe Schriften, 235.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

245

nur Verlust), sondern er muss im Gestus der Verabschiedung transformiert werden, was in dieser Strophe, die ja in eine Frage mündet, noch nicht geleistet zu werden vermag. Die nächste Passage (VV 140–145) wendet sich der verstreuten Gemeinde zu und ist redundanter Ausdruck von Gemeinschaft („sich [. . . ] / Einander“, VV 141 f.; „zusammenlebten“, V 142), welche trotz ihrer oftmaligen Betonung nicht über den Status, dass ihre Mitglieder einander „Räthsel“ (V 140) bleiben, hinauskommt. Das „Gedächtniß“ (V 143), in dem sie zusammenleben, wird nicht mehr lebendig, welches Problem sich bereits im Ausgang der Tübinger Hymnen angezeigt hatte. Die Zerstreuung der Gemeinde, die über keine gemeinsame lebendige Erinnerung mehr verfügt, ist schlimmer, als wenn der Strom der Zeit Sand und Weiden von den Ufern hinwegnimmt94 und die Tempel von einer langsamen Verödung ergriffen werden (VV 143 f.). Der dritte Teil (VV 145–151) bringt den massivsten Verlust ins Wort und vereinigt die ersten beiden Passagen, indem er sowohl über Christus („des Halbgotts“, V 146) als auch die Seinen spricht. Das Verwehen der Ehre (V 147) ist ein durch die Rede vom „Sand“ (V 143) vorbereitetes Motiv und hängt damit zusammen, dass weder „am Himmel“ (V 150) noch „Auf grüner Erde“ (V 151) etwas „Unsterbliches“ (V 150) sichtbar zu werden vermag. Beschrieben ist damit ein Prozess der Entleerung, welcher die Welt als ein Aggregat von Objekten zurücklässt. Diese Welt kann nicht mehr Spiegel des Angesichts Gottes sein, der daraufhin sein Haupt wendet (VV 147 f.; vgl. Hymnus an die Göttin der Harmonie, VV 22–24), wie im Anschluss an Psalm 104,29 gesagt wird. Himmel und Erde scheinen von Gott verlassen, was die Erfahrung des Verlustes aus Der Abschied noch steigert. Allerdings wird der Verlust durch die Frage „was ist dieß?“, in die er mündet, selbst noch einmal hinterfragt, aufgespalten, geöffnet auf eine andere Interpretation. Die auch in Mnemosyne (V 34) vorkommende Frage „was ist dieß“, ist, wie u. a. Schmidt betont, eine „stereotyp wiederkehrende Formel“95 aus Luthers Katechismus, welche nach den elementaren Glaubenslehren frägt. Es handelt sich dabei um die Übersetzung einer am Beginn des Markus-Evangeliums auftretenden Frage. Letzteres schildert den ersten Tag von Jesu Auftreten als einen, an welchem bereits alle wichtigen Formen seines Wirkens (Lehre, Heilung, Sammlung einer Gemeinde, Gastfreundschaft und Gebet) verdichtet an einem Tag vorkommen. Im Rahmen dessen spricht die Gemeinde der Synagoge von Karphanaum staunend über Jesu Lehre und sein heilwirkendes Handeln jene Frage aus: „Und alle erschraken, sodass sie unter sich stritten und sagten: ‚Was ist dies? Neue Lehre – mit Vollmacht‘“ (Mk 1,27).96 Wie die neue Situation der Zeit nach Jesu Himmelfahrt – und d. h. nicht zuletzt auch unsere Epoche – gedeutet werden kann (Was ist dies?), ist die Frage, vor die Hölderlins Gedicht führt. 94

Vgl. Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 168; Ludolf Müller, ‚Patmos‘, in: Lawitschka (Hg.), Hölderlin, 195–233, hier: 217. 95 KA 993; vgl. Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 169. 96 „›αὶ ἐ™αμβή™ησαν ἅπαντες ὥστε συζητεῖν πρὸς ἑαυτοὺς λέγοντας.τί ἐστιν τοῦτο; διδαχὴ ›αινὴ ›ατ’ ἐξουσίαν“.

246

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

2) Die zehnte Strophe handelte von mehreren Formen des Verlustes, war jedoch nicht unmittelbar Klage, sondern hatte den Charakter der kritischen Reflexion: „Wenn aber . . . , und wenn . . . , wenn . . . , was ist dieß?“ Dieser im Fahrwasser der Aufklärung befindlichen Überlegung antwortet in der elften Strophe eine geschichtsphilosophische Reflexion, welche allerdings nicht in der Diktion der Aufklärung argumentiert, sondern mit Bezug auf den biblischen Text. Mit „Es ist“ (V 152) beginnend, schließt die elfte Strophe unmittelbar an die Frage „was ist dieß“ an und entfaltet ein Gleichnis, welches auf biblische Motive aufbaut. Hölderlin kombiniert zwei biblische Bilder, indem er die im Gleichnis auftretende Gestalt einen Sämann nennt (Mt 13,1–23), als Tätigkeit jedoch die des Worflers beschreibt (Mt 3,12).97 Die Tätigkeit des Sämanns führt zu einer Vermehrung, zu einem Reichtum des Fruchtbringens (hundertfach, sechzigfach, dreißigfach; Mt 13,8), die Tätigkeit des Worflers zu einer Reduktion (Schale und Korn werden getrennt, nur das Korn wird weiterverarbeitet). Damit taucht die Gegenüberstellung von Cypros und Patmos wieder auf. Das Bild des Worfelns in Patmos wird aus der Thematik des Gerichtes herausgenommen, in der es in Mt 3,12 steht (Trennung von Spreu und Weizen), und bereitet eine Verabschiedung des Gedankens der Fülle vor, was sich schon daran zeigt, dass nicht das Bild des Sämanns für die weitere Entwicklung bestimmend ist, sondern das des Worflers. Es sei kein Übel, wenn nicht alles wie das Korn „Ans Ende kommet“ (V 156), sondern einiges verloren geht. Hört man diese Wendung noch im Rahmen der Gerichtsthematik und bezieht „einiges“ auf die Menschen, erhält sie einen zutiefst problematischen Klang. Allerdings geht es in Patmos nicht um die Thematik des Gerichts, sondern um die Frage nach dem (biblischen) Text als Sphäre des Aufenthalts. So wird auch das Bild von der Verabschiedung der Totalität (VV 157 f.) sofort mit einem Bezug auf das Verlauten der Rede, des gesprochenen Wortes weitergeführt: Und nicht ein Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern.

160

Das Verhallen des lebendigen Lautes, welches auch für das Entschwinden der unmittelbaren Präsenz Jesu steht, wird nicht allein als Übel angesehen. Es kann den Blick für ein anderes „Werk“ (V 160) freigeben, welches in einer Übereinstimmung („gleichet“, V 160) von Göttlichem und Menschlichem besteht. Dies stellt eine Weiterentwicklung des Gedankens des Werkes dar, welches in Vers 115 nur als „Der Menschen Werk“ begegnet war: Dort sollte vermieden werden, dass das Göttliche durch seine länger andauernde Präsenz als menschlicher Verfügung anheimgegeben erscheint. Was aber das dem verhallenden Laut nachfolgende Werk sein könne, wird vorerst nicht weiter ausgeführt. Die Frage, wie dieses göttlich-menschliche Werk aussehen könne, bedarf zuerst einer Reflexion über das Verhältnis Gottes und der 97

Vgl. KA 993; Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 170; TL 1523 f.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

247

Menschen. Der Leitsatz dieser Überlegungen wird unmittelbar nach dem Bild des verhallenden Lautes angegeben: „Nicht alles will der Höchste zumal.“ (V 161) Das Wort „zumal“ hatte zur Zeit Hölderlins auch die Bedeutung von „zugleich“, „zur selben Zeit“. Gott selbst bricht mit dem Bild einer Totalität in absoluter Gleichzeitigkeit, dieses entspricht nicht seinem Willen. Die nächsten Verse sind in Ich-Form gehalten (VV 162–166) und zeichnen im Anklang an Wie wenn am Feiertage . . . den Gedanken einer besonderen Nähe des Künstlers zum Göttlichen nach. Das poetische Ich stellt sich nun als Künstler dar. Es hätte den „Reichtumm, / Ein Bild zu bilden, und ähnlich / zu schauen, wie er gewesen, den Christ“ (VV 164–166). Anders als die Passage vom Stehen unter Gottes Gewittern ist diese jedoch im Irrealis formuliert: Der Künstler hätte den an Cypros erinnernden Reichtum, „Ein Bild zu bilden“ (V 165), nimmt ihn aber nicht in Anspruch. Darüber hinaus wirkt die Engführung von Verb und transitivem Objekt bis zum Verlust eines semantischen Unterschiedes der beiden Worte („ein Bild bilden“, figura ethymologica) wie eine Persiflage auf den angekündigten Reichtum. An seiner statt zeigt sich eine Geschlossenheit, die keinen frei zu gestaltenden Raum kennt. Der Versuch, Christus zu schauen, „wie er gewesen“ (V 166) ist ohne jede Versetzung, der Bezug zum Göttlichen nähme erneut den Charakter der Unmittelbarkeit an. Zwar hat das Ich des Gedichtes den Versuch, ein Bild von Gott zu bilden, abgewiesen, das Thema tritt jedoch in den ersten vier Versen der zwölften Strophe wieder auf, und zwar als Auftrag, den jemand „traurig redend“ (168) dem Dichter erteilt (VV 167–170). Die Traurigkeit spielt wohl auf die Trauer der Jünger nach dem Tod Jesu an („Doch trauerten sie, da nun“, V 91) und stellt die Frage unserer Zeit nach der An-/Abwesenheit Jesu (man denke an den Landgrafen) in eine Kontinuität zur Frage der Jünger. Der Dichter ist unterwegs, wobei dieses Unterwegssein auch als Übergang verstanden werden kann, der von einem auf die unmittelbare Präsenz des Göttlichen ausgerichteten Verständnis zu einem der geistigen Vermittlung führt. In dieser Übergangsphase ist er „wehrlos“ (V 168) und ausgesetzt. Das von ihm verlangte Bild hätte den Charakter einer Nachahmung („Das Bild nachahmen“, V 170), die keine Versetzung kennt und mithin nicht die schöpferische Gestalt der „freien Kunstnachahmung“ (TS 34) hat. Der Dichter oder Künstler würde auf diese Weise zum „Knecht“ (V 170). Vom Grünen der lebendigen Bilder (VV 119 f.) führt ein Weg zum Bilden des Bildes (V 165) bis zur Nachahmung des Bildes (V 170). Keiner dieser Versuche, dem „höhere[n] Zusammenhang“ (TS 13) einen Ausdruck im „Bild“ (TS 11) zu geben, wird zu Ende geführt, die Sätze brechen teilweise unvollständig ab (VV 166 und 170), wie sich auch kein vollständiges Bild der Vergangenheit („Zu schauen, wie er gewesen, den Christ“, V 166) festhalten lässt. Nicht darauf, etwas zu „seyn“ (V 172), d. h. positiv einen bestimmten Status zu repräsentieren, „sondern / Zu lernen“ (VV 172 f.), verpflichtet Gott den Dichter, er soll mithin auf dem Weg des Übergangs, zwischen Auflösung und Hervorgang einer „neue[n] Welt“ (TS 33), bleiben. Der Dichter weiß, dass die Vergangenheit, die er ins Lied fasst, niemals zum objektiven Bestand werden kann, sondern in immer neuen Verschiebungen und Versetzungen, die ein Ablassen vom Versuch, über sie zu verfügen, bedeuten,

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4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

„Zu lernen“ ist. Wer lernt, ist freilich immer auch mit dem Falschen (V 174) konfrontiert. Diejenigen, die das Bild bilden oder nachahmen (VV 165 und 179), geben sich als die Gütigen aus, was sich aber als Erstes von ihnen sagen lässt, ist das, was sie hassen (V 173).98 Als Zweites wird von ihnen ausgesagt, dass sie herrschen (V 174), wohingegen von einem Lernen bei ihnen nicht die Rede ist, was nicht verwunderlich ist, da sie das Falsche hassen. Patmos hat seit der sechsten Strophe den Leser, die Leserin und auch alle im Gedicht auftretenden Gestalten in die Sphäre des Textes hineingenommen. Wer sich darin als Herrscher aufspielt, hat die Interpretation als Feindin und muss darauf aus sein, ihr ständig das „Falsche“ nachzuweisen: Text soll dann Nachahmung von Realität sein (V 170), wie sie „gewesen“ (V 166), nicht poetische Neuschöpfung und freie Wiederholung des wirklichen Lebens im Geiste (vgl. TS 12). Das Menschliche kommt den Menschen abhanden und gilt nicht mehr (V 175). Hatte Am Quell der Donau von der menschenbildenden Stimme (Am Quell der Donau, V 42) gesprochen, so gilt Patmos zufolge das Menschliche dort, wo Text frei aus den Versuchen seiner Beherrschung entlassen werden und somit die Sprache der Menschen, deren Grundformen nach Patmos Klage (Patmos, V 73) und Freude (V 115) sind, aufnehmen kann.99 3) Eine Verwandlung stellt sich mit den folgenden drei Versen ein (VV 176–178). Die Herrscher walten nicht, sie stehen unter einer allgemeinen Macht („Unsterblicher Schicksaal“, V 177), ihr Werk, welches „Des Menschen Werk“ (V 115) war, wird von selbst verwandelt. Dies einfachhin auf ein äußerliches Eingreifen Gottes zurückzuführen, hieße denselben Positivismus vertreten wie die Herrscher, die das Bild bilden und bloß eine sogenannte Realität einfangen wollen. Vielmehr muss sich diese Wendung als eine Verwandlung aus der Sphäre heraus verstehen lassen. Vielleicht hat Hölderlin – und dies wäre die gute Nachricht, die er dem Landgrafen Friedrich zusagen möchte –; vielleicht hat Hölderlin die Hoffnung, dass, wer sich in einen Text, der in religiöser, philosophischer oder literarischer Hinsicht allgemeinen Charakter hat, hineinbegibt, auch seine verwandelnde Kraft erfahren wird. Meint man auch, ihn beherrschen und jegliche Hermeneutik und schöpferische Kraft verhindern zu können, kann man doch das Allgemeine des Textes nicht auf Dauer niederhalten. Wie in Am Quell der Donau die Sprache die Bilder der Götter nicht hat bestehen lassen (Am Quell der Donau, VV 50 f.), so wird in Patmos geschildert, wie die Herrschaftsversuche über den Text eilends zu Ende gehen (Patmos, V 178). Mit Vers 179 setzt ein Übergang zur dreizehnten Strophe und damit auch zur fünften Triade an (VV 179–186). Die Passage beginnt mit „Wenn nämlich“ (V 179) und setzt sich damit vom „Wenn aber“ (V 167) ab, welches die Ausführungen über die Herrschenden einleitete. Im Mittelpunkt der neu eröffneten Passage steht „der frohlockende Sohn des Höchsten“ (V 181), welcher mit „Ein Loosungszeichen“ 98

Anders interpretiert Ludolf Müller das Subjekt „sie“ (VV 173, 176) als die Unsterblichen (Ludolf Müller, ‚Patmos‘, in: Lawitschka (Hg.), Hölderlin, 195–233, hier: 222). 99 An dieser Stelle haben mich die ausgezeichneten Lektürereflexionen von Philipp Schlögel, Fabian Gabelberger, Julia Niemann und Stefan Scherhaufer wieder an die gemeinsame Interpretation dieser schwierigen Stellen im Rahmen eines Seminars erinnert. Ihnen sei Dank gesagt.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

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(V 182) ein Enjambement bildet, das über die Strophengrenze reicht: „Von Starken der frohlokende Sohn des Höchsten, // Ein Loosungszeichen, und hier ist der Stab“ (VV 18 f.). Uwe Beyer spricht von einem „Zeichen, dessen Gehalt sich gerade nicht in der sinnlichen Gestalt zeigt, sondern sich in einer anderen, über diese hinausgehenden, nur geistig aufzufassenden Weise erschließt“100 . Statt der Abhebung von der „sinnlichen Gestalt“ würde ich eher von einer Abhebung vom Phantasma zu erreichender Unmittelbarkeit sprechen, wohingegen ich sinnliche und geistige Gestalt gerade nicht als Gegensätze sehe. Die Antwort auf die Versuche, sich selbst ein Bild zu bilden, zeigt sich am Ende der zwölften Strophe. Christus wird vom himmlischen Hofstaat oder den Engeln (den „Starken“, V 181) selbst „genennet“ (V 180). Sie vollziehen den Lobpreis, der Christus angemessen ist, in seinem Namen, d. h., indem sie ihn nennen.

Strophen XIII–XV (VV 182–226) 1) Erst wenn man in der dreizehnten Strophe angelangt ist, wird man gewahr, dass „genennet“ (V 180) in Verbindung mit „Ein Loosungszeichen“ (V 182) steht, die Bezüge gruppieren sich noch einmal um: Die letzten drei Verse der zwölften Strophe (VV 179–181) legen zunächst nahe, dass der Sohne des Höchsten von den Starken genannt, mit Namen gerufen wird – „genennet“ (V 180) wird dabei intransitiv verwendet. Unter Einbeziehung des Beginns des dreizehnten Storphe (V 182) wird deutlich, dass der Sohn des Höchsten ein Losungszeichen genannt wird, mithin das Verb transitiv gebraucht wird. Dass Christus von den Himmlischen mit seinem Namen gepriesen wird, hat auch eine Auswirkung auf die Dichter und den Gesang. Sie können daran Anteil nehmen und den niederwinkenden, d. h. in der leisen Geste des Winks hernieder kommenden „Stab / des Gesanges“ (VV 182 f.) ergreifen. Dem Gesang der Dichter geht, anders als in Wie wenn am Feiertage . . . schon der Gesang der Himmlischen voraus, den sie gleichsam wie den Stab übernehmen können. Der Gesang ist nicht der Versuch, ein plastisches Bild zu bilden oder eigenmächtig die Rolle der Vermittlung von Göttlichem und Menschlichem zu übernehmen, sondern ein geistiges Zeichen weiterzugeben. Mit dem Wort des Zeichens wird der Übergang in den Text als „Schrift“ (V 194) vorbereitet. Die Wendung „Denn nichts ist gemein.“ (V 184), die Röm 14,14 aufgreift101 und den über die Strophengrenze reichenden Satz abschließt (VV 179–184), stellt keine objektive Aussage dar, sondern ist aus dem Gesang heraus gesprochen. Im Römerbrief heißt es: „Ich weiß und ich bin überzeugt im Herrn Jesus, daß nichts gemein (ist) . . . “ („›οινὸν“; Röm 14,14). Nichts ist profan, nichts ist ausgeschlossen, nichts alltäglich.102 2) Nach der Aussage über den Lobpreis des Sohnes des Höchten und den an die Menschen vermittelten Gesang („und hier ist der Stab / Des Gesanges, niederwin100

Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 172. Vgl. KA 99 Beyer, Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte, 172. 102 Vgl. Binder, Hölderlin-Aufsätze, 392. 101

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kend“, VV 182 f.) beginnt die Konstituierung einer Form von Gemeinschaft, die aus den Toten entsteht, die noch nicht gefangen „Vom Rohen“ (V 186) sind. Das sind all jene, die zunächst kein Leben in sich haben, aber der Realität als positivierter nicht gänzlich verfallen sind. Sie können auferweckt werden und in die Sprache und eine Vielfalt an Deutungen Eingang finden. [. . . ] Es warten aber Der scheuen Augen viele Zu schauen das Licht. Nicht wollen Am scharfen Strale sie blühn, Wiewohl den Muth der goldene Zaum hält.

190

Die Adressaten des Zeichens, das Christus verkörpert (V 182), warten mit scheuen Augen, „Zu schauen das Licht“ (V 188) und darin zu neuem Leben erweckt zu werden. Das Warten ihrer scheuen Augen verweist auf die Suche des Ichs nach einem stillen, angesichts der Fülle griechischer Welt unscheinbaren Feuer (V 38). Das Warten erfährt sodann eine genauere Bestimmung: Sie wollen nicht am scharfen Strahle blühen, d. h., sie lassen ab vom Verlangen der Gottesunmittelbarkeit. Dies ist kein selbstgesetzter Akt, sondern Entsprechung dazu, dass Gott selbst den geradestrahlenden Zepter zerbrochen hat (VV 109–111). Das von Beginn der Reise des Wanderers an immer wieder geschilderte Verlangen („sehnsüchtigen“, V 23; „sucht’“, 31; „Verlangte mich sehr“, V 54) erweist sich nun, zu seinem Grunde nicht die unstillbare Erneuerung des Begehrens einer letzten Unmittelbarkeit zu haben, sondern es verweist auf eine Verabschiedung dieses Bedürfnisses. Darin sehe ich keinen temporären Zustand wie Jochen Schmidt: „Deshalb mögen sie sich an der mittelbaren Gottesbegegnung ‚üben‘ (v. 196), die das Lesen der heiligen Schrift vermittelt [. . . ], bis sie stark genug sind für die unmittelbare Gottesbegegnung am neuen Göttertag.“103 Gerade das Verlangen nach dieser Gottesunmittelbarkeit wird meines Erachtens in Patmos verabschiedet. Darüber hinaus ist in Schmidts Diktum auch das Verhältnis von Text und sogenannter Realität anzufragen. In jenem Verständnis wäre der Text selbst bloße Vermittlungsinstanz einer außer ihm gelegenen Realität, sei es die einer objektiv gegebenen Wirklichkeit, sei es des Göttlichen. Damit aber möchte Patmos, welches den Text als Sphäre dichtet, brechen. Mit der letzten Passage der dreizehnten Strophe tritt die heilige Schrift (V 194) explizit auf – erneut in einem Satz der Reflexion, eingeleitet mit „Wenn aber“ (V 191), wodurch sich ein Neueinsatz bekundet. Vergessen wird die Welt als objektive, außerhalb des Textes gegebene („Der Welt vergessen“, V 193), gelernt („sich üben“, V 196; vgl. V 174) wird sie neu in einem „stillen Blike“ (V 196). Als stiller korrespondiert der Blick der stillleuchtenden Kraft, die „aus heiliger Schrift“ (V 194) fällt. Jetzt erst ist das gesuchte stille Feuer (V 38), das sich bereits in der Erfahrung der griechischen Welt vorbereitet hatte, gefunden. Die Stimmung dieses Lernprozesses ist die Freude (VV 194 f.). Der Plural „sie“ („sie / Am stillen Blike sich üben“, VV 195 f.), der auf die Adressaten der Schrift hinweist, zeigt, dass sich 103

KA 999.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

251

nun, nach den Erfahrungen der Zerstreuung, welche die vergangenen Strophe prägten, wieder eine Gemeinschaft einstellt. Aus den Adressaten des Zeichens (VV 182, 186–190) sind die Adressaten der Schrift geworden. Mit der Schrift bilden sich die Adressaten aus, die Voraussetzung sind, dass die Schrift gehört werden kann. 3) Die vierzehnte Strophe adressiert sich an ein Du, zuerst den Landgrafen Friedrich, wohl aber auch an die Leserinnen und Leser, und zeigt, dass das Gedicht den Charakter des Gespräches hat. Als verbindendes Wort zur vorangehenden Strophe fungiert dabei die Stille: „Still ist sein Zeichen / Am donnernden Himmel.“ (VV 203 f.). Wie die Apokalypse des Johannes ein Trostbuch ist, möchte auch Hölderlin dem Landgrafen Friedrich Trost zusprechen, indem er ihm die Liebe Gottes zusagt (VV 197–203). Das stille Zeichen Gottes am Himmel ist sein Bogen in den Wolken, der auch in Aus stillem Hauße senden . . . begegnet war, nun aber eine christologische Deutung erhält.104 Christus, der „noch“ (V 205) lebt, steht sein ganzes Leben lang unter dem Bogen. So kann er einerseits als die Verkörperung des Bundes Gottes mit den Menschen gesehen werden und steht damit an der Stelle, an welcher der Dichter nicht stehen konnte (vgl. Wie wenn am Feiertage . . . ). Andererseits kann er vom Gedanken der Versöhnung her betrachtet werden. Im Wort „noch“, das bereits des Öfteren begegnet ist und nun auch auf Christus bezogen wird, drückt sich die Ambivalenz aus, in welche der im Gedicht bisher begangene Weg mündet: Die Unmittelbarkeit Christi ist entschwunden, sie wiederherstellen zu wollen, würde ihm nicht entsprechen. Der Weg des Gedichtes ist letztlich ein Weg der Suche danach, was seine Wiederkunft im Geist bedeuten und wie sie zur Erzählung werden könne. Eine Gewissheit, die zum unzweifelbaren Fundament würde, stellt sich, wie die Fragilität des Wortes „noch“ ausdrückt, nicht mehr ein. Im Zuspruch lässt sich jedoch die Hoffnung auf die bleibende Gegenwart Christi (Mt 28,20), die immer auch eine Hoffnung für den Anderen sein muss, der in Not ist, zum Ausdruck bringen. 4) Die letzten sechs Verse der Strophe setzen Christus in einen Zusammenhang mit anderen Manifestationen des Geistes, wobei der Übergang von „heiliger Schrift“ (V 194) im Singular zu „heilige Schriften“ (V 207) wichtig ist. Der Übergang hat eine mehrfache Bedeutung: Der heiligen Schrift kommt eine Dynamik der schöpferischen Vervielfältigung ihres Sinns in je neuen Interpretationen zu, die nicht einzugrenzen ist, weshalb gar nicht von einer heiligen Schrift gesprochen werden kann. Die Schrift kann sich aber auch selbst überschreiten hin zu anderen Texten und diese als Ausgangspunkt und Inspiration der eigenen Re-Interpretation verstehen. Aus christlicher Sicht andere Texte als heilige Schriften zu bezeichnen, würde dann bedeuten, in deren Licht die eigene Tradition neu verstehen zu lernen. So würden auch die anderen Texte zu heiligen Schriften „Von ihm“ (V 208), d. h. von Christus. Und schließlich würde der Übergang vom Singular (V 194) in den Plural (V 207) auch bedeuten, dass die Lektüre, das Sich-Üben, an der stillleuchtenden Kraft der heiligen Schrift eine Öffnung der Wahrnehmung für andere Manifestation des Geistigen bedeutete. 104

Vgl. Gen 9,8–17.

