Die Herstellung von Recht: Eine exemplarische Untersuchung zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung am Beispiel Preußens im Ausgang des 18. Jahrhunderts [1 ed.] 9783428487486, 9783428087488

In dieser Arbeit wird ein allgemeines Modell richterlichen Handelns in seinen Grundlinien entworfen. Dies geschieht im R

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Die Herstellung von Recht: Eine exemplarische Untersuchung zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung am Beispiel Preußens im Ausgang des 18. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783428487486, 9783428087488

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Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 70

Die Herstellung von Recht Eine exemplarische Untersuchung zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung am Beispiel Preußens im Ausgang des 18. Jahrhunderts Von Kai-Olaf Maiwald

Duncker & Humblot · Berlin

KAI-OLAF MAIWALD

Die Herstellung von Recht

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 70

Die Herstellung von Recht Eine exemplarische Untersuchung zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung am Beispiel Preußens im Ausgang des 18. Jahrhunderts

Von Kai-Olaf Maiwald

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Maiwald, Kai-Olaf: Die Herstellung von Recht : eine exemplarische Untersuchung zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung am Beispiel Preussens im Ausgang des 18. Jahrhunderts / von Kai-Olaf Maiwald. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Rechtsgeschichte ; H. 70) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08748-8 NE: GT

D 30 Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-08748-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meinen Eltern

Vorwort Ist das Handeln von Richtern und Anwälten ein berufliches Handeln? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen, nehmen die Rechtsberufe doch einen festen Platz im modernen Berufssystem ein. Problematisch ist jedoch eine Konsequenz, die aus dieser Festellung folgt. Denn wo ein berufliches Handeln vorliegt, muß es klare, von der je konkreten Person ablösbare Handlungsanforderungen geben - kurz, es muß ein Handeln im Rahmen einer Berufsrolle sein. Es ist aber gerade die Charakterisierung der richterlichen und anwaltlichen Berufsrolle, die der Soziologie große Schwierigkeiten bereitet. Diese Arbeit verfolgt zwei Hauptziele. Zum einen soll ein allgemeines Modell richterlichen Handelns und bestimmter Dimensionen advokatorischen Handelns in seinen Grundlinien entworfen werden. Dies ist, so die These, nur möglich im Rahmen einer Theorie, die dieses Handeln als ein professionalisiertes Handeln begreift, das in seinen Struktureigenschaften von den typischen Problemen der beruflichen Praxis erzwungen ist. Zum anderen soll anhand einer Fallanalyse gezeigt werden, daß auch die historische Entwicklung des juristischen Handelns im Zusammenhang mit den Handlungsproblemen des Rechtskonflikts selbst gesehen werden muß. Schon vor der Entwicklung der die Soziologie üblicherweise interessierenden institutionellen Ausprägungen der 'reifen 1 Professionen bildet sich ein im Ansatz professionalisierter richterlicher Habitus heraus. Diese 'Professionalisierung vor der Professionalisierung' antwortet wesentlich auf die strukturellen Handlungsprobleme der Herstellung von Recht. Die vorliegende Untersuchung ist eine leicht veränderte Fassung meiner Dissertation, die ich 1993 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. eingereicht habe. Sie ist entstanden im Zusammenhang der Professionalisierungsforschungen am Forschungsschwerpunkt von Ulrich Oevermann in Frankfurt. Finanziell wurde meine Arbeit durch ein Promotionsstipendium der Hessischen Graduiertenförderung unterstützt. Ich schulde Ulrich Oevermann und den Teilnehmern seines Forschungspraktikums großen Dank für die Zusammenarbeit, die maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beitrug. Rudolf Stichweh verdanke ich kritische Anregungen zu Fragen der Professionssoziologie. Bei meiner Suche nach geeignetem Datenmaterial wurde ich von den Mitarbeitern des Geheimen

vm

Vorwort

Staatsarchivs Abteilung Merseburg (jetzt Berlin-Dahlem) freundlich unterstützt. Maike Bernhardt hat mir bei der Erstellung der Druckvorlage sehr geholfen. Mit meinen Freunden und Kollegen Andreas Wernet und Michael Wicke habe ich lange Diskussionen über die verschiedensten Forschungsprobleme geführt. A m meisten möchte ich meiner Frau, Iris Cramer, für ihre beständige Hilfe und ihren Rat danken.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung A. Die Professionalisierungstheorie

1 11

I. Das 'klassische' Modell

12

Π. Professionelles Handeln

39

III. Ausrichtung, Datenbasis und Aufbau der Arbeit

57

B. Der Rechtskonflikt als Bezugspunkt rechtspflegerischen Handelns

64

I. Das 'Ganze des Rechts'

64

Π. Die Strukturlogik des Rechtskonflikts

74

C. Das Gesetz: die Prozeßinitiierung im Corpus Juris Fridericianum

94

D. Richterliches Handeln im Spiegel des Corpus Juris Fridericianum

139

I. Die institutionelle Einbettung der Rechtspflege

140

Π. Die Konzeption des richterlichen Berufshandelns

170

m. Résumé

198

E. Das Gesetz: Die Struktur des Zivilverfahrens in professionalisierungstheoretischer Hinsicht

203

F. Richterliches Handeln im Spiegel richterlicher Gutachten über Vorschläge zur Prozeßrechtsreform

263

I. Das Armenrecht

266

X

Inhaltsverzeichnis Π. Die persönliche Anwesenheit der Parteien im Verfahren

289

Schlußbemerkung

347

Anhang

355

Literatur

373

Verzeichnis der Abkürzungen ABB

Acta Borussica, Behördenorganisation

AGO

Allgemeine Gerichtsordnung (Preußen 1793)

AJS

American Journal of Sociology

ALR

Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794)

ASQ

Administrative Science Quarterly

ASR

American Sociological Review

BBG

Bundesbeamtengesetz

CCM

(Ch.O.Mylius) Corpus Constitutionum Marchicarum

CJF

Corpus Juris Fridericianum (Preußen 1781)

DRiG

Deutsches Richtergesetz

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GStA Merseburg

Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Abteilung Merseburg

GuG

Geschichte und Gesellschaft

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

LJK

Landesjustizkollegium

NCC

Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum

StPO

Strafprozeßordnung

ZfRSoz

Zeitschrift für Rechtssoziologie

ZPO

Zivilprozeßordnung

Einleitung Vor einigen Jahren wurde in der Zeitschrift Critical Sociology eine Untersuchung veröffentlicht 1 , die sich damit befaßte, wie sich das Studium an der Harvard Law School auf die Einstellungen von Studenten auswirkte. Als erklärungsbedürftiges Problem wurde von den Autoren gesehen, daß zwar ein hoher Anteil deijenigen Studienanfänger, die der Unterschicht zuzurechnen sind, eine Karriere im Bereich des "public service law" anstrebte, sie jedoch gegen Ende der Ausbildung diese Orientierung verloren hatten: sie strebten jetzt eine Karriere in kommerziellen Rechtsanwaltsfirmen mit hohem Status an. Dieses Phänomen eines Rückgangs altruistischer Motivationen sei dabei nicht nur kennzeichnend für Harvard, wie man vielleicht aufgrund der herausgehobenen Position dieser Ausbildungsstätte im Hinblick auf die hohe Reputation vermuten könnte, sie zeige sich vielmehr auch an den anderen law schools. Für die Harvard Law School sei dieser Befund sogar insofern besonders erklärungsbedürftig, als hier politische Diskussionen innerhalb der "faculty" traditionell einen hohen Stellenwert haben.2 Diese Entwicklung eines Rückgangs politisch-altruistischer Orientierungen im Verlauf des Rechtsstudiums wird von den Autoren allein unter dem Gesichtspunkt sozialer Ungleichheit gesehen, nämlich als eine 'Resozialisierung' von Unterschichtsorientierungen im Hinblick auf die Orientierungen der gesellschaftlichen Elite: "the changes in student goals occuring within the law school environment...largely are the result of a complex ideological process that systematically channels students away from socially oriented work." 3 Denn: "The upwardly mobile must, of course, be resocialized into elite values before they can be entrusted with great power." 4 Die eigentlich berufliche Ausbildung wird nur im Hinblick auf die Unterstützung der klassenspezifischen Umorientierung betrachtet. So erleichtere die (juristische) Logik, die an der Harvard Law School gelehrt wird, die

1

R. GranfieldiT.Koenig y From Activism to Pro Bono: The Redirection of Working Class Altruism at Harvard Law School, in: Critical Sociology 17 (1990), S.57-80. 2 Die Harvard Law School wird wegen ihrer offenen politischen 'Flügelkämpfe' das "Beirut of education" genannt. 3 4

Granfield/Koenig, Granfield/Koenig

S.58. S.59.

Einleitung

2

entsprechenden Anpassungsstrategien, so fördere die isolierte Betrachtung von Rechtsproblemen, die durch die Einübung in die Denkweise eines Juristen entstehe, eine Trennung zwischen den gesellschaftlichen Problemen, die die Studenten lösen wollten, und ihrer konkreten Arbeit in den Anwaltsfirmen: "The ability to disregard social contexts by instilling this trained incapacity is part of the self-alienating ideology associated with legal education."5 Die Herangehensweise dieser Untersuchung ist in gewisser Hinsicht bezeichnend für die vorherrschende soziologische Betrachtung des juristischen Handelns und des damit betrauten Personals. Es wird implizit unterstellt, daß dieses Handeln nahezu vollständig offen für klassenspezifische und andere Orientierungen ist. Es sind weniger allgemeine Rollenanforderungen, die das konkrete Handeln bestimmen, als vielmehr die Wertvorstellungen des damit betrauten Personals. Dementsprechend wird die Arbeit als Anwalt oder Richter tendenziell als ein Betätigungsfeld politischen Handelns unter anderen gesehen, wie die gesellschaftliche Position, die man mit dieser Arbeit bekleidet, vorwiegend im Hinblick auf die damit verbundene 'Macht' betrachtet wird. Prominent ist diese meist implizite Ausrichtung vor allem in der 'Richtersoziologie', wie in den schon klassischen Arbeiten von Kaupen 6 und Dahrendorf 7. Hier sollen Herkunft und Wertvorstellungen der Richter Einblick in deren typische Persönlichkeitsstruktur geben. Unterstellt ist dabei immer, daß das richterliche Handeln selbst - also konkret die Urteilspraxis - sich mehr oder weniger umfassend in terms von persönlichkeitsstrukturellen Elementen ausdrücken läßt. So hat z.B. Dahrendorf sich nach der Feststellung, daß die deutschen Richter sich großenteils aus der Oberschicht rekrutieren, nach einigen einschränkenden Bemerkungen zu der Formel hinreißen lassen, "daß in unseren Gerichten die eine Hälfte der Gesellschaft über die ihr unbekannte andere Hälfte der Gesellschaft zu urteilen befugt ist." 8 In dieser Perspektive

5

Granfield/Koenig,

S.73.

6

W. Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, Neuwied/Berlin 1969. 7 R.Dahrendorf y Deutsche Richter. Ein Beitrag zur Soziologie der Oberschicht, in: ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1961. 8

Dahrendorf, S.195. In dieser Hinsicht auch Rottleuthner (in H. Rotti euthner, Die gebrochene Bürgerlichkeit einer Scheinprofession, in: H.Siegrist (Hg.), Bürgerliche Berufe, Göttingen 1988, S. 145-173), der zwar einerseits behauptet, daß die Unabhängigkeit des Richters aufgrund der Gesetzesbindung und der Abhängigkeit von der Justizverwaltung "als nur noch negativ zu bestimmende Residualgröße" verstanden werden muß, jedoch andererseits eine deutliche 'Unabhängigkeit' im Sinne der Beeinflußbarkeit des Urteils unterstellt, wenn er schreibt: "In einer klassengespaltenen Gesellschaft dürfte es einer Berufsgruppe, die sich nur aus den mittleren Schichten rekrutiert, schwerfallen, sich als berufener Hüter gesamtgesellschaftlicher Aufgaben

Einleitung scheint es sich beim Richterberuf um einen Beruf zu handeln, der kaum durch Rollenanforderungen, die von der konkreten Person ablösbar sind, gekennzeichnet ist. 9 Die hier eingangs referierte Arbeit von Granfield und Koenig ist nun deshalb so interessant, weil sie, obwohl sie diese typische Sicht auf die Rechtsberufe transportiert, gleichzeitig das Material für eine ganz andere Betrachtungsweise liefert. Was war das erklärungsbedürftige Problem? Im Verlauf des Rechtsstudiums fand bei den aus der Unterschicht stammenden Studenten eine radikale Umorientierung von Motiven, Zukunftsorientierungen und Einschätzungen von Rechtsproblemen statt. Aber nicht nur bei dieser Gruppe, sondern bei allen Studenten. Wie die Autoren selbst angeben, fanden sich bei den Studienanfängern deutliche Unterschiede bezogen auf die in die Analyse eingegangenen Variablen 'demographische Zuordnung', 'Geschlecht', 'Rasse' und 'Klassenzugehörigkeit'. 10 In einer späten Studienphase ließen sich hingegen überhaupt keine signifikanten Differenzen mehr feststellen! Diesen erstaunlichen Befund können die Autoren aber nicht erklären. Sie können nur feststellen: "The Harvard Law experience is a remarkably effective socializer." 11 Es liegt nun nahe anzunehmen, daß hinter dieser Sozialisationsleistung nicht allein klassenspezifische Momente stehen können, sondern daß sie wesentlich ein Erfolg einer spezifisch beruflichen Sozialisation ist, die sich nicht allein in terms sozialer Ungleichheit abbilden läßt. In dieser Hinsicht kann man sagen, daß die in der Untersuchung abgefragten Einschätzungen beruflichen Handelns sich im Verlauf des Studiums homogenisierten. Was war das herausragendste Moment dieser veränderten Orientierung? Die Vorstellung von der späteren beruflichen Tätigkeit, die berufliche Karriere. Ein hoher Prozentsatz der Unterschichtsangehörigen gab zu Beginn ihres Studiums an, mit ihrer späteren Berufsarbeit im Rahmen einer Anstellung im öffentlichen Sektor ihre politischen, gesellschaftsverändernden Ziele verfolgen zu wollen. Interessanterweise war der Bezugspunkt der veränderten Orientierung nun nicht eine an hohem Einkommen orientierte berufliche Karriere z.B. als Rechtsberater in einem großen Wirtschaftsunternehmen, was den größt-

darzustellen - zumal wenn die Aufgaben darin bestehen, Konflikte zwischen Mitgliedern der unterschiedlichen Schichten zu regeln. "(S. 149 und 158) 9

Es ist festzuhalten, daß diese Perspektive sich als typische wesentlich auf der

Modellebene findet. Es gibt natürlich eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen von Spezialproblemen juristischer Arbeit, die wie natürlich eine Berufsrollenstruktur unterstellen. 10 Es sollen uns an dieser Stelle nur die Ergebnisse der Studie interessieren. Die Art der Datenerhebung und -auswertung soll außer acht gelassen werden. 11

Granfi eld/Koenig,

S. 60.

Einleitung

4

möglichen Kontrast zur vorherigen Einstellung markieren würde, sondern die Tätigkeit in einer Anwaltsfirma. 12 Die Tätigkeit als freier Anwalt ist also das Normalmodell der fortgeschrittenen Studienphase. Dabei bestand allerdings insofern eine gewisse Statusorientierung, als v.a. prestigeträchtige Anwaltsfirmen anvisiert wurden - was wohl auf die Eliteposition der Harvard Law School zurückgeführt werden kann. Gleichzeitig ging nun das Interesse an den Rechtsbereichen, die ihrem Motivhintergrund entsprachen (die Autoren nennen dies "public interest law"), bei den der Unterschicht entstammenden Studenten nicht zurück, es ließ sich im Gegenteil sogar ein steigendes Interesse an der Arbeit in diesem Bereich feststellen. 13 Die Gemeinwohlorientierung soll aber jetzt durch "pro bono"-Dienste 14 im Rahmen der Arbeit in der großen Kanzlei verfolgt werden. Betrachtet man diese Entwicklung nun aus der Perspektive einer spezifisch beruflichen Sozialisation, so kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis. Was in dieser Untersuchung dokumentiert ist, ist die Einübung in eine berufsspezifische Haltung, die die entsprechenden Einstellungen prägt: die Ausbildung eines - wie es später genannt werden wird - professionellen Habitus. Das juristische Handeln wird im Verlauf des Studiums nicht mehr als Instrument zur Durchsetzung politischer Ziele verstanden, sondern die Wertorientierung wird dem Berufshandeln selbst integriert. In der Ausbildung findet so ein Abschleifen von - in einem wertneutralen Sinn! - praxisfernen Motiven statt, so daß man in der Tat sagen kann: "Harvard Law has taught them to separate their private, subjective worlds from their professional roles." 1 5 Wenn sich nun die Ergebnisse der genannten Analyse im Hinblick auf eine sehr homogene berufsspezifische Haltung lesen lassen, wie kommt es dann, daß juristisches und v.a. richterliches Handeln als ein von beruflichen Rollenanforderungen so wenig eingeengtes angesehen wird, so daß man im Rahmen seiner Untersuchung darauf zu rekurrieren müssen glaubt, wie die Persönlichkeitsstruktur der Richter beschaffen ist? Ein Moment ist dabei sicherlich die hohe gesellschaftliche Relevanz dieses Handelns: Im Bereich des Rechts werden praktisch sehr folgenreiche und auch gesellschaftlich weitreichende 12

Wobei man anmerken muß, daß mittlere oder größere Anwaltsfirmen in den USA das Normalmodell von Anwaltskanzleien darstellen. 13

Granfield/Koenig, S.66. Es ist nicht ganz klar, was man sich unter "pro bono" konkret vorstellen kann. Es wird sich wahrscheinlich nicht um eine im engeren Sinne armenrechtliche Regelung handeln; vielleicht um eine Rechtsberatung von gemeinnützigen Organisationen, die aber auf jeden Fall unentgeltlich erfolgt, denn es wird von ihr als "sponsored by their elite employers" {Granfield/Koenig, S.66) gesprochen. 14

15

Granfield/Koenig,

S. 77.

Einleitung Entscheidungen getroffen. Das allein kann es jedoch nicht sein, denn z.B. auch in der Verwaltung oder in Wirtschafisunternehmen werden Entscheidungen mit sehr großer gesellschaftlicher Wirkung getroffen - und trotzdem würde man zuerst die Logik des bürokratischen resp. des unternehmerischen Handelns bestimmen wollen, bevor man untersucht, wie das Personal persönlichkeitsstrukturell beschaffen ist. Das Problem liegt in dem großen Handlungsspielraum, den besonders die Verwaltung nicht hat. Sie führt nur die politisch getroffenen Entscheidungen aus. Und auch das unternehmerische Handeln findet seine Grenze in der Marktkontrolle. Demgegenüber besteht im Bereich des Rechts eine weitgehende Handlungsautonomie, die Außenkontrolle des Richters und des Anwalts scheint außer-ordentlich gering zu sein. Aber besteht deshalb schon eine völlige Handlungsfreiheit, besteht deshalb eine 'Lücke', in die quasi notgedrungen klassenspezifische und andere Einstellungen und Werthaltungen eindringen? Der Ansatz, der dieses Problem einer Gleichzeitigkeit von Handlungsautonomie und Berufsrollenbindung adäquat zu beschreiben sucht, ist die Professionssoziologie. Die Rechts- und die Arztberufe nehmen in diesem Ansatz als die sogenannten 'klassischen Professionen' eine herausgehobene Stellung im Kreis der untersuchten Berufe ein. Die Professionssoziologie will erklären, wie es zu der professionellen Autonomie kommt, die für diese Berufe kennzeichnend ist, und wo und wie die berufsspezifischen Momente in Anschlag kommen. Dabei hat sich die traditionelle Professionssoziologie jedoch zu sehr auf die Ausbildung berufsständischer Assoziationen konzentriert und das Problem der spezifischen Handlungsanforderungen der jeweiligen Berufe vernachlässigt. Die berufsständische Organisation ist hier das zentrale Merkmal: Sie ermöglicht die Durchsetzung von Monopolansprüchen auf die Ausübung der jeweiligen Dienstleistung gegenüber der Gesellschaft und die Abweisung jeglicher Außenkritik. Erst auf dieser Basis - so das Modell - können sich die weiteren Momente der Professionen ausbilden, wie z.B. die professionelle Selbstkontrolle, die kodifizierte Professionsethik, die Berufsausbildung in Eigenregie, die eigenverantwortliche Zugangsregelung. Dabei wird die Assoziationsbildung meist auf dem Berufshandeln äußerliche Momente zurückgeführt. Sie wird als ein Mechanismus der Marktkontrolle durch Expertenberufe und/oder ein Mechanismus zur Sicherung herausgehobener Positionen im System sozialer Ungleichheit verstanden, der dann zu operieren beginnt, wenn historisch ein wissenschaftlich gestütztes Expertenwissen ausdifferenziert ist, das dafür verantwortlich ist, daß die entsprechende Dienstleistung von den Laien-Klienten nicht mehr kontrollierbar ist. Solange aber das Berufshandeln selbst in der Analyse ausgeklammert bleibt, solange die spezifische Handlungsproblematik der Professionen eine 'black box' bleibt, gehen die entsprechenden Theorien entweder über die Ebene des Deskriptiven nicht hinaus oder die Modellbildung bleibt in Zirkularitäten 2 Maiwald

Einleitung

6

stecken. Im Unterschied zur 'klassischen' Professionssoziologie sieht die von U.Oevermann entfaltete Professionalisierungstheorie die Handlungsproblematik der professionalisierten Berufe als ausschlaggebend für ihre äußere Erscheinungsform an. Allgemein ist für diese kennzeichnend, daß sie in sich widersprüchliche Handlungsanforderungen praktisch vereinbaren müssen. Diese Vermittlung läßt sich nur in actu durch einen professionellen Habitus leisten, der in der beruflichen Sozialisation ausgebildet werden muß. Aufgrund dieser habitualisierten Problemlösung ist eine Außenkontrolle nicht möglich, denn der Professionshabitus ist nicht nur die Bedingung einer kompetenten Berufsausübung, sondern er ist auch die Bedingung einer kompetenten Kritik. Diese Arbeit versucht den professionalisierungstheoretischen Ansatz für den Bereich des Rechts fruchtbar zu machen. Die zentrale Frage ist dabei, ob die Ausbildung des unterstelltermaßen professionalisierten Handelns der Rechtsberufe historisch auf kontingente (z.B. wirtschaftliche oder politische) Bedingungen antwortet oder ob die rechtliche Handlungsproblematik selbst ein solches Handeln tendenziell notwendig macht. Die Ausrichtungen der Arbeit hat damit zwei Richtungen: zum einen geht sie auf die Bildung eines allgemeinen Modells professionellen rechtspflegerischen 16 Handelns aus, zum anderen auf eine historische Betrachtung dieses Handelns. Konkret soll der Nachweis geführt werden, daß sich ein professionelles Handeln auch in einer Zeit finden läßt, in der die institutionellen Voraussetzungen dafür nur sehr eingeschränkt vorliegen. Damit zusammenhängend soll Aufschluß über die Frage gewonnen werden, ob und wie die Struktur professionellen Handelns die Entwicklung des Rechts selbst beeinflußt. Zeitlich handelt es sich bei dem untersuchten Gegenstand um den durch das Zivilprozeßrecht von 1781 (Corpus Juris Fridericianum) markierten Beginn der großen preußischen Rechtskodifikationen. Dieser Zeitabschnitt ist deshalb interessant, weil hier versucht wurde, unter einer bestimmten rechtspolitischen Ausrichtung das Rechtsverfahren sozusagen in Regie zu nehmen und insgesamt stärker zu kontrollieren. Und zwar betraf dies sowohl die Richter (durch die Einrichtung einer "Gesetzkommission" sollte die richterliche Gesetzesauslegung eingeschränkt werden) wie v.a. die Anwälte (diese wurden aus dem Zivilverfahren verbannt und durch 'Nachwuchsrichter' mit einem be16

Der Begriff'rechtspflegerisches Handeln' verweist natürlich nicht auf die moder-

ne Figur des "Rechtspflegers", sondern ist in dem heute nicht mehr so gebräuchlichen weiteren Sinne gemeint. Mit diesem Begriff soll im Unterschied zum unschärferen 'juristischen Handeln' zweierlei deutlich gemacht sein: Einmal, daß es hierbei um ein rechtspraktisches

Handeln geht, ein Handeln, das in irgendeiner Weise an der Lösimg

von Rechtskonflikten partizipiert. Zum anderen, daß es um ein berufliches Handeln geht, in dem die praktische Sorge um das Recht strukturell immer präsent ist. In welcher Weise dies - auch bei Anwälten - der Fall ist, wird die Untersuchung zeigen.

Einleitung sonderen Aufgabenkreis - sogenannte "Assistenzräte" - ersetzt). Dieser Versuch mißlang, und zwar sehr schnell. Diese Tatsache ist professionalisierungstheoretisch äußerst interessant und läßt es lohnend erscheinen, sich die Realität der Zivilrechtspflege zur damaligen Zeit im Hinblick auf die Umstände des Scheiterns dieses Versuchs etwas näher anzusehen. Das primäre Datenmaterial, das hier analysiert werden soll, besteht aus der preußischen Zivilprozeßordnung nebst bestimmter darauffolgender Gesetzesänderungen, aus Gutachten von vier Berliner Kammergerichtsrichtern zu Vorschlägen bezüglich einer Prozeßrechtsreform aus dem Jahr 1787, sowie diesen Vorschlägen selbst. Die forschungsstrategische Begründung der Auswahl dieses Datenmaterials soll ebenso wie eine ausführliche Darlegung des Aufbaus derjenigen Kapitel, in denen es analysiert wird, an dieser Stelle nicht erfolgen. Es ist sinnvoller, beides im Anschluß an die Exposition des theoretischen Bezugsrahmens zu unternehmen, die i m folgenden ersten Kapitel durchgeführt wird, da diese Einbettung entscheidend für den Aufbau der Untersuchung ist. Hier in der Einleitung ist jedoch der Ort, etwas zum methodischen Vorgehen und zur gewählten Darstellungsform zu sagen. Diese Arbeit ist in ihren wesentlichen Teilen eine empirische Arbeit. Es werden unterschiedliche Texte analysiert, und zwar mit der Methode der objektiven Hermeneutik. Da sich diese Methode mittlerweile in gewisser Weise 'veralltägücht' hat und zu einem festen Bestandteil soziologischer Vorgehensweisen geworden ist, soll auf allgemeine methodologische Begründungen und generelle Aussagen zum methodischen Vorgehen verzichtet werden. Entsprechende Ausführungen liegen v o r . 1 7 Es ist jedoch sinnvoll, auf einige Grundprinzipien des Verfahrens hinzuweisen, die die gewählte Darstellungsform motivierten. Entsprechend der Ausrichtung der Fragestellung geht es darum, eine hypothesengewinnende Analyse durchzuführen. Eine inhaltsanalytische Bearbeitung der Texte ist nicht möglich, da die Kategorien für eine Kodierung vorab 17

Vgl. z.B. U.Oev ermann/T.Allert/E.Konau/J.Krambeck, Die Methodologie einer objektiven Hermeneutik und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: H.-G.Soeflner (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979, S.352-434; U.Oevermann, Zur Sache. Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse, in: L.v.Friedeburg/J.Habermas (Hg.), AdornoKonferenz 1983, Frankfurt/M. 1983, S.234-289; ders., Kontroversen über sinnverstehende Soziologie, in: S.Aufenanger/M.Lenssen (Hg.), Handlung und Sinnstruktur, München 1986, S. 19-83; ders., Prinzipien der Sequenzanalyse und die Rekonstruktion von geschichtlichen Prozessen: Am Fallbeispiel einer pathologischen Interaktion, unveröff.Manuskr., Frankfurt/M. 1989.

8

Einleitung

nicht feststehen. Die Texte werden also nicht im Hinblick auf eine quantifizierende Bearbeitung aufbereitet, sondern es werden Textteile, die im Hinblick auf das jeweilige Erklärungsproblem systematisch ausgewählt wurden, in ihrer vorliegenden Ausdrucksgestalt sequentiell interpretiert. Dabei sollte eine möglichst offene, unvoreingenommmene Interpretation durchgeführt werden, die die reale Entfaltung einer Struktur (z.B. der Struktur des Verfahrens nach dem CJF oder der Struktur eines richterlichen Arguments) nachzuzeichnen sucht. Historisches Wissen wird nicht vorab an den Text herangetragen, sondern der Text wird maximalistisch und - was die Fragestellung betrifft: kontextfrei interpretiert. Erst dann werden ergänzend die betreffenden Wissensbestände hinzugezogen. In der Sukzession der Interpretation wird ein 'innerer' Kontext der Fallproblematik entwickelt, auf den die je anschließenden Analysen bezogen werden. Ein solches, möglichst offenes Vorgehen ist bei der hier verfolgten facettenreichen und noch wenig bearbeiteten Fragestellung besonders angeraten. Dabei besteht jedoch ein gewisses Darstellungsproblem. Es ist nämlich nicht gut möglich, die Ergebnisse der Analyse in einer sozusagen erzählerischen Form vorzustellen und dann anhand einiger Beispiele zu verdeutlichen, da die Ergebnisse - wie auch die reale Struktur - 'Prozeßcharakter' haben und an die Plausibilität der sequentiellen Interpretation gebunden sind. Die Darstellung des faktischen sequenzanalytischen Ablaufs, die für diese Arbeit gewählt wurde, stellt demgegenüber jedoch größere Anforderungen an die Lektüre. So zwingt sie den Leser z.B dazu, der Entfaltung auch solcher Lesarten zu folgen, die im Verlauf der Analyse begründet ausgeschlossen werden können. So wird für diejenigen Leser, die mit der Methode der objektiven Hermeneutik nicht vertraut sind, die Ausblendung des fallspezifischen Vorwissens gerade zu Beginn der jeweiligen Analysen umständlich oder befremdlich wirken, da so auch solche Zusammenhänge rekonstruiert werden, die an sich durchaus schon zum gesicherten Wissensbestand gehören (z.B. das Verhältnis von Herrschaft und Herrschaftsverwaltung im Absolutismus betreffend). Dieses Vorgehen ist jedoch methodisch notwendig, um in nicht-zirkulärer Weise zu explizieren, wie diese Zusammenhänge faktisch für die in den Texten protokollierte Praxis strukturbestimmend sind. Wenn die gewählte Darstellungsform also einerseits den Nachteil hat, daß sie eine geduldige und zunächst wohlwollende Lektüre erfordert, so hat sie doch andererseits den entscheidenden Vorteil, bestens dazu geeignet zu sein, die Hypothesengewinnung intersubjektiv verfügbar zu machen und der Kritik auszusetzen. Die jeweiligen Analyseergebnisse werden in fortlaufenden Zwischenzusammenfassungen sowie in Résumés und Zusammenfassungen am Ende der Kapitel festgehalten und sind so in ihrem kumulativen Aufbau überschaubar. Im Anhang sind die umfänglichsten analysierten Textteile, nämlich die Auszüge aus den Vorschlägen zur Prozeßrechtsreform sowie die entspre-

Einleitung chenden richterlichen Stellungnahmen, abgedruckt, um die Überschaubarkeit der Argumentationen in ihrem Zusammenhang zu gewährleisten. Zum Abschluß noch eine Bemerkung zur interdisziplinären Ausrichtung der Arbeit. Die diese Untersuchung leitende Überlegung, daß das Erscheinungsbild der modernen Rechtsberufe wie ihre Geschichte wesentlich auch etwas mit dem spezifischen Charakter der beruflichen Anforderungen zu tun haben muß, ist zwar eine naheliegende und einfache Überlegung - ihre forschungspraktische Umsetzung bringt jedoch einige Schwierigkeiten mit sich. Mit der Fokussierung der strukturellen professionellen Handlungsprobleme ist die hier verfolgte Professionalisierungstheorie nicht mehr die 'middle-range theory 1, die das klassische professionssoziologische Modell anvisierte. Sie bildet vielmehr das übergreifende Konzept für die Analyse der hinter der professionellen Bearbeitung von Problemen liegenden jeweiligen gesellschaftlichen Funktionssysteme selbst. Eine Professionalisierungstheorie der Rechtsberufe dieses Zuschnitts ist nicht mehr nur eine Dimension soziologischer Analyse unter anderen 18 , sondern gibt den privilegierten Zugang zu einer Analyse der Praxis des Rechts ab. Forschungspraktische Schwierigkeiten entstehen nun für die empirische Analyse, die diesem Ansatz folgt, dadurch, daß sie Bereiche berührt, die von verschiedenen Disziplinen verwaltet werden: Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaft/Rechtstheorie, Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte im engeren Sinn. Das Projekt einer Rekonstruktion des professionellen rechtspflegerischen Habitus steht mit seiner immanenten Interdisziplinarität vor dem generellen Problem, die verschiedenen Betrachtungsweisen, denen sich die einzelnen Disziplinen widmen, zu verzahnen und in einem allgemeinen Modell zu integrieren. Eine solche Integration kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit naturgemäß nur in einem sehr begrenzten Sinne erfolgen. Konkret besteht das Problem, daß eine solche professionalisierungstheoretische Perspektive bisher kaum Eingang in die Forschungen der jeweiligen Fachdisziplinen gefunden hat. 1 9 Deshalb ist es unumgänglich, im Rah-

18

Wie z.B. noch Luhmann in seiner Rechtssoziologie meinte (.N.Luhmartn, Rechts-

soziologie, Opladen 1983, S.3). 19

So gibt es z.B. in der deutschen Rechtsgeschichte nur wenige Untersuchungen,

die sich dieser Frage widmen; eine empirische Analyse einer historischen Rechtspraxis des Zuschnitts der hier vorgenommenen liegt meines Wissens überhaupt nicht vor. Im Bereich der Rechtssoziologie gibt es zwar in den letzten Jahren vermehrt Analysen zu bestimmten Bereichen der Rechtspraxis, eine Verbindung zu professionssoziologischen Fragen wird in der Regel jedoch nicht gezogen. Als Ausnahmen wären zu nennen die im Literaturverzeichnis angegebenen Arbeiten von B.Caesar-Wolf, Th.Roethe, D.Eidmann und insbesondere eine Untersuchung von A. Wemet, die im selben Kontext

10

Einleitung

men der Weiterentwicklung des Modells auf diesen Gebieten zu 'wildern' und heuristisch idealtypische Konstruktionen zu erarbeiten, die natürlich entsprechend riskant und hypothetisch sind. Es erfolgt auch bewußt eine selektive Literaturrezeption im Hinblick auf den hier verfolgten Ansatz, denn eine auch nur annähernd umfassende Würdigung der Literatur der verschiedenen Disziplinen ist im Rahmen dieser Arbeit unmöglich. Das Problem der Interdisziplinarität dieses Ansatzes wird wahrscheinlich dazu führen, daß aus dem Blickwinkel der jeweiligen Disziplinen Defizite festgestellt werden. Insbesondere die theoretischen Modelle werden sicherlich als zu grob erscheinen. Eine Vereinfachung ist auf dem jetzigen Stand der Modellbildung jedoch nicht zu umgehen. Es muß betont werden, daß diese Arbeit exemplarischen Charakter hat, und zwar nicht nur dahingehend, daß in der Verfolgung der genannten Fragestellungen an einem begrenzten Gegenstand allgemeine Modelle und Begriffsklärungen erarbeitet werden sollen, sondern auch im Hinblick auf das dahinterliegende Programm, das durch die Untersuchung plausibel werden soll: das Programm einer Professionalisierungstheorie des Rechts.

wie die vorliegende Arbeit entstanden ist: A. Wem et, Der Strafverteidiger, sein Klient und das Recht: Professionalisierungstheoretische Vorüberlegungen und Fallanalysen zur Logik advokatorischen Handelns im Strafprozeß, Diss. Frankfurt a. M. 1993.

Α. Die Professionalisierungstheorie Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der modernen Professionssoziologie, daß keine Publikation auf diesem Bereich ohne einen theoriegeschichtlichen Abriß der Entwicklung der Modellbildung auszukommen scheint. Offensichtlich besteht kein allgemeiner Konsens bezüglich der Herangehensweise. Und dies, obwohl sich die Fragestellung mittlerweile im Kanon der soziologischen Forschung etabliert hat - so besteht v.a. von Seiten der Medizinsoziologie und neuerdings auch der Geschichtswissenschaft ein lebhaftes Interesse an den von der Professionssoziologie entwickelten Modellen -, und obwohl der Umfang der entsprechenden Literatur mittlerweile die Dimensionen der klassischen ,Bindestrich-Soziologien , erreicht hat. Diese Eigentümlichkeit kann sicherlich nicht allein darauf zurückgeführt werden, daß die Professionssoziologie eben doch noch keine etablierte Teildisziplin der Soziologie ist - was sicherlich zutrifft. Andererseits kann auch nicht angenommen werden, daß gerade in diesem Bereich der Forschung im Unterschied zu anderen Bereichen eine besondere Sorgfalt bezüglich der Explikation der Fragestellung herrscht. Vielmehr liegt das Problem im Charakter des Gegenstands "Professionen" selbst begründet, denn es handelt sich dabei um einen Gegenstand, der nicht - wie z.B. im Fall der Religionssoziologie, der Organisationssoziologie oder der Stadtsoziologie - einem intuitiven Vorverständnis als unmittelbar gegeben erscheint, sondern sich erst durch eine theoretisch angeleitete Fragestellung erschließt. Da die theoretischen Ansätze jedoch in der Regel entsprechend der jeweiligen Vorliebe für ein allgemeines Gesellschaftsmodell variieren, herrscht in der Literatur beinahe nur in einem Punkt Einverständnis: Professionen sind Berufe, d.h. professionelles Handeln ist - was immer man sonst noch darüber sagen kann - ein Handeln im Rahmen einer spezifischen, auf 'full-time'-Basis ausgeübten Tätigkeit, die den Zweck hat, den Lebensunterhalt des Handelnden (und seiner Familie) zu sichern. Was aber die Professionen von anderen Berufen unterscheidet, bestimmt sich weitgehend durch die jeweilige theoretisch angeleitete Fragestellung. Aus diesem Grund ist jede Arbeit zu diesem Thema gezwungen, sich mit der Theorietradition auseinanderzusetzen, sich in ihr zu verorten und so den Gegenstand erst zu bestimmen. Auch diese Untersuchung kommt darum nicht herum, insbesondere, da sie bezüglich des mainstreams der gegenwärtigen Analysen eine abweichende Po-

12

A. Die Professionalisierungstheorie

sition vertritt. Im Hinblick auf eine Explikation der hier verfolgten Fragestellung soll nun (I) die Entwicklungslinie nachgezeichnet werden, die zu dem gegenwärtig dominierenden Modell führte. Es handelt sich dabei - so die These - um eine Entwicklung, die dazu führte, daß der Professionssoziologie unter der Hand ihr Gegenstand weitgehend 'entglitt': das, was das spezifische und eigentlich interessante der Professionen ist, kommt mit diesem Modell nicht mehr in den Blick. Bei der Diskussion der Untersuchungen soll es entsprechend der Zielsetzung primär um die allgemeine Theoriebildung - und ihre jeweiligen Erklärungsdefizite - gehen, nicht um eine Würdigung der Arbeiten als ganze. Im Anschluß daran soll (II) diejenige Professionalisierungstheorie und ihre Vorläufer vorgestellt werden, die die benannten Defizite heben kann. Diese Theorie gibt auch den Bezugsrahmen der hier verfolgten Analyse ab. Nachdem so der begriffliche Rahmen abgesteckt und auf theoretischer Ebene entwickelt worden ist, was allgemein unter professionellem Handeln zu verstehen sei, soll (III) auf der Folie der explizierten Bedeutung einer historischen Untersuchung für die Entwicklung eines Modells professionellen rechtspflegerischen Handelns die Vorgehensweise dieser Arbeit dargestellt und begründet werden.

I. Das Rassische9 Modell Der Beginn der eigentlichen Soziologie der Professionen wird von dem von A.M.Carr-Saunders und P.A.Wilson verfaßten, 1933 erschienen Werk "The Professions" 1 markiert. Diese Arbeit ist nicht nur von theoriegeschichtlichem Interesse, sie bildet vielmehr in gewisser Weise noch immer den zentralen Bezugspunkt des gegenwärtig dominanten Modells - auch wenn sich die jeweiligen Autoren in der Regel nicht mehr explizit auf sie berufen. Carr-Saunders und Wilson legten ihrer Untersuchung noch kein theoretisches Konzept der Professionen zugrunde, sondern sie gingen von dem aus, was sich in der Realität selbst als "profession" präsentierte: nämlich diejenigen Berufe, die nach allgemeinem englischen Sprachgebrauch als solche bezeichnet werden. Und offensichtlich wurden damals eine Vielzahl von Berufen mit dieser Kategorie belegt 2 , denn ihre Arbeit beginnt mit einer Skizze des Erscheinungsbildes und der historischen Entwicklung der unterschiedlichsten Berufe: zuerst werden die Juristen und Ärzte behandelt, dann folgen Zahn-

1

A.M. Carr-Saunders/P.A.

2

Es soll hier nicht überprüft werden, ob ihre Zuordnung entsprechend dem "com-

Wilson, The Professions, London/Liverpool 1964.

mon consent" korrekt gewesen ist.

13

I. Das 'klassische' Modell

ärzte, Krankenschwestern, Optiker, Masseure, Minenleiter (mine managers), Ingenieure, Chemiker, Journalisten u.a. Nach diesem recht bunten Katalog ist es nicht verwunderlich, wenn die Autoren bemerken, daß eine begriffliche Trennung zwischen den professions und anderen Berufen nicht zu ziehen sei, bzw. dies zumindest gefahrlich wäre. Dennoch wird eine solche Abgrenzung versucht, denn der Begriff profession "stehe für etwas", nämlich für einen Komplex von Merkmalen, die die jeweiligen als profession bezeichneten Berufe in unterschiedlicher Ausprägung aufweisen. Dabei liegen die alten Professionen des Rechts und der Medizin, die interessanterweise im Text häufig auch als "true professions" bezeichnet werden, in der Mitte eines durch diesen Merkmalskomplex definierten Feldes, sie weisen die Merkmale also am reinsten auf. Diese sind im wesentlichen: a) eine Technik (technique), erworben

durch eine langwierige

und spezialisierte

Aus-

bildung (training); b) die jeweilige Technik ist die Grundlage einer spezialisierten Dienstleistung

mit einem gewissen Gemeinschaftsbezug

(a service to

the community); c) diese Dienstleistung wird durch feste Bezahlung vergolten, sei es in Gestalt einer Gebühr oder eines Lohns; d) die Professionen haben eine Verantwortlichkeit entwickelt, die sich in der Zuständigkeit för die kompetente Berufsausübung zur Ehre der Berufsgemeinschaft zeigt; e) sie haben formelle Assoziationen gebildet und ein System (machinery) der Kontrolle der Kompetenz und der Einhaltung gewisser Verhaltensstandards eingerichtet; f) materielle Orientierungen ( E i n k o m m e n u n d Status) werden als eher zweitran-

gig behandelt. Als herausgehobenes Merkmal der Professionen gilt den Autoren dabei die "technique" oder "intellectual technique" - eine opake, nicht weiter geklärte Kategorie, die man nicht einfach mit 'Technik' übersetzen kann. Man muß sich darunter vielmehr eine spezifische Kunstfertigkeit oder technische Kompetenz vorstellen, die nicht auf Basis einfacher Einübung erworben wird, sondern die einen gewissen 'Wissensbezug' besitzt. Dieser kann jedoch höchst unterschiedlich sein: so kann die "technique" wissenschaftlich fundiert sein, jedoch auch "institutionell" (Rechtsberufe) oder "ästhetisch" (Architekt). Wenn auch dieses Merkmal als letztlich entscheidendes angesehen wird, so muß doch ein anderes hinzukommen, damit von einem konkreten Beruf als einer Profession gesprochen werden kann, nämlich die Bildung einer Berufsvereinigung: "A profession can only be said to exist when there are bonds between the practitioners, and these bonds can take but one shape - that of formal association."3

3

Carr-Saunders/PA.

Wilson

y

S.298.