252

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Mag die Freude über den in den letzten Versen der vierzehnten Strophe aufgetretenen Ausblick auf die Heroen (V 206), die heiligen Schriften (V 207) und die Manifestationen des Geistes in der Geschichte (VV 208 f.) auch in einen unaufhaltsamen „Wettlauf“ (V 210) führen, von Christus heißt es, „Er ist aber dabei“ (V 210). So erscheint er nicht als Konkurrent, sondern als Begleiter und Versöhner (VV 204 f.). Aufgegriffen ist damit wieder das Motiv des Übergangs zwischen den Gipfeln der getrenntesten Berge aus der ersten Strophe.105 Christus ist nicht allein der, der den Übergang von menschlicher und göttlicher Welt ermöglicht, sondern auch das Hinübergehen und Wiederkehren von Gipfel zu Gipfel, verstanden als unterschiedliche Ausdrucksweisen des Göttlichen in den Religionen. Vorgabe des Christentums wäre es demnach, sich nicht als eine Fraktion in den Streit der Identitäten (unterschiedlicher Religionen) einzulassen, sondern zu zeigen, dass es ein Hinübergehen zur anderen Tradition geben kann, welches die Verbindung zu dieser erkennt, ohne den Unterschied zwischen ihnen auszulöschen, zumal es auch die Rückkehr aus dieser Begegnung gibt. Wenn Hölderlin schreibt, Christus sei „aber dabei“ (V 210), verabschiedet er damit den Gedanken des „Wettlaufs“ (V 210), von dem sich das „aber“ absetzt: Das Dabei-Sein kennt keinen objektiv alles übergreifenden Blick, welcher den Vorrang einer oder die Gleichwertigkeit aller Traditionen konstatieren könnte, sondern lässt vom Gedanken der Bewertung im Hinblick auf eine gemeinsame Sorge füreinander ab. 5) Die vierzehnte Strophe beginnt mit dem Dialog mit dem Landgrafen und weitet diesen aus auf den Gedanken des Dialoges Christi mit anderen Manifestationen des Geistes. Dieser wird allerdings nur angedeutet, bevor das Gedicht in der fünfzehnten Strophe wieder auf die Thematik des Entschwindens der „Ehre der Himmlischen“, d. h. des Verlustes einer Sprache, in welcher die Menschen den Himmlischen begegnen und diese geehrt werden können, zurückkommt. Die in der Wiederholung von „Zu lang, zu lang schon“ (V 212) statthabende Zeitangabe kennt keine Verschiebung und droht zur bloßen Repetition zu werden. Die folgenden Verse (VV 214–219) lassen für einige Augenblicke das Bild eines Rückfalls in überwundene Stufen des Gedichtes aufscheinen: Den Menschen müssen die Finger geführt werden (VV 214 f.), d. h., sie vermögen dem Göttlichen nicht mehr in freier Weise in der sprachlichen Sphäre (im Text), zu begegnen, sondern stehen unter einer Notwendigkeit („müssen“, V 214), welche dem Bilden des Bildes (V 165), der knechtischen Nachahmung im Bild, ähnelt (V 170). Eine Gewalt entreißt den Menschen das Herz (VV 215 f.), was an eine neuerliche Gefangennahme durch das Rohe (VV 185 f.) denken lässt, d. h. durch die Vorstellung, eine objektive Wirklichkeit, sei es die der Dinge, sei es die des Göttlichen, lasse sich unmittelbar darstellen. Die „Gewalt“ (V 216) ist die der Herrschenden, denen jede Versetzung und Verschiebung, jede freie Wiederholung und Kunstnachahmung des Textes als „das Falsche“ (V 174) erscheint und verhasst ist. Es entsteht dadurch ein Bild der Himmlischen, die nicht mehr durch Christus begleitet und versöhnt sind, sondern sich neidisch in einen „Wettlauf“ (V 210) um Opfer begeben. Als letztes Bild wird wieder das Phantasma der Totalität inthronisiert, sodass bereits der Verlust von ei105

Vgl. TL 1525.

4.4 Der Text als Sphäre: Patmos

253

nem einzigen Element („Wenn aber eines versäumt ward“, V 218) es ausschließt („Nie“, V 219), dass die Dinge ein gutes Ende nehmen („Nie hat es Gutes gebracht“, V 219), wo es doch zuvor geheißen hat, es sei kein Übel, „wenn einiges / Verloren gehet“ (VV 157 f.). Unterbrochen und für eine weitere Gestaltung offen gehalten wird dieser Rückfall lediglich durch das Wort „fast“ (V 214). 6) In den durch das „fast“ eröffneten Raum tritt ein Bekenntnis, welches der Dichter, der den Landgrafen Friedrich und vielleicht den zum Freund gewordenen Leser und die Leserin in seine Rede miteinschließt, in Armut – „Unwissend“ steht betont an der ersten Stelle des Verses 222 – vor den dennoch liebenden Vater legt (V 222): Wir haben gedienet der Mutter Erd’ Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, Unwissend, der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. [. . . ]

220

225

Der Dienst, in welchem Gott geehrt werden sollte, hatte natürlichen („der Mutter Erd’“, V 220) sowie künstlerisch, geschichtlich oder durch die Vernunft („Sonnenlichte“, V 221) vermittelten Charakter. Als Aufgabe für jetzt bleiben die Pflege des Buchstabens und dessen gute Deutung, d. h. die Pflege des Textes als Sphäre. Ersteres steht für den beharrenden Aspekt – ein Text ist eine Gestalt mit genügend Festigkeit, dass sich die Erfahrungen der Menschen über lange Zeiträume in ihn einschreiben können. Als solchen gilt es den Text zu pflegen, er ist das uns immer schon Vorausgesetzte, das nicht in unserer Verfügung steht und nicht unserer Reflexion entspringt. Zweiteres steht für die Offenheit des Textes, der sich selbst zur Deutung freigibt. Diese Offenheit wird nicht mehr als „das Falsche“ (V 174) bezeichnet, sondern mit den Schöpfungsworten aus Genesis 1 als „gut“ (V 225) angesehen. An dieser Stelle endet das Gedicht gleichsam mit einem Doppelpunkt: „Dem“ (V 226), d. h. der geschilderten Entwicklung, dem begangenen Weg, „folgt“ (V 226) nun deutscher, d. h. vaterländischer Gesang. Er folgt diesem Weg, d. h., er orientiert sich an ihm, er folgt ihm aber auch in dem Sinne, dass er nun seinen Anfang nehmen müsse. Leser und Leserin sind, wenn sie den Weg des Gedichtes mitgegangen sind, an dieser Stelle angelangt, sodass sie in den Akt freier Wiederholung einsteigen können. Es handelt sich um deutschen Gesang, d. h. um einen Gesang des Vaterlandes, damit aber, Hölderlins theoretischen Schriften zufolge, um einen Gesang der am Übergang von einem untergehenden Vaterland und einer neuen symbolischen Ordnung versucht, in Freundschaft zum biblischen Text Sphären des Aufenthalts zu dichten, welche sich als Ort der Begegnung von Gott und Mensch bewohnen lassen. 

254

4 Übergänge: Hölderlins Dichtung nach 1800

Die Möglichkeit, in eine durch einen Text eröffnete Sphäre einzutreten und diese zu bewohnen, hängt für Hölderlin mit einem Ablassen vom Phantasma der Totalität im Sinne umfassender Kontrolle, einer absoluten Position der Übersicht, der Eineindeutigkeit der Bedeutung und der Idee einer alle Erzählungen umfassenden Ganzheit zusammen. Diese Verabschiedung der Totalität sieht Hölderlin in der biblisch bezeugten Offenbarung gegeben, weshalb diese zum begleitenden oder mitgängigen („Er ist aber dabei“, V 210) Text einer Dichtung offener, bewohnbarer Sphären wird. Das vom Landgrafen Friedrich eingeforderte Moment des Mythos findet sich im umgebenden Charakter der Sphären, die affektiv und noetisch bewohnt werden können. Dem Anspruch der Aufklärung hingegen sucht Hölderlin darin gerecht zu werden, dass er die Sphären als offene und je neu zu öffnende dichtet, die einen „mehr als mechanischen Zusammenhange“ (TS 11) ausdrücken und sich im Dialog auf andere Sphären hin öffnen (TS 10): Dies ist die „höhere Aufklärung die uns größtentheils abgeht“ (TS 14).

5

Turmgedichte

5.1

Die Offenbarkeit Gottes als Sphäre der Dichtung: In lieblicher Bläue ...

Vermutlich nach 1806, als Hölderlin bereits im Tübinger Turm lebte1 , ist ein Text entstanden, den Wilhelm Waiblinger am Ende eines Romans in Prosagestalt überliefert, der aber ursprünglich möglicherweise in Versform verfasst war.2 Der Text umfasst drei Abschnitte. Der erste entfaltet ausgehend vom Bild eines Kirchturms eine sprachliche Sphäre, in welcher schließlich ein Mensch auftritt, der drei Grundfragen Hölderlins stellt: die Frage nach der Offenbarkeit Gottes, nach dem den Menschen zukommenden Maß (der inneren Stimmigkeit der Sphäre, in welche der Mensch gestellt ist) und nach der Möglichkeit der Dichtung. Der zweite Teil beklagt den Verlust des Maßes auf Erden: „Gibt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines.“ Im dritten Abschnitt stehen die Gestalt des Ödipus und das Leiden antiker Helden im Mittelpunkt. Der letzte Satz des Textes stellt ihn in einen Horizont des Übergangs, der Untergang und Hervorgang neuen Lebens umfasst: „Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.“ Im Folgenden wird der erste Abschnitt des Textes genauer interpretiert, auf die beiden anderen Teile jedoch nur in Kürze eingegangen. In lieblicher Bläue blühet mit dem metallenen Dache der Kirchthurm. Den umschwebet Geschrei der Schwalben, den umgiebt die rührendste Bläue. Die Sonne gehet hoch darüber und färbet das Blech, im Winde aber oben stille krähet die Fahne. Wenn einer unter der Glocke dann herabgeht, jene Treppen, ein stilles Leben ist es, weil, wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist, die Bildsamkeit herauskommt dann des Menschen. Die Fenster, daraus die Gloken tönen, sind wie Thore an Schönheit. Nemlich, weil noch der Natur nach sind die

1 Vgl. TL 1861–1865; Bernhard Böschenstein, Hölderlins späteste Gedichte, in: HJb 1965/66, 35–56; Ute Oelmann, Art. Späteste Gedichte, in: Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 403–409. 2 Vgl. KA 1095. Umstritten ist die Autorschaft des Textes – stammt er von Hölderlin oder Wilhelm Waiblinger, der ihn überliefert? Sabine Doering kommt nach einem Vergleich mit der Verwendung der Frage in Hölderlins Werk zum Ergebnis, dass der Text im Stil des späten Hölderlin geschrieben sei, „er jedoch nicht als ein authentisches Dokument für Hölderlins spätes Dichten angesehen werden kann“ (Doering, Aber was ist diß?, 175).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J.H. Deibl, Abschied und Offenbarung, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04888-2_5

255

256

5 Turmgedichte

Thore, haben diese die Ähnlichkeit von Bäumen des Walds. Reinheit ist auch Schönheit. Innen aus Verschiedenem entsteht ein ernster Geist.

Das Wort „blühet“ am Anfang des Textes verweist, wie oft in den Gedichten Hölderlins der Ausdruck „Blumen“, darauf, dass es sich im Folgenden um ein Oszillieren zwischen Landschaft – in diesem Falle müsste man genauer von Architektur sprechen – und Sprache handelt. Der Kirchturm ist der Kristallisationspunkt, das Einfache, das Element, um das herum sich eine Umgebung bildet, die im Blau des Äthers geschildert und von Vögeln, den Lieblingen des Äthers (vgl. An den Aether, VV 27 f.), bevölkert wird. Der regelmäßige Lauf der Sonne stellt das Bild in die sich wiederholende Zeit der Tage, die unberechenbaren Winde in die vergehende Zeit der Geschichte. Sein Zentrum erhält die Sphäre in einer Fahne, die am Kirchturm „stille krähet“ und in der man vielleicht in einer Versetzung das Zeichen des Kreuzes erkennen kann. Sie kräht stille, d. h., sie durchwaltet die Sphäre, ohne selbst explizit zum Klingen oder zu Wort zu kommen und hebt sich klanglich vom Geschrei der Schwalben ab. Danach tritt eine Gestalt in die Sphäre ein, welche die Treppen des Turmes von der Glocke weg herabsteigt. Das Bild der Glocke ist vorbereitet durch das Geschrei der Schwalben und das stille Krähen der Fahne, denn auch mit der Glocke kommt ein Gegenstand ins Bild, der mit Klang verbunden ist. Von ihm löst sich das Leben des Menschen als stilles ab. Der hier auftretende Mensch wird als bildsam, d. h. offen geschildert, womit der Übergang zum nächsten Motiv eingeleitet ist: Die Fenster des Turmes, aus denen der Klang der Glocken tönt, stehen für eine Offenheit, welche ihre erste Konkretion als Schönheit findet: Sie „sind wie Thore an Schönheit“, die einen neuen Blick auf die Natur zu eröffnen vermag, indem die Bäume des Waldes (selbst an anderer Stelle Ausdruck einer Sphäre) in den Blick zu kommen vermögen. Reinheit wird nicht als moralische Kategorie der Be- und Verurteilung eingeführt, sondern als ästhetische, als Kategorie der Stimmigkeit des Maßes, welches in einem Bild verkörpert ist und darin anschaubar wird. Sodann folgt ein entscheidender Satz: „Innen aus Verschiedenem entsteht ein ernster Geist.“ Aus dem Innenraum des Bildes (der Sphäre), und zwar aus dem Verschiedenen, in das sich seine Gestaltung ergießt, entsteht ein „ernster Geist“. Dieser ist nicht unmittelbarer Ausfluss eines ersten Elementes, eines ersten Prinzips, einer arché, des Anfangs oder der Quelle, sondern er wird in der Gestaltung des Verschiedenen, welches ein „Maaß“3 zum Ausdruck bringt. Von ihm zeigt sich, dass es immer schon vom Geist getragen war. So sehr einfältig aber die Bilder, so sehr heilig sind die, daß man wirklich oft fürchtet, die zu beschreiben. Die Himmlischen aber, die immer gut sind, alles zumal, wie Reiche, haben diese, Tugend und Freude. Der Mensch darf das nachahmen. Darf, wenn lauter Mühe das Leben, ein Mensch aufschauen und sagen: so will ich auch seyn? Ja. So lange die Freundlichkeit noch am Herzen, die Reine, dauert, misset nicht unglücklich der Mensch sich der Gottheit. Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie die Himmel? dieses glaub’ ich eher. Des Menschen Maaß ist’s. Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf 3

Später im Text heißt es: „Des Menschen Maaß ist’s.“

5.1 Die Offenbarkeit Gottes als Sphäre der Dichtung

257

dieser Erde. Doch reiner ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, wenn ich so sagen könnte, als der Mensch, der heißet ein Bild der Gottheit.

Die Gestaltung der Sphäre ist bis zu dem Punkt gelangt, an dem ihr geistiger Charakter erkannt wurde („Innen aus Verschiedenem entsteht ein ernster Geist.“), womit ein Endpunkt erreicht ist. Nun kann sich davon eine theoretische Betrachtung abheben. Zunächst ist von einfältigen, d. h. noch unentfalteten Bildern die Rede, deren Heiligkeit den Dichter (im Sinne der Vorsicht von Patmos und anders als zunächst in Wie wenn am Feiertage . . . ) fürchten lässt, sie zu beschreiben. Allerdings darf der Mensch, wenn er sich nicht selbst dazu ermächtigt, „das nachahmen“ und wird nicht auf eine Bildlosigkeit und die Auflösung jeglicher Erzählung festgelegt. Dies muss, um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, in welches Patmos mit seiner Kritik am Bilden eines Bildes führen könnte, hinzugefügt werden. Der Grund, der die Bildgestaltung erlaubt sein lässt, liegt in der Offenbarkeit Gottes, auf welche der offene Himmel hinweist („Ist er offenbar wie die Himmel?“). Vorbereitet war diese Rede von der Offenheit bereits im Bild des Kirchturms, der die Fenster zur Schönheit, die einen neuen Blick für die Natur mit sich bringt, hin geöffnet hat. Die Schönheit wird nun selbst zum Verweis auf die Offenbarkeit Gottes, sodass sich eine Verweisstruktur ergibt, welche von den offenen Fenstern zur Schönheit zur Offenbarkeit Gottes führt, wobei diese sofort wieder mit einer Metapher, dem offenen Himmel, in Verbindung gebracht wird. Diese Metapher liegt zweifelsohne im Raum der zuvor gedichteten Sphäre, ist aber dennoch neu. Die Offenbarkeit Gottes begegnet mithin nicht in einer Unmittelbarkeit, sondern in einer Vermittlungsstruktur, die sich in immer neue Bilder schickt und in Verweisen, die ständig verschoben werden, einen Ausdruck erhält. Nicht unmittelbar in diesen Bildern, sondern im Charakter ihrer je neuen Konfiguration und Verschiebung zeigt sich die Offenbarkeit Gottes. Nicht an einer abstrakten Regel oder Wesensbestimmung, sondern an dieser Offenbarkeit Gottes müssen die Menschen ihr Maß gewinnen. Dieses Maß, diese Stimmigkeit, wird sichtbar in der Dichtung, welche es dem Menschen ermöglicht, die Erde zu bewohnen: Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.

Im dichterischen Bewohnen der Erde, das jedem Gestus der Beherrschung entgegensteht, heißt der Mensch ein „Bild der Gottheit“. Und umgekehrt ist die Offenbarkeit Gottes die Sphäre, in welcher sich die Dichtung vollzieht. Damit ist die kurze, aus der Dichtung einer sprachlichen Sphäre entfaltete offenbarungs- und schöpfungstheologische Poetik Hölderlins an ihr Ende gelangt. Im zweiten Teil des Textes beklagt Hölderlin, wie bereits erwähnt, den Verlust des Maßes und damit des dichterischen Bewohnens der Erde. Der Verlust ist Folge einer Überhebung des Menschen, der unter dem Paradigma des „mehr“ keine Formen des Ablassens, der Schwächung, des Abschiedes kennt: „Größeres zu wünschen, kann nicht des Menschen Natur sich vermessen.“ Der dritte Teil schließlich redet zunächst vom Verlust des dichterischen Blickes, wo der Mensch ein Spiegelbild des Menschen zu fixieren sucht: „Wenn einer in den

258

5 Turmgedichte

Spiegel siehet, ein Mann, und siehet darinn sein Bild, wie abgemahlt“. Der dichterische Blick hingegen setzt den Verlust des feststellenden Blickes voraus: „Der König Oedipus hat ein Auge zuviel vieleicht.“ Erst in der Verabschiedung des klar identifizieren wollenden Auges kann der Mensch in jenen Übergang der Erneuerung eingehen, welcher im offenen Zwischenraum von Tod und Leben, Sein und Nicht-Sein, Null und Eins liegt und von Hölderlins Dichtung gestaltet wird.

5.2 Wiederkehr der Verschränkung der Frage nach Gott und dem Menschen: Was ist der Menschen Leben ... und Was ist Gott ... Im letzten Kapitel seines Hölderlin-Buches resümiert Przywara seine apokalyptische Hölderlin-Interpretation mit Bezug auf die Anfänge zweier vermutlich 1807 verfassten Gedichte: „Alle konkreten Inhaltlichkeiten der Hymnen Hölderlins münden darum in die zwei letzten einfachen Worte ‚Was ist Gott?‘, ‚Was ist des Menschen leben?‘ (in den gleichnamigen Hymnen).“4 Wiederaufgegriffen scheint damit der erste Vers des frühen Gedichtes/Gebetes M. G.: „Herr! was bist du, was Menschenkinder?“, der sich wie ein cantus firmus durch Hölderlins Werk zieht. Die Interpretation dieser Gedichte oder Gedichtfragmente stößt vor allem auf Motive, welche im Text In lieblicher Bläue . . . oder aber in anderen Gedichten bereits vorgekommen sind. Sie bringt in inhaltlicher Hinsicht kaum neue Aspekte. Hölderlins Dichtung verabschiedet in ihrer letzten Phase auch noch den zuvor so starken Drang, in immer kühnere Bilder der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten für das Verhältnis von Gott und Mensch vorzudringen und konfiguriert wenige bekannte Motive in kleinen Abwandlungen immer neu. Die beiden kurzen Gedichte können überleiten zu den theologischen Konsequenzen vorliegender Arbeit. WAS IST DER M ENSCHEN L EBEN . . . Was ist der Menschen Leben ein Bild der Gottheit. Wie unter dem Himmel wandeln die Irrdischen alle, sehen Sie diesen. Lesend aber gleichsam, wie In einer Schrift, die Unendlichkeit nachahmen und den Reichtum Menschen. Ist der einfältige Himmel Denn reich? Wie Blüthen sind ja Silberne Wolken. Es regnet aber von daher Der Thau und das Feuchtere. Wenn aber Das Blau ist ausgelöschet, das Einfältige, scheint Das Matte, das dem Marmelstein gleichet, wie Erz, Anzeige des Reichtums.

5

10

Am Ende des ersten Teils von In lieblicher Bläue . . . war vom Menschen als „Bild der Gottheit“ die Rede, was im ersten Vers des Gedichtes wieder aufgegriffen wird. 4

Przywara, Hölderlin, 178.

5.2 Wiederkehr der Verschränkung der Frage nach Gott und dem Menschen

259

Die tiefste Bestimmung des Menschen und damit die Antwort auf die eingangs gestellte Frage liegen darin, dass der Mensch Bild Gottes sei. Er zählt aber auch zu den „Irrdischen“ (V 2) – die Irdischen sind somit auch die Irrenden. Sie bewegen sich wie unter dem Himmel, der eine gemeinsame Umgebung darstellt. Sie ahmen Unendlichkeit und Reichtum nach, ohne sie in einem Bild festhalten zu wollen; vielmehr erscheinen sie wie in „einer Schrift“ (V 5) lesend, was seit Patmos als Akt lebendiger Interpretation gefasst werden kann. Nachdem schon vom Reichtum die Rede war, steht in der Mitte des Gedichtes die Frage, ob denn der einfältige Himmel auch reich sei. War in Hölderlins Dichtung bisher eher die Frage gestellt worden, ob die Darstellung des himmlischen Reichtums gelingen könne und war dabei auf ein Ablassen von diesem Vorhaben verwiesen worden, stellt sich nun die Frage, ob der Himmel überhaupt reich sei, worauf keine unmittelbare Antwort folgen kann. Vielmehr wird ein Bild aufgebaut, welches diese Frage in den Bereich des Ästhetischen versetzt: „Silberne Wolken“ (V 8) sind wie Blüten (vielleicht wie Worte), von denen Regen und Tau auf die Erde fällt. Wo sie davon getränkt wird und wieder Blumen mit ihren „Blüthen“ (V 7) entstehen können, zeigt sich der himmlische Reichtum gegeben. Unabhängig von dieser Eröffnung einer Vielfalt des Lebendigen wie auch der Sprache, lässt sich die Frage nach ihm nicht beantworten. Mit dem aus Patmos bekannten „Wenn aber“ (V 9) leitet das Gedicht eine Reflexion ein: Wenn das Blau, das Umgebende der Sphäre und des Himmels ausgelöscht ist, und das Einfältige an der weiteren Entfaltung gehindert wird, vermag – leiser als das Blaue – „Das Matte“ (V 11) des Marmorsteins („Marmelstein“, V 11) hervorzutreten und zur Sichtbarkeit zu gelangen. Gerade das in seinem Glanz Zurückgenommene wird „wie Erz, / Anzeige des Reichtums“, (VV 11 f.), welcher in der Gestalt des Marmors in feinsten Schattierungen, Adern und Abstufungen sich zeigt. In der Rede von der göttlichen Fülle und Unmittelbarkeit zeigt sich in Hölderlins Dichtung immer auch ein Moment der Schwächung. WAS IST G OTT . . . Was ist Gott? unbekannt, dennoch Voll Eigenschaften ist das Angesicht Des Himmels von ihm. Die Blize nemlich Der Zorn sind eines Gottes. Jemehr ist eins Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes. Aber der Donner Der Ruhm ist Gottes. Die Liebe zur Unsterblichkeit Das Eigentum auch, wie das unsere, Ist eines Gottes.

5

Wie zuvor die Frage nach dem Menschen eröffnet nun die Frage nach Gott das Gedicht: „Was ist Gott?“ (V 1) Eine erste Antwort lautet, er sei „unbekannt“ (V 1). Dies ist die Antwort, welche der vorangehenden Frage wohl zunächst gegeben werden muss. Gott ist kein Gegenstand, welcher mittels Prädizierungen bestimmt werden könnte. Wo dies eingestanden ist und der Antwortende vom Phantasma abgelassen hat, Gott eine Bestimmung geben zu wollen – er ist unbekannt –, kann Gott

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5 Turmgedichte

in einer subtilen Weise in seinem unerschöpflichen Reichtum angesprochen werden, wobei das Wort „dennoch“ am Ende des ersten Verses den Umschwung ankündigt: Nicht er, sondern das Angesicht des Himmels ist voll seiner Eigenschaften. Der einfältige Himmel, von dem in Was ist der Menschen Leben . . . (V 6) gefragt wurde, ob er denn reich sei, erscheint in Was ist Gott . . . tatsächlich als reich – ein anderes Gedicht gibt, gleichsam in einer Versetzung oder Verzögerung, Antwort auf eine aufgeworfene Frage. Als Beispiel des himmlischen Reichtums werden die „Blize“ (Was ist Gott . . . , V 4), Zeichen der affektiven Dimension Gottes („Zorn“), angeführt. Der Dichter macht nicht mehr den Versuch, kühn unter diesen zu stehen und sie zu vermitteln. Die Blitze gehören Gott, der Donner ist sein Ruhm (VV 6 f.). Zwischen den Sätzen über die Blitze und den Donner findet sich – nur hörbar, wenn in diesen der Gestus des Ablassens vom Verlangen nach menschlicher Verfügung über sie gehört wird – die Absage an den Gedanken der Unerkennbarkeit Gottes: „Jemehr ist eins / Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes.“ (VV 5 f.) Je mehr Gott ins Unerkennbare gesteigert wird, desto weiter schickt er sich in Fremdes, wird die Beziehung zu ihm entfremdet. Als gemeinsamen Bezugspunkt („Eigentum“, V 8) Gottes und des Menschen nennt das Gedicht schließlich die „Liebe zur Unsterblichkeit“ (V 7). Allerdings sind Gott und Menschen in Bezug auf dieses Eigentum nicht mit einem bloßen „und“ verbunden, sondern in einer komplexen Konstruktion (VV 7–9): [. . . ] Die Liebe zur Unsterblichkeit Das Eigentum auch, wie das unsere, Ist eines Gottes.