14

. Die Professionalisierungstheorie

Schon nach diesem ersten Schritt der Modellbildung wird deutlich, daß Carr-Saunders und Wilson die Strategie einer empirischen Generalisierung im Hinblick auf ein Modell verfolgen, das abstrakt genug ist, um alle diejenigen Berufe, die sich qua Selbstbenennung als "profession" ausweisen, darunter subsumieren zu können. Diese Orientierung zeigt sich auch in der eiligen Konstruktion eines um den Mittelpunkt der alten Professionen gruppierten Feldes, innerhalb dessen die Berufe zu verorten sind. 4 Die Problematik einer solchen Begriffsbildung wird dort deutlich, wo mit der Kategorie der technischen Kompetenz ein Merkmal als bestimmendes aus dem Katalog herausgehoben wird. Einerseits wird dieses nämlich als so entscheidend angesehen, daß stellenweise ein Automatismus zwischen der Entwicklung einer Technik und der Bildung einer Profession nahegelegt ist 5 , andererseits wird aber dort, wo diese Herausgehobenheit das Bild des Feldes zu zerstören droht, auf die Gleichwertigkeit der Merkmale rekurriert. So müssen die Autoren konzedieren, daß bezüglich der technischen Kompetenz einige der als professions benannten Berufe eher am Rande oder gar jenseits des um den Mittelpunkt der alten Professionen gruppierten Feldes liegen (wie die Handelsmarine, Optiker, Krankenschwestern, Börsenmakler u.a.), in anderen Hinsichten sollen sie jedoch wieder dazugehören, wie z.B. im Hinblick darauf, ob die Tätigkeit ein Gefühl der Verantwortlichkeit hervorruft. Die so verfolgte Subsumtion kann nur um den Preis der Gleichwertigkeit der Merkmale stattfinden, was jedoch zur Folge hat, daß damit kein homogenes Modell mehr entwickelt werden kann. Ohne die Orientierung an einer empirischen Generalisierung zugunsten einer Typenbildung explizit aufzugeben, schält sich jedoch in der weiteren Analyse von Carr-Saunders und Wilson ein geschlosseneres Bild heraus. 6 Nach der oben skizzierten ersten Modellbildung erfolgt eine Betrachtung der modernen Professionen unter den Aspekten der Organisationsstruktur (constitution), der beruflichen Sozialisation (education), der Berufsethik, der ökonomischen Probleme und der Beziehung von organisierter Profession und Öffentlichkeit, wobei die verschiedenen Probleme recht lose anhand einiger Beispiele beleuchtet werden. Dabei wird ein allgemeines Muster erkennbar, das allerdings von den Autoren nicht systematisiert wird. So erweist die Betrachtung der Organisationsstruktur der Professionen, daß die Bildung einer Assoziation - gegebenenfalls im Verbund mit einer regulativen Intervention des Staates - im 4

Hier ist schon angelegt, in der relativen Nähe zum Mittelpunkt einen Gradmesser

der Professionalisierung der Berufe zu sehen. 5

"Where a technique is specialized, the rise of a profession is unescapa-

ble..."(Carr-Saunders/P.A. Wilson , S.491) 6 Dabei zeigt sich, daß das Modell immer dann 'gestalthaft' wird, klarere Konturen zeigt, wenn es um die alten Professionen geht.

I. Das 'klassische Modell

15

Hinblick auf die Sicherung eines Funktionsmonopols erfolgt, dessen Grundlage wiederum die spezialisierte "technique" ist. Die Berufsorganisation regelt dann nicht nur die Probleme ihrer Innen/Außen-Abgrenzung, sondern sie bestimmt auch wesentlich die berufliche Sozialisation, d.h. den Erwerb und die Prüfung der technischen Kompetenz. Die Berufstätigkeit selbst wird durch eine spezifische Berufsethik kontrolliert, und zwar sowohl im Hinblick auf die eher technische Seite wie auch auf die Einhaltung bestimmter moralischer Standards. Dabei wird die Notwendigkeit einer solchen Berufsethik in der Vertrauensbeziehung (fiduciary relationship) zwischen Professionellem und Klient begründet gesehen. Als Elemente dieser Berufsethik werden genannt: eine allgemeine Verpflichtung zur Dienstleistung (bei einigen Professionen), Verschwiegenheit und eine Haltung, die man als 'non-profit'-Orientierung beschreiben könnte: "When the position of trust is regarded as extending to a profession as a whole, it is seen that certain commercial practices are incompatible with the rendering of professional services; and from these practices the professional man is required to abstain."7 Geht man einmal von diesem Muster aus, dann sind Professionen im Unterschied zu anderen Berufen zunächst durch zwei Momente gekennzeichnet, die in einer spezifischen Wechselbeziehung zueinander stehen: die auf einer erweiterten Wissensbasis beruhende technische Kompetenz und die Bildung einer spezifischen Berufsvereinigung. Die Bildung der Berufsvereinigung hat dabei im wesentlichen den Sinn, zusammen mit einer staatlichen Intervention das Monopol auf eine Dienstleistung zu sichern, d.h. durch verschiedene Mechanismen wird ein Berufsstand, vertreten durch eine Körperschaft, mit einer bestimmten Dienstleistung identifiziert. Die Grundlage dieser Dienstleistung und damit auch Basis der Assoziationsbildung ist wiederum die spezifische technische Kompetenz. Von diesem allgemeinsten Merkmal aus gesehen handelt es sich bei einer Profession um eine bestimmte berufsständische Organisation, die auf Basis einer ausdifferenzierten technischen Kompetenz gebildet wurde. Professionen wären dann Expertenberufe einer bestimmten Gestalt, die gewissermaßen eine 'Wissensklasse' bilden. Darüberhinaus werden noch andere Merkmale genannt, die jedoch von einigen "professions" nicht oder nur in abgeschwächtem Maße in Anspruch genommen werden können, ja, zu denen bestimmte Berufe sogar in Opposition stehen. Es sind dies die Momente der Selbstorganisation der beruflichen Sozialisation, der Ausbildung einer Berufsethik zur professionellen Selbstkontrolle der Berufsleistungen, und der fehlenden Profit- oder Marktorientierung (selbständige Tätigkeit). Bezieht man sich auf das Bild eines 'professionellen Feldes', so würden diese Kriterien mit steigender Nähe zum Mittelpunkt der 7

Carr-Saunders/PA.

Wilson, S.432.

. Die Professionalisierungstheorie

16

"alten Professionen" erfüllt. Von diesem Pol aus gesehen handelt es sich bei den Professionen um Berufe, die in gewisser Weise aus der die Produktionssphäre beherrschenden Dichotomie von Arbeit und Kapital einerseits, der hierarchischen Struktur insbesondere der Herrschaftsverwaltung andererseits herausfallen: um diejenigen Berufe also, die man im deutschen Sprachraum als "freie Berufe" bezeichnet.8 Bei diesen erfolgt keine Fremdkontrolle der Berufstätigkeit, sondern es findet eine Eigenkontrolle v.a. durch die Ausbildung einer Berufsethik statt; in der Regel im Rahmen einer selbständigen Tätigkeit, die jedoch keine unternehmerische ist (keine Profitorientierung). Doch was ist die Grundlage dieser Selbstkontrolle der Berufsausübung v.a. durch die Ausbildung einer Berufsethik und einer Abstinenz von "kommerziellen Praktiken"? Die Autoren tun sich in dieser Hinsicht schwer: sie geben nur an, daß dies der Vertrauensbeziehung zwischen Professionellem und seinem Klienten entspricht. Aber worin liegt die begründet? In diesem Zusammenhang ist besonders eine Stelle aufschlußreich: "[Yet] the quality of the service rendered is of the deepest concern to the client. He places his health and his fortune in the hands of his professional advisers, and he entrusts them with confidences of an intimate and personal kind. He is interested therefore not only in the technical, but also what may be called the moral, quality of the service. It is possible for the large employer of labour to find ways of testing for himself the efficiency and integrity of his salaried employees. But the typical professional man is not in the continuous salaried employment of any single individual or body. He is a free lance who is consulted by his client only as and when occasion demands. Consequently his client is seldom in a position to judge the quality of the service he gets." 9 Hier wird gleich eine Vielzahl von Charakteristika der Beziehung von Professionellem und Klient genannt. Zunächst erscheint der Professionelle als beratender Experte (professional adviser), d.h. die Dienstleistung wird auf eine Beratungstätigkeit eingeschränkt. Die Beratungstätigkeit ist zudem von herausgehobener Bedeutung für den Klienten, es geht für ihn um Gesundheit und Geschick, d.h. tendenziell geht es um seine Existenz. Aus welchem Grund auch immer, jedenfalls ist die Beziehung durch eine Atmosphäre gekennzeichnet, in der der Klient dem Professionellen Vertraulichkeiten persönlicher Art (confidences of an in8

Die Untersuchung der freien Berufe spielte v.a. in den 20er Jahren in der

deutschen Soziologie eine Rolle (vgl. S.Feuchtwanger, Die freien Berufe, 1922). In der neueren Forschung wird dieser Gegenstand primär im Rahmen der aus dem angelsächsischen Raum 'importierten' Professionssoziologie betrachtet. Auch bei H. Kairat, "Professions" oder "Freie Berufe"?, Berlin 1969, spielt das Konzept der freien Berufe keine Rolle mehr. 9

Carr-Saunders/Wilson

1964, S.394.

I. Das 'klassische' Modell

17

timate and personal kind) mitteilt. Aufgrund dieser Vertrauensbeziehung ist der Klient auch an der "moralischen" Qualität der Dienstleistung interessiert. Das Problem ist nur, daß der Klient die Qualität der professionellen Dienstleistung allgemein nicht kontrollieren kann. Ein Arbeitgeber könnte die entspre chenden Testkriterien entwickeln, nicht jedoch der Klient, der die Dienstleistungen des typischerweise selbständig arbeitenden Professionellen nur gelegentlich in Anspruch nimmt. Da also keine hierarchische Kontrolle erfolgt und die Marktkontrolle nicht greifen kann, muß eine Eigenkontrolle der professionellen Tätigkeit erfolgen. Dieses Zitat macht zweierlei deutlich. Zum einen ist erkennbar, daß dort, wo es um die Logik des Binnenverhältnisses von Professionellem und Klient geht, nicht der bloß technisch Kompetente, sondern der freiberufliche 'klassische Professionelle' thematisch ist. Zum anderen sieht man aber auch, daß dieses Binnenverhältnis noch nicht adäquat abgebildet werden konnte, die verschiedenen Elemente sind noch nicht zur Synthese gebracht. Vor allem das spezifische Vertrauensverhältnis in der Beziehung von Professionellem und Klient ist unterbelichtet. Betrachtet man dies vom Ende der Argumentation her, so erscheint das Vertrauen als ein Derivat der fehlenden Marktkontrolle, die - etwa dem Slogan "Teppichkauf ist Vertrauenssache" entsprechend - auf den Umstand einer nur gelegentlichen Inanspruchnahme der Dienstleistung zurückgeführt wird. Doch warum sollte diese Vertrauensbeziehung dazu führen, daß man "vertraulich" wird und dem Professionellen persönliche Dinge anvertraut? Diese Vertraulichkeit, die Carr-Saunders und Wilson hier schildern, geht in einem einfachen Vertrauensverhältnis nicht auf. Es handelt sich dabei letztlich um Elemente einer Beziehung, die man im Anschluß an Parsons als 'diffuse' Sozialbeziehung bezeichnen kann 1 0 , welche dadurch gekennzeichnet ist, daß in ihr im Unterschied zu rollenförmigen Sozialbeziehungen tendenziell die ganze Person thematisch ist. Eine solche 'Diffusität' der Beziehung läßt sich aber nicht mit dem Verweis auf die herausgehobene Bedeutung der Dienstleistung für den Klienten erklären, denn es lassen sich entsprechende Dienstleistungen von existenzieller Bedeutung - wie z.B. Kreditgeschäfte - konstruieren, für die eine solche Beziehung nicht konstitutiv wären. Anders gesagt: im Rahmen z.B. des Abschlusses eines Kreditgeschäfts sind Angaben über Vermögen, Arbeitsverhältnisse etc. - unbeschadet ihrer 'Schutzbedürftigkeit' im Hinblick auf ihre Veröffentlichung - keine "confidences of an intimate and personal kind", sondern Teil der spezifischen Rollenbeziehung. 11

10

Vgl dazu Α.Π.

11

Umgekehrt kann die Tatsache, daß der Klient im Rahmen solcher Rollenbezie-

hungen eine gewisse Vertraulichkeit entwickelt, u.U. ein Indiz für eine 'Entwürdigung* (etwa im Sinne eines Bittstellers) sein.

18

A. Die Professionalisierungstheorie

Zusammenfassend kann man sagen, daß das von Carr-Saunders und Wilson entwickelte Modell, das den Ausgangspunkt der Professionssoziologie markiert, einige 'Geburtsfehler' aufweist. So orientiert man sich mit dem Ziel, einen durchaus heterogenen Gegenstand unter ein Modell zu subsumieren, an einer empirischen Generalisierung: es wird sozusagen der größte gemeinsame Nenner aller der Berufe gesucht, die sich als "professions" ausweisen. Eine idealtypische Konstruktion eines Modells professionellen Handelns, welches den Maßstab für die Untersuchung der jeweiligen mit dem Anspruch auf Professionalisiertheit auftretenden Berufe abgeben könnte, wird nicht unternommen. Bei diesem Ansatz zeichnen sich im Gegenstandsbereich zwei unterschiedliche Bezugspunkte ab: zum einen die Expertenberufe (die 'Wissensklasse'), zum anderen die alten Professionen (die durch eine 'non-profit'-Orientierung und eine spezifische Beziehung zu ihrem Klienten gekennzeichneten Berufe des Rechts und der Medizin). Zwischen diesen beiden Polen oszilliert die Darstellung, kann sie aber weder analytisch trennen, noch befriedigend zur Synthese bringen. 12 Im folgenden wird sich zeigen, wie sich diese 'Geburtsfehler' in der weiteren Theorieentwicklung fortsetzen. Vor allem in den 50er und 60er Jahren wurde eine Vielzahl von spezielleren Untersuchungen auf dem Gebiet der Professionssoziologie unternommen, die sich in bezug auf bestimmte Berufe denjenigen Merkmalen und damit zusammenhängenden Fragestellungen widmen, die schon bei Carr-Saunders und Wilson genannt wurden. Rolle und Charakter des angewendeten Wissens, Berufsorganisation, Rekrutierung des Personals, berufliche Sozialisation, die Beziehung von Professionellem und Klient, die Beziehung von professioneller Assoziation und Gesellschaft u.v.m. waren thematisch. Dabei gewannen in der Diskussion einige Merkmale eines umfassenden Katalogs besondere Bedeutung. Millerson 1 3 nennt als die am häufigsten genannten: "(a) A profession involves a skill based on theoretical knowledge, (b) The skill requires training and education, (c) The professional must demonstrate competence by passing a test, (d) Integrity is maintained by adherence to a code of ethics, (e) The service is for public good, (f) The profession is organized." Diese Gruppe von Merkmalen bildet den Kern eines Modells, das Rüschemeyer (1964) 1 4 als 12

Auffällig ist in dieser Hinsicht, daß die Untersuchung zwar mit den Ärzten und

Juristen beginnt, diese auch in der weiteren Darstellung als "true professions" eine exponierte Stellung einnehmen, im letzten Kapitel "Professionalism and the Society of the Future" jedoch nur noch von der durch fortschreitende Verwissenschaftlichung der Berufe induzierten Ausweitung der Expertenberufe v.a. im Bereich der höheren, bezahlten Positionen des Wirtschaftslebens und ihrer Bewertung die Rede ist. 13

G.Millerson, The Qualifying Associations, London 1964, S. 4.

14

Ό.Rüschemeyer, Doctors and Lawyers: A Comment on the Theory of the Pro-

fessions, in: Canadian Review of Sociology and Anthropology 1 (1964), S. 17-30 (in

19

I. Das 'klassische' Modell "funktionalistische M o d e l l orientieren gie, auch wenn sie auf die Bedeutung

Theorie der Professionen" bezeichnet hat. A n diesem sich die Hauptvertreter der damaligen Professionssoziolostellenweise eine unterschiedliche Gewichtung i m H i n b l i c k der Merkmale v o r n e h m e n . 1 5 Ich werde m i c h bei der Dar-

stellung dieses Modells auf die Version v o n Rüschemeyer beschränken, da sie den damaligen Stand der Theoriebildung am besten u n d i n der i n sich geschlossensten Weise wiedergibt. Die Professionen werden jetzt verstanden als Dienstleistungsberufe, die 1) bei der Bearbeitung konkreter Probleme auf ein Wissenssystem rekurrieren, wobei 2) diese Tätigkeit eine hohe Relevanz für zentrale gesellschaftliche Werte besitzt. D a die Basis der professionellen Tätigkeit eine spezialisierte, theoretisch fundierte Kompetenz ist, stellt sich ein besonderes Problem der sozialen Kontrolle dieser Tätigkeiten: die Laien können die Professionsausübung nicht kritisieren, j a , sie können häufig noch nicht einmal die Ziele der v o n dtsch. Übers, in: Th.Luckmann/W.Sprondel (Hg.), Berufssoziologie, Köln 1972). Diesem Modell folgt auch noch im wesentlichen die ansonsten viel differenziertere Analyse von 1976 {ders., Juristen in Deutschland und in den USA. Eine vergleichende Untersuchimg von Anwaltschaft und Gesellschaft, Stuttgart 1976). Vgl. auch: ders., Rekrutierung, Ausbildung und Berufsstruktur - Zur Soziologie der Anwaltschaft in den Vereinigten Staaten und in Deutschland, in: D.V.Glass u.a. (Hg.), Soziale Schichtung und Mobilität (Sonderheft KZfSS), Köln 1961, S. 122-144; ders., Professionalisierung - Theoretische Probleme für die vergleichende Geschichtsforschung, in: GuG 6 (1980), S.311-325. 15

So z.B. W.J.Goode,

Community within the Community: The Professions, in:

ASR 22 (1957), S. 194-200; ders., Encroachment, Charlatanism, and the Emerging Profession: Psychology, Sociology, and Medicine, in: ASR 25 (1960), S.902-914; beide Aufsätze dtsch. in Luckmann/Sprondel 1972), H.L.Wilensky,

The Professionali-

zation of Everyone?, in: AJS 70 (1964), S. 137-158; ebenfalls dtsch. in Luckmann/Sprondel 1972), B.Barber (Some Problems in the Sociology of the Professions, in: K.S.Lynn (ed.), The Professions in America, Boston 1963). J.Ben-David (Akademische Berufe und die Professionalisierung, in: D.V.Glass ua.(Hg.), Soziale Schichtung und Mobilität (Sonderheft KZfSS), Köln 1961, S. 104-121), H.Hartmann (Unternehmertum und Professionalisierung, in: Zeitschrift fur die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 123 (1967), S.515-540), HDaheim (Der Beruf in der modernen Gesellschaft, Köln/Berlin 1970; ders., Professionalisierung, in: G.Albrecht, H.Daheim, F. Sack (Hg.), Soziologie - René König zum 65.Geburtstag, Opladen 1973), A.L.Mok (Alte und neue Professionen, in: KZfSS 21 (1969), S. 770-781) betonen im Rahmen dieses Modells die Bedeutung des systematisierten Wissens und der wissenschaftlichen Ausbildung. Auch R.Bucher/A.Strauss

(Professions in Process, in: AJS 66 (1961), S.325-

334) orientieren sich letztlich an diesem Modell, wiewohl sie betonen, daß es eine Homogenität der professionellen Berufsgruppe nahelegt, die nicht gegeben sei.

20

A. Die Professionalisierungstheorie

ihnen in Anspruch genommenen Dienstleistung bestimmen. Aus diesem Grund können die üblichen Formen sozialer Kontrolle - Kontrolle durch den Markt und hierarchisch/bürokratische Kontrolle - hier nicht greifen. Eine Kontrolle muß es jedoch insbesondere wegen des Bezugs zu zentralen Werten geben. Die Lösung dieses Problems erfolgt durch verstärkte Selbstkontrolle der Profession, und zwar zum einen in Form einer gesteigerten individuellen Selbstkontrolle, repräsentiert durch eine Professionsethik, die durch den Prozeß beruflicher Sozialisation sowohl im Hinblick auf die technische Kompetenz wie auch die Wertbindung vermittelt wird, zum anderen - in Ergänzung dieser individuellen Kontrolle - in Form einer formellen und informellen Kontrolle der Einhaltung der Werte und Normen durch eine "community of colleagues". In Anerkennung dieser Selbstkontrolle werden den Professionen von der Gesellschaft verschiedene Vorteile gewährt, wie hohes Einkommen und Prestige, gesetzliche Sicherung der berufsständischen Innen/Außen-Abgrenzungen. Die hier betrachtete 'Epoche' der Entwicklung der Professionssoziologie ist nun nicht nur durch eine gewisse Homogenisierung des Merkmalskatalögs der Professionen im Hinblick auf ein basales theoretisches Modell gekennzeichnet, sondern dieses Modell wird jetzt quasi 'dynamisiert'. Während es bei CarrSaunders und Wilson noch hauptsächlich darum ging, die bestehenden, sich als "professions" ausweisenden Berufe möglichst umfassend zu beschreiben, spricht man jetzt vom "Prozeß der Professionalisierung" und meint damit die Herausbildung von Berufen, die die entsprechenden Merkmale erfüllen, bzw. auch das Streben von Berufsgruppen nach dem Besitz dieser professionellen Attribute (v.a. im Zusammenhang mit den verlockenden Merkmalen Status und Einkommen). Die Vorstellungen davon, nach welchem Ablaufmuster sich dieser Prozeß vollzieht, hängen nun davon ab, welche Momente man am Modell der Professionen für ausschlaggebend ansieht. Und bei dieser Frage der Bewertung der Strukturelemente bestanden doch erhebliche Differenzen: Ist es die berufsständische Organisation, die "Zunftstruktur" der Professionen, die letztlich ein Wissensgefalle zwischen Experte und Klient erst entstehen läßt (Goode), oder ist es z.B. die Entwicklung der zur Anwendung gebrachten Wissensbasis, die durch Verwissenschaftlichung gegebene gesteigerte Verfügungsgewalt über Natur und Gesellschaft, welche die professionelle Selbstkontrolle und den Wertbezug des professionellen Handelns erforderlich macht (Barber)? Entsprechend der jeweiligen Pointierung beginnt der Professionalisierungsprozeß mit der Assoziationsbildung oder der Entwicklung des speziellen Wissens und dessen Einübung in der beruflichen Sozialisation. 16

16

Vgl. die Diskussion der verschiedenen Modelle bei Daheim (1970, S.55f.).

21

I. Das 'klassische' Modell

Neben einer vollgültigen "Professionalisierung", die alle Merkmale realisiert, werden dann "Halb-" und "Scheinprofessionalisierungen" 17 ausgemacht. Gerade am Beispiel der Einordnung der verschiedenen in Frage kommenden Berufe in ein solches Kontinuum der "Professionalisierung" wird deutlich, daß auch in dieser Phase der Theorieentwicklung - trotz einer gewissen Verdichtung des Modells - letztlich noch keine Typenbildung professionellen Handelns entworfen wurde. Es war wichtiger, die Berufe im Hinblick auf ihren Professionalisierungsgrad zu klassifizieren, sah man doch im allgemeinen Trend zur Professionalisierung ein zentrales Phänomen der Modernisierung im Bereich der Berufe. Dieser Orientierung wurde eine homogene Modellbildung untergeordnet: Der Katalog der Merkmale wurde in den empirischen Analysen in seine Bestandteile zerlegt und die untersuchten Berufe im Hinblick auf die Anzahl der erfüllten Merkmale begutachtet. 18 Die Heterogenität der Bezugspunkte - auf der einen Seite die klassischen Professionen, auf der anderen die 'Wissensklasse' -, die schon bei Carr-Saunders und Wilson angelegt war, blieb bestehen. Auch die wohl einflußreichste Untersuchung der 70er Jahre - "The Rise of Professionalism" von M.S.Larson 19 - ist nicht orientiert an einer idealtypischen Entwicklung eines Modells professionellen Handelns. Sie übernimmt im wesentlichen den heterogenen Gegenstandsbereich der bisherigen Professionssoziologie, übernimmt auch die dort verhandelten Charakteristika, jedoch wird der Prozeß der Professionalisierung hier in einer gänzlich anderen Weise interpretiert als im funktionalistischen Modell. Denn dieses Modell - so die Kritik - ist nur eine ideologiegebundene Abstraktion der Sozialwissenschaften, es bildet nicht ab, was die Professionen wirklich sind, sondern nur, was sie zu

17

Auf letzteres weist v.a. Wilensky (1964, S.156) hin. Er meint damit den Um-

stand, daß sich bestimmte Berufe vornehmlich an den gesellschaftlich gewährten Vorteilen der klassischen Professionen orientieren, ohne daß jedoch eine Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erweiterung ihrer Wissensbasis gegeben ist, und ohne daß die entsprechenden Leistungen der Selbstkontrolle und Verantwortlichkeit übernommen werden. 18

Als Beispiele für dieses Vorgehen in empirischen Untersuchungen seien hier nur

einige Arbeiten genannt, die sich mit der zeitweise intensiv untersuchten Frage des Verhältnisses von Profession und hierarchischem Arbeitszusammenhang beschäftigen: R.H.Hall, Some Organizational Considerations in the Professional-Organizational Relationship, in: ASQ 12 (1967), S.461-478; ders., Professionalization and Bureaucratization, in: ASR 33 (1968), S.92-104; J.E.Sorensen/Th.L.Sorensen,

The Conflict of

Professionals in Bureaucratic Organizations, in: ASQ 19 (1974), S.98-106. 19

M.S.Larson, The Rise of Professionalism, Berkeley/Los Angeles/London 1977.

3 Maiwald

22

. Die Professionalisierungstheorie

sein vorgeben. 20 Es erwecke den Anschein, als ob professionelle Autonomie und Prestige auf "natürliche Weise" aus der Wissensbasis und der Wertbindung der Professionen folgen 2 1 , dabei sei letztere nur ein Teil der professionellen Ideologie - wobei im übrigen nie genau untersucht worden sei, ob das Verhalten professioneller Praktiker wirklich ethischer als das anderer ist 2 2 . Im Unterschied dazu analysiert Larson - und darin muß man den eigentlich paradigmatischen Perspektivenwechsel sehen, für den dieses Buch steht das Phänomen der Professionalisierung rein im Zusammenhang sozialer Ungleichheit und Markt- bzw. Produktionsmechanismen. 23 "Professionalisierung" wird hier verstanden als die historische Institutionalisierung einer neuen Form sozialer Ungleichheit, die sich von der ständischen und kapitalistischen dadurch abhebt, daß sie sich an der Sicherung von Marktvorteilen (market power) durch die Kontrolle des Marktes für die je eigene "Expertise" orientiert. 24 Die Professionen beuten nicht schon bestehende Märkte aus, sondern sie schaffen sie erst, indem sie zunächst durch eine spezifische Ausbildung ihrem "Produkt" eine bestimmte Form geben (Produktion der Produzenten), in diesem Zusammenhang die Bedürfnisse des Marktes definieren und einheitliche Standards des Gutes bestimmen. Dabei muß gesichert werden, daß sich die Investition einer langen Ausbildung auch lohnt: Dies geschieht durch berufsständische Schließung nach Art der Gilden, sowie durch ein von politischen Autoritäten gesichertes Monopol auf die Dienstleistung. Neben diesem Monopol muß auch die öffentliche Anerkennung (credibility) der Dienstleistung gesichert sein 2 5 , eine Legitimation, die durch die Anbindung an eine wissenschaftliche Wissensbasis verstärkt wird 2 6 . Ein bestehendes Kompetenzmonopol ermöglicht wiederum die professionelle Kontrolle der Inhalte und des Umfangs (scope) der Dienstleistungen. Die Bildung professioneller Assoziationen erscheint so primär der Realisierung von Marktchancen geschuldet. 2 0 21

Larson , S.xn. Larson , S. xi.

2 2

Larson , S.xi und 59.

2 3

Die Arbeiten der frühen 70er Jahre, wie z.B. W.E.Moore, The Professions: Roles

and Rules, New York 1970, orientierten sich noch weitgehend an dem "funktionalistischen" Modell. Allerdings kündigt sich mit der Betonung der "occupational power" (Ph. Elliott, The Sociology of the Professions, London 1972) schon die neue Betrachtungsweise an. 2 4

Larson , S.xvii.

2 5

Larson , S.38.

2 6

Larson , S.35. Die Anbindung an eine Wissenschaft, wie auch allgemein die Aus-

bildung einer abstrakten Wissensbasis, schafft auch eine Vereinheitlichung des 'Produkts'.

I. Das 'klassische Modell

23

Der historische Ausgangspunkt der Professionalisierung war gegeben, als im Rahmen des Modernisierungsprozesses 27 die Patronage durch ständische Eliten oder Gemeinschaften nicht mehr ausreichte, um die Position und Kompetenz einer steigenden Anzahl von Praktikern auf expandierenden Märkten zu sichern. Die aristokratische Ausrichtung der bestehenden Professionen war zudem in Lebensstil und Ausbildung (gentlemanly education) zu sehr auf Exklusivität ausgerichtet, um breitere Zugangschancen zu ermöglichen. Eine "kollektive Anstrengung" v.a. der unteren Ränge 28 der Profession war nötig, um unter diesen Bedingungen den Status zu sichern und zu heben. Diese erfolgte in zwei gleichzeitigen Bewegungen: zum einen wurden die Privilegien der traditionellen Professionen angegriffen (z.B. durch Durchsetzung einer veränderten Ausbildungsstruktur), zum anderen wurde versucht, die Konkurrenz durch Aufrichtung eines Monopols auf erweiterter Basis zu regulieren. Neben einem "corporativism" war auch eine "corporate class action" notwendig, um die staatlichen Garantien zu mobilisieren. Durch dieses "collective mobility project" der Professionalisierung wurde erfolgreich ein Modell der Exklusivität durch ein neues ersetzt: Dieses operiert nur auf erweiterter Basis, indem es im Rahmen des Modells berufsständischer Schließung die moderne Verbindung von Status mit Arbeit und Ausbildung als allgemeines Modell institutionalisiert. 29 Kurzum: die Nutzung der Marktchancen durch die professionellen Assoziationen wiederum läßt sich auf ein Streben nach Statussicherung durch die "professionellen Bereiche der Mittelschicht" zurückführen 30 , eine Statussicherung, die nur kollektiv erfolgen konnte, da die "individual mobility" des Unternehmers für die Professionen nicht zur Verfügung stand und die "individual mobility" der alten Professionen an das Patronagesystem gebunden war 3 1 . Die Statuszuschreibung war somit vom Erfolg der professionell-organisatorischen Anstrengungen abhängig. 32 2 7

Larson verwendet diesen Begriff nicht, sie bevorzugt vielmehr Karl Polanyis

Begriff der "great transformation", nennt als deren Momente z.B. Industrialisierung und Urbanisierung und in der allgemeinsten Form als "historische Matrix" der Professionalisierung: "In sum, the penetration of market relations into all areas of life is immensely accelerated and completed by capitalism. This character inseperably links the extension of market relations to the rise of a modem class system and to a juridico-political ideology which ideologically makes the isolated inividual into the essential unit of the social and political orders. "(S. 210) 2 8

Die Geschichte der Professionalisierung sei überhaupt in weiten Teilen eine der

Bestrebungen der unteren Mitglieder. (Vgl. S.84) 2 9

Larson , S.5undS.241.

3 0

Dazu: "Professionalization generally implies that status is chosen over class as a

mode of approaching social reality and acting upon it."(S. 159) 31

Larson , S.70.

32

Larson, S. 61.

. Die Professionalisierungstheorie

24

Allgemein wird also in der Larson'schen Untersuchung die Entwicklung der Professionen auf bezüglich ihrer jeweiligen Handlungsprobleme kontingente Einflüsse zurückgeführt. Wie die Behandlung der Professionalisierung am Beispiel Englands und Amerikas zeigt, gilt dies auch für die je konkrete Entwicklung der professionellen Assoziationen. Deren Gestaltung ist eine reine Folge der übergreifenden Bedingungen und Veränderungen 33 - und damit sind v.a. die allgemeinen Produktionsverhältnisse gemeint. Auch die vom klassischen Modell nur in ihrem ideologischen Sinnzusammenhang abgebildeten Charakteristika lassen sich auf die Logik der Sicherung von Marktchancen und Status zurückführen. So z.B. die Gleichheit der Professionsmitglieder und die kollegiale Orientierung: Ein Minimum an Gleichheit unter den Mitgliedern ermöglicht nämlich der Profession, Solidarität als Bindung der Assoziation aufrechtzuerhalten. Zudem legitimiert die Ideologie der Gleichheit die faktisch bestehende interne Hierarchie. 34 Die 'non-profit'-Orientierung der Professionen wiederum ist nur ein Reflex auf die Anstrengungen zur Marktregulierung: Die unternehmerische Form der Mobilität wird aus diesem Grund gering geschätzt und als gefahrlich angesehen.35 Zudem werden werden antikapitalistische Prinzipien deshalb in der Assoziationsbildung inkorporiert, weil dies die öffentliche Anerkennung fördert. 36 Wenn auch das Selbstbild der Professionen allgemein "ideologisch" ist, so muß auch Larson diesbezüglich einen Unterschied machen zwischen den 'klassischen' Professionen und denen, die ihre Existenz bürokratischen und wirtschaftlichen Organisationen verdanken (wie Ingenieure, Marktforscher, Buchhalter; v.a. aber der öffentliche Dienst: Sozialarbeiter, Lehrer, Schulverwaltung). 37 Während erstere noch eine professionelle Autonomie, eine unabhängige Praxis im Sinne der Marktkontrolle erreicht haben, kann bei letzteren, die im Verlauf der späteren sozialstrukturellen Entwicklung (Bürokratisierung, Verwissenschaftlichung, Ausweitung und Konzentration der kapitalistischen Produktion) entstanden sind, davon keine Rede mehr sein. 38 Lar3 3

"The English case shows with clarity that the internal characteristics of pro-

fessionalization and of the professional model are subordinate to broader social and economic structures. "(S. 103 ) 3 4

Larson , S.55 und 205. An anderer Stelle (S.232) wird die kollegiale Orientie-

rung auch als Resultat der gemeinsamen Erfahrung der Privilegiertheit ihrer Arbeit dargestellt. 3 5

Larson, S. 70.

3 6

"Anti-market and anti-capitalist principles were incorporated in the professions'

task of organizing for a market because they were elements which supported social credit and the public's belief in ethicality."(S.63) 3 7 3 8

Larson, S.155. Larson, S.219.

I. Das 'klassische Modell

25

son argumentiert hier ähnlich wie Wilensky (s.o.), wenn sie sagt, daß es hier nur noch um die Erreichung eines höheren sozialen Status geht, wobei man sich der erfolgreichen Strategien der Medizin und des Rechts nur bedient. Die Orientierung an dem Modell der Professionalisierung ist nur noch reine Ideologie, und dies ist es auch, was den modernen Zustand der Professionen kennzeichnet: "...the disparate occupational categories which we call "professions" are essentially brought together by ideology. It is an ideology used by the leaders of professionalization projects and shared by the members of various occupations. It is also shared and sustained by the whole society, not excluding its social scientists." 39 Wenn nun die klassischen Professionen - zumindest in der "ersten Phase der Professionalisierung" - in gewisser Weise 'weniger ideologisch' sind, so liegt dies jedoch nur an ihrer "Produktionsweise", an ihrem direkten Klientenbezug, der sie als "personal professions" kennzeichnet. Larson entwickelt in diesem Zusammenhang ein kaum noch nachzuvollziehendes 'Produktionsmodell', in dem das professionelle "Produkt" in einen Tauschwert (die aufgrund langwieriger Ausbildung erworbene Fertigkeit) und einen Gebrauchswert (die veräußerte Dienstleistung) aufgespalten wird. Die direkte Austauschbeziehung von Professionellem und Klient, d.h. die Tatsache, daß die Güter (hier: der Gebrauchswert) direkt vom Konsumenten verbraucht werden, bewirkt, daß kein Mehrwert erwirtschaftet wird. Es handelt sich um unproduktive Arbeit, die deshalb unabhängig von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ist. 4 0 Dieser Zusammenhang ist ein weiterer Grund für die Klassenunabhängigkeit und die ökonomische Desinteressiertheit der Professionen dieser Phase.41 Aber auch andere professionsethische Elemente werden als Reflex dieser Produktionssituation angeführt: Das professionelle Dienstideal ("universal service to "all of mankind"") z.B. verweist auf die Tatsache, daß unproduktive Arbeit potentiell von allen erworben und konsumiert werden kann, unabhängig vom Kapitalbesitz; diese Marktstruktur hat im Unterschied zum Patronagesystem einen demokratisierenden Effekt, der sich auf die professionelle Orientierung auswirkt. 42 Der intrinsische Wert, den die Ideologie mit der Arbeit verbindet, wird durch die "Sichtbarkeit" des direkt realisierten

3 9

Larson , S.219.

4 0

Larson, S.213.

41

"The claim of disinterestedness conceals, it is true, the potential venality of the

transaction of services; it does nevertheless reflect the fact that this kind of professional labor remains outside (or removed from) the capitalist mode of production. "(S.213) 4 2

Larson , S.213.

. Die Professionalisierungstheorie

26

Gebrauchswertes unterstützt. Die weitere Bindung der Professionen an ihren Beruf wird jedoch als Ergebnis der langwierigen Ausbildung angesehen.43 Hier wird der Versuch unternommen, das, was das eigentümliche an den freien Berufen gerade ausmacht - nämlich die Phänomene der professionellen Autonomie qua Institutionalisierung der Trennung von Binnen- und Aussenkritik und die professionsethische Orientierung - und was sich der Subsumtion unter die Sphäre der Produktion gerade sperrt, nun doch wieder dieser Sphäre einzuverleiben. Diese Phänomene sind letztlich nur "Ideologie" und müssen auf ihren wahren Produktionszusammenhang zurückgeführt werden. Ein solches Unternehmen kann jedoch, wie gerade der letzte Absatz zeigt, nur um den Preis einer äußerst bemühten Verfremdung des Gegenstandes erfolgen. Der Versuch, gänzlich ohne einen Rekurs auf die faktischen Handlungsprobleme auszukommen, bzw. sie nur in terms von Austauschbeziehungen zu thematisieren, bringt dann freilich die entsprechenden vagen Kennzeichnungen und Gemeinplätze hervor, wie z.B. dort, wo das "Bedürfnis", das die 'Produzenten der Medizin' befriedigen, als "vitales und universelles Bedürfnis" beschrieben wird, wobei das "allgemeine ideologische Klima der westlichen Gesellschaften" (der hohe Wert des individuellen Lebens, verankert in der jüdisch-christlichen Tradition "und allgemein der Individualismus") die Funktion unterstützt, die die Medizin zu erfüllen behauptet. 4 4 An anderer Stelle wird bei dem Vergleich der modernen Professionen der Medizin und des Rechts dann doch wieder auf das klassische Professionsmodell zurückgegriffen und im wesentlichen das vorgetragen, was Rüschemeyer schon dreizehn Jahre vorher ausgeführt hat - nur daß dies jetzt als "Marktstruktur" deklariert wird. 4 5

43

Larson , S.229.

4 4

Larson, S. 19.

4 5

Die Medizin sei gekennzeichnet durch a) einen hohen Grad der Vereinheitli-

chung der Wissensbasis qua Anbindung an eine Erfahrungswissenschait, b) durch einen hohen Anteil an Allgemeinmedizinern (zumindest bis in die 60er Jahre), c) durch einen hohen Grad der Differenzierung von Forschung und Praxis, d) durch weitgehende Opposition der Praktiker allem gegenüber, was die private Praxis bedrohen könne, e) durch trotz hoher Einkommensunterschiede flächendeckend bestehender beträchtlicher ökonomischer Vorteile. Diese "Marktstruktur" habe einen hohen integrativen Effekt (S. 166), ganz im Unterschied zu den Juristen, deren Wissensbasis nicht so standardisiert ist, weil sie nicht gänzlich immun gegenüber Klasseninteressen, an den Staat und die "dominante Ideologie" angebunden ist (S.169), und somit einen höheren Interpretationsspielraum besitzt. Zudem läßt sich eine stärkere Fraktionierung dieser Profession aufgrund ihrer heterogene Klientel ausmachen. Vgl. hierzu Rüschemeyer 1964.

I. Das 'klassische Modell

27

Insgesamt kann die historische Darstellung nicht befriedigen, sowohl im einzelnen (so wird z.B. je nach Erklärungsproblem auf die Gilden oder das Patronagewesen als Vorläufer der Professionalisierung verwiesen - zwei sehr unterschiedliche Dinge) wie v.a. im allgemeinen, denn es wird weitgehend eine lupenreine subsumtionslogische Darstellung durchgeführt. Die Professionen werden nicht selbst als Teil des Modernisierungsprozesses betrachtet, sondern sie sind nur Agenten der Realisierung des vorgefaßten Modells 4 6 , in Anpassung an die sehr kursorisch dargestellte historische Entwicklung. Damit kann die grundlegende Frage, warum sich gerade im Bereich der klassischen Professionen (letztlich behandelt sie in der historischen Perspektive nur das Recht und die Medizin) etwas wie eine kollektive Mobilität bzw. Assoziationsbildung ausbildete, letztlich nicht beantwortet werden. Ein ökonomischer Vorteil besteht nämlich in dieser Hinsicht faktisch nur für ein präexistentes "Kollektiv". Der innere Zusammenhang eines solchen Kollektivs kann aber nicht bestimmt werden - in diesem Zusammenhang wird nur historisch unscharf auf die Gildenorganisation verwiesen. Zum anderen wäre die Frage, warum man sich nicht an der unternehmerischen "individual mobility" orientierte, nur durch Rekurs auf die Handlungsproblematik lösbar. Es wird jedoch auf die unmittelbar naheliegende Überlegung, daß z.B. ein 'ärztlicher Unternehmer' ein Unding wäre, nicht rekurriert und sich so die daran anschließende schwierige Aufgabe, diesen Zusammenhang allgemein in terms der ärztlichen Handlungsproblematik auszubuchstabieren, erspart. Entsprechend dieses Defizits auf der Modellebene werden die eigentlich interessanten historischen Übergangsphänomene der Bildung von Professionen nicht zentral behandelt, sondern es wird immer dann eingesetzt, wenn man schon auf eine bestehende Professionsbildung zurückgreifen kann. Diese Defizite der Larsonschen Arbeit vor Augen stellt sich die Frage, warum sie so außerordentlich einflußreich war. Neben einer damals gegebenen Vorliebe für von der Marxschen Theorie inspirierte Modelle ist der Grund wohl v.a. darin zu sehen, daß hier mit dem Zauberwort "Ideologie" faktisch ein sehr unbequemer Teil des Gegenstandsbereichs gestrichen wurde. "Ideologie" bedeutet bei Larson ja nicht nur die - in sich völlig unproblematische analytische Trennung von Selbstbeschreibung und faktischer Strukturiertheit von Sozialität, vielmehr ist schon von vornherein festgelegt, wie diese Strukturiertheit zu verstehen ist: "In capitalist society, the central function of ideology is to conceal the existence of class and the basic structure of exploita4 6

Typisch fur die hier vorgetragene Argumentation ist die nach der allgemeinen

Charakterisierung des Modells aufgeworfene Frage: Was ist nun die organisationelle Aufgabe (organizational task) der Professionen? Hier wird nicht die Entwicklungsgestalt der Professionalisierung anhand von historischem Datenmaterial rekonstruiert, sondern dem historischen Prozeß ein vorgefaßtes Modell nur übergestülpt.

. Die Professionalisierungstheorie

28

tion. f , (156) Alles, was sich diesem Modell einer auf den "Produktionsverhältnissen" fundierten sozialen Ungleichheit nicht subsumieren läßt, ist eine Verschleierung. Und wenn bei dem Prozeß der Professionalisierung nur Klassen- und Marktmechanismen von Bedeutung sind, so müssen die spezifischen Handlungsprobleme der Professionen, auf die ihre Ideologien verweisen, nicht mehr berücksichtigt werden. Daß die weitere Entwicklung der Professionssoziologie gerade durch diese Momente der Ausblendung der professionellen Handlungsproblematik und der Vereinseitigung der Logik der berufsständischen Assoziationsbildung von Expertenberufen gekennzeichnet ist, soll abschließend an zwei Untersuchungen verdeutlicht werden, die den Stand der gegenwärtigen Theoriebildung im Rahmen der hier behandelten Entwicklungslinie am besten repräsentieren: "Professional Powers" von E.Freidson und "The System of Professions" von A. Abbott. 4 7 Die Arbeit von Freidson verfolgt diese Orientierung explizit, schon im Untertitel heißt es: " A Study of the Institutionalization of Formal Knowledge" es geht also primär um die gesellschaftliche Bedeutung der 'Verwissenschaftlichung' der Berufe. Der Bezugsrahmen der Analyse ist dabei im Sinne einer Theorie der nachindustriellen Gesellschaft die Frage nach dem Verhältnis von 'Wissen' und 'Macht'. Dabei muß die Differenz in Anschlag gebracht werden, die zwischen dem Inhalt des formellen Wissens - so, wie es in der Aussendarstellung der Professionen vertreten wird - und der tatsächlichen Anwendung dieses Wissens besteht. Denn die 'Eigenlogik' der professionellen Praxis muß darin gesehen werden, daß sie immer eine Transformation dieses Wissens bedeutet. Dieser Zusammenhang bestimmt den Analysegegenstand: "The analysis of scientific and scholarly texts can be no substitute for the analysis of the human interaction that creates them and that transforms them in the course of using them in a practical enterprise." 48 Erst die professionelle Praxis gibt Aufschluß über die Frage, wie sich abstraktes Wissen in Macht umsetzt. Da Freidson jedoch sowohl den Machtbegriff (jeglicher "Einfluß" oder "Gestaltungsmacht") wie auch den Begriff des formalen Wissens zu opak faßt, greift die von ihm aufgeworfene Technokratieproblematik zu kurz und er gelangt nur zu einer eher verschwommenen "Disziplinierungstheorie" im Foucaultschen Sinne. "Disziplin" habe dementsprechend eine doppelte Bedeutung: sie ist gleichzeitig ein Teilbereich des formalen Wissens und die Konsequenz

4 7

E.Freidson, Professional Powers, Chicago/London 1986; A.Abbott, The System

of Professions, Chicago/London 1988. 4 8

Freidson, S.xi.