Zunächst wird die Liebe zur Unsterblichkeit genannt. Diese geht vor dem Ende des Verses nicht in weitere Spezifizierungen und Bestimmungen ein. Sie steht gänzlich für sich selbst da. Das dann erwartete Verb („Ist“) taucht – in einer Versetzung – erst zwei Verse später (V 9) auf und zwingt so dazu, die Passage noch einmal zu lesen, ist sie doch andernfalls, bedingt durch die verspätete Setzung des „Ist“, kaum verständlich. Die zum Prädikat „Ist“ zählenden Worte „Das Eigentum“ („ist das Eigentum“) sind, nur durch den Versumbruch getrennt, in unmittelbare Nähe zum Subjekt „Die Liebe zur Unsterblichkeit“ gerückt, das Verb scheint auf den ersten Blick auszufallen. Andererseits rückt der Genitiv „eines Gottes“, welcher dem Eigentum zugeordnet ist („ist das Eigentum eines Gottes“), an die letzte Stelle des Satzes, hinter die Kopula „Ist“. Dass die Liebe zur Unsterblichkeit, die zuerst Eigentum Gottes ist, auch „das unsere“, d. h. unser Eigentum, ist, wird zwischen Beistrichen in einer Apposition ausgesagt. Der Vorrang liegt klar auf der Seite Gottes, wenngleich dieser erst an der letzten Stelle des Gedichtes als letztes Wort genannt ist. Der Satz ist vollständig („Die Liebe zur Unsterblichkeit ist, wie das unsere, das Eigentum eines Gottes.“), seine einzelnen Glieder aber sind fast bis zum Zerreißen des Sinns umgeordnet und neu gruppiert („Die Liebe zur Unsterblichkeit / Das Eigentum auch, wie das unsere, / Ist eines Gottes.“) So lotet der Satz die Grenze aus, welche Aufbau und Auflösung des Sinnes voneinander trennt und bewegt sich an der Schwelle beider. An dieser noch etwas sagen zu können und weder

5.3 Eine neue Form der Unmittelbarkeit: Der Frühling

261

in ein Verstummen noch in ein Lallen zu verfallen, ist die Sorge, welcher sich der Dichter verpflichtet fühlt.5 Im Gedicht begegnet kein neuer Inhalt, die Rede wird jedoch zwischen den Extremen denotativer, unmittelbar bezeichnender Rede6 und dem Schweigen bzw. einem unbestimmten Nichtwissen verlangsamt.7 Die Gemeinschaft Gottes und der Menschen zeigt sich nicht mehr in dem einen oder anderen Bild, sie scheint gerade in jenem Bruch der Direktheit des geradestrahlenden Zepters (Patmos, VV 110 f.) auf.

5.3

Eine neue Form der Unmittelbarkeit: Der Frühling

Die Gedichte Was ist der Menschen Leben . . . und Was ist Gott . . . erinnern noch an Hölderlins Hymnen aus der Zeit zwischen 1800 und 1806.8 Später jedoch vollzieht sich ein Wandel in Hölderlins Dichtung. Der Dichter greift wieder auf Reimstrophen zurück und wählt als Titel immer wieder die Jahreszeiten. Die wenigen aus der Zeit im Turm erhaltenen Texte lassen vermuten, dass Hölderlin ab etwa 1837 beginnt, seine Texte mit Scardanelli zu unterschreiben. Vermutlich ab den 1840er Jahren versieht er sie auch mit einer Datumsangabe, wobei diese keiner bislang erkennbaren Chronologie folgt. Die Datumsangaben reichen von 1648 bis 1940. Ute Oelmann spricht im Hinblick auf diese Texte sogar von einem „ScardanelliZyklus“9 , von dem 27 Gedichte überliefert sind. Wesentlich scheint mir dabei, dass die Gedichte, versehen mit Unterschrift („Mit Unterthänigkeit Scardanelli“) und Datumsangabe, Briefcharakter annehmen. Wie in Hölderlins Schreiben immer wieder Gedicht und Gebet ununterscheidbar geworden sind, lassen sich nun Gedicht und Brief nicht mehr voneinander trennen. Die Gedichte sind ganz sich adressierende Rede geworden, welche die Zeiten durchquert und nach Adressaten in Vergangenheit und Zukunft sucht. Der Autor tritt dabei ganz hinter der Chiffre Scardanelli zurück. Ute Oelmann weist darauf hin, dass die spätesten Gedichte „ichlos“ geworden und auch „die letzten Spuren des Gottesnamens [. . . ] gelöscht“10 sind. War am Anfang der Turmgedichte die Frage nach Gott und dem Menschen (vgl. Abschn. 5.2) noch einmal explizit aufgegriffen worden und schloss sich damit ein Bogen zu den frühesten Gedichten des Autors, so verschwindet sie in den letzten Gedichten gänzlich. Die Rede von einem Ich und von Gott hört in Hölderlins Dichtung zur selben 5

Zur spezifischen Sorge des Dichters vgl. die berühmte Passage aus der letzten Strophe von Heimkunft: „Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele / Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.“ (Heimkunft, VV 10). 6 In großartiger Weise hat dies Rilke zum Ausdruck gebracht: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. / Sie sprechen alles so deutlich aus“ (Rilke, Die Gedichte, 192). 7 Das Motiv der Verlangsamung war bereits in Stimme des Volks (VV 25–32) begegnet: „Doch, minder nicht sind jene den Menschen hold / Sie lieben wieder so wie geliebt sie sind / Und hemmen öfters, daß er lang’ im / Lichte sich freue, die Bahn der Menschen.“ 8 Vgl. MA III, 353; TL 1859 f. 9 Ute Oelmann, Späteste Gedichte, in: Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 403–409, hier: 404. 10 Ute Oelmann, Späteste Gedichte, in: Kreuzer (Hg.), Hölderlin-Handbuch, 403–409, hier: 406.

262

5 Turmgedichte

Zeit auf, ohne dass diese jedoch atheistischen oder apersonalen Charakter annähme. Weder gibt es Zwischenstufen einer langsamen Abgrenzung dem Ich wie dem Göttlichen gegenüber noch ist irgendwo das Pathos eines abrupten Abbruchs spürbar. Die Gedichte scheinen die explizite Bezugnahme auf jene Instanzen, die mit „Ich“ oder „Gott“ bezeichnet werden, nicht mehr nötig zu haben. Vielmehr durchdringen diese die Sphäre der jeweiligen Gedichte in unaufdringlicher Weise in einer Unmittelbarkeit, die es ermöglicht, die Gedichte auch als Gebete aufzufassen – oder aber sie als schöne gereimte Gebilde zu sehen, welche jenseits jedes a/theologischen Horizontes gelesen werden können. Im Folgenden sei eines der Frühlingsgedichte Hölderlins genauer betrachtet: D ER F RÜHLING . Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben, Es wundert sich der Mensch, und neue Worte streben Aus Geistigkeit, die Freude kehret wieder Und festlich machen sich Gesang und Lieder. Das Leben findet sich aus Harmonie der Zeiten, Daß immerdar den Sinn Natur und Geist geleiten, Und die Vollkommenheit ist Eines in dem Geiste, So findet vieles sich, und aus Natur das Meiste.

d. 24 Mai 1758.

5

Mit Unterthänigkeit Scardanelli.

Die Jahreszeiten, welche in den Titeln der Gedichte des Öfteren wiederkehren, stellen ähnlich wie Witterung, Äther, Gewässer, Ozean oder Wald einen sphärischen Ausdruck dar. Sie bezeichnen ein Allgemeines, welches nicht durch fortschreitende Abstraktion erzeugt wird, sondern einen zahlreiche Phänomene umfassenden Raum beschreibt, der jedoch nicht mit einem bloßen Behälter verwechselt werden darf. Er ist nicht allein das Umgebende, sondern auch das Durchdringende, welches seinen Gegenständen eine Gestimmtheit verleiht. Wie viele der spätesten Gedichte Hölderlins beginnt auch Der Frühling mit „Wenn“ (V 1), was ein Merkmal der späten Hymnen, besonders von Patmos, fortsetzt. Mit der Setzung der eine Reflexion einleitenden Konjunktion „Wenn . . . “ wird deutlich, dass es sich im Folgenden nicht um die Beschreibung von Naturphänomenen handelt. Eher geht es um Formen des Bewohnens der Sphäre, der symbolischen Ordnung, der Erzählungen . . . Das Gedicht Der Frühling schildert, wie aus einer nicht näher beschriebenen Tiefe das Frühlingshafte ins Leben steigt. Der Mensch wundert sich darüber, es handelt sich um ein Geschehen, welches nicht Produkt seiner Reflexionen und Projektionen ist. Drei Folgen werden davon abgeleitet: [. . . ] neue Worte streben Aus Geistigkeit, die Freude kehret wieder Und festlich machen sich Gesang und Lieder.

5.3 Eine neue Form der Unmittelbarkeit: Der Frühling

263

Der Akzent liegt auf dem Entstehen neuer Worte, zieht sich doch die entsprechende Passage im einzigen Enjambement des Gedichtes kunstvoll über die Versgrenze. Das Verb streben, welches den Vorwärtsdrang dieser Passage zum Ausdruck bringt, ist unmittelbar vor die Versgrenze gesetzt, geht in sie ein, kommt an ein Ende und geht im nächsten Vers in geistiger Weise wieder hervor. Das Streben, die Intentionalität, hat keinen direkten, unmittelbaren, „geradestrahlenden“ (Patmos, V 110), sondern geistigen Charakter und zielt auf eine Erneuerung der Sprache. Der Aufgang eines neuen sprachlichen Horizontes ist Zeichen des Geistes. Dem schließt sich die Wiederkehr der Freude als zweite Folge an, die nur weniger Worte bedarf. Im Gegensatz zu den neuen Worten, ist sie von einer Struktur der Wiederkehr und damit auch der Erinnerung geprägt. Sie meint ein freudiges SichWiedererkennen in dem, was man immer schon war. Die Freude ist nicht Abbruch und gänzlicher Neuanfang, sondern erkennt sich in einer alten wieder, worin auch ihr geistvoller Charakter liegt. Die ersten beiden Folgen führen mithin in jene Oszillation aus Neuem und Sich-Wiedererkennendem, welche Hölderlin im eingangs zitierten Brief an Ebel mit den biblischen Worten „Neues und Altes“ zur Sprache gebracht hat: Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah, wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues!11

Die Oszillation aus neuer Sprache und wiederkehrender Freude leitet zur dritten Folge über, einer festlichen Gestimmtheit von Gesang und Liedern, die nicht mehr auf einen Dichter zurückgeführt werden, sondern sich selbst zum Ausdruck bringen, sich „festlich machen“ (V 4). In diese Unmittelbarkeit des sich aussprechenden Gesangs ist der Mensch hineingenommen, darin begegnet ihm das Göttliche (wenn er es denn so nennen möchte). Jene reflexive Struktur, die sich am Ende der ersten Strophe gezeigt hat („festlich machen sich Gesang und Lieder“), leitet in die zweite über, wo es heißt, das Leben finde sich aus Harmonie der Zeiten. Die Harmonie der Zeiten ist nicht zuletzt die gestimmte Oszillation aus Altem und Neuem, der Übergang zwischen Zukunft und Erinnerung. In dem dadurch eröffneten Raum findet sich das Leben. Mit der Oszillation der Zeiten sind, wie die zweite Strophe zeigt, noch zwei weitere Übergänge gesetzt: In dem durch den Übergang von „Natur und Geist“ (V 6) eröffneten Raum findet sich der Sinn, im Zwischen von Singularität und geistigem Raum („Eines in dem Geiste“, V 7) schließlich Vollkommenheit. Diese hat jedoch nicht das letzte Wort, ihr folgt im letzten Vers die Rede von Vielem („vieles“, V 8) bzw. dem Meisten („das Meiste“, V 8), welches in Kontrast zur Totalität des Alles steht. Die Vollkommenheit, die im Zusammen von Singularität und geistigem Raum (mit Hegel: Einzelheit und Allgemeinheit) besteht, muss sich überschreiten zum kontingenten Vielen (dem Besonderen), das je neu erzählt werden muss.

11

Brief 132, 10. Jänner 1797, MA II 643.

Epilog – Momente einer poetischen Theologie

Der in der Arbeit beschrittene Weg durch Hölderlins Dichtung hat immer wieder vor theologisch relevante Motive geführt, die nun im Rahmen des Epilogs in einigen Punkten zu entwickeln sind. Zusammengefasst und gebündelt werden sie dabei unter dem Ausdruck „poetische Theologie“1 , der von Sloterdijk geborgt ist und auf den veränderten Charakter der folgenden Überlegungen hinweist. War es bislang der Duktus der Gedichte, welcher den Fortgang der Ausführungen und das Auftreten theologischer Motive bestimmte, ist nun der theologische Gedanke leitend: Die folgenden Überlegungen entfalten – mit Blick auf den Weg durch die Gedichte Hölderlins – die Motive Abschied und Offenbarung, wobei es lediglich um die Entwicklung einiger Momente, nicht aber einer eigenständigen Theologie oder theologischen Methode gehen kann. Dies wäre als Ziel zu hoch gegriffen. Die Überlegungen dazu beginnen mit der Frage nach der Legitimität des Ausdrucks einer poetischen Theologie sowohl von Seiten der Dichtung Hölderlins als auch von Seiten der Theologie. Sloterdijk hat den Ausdruck selbst mit Blick auf Hölderlin eingeführt, ihn aber nicht weiter entfaltet. In einem ersten Kapitel (Abschn. 6.1) wird es darum gehen, noch einmal die theologische Dimension der Dichtung Hölderlins in den Blick zu nehmen. Dazu wird der begangene Weg durch die Gedichte anhand des für die Interpretation leitenden Ausdrucks der Sphäre rekapituliert und die Frage nach seinem Zusammenhang mit dem Begriff der Offenbarung gestellt. Freilich erweisen sich die beiden Begriffe nicht als deckungsgleich, gleichwohl zeigen sich Übergänge, um deren Darstellung es zu tun ist. Im zweiten Kapitel (Abschn. 6.2) gilt es, die Frage nach der theologischen Legitimität der Rede von einer poetischen Theologie zu stellen. Dazu erfolgt eine Reflexion auf die Gestalt neutestamentlicher Theologie in Briefform, die in eine Nähe zur Gedichtform gestellt wird. Die Überlegungen werden anschließend anhand des Römerbriefes konkretisiert, für den das Motiv des Abschiedes zentral ist. Damit ist zugleich das Stichwort für das nächste Kapitel (Abschn. 6.3) gegeben, welches bei einem anderen neutestamentlichen Abschnitt ansetzt, für den der Abschied im Zentrum steht, den Abschiedsreden Jesu im Johannes-Evangelium. 1

Sloterdijk, Schäume, 517.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 J.H. Deibl, Abschied und Offenbarung, Studien zu Literatur und Religion / Studies on Literature and Religion, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04888-2_6

265

6

266

6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

Verabschiedet wird dabei der Gedanke der Rückbindung an eine Ursprungserzählung sowie der Gedanke der Vollendung als Totalität aller Erzählungen zugunsten einer Fortschreibung kontingenter Erzählungen, die sich mit dem biblischen Kanon zu verbinden vermögen. Im vierten Kapitel (Abschn. 6.4) werden die Begriffe Abschied, Sphäre, Schwächung und Versetzung im Hinblick auf eine mögliche Theologie der Offenbarung zusammengeführt. Das abschließende Kapitel (Abschn. 6.5) stellt die Frage, inwiefern Gedicht und biblischer Text (als Offenbarung) darin eine Analogie haben, dass sie zur Eröffnung neuer sprachlicher Horizonte führen können, welche von den Menschen mit ihren kontingenten Erzählungen bewohnt werden können.

6.1 Sphäre und Offenbarung Der Begriff der Sphäre hat sich als Schlüsselbegriff für die Interpretation von Hölderlins Gedichten erwiesen. Wie kann dieser Begriff in einen Zusammenhang mit dem theologischen Begriff der Offenbarung gebracht werden? Um eine Antwort zu geben, empfiehlt sich zunächst eine Rekapitulation des in der Arbeit abgeschrittenen Weges als Entwicklung eines Denkens der Sphäre (1) und sodann eine nähere Artikulation der Frage nach Gott und Mensch, die bereits in die Mitte der Thematik der Offenbarung weist und sich in ein Denken der Sphäre als Frage nach Gott, Mensch und Sprache wandelt (2). Schließlich wird der Zusammenhang des poetischen Begriffs der Sphäre mit dem theologischen der Offenbarung reflektiert (3).

1) Rekapitulation des Weges als Entwicklung eines Denkens der Sphäre Von Beginn an geht es in Hölderlins Werk um die Gestaltung dichterischer Sphären. Als einer der ersten Versuche kann das Jugendgedicht Die Nacht angesehen werden. Beginnt man mit der Lektüre dieses Textes, erfährt man sich in der ersten Strophe in eine nächtliche Landschaft hineingenommen, von der ausgehend sich die weiteren Gegenstände des Gedichtes entfalten. Mit den Tübinger Hymnen wird deutlich, dass die Sphären einen Zusammenhang mit dem Göttlichen haben. Sie treten nun in Gestalt von Göttern auf, nach denen diese Gedichte auch benannt sind, und werden im Gedicht entfaltet. So wird im Hymnus an die Göttin der Harmonie weniger die Göttin beschrieben, als die Sphäre der Harmonie gestaltet. Deutlich wird durch den Zusammenhang mit dem Göttlichen, dass die Sphären nie einfachhin Erzeugnis des Menschen sind. Auch wenn sie in der Dichtung gestaltet werden, sind sie gleichwohl der Raum, in welchem sich die Dichtung erst entfalten kann. Bewusst wird auf diese Weise eine Struktur der Aufhebung jedes Ursprungs in einen Prozess der Entwicklung, in welchem der Ursprung sich erst als solcher setzt und darstellbar wird.

6.1

Sphäre und Offenbarung

267

In diesem Zusammenhang werden im Ausgang der Tübinger Hymnen zwei massive Verlusterfahrungen unausweichlich: Weder die Natur noch die Geschichte vermögen in natürlicher oder unmittelbarer Weise noch als Sphären, welche dem Menschen einen Aufenthalt gewähren, zu fungieren. Es genügt in Hinkunft nicht mehr, bestehende Sphären – und seien sie die der zyklisch sich erneuernden Natur oder der antiken griechischen Geschichte – bloß zu beschreiben und ihren Gehalt zu entfalten, sie müssen in der Dichtung in freier Kunstnachahmung in einem schöpferischen Prozess neu wiederholt, d. h. sprachlich refiguriert werden, wobei diesem Prozess immer etwas Unableitbares anhaftet. Als paradigmatische Gedichte des Übergangs in dieses Vorhaben können Der Äther und Der Wanderer angehsehen werden. Das Element des Äthers in seiner alles umgebenden und durchdringenden Gestalt ist Chiffre für die nicht mehr unmittelbar und gegenständlich zu verstehende Sphäre. Der Wanderer steht als Gestalt hingegen für Prozesse der Subjektivierung innerhalb der Sphären sowie für ein dynamisches (wanderndes) Bewohnen derselben. In jedem Gedicht muss künftig je neu eine Dichtung der entsprechenden Sphäre des Gedichtes als begleitendes, mitgängiges Moment erfolgen. Verstärkt stellt sich dabei die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Dichter/Dichtung und dem Göttlichem (als dem unableitbaren Ursprung der Sphäre). Das Göttliche offenbart sich zunächst darin, dass es sich nicht mehr als ein Teil oder ein Aspekt der Sphäre in diese einschreiben lässt, sondern nur in einem Geschehen einer sich vollziehenden Wandlung adressierbar wird. Damit aber wird das Konzept der Sphäre, welches (in Ähnlichkeit zum Mythos) als das alles Umgebende und Durchdringende auch das Moment, sich zur Totalität zu bestimmen, an sich hat, aufgebrochen. Die Offenbarung des Göttlichen vermag, indem sie ein Geschehen der Wandlung initiiert, jede totalisierende Tendenz der Sphäre zu unterbrechen. Wo der Dichter (gleich dem Priester) dieses Geschehen der Wandlung eigenmächtig inszenieren möchte (Wie wenn am Feiertage . . . ), fällt die Sphäre in eine des Gottes und eine der Menschen auseinander, die nicht mehr aufeinander abbildbar sind, die sprachlich nicht mehr in einen Zusammenhang gebracht werden können: „Die Sphäre die höher ist, als die des Menschen diese ist der Gott“. Mit dieser Thematik des Auseinanderfallens der Bereiche des Menschlichen und des Göttlichen – die Götter existieren wohl, sie sind realer als alles andere, allein, wir verfügen über keine Sprache mehr, uns an sie zu adressieren – ringen die verschiedenen Versionen von Der Abschied. Ins Zentrum rückt damit die Frage nach dem Begriff der Sprache überhaupt, welche die Sphäre, der Ort oder der Vermittlungsraum ist, in dem eine Begegnung von Menschlichem und Göttlichem erst möglich ist. Wenn die Sprache nicht, wie es noch in Wie wenn am Feiertage . . . schien, vom Dichter ausgeht und initiiert wird, wo ist ihr Ursprung dann zu suchen? Wie gelangt sie zu uns? Wie kann der Dichter in sie eintreten? Welche Aufgabe stellt sich ihm? Der Ursprung der Sprache kann nur als göttlich angesehen werden, ist aber Ursprung nur, wenn er sich auch im Gedicht dazu bestimmt, der Ursprung zu sein, der (über zahlreiche Vermittlungsschritte) zu den Menschen gelangt und sich als Horizont der Sprache für sie eröffnet. Am Quell der Donau ist in seiner Überarbeitung, der Widmungsfassung, das vielleicht bescheidenste Gedicht Hölderlins, insofern er nicht einmal mehr

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

selbst als Dichter den Eingang in die Sprache zu suchen wagt, sondern diesen für einen Dichterfreund erfrägt. Das Gedicht endet in einer radikalen Offenheit, die am Ende vom Wiederaufnehmen der Worte, die uns zurückgelassen sind, vom Deuten, vom Bleiben (in der Sprache) und der Fortsetzung des Gesangs spricht. Diese Überlegung fortführend frägt Hölderlin, ob das Geschehen einer Eröffnung des sprachlichen Horizontes, welches in den Gedichten immer wieder darzustellen ist, selbst einen Ermöglichungsgrund hat, als dessen Wiederholung (freie Kunstnachahmung) es sich erweist.2 Andernfalls könnte jenes Ablassen vom selbstmächtigen sprachschöpferischen Handeln des Dichters, wie es am Ende von Wie wenn am Feiertage . . . und in Am Quell der Donau statthat, selbst noch einmal als heroische Tat des Dichters angesehen werden. Hölderlin stößt dabei in Patmos auf die biblische Erzählung als einen Text, in dessen Zentrum die kénosis der Totalität des Absoluten und die Verabschiedung seiner unmittelbaren Präsenz steht, die in eine Präsenz im Geist übergehen muss, was in je neuen besonderen (kontingenten) Geschichten erzählt werden muss. In seinen letzten Gedichten verschwinden die Instanzen des Ichs oder Dichters und des Göttlichen aus dem Text. Die späten Gedichte sind der Versuch, den Übergang darzustellen, wie sich ein Wort, eine neue Sprache, ein Bild aus der jeweiligen Sphäre erhebt. Jeder Bezug auf eine subjektive Instanz (des Menschlichen wie auch des Göttlichen) würde von diesem Geschehen des Werdens des Wortes ablenken. In der Sphäre taucht damit eine Unmittelbarkeit auf, welche Dichtung als Erneuerung der Sprache erscheinen lässt. In religiöser Hinsicht kann sie auch als Gebet wahrgenommen werden, christlich ist sie als Werden des göttlich-menschlichen Wortes bekannt. Damit ist der Übergang zur Thematik des nächsten Kapitels vorbereitet.

2) Die Frage nach Gott-Mensch-Sprache Die Gottes-Frage tritt in Hölderlins Werk von Beginn an in Verschränkung mit der Frage nach dem Menschen auf und bleibt in dieser Weise untergründig bis zu den späten Gedichten präsent. Das Jugendgedicht M. G. sowie die Turmgedichte Was ist der Menschen Leben . . . und Was ist Gott . . . können verdeutlichen, wie konstant diese Frage trotz der Entwicklung von Hölderlins Dichtung bleibt. Beide Momente, Gott und Mensch, sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern geben sich ihre Bedeutung in Entsprechung zueinander. Dieses Zusammen von Göttlichem und Menschlichem deutet Hölderlin auch in Bezug auf den Begriff der Offenbarung an – und zwar in einem Brief an Sinclair, den er am 24. Dezember 1798 verfasste3 :

2 Diese Deutung ist inspiriert vom Übergang des Geistkapitels ins Religionskapitel in Hegels PhdG. 3 Das Datum des Briefes, den Vortag oder Vorabend des Weihnachtsfestes, halte nicht für irrelevant, geht es doch bei diesem Fest genau um jene unwiderrufliche Verbindung von Göttlichem und Menschlichem.

6.1

Sphäre und Offenbarung

269

[. . . ] und in aller Schärfe genommen, ist eine apriorische, von aller Erfahrung durchaus unabhängige Philosophie, wie Du selbst weist, so gut ein Unding, als eine positive Offenbarung, wo der Offenbarende nur alles dabei thut, und der, dem die Offenbarung gegeben wird, nicht einmal sich regen darf, um sie zu nehmen, denn sonst hätt’ er schon von dem Seinen etwas dazu gebracht.4

Theologisch gesprochen handelt es sich bei dieser Verschränkung der Frage nach dem Göttlichen und dem Menschlichen um einen inkarnatorischen Grundduktus von Hölderlins Denken: Über Gott kann nur gesprochen werden, wenn diese Rede auch etwas über den Menschen zum Ausdruck bringt. Wo umgekehrt vom Menschen die Rede ist, bleibt das Denken Gottes davon nicht unberührt. In philosophischer Hinsicht stellt jene Verschränkung ein Echo von Kants Erkenntniskritik dar, die für Hölderlin ein wichtiger Ausgangspunkt ist, ohne dass er ihr unmittelbar folgen würde. Während für Kant Aussagen über Gott, die über die Möglichkeit, seine Idee widerspruchsfrei zu denken, hinausgehen, an die Freiheit, d. h. an Moralität, gebunden sind, ist die Rede von Gott bei Hölderlin immer mit der Frage, was sich dichterisch über den Menschen aussagen lässt, verbunden. Drei Aspekte wurden hinsichtlich dieser Thematik im Durchgang durch die Gedichte deutlich: 1) Die Entwicklung der Dichtung Hölderlins führt immer tiefer in Erfahrungen des Verlustes, die nicht bedeutungslos für die Frage nach Gott und dem Menschen sind. Ihr Verhältnis kann nicht mehr in der zeitlosen Konzeption des mystischen Augenblicks noch als ein in die Vergangenheit oder Zukunft ausgelagertes oder in die zyklischen Prozesse der Natur eingeschriebenes Geschehen einen Ausdruck finden. Auch die Schönheit als Ebene der Vermittlung von Göttlichem und Menschlichem fällt schließlich aus. Diese Verluste führen jedoch nicht einfachhin in einen Atheismus, sondern sind auch als ein Zerbrechen bestimmter Bilder von Gott und Mensch lesbar – Bilder, die sich als nicht adäquat erwiesen haben, Ausdruck ihres Verhältnisses zu sein. Sie werden dabei nicht einfachhin zerstört oder über Bord geworden, sondern noch einmal aufgerufen, gezeigt, vorgestellt, um danach verabschiedet zu werden. Als Verabschiedete können sie in Zukunft momenthaft wieder auftreten und haben darin, sofern auch zugleich ihr Verschwinden als mitgängiges Moment ausgesagt wird, ihre Dignität. Immer tiefer macht sich dabei, wie besonders deutlich in Heimkunft5 zum Ausdruck kommt, ein Riss in der Sprache selbst bemerkbar: Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Nahmen, Herzen schlagen, und doch bleibet die Rede zurük? (Heimkunft. An die Verwandten., VV 101 f.)