I. Das 'klassische' Modell

29

seiner Anwendung auf die Probleme anderer. 49 Allerdings sei formales Wissen nicht automatisch ein Herrschaftsinstrument, wie Foucault nahelege. Die Frage ist vielmehr, wie sich dieser Zusammenhang herstellt, oder: "How is it possible for formal knowledge to have an impact on anything?" 50 Als Hauptakteure dieses Verhältnisses von Wissen und Macht werden die Professionen angesehen. Was versteht Freidson nun darunter? Er geht die Theorieentwicklung durch, verwirft aber die jeweiligen Modelle mit der Begründung, daß es keinen allgemeinen Typus, kein "generic concept" gebe, welches die heterogene Gruppe derjenigen Berufe, die sich als Professionen bezeichnen, auf den Begriff bringen kann. Vielmehr handele es sich hier um ein "sich veränderndes historisches Konzept" 5 1 , genauer gesagt um ein nationalspezifisches "folk concept" 52 . Deshalb muß der Orientierungspunkt einer Begriffsklärung die offizielle Selbstbeschreibung der sich als professions bezeichnenden Berufe sein. Freidson betrachtet in der Folge jedoch nicht z.B. die jeweiligen Satzungen der professionellen Assoziationen oder die Literatur zu professionsethischen Fragen, sondern er bezieht sich auf die offiziell-ftwrokratischen Klassifikationen des "Bureau of the Census". Er kommt dann auch zu dem nicht verwunderlichen Schluß, daß die dort entwickelten Kategorien für eine analytische Klassifikation der Berufe nicht ausreichen. 53 Da sich dieser Weg als unfruchtbar erwiesen hat, entwickelt er kurzerhand eine eigene Definition, wobei er sich direkt auf Larson bezieht. Als Professionen sollen diejenigen Berufe gelten, die a) ihren Lebensunterhalt dadurch sichern, daß sie b) eine Position besetzen, die durch ein System von "credentials" abgestützt wird, welche sich c) auf eine universitäre - und das heißt: formale - Ausbildung beziehen. 54 Im folgenden behandelt Freidson zunächst recht unsystematisch verschiedene Fragen den Status der Professionen betreffend, die aber nur wenig mit der Ausgangsfragestellung zu tun haben und die deshalb hier vernachlässigt werden sollen: der Charakter des "credentialing-systems" wird behandelt, der Status der Professionellen als Sachverständige in Gerichtsverfahren, die Frage 4 9

So kommt er zu dem Schluß: "The disciplines are powerful enough to mold hu-

man beings to their will and to the will of the state. "(S. 6) 5 0

Freidson, S.9.

51

Freidson , S.32.

5 2

Freidson , S.35.

5 3

Freidson , S.57.

5 4

"Such a circumstance is likely to mean that those occupations have developed a

coherent organization that effectively undertakes a "market project" (Larson 1977) that succeeds in carving out a labor-market shelter, a social closure, or a sinecure for its members in the labor market. "(S. 59)

A Die Professionalisierungstheorie

30

eines möglichen Niedergangs der Professionen angesichts der technologischen Entwicklung und der Konkurrenz durch andere Berufe. Interessant wird es dann dort, wo auf der Basis der Feststellung, daß Professionelle typischerweise nicht selbständig praktizieren, sondern Angestellte sind 5 5 , nach dem Umfang der Kontrolle über ihre Arbeit gefragt wird. In gewissem Sinne - so wird festgestellt - besitzen professionelle Angestellte eine "technische Autonomie", denn sie müssen "von Zeit zu Zeit" eine überwachende und zielentscheidende Autorität ausüben, zudem "in gewissen Grenzen" fähig sein, ihre Arbeit auszuwählen und zu entscheiden, wie sie zu tun ist. 5 6 Andererseits seien sie jedoch von der Organisation abhängig, in der sie arbeiten, und deren "Ökonomie" sie nicht beeinflussen können, so daß Freidson zu dem Schluß kommt: "Professional employees do have genuine privilege in being able to exercise considerable discretion in their work. They are, furthermore, to a variable degree sheltered by a credential system. But they must do their work in circumstances that are shaped by the structure of the organization in which they work and by the resources made available to them by others. What powers, then, can they exercise?" 57 Die im Anschluß entwickelte Argumentation läßt sich im wesentlichen wie folgt zusammenfassen. Wenn man die Machtchancen der Professionen untersuchen will, so kann man - wie schon ausgeführt - nicht einfach den Korpus der jeweiligen Wissensbestände zum Ausgangspunkt nehmen, da dieses Wissen nie einfach 'mechanisch' umgesetzt wird, sondern man muß einerseits den Klientenbezug in betracht ziehen und andererseits thematisieren, wer - im Rahmen einer professionsinternen Differenzierung - agiert. Was den Einfluß auf die Klienten angeht, so ist dieser zunächst generell aufgrund des durch die Sicherung des Kompetenzmonopols gegebenen Wissensgefalles sehr hoch. Dies gelte selbst für Bibliothekare, obwohl diese über kein Monopol auf ein spezialisiertes Wissen verfügen: "...individual librarians in particular libraries do have a monopoly of organizationally relevant knowledge that provides them with considerable leverage over the transient client. They, like other professional employees, can control clients in part by restricting information on how to work the system and by keeping them dependent." 58 Die "Macht" über die Klientel ist dabei um so größer, je vereinzelter und unorganisierter diese

5 5

Der Begriff der Selbständigkeit sei im Rahmen einer Marktwirtschaft überhaupt

mißverständlich: die Arbeit ist hier immer ein Gut, unabhängig davon, wie man es verkauft(Vgl. S.125) 5 6

Freidson, S.154.

5 1

Freidson, S.155.

5 8

Freidson, S. 174. Dieses Zitat macht deutlich, wie weit Freidson den Rahmen der

"Machtausübung" spannt.

I. Das 'klassische' Modell

31

ist. 5 9 Was die Position im Rahmen der innerprofessionellen Hierarchie angeht, so unterscheidet Freidson drei "Klassen" von Professionellen: die Praktiker (rank and file), die Wissensklasse (Universität und Forschung) und die administrative Klasse (diejenigen in leitenden Positionen einer Organisation, die dieselbe Ausbildung und "credentials" haben wie die in der Organisation angestellten Professionellen). 60 Die Macht der individuellen Praktiker beschränkt sich auf die oben genannte, aus der "Türwächterrolle" bezüglich der nachgefragten Dienstleistung folgende Macht dem einzelnen Klienten gegenüber. Die Wissensklasse hat faktisch keinen Einfluß auf die professionelle Praxis, während die Macht der administrativen Klasse am größten ist, denn sie bestimmen den organisationeilen Rahmen der Arbeit der Praktiker. 61 Darüberhinaus ist ihr Einfluß auf die Öffentlichkeit, auf die Definition der öffentlichen Bedürfnisse und die korporativen Ziele der professionellen Assoziation am größten: "By virtue of their commitment to private capital they select from and develop formal knowledge in ways that advance the interests of capital, as do accounting and law firms that serve corporations." 62 Freidsons Analyse liegt ein Begriff der Professionen zugrunde, der diese nur noch als Expertenassoziationen versteht, die durch ein rechtlich abgesichertes System von "credentials" ein Dienstleistungsmonopol aufrechterhalten, das ihren Mitgliedern eine privilegierte Berufsposition beschert. Die professionelle Assoziationsbildung wird nur noch in bezug auf die Konkurrenz um Monopole und Dienstleistungen auf einem "Marktplatz" der Expertenberufe gesehen, wobei die Professionen im Fall des Erfolgs die "gatekeeper" dieser Dienstleistungen sind. Dieses Konzept greift zu kurz, um die von ihm aufgeworfene wichtige Technokratieproblematik befriedigend behandeln zu können. Die Frage, wie abstraktes, formalisiertes Wissen in seiner Anwendung eine als autonom verstandene soziale Realität beherrscht, kann nicht geklärt werden, vielmehr geht es letztlich nur noch darum, welchen "Einfluß" die Experten haben, die dieses Wissen verwalten. Es geht nicht mehr allgemein um das Verhältnis von Wissen und Macht, sondern nur noch um die Macht der Experten, die ihnen aufgrund ihrer privilegierten Position zukommt. Dabei kann Freidson diesen Einfluß - nicht zuletzt aufgrund des sehr opaken Machtbegriffs - nicht mehr von denjenigen Einflußchancen absetzen, die zum einen allgemein abhängig sind von der durch den Beruf bestimmten Position innerhalb eines Systems sozialer Ungleichheit, oder die zum anderen einem allgemein steigenden Wissensgefalle geschuldet sind, welches eine Folge der fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung der Berufe ist. So verbleiben 5 9

Freidson, S.218.

6 0

Freidson, S.82f. Freidson, S.213f.

61 6 2

Freidson, S.222.

32

. Die Professionalisierungstheorie

seine Einschätzungen in dieser Hinsicht über weite Strecken auf dem Niveau von Gemeinplätzen (siehe das Bibliothekarsbeispiel). Obwohl doch die professionelle Praxis anvisiert ist, kann er aufgrund des verkürzten Professionalisierungskonzepts nicht auf die Ebene der Umsetzung des Wissens z.B. in der Interaktion zwischen Professionellem und Klient vordringen. Dazu wäre eine Analyse der je konkreten Handlungsprobleme der Professionen notwendig. Das Fehlen dieser Perspektive wird bei der Betrachtung der professionellen Arbeitsautonomie besonders deutlich: es geht hier nur um Spielräume vis-â-vis eines hierarchisch-organisationell bestimmten Arbeitsablaufs 63. Über dieses - sich bezüglich jeglicher Berufstätigkeit stellende allgemeine Problem von Fremdbestimmtheit vs. Eigenbestimmtheit der Arbeit geht die Analyse nicht hinaus. Damit kann eine sich aus der Handlungsproblematik selbst ergebende Notwendigkeit der je eigenen Entscheidungskompetenz, wie sie bei den freien Berufen angelegt ist, nicht in den Blick kommen. Es kann nicht gefragt werden 'Wo ist professionelle Selbstkontrolle notwendig, da die Lösung des Handlungsproblems nicht im Rahmen hierarchischer Kontrolle oder Marktkontrolle zu leisten ist?', sondern nur 'Wie groß ist der Handlungsspielraum, der den professionellen Angestellten im Rahmen der Arbeitsorganisation gewährt wird?' In dieser Perspektive kann das spezifische der professionellen Selbstkontrolle, und damit letztlich das, was diese Berufe von anderen unterscheidet, nicht mehr bestimmt werden. 64 Abbott nimmt einen ähnlichen Ausgangspunkt wie Freidson, wenn er moniert, daß in der bisherigen professionssoziologischen Diskussion zu sehr auf die organisationeilen Momente (Assoziationsbildung, Kodex einer Professionsethik, Lizensierung) geachtet wurde, während die "Inhalte professioneller Aktivität" und die "interprofessionelle Konkurrenz" unterbelichtet blieben. Er hebt dagegen in Betonung v.a. des letzteren Moments hervor, daß die Professionen ein System bilden, dessen voneinander abhängige Einheiten die

6 3

Nicht von ungefähr spricht Freidson in diesem Zusammenhang von "technischer

Autonomie". 6 4

In diesem Ansatz kommen dann auch die noch im "funktionalistischen Modell"

thematisierten Elemente der professionellen Selbstkontrolle - wie Institutionalisierung der Differenz von Binnen- und Außenkontrolle, Ausbildung einer Professionsethik -, die man ja auch als eine innerprofessionelle Sicherung gegen eine technokratische Oktroyierung der Wissensbestände auf die Lebenspraxis verstehen könnte, nur noch als ein 'Meßkriterium' unter anderen im Hinbück auf die "relative Stärke" einer Profession vor.

I. Das 'klassische Modell

33

konkreten Professionen mit ihren "jurisdictions" 65 sind. Professionen entwickeln sich nicht unabhängig voneinander, sondern sind eingebunden in ein Marktsystem der Dienstleistungen, in dem jede Veränderung einer Profession sich auf das Gefüge als ganzes auswirkt, in dem sich jeder professionelle Anspruch auf eine "jurisdiction" mit den schon bestehenden auseinandersetzen muß. Die zentrale Perspektive bei der Betrachtung der Geschichte der Professionen ist dementsprechend die Geschichte der Konflikte um "jurisdictions". 6 6 Wiederum ähnlich der Freidsonschen Analyse lautet die allgemeine Fragestellung: Wie kontrollieren die Berufsgruppen Wissen und Fertigkeiten? In dieser Hinsicht wird der Grad der Abstraktheit des Wissenssystems als ausschlaggebend angesehen, denn nur durch einen gewissen Abstraktionsgrad, der eine Entfernung vom Alltagswissen einrichten kann, kann eine Berufsgruppe ihren Problembereich und ihre Aufgaben selbst definieren. Professionen werden deshalb verstanden als "exklusive Berufsgruppen, die ein irgendwie abstraktes Wissen auf konkrete Fälle anwenden" 67 . Die Abstraktion ist das entscheidende Moment für den Erfolg eines "jurisdictional claim" wie für seine Aufrechterhaltung in der Konkurrenz zwischen den Professionen. 68 Das abstrakte Wissen ist dabei wesentlich "akademisches Wissen", dessen zentrale Funktion weniger in seiner Bedeuung für die Lösung praktischer Probleme besteht als darin, durch Anknüpfung an allgemeine kulturelle Werte (den hohen gesellschaftlichen Wert der Wissenschaftlichkeit) die "jurisdiction" zu legitimieren. 69 Neben dem eigentlichen Bereich des Wissens ist die Domäne der professionellen "Gerichtsbarkeit" v.a. die professionelle Praxis selbst, wobei Abbott hier drei unterschiedliche Phasen unterscheidet: die Phase der Problemklassifikation bzw. -einordnung (diagnosis), die theoretische Problembearbeitung oder das Schlußfolgern (inference), sowie die Problembehandlung (treatment). Die "Diagnose" liefert den Informationsinput für das Wissenssystem, die Behandlung ist der Output. Das Schlußfolgern wird zwar als der eigentlich "profes-

6 5

Dieser Begriff, wörtlich etwa mit "Gerichtsbarkeit" zu übersetzen, bezeichnet

die Einheit von autoritativem Anspruch auf die Ausübung einer Tätigkeit und der erfolgreichen Kontrolle des Tätigkeitsbereichs. 6 6

Abbott 1988, S.2.

6 7

Abbott, S.8.

6 8

Abbott, S.9.

6 9

"In fact, the true use of academic professional knowledge is less practical than

symbolic. "(S. 54)

34

. Die Professionalisierungstheorie

sionelle Akt" bezeichnet 70 , ist jedoch nur dann notwendig, wenn der 'Automatismus' zwischen "Diagnose" und "Behandlung" versagt, d.h. dann, wenn ein Fall "unklar" ist 7 1 . Daß bei dieser Betrachtung letztlich eine rein technische Perspektive eingenommen ist, zeigt sich auch darin, daß als ausschlaggebende Momente der Koordinierung der drei Phasen bezüglich des Erfolgs in der interprofessionellen Konkurrenz "Erfolgschancen" und "Wahrscheinlichkeiten" in einem mathematischen Sinne, allgemein die "Effizienz der Problembearbeitung" genannt wird. 7 2 Der Anspruch auf "jurisdiction" ziele auf verschiedene "Foren", auf denen er eingelöst werden muß: es sind dies die - schon bekannten - Momente der öffentlichen Anerkennung (public jurisdiction), der Anerkennung durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung (legal jurisdiction), sowie der informellen oder faktischen Durchsetzung am Arbeitsplatz (workplace jurisdiction). Dieser Anspruch kann dann in verschiedener 'Intensität' praktisch realisiert werden, wobei die Bandbreite von "voller und endgültiger Kontrolle" bis hin zu klientenorientierter Arbeitsteilung und Unterordnung reicht. 73 Die Einflüsse auf das System der Professionen können entweder externe sein, welche Felder der "jurisdiction" öffiien und schließen, oder interne, die darin bestehen, daß neue oder schon bestehende Professionen neue Betätigungsfelder suchen. 74 Die externen Einflüsse können dabei eine Folge der Technologieentwicklung, des Organisationswandels sein oder in einer Konkurrenz von außerhalb bestehen, die internen können auf die Wissensentwicklung oder die Ambitionen einer konkurrierenden Gruppe zurückgeführt werden. Desweiteren werden übergreifende Einflüsse aus der "Systemumgebung" genannt und ausführlich behandelt, die uns hier aber nicht interessieren sollen. Die Frage soll vielmehr sein: Welchen Stellenwert hat im Rahmen dieser 'Systembetrachtung' die professionelle Praxis, die, so war j a der Anspruch 75 ,

70 "Professional thinking resembles chess. The opening diagnosis is often clear, even formulaic. So also is the endgame of treatment. The middle game, however, relates professional knowledge, client characteristics, and chance in ways that are often obscure. "(S. 48) 7 1

Abbott , S.49.

7 2

Abbott, S.50.

7 3

Abbott, S.69f.

7 4

Abbott, S.90.

7 5

Deutlich wiederholt auf S. 112: "This model for professional life remedies the

basic defects of the professionalization concept. Its fundamental postulates are (1) that the essence of a profession is its work not its organization; (2) that many variables

I. Das 'klassische Modell

35

hier in einem allgemeinen Modell erstmals zu ihrem Recht kommen sollte? In dieser Hinsicht ist wichtig, wie Abbott die Handlungsproblematik der Professionen bestimmt. Als Arbeitsgebiet der Professionen sieht er "menschliche Probleme, die empfanglich/offen für Expertendienste sind" 7 6 . Die dabei wirksamen "objektiven" Handlungsprobleme werden jedoch nicht weiter behandelt, es geht v.a. um die "reinterpretation" dieser Probleme durch die Professionen, die "subjektiven" Probleme sind bezüglich der Untersuchung professioneller Praxis von ausschließlicher Bedeutung: "To investigate the subjective qualities of jurisdictions is thus to analyze the mechanisms of professional work itself." 77 Daß dieses Konzept für eine tragfahige empirische Analyse nicht ausreicht, wird am Beispiel der Fallstudie "Lawyers and their Competitors" 78 deutlich. Hier wird in einem Vergleich der englischen solicitors mit den amerikanischen Anwälten untersucht, warum erstere - ganz im Unterschied zu letzteren - ihre gute Position Anfang des 20.Jahrhunderts verschlechtert haben. Drei Elemente - so das Fazit - seien in diesem Zusammenhang von Bedeutung gewesen: die allgemeine soziale Umgebung (im Rahmen v.a. der Bevölkerungsentwicklung und der Industrialisierung veränderten sich die Größe des Marktes für die Dienstleistungen wie auch die Aufgabenbereiche (im Wirtschafts- und Zivilrecht), die Konkurrenten, die versuchten, die neuen Gebiete zu kontrollieren, sowie natürlich das Handeln der Professionen selbst. Im Unterschied zu den amerikanischen Anwälten haben sich die solicitors den veränderten Bedingungen schlechter anpassen können. Aus Gründen einer direkten Statusorientierung haben sie die Grenzen ihrer professionellen Strukturen zu rigide gezogen, so daß eine Vergrößerung der Arbeitsleistung (manpower) begrenzt war. So mußten sie einige Bereiche an andere Gruppen abgeben und sich auf das "Kernland" ihrer professionellen Arbeit zurückziehen. Wodurch sich dieses "Kernland" jedoch bestimmt, wird nicht deutlich: allgemein handele es sich dabei um "areas in which its subjective jurisdiction is particularly strong" 79 . Direkt im Anschluß wird jedoch die Frage, um was für ein Gebiet es sich dabei im Einzelfall handele, als Frage der Entscheidung der

affect the content and control of that work; and (3) that professions exist in an interrelated system." 7 6

Abbott, S.35.

7 7

Abbott ., S.40. "Arbeit" meint bei Abbott letztlich nur einseitig 'Definition und

Kontrolle der Arbeit'. Vgl. auch A Abbott, Jurisdictional Conflicts: A New Approach to the Development of the Legal Professions, S.190, in: American Bar Foundation Research Journal, Chicago 1986, S. 187-224. 7 8 7 9

Abbott, S.247ff. Abbott, S.276.

. Die Professionalisierungstheorie

36

Profession dargestellt, die von vielem abhängen könne (z.B. dem Status, der mit dem in Frage kommenden Gebiet verbunden ist). In dieser Analyse werden nicht strukturell die Handlungsprobleme bestimmt, sondern nur sehr global die inhaltlichen Bereiche einer historischen "jurisdiction" der Anwälte genannt ("business affairs like bankruptcy and companies; property matters such as conveyancing, wills, and trusteeship; advocacy before courts and administrative tribunals; and finally, general advice on business, legal, and personal affairs." 80 Was das spezifisch juristische oder anwaltliche Moment des Zugangs zu diesen Bereichen ausmacht, wird jedoch nicht ausgeführt. Aus diesem Grund verbleibt die Darstellung auch letztlich im Deskriptiven. Zusammenfassend kann man sagen, daß auch bei Abbott die 'Systemperspektive' letztlich ausschlaggebend ist: die professionelle Arbeit kann nur in terms der im System der Professionen ausgebildeten Selbstdefinition bestimmt werden, nicht in terms der je konkreten Handlungsproblematik. 81 Hierfür müßte eine Verschränkung der "objektiven" Probleme mit der sogenannten "subjektiven" Interpretation dieser Probleme erfolgen, die im Modell jedoch nicht angelegt ist. Aus diesem Grund kann dieses Modell auch die Entwicklung der Rechtsberufe nicht im Zusammenhang der Entwicklung

des

Rechts abbilden. 82 Hier erweist sich die Begrenztheit des Ansatzes: obwohl 8 0 81

Abbott., S.257. So sieht Abbott auch keine Verbindung zwischen dem Handlungsproblem und

der Ausbildung einer Professionsethik. Die Entwicklung von Professionsethiken wird nur im Zusammenhang der externen wie internen Statuszuschreibung verstanden (vgl. A.Abbott, Professional Ethics, in: AJS 88, 1989, S.855-885). 82

Interessanterweise ist es entgegen den oben genannten Ausführungen gerade die-

se Verklammerung, die Abbott an einer Stelle für eine "gute Untersuchung" fordert: "Good studies require a clear conception of the objective task and its possibilities in order to analyze in detail how the subjective jurisdiction was actually constructed. "(S. 278) Dies hätte zwar auch in der Fallstudie über die Anwälte nicht im Mittelpunkt gestanden, solle aber exemplarisch am Beispiel der Anayse der Entwikklung der Psychiatrie in den USA durchgeführt werden. Diese Fallstudie zeichnet sich zwar wiederum durch hohe Sachkenntnis aus, die angekündigte Synthese erfolgt jedoch nicht: dazu ist die Charakterisierung des allgemeinen Handlungsproblems als "personal problems with life" viel zu grob. Nachdem festgestellt wird, daß bezüglich dieses Problems noch vor Ende des 19. Jahrhunderts eine hohe 'Problemunschäife' herrschte, so daß es noch keine exklusiv mit diesem Problem beauftragte Spezialisten gab, beginnt sofort die Narration der Entwicklung von Neurologie zur Psychoanalyse. Das eigentliche Problem von Krankheit und Therapie in ihrer je historischen Erscheinungsform wird nicht beleuchtet.