Damit rückt die Sprache selbst ins Zentrum, sie kann nicht mehr als neutrales Medium der Vermittlung des Verhältnisses von Gott und Mensch angesehen werden. 4 Brief 171, 24. Dezember 1798, MA II, 723. Vgl. dazu Johann Reikerstorfer: „Offenbarung bedeutet demnach kein zirkuläres Geschehen, in dem der Mensch mit seinen weltlichen Erfahrungen ausgeschlossen bliebe. Sie ereignet sich in der Welt als Geschichte“ (Reikerstorfer, Weltfähiger Glaube, 149). 5 Vgl. Deibl, Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen, 105–157.

270

6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

Verabschiedet werden muss mithin auch die Frage nach Gott und Mensch, wo sie als direkte, unmittelbare gestellt wird. Dies leitet zum zweiten Aspekt über. 2) Die zweiwertige Relation Gott-Mensch kann nur im Rahmen der entsprechenden Sphären gedacht werden und muss mithin auf das Dreieck GottMensch-Sprache hin aufgebrochen werden. Dies muss in verschiedener Hinsicht betrachtet werden: Es gibt keine unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott, die nicht sprachlich (in einem weiten Sinn verstanden als kulturell-geschichtlichgesellschaftlich) vermittelt wäre; Offenbarung lässt sich vom Menschen nicht direkt aufnehmen, ohne dass sie sich in sprachlicher Weise zum Ausdruck brächte; der Mensch ist nicht Schöpfer der Sprache, vielmehr wiederholt er ihren göttlichen Ursprung in freier Weise; Gott erschafft die Sprache, indem er auch den Menschen werden lässt. Jede Annäherung an die Frage nach Gott und dem Menschen steht in einem sprachlichen (d. h. kulturell-geschichtlich-gesellschaftlich) vermittelten Horizont. Figuren, welche in direkter Weise die Offenbarung Gottes einfangen wollen (das Stehen mit entblößtem Haupte unter Gottes Gewittern aus der FeiertagsHymne) oder aber unmittelbar ein Bild Gottes bilden wollen (vgl. Patmos, V 165), werden in den Gedichten verabschiedet. Zu betonen ist, dass es sich dabei nicht allein um ein Problem handelt, welches der endlichen bzw. erbsündlich geschwächten Konstitution des Menschen geschuldet ist, sondern dass Hölderlin zufolge Gott selbst sich zu dieser Vermittlungsstruktur bestimmt, indem er den geradestrahlenden Zepter (VV 110 f.), d. h. die Unmittelbarkeit der Offenbarung, zerbricht. Vielleicht kommt die trianguläre Struktur Gott-Mensch-Sprache an keiner Stelle schöner als im späten Text In lieblicher Bläue . . . zum Ausdruck Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie die Himmel? dieses glaub’ ich eher. Des Menschen Maaß ist’s. Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde. Doch reiner ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, wenn ich so sagen könnte, als der Mensch, der heißet ein Bild der Gottheit (In lieblicher Bläue . . . , MA I, 908).

Gott ist offenbar „wie die Himmel“, d. h. in sphärischer Weise, im Sinne der Sphären, in die er, sie verwandelnd, eingeht und welche sich dichterisch als Sprachraum artikulieren. Der Mensch findet darin sein Maß (d. h. seine innere Stimmigkeit), bewohnt sie und ist so Bild Gottes. 3) Bislang ist hinsichtlich des Verhältnisses von Gott-Mensch-Sprache vor allem die Vermittlungsstruktur hervorgehoben worden. Dies macht, auch wenn die Thematik nicht in der differenzierten Weise Hegels vorgetragen werden kann, ein Wort über das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung nötig. Als Hintergrund der bisherigen Überlegungen kann das Diktum aus den Anfangspassagen der Wissenschaft der Logik gelten, daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt.6 6

Hegel, Wissenschaft der Logik (Werke 5), 66.

6.1

Sphäre und Offenbarung

271

Problematisiert wurde in den bisherigen Ausführungen eine Form der Unmittelbarkeit, welche meint, den Prozess der Vermittlung abhalten zu können, d. h., nicht in Formen der Vermittlung eingehen zu müssen bzw. nicht aus diesen hervorzugehen. Sie zeigt sich etwa als ein Wissen oder Verhalten, welches keine Versetzung kennt und keine Lücke freier Gestaltung eröffnet, mithin lediglich mechanischer (unmittelbarer) Zusammenhang (TS 11) ist. Sie betrifft Formen der Religion wie des aufgeklärten Wissens, die aus dem Glauben oder Unglauben eine Gestalt unmittelbarer Evidenz machen und weder von dem einen noch dem anderen erzählen. Sie betrifft ferner Formen religiöser Behauptung, die durch nichts als durch Autorität und Macht legitimiert sind und keine Formen ästhetischen Umspielens ihres Gehaltes kennen. Sie betrifft mithin auch Denkfiguren, welche religiöse Worte, Gesten, Handlungen und Haltungen nicht aus der „Mythe“ (TS 15) und damit aus freier Kunstnachahmung verstehen, sondern in unmittelbaren Ableitungen erklären wollen, seien diese Ableitungsketten primär neurophysiologisch, genetisch, entwicklungsgeschichtlich, psychologisch, religionsgeschichtlich, juristisch, doktrinär oder utilitaristisch ausgerichtet. Dem gegenüber sei ein Diktum Hölderlins aus dem Fragment philosophischer Briefe wiederholt: „So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.“ (TS 15) Hölderlin kennt jedoch sehr wohl Formen der Unmittelbarkeit: Letztere zeigt sich dort, wo in einem Gedicht ein Wort oder eine Wendung unmittelbar zum Bild wird und den Raum einer Sphäre eröffnet (der freilich dann gestaltet werden muss). Dies wurde an Wörtern wie Witterung (Wie wenn am Feiertage . . . ), Nacht (Die Nacht), Stille (Die Stille), Harmonie (Hymnus an die Göttin der Harmonie), Wüste und Eispol (Der Wanderer), Gewässer (Die Schwäne), Wald (Im Walde, Patmos), Haus (Am Quell der Donau), Frühling (Der Frühling) deutlich. Die Unmittelbarkeit zeigt sich aber auch dort, wo in einer Sphäre die Gravitation einzelner Wendungen das gesamte Umfeld zu bestimmen beginnt und in seiner Bedeutung verändert. Beispiele dafür sind: „Im Abendschimmer / Stand der Strom.“ (Die Meinige, VV 125 f.) oder „Da staunen wir und wissens nicht zu deuten“ (Am Quell der Donau, V 106), „Nicht wollen / Am scharfen Strale sie blühn“ (Patmos, VV 188 f.). Die Unmittelbarkeit tritt ferner stets dort besonders hervor, wo sich Gedichte explizit als adressierte Rede gestalten. Dies zeigt sich, wenn sich das Gedicht an Gott wendet, mithin Gedicht und Gebet ununterscheidbar werden: „Herr! was bist du, was Menschenkinder?“ (M. G., V 1). Dies wird auch deutlich, wenn Gedichte Briefform annehmen, wie in den Scardanelli-Gedichten. Dabei wird, was sich gedanklich in einem Gedicht entwickelt hat, im brieflichen Sich-Adressieren in eine Unmittelbarkeit aufgehoben (als Ganzes, in seiner vollendeten Entwicklung ist das Gedicht nun Brief) und als Gabe überreicht. Eine Form der Unmittelbarkeit zeigt sich auch in den Passagen, in welchen sich ein Gedicht an den Gesprächspartner adressiert, dem es gewidmet ist: Ihr guten Geister, da seid ihr auch, Oftmals, wenn einen dann mein Konz die heilige Wolk umschwebt, Da staunen wir und wissens nicht zu deuten. (Am Quell der Donau, VV 104–106)

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272

6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

Eine weitere Gestalt der Unmittelbarkeit ist im Bekenntnis zu finden. Nach der Adresse an den Landgrafen Friedrich (Patmos, VV 197–203) geht Patmos in ein Bekenntnis über, welches den Charakter der Reflexion in eine neue Unmittelbarkeit aufhebt (Patmos, VV 203–205): Und wenn die Himmlischen jetzt So, wie ich glaube, mich lieben Wie viel mehr dich, Denn Eines weiß ich, Daß nemlich der Wille Des ewigen Vaters viel Dir gilt. || Still ist sein Zeichen Am donnernden Himmel. Und Einer stehet darunter Sein Leben lang. Denn noch lebt Christus. (Patmos, VV 197–205)

Adresse || || 200 || || || Bekenntnis || 205 ||

Unmittelbarkeit zeigt sich in dem Gewicht einzelner Wörter oder Wortverbindungen, welche eine Sphäre zu eröffnen oder aber Bedeutungen in ihrem Umfeld zu beeinflussen vermögen, im Sich-Adressieren, sei es in der Gestalt des Gebetes, der Widmung oder des Briefes, sowie dort, wo Gedicht in Bekenntnis übergeht. All diese Formen der Unmittelbarkeit fallen nicht aus der Dichtung von Sphären heraus, welche der Raum ihrer Vermittlung sind.

3) Offenbarung als Sich-Wissen des Menschen in Gott (Hegel) Die Sphäre stellt einen Raum des Offenen oder Offenbaren dar, in welchem die Gegenstände der Dichtung zur Sprache kommen können. Unmittelbar über die Nähe zum neutestamentlichen (bzw. biblischen) Begriff der Offenbarung zu befinden, ist uns verwehrt, findet sich doch im Neuen Testament schlichtweg „kein Wort, das sich mit dem Sinn von ‚offenbaren / Offenbarung‘ voll und ausschließlich deckt“7 . Vielmehr begegnet eine Fülle von Ausdrücken (mit unterschiedlicher Streuung in den einzelnen Traditionssträngen), welche das Motiv der Eröffnung, des Offenbarens und Erscheinens aussprechen: γνωρίζω, δηλόω, φανερόω, ἐπιφάνεια, ἀπο›αλύπτω.8 Die beste (wenngleich implizite) Deutung dieses biblisch bezeugten Reichtums sehe ich in der von Hegel am Eingang zum Kapitel über die geoffenbarte Religion in der Enzyklopädie gegebenen Bestimmung des Terminus Offenbarung, 7

Horst Balz, Art.: Offenbarung IV. Neues Testament, in TRE 25, 134–146, hier: 134. Vgl. Thomas Söding, Offenbarung. Neues Testament, in: LThK 7, 986 f. und Horst Balz, Art.: Offenbarung IV. Neues Testament, in TRE 25, 134–146, hier: 135. Der meist in Zusammenhang mit „Offenbarung“ gebrachte Begriff ἀπο›αλύπτω taucht im Neuen Testament im Matthäus- und Lukasevangelium (nicht bei Markus), im Johannes-Evangelium und in der Apokalypse, vor allem aber in den Paulinischen Schriften sowie im 1. Petrusbrief auf, nicht jedoch im Hebräer-Brief, obwohl dieser regelrecht eine Theologie des Wortes Gottes entwirft: „Vielfach und vielartig vormals Gott redend zu den Vätern durch die Propheten, redete er am Ende dieser Tage zu uns durch (den) Sohn, den er setzte als Erben von allem, durch den er auch schuf die Aionen“ (Hebr 1,1 f.).

8

6.1

Sphäre und Offenbarung

273

welche den Begriff aus den Versuchen unmittelbarer Ableitungen aus dem biblischen Text herauslöst und ihn zum Kennzeichen einer Religion (vielleicht dürfte man auch sagen: von Religion) überhaupt macht: Es liegt wesentlich im Begriffe der wahrhaften Religion, d.i. derjenigen, deren Inhalt der absolute Geist ist, daß sie geoffenbart und zwar von Gott geoffenbart sei. Denn indem das Wissen, das Prinzip, wodurch die Substanz Geist ist, als die unendliche für sich seiende Form das Selbstbestimmende ist, ist es schlechthin Manifestieren; der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, und in der absoluten Religion ist es der absolute Geist, der nicht mehr abstrakte Momente seiner, sondern sich selbst manifestiert.9

Wenn der Inhalt der Religion nicht nur ein partieller ist (sonst wäre sie bloß Teil der Welt und aus ihr ableitbar), sondern absoluter, d. h. von einem „mechanischen Zusammenhange“ (TS 11) losgelöster, ist, muss diese Religion auch als eine der Offenbarung gedacht werden. Das Prinzip, durch welches sich die göttliche Substanz zum Geist bestimmt, ist nicht ein äußeres oder bloß einer Willkür Gottes unterstehendes, sondern Selbstbestimmung Gottes als Gott, d. h. als Geist. Dass der Geist darin „sich selbst manifestiert“, d. h. offenbart, ist nicht noch einmal ein zusätzlicher, nachträglicher Akt, der irgendeiner anderen (endlichen) Motivation entspränge: Wenn es mit dem Wort Gott überhaupt in der Religion Ernst ist, so darf und muß die Bestimmung auch von ihm, dem Inhalte und Prinzip der Religion, anfangen, und wenn ihm das Sichoffenbaren abgesprochen wird, so bliebe von einem Inhalte desselben nur dies übrig, ihm Neid zuzuschreiben. Wenn aber vollends das Wort Geist einen Sinn haben soll, so enthält derselbe das Offenbaren seiner.10

Wie das Wort „Neid“ andeutet, ist der Mensch in dieses Geschehen miteinbezogen: Gott ist ihm gegenüber nicht „neidisch“11 . Mit dem Wort Gott ist mithin eine Sphäre der Offenbarkeit verbunden, in welcher auch der Mensch steht und in deren Rahmen sich auch seine Erkenntnis von Gott als Geist entfaltet. Dieses sphärische Denken der Erkenntnis Gottes wird besonders am Ende des aus der Enzyklopädie zitierten Paragraphen deutlich, wo Hegel hinsichtlich der Frage, was es bedeute, Gott als Gott, d. h. als Geist, zu erkennen, drei zu entwickelnde Bestimmungen angibt: Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewußtsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sichwissen des Menschen in Gott.12

Gott ist nicht als blindes Fatum zu fassen, sondern weiß als Geist sich selbst. Gott ist nur Geist, wenn er auch der Sich-selbst-Entäußernde ist. So ist sein Sichwissen auch „sein Selbstbewußstsein im Menschen“ Jesus, der Kunde gebracht hat „von 9

Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III (Werke 10), § 564, 372 f. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III (Werke 10), § 564, 373. 11 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III (Werke 10), § 564, 373. 12 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III (Werke 10), § 564, 374. 10

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

Gott“. Dieses Wissen der Menschen darf aber nicht als ein äußerliches der Vergangenheit oder Zukunft ausgelagert werden, sondern muss fortgehen „zum Sichwissen des Menschen in Gott“. Der Übergang von der Präposition „von“ zu „in“ ist der Übergang von einem objektivierenden Wissen zweiwertiger Subjekt-ObjektRelation (die Frage des Menschen nach Gott) zu einem Denken der Sphäre, welches Gott in einem offenbaren, von ihm eröffneten Raum erkennt. In der PhdG liegt für Hegel das Defizit der offenbaren Religion genau darin, dass sie das (sphärische) „Sichwissen des Menschen in Gott“ positiviert und als ein Fernes der Vergangenheit oder der Zukunft auslagert: „Seine eigene Versöhnung tritt daher als ein Fernes in sein Bewußstsein ein, als ein Fernes der Zukunft, wie die Versöhnung, die das andere Selbst vollbrachte, als eine Ferne der Vergangenheit erscheint.“13 Das Sich-Wissen des Menschen in Gott bezeichnet die Weise von Gottes Offenbar-Sein. Hegel zeigt philosophisch dessen Struktur auf, Hölderlin nähert sich ihm dichterisch an, besonders im Fragment In lieblicher Bläue . . . : „Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie die Himmel? dieses glaub’ ich eher. Des Menschen Maaß ist’s.“ (In lieblicher Bläue . . . , MA I, 908) In seiner sphärischen Dichtung versucht Hölderlin, diese Einsicht „nicht bloß in Gedanken“ (TS 13) zu wiederholen, sondern ihr auch ein Bild zu geben (vgl. TS 11). Hier läge der Ausgangspunkt für eine Theologie, die sich ein gewisses Maß an Poetik bewahrt hat, der Ausgangspunkt für eine poetische Theologie. Sie müsste die Frage stellen, was eine Theologie, die sich als Rede vom offenbaren Gott versteht, von dem beschrittenen Weg der Dichtung lernen kann.  Das erste Kapitel des Epilogs hat in einer Rekapitulation des begangenen Weges noch einmal auf eine theologische Grundierung von Hölderlins Dichtung hingewiesen und damit gezeigt, dass die Rede von einer poetischen Theologie seinem Denken nicht äußerlich erscheinen muss. Es bleibt jedoch die Frage nach der Beziehung der Theologie zur Sprachform der Dichtung. Die Überlegungen des nächsten Kapitels werden, um sich dieser Thematik zuzuwenden, bei der grundlegenden Frage nach der Herkunft der christlichen Theologie aus dem Neuen Testament beginnen und zu zeigen suchen, dass Theologie nicht selbstverständlich und ausschließlich ihren Ort im Traktat, im Buch oder in der Abhandlung hat, sondern in enger Nähe zur Briefform steht. Damit aber erweist sich das theologische Schreiben als offener auch für andere Formen, welche der Gestalt des Briefes verwandt sind, allen voran der Dichtung, die ja bei Hölderlin in ihrer letzten Phase von der Briefform ununterscheidbar wird (Abschn. 5.3). Die

13

Hegel, PhdG, 574. Auch Hölderlin hat sich von diesen beiden Gedanken distanziert: Bereits in den Tübinger Hymnen zerbricht der Gedanke, das Göttliche in einer ausgelagerten Zukunft sehen zu wollen, welche angesichts der Gewalt, in die die Französische Revolution immer mehr schlitterte, ihre bevorstehende Nähe immer weiter hinausschieben müsste. In Patmos wird der Gedanke des Festhalten-Wollens Jesu im Bild (einer Ferne der Vergangenheit) verabschiedet.

6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung

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Annäherung an eine poetische Theologie soll damit auch aus theologischer Sich als möglich erwiesen werden.

6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung Im folgenden Kapitel wird in einem ersten Punkt gezeigt, in welch’ enger Nähe die Herkunft christlicher Theologie, sieht man diese im Neuen Testament gegeben, zur Gestalt des Briefes steht (1). Sodann wird der Brief als Sprachform untersucht und werden Verbindungen zur Dichtung herausgearbeitet (2). In einem dritten Punkt wird ein Motiv, welches sich im Fortgang der Überlegungen zu Hölderlin als wesentlich herausgestellt hat, nämlich der Abschied bzw. die Verabschiedung, zunächst mit Hinblick auf eine frühe Grundschrift der Theologie, den Römerbrief, und dann auf die Theologie überhaupt bedacht (3).

1) Herkunft christlicher Theologie aus der Gestalt des Briefes? Für die christliche Tradition ist eine Trennung von Heiliger Schrift einerseits und deren Deutung im Rahmen der Theologie andererseits nur insofern sinnvoll, als man über den jeweiligen Grad der Verbindlichkeit der Aussagen und Texte spricht. Die in den Diskussionen am Zweiten Vatikanischen Konzil entwickelte dogmatische Konstitution Dei Verbum über die göttliche Offenbarung spricht in Abschnitt 24 davon, dass die Theologie „auf dem geschriebenen Wort Gottes“ ruhe (DV 24), ohne dieses Verhältnis auch umzukehren. Sein Studium sei die „Seele“ der Theologie. Das stärkste Argument für den Vorrang der Heiligen Schrift gegenüber anderen theologischen Texten findet sich jedoch an anderer Stelle. In Abschnitt 21 ist zu lesen: „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht.“ (DV 21) Absurd wäre es, zu sagen, die Kirche habe die Theologie (oder auch die Tradition) liturgisch verehrt. Methodisch scheint mir jedoch eine Trennung von biblischem Text und theologischen Texten nur begrenzt aussagekräftig. Spezifisch christliche Theologie entfaltet sich nicht erst nach dem Abschluss des Kanons als Reflexion auf die Heilige Schrift, sondern ist dieser bereits immanent. In jener auf Christus zentrierten Auslegung, welche die „Verfasser“ (DV 11) der Texte des Neuen Testaments von den Heiligen Schriften Israels gegeben haben, zeigt sich eine in eminentem Sinne theologisch zu nennende Arbeit. Die Reflexion auf das Leben Jesu (Mk, Mt, Lk) sowie auf das bereits in den synoptischen Evangelien beschriebene Leben Jesu (Joh), die Komposition der sogenannten Kindheitserzählungen (Mt, Lk) und der Passionserzählung, die theologische Deutung des Entstehens der Gemeinden im Rahmen der Ausbreitung des Evangeliums (Apg), die Entwicklung erster theologischer Symbole und Chiffren, die sich vom Erzählzusammenhang abzulösen beginnen und eine

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

eigenständige Reflexion anfachen („Kreuz“ bei Paulus, besonders in 1 Kor), die Antworten auf theologische Fragen der Gemeinden (Briefe, z. B. 1 Thess 4 f.) – und schließlich die kunstvolle Rekapitulation des biblischen Textes als Ganzen (Offb) müssen als Theologie verstanden werden. Theologie ist nicht allein Antwort auf die Heiligen Schriften, sondern erwächst aus ihnen. Sie kontinuiert sich aus dem Prozess der Entstehung und Kanonisierung der Heiligen Schrift in die Zeit. Der Ursprung christlicher Theologie ist mithin im Neuen Testament selbst zu finden. Wenn das Neue Testament als Ursprungsort christlicher Theologie angesehen werden darf, gilt es, sich im Rahmen ihrer Fortschreibung und Weiterentwicklung nicht allein in inhaltlicher Hinsicht (Was ist im Neuen Testament bzw. der Bibel zu lesen und wie ist es auszulegen?) auf den biblischen Text zu beziehen, sondern auch auf die Weise des Ausdrucks und die sprachliche Gestalt zu achten, welche die Theologie des Neuen Testaments angenommen hat. Bei aller Veränderung, welche theologisches Schreiben seit der Zeit des Neuen Testaments erfahren hat, fällt vor allem ein Unterschied besonders ins Auge – der Briefcharakter, welcher dem Großteil der Texte des Neuen Testaments eignet und in heutiger Theologie kaum mehr anzutreffen ist. Der erste christliche Text, mithin der Beginn christlichen Schreibens, ist der erste Brief des Paulus an die Gemeinde von Thessaloniki; ebenso ist der jüngste Text des Neuen Testaments ein Brief, der Zweite Petrusbrief. Die Briefform umspannt die gesamte Entstehungszeit des Neuen Testaments. Die kanonische Anordnung, die sich von der chronologischen Ordnung der Entstehung der Texte unterscheidet, ist als ein Übergang in die Briefform gestaltet. Das Neue Testament beginnt mit zwei erzählenden Texten, dem Matthäus- und dem Markusevangelium; dem folgt ein erzählender Text (Lk), der sich freundschaftlich an Theophilus, d. h. an den, der Gott liebt, adressiert. Um ihm, dem Freund, zu berichten, wird das Evangelium verfasst: 1

Da nun viele versuchten, eine Erzählung über die Dinge abzufassen, die sich bei uns erfüllt haben, 2 gleichwie uns übergaben die von Anfang (an) Augenzeugen und Diener des Wortes Gewordenen, 3 schien es auch mir (gut), der ich von vorn an allem gefolgt bin, genau nacheinander dir zu schreiben, bester Theophilos, 4 damit du erkennst die Sicherheit (der) Worte, über die du unterrichtet wurdest (Lk 1,1–4).

Das Johannes-Evangelium hat zwar nicht direkt den Charakter des Briefes oder der freundschaftlichen Anrede, kehrt aber auch nicht zur Erzählung zurück, wie sie sich bei Matthäus und Markus findet. Es steht in einem intensiven dialogischen Austausch mit seinen Leserinnen und Lesern, insofern es eine theologische, im Geist ermöglichte Meditation über die Inhalte der Erzählung der synoptischen Evangelien gibt, die in der Lektüre präsent zu halten sind. Die Apostelgeschichte adressiert sich erneut an Theophilus und nimmt damit wieder Briefcharakter an. Danach folgen, beginnend mit dem Brief des Paulus an die Gemeinde von Rom die 21 explizit als Briefe ausgewiesenen Texte. Der Briefcharakter wird bis zum Ende der Bibel nicht mehr aufgegeben: Die Johannes-Apokalypse enthält nicht nur sieben Sendschreiben an sieben Gemeinden, sondern ist auch selbst in Briefform gestaltet, wie besonders der Eingang (Offb 1,4–11) und der Segenswunsch am Ende (Offb 22,21) zeigen.

6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung

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Theologisch viel zu wenig bedacht ist bislang die Frage, was es bedeutet, dass ein Großteil jener Texte, welche Zeugnis von der Offenbarung Jesu Christi geben und welche als Heilige Schrift bezeichnet werden, Briefe sind. Was bedeutet es, dass die Heilige Schrift als Textsammlung mit kanonischer Anordnung einen bewussten Übergang zur Briefform gestaltet und dass diese literarische Gattung am Ende der Heiligen Schrift steht? Auch in der Zeit nach dem Entstehen der Texte des Neuen Testaments war die Briefform noch eine wichtige Gestalt theologischen Schreibens, und sie ist dies an bestimmten Punkten der Tradition auch geblieben: Man denke etwa an die Briefwechsel des Hieronymus oder des Anselm von Canterbury14 , um nur zwei herausragende Beispiele zu nennen. Unzweifelhaft ist jedoch auch, dass die Briefform allmählich von Traktaten, Streitschriften, Summen, später Manualien, Hand- und Lehrbüchern, Monographien, Sammelbänden und Journals sowie Lexika abgelöst wurde. In den Briefen von Bischöfen und Priestern an ihre Gemeinden blieb freilich etwas von der Briefform lebendig. In theologischer Hinsicht ist es vor allem Papst Franziskus, der in seinen Enzykliken und apostolischen Schreiben die Briefform wieder aufscheinen lässt.15

2) Der Brief als Sprachform und seine Nähe zum Gedicht 1) Ein Brief ist zuallererst sich adressierende Rede. Der Schreiber wendet sich, wenigstens gilt dies für die Briefe des Neuen Testaments, freundschaftlich an seine Adressaten, sodass sich eine Form der Gemeinschaft konstituieren kann. Er legt seine Sache nicht um ihrer selbst willen dar, sondern weil er sie jemand anderem mitteilen möchte und auch mit dessen Antwort rechnet. Die verhandelte Sache würde sich, wären die Adressaten andere, anders darstellen. 2) Der durch den Brief konstituierten Gemeinschaft ist eine Distanz eingeschrieben. Anders als bei der mündlichen Rede, deren Wort unmittelbar verhallt und die ihre Dignität gerade in dieser Flüchtigkeit hat, benötigt der Brief Zeit, um eine Distanz zwischen Schreiber und Empfänger zu überwinden. Diese sich aufspannende Zeit lässt sich – aufgrund der Materialität des Briefes – nicht beliebig gegen Null annähern16 , was nicht folgenlos für den Inhalt eines Briefes ist. Dieser muss so verfasst sein, dass er auch über die Unmittelbarkeit und Eingebundenheit in eine Situation – wie sie das gesprochene Wort, auch wenn dieses programmatisch in die Ferne wirken soll, prägt – hinaus verständlich bleibt. Anrede und Antwort stehen immer in einer zeitlichen Versetzung und vertrauen auf ein diese Distanz überbrü14

Vgl. Verweyen, Anselm von Canterbury, 8 f. Dass die Enzykliken von Papst Franziskus eminent theologischen Charakter haben, versuchen die Beiträge des Bandes Appel / Deibl (Hg.) Barmherzigkeit und zärtliche Liebe zu zeigen. Bezüglich des Briefcharakters von Evangelii Gaudium vgl. in eben genanntem Band Jakob Deibl, Evangelii Gaudium: Vom Lehrschreiben zum Freundschaftsbrief, 218–230. 16 In diesem Sinne stellt die Kommunikation via SMS-Nachrichten oder E-Mails, wenngleich diese auch geschrieben werden, eher eine Weiterentwicklung der mündlichen Rede als des Briefes dar. Ihr fehlt gerade die sich nicht gegen Null annäherbare zeitliche Distanz, die für den Brief entscheidend ist. 15

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

ckendes verbindendes Band. Das Warten auf eine Antwort lässt den Brief, nicht nur aufgrund der Entfernung und der damit einhergehenden dislozierten Gemeinschaft, als eine sehr fragile Form des Schreibens erscheinen. Seine Botschaft ist nicht in sich abgeschlossen, sondern rechnet mit der Einrede, dem Widerspruch oder auch der Weiterführung durch andere. Sie gehört, anders als dies in einem Buch tendenziell der Fall ist, nie dem Autor, der Autorin allein. 3) Der Brief spricht nicht allein eine bestimmte Botschaft aus, sondern auch deren Beginnen und Enden, indem er Anfang und Schluss mit bestimmten Formeln der Anrede bewusst kennzeichnet. Wirkt ein Buch vielfach so, als griffe man in der Lektüre für eine begrenzte Zeit lediglich ein Stück aus der Kontinuität der Diskurse heraus, um es dann wieder dort einzubetten, stellt ein Brief in stärkerer Weise einen Riss dar. Schreiber oder Schreiberin wenden sich explizit an ihren Adressatenkreis und setzen mit der Darstellung eines Themas ein, die sie nach einer gewissen Zeit, die nicht zuletzt durch die als möglich erscheinende Länge des Briefes vorgegeben ist, wieder beenden. Freilich hat auch ein Buch einen Anfang und ein Ende, in einem Brief werden diese beiden wesentlichen Orte jedoch eigens als Schwellen gestaltet. Sie sind nicht bloß der Endlichkeit des Schreibvorganges geschuldet (jeder Text muss irgendwo beginnen und aufhören), sondern integraler Bestandteil des Briefes. Das in der Anrede sich vollziehende Sich-Adressieren und die meist mit einem (Segens-)Wunsch einhergehende Verabschiedung sind für einen Brief geradezu gattungsbildend. Während der informierende, beschreibende, erzählende Hauptteil eines Briefes sich in keiner Weise von anderen Textgattungen unterscheiden muss, haben Anfang und Schluss einen spezifischen Charakter und weisen einen Brief als solchen aus. Gerade was das Bewusstsein für Anfang und Schluss, Anrede und Abschied betrifft, gibt es eine große Nähe von Brief und Dichtung, besonders wie Hölderlin sie versteht. Zahlreiche Gedichte sind mit einer Widmung versehen, die nicht sekundär zum Text hinzukommt, sondern integraler Bestandteil des poetischen Ereignisses ist. Dies zeigt sich darin, dass die Gedichte meist eine Hinführung zu jenem Punkt darstellen, an welchem sie (vielfach gegen Ende des Gedichtes) die Person(en) aus der Widmung auch tatsächlich ansprechen. Vielleicht kann man sogar sagen, die Widmung stelle in Hölderlins Dichtung keinen Sonderfall dar, sondern gehöre ihr konstitutiv an, könne manchmal aber ausfallen, wenn sich ein Gedicht nicht spezifisch an jemanden wendet. Dichtung wäre in diesem Verständnis analog zum Brief als ein bewusstes Sich-Adressieren an die Leserinnen und Leser zu verstehen. Freilich sind die Gedichte nicht nur an die in der Widmung erwähnten realen Personen gerichtet, sondern sollen durch ihre Veröffentlichung auch einer Allgemeinheit übergeben werden. Darin zeigt sich eine Nähe zu den Briefen des Neuen Testaments, die sich zwar auch an reale Adressaten richten, nicht aber auf diese einzuschränken sind, sondern sich durch sie an eine Allgemeinheit wenden: „Grüßt die Brüder in Laodikeia und Nympha und die Gemeinde in ihrem Haus! Und wann der Brief bei euch gelesen ist, macht, daß er auch in der Gemeinde (der) Laodikeier gelesen werde, auch den von Laodikeia, damit auch ihr (ihn) lest!“ (Kol 4,15 f.) Nicht nur die Anrede, auch der Abschied spielt bei Gedichten eine große Rolle. Ihre spezifische Form zwingt sie in mehrfacher Weise, Abschiede darzustellen:

6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung

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Der Aufbau des Gedichtes aus einer aus bestimmten Gründen gewählten (vielleicht sogar durch die Form vorgegebenen) Anzahl an Strophen, Versen, Hebungen innerhalb eines Verses etc. erlaubt keine beliebige Verlängerung des Textes, sondern stellt eine Begrenzung dar. Am deutlichsten wird dies durch die Versform, dem entscheidenden Merkmal eines Gedichtes. Anders als bei der Zeile, welcher der Umbruch lediglich äußerlich widerfährt, ist die Versgrenze konstitutiver Teil eines Verses. Sie unterbricht die sich aufbauende Bedeutung und lässt einen Vers in sein Ende eingehen. Die Versgrenze bedeutet eine Verabschiedung der Kontinuität des Sinns und lässt auf seinen Wiederhervorgang und seine Wiederaufnahme am Beginn des nächsten Verses hoffen. Anders als bei einer in Zeilen verfassten Prosa stellt ein Gedicht durch seine Versstruktur eine konstante Auseinandersetzung mit Untergang und Wieder-Hervorgang dar. Anfang und Schluss nicht nur eines Gedichtes und jeder seiner Strophen, sondern jedes Verses sind bewusst gestaltet. Bei Agamben heißt es dazu: Ein Gedicht ist in diesem Sinne etwas, von dem man von Anfang an weiß, daß es enden wird, daß es notwendigerweise an einem bestimmten Punkt aufhören wird [. . . ]. [. . . ] Das Gedicht ist also ein Organismus oder ein zeitliches Gebilde, das von Anfang an auf sein eigenes Ende hin ausgestreckt ist [. . . ].17

Besonders die späten Gedichte Hölderlins beginnen wie die Briefe mit einem Riss, weil sie nicht mehr auf eine gegebene Kontinuität des Sinns vertrauen können. Sie müssen jene Sphäre, in welche all ihre „Gegenstände“ eingeordnet werden und in welcher auch das Ich, der Dichter und sogar das Göttliche begegnen, mit dem ersten Vers zu dichten beginnen und diese Sphäre am Ende auch wieder schließen. Erwähnt sei ferner, welche Bedeutung über diese strukturellen Analogien hinaus die Briefform für den Dichter Hölderlin hatte. Nicht nur hat er seinen einzigen Roman, den Hyperion, in Briefform verfasst, sondern sind auch seine letzten Gedichte in Briefform gestaltet. Im eingangs zitierten Brief Hölderlins an Niethammer aus dem Jahr 1796 spricht der Dichter überdies vom Vorhaben, „Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ verfassen zu wollen, in denen er „von der Philosophie auf Poesie auf Religion kommen“ wolle. Danach berichtet Hölderlin von einer spannungsreichen Kontroverse, welche er mit Schelling anlässlich eines Treffens hatte. Einig seien sie sich immerhin darin gewesen, „daß neue Ideen am deutlichsten in der Briefform dargestellt werden können“18 . Hat dies damit zu tun, dass das Gärende und Unfertige neuer Ideen eine Person, ein Gegenüber, einen Freund braucht, dem man es zusagen möchte und auf dessen Verständnis man hofft? Hat es damit zu tun, dass man, anders als in einem Buch, nicht ein fertiges Ergebnis präsentiert, das man für möglichst abgeschlossen hält, sondern gerade auf Hilfe, Kritik, Einrede und Ermutigung des anderen wartet? Hat es damit zu tun, dass dem Brief der Verzicht auf die Einordnung des neuen Gedankens in die bestehenden Diskurse leichter verziehen wird, sodass den Überlegungen zunächst sowohl Schutz als auch Freiraum gewährt werden kann? Wenn sich neue Gedanken zwi17 18

Agamben, Die Zeit, die bleibt, 93. Brief 117, 24. Februar 1796, MA II, 614 f.; vgl. StA 6.2, 783–787.

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

schen Untergang und Neuanfang bewegen, bietet dann der Brief, zumal er seinen Inhalt zwischen einem bewusst gestalteten Beginn und einem ebenso gestalteten Abschied entfaltet, die Möglichkeit, jenen Übergang in einer geeigneteren Weise zur Sprache zu bringen, als dies das Kontinuum eines Buches könnte?

3) Anrede und Abschied im Römerbrief Die folgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, die ausgeführten Motive auf eine theologische Grundschrift, den Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom, zu beziehen.19 1) Zunächst muss betont werden, dass es sich um einen Brief handelt, der gleichwohl von dichterischen Elementen strukturiert ist: Wichtige Abschnitte des Briefes werden jeweils von Hymnen abgeschlossen, die argumentative oder ermahnendermutigende Sprache geht über in die des Lobpreises. Am Ende eines ersten längeren Abschnitts (Röm 1,18–3,20), der auf den Briefeingang (Röm 1,1–17) folgt und zeigt, dass alle Menschen unter der Sünde stehen, findet sich ein aus Zitaten des Alten Testaments gestaltetes „Schriftmosaik“20 , welches als ein Klagelied bezeichnet werden kann (Röm 3,10–18). Den ersten Hauptteil des Briefes, welcher die Überlegungen zur Rechtfertigungslehre enthält (Röm 1,18–8,39), beschließt ein Hymnus (Röm 8,31–39), der das Geheimnis des Gottes, der „für uns“ (Röm 8,31) ist und seinen Sohn „für uns alle hingab“ (Röm 8,32), entfaltet. Auch der zweite Hauptteil, der eine theologische Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche gibt (Röm 9–11), wird von einem Hymnus beschlossen (Röm 11,33–36). Die Anordnungen für die Gemeinde, welche sich im dritten Teil des Briefes finden, münden erneut in eine hymnusartige Collage aus Zitaten aus dem Alten Testament, welche allesamt den Gedanken des Heils Gottes für die Heiden zum Thema haben (Röm 15,9–12). Das Ende des Briefes bildet eine ausgedehnte Doxologie (Röm 16,25–27). Im Lichte der Überlegungen dieser Arbeit könnte man sagen, dass sich Brief- und Gedicht19

Für Luther ist der Römerbrief Kristallisationspunkt der Heiligen Schrift schlechthin. In der Vorrede zu seinem Kommentar zum Römerbrief heißt es: „Diese Epistel ist das eigentliche Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium. [. . . ] So finden wir in dieser Epistel aufs allerreichlichste, was ein Christ wissen soll, nämlich, was Gesetz, Evangelium, Sünde, Strafe, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Christus, Gott, gute Werke, Liebe, Hoffnung, Kreuz ist, und wie wir uns gegen jedermann, er sei fromm oder ein Sünder, stark oder schwach, Freund oder Feind, und gegen uns selber verhalten sollen. Ferner ist das alles durch Schriftstellen trefflich begründet, durch Beispiele aus sich und aus den Propheten bewiesen, so daß hier nichts mehr zu wünschen ist. Darum scheint es auch, als habe St. Paulus in dieser Epistel einmal in Kürze die ganze christliche und evangelische Lehre zusammenfassen und damit eine Einführung in das ganze Alte Testament geben wollen. Denn ohne Zweifel: wer diese Epistel gut im Herzen hat, der hat des Alten Testamentes Licht und Kraft bei sich. Darum lasse sie ein jeglicher Christ bei sich allgemein und stetig in Übung sein. Dazu gebe Gott seine Gnade! Amen.“ (Luther, Vorrede zu der Epistel von St. Paulus an die Römer, zitiert nach: http://www.reformatorischeschriften.de/Vorrede/roemer.html) Zur Bedeutung der Rezeption des Paulus in Zeiten des Umbruchs vgl. Kurt Appel, Il ritorno filosofico di Paolo: una sfida per l’universalismo cristiano, in: Angelini/Brambilla/Sequeri (Hg.), Cristianesimo e occidente, 69–91. 20 Theobald, Römerbrief. Kapitel 1–11, 89.

6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung

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form an neuralgischen Stellen der Epistel durchdringen und damit am Beginn des theologischen Schreibens im Neuen Testament Übergänge zwischen brieflichem Sich-Adressieren, theologischer Argumentation und dichterischer Sprachwerdung wie selbstverständlich sichtbar werden. Wesentlich bestimmter äußert diesen Gedanken Giorgio Agamben in seinem Buch Die Zeit, die bleibt21 , welches sich als ein Kommentar zu den ersten zehn Worten des Römerbriefes versteht. Agamben erkennt in den Briefen des Paulus – über die explizit hymnischen Texte hinaus – eine Weise der Sprachgestaltung, welche selbst dichterischen Charakter annimmt und die umgekehrt auch Dichtung nachhaltig beeinflusst hat, sodass er von einem messianischen Erbe und einer theologischen Hinterlassenschaft spricht, welche „Paulus der modernen Dichtung hinterläßt“22 . Agamben sieht eine Entsprechung der messianischen Zeit als jener „Zeit, die die Zeit benötigt, um zu Ende zu gehen“23 , d. h. jener Zeit, welche die Zeit zu ihrem eigenen Ende in Beziehung setzt und damit ihr bloßes Verlaufen spaltet, zur Dichtung. Die chronologische Zeit vermag nicht mehr mit sich selbst identisch zu sein und damit ihre alles umfassende Totalität zu behaupten. Eingeführt wird in sie ein Rest, der verhindert, dass sie jemals gänzlich ausfüllbar und vollständig repräsentierbar wäre.24 Die Verbindung zum Gedicht besteht darin, dass – wie oben bereits angedeutet – die Verse eines Gedichtes nicht allein den in ihnen sich aufbauenden Sinn transportieren, sondern auch ihr eigenes Zu-Ende-Gehen, das sie beständig begleitet, mitaussagen.25 Die Pointe liegt in der sprachlichen Gestaltung der Paulinischen Briefe, die einen dichterischen Charakter der Briefe anzeigt. Vielfach sind sie aus kurzen miteinander verknüpften Einheiten aufgebaut, die Versen (mit ihren Versgrenzen) in Kürzestform ähneln. Paulus, der für die Frage nach der Bedeutung der messianischen Zeit schlechthin steht, behandelt diese mithin am Übergang von argumentierender zu dichterischer Rede. Paulus treibt den Parallelismus, die Antithesen und die Homophonien der klassischen Rhetorik und der hebräischen Prosa zum Äußersten. Bei ihm erreicht der Zerfall der Periode in kurze und atemlose stichoi, die nach Reimen gegliedert und skandiert werden, einen Höhepunkt, der sowohl der griechischen als auch der semitischen Prosa unbekannt war . . . 26

Agamben gibt an, dass der Reim als Gestaltungselement in der frühen christlichen Dichtung entstehe und theologisch als eine Hinterlassenschaft des Paulinischen Schreibens angesehen werden könne. Indem ein Reimwort – meist an die Versgrenze gerückt – in eine klangliche Entsprechung zu einem anderen, in einem vorangehenden Vers meist ebenso vor der Versgrenze verwendeten Wort tritt, wird in dieser Wiedererinnerung der entsprechende Vers rekapituliert. Der Reim stellt dadurch eine Verbindung zweier Verse her. Das zweite der Reimwörter, welches in 21

Vgl. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 100. 23 Agamben, Die Zeit, die bleibt, 81. 24 Vgl. Kurt Appel, Die Wahrnehmung des Freundes in der Messianität des Homo sacer, in: Appel/Dirscherl, Das Testament der Zeit, 77–111. 25 Vgl. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 93. 26 Agamben, Die Zeit, die bleibt, 99. 22

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

inhaltlicher Hinsicht nicht zu dem über den Reim verbundenen vorangehenden Vers gehört, lässt dessen Aussage noch einmal anklingen, freilich verschoben, weil die inhaltliche Entwicklung des Gedichtes in der Zwischenzeit vorangeschritten ist und weil die Erinnerung überdies durch ein neues, anderes Wort erfolgt. In dieser Struktur freier Wiederholung sieht Agamben ein Bild der messianischen Rekapitulation, welche die Briefe desPaulus prägt. Die poetisch-theologische Hinterlassenschaft seiner Briefe, die sich nicht zuletzt in der Struktur des Reimes zeige, zerbreche Agamben zufolge um 1800, wie sich an der Dichtung Hölderlins zeigen lasse. Dabei gingen der Abschied des Göttlichen aus der Dichtung und das Zerbrechen ihrer Strukturen Hand in Hand: Als Hölderlin an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, seine Lehre vom Abschied der Götter – und besonders des letzten Gottes, des Christus – ausarbeitet, genau an dem Punkt, als er diese neue Atheologie aufnimmt, bricht die metrische Form seiner Lyrik, bis sie in den letzten Hymnen jede erkennbare Identität verliert. Der Abschied von den Göttern ist eins mit dem Verschwinden der geschlossenen metrischen Form, die Atheologie ist unmittelbar Aprosodie.27

2) Wichtig für den Zusammenhang der Überlegungen dieses Kapitels ist die Verbindung von Brief und Dichtung (konkret Römberbrief und Dichtung Hölderlins), die Agamben in einer unerwarteten Weise aufzeigt. Um dieser Spur noch weiter zu folgen, gilt es nun Anrede und Abschied als zwei wesentliche Topoi von Brief und Dichtung in den Blick zu nehmen. Dabei folge ich einem Gedanken von Jacob Taubes, der in seiner Politischen Theologie des Paulus schreibt: Die Lektüre des Römerbriefs will ich heute von seinem Anfang und seinem Ende her beginnen. Ich glaube nämlich, daß die Einkadrierung bereits einen wichtigen Hinweis darauf gibt, worum es sich bei Paulus in diesem Brief handelt. Wie immer konventionell die Form des Präskripts ist, Paulus füllt sie mit einem ganz besonderen Inhalt. Seine Präskripte sind von ungeheurer Präzision. Im Grund kann man, wenn man den Brief versteht, merken, daß alles bereits im Präskript steht.28

Michael Theobald bezieht sich in seinem Aufsatz Welcher Schlüssel passt zum Römerbrief? affirmativ auf diese Passage, zitiert sie allerdings nur im Hinblick auf das Präskript, nicht jedoch auf das Ende des Briefes.29 Agamben, der sein Paulus-Buch Taubes gewidmet hat30 , radikalisiert den Gedanken von Taubes (ohne ihn in dieser Hinsicht zu zitieren), indem er davon ausgeht, dass bereits die ersten zehn Worte den gesamten Text enthielten. Die bei Taubes noch vorhandene Betonung des 27

Agamben, Die Zeit, die bleibt, 100. Zur Hölderlin-Interpretation Agambens vgl. Deibl, Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen, 19–29. 28 Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, 23. 29 Theobald zitiert die oben angegebene Passage erst ab dem dritten Satz, weshalb der Bezug auf das Ende des Briefes ausfällt. Dies ist freilich im Rahmen eines kurzen Aufsatzes, der untersucht, wie wichtige Interpreten des Römerbriefes den Schlüssel zur Epistel in seinem Beginn sehen, legitim (vgl. Michael Theobald, Welcher Schlüssel passt zum Römerbrief? Große Theologen des 20. Jh. Zur Brieferöffnung Röm 1,1–17, in: Bibel und Kirche 3/2010, 138–146; hier: 138, vgl. auch 146). 30 Agamben, Die Zeit, die bleibt, 13.

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Schlusses wird auch von ihm übergangen, was im Folgenden noch zu thematisieren ist. Agamben spricht davon, „daß jedes Wort des incipit in einer schwindelerregenden Rekapitulation [. . . ] den gesamten Text des Briefes in sich zusammenzieht. Das incipit zu verstehen bedeutet daher, den gesamten Text zu verstehen.“31 Παῦλος δοῦλος Χριστοῦ ᾿Ιησοῦ ›λητὸς ἀπόστολος ἀφωρισμένος εἰς εὐαγγέλιον ™εο῀υ (Röm 1,1) Paulus, Sklave des Messias Jesus, berufener Gesandter, ausgesondert zur guten Botschaft Gottes (Röm 1,1)

Agamben betont, dass die nominale, parataktische Struktur, die sich im ersten Vers findet, in einem Atemzug auszusprechen sei und eine Steigerung enthalte: Knechtschaft, Berufung, Sendung, Aussonderung.32 Im Ausgang der Überlegungen dieser Arbeit könnten man sagen, Agamben lege den ersten Vers im Sinne einer Sphäre aus, welche Paulus in großer Eile aufbaut: Er selbst kommt darin vor als Geringster, als Knecht des Messias Jesus. In der Nennung des Messias ist die gesamte Hoffnungsgeschichte Israels als Raum der weiteren Entfaltung des Briefes in die Sphäre hineingenommen. Die Identität des Paulus wird von Anfang an in Abhängigkeit zu diesem Messias, der sich in der Gestalt des Jesus verkörpert, gesehen. In der Sphäre der Heilsgeschichte Israels und Offenbarungsgeschichte Gottes ist Paulus ein Berufener, d. h., er führt die Tradition der Propheten fort. Diese Tradition wird in eine Zukunft verlängert, er ist ein Gesandter, der der guten Botschaft zu dienen hat, dessen Ziel jedoch noch offen ist. Damit wird der sich konstituierenden Sphäre ein Aspekt der Offenheit eingeschrieben. Mit dem Wort der Aussonderung oder Teilung ist das wichtige jüdische Motiv des Restes angesprochen, welches – in der Interpretation Agambens33 – verhindert, dass eine Teilung in A und Nicht-A die Totalität repräsentiere. Der ausgesonderte Rest schreibt sich als etwas, das keine stabile Identität mehr bilden kann, in jegliche Figuren der Totalität ein und unterbricht sie. A und Nicht-A (und darin können sämtliche binäre Oppositionen und Klassifizierungen unseres Denkens gesehen werden) ergeben zusammen nicht mehr ein Ganzes, zumal ein Drittes auftritt, welches nicht zum Supplement gemacht werden kann, um die Teile zur Totalität zu ergänzen, sondern das Sich-Schließen der Totalität gerade verhindert. Sie ist dadurch nicht mehr repräsentierbar. Wenn die Berufung (›λητὸς) den Menschen als ganzen umfasst, so ist sie durch die Aussonderung (ἀφωρισμένος) mit einem Rest verbunden, der verhindert, dass die Berufung sich als eine neue, in sich geschlossene Identität verstünde, die sich neben andere Identitäten setzte.34 Jede Form der Identitätsgebung (Berufung) erweist sich als gebrochen, d. h., nicht gänzlich mit sich zusammenfallend. Somit ist der Sphäre der Aufbau von Bedeutung, Berufung, 31

Agamben, Die Zeit, die bleibt, 16. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 17. 33 Vgl. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 56–71. 34 Vgl. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 34–39. 32

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

Identität und Sinn eingeschrieben wie auch ihre Verabschiedung, die jedoch nicht ihre Zerstörung bedeutet. Diese Dialektik gibt – immer noch bezogen auf den ersten Satz des Römerbriefes – den Blick frei auf jene Botschaft (jenen Text), aus dem die Sphäre lebt, nämlich das Evangelium, die gute Botschaft Gottes. Ausgehend vom Motiv der Berufung zu einer Identität und deren Verabschiedung35 könnte sich eine genaue Exegese der Themenkomplexe Sünde-Rechtfertigung-Gnade, der Taufe am Übergang von altem und neuem Menschen, des Verhältnisses von Israel und Kirche sowie der Anerkennung der Schwachen im Glauben (Röm 14,1) entfalten. Die Anerkennung der Schwachen im Glauben stellt die letzte breiter ausgearbeitete Thematik vor dem umfangreichen Schluss des Briefes dar bzw. geht in diesen über. „Den Schwachen aber im Glauben nehmt an, damit (es) nicht (kommt) zu Scheidungen [d. h. zu Wortgefechten] von Gedanken.“ (Röm 14,1) Paulus nimmt an dieser Stelle die Verabschiedung jeglicher zuvor in großer Schärfe aufgebauter Distinktionen vor und begründet dies mit einem großartigen Gedicht auf Christus, in dessen Tod und Auferstehung auch die Grenze von Leben und Tod als relativiert erscheint. In der Übersetzung von Michael Theobald lautet der Text, der ein herausragendes Beispiel poetischer Theologie in der Hauptschrift des Paulus ist: Niemand von uns lebt sich selbst, und niemand stirbt sich selbst. Denn leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben, ob wir sterben, wir gehören also dem Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und lebendig geworden, daß er über Tote wie Lebende Herr sei. (Röm 14,7–9)36

Mit den „Schwachen im Glauben“ führt Paulus gegen Ende seines Briefes neben den Juden und den Heiden und denen, die auf den nicht repräsentierbaren Rest verweisen (also folglich keine eigene Gruppe darstellen, dennoch aber in irgendeiner Weise adressiert werden), sowie neben den alten und neuen Menschen (Röm 6,6 und 6,4) eine weitere Gruppe in die vom Brief eröffnete Sphäre ein. Freilich kann man aus den weiteren Ausführungen schließen, dass damit die gemeint sind, die zwar als Christen leben wollen, aber verunsichert meinen, an Speisegeboten festhalten zu müssen. Mit der Einführung des Ausdrucks der Glaubensschwachen öffnet Paulus jedoch einen Raum der Imagination, welcher weit über jene Frage hinausgeht. Sieht man den ersten Vers (oder das Präskript) tatsächlich als zentral 35

Agamben spricht von Berufung und Widerrufung: „Die messianische Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung“ (Agamben, Die Zeit, die bleibt, 34). 36 Theobald, Römerbrief. Kapitel 12–16, 139.