37

I. Das 'klassische Modell

das Augenmerk sowohl auf die Konkurrenz der Professionen wie auf deren konkrete Arbeit gerichtet werden soll, bewirkt der zu kurz gefaßte Begriff von Professionen als Expertenberufe, die durch je eigene "jurisdictions" gekennzeichnet sind, daß der Zugang zur Ebene konkreter Handlungsprobleme versperrt bleibt. Im Grunde findet nur eine Analyse von organisationellen Abgrenzungen unter den Bedingungen der Konkurrenz auf dem Markt der Dienstleistungen statt. Die hier skizzierte Linie ist natürlich hochgradig selektiv in der Hinsicht, daß nicht alle Entwicklungsstränge behandelt, geschweige denn ein repräsentativer Überblick über die Publikationen gegeben werden konnte. Nichtsdestotrotz können die hier behandelten Arbeiten die wesentlichen Stadien der dominanten professionssoziologischen Modellbildung markieren. Bei einem solchen Überblick über die Entwicklung des 'Standardmodells' werden die grundsätzlichen Schwächen dieses Modells deutlich. Sein größtes Problem ist, daß es nicht klar zwischen zwei Gegenständen unterscheiden kann, die es doch in ein und derselben Theorie unterbringen will: die klassischen Professionen und die Expertenberufe. Dabei läßt sich v.a. bei den gegenwärtigen Vertretern dieses Modells eine Tendenz erkennen, letztere mit einem Modell zu beschreiben, welches am Beispiel der ersteren entworfen wurde, um so Anschluß an Theorien der nachindustriellen Gesellschaft (Stichwort 'technische Intelligenz' oder 'new class') zu suchen. Auf diese Weise wird jedoch - das sollte deutlich geworden sein - weder den Professionen im eigentlichen Sinne, noch dem Phänomen der steigenden Bedeutung von Expertenberufen, die auf einer wissenschaftlich-abstrakten Wissensbasis operieren, in der Theoriebildung Genüge getan. 83 Es ist interessant zu sehen, daß dieses Problem einer mangelnden Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen Gegenständen schon zu den 'Geburtsfehlern' der Theorie gehörte und im Verlauf der Entwicklung nicht behoben wurde. Ja, es hat sich in gewisser Weise sogar 'radikalisiert', da im Gefolge der ideologiekritischen Betrachtung die 'unbequemen' Elemente, welche auf 8 3

Das Problem, das hinter dieser Modellbildung steht, scheint mir eine For-

schungsstrategie zu sein, die nicht auf die Entwicklung eines Idealtypus professionellen Handelns ausgeht, welcher den Bezugsrahmen für eine 'Bewertung1 einzelner Berufe im Hinblick darauf, ob sie als Professionen anzusehen sind, abgeben könnte, sondern die vielmehr

an einer Klassifikation

gesellschaftlich

etablierter

Ex-

pertenberufe interessiert ist: gesucht ist der größte gemeinsame Nenner, unter den sich alle die Berufe subsumieren lassen, die sich selbst als "professions" ausweisen. Vielleicht läßt diese im englischsprachigen Raum vorhandene ' Selbstbeschreibung' vieler Berufe ein solches Vorgehen naheliegend erscheinen, jedoch werden im folgenden auch andere Ansätze englischsprachiger Autoren vorgestellt. 4 Maiwald

. Die Professionalisierungstheorie

38

die klassischen Professionen und ihre spezifische Handlungsproblematik verwiesen, zwar einerseits aus dem Gegenstandsbereich verbannt wurden, andererseits die Theoriesprache immer noch prägen. 84 Man darf auch nicht übersehen, daß selbst diejenigen Autoren (Larson, Freidson, Abbott), die die Professionalisierung als einen Mechanismus verstehen, der prinzipiell allen Berufen offen steht, deren Wissensbasis generalisierbar ist, sich in ihrer Darstellung auch inhaltlich in hohem Maße - beinahe ausschließlich - mit den klassischen Professionen der Medizin und des Rechts beschäftigen. Der Effekt dieses Perspektivenwechsels besteht nun weniger darin, daß die Theorien seiner Protagonisten konkret Eingang in die empirische Forschung gefunden haben, als vielmehr darin, daß in der gegenwärtigen Professionssoziologie nahezu einhellig das Augenmerk primär auf die äußeren Umstände der berufsständischen Assoziationsbildung - gegebenenfalls im Zusammenhang mit dem System sozialer Ungleichheit, in der sie stattfindet - gerichtet ist. 8 5 Der Bezug zum professionellen Handeln selbst ist dabei weitgehend getilgt. 8 6 In dieser Hinsicht kann man sagen, daß das gegenwärtig dominierende Modell sogar hinter den Ansatz der "funktionalistischen Theorie" zurückfallt, welche mit den Phänomenen der professionellen Selbstkontrolle, der Ausbildung einer Professionsethik, der fehlenden Profitorientierung etc. dasjenige, was das eigentlich interessante und erklärungsbedürftige der Professionen ausmacht, immerhin noch benennen und einen Zusammenhang zwischen der professionellen Praxis und der Struktur der Assoziationsbildung 8 4

Und zwar bis in die Details des Modells hinein: man denke nur an die Kenn-

zeichnung der professionellen Tätigkeit als Abfolge von "diagnosis", "inference" und "treatment" bei Abbott. 8 5

Besonders deutlich im Fall der sozialgeschichtlichen Betrachtung der Profes-

sionen. Vgl. C.Huerkamp, Ärzte und Professionalisierung in Deutschland, in: GuG 6 (1980), S.345-382; Th.Göbel, Ärzte und Anwälte in den USA 1800-1920, in: GuG 3 (1990), S.318-342; sowie die Arbeiten in W.Conze/J.Kocka

(Hg.), Bildungsbürgertum

im 19.Jahrhundert, Stuttgart 1985; H.Siegrist (Hg.), Bürgerliche Berufe, Göttingen 1988; G.Cocks/K.H.Jarausch

(Hg.), German Professions, 1800-1950, New York/Ox-

ford 1990. 8 6

Um hier einem Mißverständnis vorzubeugen: es gibt natürlich eine Vielzahl von

Untersuchungen, die die Berufspraxis der Professionen berühren. Dabei werden bestimmte Problemlösungen, die Entwicklung von Routinen, die Beziehungen zu Klienten, zur Öffentlichkeit etc. behandelt, kurz: die Konkretion der Dimensionen des 'roleset' (Merton) der Professionellen beschrieben. In der Regel handelt es sich bei diesen Analyse jedoch um eine Deskription, für die das professionssoziologische Modell nur den äußerlichen Rahmen abgibt. Demgegenüber wird hier im folgenden vertreten, daß das Handeln bestimmter Berufe - nämlich der Professionen - gar nicht ohne ein professionalisierungstheoretisch gehaltvolles Modell adäquat abgebildet werden kann.

Π. Professionelles Handeln

39

nahelegen konnte. Die Erklärungsdefizite der bisher behandelten Untersuchungen machen aber deutlich, daß ein Modell, das systematisch den Aspekt des konkreten Handlungsproblems, vor dem die jeweiligen Professionen typischerweise stehen, ausblendet, die Struktur und die historische Entwikklung der Professionen auf der Ebene einer allgemeinen Theorie nicht adäquat abbilden kann. Im folgenden soll nun ein Ansatz vorgestellt werden, der explizit versucht, das äußere Erscheinungsbild der Professionen mit der Logik professionellen Handelns im Hinblick auf eine allgemeine Professionalisierungstheorie zu verzahnen.

Π. Professionelles Handeln Der Ansatz einer auf die konkrete Handlungsproblematik gerichteten Professionssoziologie wurde schon früh, nur sechs Jahre nach Erscheinen der Untersuchung von Carr-Saunders und Wilson, vorgetragen, und zwar mit dem Aufsatz "The Recent History of Professionalism in Reaktion to Social Structure and Social Policy" von T.H.Marshall 87 . Auch Marshall stellt darin fest, daß die professionellen Assoziationen weitgehend für die Sicherung des relativ hohen Einkommens und Status ihrer Mitglieder verantwortlich sind. Die Charakteristika der dabei von den Assoziationen angewendeten "Politik" werden von ihm in ähnlich Weise wie bei den bisher referierten Modellen gesehen: sie versuchen a) die technische Kompetenz der Mitglieder durch Zulassungsprüfungen zu kontrollieren, was eine Kontrolle der beruflichen Sozialisation einschließt, b) eine Professionsethik zu entwickeln, die ein Dienstideal, ein Verbot kommerzieller Praktiken wie Werbung und Konkurrenz, sowie einen allgemeinen Respekt vor dem Vertrauen der Klienten beinhaltet und c) das Einkommen zu sichern, die Arbeitsbedingungen und die Innen/AußenAbgrenzung aufrechtzuhalten. Unter diesen Mechanismen interessiert ihn besonders die Ausbildung eines ethischen Kodex als das herausgehobene Merkmal einer professionellen Selbstkontrolle. Im Unterschied zu den bisher behandelten Autoren versucht Marshall jedoch nicht sofort, dieses Phänomen auf Umstände zurückzuführen, die dem professionellen Handeln selbst äusserlich sind, sondern er fragt sich, ob es nicht vielmehr einen immanenten Grund gibt, ob dies Phänomen nicht auf eine Eigenschaft der Professionen verweist, die diese von anderen Berufen unterscheidet. 88 8 7

In: T.H.Marshall , Sociology at the Crossroads and other Essays, London 1963.

8 8

Marshall geht direkt auf die dann später so prominent vertretene Überlegung ein,

nach der Dienstideal und ethische Verpflichtungen nur einen Versuch darstellen, die wahren Motive zu verschleiern und eine künstliche Knappheit einzurichten, die den Professionen ganz konkrete Vorteile verschafft: "I do not propose to deal directly with the evidence for and against this view, but to approach the subject indirectly by asking

. Die Professionalisierungstheorie

40

Die Grundlage der Ausbildung einer Professionsethik sieht Marshall in der spezifischen Beziehung zwischen dem Professionellen und seinem Klienten gegeben: es handelt sich dabei um eine Vertrauensbeziehung, die zwei Gründe hat, welche auf die Differenz zu Marktbeziehungen verweisen. Der zentrale Unterschied zu Beziehungen letzteren Typs ist nicht in der Tatsache zu sehen, daß es sich im Fall der professionellen Tätigkeit um Dienstleistungen handelt, denn obwohl man bei diesen das nachgefragte 'Gut' nicht vor dem Kauf prüfen kann, sind erfolgte Dienstleistungen doch in der Regel nach allgemeinen Kriterien zu begutachten: Die Marktkontrolle kann greifen. Der entscheidende Punkt ist nun, daß dies für professionelle Dienstleistungen eben nicht gilt. Sie lassen sich der Logik von Vertragsbeziehungen nicht subsumieren, denn es gibt für sie keine allgemeinen und standardisierten Bewertungskriterien. Wie im Fall eines bei einem Künstler bestellten Portraits gebe es tendenziell keine Möglichkeit, die geleistete Arbeit zu kritisieren. Zudem sind in der Interaktion zwischen Professionellem und Klient persönliche Qualitäten von Bedeutung, die sich in einem Kaufvertrag nicht spezifizieren lassen: während auf der einen Seite der Professionelle nicht nur seine Fertigkeiten gibt, sondern als 'ganze Person' seine Arbeit ausübt, so muß er - um diese Arbeit am besten durchführen zu können - auf der anderen Seite auch eine "intime" Kenntnis von seinem Klienten besitzen. 89 Die professionellen Tätigkeiten sind also nicht standardisierbar und in einer spezifischen Weise an die konkrete Person des Professionellen gebunden. Der zweite Grund für die Vertrauensbeziehung liegt in einer spezifischen "Unwissenheit" (ignorance) des Klienten, die es in dieser Form in Marktbeziehungen auch nicht gibt: "He [der Klient, K.M.] often hardly knows what to ask for, let alone how it can be provided. He must surrender all initiative and put himself in his lawyer's hands or under his doctor's orders. That is the great difference between the services of professionals and the services of wage-earners or salaried employees. Authority passes from buyer to seller. It is true that the modern salesman tries to use authority, but with a difference. When the doctor says, 'Take more exercise', it is a command. When the associated greengrocers plaster the hoardings with the slogan, 'Eat more fruit', it is an effort of mass suggestion." 90 Die Asymmetrie der Beziehung liegt im Vergleich zu Marktbeziehungen genau umgekehrt. Die "Autorität" liegt beim Anbieter der Dienstleistung, da der Klient - aus welchem Grund wird von Marshall nicht gesagt - sein Anliewhether the ethical code is an arbitrary fabrication of the professional mind or whether it reflects some real characteristics which distinguish the professions from the trades. "(S. 153) 8 9

Marshall , S. 154. Marshall nennt die große Bedeutung, die dem Familienarzt von

der British Medical Association zugeschrieben wurde. 9 0

Marshall, S.155.

Π. Professionelles Handeln

41

gen nicht präzisieren kann, er hat keine klare 'Zielvorstellung'. Deshalb muß der Professionelle, wie das Beispiel des Arztes zeigt, sozusagen stellvertretend für den Klienten bestimmen, was zu tun ist und was erreicht werden muß. Damit ist das Moment bezeichnet, was Rüschemeyer später als eine 'nur begrenzte Fähigkeit des Klienten, die Ziele und den Inhalt der professionellen Dienstleistung zu definieren' bezeichnet hat. Doch während bei Rüschemeyer dieses Moment im wesentlichen auf das Wissensgefalle zurückgeführt wird, ist hier angelegt, daß hinter der Konsultation eines Professionellen selbst etwas 'diffuses', ein unbestimmtes Problem, steht. Die einfache Differenz von Laie und Experte kann nicht dafür verantwortlich sein, daß auf Seiten des Kunden keine Vorstellung von dem Zweck der Inanspruchnahme der Dienstleistung besteht, sie kann sich nur auf die Mittelwahl erstrecken. Bestenfalls kann der Experte versuchen, die Zweckorientierung des Kunden zu manipulieren. Er steht aber nicht wie der Professionelle vor der Aufgabe, die Zielvorstellung stellvertretend für den Klienten zu realisieren. Neben der aus der Vertrauensbeziehung folgenden Loyalitätsverpflichtung dem Klienten gegenüber tritt als zweites basales Element der Professionsethik die Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber. Aus der Gleichzeitigkeit dieser Orientierungen kann sich ein Spannungsverhältnis ergeben, denn der Klient hat nicht - wie der Kunde - immer recht: das herausragendste Beispiel ist hier das Verhältnis zwischen Mandant und Strafverteidiger, in dem die Verpflichtung dem Recht gegenüber durchaus in Konflikt mit dem Mandanteninteresse treten kann. 9 1 Auch wenn es diesbezüglich Regeln von Seiten des Staates oder Profession geben kann, muß doch der Professionelle im Einzelfall diesen Konflikt selbst entscheiden. Das Fazit muß nach dieser Betrachtung lauten: "...professionalism is an idea based on the real character of certain services. It is not a clever invention of selfish minds." 9 2 Wenn nun die professionsethischen Standards im Zusammenhang der so skizzierten Problemstruktur der professionellen Berufe gesehen werden, so muß dies nicht heißen, daß die Professionen diese auch immer erfüllt haben. Es handelt sich vielmehr um Standards, an denen sie sich messen lassen müssen. Allerdings wird die Handlungsproblematik, die für das Vertrauensverhältnis von Professionellem und Klient ausschlaggebend ist, d.h. das, was ärzt-

91

Als weiteres Moment der "Unwissenheit" des Klienten kann hier eine Rolle

spielen, daß dieser häufig auch nicht weiß, was 'gut für ihn ist': "The guilty criminal wants an acquittal, but what he needs, and what his lawyer must give him, is a fair trial. "(S. 156) 9 2

Marshall, S.166.

. Die Professionalisierungstheorie

42

liches oder anwaltliches Handeln als solches ausmacht, von Marshall nicht weiter untersucht. Seine Betrachtung gewinnt ihre Plausibilität eher von der Brillanz der Darstellung als von einer eingehenden Analyse. Zudem geht es ihm in diesem Aufsatz weniger um die Professionen selbst, als im wesentlichen um die Frage, ob sie sich in die Institutionen des Sozialstaats integrieren lassen. Entsprechend der nicht ausreichend vorangetriebenen Analyse gibt es auch Unklarheiten bei der Einschätzung der Professionalisierbarkeit anderer Berufe: Einerseits stellt er die Prognose, daß die Professionalisierung weitere Berufe erfassen wird und auch - v.a. i m sozialen Bereich des öffentlichen Dienstes - erfassen kann, andererseits sei aber die Entwicklung besonders bei den technischen Berufen, den eigentlichen 'Experten', nur eine "Semi-Professionalisierung": "...at a lower social level the picture is different. Here the remarkable thing is the rapid spread of the forms of professional organization among occupational groups which are not professions in the full meaning of the term (...) The foundation of the whole structure [dieser Formen, K.M.] is the specialized technique, and it is the multiplication of these techniques that has made possible the spread of these organizations." 93 Ein weiterer Ansatz zur Betrachtung der konkreten Rollenstruktur der professionellen Berufe ist mit den Arbeiten von T.Parsons gegeben. Die Untersuchung der professionellen Berufe spielt bei seiner Theoriebildung überhaupt eine herausgehobene Rolle 9 4 . A n dieser Stelle kann es jedoch - wie überhaupt in der bisherigen Diskussion der theoretischen Positionen - nur um die Betrachtung einiger isolierter Elemente gehen: Es kann hier nicht die allgemeine Professionssoziologie Parsons i m Rahmen seiner Theorie des sozialen Systems thematisch sein, sondern nur diejenigen Elemente, die über die innere Logik des professionellen Handelns Aufschluß geben. Parsons nimmt in seinem 1939 erschienenen Aufsatz "The Professions and Social Structure" 95 wie Marshall den Ausgangspunkt der Analyse in einem Vergleich der professionellen Berufe mit denen der wirtschaftlichen Sphäre. Dieser Vergleich wird durch die herausragenden Charakteristika der Professionen - ökonomische Desinteressiertheit und Gemeinwohlbezug - nahegelegt, passen diese doch in so augenfälliger Weise nicht zu der "egoistischen" Verfolgung des je eigenen Interesses, wie es die utilitaristische Tradition für den Bereich wirtschaftlichen Handelns als typisch ansieht. Er geht der Frage nach, 93

Marshall, S.167.

9 4

Dies wird v.a. deutlich in: T.Parsons , Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems: Ein Bericht zur Person, in: T.Parsons, E.Shils, P.F.Lazarsfeld, Soziologie autobiographisch, Stuttgart 1975. 9 5

T.Parsons , The Professions and Social Structure, [1939] in: ders., Essays in Sociological Theory, Glencoe 1954.

Π. Professionelles Handeln

43

ob sich diese Differenz wirklich als motivationale, als eine Differenz von egoistischer und altruistischer Motivation abbilden läßt. Zunächst teilen die professionellen Berufe mit den wirtschaftlichen eine Reihe von Merkmalen, die für die meisten modernen Berufe gelten. So sind sie nicht an Traditionalität orientiert sondern an "Rationalität", d.h. Erklärbarkeit und Wissenschaftlichkeit gehen vor einer Orientierung am bloß Überkommenen. Sie teilen auch das Merkmal der "funktionalen Spezifität", denn die Autorität des Professionellen ist nicht eine, die sich tendenziell auf jeden Objektbereich erstreckt, sondern sie ist klar an seine jeweilige Fachkompetenz gebunden, anders gesagt: die Kompetenz der Professionellen ist eine funktional spezifische technische Kompetenz. Zudem unterliegt das Berufshandeln der Professionellen wie jedes moderne Berufshandeln der Norm des "Universalismus", d.h. es werden Standards und Kriterien an das Handeln angelegt, die von der konkreten Person und der konkreten Beziehung losgelöst sind, allgemeine, "verunpersönlichte" Kriterien. 9 6 In bezug auf diese Elemente des modernen normativen Musters der Berufe relativiert sich der Unterschied zwischen den beiden Berufsgruppen. Auch die Frage 'eigene Zweckverfolgung vs. ökonomisches Desinteresse?' relativiert sich wenn man in Betracht zieht, daß das dieser Frage zugrundeliegende utilitaristische Modell übersieht, daß auch im Wirtschaftsleben die Motivation selten rein auf den augenblicklichen Vorteil einer Transaktion gerichtet ist, sondern sich in der Regel auf einen komplexen Zusammenhang und auf einen beträchtlichen Zeitrahmen bezieht. Somit liegt die Vermutung nahe, daß die Differenz weniger in den typischen Motiven der Handelnden zu suchen ist, als vielmehr in der spezifischen "Situationsdefinition" 97 Als Beispiel für die Problematik der 'motivationalen Betrachtung' nennt Parsons die Orientierung am "Erfolg". Als Motiv ist die Erfolgsorientierung bei jedem Berufstätigen unterstellbar, und somit auch z.B. beim Arzt vorhanden. In jedem Fall steht dahinter der Bezug auf Leistung und Anerkennung. Die Differenz liegt jedoch in den je verschiedenen Inhalten und den Wegen zu diesem Ziel, die wiederum von der jeweiligen Handlungssituation (occupational situation), in denen sich die Berufsgruppen befinden, abhängen. 98 Die motivationale Orientierung ist also bei den Professionen und den eher marktorientierten Berufen faktisch dieselbe. Der Unterschied liegt auf der Ebene der institutionellen Muster, die die jeweiligen Handlungsbereiche regeln: 9 6

"The standards and criteria which are independent of the particular social real-

tionship to a particular person may be called universalistic, those which apply by virtue of such a relationship on the other hand are particularistic. "(S.41) 9 7

Parsons , The Professions, S.43.

9 8

Parsons , The Professions, S.44.

. Die Professionalisierungstheorie

44

"On the other hand there is a clear-cut and definite difference on the institutional level. The institutional patterns governing the two fields of action are radically different in this respect. Not only are they different; it can be shown conclusively that this difference has very important functional bases. But it is a difference in definition of the situation." 99 Damit ist zwar markiert, daß das spezifische Moment des professionellen Handelns nicht in der motivationellen Orientierung der Handelnden - wie es dann im "funktionalistischen Modell" nahegelegt wird -, sondern in der jeweiligen Handlungssituation selbst gesucht werden muß. Wie aber die Handlungssituation begrifflich zu fassen sei und wie sie bei den unterschiedlichen Professionen konkret aussieht, wird hier jedoch noch nicht thematisiert. Eine Klärung erfolgte erst später, zum einen am Beispiel der Rechtsberufe 100 , zum anderen - und am prägnantesten - am Beispiel ärztlichen Handelns 101 . Parsons analysiert hier sehr detailliert im Kontext der Arzt/Patienten-Beziehung die Probleme von Krankheit und Therapie im Hinblick auf die sich daraus ergebende Handlungsproblematik. Auf die einzelnen Aspekte dieser Analyse einzugehen würde den Rahmen der hier verfolgten Darstellung sprengen, deshalb sollen nur die wichtigsten Ergebnisse in bezug auf die Rollenstruktur ärztlichen Handelns genannt werden. Parsons knüpft in gewisser Weise an den Aufsatz von 1939 an wenn er feststellt, daß die ärztliche Berufsrolle mit den anderen entwickelten Berufen die wesentlichen Merkmale teilt: sie ist universalistisch (nicht partikularistisch), leistungsbezogen (nicht merkmals- oder zuschreibungsbezogen), affektiv neutral (nicht affektiv) und spezifisch (nicht diffus). Jedoch ist für die Arzt/Patienten-Beziehung kennzeichnend, daß es ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den Komponenten gibt, dergestalt, daß z.B. nicht eindeutig Spezifität und affektive Neutralität realisiert sind, wie bei den 'normalen' Berufen, sondern daß gleichzeitig auch Momente der Affektivität und der Diffusität 1 0 2 9 9

Parsons , The Professions, S.46. 100 γ p a r s o m > a Sociologist looks at the Legal Profession, [1952] in: ders. 1954.

101

Und hier vor allem: T.Parsons , Einige theoretische Betrachtungen zum Bereich

der Medizinsoziologie, in: ders., Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt/M. 1979 [Original: Social Structure and Personality, Glencoe 1964]. 102

"Diffuse" Sozialbeziehungen sind im Unterschied zu den spezifischen oder

rollenförmigen Beziehungen dadurch gekennzeichnet, daß es in ihnen keine positiv begrenzte Thematisierungsrelevanz gibt. Anders gesagt: in diesen Beziehungen, v.a. Gatten- und Freundschaftsbeziehungen, liegt die Begründungslast auf dem Ausschluß bestimmter Themen, während bei letzteren die 'Thematisierungsbreite' festgelegt ist und die Beweislast auf Seiten der Einbeziehung anderer Themen liegt. (Vgl. Parsons , Medizinsoziologie, S.413.) Parsons betrachtet die Differenz diflus/spezifisch immer

Π. Professionelles Handeln

45

für die Arzt/Patienten-Beziehung konstitutiv sind. Parsons nennt hier v.a. das aus der Psychoanalyse bekannte Phänomen der Übertragung/Gegenübertragung: "Wird eine therapeutische Beziehung eingegangen, so kann erwartet werden, daß ein Versuch unternommen wird, den Therapeuten in eine Gemeinschaft zur Verteidigung der Krankheitsposition einzubeziehen, ihn in diesem Sinne zu "verführen". Das Muster affektiver Neutralität kann als Teil eines Mechanismus verstanden werden, der den Arzt gegen diesen verführerischen Druck (einschließlich seiner eigenen unbewußten Motive) schützt und ihn befähigt, seine Position aufrechtzuerhalten, die eine "Hebelkraft" gegen die Motivationselemente der Krankheit darstellt." 103 Das Moment affektiver Neutralität als Mechanismus der Kontrolle der Beziehung ist jedoch nur die eine Seite dieses Prozesses: "Tatsächlich enthielt die "ärztliche Kunst" eine Komponente der Einfühlung, ein Verständnis für die Schwierigkeiten, in denen sich der Patient befindet, das sich bis zur teilweisen Identifizierung mit ihm steigern konnte. Dieser Faktor wurde allmählich bis zu dem Punkt geklärt, wo deutlich wurde, daß es in dieser Hinsicht einen Dualismus in der Rolle des Arztes gibt. Während nämlich die Orientierung affektiver Neutralität dominiert, werden auf bestimmten Stufen und unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen bestimmte Typen der Affektivität nicht nur erlaubt, sondern sogar erwartet." 104 Übertragen auf die Ebene einer allgemeinen Professionalisierungstheorie kann man sagen, daß dieser "Dualismus", der der professionellen Berufsrolle immanent ist, die Grundlage von Spannungen ist, die im professionellen Handeln selbst bearbeitet werden müssen. Das andere zentrale Kriterium der Besonderheit des ärztlichen Handelns muß nun nach Parsons in der Dimension "Ichorientierung vs. Kollektivorientierung" gesehen werden: "Es wurde allmählich klar, daß die Bedeutung dieses Paares in der Beziehung zwischen zwei verschiedenen Ebenen der Organisation von Handlungssystemen lag. Ichorientierung ist in diesem Falle Orientierung unabhängig von Bindungen als Mitglied irgendeines Kollektivs, während Kollektivorientierung bedeutet, daß Erwartungen im Rahmen dieser Bindungen definiert sind." 1 0 5 Das Arzt/ Patient-Verhältnis erscheint hier als ein Kollektiv, dessen Solidarität sich über eine spezifische Kollektivorientierung herstellt, genauer: "Beide Mitglieder müssen eine gemeinsame Bindung an die Ziele der Therapie besitzen, die aber auf der Ebene von 7to//ewbeziehungen. Seine Charakterisierung von "diffus" überschreitet jedoch - darauf weist Oevermann hin - die Grenzen des Rollenmodells, so daß man davon sprechen kann, daß das Begriffspaar die Differenz von Sozialbeziehungen und Rollenbeziehungen markiert. 103 p a r s o r j S y Medizinsoziologie, S.421. 10 4

Parsons , Medizinsoziologie, S.422 (Hervorhebungen K.M.). 105 parsorì s^ Medizinsoziologie, S.431.

46

. Die Professionalisierungstheorie

nur für den Zustand des Patienten "gelten", da der Arzt aufgrund der Definition der relevanten Situationen und Aspekte nicht krank ist.(...) Der Faktor der "Uneigennützigkeit" oder besser der Kollektivorientierung ist jedoch beiden Rollen gemeinsam, er definiert die gemeinsame Zugehörigkeit zum selben Kollektiv." 1 0 6 Die Kollektivorientierung wird hier nicht als motivationale "Orientierung an zentralen gesellschaftlichen Werten" gesehen, sondern in der Struktur der Arzt/Patienten-Beziehung selbst verortet. Im Rahmen der Mitgliedschaft in diesem "Kollektiv" bedeutet die Übernahme der Patientenrolle nicht nur Passivität, wie bei Marshall angelegt, sondern kommt einer Einwilligung in eine Kooperation im Hinblick auf den Gesundungsprozeß gleich. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Parsons'sche Analyse am Beispiel ärztlichen Handelns exemplarisch nachweist, daß Professionen dadurch gekennzeichnet sind, daß sich in der Experten/Klienten-Beziehungen eine übergreifende Handlungsinstanz realisiert, in der der Professionelle sozusagen federführend agiert. Dies gilt für marktmäßige Tauschbeziehungen gerade nicht: "Der Markt...ist einer der zentralen Mechanismen, der Verbindungen zwischen, nicht in Kollektiven herstellt." 1 0 7 Für dieses Binnenverhältnis von Professionellem und Klient sind - ebenfalls im Unterschied zu 'normalen' Berufsrollen - bestimmte, in die professionelle Berufsrolle eingelagerte Spannungsmomente charakteristisch, die im professionellen Handeln 'in actu' kontrolliert werden müssen. Am Beispiel der Untersuchungen von Marshall und Parsons wird deutlich, daß man für eine genauere Bestimmung des Begriffs der "Profession" die Handlungsstruktur der jeweils für diesen Typus in Frage stehenden Berufe zum Gegenstand machen muß. Nicht die assoziationeile Seite der Professionen und deren Beschreibung in terms sozialer Ungleichheit und des Marktes - auf deren Folie die Ausbildung einer professionellen Berufsethik immer als etwas Äußerliches erscheint, das dann auch leicht einem ideologiekritischen Einwand ausgesetzt ist (die Professionsethik als Element der Privilegiensicherung) - steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Struktur des Professionellen/Klienten-Verhältnisses selbst. Im folgenden wird als Weiterentwicklung der durch Marshall und Parsons vorgezeichneten Perspektive ausschließlich die Professionalisierungstheorie U.Oevermanns behandelt. Sie ist jedoch nicht das einzige Modell, das die professionelle Handlungspraxis in den Vordergrund stellt. An erster Stelle wäre hier der Ansatz zu nennen, den R. Stichweh - aus einer ganz anderen Theorietradition als der hier verfolgten heraus - in umfassenden Arbeiten ins-

106 parso m^ 107 pars 0ns,

Medizinsoziologie, S.425. Medizinsoziologie, S.431.

Π. Professionelles Handeln

47

besondere zur Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen vorgestellt h a t . 1 0 8 Auch die von C.Seyfarth vorgenommene Rekonstruktion der impliziten Professionalisierungstheorie Max Webers sieht spezifische Dimensionen professionellen Handelns als zentral a n . 1 0 9 Meines Erachtens stellt jedoch die von Oevermann entwickelte Professionalisierungstheorie 110 in ihrer Verklammerung von Einzelfallanalysen und allgemeiner Modellbildung den fortgeschrittensten Versuch dar, die Handlungsproblematik der Professionen auf allgemeiner Ebene abzubilden. Eine angemessene Würdigung der beiden oben genannten Modelle kann allerdings hier nicht erfolgen, da dies einen Theorievergleich erfordern würde, der über die Zwecke dieses Kapitels hinausginge. Auch die Darstellung der Professionalisierungstheorie Oevermanns muß in der hier notwendigen Kürze leider notgedrungen ' deflatorisch' erfolgen. 1 1 1 Da das Modell aber den Bezugsrahmen der folgenden Analyse abgibt, wird - so bleibt zu hoffen - das Bild zumindest für den Bereich des Rechts lebendiger werden. Die Professionalisierungstheorie sieht in den bei Parsons im Ansatz benannten handlungslogischen Spannungsmomenten oder widersprüchlichen Handlungsanforderungen das zentrale Kriterium der professionellen Berufe. Diese sind gerade dadurch gekennzeichnet, daß ihr Berufshandeln eine Vielzahl solcher Spannungen aufweist. Am anschaulichsten läßt sich dies am Fall des ärztlichen Handelns demonstrieren. So läßt sich hier neben der Gleichzeitigkeit von diffusen und rollenförmigen Anteilen in der Arzt/Patienten-Interaktion vor allem eine Widersprüchlichkeit im Hinblick auf die Ziel/MittelOrientierung dieses Handelns ausmachen: Das Ziel der Therapie ist - allgemein gesprochen - die Wiederherstellung von Handlungsautonomie; dies muß jedoch durch den Einsatz ärztlicher Intervention erreicht werden, was faktisch einen Eingriff in diese Autonomie bedeutet. Dabei steht der Arzt unter einem 108 Vgl insbesondere R.Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analysen, Frankfurt a. M. 1994. Zur Kritik an der vereinseitigten Betrachtung professioneller Assoziationen: R.Stichweh, Professionen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: lus Commune XIX, Frankfurt a. M. 1992. 109

C.Seyfarth,

Über Max Webers Beitrag zur Theorie professionellen beruflichen

Handelns, zugleich eine Vorstudie zum Verständnis seiner Soziologie als Praxis, in: J.Weiß (Hg.), Max Weber heute, Frankfurt a. M. 1989. 110

Leider liegt keine Publikation vor, die die Theorie geschlossen darstellt. Ich

kann hier nur auf ein unredigiertes Transkript der Vorlesung des Sommersemesters 1981 verweisen. 111

Vor allem deshalb, weil die mit diesem Modell zusammenhängenden Theorien

(die Theorien der sozialen Praxis, des wissenschaftlichen und künstlerischen Handelns, sowie die obj ektiv-hermeneutische Konzeption der konstitutionstheoretischen Problematik) in diesem Zusammenhang nicht abgebildet werden können.

. Die Professionalisierungstheorie

48

herausgehobenen Entscheidungsdruck, d.h. er muß für den Patienten folgenschwere Entscheidungen treffen, ohne eine vollständig erschöpfende Begründung für diese Entscheidung zu besitzen. 112 Während er sich so häufig im begründungsfreien Raum bewegt, müssen die so getroffenen Entscheidungen gleichzeitig mit dem Anpruch auf allgemeine - wissenschaftliche - Begründbarkeit auftreten. Die allgemeinste, für alle Professionen geltende Widersprüchlichkeit resultiert aus einer gewissen Diskrepanz zwischen der in Anspruch genommenen Wissensbasis und ihrer 'Anwendung' auf den konkreten F a l l . 1 1 3 Im Unterschied zu einer rein technischen Anwendung wissenschaftlichen Wissens lassen sich hier die 'Fallkomponente' und die 'Wissenskomponente' nicht bruchlos ineinander überführen. Dieses Problem läßt sich am deutlichsten durch einen Vergleich des ärztlichen Handelns mit der Tätigkeit eines Ingenieurs illustrieren. Während im Fall der Umsetzung der naturwissenschaftlichen Wissensbasis z.B. für den Bau einer Brücke die je konkreten Situationsumstände (Beschaffenheit der geologischen Formationen, Qualitäten des Materials) im Zusammenhang mit den Zielvorgaben (Bau einer Eisenbahnbrücke von soundsoviel Meter Länge) sich vollständig in terms dieser Wissensbasis ausdrücken lassen, ist dies beim ärztlichen Handeln nicht so. Hier ist das zu lösende Problem - die Krankheit eines Subjekts - gebunden an die konkrete Person, seine Lebensgeschichte und seine Lebensumstände. Diese müssen bei der Bestimmung des Sinnzusammenhangs der Krankheit in Betracht gezogen werden. 1 1 4 Die Krankheit läßt sich nicht von vornherein in terms der universalistischen Wissensbasis ausdrücken. Deshalb muß im ärztlichen Handeln neben die Wissensbasis die Fähigkeit zu einem hermeneutisch operierenden Fallverstehen treten. 1 1 5 112

Der Arzt kann nicht mit Verweis auf eine fehlende Erklärung des Symptomzu-

sammenhangs die Therapie verweigern. 113

Auf das Spannungsverhältnis von universalistischer Wissensbasis und profes-

sionalisierter Anwendung wird auch hingewiesen in R.Stichweh, Professionen und Disziplinen - Formen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften, in: K.Harney (Hg.), Professionalisierung der Erwachsenenbildung, Frankfuit/Bern/New York/Paris 1987, S.210-275, hier: S.227f. (Ebenfalls in ders., Wissenschaft). 114

Der häufig kritisierte Automatismus einer rein an der technischen Apparatur

orientierten Diagnose ist eben nicht als Normalfall medizinischer Diagnose anzusehen. 115

Der diesem Modell therapeutischen Handelns zugrundeliegende Bezugspunkt

ist - wie auch bei Parsons - die psychoanalytische Methode. Diese wird nicht nur als eine Sonderform, sondern als zwar herausgehobener, doch paradigmatischer Fall ärztlichen Handelns verstanden. Wenn man unter "Krankheit" eine Störung des Individuums versteht, in der die organische und die psychische Seite eine Einheit bilden, dann

Π. Professionelles Handeln

49

Der Anwendungsbereich der Professionen ist eben kein nur technisch zu bearbeitender, sondern abstrakt gesehen eine Lebenspraxis, die sich in einer Krise befindet. Mit dem Begriff der Lebenspraxis versucht die Oevermannsche Theorie den spezifischen Subjektcharakter des Gegenstandsbereichs der Professionen im Unterschied zu den Expertenberufen zu kennzeichnen. In diesem Zusammenhang ist zweierlei wichtig: Zum einen sind das 'Material', mit dem sich Professionen auseinanderzusetzen haben, sinnstrukturierte Gebilde, 'Texte', die der Abhub sozialen Handelns s i n d . 1 1 6 Diese Sinnstrukturiertheit des Materials ist es ganz allgemein, die ein praktisch-hermeneutisches Verständnis notwendig macht. Zum anderen ist das, was diese Handlungsinstanzen als Handlungsinstanzen ("Subjekte" in der klassisch-philosophischen Terminologie) auszeichnet, ihre Autonomiefahigkeit. Damit ist nicht gemeint, daß sie faktisch immer Autonomie realisieren, sondern daß die Lebenspraxis eines Handlungssubjekts der strukturelle Ort von Autonomie ist, einer Autonomie, die in der Interaktion zwischen Professionellem und Klient gewahrt, im Fall therapeutischen Handelns geradezu wiederhergestellt werden m u ß . 1 1 7 Im Lichte eines so verstandenen 'In-bezug-setzens' von Wissenschaft und Lebenspraxis muß die von Freidson aufgeworfene, jedoch nur unbefriedigend behandelte Technokratieproblematik gesehen werden. Die Wahrung der Autonomie des Klienten kommt - als für das professionelle Handeln notwendige! in zweierlei Hinsicht ins Spiel. Zum einen muß der in Frage stehende problematische Sinnzusammenhang hermeneutisch rekonstruiert werden, d.h. der 'Gegenstand' darf nicht einfach allgemeinen Modellen subsumiert werden. Zum anderen muß in der Dimension der Anwendung, d.h. der praktischen läßt sich für die psychiatrische wie die medizinische Praxis ein gemeinsamer struktureller Kem in der Logik therapeutischer Interaktion ausmachen. Eine Skizze therapeutischer Praxis im Licht der Professionalsierungstheorie erfolgt im Rahmen einer Kritik der Tiefenhermeneutik in: U.Oevermann, Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität, in: T.Jung/ S.Müller-Doohm (Hg.), "Wirklichkeit" im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 106-189, hier: S.145ff. 116

Wenn man Krankheit allgemein als sinnmotiviert versteht, gilt dies auch für

das 'Material' therapeutischen Handelns: Man kann in diesem Fall von einem 'Symptomtext' sprechen. 117 Die Oevermannsche Theorie bildet diesen latenten 'Autonomisierungsdruck', unter dem jedes Handlungssubjekt steht, in der im Anschluß an das von G.H.Mead entfaltete Verhältnis von "I" und "Me" konzipierten Dialektik von Handlungszwang und Begründungsverpflichtung ab. Vgl. U.Oevermann, Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen, in. S.Müller-Doohm (Hg.), Jenseits der Utopie, Frankfurt/M. S.297f; ders. 1993,S.178ff.

1991, S.267-336, hier:

50

. Die Professionalisierungstheorie

Seite der stellvertretenden Deutung, die Autonomie des Subjekts gewahrt bleiben, will das professionelle Handeln material erfolgreich sein. Im Unterschied dazu wäre die einfache Subsumtion des Falles unter das allgemeine Wissen und die wissenschaftliche Bevormundung des Klienten schlicht Technokratie und kein professionelles Handeln. So gesehen stellen die Professionen den strukturellen Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis dar. Die Gleichzeitigkeit von hermeneutischem Fallverstehen und universalistischer Wissensbasis ist also das grundlegende Moment, das professionelles Handeln von anderem Berufshandeln unterscheidet. Zentral ist dabei die handlungslogische Differenz zwischen der Sphäre einer universalistischen Wissensbasis, die nach allgemeinen Standards der Geltung Aussagen über die Welt trifft, und der Sphäre der als prinzipiell autonom verstandenen, unter praktischem Handlungsdruck stehenden Lebenspraxis. Eine solche Bestimmung der professionellen Handlungsproblematik macht es möglich, dieses Handeln auch unabhängig von einem konkreten Klientenbezug verstehen zu können. Neben den klassischen, klientenbezogenen Professionen der Medizin und des Rechts 1 1 8 erscheinen bei dieser abstrakteren Fassung des Problems zudem die Bereiche der Wissenschaft und der Kunst als zentrale professionalisierte Bereiche. Was für diese Bereiche unabhängig von der Frage des Klientenbezugs in gleicher Weise gilt, ist, daß die ihrem Handeln zugrundeliegende Problematik immer ein Moment der 'Krisenhaftigkeit' einer Lebenspraxis beinhaltet. Diese Krisenhaftigkeit ist im Fall des ärztlichen Handelns unmittelbar einleuchtend, stellt doch das der Konsultation eines Arztes zugrundeliegende Problem geradezu die lebenspraktische Krise, die ein Individuum selbst nicht lösen kann, par exellence dar. Das professionelle Handeln ist - wie gesehen - zu einer Interpretation der je individuellen Krise im Hinblick auf deren Aufhebung aufgefordert: Seine Aufgabe ist die stellvertretende Deutung des Problems - im Lichte der wissenschaftlichen Wissensbasis. Denn die Tatsache, daß sich eine Praxis mitten in einer Krise befindet, die sie nicht lösen kann, beinhaltet ja gerade, daß eine Deutung des Problems von Seiten der betroffenen Lebenspraxis nicht erfolgt ist. Anders gesagt: jede das Problem erschöpfende Deutung wäre schon die Lösung des Problems. Die von Marshall benannte "ignorance" des Klienten und die dem korrespondierende Verantwortlichkeit des Professionellen läßt sich so auf die Strukturproblematik der stellvertretenden Deutung einer praktischen Krise zurückführen. Die Krisenhaftigkeit ist es, die ausschlaggebend für die fehlende 'Zieldefinition' des Klienten ist: aufgrund der damit gegebenen fehlenden Distanz zu seinem Problem "weiß er kaum, worum er bitten soll".

1 1 8

Die Frage, ob den Rechtsberufen tatsächlich ein Klientenbezug im eigentlichen

Sinne eigen ist, wird noch thematisch sein.

Π. Professionelles Handeln

51

Während das Moment der lebenspraktischen Krise auch im Fall des anwaltlichen Handelns direkt einsichtig ist, sieht die Sache im Fall der Wissenschaft und der Kunst jedoch anders aus. Hier wird das Moment der Krise erst in der Entfaltung einer Theorie wissenschaftlicher Forschung bzw. ästhetischen Handelns deutlich. Die entsprechenden Theorien sind von Oevermann in den wesentlichen Hinsichten entwickelt und in die allgemeine Professionalisierungstheorie integriert worden. 1 1 9 Da deren Darstellung allerdings den Rahmen des hier möglichen überschreiten würde, sollen die professionalisierungstheoretisch relevanten Kennzeichen dieser Handlungsbereiche hier aus Vollständigkeitsgründen nur benannt werden. Der diesen Bereichen eigentümliche 'Krisenbezug' wird deutlicher, wenn man versucht sich zu vergegenwärtigen, was das jeweilige allgemeine Handlungsproblem der Professionen ist, d.h. was für gesellschaftliche Funktionsbereiche sie ausfüllen. Das ärztliche oder therapeutische Handeln ist für die Restituierung der psycho-physischen Integrität von Handlungsinstanzen (Individuen oder Gruppen) 'zuständig', der Funktionsbereich der Rechtsberufe soll hier noch sehr allgemein mit 'Sicherung des Rechts' umschrieben werden, da diese Frage in der folgenden Analyse noch ausführlich thematisch sein wird. Das allgemeine Handlungsproblem von Wissenschaft und Kunst besteht nun - sehr schablonenartig formuliert - darin, in je unterschiedlicher Weise Alltagserfahrung zu 'kritisieren' und so auf eine allgemeinere Ebene zu heben. 1 2 0 Im Fall der Wissenschaft handelt es sich um die Gewinnung begrifflicher Erkenntnis unter der Bedingung der regulativen Idee der Wahrheit, im Fall künstlerischen Handelns handelt es sich um die Gewinnung sinnlicher Erkenntnis. Auch in diesen Bereichen, die das Moment der abstrakten Wissensbasis repräsentieren, findet sich ein immanentes Spannungsverhältnis. Resultieren in den klientenbezogenen Professionen die Spannungsmomente aus dem Problem der Vermittlung von Fallspezifität und Wissen als praktischer Krisenbewältigung, so setzen sie im Fall von Wissenschaft und Kunst an der Notwendigkeit einer unpraktischen, distanten Haltung gegenüber dem alltagsweltlich Gegebenen an. In einer handlungsentlasteten Distanz zu alltagspraktischen Problemen wer119

Zur Theorie künstlerischen Handelns vgl. U. Oevermann, Eugène Delacroix -

biographische Konstellation und künstlerisches Handeln, in: Georg Büchner Jahrbuch 6, Frankfurt/M. 1990, S. 12-58; ders., Kunst und Charisma. Gedanken zum Werk von Joannis Avramides, in: Joannis Avramides - Skulpturen. Ausstellungskatalog der Galerie Appel und Fertsch, Frankfurt/M. 1986; ders., Impressionistische und vorimpressionistische Malerei, Ausstellungskatalog Galerie Kristine Oevermann, Frankfurt/M. 1980. Was die Theorie wissenschaftlichen Handelns betrifft, so kann in gewisser Weise die Methodologie der objektiven Hermeneutik selbst als ein Versuch ihrer Explikation angesehen werden. 120

Zur Problematik der krisenhaften Hervorbringung des Neuen allgemein: Oever-

mann 1991, S.321f.