6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung

285

für den gesamten Brief an, erscheinen die im Glauben Schwachen als die, welche ihre Existenz nicht in der Oszillation aus Annahme einer Berufung und deren Widerrufung zu leben vermögen. Es sind die, welche sich an eine Identität klammern und auch die christliche Berufung wieder als eine Identität neben anderen im Kampf der Identitäten ansehen; es sind aber auch die, welchen jegliche Identitätskonzepte zerbrochen sind. Paulus verabschiedet am Ende seines Briefes das zu Beginn vorgestellte, in höchstem Maße anspruchsvolle Bild einer nur in der Widerrufung gegebenen Berufung des Christen zugunsten der Sorge für die im Glauben Schwachen, welcher die Priorität zukommt: „Es schulden aber wir, die Starken, die Schwächen der Nicht-Starken zu tragen, und nicht uns selbst zu gefallen.“ (Röm 15,1)37 Jenes Bild, das Paulus für seine Existenz entwirft, ist nicht falsch und wird nicht aufgegeben, es muss aber selbst zum Moment werden, schreibt er doch seinen Brief für eine Gemeinde. Es fällt auf, dass Agamben zwar ein eigenes Kapitel über den Begriff der Schwäche (ἀσªένεια) bei Paulus verfasst hat, aber den Schwachen im Glauben (ἀσªενοῦντα), dem im Brief an die Römer so viel Raum gewidmet ist (Röm 14,1–15,13), darin nicht erwähnt.38 Den Analysen Agambens ist im Hinblick auf Fragen zeitgenössischer Subjektkonstitution, welche er in seinen Ausführungen zu Paulus immer mitführt, voll und ganz zuzustimmen, viele seiner Überlegungen bieten tiefe Einsichten in den Römerbrief. Eine Anfrage richte ich jedoch an den Gedanken, im ersten Satz, in welchem Paulus von sich spricht, den gesamten Brief versammelt zu sehen. Die weitere Lektüre bzw. der Blick vom Ende her muss zeigen, was davon auch wieder verabschiedet wird und welche neuen Motive auftreten, etwa Worte wie „Geduld“, „Ermutigung“ (Röm 15,4 f.), „Erbauung“ (Röm 15,2), „Einmütigkeit“ (Röm 15,6). Was Paulus im ersten Vers des Briefes in der Klimax Knechtschaft, Berufung, Sendung, Aussonderung aufbaut, ist ein rigoroser Anspruch, eine Zumutung und Übertreibung, welche das Christentum auch tatsächlich ist – allerdings nie ohne deren Verabschiedung, sodass sie wieder zu Momenten werden.39 3) Gegenüber der großartigen Eröffnung des Briefes erscheint dessen Ende als ein mehrfach scheiternder Versuch, das Werk abzuschließen. Nicht leicht zu erkennen ist, wo das Zu-Ende-Gehen des Briefes eigentlich einsetzt. Theobald zufolge kündigt sich dieses bereits in der „rekapitulierenden Schlussmahnung von 15,7–12 37

Die Stelle als ganze lautet: „Es schulden aber wir, die Starken, die Schwächen der Nicht-Starken zu tragen, und nicht uns selbst zu gefallen. 2 Jeder von uns soll dem Nächsten gefallen im Guten zur Erbauung; 3 denn auch der Christos gefiel nicht sich selbst, sondern gleichwie geschrieben ist: Die Schmähungen der dich Schmähenden fielen auf mich. 4 Denn wie viel vorher geschrieben wurde, zu unsrer Belehrung wurde es geschrieben, damit durch die Geduld und durch die Ermutigung der Schriften die Hoffnung wir haben. 5 Der Gott aber der Geduld und der Ermutigung gebe euch, dasselbe zu denken untereinander gemäß Christos Jesus, 6 damit einmütig in einem Mund ihr verherrlicht den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christos“ (Röm 15,1–6). 38 Vgl. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 110–113. 39 Hellsichtig hat diese Problematik Metz in der 26. seiner Unzeitgemäßen Thesen zur Apokalyptik beschrieben: „Der christliche Gedanke der Nachfolge und der apokalyptische der Naherwartung gehören unbedingt zusammen. Nachfolge Jesu radikal, d. h. an der Wurzel gefaßt, ist nicht lebbar, wenn die Zeit nicht abgekürzt wird’. [. . . ]“ (Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 171).

286

6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

an, die in einen fürbittenden Segenswunsch“40 mündet: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, auf daß ihr überfließt in der Hoffnung in (der) Kraft heiligen Geistes.“ (Röm 15,13) Danach hebe der eigentliche Briefschluss an. Man könnte jedoch fragen, ob nicht schon der im Kontext der Ermutigung zur Sorge für die im Glauben Schwachen sich findende Segenswunsch in Röm 15,5–7 Hinweis auf den nahenden Abschied ist: Der Gott aber der Geduld und der Ermutigung gebe euch, dasselbe zu denken untereinander gemäß Christos Jesus, damit ihr einmütig in einem Mund den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christos verherrlicht. Deshalb nehmt einander an, gleichwie auch der Christos annahm euch zur Herrlichkeit Gottes (Röm 15,5–7).

Der von Theobald als eigentlicher Briefschluss bezeichnete Teil bietet an seinem Beginn einen Rückblick auf den Brief („Gewagter aber schrieb ich euch zum Teil, wie um euch zu erinnern durch die Gnade, die mir von Gott gegebene“, Röm 15,15) und legt im Anschluss daran, wie zur nachträglichen oder nochmaligen Legitimation seines Schreibens, die Bedeutung des Paulus als Apostel für die Heiden dar (Röm 15,16–21). Danach spricht Paulus von seinen weiteren Reiseplänen, die ihn auch nach Rom führen mögen, und erzählt im Rahmen dessen von der Sammlung für die Jerusalemer Gemeinde (Röm 15,22–29). Dem folgt die Bitte an die Gemeinde, ihm beizustehen und für ihn zu beten (Röm 15,30–32). Der sich daran anfügende Segenswunsch in Vers 33 könnte bereits den Abschluss des Briefes darstellen: „Aber der Gott des Friedens mit euch allen, Amen.“ Dann erfolgt aber eine neuerliche Bitte an die Gemeinde: Sie möge Phoibe, vermutlich Mitarbeiterin des Paulus und Überbringerin des Briefes, aufnehmen (Röm 16,1 f.). Im Folgenden zählt Paulus eine Fülle an Freunden und Mitarbeitern, Frauen wie Männer, auf, welchen die Gemeinde in Rom Grüße ausrichten möge (Röm 16,3–15). Betrachtet man den Brief beginnend von seinem ersten Vers bis zu diesen Schlusspassagen, kann man von einem Bogen sprechen, welcher von der einsamen Gestalt des Paulus (Röm 1,1), der von seiner Berufung als Widerrufung jeglicher Berufung spricht, zu einer großen Gemeinschaft von Freunden reicht. In Vers 16 fasst Paulus die Grüße zunächst in der Aufforderung zusammen, die Adressaten mögen einander mit heiligem Kuss grüßen, und entbietet anschließend den Gruß aller Gemeinden an die Gemeinde von Rom. Nach dem großartig aufgebauten Bild einer Gemeinschaft, der alle Gemeinden angehören, folgt unerwartet eine Warnung vor Spaltungen (Röm 16,17–19), die erneut in einen Segenswunsch mündet, welcher den Brief beschließen könnte: „Die Gnade unseres Herrn Jesus mit euch.“ (Röm 16,20) Ein ganz ähnlicher Segenswunsch findet sich im vorletzten Vers des ersten Korintherbriefes (1 Kor 16,23) und in teilweise etwas erweiterter Form im letzten Vers des zweiten Korintherbriefes (2 Kor 13,13), des Galaterbriefes (Gal 6,18), des Philipperbriefes (Phil 4,23), der Thessalonicherbriefe (1 Thess 5,28 und 2 Thess 3,18) und des Philemonbriefes (Phlm 25). Der Römerbrief setzt jedoch in den Versen 21 bis 24 erneut mit Grüßen an die Gemeinde in Rom fort, diesmal von Mitarbeitern und Menschen aus der 40

Vgl. Theobald, Römerbrief. Kapitel 12–16, 199.

6.2 Theologie als freundschaftliche Anrede und Verabschiedung

287

Umgebung des Paulus, Juden wie Griechen.41 Sein Ende findet der Brief in einer Doxologie (Röm 16,25–27). Ist das Präskript des Briefes, wie Taubes bemerkt, von ungeheurer Präzision, so zeigt sich am Ende des Briefes die Schwierigkeit, ihn abzuschließen, was ein Hinweis auf die Fragilität der Situation des Abschieds sein kann: Welches Wort oder welche Geste kann ein sich adressierendes Schreiben oder eine Begegnung beschließen? Inwiefern kann dieses Wort dem, was ihm vorangeht, noch einmal eine neue Bedeutung geben? Welche Antwort wird dem letzten Wort folgen?  Die Kategorie des Abschieds ist, wie nicht zuletzt die Überlegungen zum Römerbrief als einer theologischen Grundschrift der christlichen Religion zu zeigen suchten, von hoher theologischer Relevanz, wenngleich kaum im Bewusstsein der Diskussion. Eine poetische Theologie, wie sie nicht zuletzt mit den Briefen des Paulus in Verbindung gebracht werden kann, müsste die Relevanz dieser Kategorie aufzeigen. Sie weiß darum, dass auch theologische Texte in die prekäre Situation ihres eigenen Zu-Ende-Gehens münden. Dies zeigt bereits der biblische Kanon, der nicht als ein Buch verfasst ist, sondern eine kunstvolle Sammlung einzelner Schriften darstellt, deren Anfang und Ende im Zuge der Kanonisierung nicht gelöscht wurden, um glatte Übergänge und die Illusion einer einheitlichen Schrift zu erzeugen. Betrachtet man den biblischen Kanon als Zeugnis der Fülle der Offenbarung, wird man gewahr, dass sich diese Fülle in ein Spiel anfangender und zu Ende gehender Texte bricht, niemals aber in einem einheitlichen Text zu finden ist. Bedacht werden müsste in diesem Zusammenhang, was der genuin theologische Charakter der Text-Sammlung als Sammlung ist.42 Kein theologischer Text kann alles sagen oder zu allem etwas sagen, auch wenn er von Gott, dem Schöpfer aller Dinge spricht, dem Alpha und dem Omega, in dem alle Geschichte eingeborgen ist, von Gott, der umfassende Liebe ist und der uns seinen universalen Heilswillen kundgetan hat. Gerade weil Theologie diese Inhalte nicht aufgeben kann, muss ihre Rede immer auch einen Gestus des Abschieds vollziehen, weil sie sonst (in ihrer Identifikation mit ihrem Inhalt) totalitär zu werden drohte. Eine poetische Theologie müsste sich in den Dienst dieser „Abrüstung“ stellen. Eine theologische Aussage verliert ohne Adressaten ihren Sinn. Theologie muss nicht in Briefform verfasst sein und sich nicht als Dichtung vollziehen, darf aber ihre Herkunft aus der Gestalt des Briefes und ihre Nähe zur Dichtung nicht gänzlich vergessen. Dies bringt zuallererst die Aufgabe mit sich, ernsthaft die Frage zu stellen, wer denn die Adressaten theologischer Rede seien. Werden theologische Abhandlungen lediglich um der Fortschreibung einer Problemgeschichte willen verfasst oder sprechen sie zu jemandem? Werden theologische Abhandlungen nur für einen 41 42

Vgl. Theobald, Römerbrief. Kapitel 12–16, 236–238. Für die Gespräche zum Begriff der Text-Sammlung danke ich Johannes Deibl.

288

6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

anonymen Kreis von Gutachtern geschrieben oder für Menschen, denen man etwas mitteilen möchte? Gehen sie gänzlich in Diskurslandschaften und Problemhorizonten auf oder vermögen sie sich noch als ferne – briefliche – Antwort auf Texte, nicht zuletzt den biblischen Text, zu verstehen, die uns lange vorausgegangen sind? Sodann muss ein theologischer Text darum wissen, dass er seine Adressaten anspricht und sich auch wieder von ihnen verabschiedet. Er ist kein Dauergespräch. Eine poetische Theologie nimmt Abschied vom Gestus, Bedeutung unmittelbar aus Sätzen (und seien es solche der Heiligen Schrift) abzuleiten. Bedeutungen konstituieren sich stets nur im Raum einer Sphäre. Sie betrachtet theologische Sätze nicht allein als sprachlichen Ausdruck eines Inhalts, einer Wahrheit oder einer Bedeutung, sondern hat den Anspruch, dass theologische Aussagen immer auch die Eröffnung eines neuen sprachlichen Horizontes sind und sie zu einer Bereicherung des sprachlichen Ausdrucks führen. Sie transformiert die Gewalt und Unbedingtheit des radikalen Anspruchs der christlichen Berufung an den Einzelnen wie auch an die Gemeinde in die Eröffnung einer neuen Ausdrucksweise der guten Botschaft.

6.3

Abschied vom Gedanken der Unmittelbarkeit des Ursprungs und der Vollendung als Totalität

Auch von Seiten der Theologie ist, wie die Ausführungen des letzten Kapitels zeigen sollten, die Rede von einer poetischen Theologie legitim. Marcello Neri bringt dies in seinem Buch Esodi del divino. Caproni, Pasolini, Valesio, in welchem er auch auf Hölderlin zu sprechen kommt43 in die schöen Formulierung, „dass sich das Geflecht zwischen Poesie und Christentum, das auch aus Dissonanzen und Kritik gewoben ist, als wesentlich fruchtbarer erweist, denn ein Aufrechterhalten zweier gänzlich getrennter Sphären“44 . Im Rahmen der Überlegungen wurde überdies deutlich, dass eine Theologie, welche sich auf ihre Nähe zu Brief und Gedicht und deren Momente des Anfangs (der Adresse) und des Endens (des Abschiedes) bezieht, eine selbstkritische Überprüfung ihrer Sprachform vornehmen muss. Im Folgenden wird die Rede von poetischer Theologie, Sphäre und Abschied in einer stärker inhaltlichen Akzentuierung auf zwei wichtige theologische Motive bezogen, die im Rahmen der Beschäftigung mit Hölderlins Dichtung mehrfach auftraten, die Erzählungen vom Ursprung und von der Vollendung. Dabei werde ich mich vor allem auf die sogenannten Abschiedsreden im Johannes-Evangelium konzentrieren (Joh 13–17), die nicht nur in besonders dichter Weise das Thema des Abschieds reflektieren, sondern für Hölderlin der Referenztext sind, um im Gedicht Patmos das Leben Jesu zu rekapitulieren.45 1) Der Ausgangspunkt der Reden liegt in der Erzählung eines – im Text – realen Geschehens, der Fußwaschung Jesu und dem anschließenden Fortgang des Judas Iskariot (Joh 13,1–30). Von diesem realen Geschehen heben sich ab Vers 31 die 43

Vgl. Neri, Esodi del divino, 15; 44–50. Neri, Esodi del divino, 11 [Übersetzung: J.D.]. 45 Zum Kontext der Abschiedsreden vgl. Beutler, Habt keine Angst, 9–11. 44

6.3

Abschied vom Gedanken der Unmittelbarkeit des Ursprungs und der Vollendung

289

theologischen Meditationen Jesu ab (Joh 13,31–17,26), ohne jedoch den geschichtlichen Hintergrund als bedeutungslos hinter sich zu lassen, als wäre er nur der Absprungpunkt, um die Reden Jesu auszulösen. Es geht vielmehr um eine Oszillation zwischen Erzählung und Meditation, Handlung und Reflexion, welche das Evangelium in einer Sphäre zusammenzuhalten sucht. Das wiederholt aus den Fragen der Jünger sprechende Unverständnis zeigt, wie schwer es ist, in diese Sphäre einzutreten. Der Eintritt verlangt eine Verwandlung des Blickes, einem empirischen Blick werden jene beiden Sphären immer als voneinander getrennt erscheinen: Er trennt Darstellung der Realität, wie sie ist, und philosophische oder theologische (geistige) Reflexion. Ein Hinübergehen und Wiederkehren (Patmos, V 15) kann ihm nicht gelingen. Die Schilderung der Fußwaschung mündet in die Feststellung: „Es war aber Nacht.“ (Joh 13,30) Sie ist die umgebende Sphäre, in welcher sich Jesus an seine Jünger wendet und den Raum zwischen realer Geschichte und geistigem Blick auf die Welt eröffnet. Es ist die Nacht des Verrates, die gleichwohl auch an das Dunkel erinnert, in welches das „Licht der Menschen“ (Joh 1,4) – es verwandelnd – kam. In den Reden Jesu wandelt sich die Nacht von ihrer Prägung durch Knechtschaft und Verrat zur Sphäre der Freundschaft (Joh 15,15). 2) In dieser Nacht verabschiedet sich Jesus freundschaftlich von seinen Jüngern: „Kinder, noch kurz bin ich mit euch; suchen werdet ihr mich, und gleichwie ich zu den Judaiern sprach: Wohin ich fortgehe, könnt ihr nicht (hin)kommen, auch euch sage ich (es) jetzt.“ (Joh 13,33) Der Abschied hat mehrfache Bedeutung: Erstens ist er auf den nahen Tod Jesu bezogen. Unmittelbar nach den Reden gehen Jesus und seine Jünger hinaus in einen Garten, in dem die Gefangennahme Jesu erfolgt (Joh 18). Es fällt auf, dass die beiden einleitenden Verse der Abschiedsreden nicht von Leid, sondern von der Verherrlichung des Menschensohnes in Gott und Gottes in ihm sprechen, und auch sonst eher ein Ton der Freude vorherrschend ist: „Ihr hörtet, daß ich sprach zu euch: Ich gehe fort und komme zu euch. Wenn ihr mich liebtet, freutet ihr euch, daß ich zum Vater gehe, weil der Vater größer als ich ist.“ (Joh 16,28) So ist der Abschied zweitens auch der Beginn des Weges Jesu zum Vater. Jesus verabschiedet seine unmittelbare Präsenz im Kreis der Jünger, sei diese als die Präsenz Jesu in seinem irdischen Leben, sei diese als Präsenz des Auferstandenen gedacht. In der empirischen Geschichte kann er nicht festgehalten werden. Drittens handelt es sich auch um den Abschied Jesu aus dem Text und damit aus allen Versuchen, ein Bild von ihm zu bilden, wie er gewesen sei (Patmos, VV 165 f.): Auch die Evangelien vermögen keine unmittelbare Repräsentanz Jesu zu gewähren. Besonders das Johannes-Evangelium erzählt von der Verabschiedung der Versuche, Jesus im Bild oder der Erzählung festzuhalten, nicht zuletzt in den Begegnungen von Maria von Magdala und Thomas mit dem Auferstandenen (Joh 20,11–31). Darin korrigiert es ein mögliches Missverständnis, welches aus den stärker an der sogenannten Realität orientierten synoptischen Evangelien erwachsen könnte. All dies verweist auf die Gabe des Geistes, des Parakleten: „und ich werde den Vater bitten, und einen anderen Fürsprecher wird er euch geben, damit er mit euch sei in den Aion“ (Joh 14,16). Im Geist ereignet sich aber auch die Wiederkunft Christi und sagt er seine bleibende Gegenwart zu: „Nicht werde ich euch als Wai-

290

6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

sen lassen, ich komme zu euch.“ (Joh 14,18) An dieser Stelle treffen wir überdies auf eine weitere Dimension des Wortes vom Hinübergehen und Wiederkehren, das im 15. Vers von Patmos begegnet ist. Christologisch kann es auf den Fortgang Jesu und seine Wiederkunft bezogen werden, was sich am deutlichsten mit Bezug auf Joh 16,16 zeigen lässt: „Ein Kurzes, und nicht mehr schaut ihr mich, und wieder ein Kurzes, und ihr werdet mich sehen.“ Die Wiederkunft ist, was Hölderlin ebenfalls in Patmos übernimmt, an die Gabe des Geistes gebunden: „Aber ich sage euch die Wahrheit: Es nützt euch, daß ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, wird der Fürsprecher nicht zu euch kommen; wenn aber ich gehe, werde ich ihn zu euch schicken.“ (Joh 16,7) Mit empirischen Augen sind Wiederkunft und Gabe des Geistes nicht zu erfassen, weil der Geist kein Teil der Welt ist: „den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht aufnehmen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht erkennt; ihr erkennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird.“ (Joh 14,17) Zeitlich ist damit – auch darin bleibt Hölderlin in Patmos dem biblischen Text in erstaunlicher Weise nahe – eine Versetzung verbunden. Diese ist, wie die mehrmalige Nachfrage der Jünger zeigt, wohl am schwierigsten zu verstehen: 36

(Es) sagt ihm Simon Petros: Herr, wohin gehst du fort? (Es) antwortete [ihm] Jesus: Wohin ich fortgehe, kannst du mir jetzt nicht folgen, folgen aber wirst du später. 37 (Es) sagt ihm Petros: Herr, weshalb kann ich dir nicht folgen jetzt? Mein Leben werde ich für dich geben. 38 (Es) antwortet Jesus: Dein Leben wirst du für mich geben? Amen, amen, ich sage dir: Nicht wird ein Hahn schreien, bis daß du mich dreimal (ver)leugnest. (Joh 13,36–38)46

Auf Jesu Ankündigung seines Abschiedes frägt ihn Petrus, wohin er gehen werde. Jesus nennt keinen Ort, sondern verweist Petrus auf die Nachfolge, der allerdings eine Versetzung eingeschrieben ist: Petrus müsse jetzt zurückbleiben, Jesus gehe voraus, um den Jüngern einen Platz zu bereiten, d. h. einen Raum zu ermöglichen, welchen sie nicht selbst eröffnen könnten (Joh 14,2); später werde ihm Petrus nachfolgen. Dieser will jedoch die Distanz nicht akzeptieren und Jesus mit allem, was er ist (seinem Leben), in Unmittelbarkeit (in seiner Berufung, die keinen Akt der Widerrufung kennt) nahe bleiben. Allerdings führt dies geradewegs in die Verleugnung. Letztere hat im Johannes-Evangelium nicht allein mit Feigheit oder Kleinmut zu tun, sondern mit dem Versuch, die Präsenz Jesu festhalten zu wollen. Sichtbar wird hier in aller Deutlichkeit die Schwierigkeit, sich von der Unmittelbarkeit Jesu zu lösen, vor welcher nicht allein die Jünger, sondern die Gläubigen aller Zeiten stehen. Die Eröffnung einer zeitlichen Verschiebung oder Distanz im Gegensatz zu einer absoluten Gleichzeitigkeit spricht Jesus schon zuvor einmal an: „(Es) sagt nun zu ihnen Jesus: Meine Zeit ist noch nicht da, eure Zeit aber ist allzeit bereit.“ (Röm 7,6) Dies erinnert an Patmos, wo auch Hölderlin mit Bezug auf Gott, den Höchsten, der umfassenden Gleichzeitigkeit, die keine Aufschübe kennt, eine Absage erteilt: „Nicht alles will der Höchste zumal.“ (Patmos, V 161) Gegenüber einer Totalität der Gleichzeitigkeit eröffnet das Johannes-Evangelium in subtiler Weise Formen der zeitlichen Verschiebung. 46

Vgl. auch Joh 16,16–19.

6.3

Abschied vom Gedanken der Unmittelbarkeit des Ursprungs und der Vollendung

291

3) Die Abschiedsreden haben eine klar theozentrische Ausrichtung: Zwar wird Gott im Menschensohn verherrlicht und der Menschensohn in Gott (Joh 13,31 f.), allerdings hält Jesus die Gebote seines Vaters (Joh 15,10), hat der Vater Jesus gesandt (Joh 17,25) und wendet sich Jesus mehrmals bittend an ihn – nicht umgekehrt. Schließlich hat der lógos, der für die Jünger vernehmbar wird und den Jesus verkörpert, seine Herkunft nicht in sich selbst, sondern im Vater (Joh 1,14). Zwei Bitten adressiert Jesus vorrangig an den Vater: Er möge den Menschen den Parakleten senden (Joh 14,16) und sie im Namen Gottes bewahren. Jesus selbst hat den Namen des Vaters, den Gottes-Namen, von ihm empfangen (Joh 17,11 f.) und diesen Namen, auf den er mit seiner gesamten Existenz verweist47 , den Menschen offenbart (Joh 17,6). Das die Abschiedsreden beschließende Gebet Jesu, in welchem er sich an den Vater adressiert, mündet in die Versicherung, Jesu werde auch weiterhin den Gottes-Namen den Menschen kundtun: „und ich tat ihnen deinen Namen kund und werde (ihn) kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebtest, in ihnen ist und ich in ihnen“ (Joh 17,26). Jesus sieht seine Aufgabe ganz darin, Verweis auf den Gottes-Namen und Vermittlung des Vaters zu sein. Er verkörpert nicht nur Wahrheit und Leben, sondern ist auch der Weg, die Vermittlung: „Niemand kommt zum Vater, wenn nicht durch mich.“ (Joh 14,6). Verabschiedet wird der Gedanke einer Gottesunmittelbarkeit; der Ursprung, der Vater, bleibt für die Menschen unverfügbar und bedarf der Auslegung durch den Sohn: „Gott hat keiner jemals gesehen; der einziggezeugte Gott, der im Schoß des Vaters ist, jener legt (ihn) aus.“ (Joh 1,17) Die Beziehung zum Ursprung ist nur über Jesus, den Hermeneuten, gegeben, niemals aber in direkter Weise. Philippus möchte mit seiner Bitte, Jesus möge ihm den Vater zeigen (Joh 14,8), diese Vermittlungsstruktur überspringen, woraufhin Jesus erneut auf sich als Vermittler hinweist: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Der Gedanke der Entzogenheit des Ursprungs, wie er besonders in den Abschiedsreden vorkommt, ist ein zentrales Motiv von Am Quell der Donau, wo Hölderlin zeigt, dass vom Ursprung nur in immer neuen Versetzungen zu sprechen ist, nicht in einer Ursprungserzählung.48 Mit der Verabschiedung des Gedankens einer Unmittelbarkeit des Ursprungs rückt die Kategorie des Abschiedes als fundamentale theologische Kategorie in den Blick. 4) Im Rahmen der Abschiedsreden Jesu wird einerseits die Unverfügbarkeit des Ursprungs deutlich, andererseits auch die Offenheit des biblischen Textes auf Zukunft, die ebenfalls mit dem Geist in Verbindung steht. Kurz nachdem Jesus seinen Abschied noch einmal bekräftigt („weil ich zum Vater fortgehe und ihr mich nicht mehr seht“, Joh 16,10) drückt er die Öffnung des Textes aus, die mit seinem Ab47

Für diese Formulierung danke ich Kurt Appel. Dieser Aspekt zeigt sich auch am Beginn der Bibel, der in zweifacher Weise vom Anfang erzählt, sowie am Beginn des Neuen Testaments, das in vierfacher Weise von Christus, der neuen Schöpfung Kunde gibt. Vom Ursprung nur in immer neuen Versetzungen sprechen zu können, meint nicht, „die Frage nach dem Anfang endlos“ (Ruhstorfer, Christologie (Gegenwärtig Glauben Denken, Bd. 1), 21) aufzuschieben, wie es Karlheinz Ruhstorfer als ein Charakteristikum der Dekonstruktion anführt. Allerdings ist das Umfeld der Dekonstruktion eines, in welchem die Figur des Sprechens in immer neuen Versetzungen zu Tage treten und verständlich werden kann.

48

292

6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

schied und der Gabe des Geistes untrennbar verbunden ist: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber nicht könnt ihr (es) (er)tragen jetzt; wann aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit einweisen“ (Joh 16,12 f.). Jesus selbst ist Hermeneut, Interpret und lógos des Vaters, des Ursprungs, zu dem es keinen direkten Zugang gibt. Seine Auslegung des Vaters darf aber niemals fixiert werden – Jesus muss sich verabschieden –, sondern muss selbst in einer lebendigen Weise immer wieder neu vom Geist geöffnet werden. Das viele noch zu sagende, das auch ein Grundmotiv Hölderlins darstellt und im doppelten Schluss des Johannes-Evangeliums wiederkehrt (Joh 20,30 f. und 21,24 f.)49 , muss gegenüber zwei Missverständnissen offen gehalten werden. Das erste sieht jenes viele als etwas sich irgendwann Erschöpfendes an, verstanden in dem Sinne, dass nun alles gesagt sei und diese Totalität eine Repräsentation finden könnte. Dies bedeutete, dass der Prozess der Vermittlung des Vaters durch den Sohn und die Öffnung dieser Vermittlung im Geist zum Stillstand gekommen wäre. Das zweite will das viele bewahren, denkt es aber doch unter der Schirmherrschaft einer Totalität, welche sich allerdings nie realisieren darf, sondern als Fluchtpunkt einer unendlichen Annäherung gedacht wird. Damit würde zwar ein Raum für das viele noch zu Sagende bleiben, seine Dignität hätte es aber nicht als Kontingentes, sondern durch seine Hinordnung auf jenen Fluchtpunkt. Dagegen steht der Versuch, das viele noch zu Sagende als die immer neu auf kontingente Weise sich im Geist eröffnende Erzählung, Interpretation und Rekonfiguration des biblischen Textes zu sehen, über die es keine letzte Kontrolle geben kann, die jedoch – so die christliche Hoffnung – unter dem bleibenden Beistand des Geistes steht. Der Text erhält auf dieses Weise eine unverfügbare Zukunftsdimension. Verabschiedet wird damit das Bild einer Vollendung als Totalität aller (kontingenten) Öffnungsweisen des biblischen Textes. Verabschiedung heißt, dass der Gedanke der Vollendung als Totalität aller Erzählungen selbst nur mehr Moment ist. Natürlich geht in theologischer Hinsicht jedes Wort vom Vater aus und kehrt es auch wieder zu ihm zurück. Allerdings ist dies nicht mehr der letzte Horizont seiner Betrachtung. Die Form seiner Vermittlung im Sohn und Öffnung im Geist verweist auf immer neue Interpretationen und Übersetzungen50 , welche den Gedanken einer Totalität aller Erzählungen immer wieder überschreiten müssen. Nicht das Einmünden aller kontingenten Erzählungen der Menschen in die eine Erzählung der Vollendung und ihr Aufgehen darin, wäre Bild christlicher Hoff-

49

Zwei Beispiele, auf die wir im Zuge der Interpretationen der Gedichte Hölderlins gestoßen sind, lauten: „denn noch ist manches zu singen“ (Am Quell der Donau, V 112); „Vieles wäre / zu sagen davon“ (Patmos, VV 88 f.). Eine Vertiefung des Gedankens im Hinblick auf den doppelten Schluss des Johannes-Evangeliums findet sich im Epilog von Appel, Tempo e Dio, 202–210. 50 Isabella Guanzini spricht von einer Vision des Austausches säkularer und religiöser Sprachräume, „in welchen die Übersetzung selbst zur eigentlichen Muttersprache wird“ (Isabella Guanzini, Die Zukunft des Symbolischen. Europa zwischen Religion und Apparat, in: Appel/Guanzini (Hg.), Europa mit oder ohne Religion? II, 65–79, hier: 77).

6.4 Abschied und Offenbarung

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nung51 , sondern dass sich die Erzählungen der Menschen je neu in den biblischen Text einzuschreiben und ihn zu öffnen vermögen. Er würde dann wie die Insel Patmos (verstanden als konkreter Ort und als Chiffre für die Offenbarung des biblischen Textes) von den Klagen und Freuden der Menschen widerhallen und sich je neu in den Erzählungen der Menschen offenbaren. Die Offenbarung des biblischen Textes in den Erzählungen der Menschen würde bedeuten, dass sich diese Erzählungen als immer schon vom biblischen Text getragen und auf eine Zukunft hin geöffnet erfahren. Eine poetische Theologie versucht, diesen Vorgang der unabschließbaren Öffnung des biblischen Textes in den Erzählungen der Menschen als einen Prozess der Sprachwerdung, der Eröffnung neuer sprachlicher Horizonte, anzusehen.

6.4 Abschied und Offenbarung Im Zuge der Interpretation von Hölderlins Gedichten ist immer deutlicher die Kategorie des Abschiedes bzw. der Verabschiedung hervorgetreten. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der des Verlustes, welche bloß in die Zerstörung oder das Nicht-Sein mündet. Zwei unterschiedliche Deutungen dessen legen sich aus den bisherigen Überlegungen nahe, die einander nicht ausschließen müssen. Die erste nimmt auf die Kommunikationssituation Bezug, welche in Hölderlins Gedichten aufgebaut wird, die andere geht von deren theologischer Grundierung aus. Wie ein Brief einen Inhalt aufführt, diesen am Ende dem Adressaten, der Adressatin übergibt, ihn damit freilässt und verabschiedet, um auf eine Antwort zu warten, werden in den Gedichten Motive vorgestellt und anschließend verabschiedet, um sie „treuesten Sinns“ (Patmos, V 14) für ein weiteres, freilich momenthaftes Auftreten freizulassen. Der Brief, in welchem neue Ideen, wie Hölderlin sagt, am besten dargestellt werden können, erscheint damit als ein Modell, um seiner Dichtung eine Deutung zu geben. Die Einkehr der spätesten Gedichte in die Briefform kann diese Verbindung rechtfertigen. Bei der für Hölderlins Dichtung kennzeichnenden Verabschiedung handelt es sich (in der Tradition des Bilderverbotes) auch um die Verabschiedung einzelner Bilder, welche eine bestimmte Konstellation von Mensch-Gott-Sprache darstellen. Aus theologischer Sicht sind es gerade die in diesen Konstellationen angezeigte Nicht-Fixierbarkeit und der ihnen innewohnende Entzug (nach Hegel: die Negativität), die zur Verabschiedung aller Bilder drängen. Die Gottes-Frage kann, wohl nicht für jedes einzelne Gedicht, aber für eine Betrachtung der Dichtung Hölderlins in ih51

Hier zeigt sich eine eine gewisse Nähe zu dem von Ruhstorfer entwickelten Entwurf einer Christologie, der ebenfalls mit Bezug auf die johanneischen Schriften, besonders die Abschiedsreden aufhört, wenngleich Ruhstorfer stärker vom Moment des Einswerdens ausgeht als vom Abschied: „Die Liebe bezeichnet die Vereinigung der Vielen ([Joh] 17,20–26), allerdings meint das Wohnen im einen Wort gerade nicht das Auslöschen der Unterschiede. Der lógos der Liebe weiß zu unterscheiden, und er wahrt die gebührenden Grenzen, die zwischen Vater und Sohn, die zwischen dem Sohn und den Seinen, aber auch die zwischen den einzelnen Menschen.“ (Ruhstorfer, Christologie, 264).

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

rem Verlauf, d. h. in ihrer Kontinuität bzw. für eine Betrachtung der Dichtung als Sammlung, als treibendes Moment der Entwicklung angesehen werden. Die Wiederkehr der zu Beginn von Hölderlins Dichtung gestellten Frage nach Gott und den Menschenkindern (M. G., V 1) in den Gedichten der Turmzeit (Was ist der Menschen Leben . . . , Was ist Gott . . . ) ist ein Hinweis darauf. Wie lässt sich das Motiv des Abschiedes – nicht als abstrakte Kategorie, sondern wie es sich im Durchgang durch die Gedichte Hölderlins konturiert hat – auch als eine zentrale theologische Kategorie bedenken? Um damit einen Anfang zu machen, bezogen sich die Überlegungen auf zwei zentrale Texte des Neuen Testaments, welche eine besondere Nähe zu diesem Motiv erahnen ließen: den Römerbrief, in welchem zwei von sechzehn Kapitel dem Abschied gewidmet sind, und die Abschiedsreden des Johannes-Evangeliums, die „als Summe und Inbegriff der Verkündigung Jesu nach dem Vierten Evangelium“52 angesehen werden können. Im Folgenden wird die Kategorie des Abschieds mit dem Begriff der Offenbarung in Verbindung gebracht. 1) Spätestens mit der Aufklärung gerät ein Offenbarungsverständnis in die Krise, welches primär auf Wissen und Information abzielt. Eine jeglicher Erfahrung transzendente Quelle der Erkenntnis, welche zu einem „Mehr“ an Wissen führt, sich der Prüfung durch menschliche Vernunft aber entzieht, kann nicht mehr einfachhin akzeptiert werden. Paradigmatisch lässt sich diese Krise in den Schriften von Lessing, besonders in Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), Über die Wahrheit (1777) und Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), beobachten, zumal er seine Anfragen nicht aus polemischer Gegnerschaft zum Christentum oder Ablehnung der Religion im allgemein artikuliert, sondern aus dem ehrlichen Interesse, Aufklärung und Religion zu vereinen. Die ersten Paragraphen der Erziehung des Menschengeschlechts zeigen, in welche Richtung er die Frage entwickelt: § 1. Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte. § 2. Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht. [. . . ] § 4. Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.53

Lessing lehnt es ab, Offenbarung mit einem „Mehr“ an Wissen oder Autorität gegenüber der Vernunft zu verbinden, und ersetzt dieses gleichsam durch ein Mehr an Geschwindigkeit. Diese Lösung kann freilich nicht auf Dauer überzeugen, weil Offenbarung, in dieser Weise gedacht, bloßes Vehikel für die eigentlich anzustrebende Vernunftreligion ist und damit gerade keinen genuinen Eigenwert hat. Entweder muss man in der Folge von Lessing den Offenbarungsbegriff kon52 53

Beutler, Habt keine Angst, 9. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, 61–83, hier: 64.

6.4 Abschied und Offenbarung

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sequenterweise streichen oder ihn anders denken. Nach Lessing wird sich jedes Offenbarungsverständnis, welches die Kategorie des Mehr enthält, sei es betreffs des Wissens, der Einsicht, der Legitimität, der Sicherheit . . . , der Anfrage aussetzen müssen, wie es seinen Bezug zur Vernunft gestaltet. 2) Im Gefolge der Aufklärung entstehen allerdings auch theologische Versuche, Offenbarung ohne die treibende Kategorie des Mehr zu denken. Paradigmatisch kann dafür die Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils genannt werden.54 Obwohl ein Kompromissprodukt, um das während des gesamten Konzils gerungen wurde und das zahlreiche theologische Spannungen balancieren musste, gelingt es diesem Dokument in erstaunlicher Konsistenz, in den ersten sechs sich explizit der Thematik der Offenbarung widmenden Passagen, die Berufung auf ein Mehr sowie Formulierungen im Komparativ der Überbietung zu vermeiden. Dies wird durch einen „radikale[n] Perspektivenwechsel im Offenbarungsverständnis, von der Offenbarung als Mitteilung übernatürlicher Glaubenswahrheiten hin zur Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes“55 möglich. Gott habe beschlossen, „sich selbst zu offenbaren“ („Seipsum revelare“, DV 2) und „das Geheimnis seines Willens kundzutun“ („notum facere“, DV 2). In der Tradition der johannäischen Abschiedsreden formuliert das Dokument, dass die Menschen auf diese Weise „durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben“ (DV 2). Christus ist „zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung“ (DV 2). Gott offenbart nicht irgendwelche Wahrheiten (im Plural), sondern „sich selbst und die ewigen Entscheidungen seines Willens über das Heil der Menschen“ (DV 6). Die Menschen erweitern dadurch nicht ihr Wissen, sondern überantworten sich Gott als ganze, d. h. in der noetischen, affektiven und interpersonalen Dimension ihres Lebens, und zwar „in Freiheit“ (DV 5). Im Geist können sie „das Verständnis der Offenbarung mehr und mehr [. . . ] vertiefen“ (DV 5), nicht aber neue Kenntnisse über einzelne Dinge erlangen. Offenbarung Gottes ist die Offenbarung Gottes als Immanuel, als dessen, der „mit uns ist“, um uns zu befreien und zum ewigen Leben zu erwecken (DV 4). Offenbarung kann in diesem Fall als eine Neukonfiguration des Wissens, der Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit und des Weltumgangs gedacht werden. Nicht etwas, d. h. nicht bestimmte Wissensversatzstücke, die sich als ein bestimmten Sondergruppen vorbehaltenes Sonderwissen zeigen, werden offenbart56 , sondern die Grundkoordinaten, welche all unserem Wissen, unseren Affekten und unserer Weltwahrnehmung eine Ordnung geben, erfahren eine Neubestimmung. In 54

Vgl. Helmut Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung. Dei Verbum, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil (Bd. 3), 685–831. 55 Helmut Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung. Dei Verbum, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil (Bd. 3), 685–831, hier: 733. 56 Eine Nähe gibt es auch zu den Überlegungen von Hans-Joachim Sander, wenn er über das Auftreten der „Offenbarung mit dem Wort [. . . ], das an alle gerichtet wird“ schreibt: „Die Offenbarung erweist sich damit als eine sprachliche Geschehensgröße, nicht als eine religiöse Gegenstandsgröße“ (Sander, Einführung in die Gotteslehre, 71).

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

den Worten von Knut Wenzel: „Offenbarung wird hier verstanden als Erschließung einer neuen Welt oder einer neuen Bedeutungsbeschreibung von Wirklichkeit.“57 Nicht in erster Linie die Elemente unseres Wissens ändern sich, sondern dessen Rahmen, oder in anderen Worten: die Sphäre, in welcher unser Wissen sich ordnet.58 Mit Johann Reikerstorfer ließe sich „Offenbarung als das ‚Licht‘ einer bestimmten Weltwahrnehmung verstehen“59 . 3) Über diese schon in Abschn. 6.1 herausgestellte Verbindung von Offenbarung und Sphäre hinaus muss ein an der Dichtung Hölderlins entwickeltes Offenbarungsverständnis auch das Motiv des Abschieds, der Schwächung oder Erleichterung, die Kategorie des Weniger anstatt der des Mehr in sich aufnehmen. In der Entwicklung von Hölderlins Dichtung ab 1800 zeigt sich, dass Offenbarung Gottes mit der Verabschiedung eines unmittelbaren Wissens von Gott einhergeht. Die Unmittelbarkeit würde den Menschen vernichten oder aber, als Lückenlosigkeit der Vermittlungszusammenhänge verstanden, in Immanenz (im Sinne der Geschlossenheit eines Systems) isolieren. In beiden Fällen könnte der Mensch nicht zur Erzählung und zum Gesang kommen – einmal, weil er keine Sprache mehr hätte, das andere Mal, weil es in der lückenlosen Determiniertheit des Seins keine Freiräume sprachlicher Gestaltung mehr gäbe. Erfahrbar wird der Aufgang Gottes vielmehr dort, wo das Zwingende und die Geschlossenheit der Unmittelbarkeit zurückgenommen werden, sodass der Geist „umgebet ihn [den Menschen] leicht“ (Am Quell der Donau, V 111), denn „mit dem kühleren Stral / Der freudige Geist kommt zu / Der seeligen Erde“ (VV 58–60); er kommt „säuselnd herab“ (An den Aether, V 50). Und von Christus heißt es in Abhebung von den göttlichen Gewittern: „Still ist sein Zeichen / Am donnernden Himmel.“ (Patmos, VV 203 f.) Theologisch gesprochen, könnte man ausgehend von Hölderlin sagen, Offenbarung bedeute, dass Gott sich zur Vermittlung durch den Sohn im Geist bestimmt, was mit einer Erleichterung und Schwächung des den Menschen ansonsten vernichtenden oder in Lückenlosigkeit einschließenden Göttlichen einhergeht. Damit aber ist Offenbarung mit einem Moment der Öffnung verbunden; wenn sie nicht mehr Lückenlosigkeit, Determiniertheit und unmittelbare Direktheit repräsentiert, öffnet sie sich auf eine sprachliche, spielerische und ästhetische Komponente hin. Noch einmal mit Hölderlin gesprochen: Das wahrhaft Neue, das sich in der Offenbarung ankündigt, ist nicht das Wissen um dieses oder jenes, sondern die Erfahrung, dass „Nicht alles will der Höchste zumal.“ (Patmos, V 161) Offenbarung und Totalität fallen nicht mehr zusammen, sondern werden aufgespalten, Letztere erweist sich, nur Moment60 an Ersterer zu sein. Gott offenbart sich nicht als Totalität, sondern nimmt in der Offenbarung diese gerade zurück. Offenbarung stellt damit auch ei57

Wenzel, Offenbarung – Text – Subjekt, 115. Dieser Aspekt könnte in Verbindung mit moderner Kunst, zurückgehend besonders auf die künstlerischen und theoretischen Arbeiten von Wassily Kandinsky, thematisiert werden. Die zeitgenössische Kunst will vielfach nicht etwas darstellen, sondern die Koordinaten unserer Wahrnehmung ändern. 59 Johann Reikerstorfer (Hg.), Politische Theologie als „negative Theologie“. Zum zeitlichen Sinn der Gottesrede, in: ders., Vom Wagnis der Nichtidentität, 11–49, hier: 33. 60 Dies muss im folgenden Abschnitt noch genauer ausgeführt werden. 58

6.4 Abschied und Offenbarung

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ne Unterbrechung jener Totalitäten dar, welche sich in Glaube und Wissen sowie in der Erstellung sprachlicher Sphären beständig aufbauen. Dies sei nun in einigen Konsequenzen bedacht. Wissen bedeutet nicht zuletzt, sich in eine sich beständig verdichtende Struktur der Verweise und Vernetzungen aller Dinge und Bedeutungen zu begeben. Ohne Bewusstsein dieser Vernetzungen wäre ein Aufenthalt des Daseins in der Welt nicht möglich; wo der Verweisungscharakter jedoch zu eng zu werden und sich zu schließen droht, geht nicht nur unsere Freiheit verloren („Maschinengang“, TS 10), sondern treten auch die Dinge und Begebenheiten in ihrer Singularität immer mehr in den Hintergrund und drohen schließlich im Netz der Verweisungen gänzlich unterzugehen. Dahinter steht das Bild einer Totalität, in welcher alle Dinge und Bedeutungen aufeinander verweisen und einander repräsentieren. Offenbarung ist in diesem Zusammenhang nicht als „Mehr“ oder ein Super-Additum noch gesteigerter Vernetzung anzusehen, sondern als die Unterbrechung von deren Totalität und die spielerische Versetzung ihrer Elemente, sodass sich diese wieder neu zu konfigurieren vermögen: „wiederkommen [d. h. neu kombiniert werden] sollt es / Zu rechter Zeit“ (Patmos, VV 112 f.), wobei dieser Zeit, wie sich gezeigt hat, eine Verschiebung innewohnt. In dieser aber eröffnet sich das Spielerische des Geschehens: „Wenn aber / Herabgeführt, in spielenden Lüften, / Das Abendlicht“ (Am Quell der Donau, VV 56–58). Und dieser sich öffnende Raum ist auch der, in welchem Erzählung und Gesang des Menschen immer neu (als Antwort auf den in der Offenbarung ermöglichten Freiraum) auftreten können. Sie müssen sich darin beständig erneuern – sei es in säkularer oder religiöser Gestalt –, weil es für sie keinen letzten zusammenfassenden Begriff oder Abschlussgedanken mehr gibt. Glaube bedeutet (aus christlicher Sicht) anzunehmen, dass Christus den Menschen den Namen des Vaters offenbart hat, den ihm Gott selbst gegeben hat, und dass er selbst ganz Verweis auf diesen Namen ist.61 Damit sind christlichem Verständnis zufolge alle Vor- und Anzeichen, welche auf den „kommende[n] Gott“ (Brod und Wein, V 54, MA I, 374) deuten, erfüllt und außer Kraft gesetzt.62 Die berühmte Wendung aus Mnemosyne „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“ (V 1) wird auf diese Weise zur in höchstem Maße dialektischen Aussage: Sie steht für den höchsten Verlust, der darin ausgesagt ist, dass der Mensch zum Zeichen geworden ist, das auf nichts mehr verweist und deshalb seine Bedeutung verloren hat; sie zeigt aber auch auf den Menschen, der in seiner Einzelheit und Singularität hervortreten kann, weil er nur mehr Verweis auf Nichts, d. h. auf seine Nicht-Repräsentierbarkeit in Bildern ist.63 Die Menschen und Dinge werden von der Last erleichtert, Ver61

„Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind, gleichwie wir. Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, und ich bewachte (sie) [. . . ]“ (Joh 17,11 f.) Und am Ende von Jesu Gebet und damit der Abschiedsreden heißt es: „und kundtat ich ihnen deinen Namen und werde (ihn) kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebtest, in ihnen ist und ich in ihnen.“ (Joh 17,26). 62 In Agambens Text Fabel und Geschichte. Überlegungen zur Krippe, dem ich diesen Gedanken verdanke, heißt es: „Da vielmehr alle Zeichen erfüllt sind, ist der Mensch von den Zeichen befreit“ (Agamben, Kindheit und Geschichte, 175–183, hier: 179). 63 Dabei ist freilich das Bilderverbot des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel mitzuhören.

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

weis auf das Absolute zu sein, und in ihrer nur ihnen zukommenden singulären Bedeutung restituiert: „Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben“ (Der Frühling, V 1). Aus der Tiefe der metaphysisch-religiösen Bedeutungen, die ihnen aufgeladen wurden, kommen die Dinge ins Leben zurück. Sie müssen nicht länger das Netz der Verweisungen tragen, „die heilige Wolk“ (Am Quell der Donau, VV 105 f.), die sie umschwebt und die sie nicht zu deuten wissen, weil sie darin gänzlich aufgehen. Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes verabschiedet die Bilder des Absoluten, des Unbedingten, der Totalität, die sich im Endlichen64 – im Glauben, aber auch im Wissen – beständig aufbauen und setzt sie als Momente: „und zerbrach / Den geradestrahlenden, / Den Zepter, göttlichleidend, von selbst“ (Patmos, VV 109–111). Glaube führt damit in eine neue Offenheit und Wahrnehmung für das Kontingente, Singuläre und Fragile. Die sprachlichen Sphären unseres Weltumgangs haben nicht zuletzt auch die Tendenz, Formen von Totalität auszubilden oder sich als Totalität zu setzen, was sich im Phantasma absoluter Herrschaft über das Kontingente und Bedingte zum Ausdruck bringt. Nimmt man Hölderlins inkarnatorische Grundprämisse ernst, dass jede Aussage über Gott auch eine über den Menschen und die Sprache ist, muss die Verabschiedung des Totalitätsmotivs im Hinblick auf Gott auch gleichzeitig eine Kritik an sämtlichen Formen der Totalität in Glaube, Wissen und den Sphären sprachlichen Weltumgangs sein. Darin liegt das herrschaftskritische Potenzial der Offenbarung Gottes. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie das, was aus Hölderlins Gedichten hinsichtlich eines Offenbarungsverständnisses rekonstruiert wurde, in seinen Schriften auch eine theoretische Reflexion erfahren hat. 4) In einem Brief an den Bruder, der auf den 28. November 1798 datiert ist, findet sich ein Satz, der als die Essenz von Hölderlins Gottes- und Offenbarungsverständnis angesehen werden kann: „wann wird man unter uns erkennen, daß die höchste Kraft in ihrer Äußerung zugleich auch die bescheidenste ist, und daß das Göttliche, wenn es hervorgeht, niemals ohne eine gewisse Trauer und Demuth seyn kann?“65 Zunächst ist darauf zu achten, dass Hölderlin diesen entscheidenden Gedanken in einem Brief ausspricht, d. h. in einer Gestalt des Schreibens, von der er sagt, sie eigne sich für die Darstellung neuer Gedanken in besonderer Weise. Hölderlin scheint der Ansicht zu sein, dass es sich nicht eigentlich um einen neuen Gedanken im engeren Sinn (auf den biblischen Verweis ist noch einzugehen) handelt, sondern vielmehr um einen Gedanken, der so wenig entfaltet ist, dass er wie eine neue Idee erscheint: „wann wird man unter uns erkennen, dass . . . “. Es geht in jenem Diktum nicht um einen abstrakten Gottesgedanken, sondern um den sich offenbarenden Gott – die höchste Kraft, die sich äußert und das Göttliche, das hervorgeht. Stärke vermag, wie die Ausdrücke Bescheidenheit, Trauer und Demut zeigen, nicht als das Grundmotiv zu fungieren, welches die Sphäre durchformt, innerhalb derer über das Göttliche gesprochen werden kann. Hölderlin bestimmt Gott jedoch nicht prinzipiell als schwach – gleichsam in einer Umkehrung klassischer 64 65

Nach Hegel wären dies Formen schlechter Unendlichkeit. Brief 169, 28. November 1798, MA II, 715.

6.4 Abschied und Offenbarung

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Gottesprädikationen –, sondern spricht sogar von der höchsten Kraft. Diese wird nicht einfachhin zur schwächsten umgekehrt, sondern sie ist in ihrer Äußerung „zugleich“ die bescheidenste, d. h., sie bestimmt sich als höchste Kraft dazu, in ihrer Äußerung die bescheidenste zu sein. Die höchste Kraft (Allmacht) ist damit nicht aufgegeben, sie ist aber – im Rahmen des Geschehens göttlicher Offenbarung – nicht mehr der letzte Gesichtspunkt, unter welchem das Göttliche erscheint, sondern wird als Moment gesetzt (und in diesem Sinne auch verabschiedet).66 Darüber hinaus wird das Göttliche nicht einfachhin mit Trauer und Demut identifiziert – dies wäre wiederum nichts anderes, als ein Bild von ihm zu bilden und es fixieren zu wollen –, sondern es ist in seinem Hervorgehen „niemals ohne eine gewisse Trauer und Demuth“. Vielleicht darf „Trauer“ in die Nähe von „Abschied“ gerückt werden. Im Sich-Offenbaren Gottes schwingt immer auch eine Form des Abschieds von Bildern des Göttlichen mit, was eine gewisse Trauer zur Folge hat. Jene Denkformen, welche das Göttliche zum Unbedingten, Unmittelbaren, Absoluten und zur Totalität steigern, müssen als Bilder zerbrechen. Dies heißt nicht, dass sie falsch wären, vielmehr müssen sie verabschiedet werden, um den Blick darauf freizugeben, dass sie selbst nicht die letzten Attribute Gottes sind. „Demut“ wird nicht an ihre Stelle gesetzt, als stünde sie dort, wo vorher Totalität stand, sondern sie zeigt sich (performativ) in jenem Ablassen von diesen Attributen. Im Hintergrund dessen steht wohl der Gedanke der Inkarnation in kénosis, wie er von Paulus am deutlichsten im Philipperbrief in Gestalt eines hymnischen Gedichtes entwickelt wird:

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Dies sinnt bei euch, was auch in Christos Jesus, der, als er in Gestalt Gottes war, nicht für Raub hielt das Sein gleich Gott, sondern sich selbst entäußerte [ἐ›ένωσεν], Gestalt eines Knechtes annehmend, in Gleichheit von Menschen geworden; und im Äußeren [σχήματι] erfunden wie ein Mensch, demütigte er sich selbst, geworden gehorsam bis zum Tod, zum Tod aber (des) Kreuzes.

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Deshalb auch erhöhte ihn Gott und schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen, damit im Namen von Jesus jedes Knie sich beuge, (der) Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters. (Phil 2,5–11)

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Es ist mir bewusst, dass an dieser Stelle eine Auseinandersetzung mit der spezifischen Weise, wie Hans-Joachim Sander konsequent die Größen Gott und Macht in Verbindung bringt, nötig wäre. Dies kann hier allerdings nicht mehr geleistet werden.

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

Zuallererst sei festgehalten, dass dieser zentrale Text des Neuen Testaments poetischen Charakter hat und kürzeste versartige Perioden aufweist, wie sie Agamben mit Blick auf Paulus als Charakteristikum der messianischen Sprache bezeichnet. Der Text vermag darum nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch betreffs seiner Gestalt, die der Dichtung ganz nahe kommt, die Überlegungen dieser Arbeit zu einem Ende zu führen. Vielleicht lässt sich seine Aussage folgendermaßen zusammenfassen: Jesus ist Messias in seinem Abschied von der Totalität des GleichGott-sein-Wollens und erhält darin einen göttlichen Namen. Vers fünf macht deutlich, dass es nicht um eine abstrakte Bestimmung von Christus geht, sondern um die Frage des Sinns der an ihn Glaubenden. Die Frage nach Gott bzw. Christus wird (wie bei Hölderlin) nicht von der nach den Menschen getrennt. Christus hält das Sein-gleich-Gott, das dem Leser, der Leserin der Schrift seit der Paradieseserzählung im Ohr klingt und für den Leser, die Leserin Hölderlins an das Stehen in der Unmittelbarkeit des Göttlichen erinnert, nicht fest, sondern bestimmt sich in seinem Hervorgehen – entäußerte sich selbst – zur Gleichheit mit den Menschen, zum Diener. Dem Hervorgang des Göttlichen wohnt ein Abschied inne, welcher mit der Totalität, alles für sich zu behalten („Raub“, Phil 2,6), bricht. Hölderlin zufolge ist Christus genau darin Verweis auf den Vater, indem er gerade darin SEINEN Willen verkörpert: „Nicht alles will der Höchste zumal.“ (Patmos, V 161) Vers sieben stellt in vier kurzen Perioden mit großer Schnelligkeit eine Steigerung – oder besser: Schwächung – dar: Entäußerung der Totalität, Annehmen der Gestalt des Knechtes, Gleichwerden mit den Menschen und schließlich das Erfunden-Werden in der Gestalt (σχήματι) eines Menschen. Am Ende steht die Umgestaltung Christi im Schema des Menschen, welche dabei gleichzeitig dieses Schema umgestaltet, weil es Christus, der neue Mensch, ist, der es annimmt. „Deshalb“, d. h. auf dem Boden des zuvor entfalteten Verabschiedens des Seinsgleich Gott, dem Höchsten, erhöht ihn Gott und schenkt ihm einen Namen über jedem Namen, damit in seinem Namen jeder diesen Namen bekenne: „kýrios Jesus Christos zur Herrlichkeit Gottes (des) Vaters“. Die zweite Strophe des Gedichtes entfaltet auf kürzestem Raum in einer raschen Aufeinanderfolge einzelner Wortverbindungen eine Theologie des Namens Jesu, des kýrios, die in das Bekenntnis der Gemeinde übergehen soll. Im Bekenntnis zum Namen Jesu bekennt sie den Vater, d. h., der Name Jesu ist den Menschen gegeben, um darin ihr Bekenntnis an den Vater zu adressieren. Das Bekenntnis, das immer den Charakter der Unmittelbarkeit hat, erscheint im oder durch den Namen Jesu vermittelt. Dieser Name, der die Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen umfasst, wird zur Sphäre, in welcher die Umgestaltung (σχήματι) des Menschen erfolgt. Mit Blick auf Hölderlin erhebt sich sofort die Frage, ob diese Umgestaltung auch als Werden einer neuen Sprache, eines neuen sprachlichen Horizontes verstanden werden kann.  Dieses Kapitel entwickelte Momente eines Offenbarungsverständnisses, im Rahmen dessen ein dekonstruktiver Aspekt zumindest tendenziell leitend war und dessen Struktur mit Hinweis auf den Philipper-Hymnus an den biblischen Text rückgebunden wurde (Punkt 4). Diese dekonstruktive Tendenz ist zu bewahren, bei ihr

6.5 Erneuerung der Sprache im Gedicht und aus dem biblischen Text

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kann aber weder ein biblisches noch ein an Hölderlins Dichtung inspiriertes Offenbarungsverständnis stehen bleiben. Hölderlin will in seiner Dichtung nicht primär eine Bewusstseins- oder Offenbarungsstruktur angeben oder ein herrschaftskritisches Instrument entwickeln, sondern ein Wohnen im Gesang ermöglichen. Der Gestus der Verabschiedung von Totalitäten muss auch wieder in den Gesang münden.67 Das folgende letzte Kapitel gibt einige Hinweise zur Frage, wie die Umgestaltung des Menschen und seiner symbolischen Ordnungen im Licht der Offenbarung, d. h. durch die von der Offenbarung ermöglichte Schwächung und Erleichterung jeder Gottesunmittelbarkeit und sämtlicher Totalitäten, zur Eröffnung neuer sprachlicher Horizonte führen kann. Dabei sei noch einmal auf eine Analogie von biblischem Text und Dichtung verwiesen.

6.5 Erneuerung der Sprache im Gedicht und aus dem biblischen Text 1) Einer poetischen Theologie geht es, mehr noch als um die Frage der Art und Weise der Offenbarung, um ein Stehen in der von der Offenbarkeit Gottes eröffneten Sphäre, die zur Eröffnung von Sprache werden muss: „Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie die Himmel? dieses glaub’ ich eher. Des Menschen Maaß ist’s. Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.“ (In lieblicher Bläue . . . , MA I, 908) Offenbarung steht in engstem Zusammenhang mit bewohnbaren Erzählungen und Bildern. Sie hängt an der Frage, welch neue Sprachformen und (kontingente, endliche) Bilder sie anstößt und welche Erzählungen sie auslöst. Göttliches und menschliches Werk, d. h. göttliche und menschliche Autorschaft, lassen sich dabei nicht trennen: „Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern.“ (Patmos, V 160) und „Die Frucht in Liebe geboren, der Götter und Menschen Werk / Der Gesang, damit er beiden zeuge, glückt“ (Wie wenn am Feiertage . . . , 67

In einer an Kant angelehnten, sich aber inhaltlich ein Stück weit von ihm abhebenden Diktion könnte man sich dieser Frage so annähern: Bildet die Vernunft zwecks Einheit der theoretischen Erkenntnis und als notwendige Postulate praktischen Weltverhaltens Totalitäten, so setzt Gott sein Gottsein darin, dass er diese Totalitäten nur als Moment an sich hat. Gott wäre dann nicht bloß die im Sinne theoretischer Vernunft widerspruchsfrei zu denkende Idee, das Postulat praktischer Vernunft oder der moralische Welturheber der teleologischen Urteilskraft, sondern müsste auch ausgehend von der ästhetischen Urteilskraft gedacht werden. Ein ästhetisches Urteil dient, anders als ein logisches Urteil, nicht der Gegenstandsbestimmung, sondern sagt aus, wie das Subjekt, durch eine Vorstellung affiziert, „sich selbst fühlt“, d. h. in ein Selbstverhältnis zu sich tritt (Vgl. KdU, § 1, 115). Ein über Kant hinausgehender Weg könnte wie folgt aussehen: Der Verweis auf Gott, in anderen Worten die Offenbarung Gottes, stellte sich da ein, wo der Raum des Sich-selbstFühlens belebt wird und die Einbildungskraft im Sinne der ästhetischen Ideen so viel zu denken veranlasst, dass die Begriffe „selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert“ (KdU, § 49, 251) werden, was „sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt“ (KdU, § 49, 251), mithin auch keine Totalitäten bilden kann, die jenen sich eröffnenden Raum determinieren müssten. Damit ist freilich keine hinreichende Bestimmung des Gottesgedankens gegeben. Es könnte jedoch der Ort bezeichnet sein, von dem aus eine Gottesrede, die sich als Erzählung oder Gesang versteht, gedacht werden kann. Gerade dort könnte von Offenbarung Gottes die Rede sein, wo sich eine derartige schöpferische Öffnung des Erkenntnisvermögens einstellt.

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

VV 48 f.). Wenn der Gesang nicht lebendig wird und Menschen darin einen Aufenthalt ermöglicht, hat sich auch das Göttliche zurückgezogen. Die sich im Gesang eröffnenden Bilder und die sich darin aussprechenden Erzählungen dürfen freilich keinen absoluten Charakter für sich in Anspruch nehmen, auch sie müssen wieder verabschiedet werden, „denn noch manches ist zu singen“ (Am Quell der Donau, V 112).68 Der Mensch existiert nie ohne Bilder, Erzählungen und Gesang, und er ist, wenn er sich auf die Frage nach Gott einlässt, nie ohne Gottes-Bilder, wiewohl er diese freilassen muss. Gott offenbart sich ihm gerade in der Verabschiedung seiner Bilder. 2) Abschließend sei die Frage gestellt, was mit der Formulierung einer Eröffnung von Sprache, von neuen Bildern und Sprachformen, von neuen sprachlichen Horizonten gemeint ist. Dazu soll noch einmal Hölderlin zu Wort kommen. In der dritten Strophe von Patmos taucht in der Schilderung der hellen, für das Ich jedoch unzugänglichen Welt griechischer Antike das Bild eines Gartens, voll von Blumen, auf (Patmos, V 37). Das Bild folgt einer Schilderung geographischer Größen, zweier Gebirge und eines Flusses, und leitet über zur Rede vom stillen Feuer, welche die Mitte der Strophe bildet. Das leise Feuer fällt aus der Bildwelt der Strophe heraus und bleibt ihr fremd, erweist sich jedoch später als wichtiger Referenzpunkt (Patmos, VV 186–196) für die sich konstituierende Gemeinschaft der Stillen, die vom Versuch abgelassen haben, das Göttliche im Bild fixieren zu wollen. Der Garten voll Blumen, am Ende der ersten Hälfte der dritten Strophe, unmittelbar vor ihrer Mitte genannt, scheint zunächst zur Welt unzugänglicher, reicher („voll Blumen“) griechischer Antike zu gehören, nicht jedoch zum stillen Feuer, das erst gesucht werden muss. Ganz sicher lässt sich dies jedoch nicht sagen, zumal er sich auch von den gewaltigen Bildern, die in der Schilderung der antiken griechischen Welt aufgeboten werden, unterscheidet. Das Bild des Gartens bildet in gewisser Weise einen Rest, der sich nicht eindeutig zuordnen lässt und – ähnlich dem stillen Feuer – zu einer Suche motiviert, wie die Überarbeitungen des Gedichtes zeigen, in denen Hölderlin gerade dieses Bild in subtiler Weise verändert. Im Folgenden wird es in drei Fassungen wiedergegeben69: 68

Das Motiv der Verabschiedung steht in einer engen Nähe zu dem des Sich-Lösens bzw. der Entwertung, welches Kurt Appel mit Bezug auf Robert Musils Mann ohne Eigenschaften zitiert: „Vielleicht ist dies in unseren Tagen der Beitrag des Christentums zur Sicht eines Neuen Humanismus: Nach dem Ende der großen Utopien, im Angesicht einer Gefährdung der Welt, die alles bisherige übersteigt, verhüllt durch einen undurchdringlichen Spiegel medialer und intellektueller Selbstreflexion, die auf ‚Nichts‘ verweist, sich von den medialen und abstrakten Bildern zu lösen beginnen (sie zu ‚entwerten‘), ebenso von den großen und mittlerweile leergewordenen Worten, wie sie gerade die Theologie und die Kirchen (und die Politik und die Wissenschaften) reihenweise produzieren (zuviel Liebe und Alterität und Heil gibt es dort und zu wenig Kontingenz und Gesten der Barmherzigkeit)“ (vgl. Kurt Appel, Gott-Mensch-Zeit. Geschichtsphilosophisch-theologische Erwägungen zu Christentum und Neuem Humanismus im Ausgang von Bibel, Hegel und Musil, in: ders. (Hg.), Preis der Sterblichkeit, 19–60; hier: 59 f.). 69 Hält man sich an die Chronologie der Überarbeitungen und der Bezeichnungen, wie sie die Münchener Ausgabe angibt, entspricht die erste hier wiedergegebene Version der Widmungsfassung des Gedichtes, die zweite seiner zweiten Fassung, die dritte der vierten Fassung. In der dritten Fassung bleibt diese Stelle gegenüber der zweiten unverändert. Vgl. MA I, 447–458, 460–466.

6.5 Erneuerung der Sprache im Gedicht und aus dem biblischen Text

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1) Und voll von Blumen der Garten 2) Und schläfrig fast von Blumen der Garten 3) [. . . ] und von Gewürzen Fast schläfrig der Garten (Patmos, VV 36 f.)

Die Wendung „voll von Blumen“, die in der Diktion Hölderlins für einen Reichtum der Sprache stehen kann, fügt sich noch einigermaßen in den Zusammenhang der dritten Strophe ein, lässt sich ihr Reichtum doch gut mit dem der griechischen Welt in Verbindung bringen. Freilich kann diese Stelle auch aus ihrem Zusammenhang gelöst werden und schon eher in Richtung des stillen Feuers gerückt werden, weil der Garten als umgrenzter nicht auf einer Ebene liegt wie die Gebirge und Flüsse. Ihnen gegenüber muss er als schwächer, zurückgenommener erscheinen. Diese leicht sich ankündigende Oszillation in der Zuordnung des Gartens ist der Ausgangspunkt für eine Überarbeitung der Stelle, die eine wachsende Dunkelheit annimmt und sich ihrem Zusammenhang entfremdet. Das eine Fülle ausdrückende, einsilbige „voll“ wird durch zwei Worte ersetzt, welche der zuvor in ihm ausgedrückten Fülle (Totalität) den unsicheren Charakter des Übergangs geben: „schläfrig fast“. Bewegt sich das erste der beiden Worte am Übergang von Wachen und Schlafen, so ist das zweite, wie bei Hölderlin so oft, Ausdruck der Einfügung einer kaum merkbaren Differenz, die feiner nicht sein könnte. Es öffnet den Raum einer schmalen Differenz zwischen Sein und Nichts, Null und Eins etc. In inhaltlicher Hinsicht fügt das Wort „fast“ dem Wort „schläfrig“ nichts mehr hinzu, es potenziert vielmehr seinen Übergangscharakter. Was aber soll „schläfrig von Blumen“ bedeuten? Diese Wendung lässt keine unmittelbare Auflösung ihrer Bedeutung mehr zu. Über den Garten breitet sich die Schläfrigkeit aus, er kann jedoch zu Worten, zur Sprache, zur Erzählung erwachen, wenn ihm Gehör und Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die dritte Version ist noch schwerer zu deuten. Der Anschauung oder Imagination mag auch diese Version sich öffnen, ist doch mit „Gewürzen“, „schläfrig“ und „Garten“ je eine anschauliche Vorstellung verbunden, die sich noch in ein Bild bringen lässt. Allerdings ist dem kein Begriff, keine Idee, kein Gedanke mehr verbunden, welcher mittels dieser Konstellation dargestellt werden sollte. Die Gewürze sind unscheinbarer als Blumen und lenken die bislang primär auf das Sehen ausgerichtete Zugangsweise auf den Geschmack und den Geruch. Das Bild wird stiller, gleichwohl aber ausdrucksstärker, die Sinne umfassender ansprechend, und man meint, es rücke durch seinen leiseren und opakeren Charakter näher an das stille Feuer. Allerdings fehlt der Vers mit dem stillen Feuer ab der dritten Fassung des Gedichtes. Vielleicht drückt das Bild aber immer noch den Garten aus, der am Übergang steht, zur Sprache (Blumen) zu werden, aber auch zu anderen sinnlichen Ausdrucksweisen und Bildern (Gewürzen). Die wichtigste Änderung von der zweiten zur dritten Version besteht darin, dass die beiden Verse der dritten Version in stärkerer Weise Selbstständigkeit erlangen. Sie werden zu einer Art Insel im Gedicht, die sich von ihm abstößt und in einer gewissen Eigenständigkeit entwickelt, ohne sich dabei gänzlich von ihm zu lösen; sie

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6 Epilog – Momente einer poetischen Theologie

bleibt vom Zusammenhang des Gedichtes gehalten. Wie zum einen die Insel Patmos durch die Spaltung von „Des Feldes Fläche“ (Patmos, VV 70 f.), d. i. durch die Spaltung einer die Totalität symbolisierenden Ebene, zum tragenden sprachlichen Grund wird, der die Klagen und später die Freuden der Menschen aufnehmen und zum Klingen bringen kann, und wie zum anderen der im Sohn, dem Ausleger des Vaters, als gebrochen erscheinende biblische Text die Erzählungen der Menschen in sich aufnehmen und zur Sprache bringen kann, so vermag in dieser Passage das Gedicht Patmos neue Vorstellungen aufzunehmen, zu tragen und ihnen einen Ausdruck zu geben, auch wenn sich dieser vom semantischen Gehalt des Gedichtes (ein Stück weit) abstößt. Was sich in der Entfaltung der Versionen des Gedichtes vollzieht, ist Sprachproduktivität: das Werden neuer sprachlicher Bilder in den alten, das Entstehen einer neuen Sprache, getragen von der alten.70 Genau darin besteht die humanisierende Aufgabe der Dichtung. Sie gestaltet leise Sprache um, ohne sie dabei zu zerstören, weil sie um ihre nie von uns zu erzeugende Geistigkeit weiß. Nie löscht sie das Alte im Neuen einfachhin aus. Die Qualität des sprachlichen Bodens des Alten („Des Feldes Fläche, die Laute“; Patmos, V 70) zeigt sich darin, wie aus ihm wenigstens momenthaft und unkontrolliert Neues werden kann – mit Patmos gesprochen: wie unter den Blumen auch Gewürze zu wachsen vermögen.71 Eine poetische Theologie sieht die Bedeutung des biblischen Textes in ähnlicher Weise. Den biblischen Text als Heilige Schrift und Offenbarung Gottes zu lesen, bedeutet, ihm zuzutrauen, dass sich von ihm stets neue Sprachformen, Bilder und Erzählungen, genauer: dass sich von ihm immer neu die Erzählungen der Menschen abstoßen und zum Dasein gelangen können. In ihm aber können sie, bevor sie als festgehaltene ihre Lebendigkeit verlieren, auch wieder verabschiedet werden, ohne dass sie im Sinne eines bloßen Verlustes ins Nichts fielen. Dem Phantasma der Totalität aller Erzählungen steht die anarchische Neueröffnung und Verabschiedung der Sprache gegenüber. Sie ist, weil unkontrollierbar, gefährlich, aber auch das Rettende – „Vieles wäre / zu sagen davon“ (Patmos, VV 88 f.), „denn noch ist manches zu singen“ (Am Quell der Donau, V 112) „und neue Worte streben / Aus Geistigkeit“ (Der Frühling, VV 2 f.).

70

Für wichtige Hinwiese diesbezüglich danke ich Friedrich Kern. Sehr schöne Überlegungen dazu finden sich auch bei Knut Wenzel: „Der poetische Diskurs ermöglicht Neubeschreibungen der Welt. Die poetische Funktion [. . . ] eröffnet neue Weisen, Wirklichkeit zu beschreiben, aufzufassen, sich in ihr zu bewegen, neue Weisen zu sein“ (Wenzel, Offenbarung – Text – Subjekt, 115). 71 Für diesen Gedanken danke ich Lisa Achathaler.

Literatur

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Literatur

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Andere zitierte Werke

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Register der Gedichte

A Abendphantasie, 163 Am Quell der Donau, 3, 25, 38, 89, 167, 198–201, 209, 210, 212–215, 222, 227, 229, 236, 240, 244, 248, 267, 268, 271, 291, 292, 296–298, 302, 304 Am Tage der Freundschaftsfeier, 66 An den Äther, 37, 83, 114, 120, 123, 124, 126, 128, 132–134, 138, 141, 142 An die Natur, 37, 41, 42, 91, 98, 99, 101, 103, 106–111, 113, 120, 122–124, 126, 133, 134, 138–140, 165, 180, 194, 211 An die Vollendung, 109 An Herkules, 113, 114, 120, 121, 126 An meine Freundinnen, 57 An meinen B., 57, 58 An Stella, 57 Auf einer Haide geschrieben, 56 Aus stillem Hauße senden . . . , 147, 152, 153, 171, 189, 251

Der Lorbeer, 58 Der Prinzessin Auguste von Homburg, 147, 148, 195 Der Wanderer, 3, 37, 114, 123, 134, 135, 137–140, 142, 143, 147, 230, 233, 238, 267, 271 Der Zeitgeist, 144, 146 Die Demuth, 56 Die Meinige, 36, 41, 42, 48–51, 54–57, 62, 69, 107, 271 Die Nacht, 36, 41, 42, 45, 46, 51, 56, 62, 65, 88, 266, 271 Die Rose, 192–195, 198, 211 Die Schwäne, 192, 193, 197, 271 Die Stille, 37, 41, 55–58, 61–66, 153, 271 Die Unsterblichkeit der Seele, 37, 41, 48, 51, 52, 54, 85 Diotima, 113, 114, 120–123, 125, 158, 163

B Bacchantinnen des Euripides, 171, 173 Brod und Wein, 4, 17, 19, 32, 105, 106, 133, 178, 297 Bücher der Zeiten, 109, 111, 112

E Empedokles, 21, 109, 168

D Das Menschliche Leben, 56 Das untergehende Vaterland . . . , 38, 167, 168, 170, 172, 173, 197, 199, 205, 239 Der Abschied, 26, 38, 156, 157, 159, 161, 163, 165, 171, 192, 214, 245, 267 Der Frühling, 39, 103, 261, 262, 271, 298, 304

F Fragment philosophischer Briefe, 9, 37, 114, 115, 168, 242, 271

G Gedicht, 56 Griechenland. An Stäudlin, 42, 91, 92, 98, 101, 107, 108, 113 311

312 H Heimkunft, 34, 35, 62, 82, 83, 103, 151, 169, 261, 269 Homburger Folioheft, 1, 13, 106, 109, 111 Hymne an den Genius der Jugend, 66, 72, 73 Hymne an den Genius der Kühnheit, 66 Hymne an den Genius Griechenlands, 66 Hymne an die Freiheit, 66, 68–72, 74, 90, 107 Hymne an die Freundschaft, 66 Hymne an die Liebe, 66 Hymne an die Menschheit, 66, 70 Hymne an die Muse, 66, 74 Hymne an die Schönheit, 66, 77, 89, 90 Hymne an die Wahrheit, 66, 74, 88 Hymnus an die Göttin der Harmonie, 11, 24, 37, 41, 42, 66, 67, 73, 74, 77, 83, 101, 103, 245, 266, 271 Hyperion, 21, 57, 92, 109, 201, 279

Register der Gedichte P Patmos, 3, 6–8, 21, 25, 35, 38, 55, 109–111, 129, 134, 172, 201, 215–217, 221–224, 226, 228, 229, 233, 234, 236–240, 244–246, 248, 250, 257, 259, 261–263, 268, 270–272, 274, 288–290, 292, 293, 296–298, 300–304

S Seyn, Urtheil, . . . , 9 Sonnenuntergang, 144, 146 Stimme des Volks, 171–173, 177 Stuttgard, VIII Stuttgarter Foliobuch, V, 13, 114, 168, 171, 173

V Vatikan, 109 I Im Walde, 193, 195, 197, 222, 271 In lieblicher Bläue . . . , 36, 111, 112, 255, 258, 270, 274, 301

M Marbacher Quartheft, 13, 41, 48, 51, 57, 67 Mein Eigentum, 146, 147 Mein Vorsatz, 56 Meine Genesung an Lyda, 74 Meiner Verehrungswürdigsten Grosmutter zu Ihrem 72sten Geburtstag, 163 M. G., 24, 36, 39, 42, 49, 52, 54, 63, 134, 188, 228, 258, 268, 271, 294 Mnemosyne, 7, 32, 122, 138, 162, 169, 245, 297

W Was ist der Menschen Leben . . . , 39, 258, 260, 261, 268, 294 Was ist Gott . . . , 39, 258–261, 268, 294 Wie wenn am Feiertage . . . , 25, 38, 111, 114, 146, 167, 170–173, 177, 178, 182, 184, 185, 189, 192–194, 196–199, 204, 209, 212, 213, 215, 216, 222, 229, 239, 240, 247, 249, 251, 257, 267, 268, 270, 271, 301 Wie wenn der Landmann . . . , 171, 178, 179, 193