52

. Die Professionalisierungstheorie

den hier durch die Infragestellung von Überzeugungen oder Wahrnehmungsgewohnheiten methodisch kontrolliert Krisen erst erzeugt und durch die Hypothesenbildung bzw. künstlerische Formgebung aufgehoben. Es ist das eigentümliche der oben skizzierten Spannungsmomente professionellen Handelns, daß sie nicht auflösbar sind, ja, sie sind gerade als Spannungsmomente konstitutiv für dieses Handeln; jede Tilgung eines Elements der Widersprüchlichkeit würde die Auflösung des jeweiligen Berufshandelns bedeuten. 121 Deshalb spricht man im Kontext der Professionalisierungstheorie von "widersprüchlichen Einheiten": Sie müssen im beruflichen Alltag des professionalisierten Handelns ausgehalten und handlungspraktisch zur Synthese gebracht werden; d.h. die konkreten Handlungsprobleme müssen unter Aufrechterhaltung der Spannungen entschieden werden. Dieser durch die Handlungsproblematik vorgegebene strukturelle Spielraum, die Notwendigkeit, in Abwesenheit formalisierbarer, das Handeln bindender Anforderungen kompetent folgenreiche Entscheidungen zu treffen, macht den Kern der professionellen Autonomie aus. Um beim oben genannten Beispiel zu bleiben: während es sich beim ärztlichen Handeln tendenziell immer um eine Entscheidung ins Zukunftsoffene handelt, gebietet es die Verantwortung des Ingenieurs gerade, nicht zu entscheiden, d.h. sein Handeln vollständig an gesichertes Wissen rückzubinden. Diese kompetente Ausfüllung des Entscheidungsspielraums erfolgt nicht qua herausgehobener persönlicher Qualität des Handelnden, sondern in Erfüllung der Berufsrolle. Die Institutionalisierung der Problemlösung in Berufsrollen bedeutet gerade, daß die in der Sache liegende Außeralltäglichkeit dieser Problemlösung - besonders deutlich im Fall der in den klientenbezogenen Professionen erfolgenden Bearbeitung von existentiellen Krisen - handlungspraktisch veralltäglicht werden muß. Anders gesagt: würde die Problemlösung qua charismatischer Qualität des Handelnden erfolgen, könnte man nicht von einem professionalisierten Beruf sprechen. Wenn es also aufgrund der Spannungsmomente keine formalisierbaren Erfüllungskriterien gibt, die der Berufsausübende zur Richtschnur seines Handelns machen könnte und an die eine hierarchische oder marktmäßige Kontrolle anschließen könnte, wie kann dann überhaupt ein professionelles Berufshandeln operieren? Dies geschieht dadurch, daß die den jeweiligen Handlungsproblemen inhärenten widersprüchlichen Anforderungen situativ - in actu - durch einen Professionshabitus vermittelt werden. Unter einem professionellen Habitus wird dabei im Anschluß an Bourdieu eine professionsspezifische Haltung verstanden, die sich - abstrakt ausgedrückt - als eine Hand121

So würde der Arzt durch die Vereinseitigung der DiflEusivität und Affektivität seine Berufsrolle verlassen und zum 'generalisierten Freund', durch die Vereinseitigung der Spezifizität und affektiven Neutralität tendenziell zum Technokraten werden.

Π. Professionelles Handeln

53

lungsdispositionen generierende Struktur beschreiben läßt. Ein berufsspezifisches Muster also, das in konkreten Entscheidungssituationen latent operiert, indem es die Entscheidungen nicht determiniert, sondern bestimmte Neigungen der Problemsicht und -bearbeitung zur Anwendung kommen läßt. Man kann diesen Zusammenhang auch weniger abstrakt ausdrücken, indem man sagt, daß die professionelle Tätigkeit in Ausübung einer Kunstlehre erfolgen muß, die in der beruflichen Sozialisation praktisch eingeübt und so internalisiert wird. In der Ausübung der Kunstlehre kommen implizit Standards einer kompetenten Berufsausübung zum tragen. Diese Standards sind Regeln eines 'modus operandi', implizite Handlungsprinzipien und nicht konkrete Handlungsanweisungen im Sinne einer konkreten Zweck/Mittel-Relationierung. Diese Prinzipien werden an einer konkreten Entscheidungsstelle nicht im Sinne von Leitlinien angewendet, sondern ausgeübt, d.h. im Handeln selbst faktisch befolgt: sie müssen dem Professionellen sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen sein. Das Ganze dieser professionellen Standards läßt sich, da es sich dabei um prinzipielle Maßstäbe einer Praxis handelt, als Professionsethik bezeichnen. An dieser Stelle muß man nun differenzieren zwischen der Professionsethik, die die implizite handlungspraktische Orientierung eines Professionshabitus ausmacht, und der expliziten Professionsethik, wie sie z.B. in den berufsständischen Satzungen und in einem professionsethischen Schrifttum ausformuliert sein kann - eine Differenzierung, die das klassische Modell der Professionssoziologie übrigens nicht vornehmen kann, da für sie nur der formalisierte Kodex ins Blickfeld kommt. Dieser Kodex läßt sich von hier aus als ein Versuch verstehen, die implizite professionelle Handlungskoordinierung des Professionshabitus in ihren allgemeinen Momenten zu explizieren und dadurch zu 'heben', daß Intersubjektivität hergestellt, d.h. eine innerprofessionelle Verständigung über die basalen Prinzipien des Handelns ermöglicht wird. So kann dann im Rahmen einer kritischen Diskussion die Vereinheitlichung von Standards vorangetrieben werden, um so die Möglichkeit einer Kritik des konkreten Handelns im Lichte expliziter und als gültig befundener Standards zu schaffen. Kurzum: es handelt sich bei der Formulierung einer Professionsethik um ein wesentliches und notwendiges Moment professioneller Selbstkontrolle, an das sich natürlich dann auch ohne Frage die im klassischen Modell vereinseitigten Effekte einer berufsständischen Vergemeinschaftung anschließen. 122 122

An dieser Stelle sollte noch betont werden, daß die Begriffe einer 'Professions-

ethik' und eines 'Professionshabitus', die an die Strukturproblematik eines Berufshandelns rückgebunden sind, entscheidende Vorteile gegenüber der Rede von einem "professional mind" oder von einer "professionellen Mentalität", die jetzt besonders en vogue sind, haben. Der Begriff eines Professionshabitus weist diese Haltung nämlich 5 Maiwald

54

Α. Die Professionalisierungstheorie

Diese Vergemeinschaftung hat jedoch noch einen anderen zentralen Kern: die kollegiale Orientierung. Aus dem bisher ausgeführten sollte deutlich geworden sein, daß das professionelle Handeln strukturell von den Laien nicht oder nur in sehr begrenztem Maße kritisierbar ist. Die Voraussetzung für eine kompetente Kritik ist vielmehr sozusagen notgedrungen dieselbe Voraussetzung wie für die kompetente Berufsausübung selbst, nämlich die Einübung in die Kunstlehre und die Ausbildung eines Professionshabitus. In diesem Zusammenhang muß die Trennung zwischen Binnen- und Außenkritik gesehen werden, eine Trennung, die z.B. von Expertenberufen in dem Maße nicht aufrechterhalten werden kann. Was die fachliche Arbeit angeht, so ist die einzig legitime Kritik die der Kollegen; oder positiv ausgedrückt, unter Professionskollegen gilt wie natürlich - als Grundhaltung, sozusagen bis zum Beweis des Gegenteils - die wechselseitige Unterstellung beruflicher Kompetenz. Da nun aber die nichtprofessionelle Öffentlichkeit nicht das Forum für Kritik der professionellen Arbeit abgeben kann, wird die innerprofessionell erfolgende Kritik auch nicht nach außen getragen. Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der kollegialen Orientierung ist die berufliche Ausbildung. Wenn diese, neben der Vermittlung der abstrakten Wissensbasis, in Hinsicht auf die Berufspraxis im wesentlichen in der Einübung der entsprechenden Kunstlehre besteht, so kann diese natürlich nicht formalisiert verlaufen, sondern es muß ein Anlernen in der Praxis selbst, ein Heranführen an die kompetente Ausfüllung von Entscheidungssituationen sein. Schon dafür ist eine kollegiale Orietierung Voraussetzung. Wenn man diesen Zusammenhang in Abgrenzung zum klassischen Modell pointiert ausdrücken will, kann man sagen, daß die Professionen geradezu auf die kollegiale Orientierung angewiesen sind. Diese ist nicht primär Merkmal und Resultat einer aus funktionalen Gründen eingerichteten Zunftstruktur; Innovation, Kritik und Ausbildung kann wesentlich nur im Rahmen einer 'community of colleagues' erfolgen. So verstanden ist die kollegiale Orientierung geradezu eine Grundlage der berufsständischen Assoziationsbildung. Insofern trifft auch eine Kritik, die das Vorhandensein einer "Gemeinschaft der Gleichen" mit dem Verweis auf die oft hochgradige innerprofessionelle Differenzierung, sowohl in Hinsicht auf Funktion wie auch Status, bestreitet, den Kern der Sache nicht. Natürlich gibt es diese Differenzierungen. Kollegiale Orientierung meint jedoch nicht 'gildenformiger Kommunismus', als eine überpersönliche, berufsspezifische aus, die von solchen Haltungen und Meinungen, die auf andere Strukturierungsebenen verweisen (wie Persönlichkeitsstruktur und Klassenzugehörigkeit), analytisch unterschieden werden kann. Erst diese Unterscheidung ermöglicht es auch, Querverbindungen zwischen berufsgebundenen Deutungsmustern und z.B. Deutimgsmustern des "Bürgertums" zu untersuchen. Gerade dies kann der opake Begriff der "Mentalität" aber nicht leisten.

Π. Professionelles Handeln

55

sondern die wechselseitige Orientierung an professioneller Kompetenz. Und diese besteht quer zur innerprofessionellen Hierarchie, sowie unabhängig von möglichen persönlichen Animositäten: in dieser Hinsicht allein sind die Professionsmitglieder in der Tat "gleich". Diese knappe Skizze der Professionalisierungstheorie Oevermanns macht schon deutlich, daß es hier um die Bildung einer Typologie professionellen Handelns geht und nicht um den Entwurf einer empirischen Generalisierung. Zwar wird natürlich in Anspruch genommen, daß es sich um ein real wirksames Modell handelt, sogar, daß das entsprechende Berufshandeln gar nicht anders als mit dem professionalisierungstheoretischen Modell adäquat abgebildet werden kann - es muß jedoch, wie schon bei Marshall, betont werden, daß die Frage der empirischen Häufigkeit eines diesem Modell entsprechenden Handelns eine andere ist. Die Theorie gibt vielmehr den analytischen Bezugsrahmen ab, mit dem ein konkretes Berufshandeln gegebenenfalls als Abweichung im Sinne einer Deprofessionalisierung bestimmt werden kann. Der entscheidende Vorteil dieser Professionalisierungstheorie besteht darin, daß sie die typischen Charakteristika der Professionen an die konkrete Handlungsproblematik rückbinden und so als 'Strukturinventar' einer institutionalisierten Lösung dieser Probleme verstehen kann. So ist die professionelle Autonomie allgemein der spezifischen Entscheidungssituation in diesen Handlungsbereichen geschuldet, welche sich nicht durch eine auf formalisierbaren Handlungsanforderungen aufbauende Hierarchie ersetzen, noch sich durch die Mechanismen der Marktkontrolle regeln läßt, sondern vielmehr einen Professionshabitus erforderlich macht, der nach überpersönlichen Standards einer gelungenen Berufsausübung es ermöglicht, die jeweiligen Entscheidungssituationen kompetent zu füllen. Die Nichtformalisierbarkeit der Kunstlehre wiederum ist der Grund für die innerprofessionell erfolgende berufliche Sozialisation. Die Trennung von Binnen- und Außenkritik ist dem Umstand geschuldet, daß sich die Voraussetzung zur adäquaten Kritik professionellen Handelns mit der Voraussetzung zur kompetenten Berufsausübung deckt: dies macht allgemein eine professionelle Selbstkontrolle notwendig. In diesem Zusammenhang ist auch die kollegiale Orientierung der Professionsmitglieder zu verstehen. Die Formulierung eines expliziten Kodex einer Professionsethik ergibt sich aus der Notwendigkeit der professionellen Selbstverständigung über die im professionellen Handeln implizit zur Anwendung kommenden professionsethischen Standards. Eine solche theoretische Verknüpfung der Strukturen professionellen Handelns mit bestimmten allgemeinen gesellschaftlichen Funktionsbereichen hat wichtige Implikationen für eine historische Betrachtung der Professionen. Erst dadurch wird nämlich eine Betrachtung ihrer historischen Entwicklung unter

56

Α. Die Professionalisierungstheorie

der Perspektive der Dialektik von Universalität und Historizität möglich. "Professionalisierung" erscheint dann nicht nur als die Ausbildung einer die Marktkontrolle sichernden berufsständischen Assoziation (unter Bedingungen, die dem Berufshandeln allgemein äußerlich sind), sondern verweist auf einen Dualismus der Entwicklung: die Entwicklung professionalisierungsbedürftiger Handlungsbereiche einerseits, und die historische Ausbildung von Institutionen, die ein professionelles Handeln in diesen Bereichen konsistent möglich machen, andererseits. Der Begriff der 'Professionalisiemngsbedürftigkeit' meint hier die Tatsache, daß bestimmte gesellschaftliche Problemlösungen oder Funktionsbereiche zu ihrer Bewältigung ein professionalisiertes Handeln notwendig machen. Die Ausbildung dieses Handelns ist dabei natürlich wiederum rückgebunden an die historische Ausdifferenzierung der jeweiligen Funktionsbereiche; erst wenn diese als eigenständige ausdifferenziert sind, kann man auch von einem professionellen Handeln sprechen. Man kann sich diese Funktionsbereiche also im wesentlichen die übergreifenden Bereiche des Rechts, des therapeutischen Handelns, der Wissenschaft und der Kunst - vorläufig etwa im Sinne der Parsons'sehen "evolutionären Universalien" 123 vorstellen: sie sind zwar nicht universal in dem Sinne, daß sie an die humane Gattung gebunden und dementsprechend in jeder Kultur vorhanden sind, jedoch sind sie als Problemlösungsdimensionen latent universell vorhanden; ihre historische Ausdifferenzierung (z.B. in Form der Ausbildung eines Rechtssystems) bedeutet einen nichthintergehbaren Entwicklungsschritt im Rahmen des universalhistorischen Rationalisierungsprozesses. Mit der Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche nun - so die Implikation der Theorie - ist ihre weitere Entwikklung nicht mehr nur an für sie kontingente Bedingungen gebunden (für den Rechtsbereich z.B. die Entwicklung politischer Herrschaft oder die wirtschaftliche Entwicklung), sondern sie entwickelt zudem eine Eigenlogik, die auf professionalisierungstheoretischer Ebene durch die latente Spannung zwischen den Erfordernissen des professionellen Handelns und den faktischen Institutionen dieses Handelns gespeist wird. Mit dieser Sichtweise ist es möglich, auch Vorläuferformen professionellen Handelns im Rahmen einer Professionalisierungstheorie zu thematisieren, historische 'Übergangsstellen' bei der Institutionalisierung professionellen Handelns zu betrachten, kurz: Professionelles Handeln kommt auch vor der Assoziationsbildung ins Blickfeld. So ist es auch möglich, den Fehler zu vermeiden, den die hier diskutierten dominanten Modelle den professionellen As123

T.Parsons , Evolutionäre Universahen in der Gesellschaft, in: W.Zapf (Hg.),

Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin 1970 [Original: Evolutionary Universals in Society, in: ASR 29 (1964), S.339-357].

ΠΙ. Aufbau der Arbeit

57

soziationen vorwerfen, in den sie aber selbst verfallen, nämlich die Vorläuferformen und die historisch konkurrierenden Berufe aus dem Bereich professionellen Handelns und damit seiner Geschichte 'auszugrenzen'.

ΙΠ. Ausrichtung, Datenbasis und Aufbau der Arbeit Dies ist der Begriffsrahmen, innerhalb dessen eine exemplarische Analyse zur Professionalisierungsgeschichte der Rechtsprechung unternommen werden soll. In der Konfrontation mit dem Datenmaterial soll dabei gleichzeitig die 'Analysetauglichkeit' des Modells getestet, sowie die zentralen Gehalte der Theorie überprüft und am Beispiel des Rechtsbereichs konkretisiert werden. Der Bereich des Rechts war in den vorhergehenden Ausführungen eher unterbelichtet geblieben. Aus gutem Grund, denn dieser Bereich ist im Rahmen des hier verfolgten Ansatzes noch nicht in dem Maße erforscht wie die Bereiche therapeutischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Handelns. Eine Entfaltung der allgemeinen Momente professionellen juristischen Handelns soll denn auch im Verlauf dieser Untersuchung erst erfolgen. An dieser Stelle muß, als Grundlage dafür, daß eine solche Untersuchung überhaupt sinnvoll ist, die Intuition genügen, daß es sich bei den Rechtsberufen mit großer Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich um Professionen handeln wird. Und für einen solchen Befund spricht in der Tat vieles, wie schon der Blick auf einige Phänomene der modernen deutschen Rechtsberufe zeigt. Sieht man in der sogenannten "juristischen Subsumtion" 124 , d.h. der Subsumtion eines Falles unter gesetzliche Tatbestandsmerkmale, das primäre Geschäft der Rechtsberufe, so hat man z.B. schon einen Anhaltspunkt dafür, daß die Bedingung der Gleichzeitigkeit von Fallverstehen und universalistischer Wissensbasis gegeben ist. Es gibt zudem berufsständische Assoziationen, die eine Trennung von Binnen- und Außenkritik verfolgen - diese wird v.a. immer dann sinnfällig, wenn einhellig und kategorisch eine von politischer Seite geübte Kritik an der Rechtsprechungspraxis zurückgewiesen wird. Die berufliche Sozialisation liegt weitestgehend in der Hand der Profession, sowohl was die praktische Ausbildung (Referendariat) angeht, als auch in betreff der theoretischen Ausbildung (in dieser Hinsicht ist z.B. neben der Tatsache, daß die Rechtswissenschaft erfolgreich Themengebiete, die andere Disziplinen berühren (Rechtsphilosophie, -Soziologie und -geschichte), institutionell integrieren konnte, die Verbindung des Professorenstatus mit dem Richteramt interes-

124

Dieser Fachterminus ist nicht mit dem Begriff der Subsumtion gleichzusetzen, wie er in den vorhergehenden Ausführungen verwendet wurde.

Α. Die Professionalisierungstheorie

58

sant 1 2 5 ). Auf die untergeordnete Bedeutung der Markt- sowie der hierarchischen Kontrolle verweisen z.B. die Phänomene anwaltlichen Werbeverbots und die relative Autonomie der Rechtsprechung (Unabhängigkeit der Richter). Wenn man also getrost von der Vermutung ausgehen kann, daß die Rechtsberufe einen lohnenden Gegenstand für eine professionalisierungstheoretisch angeleitete Untersuchung abgeben, was sind dann die Gründe für eine historische Analyse im Unterschied zu einer, die auf Gegenwartsprobleme bezogen ist? In gewisser Hinsicht erscheint die Betrachtung moderner juristischer Handlungsprobleme sogar aufschlußreicher, denn hier müßte sich, geht man davon aus, daß die modernen Rechtssysteme professionalisiertes Handeln am fortgeschrittensten institutionalisiert haben, das Modell dieses Handelns auch am prägnantesten rekonstruieren lassen. Demgegenüber sprechen jedoch v.a. zwei Gründe für die hier gewählte historische Analyse. Der eine Vorteil besteht darin, die Möglichkeiten eines distanteren Materials nutzen zu können und so das Problem vorgefaßter Einstellungen und impliziter Theorien über den Rechtsbereich etwas zu entschärfen. Das andere - und von der Systematik der Analyse her wichtigere - Argument besteht in der Möglichkeit eines Nachweises von Elementen professionellen Handelns jenseits der entwickelten Institutionen eines solchen Handelns. Denn wenn sich die Professionalisierungsbedürftigkeit des Rechtsbereichs auch dort erweist, wo die modernen Institutionen professionellen Handelns noch nicht oder nur unvollständig ausgebildet sind, wenn sich also exemplarisch die Professionalisierung vor der Professionalisierung nachweisen läßt, kann man dem Einwand entgehen, die anhand der Situation der modernen Berufe entfalteten Strukturen seien nur ein Reflex auf die aus letztlich kontingenten (politischen oder wirtschaftlichen) Gründen eingerichteten Institutionen des Rechtssystems, und man hätte außerdem einen deutlichen Beleg dafür, daß die Strukturlogik professionellen Handelns auf die Professionalisierungsbedürftigkeit des Handlungsbereichs selbst antwortet. Von hier aus könnte im Grunde jede historische Raum/Zeit-Stelle ein aufschlußreiches Datenmaterial liefern. Es erscheint jedoch lohnender, eine historische 'Übergangsstelle', einen Zeitraum vermutlicher Transformationen eines Rechtssystems zu wählen, da man hier wahrscheinlich eher Aufschluß über die weitergehende Frage nach der Eigenlogik der professionalisierten Handlungsbereiche gewinnen kann, d.h. der Frage, ob und wie die schon bestehenden

Elemente

stitutionen

des Rechts Einfluß

125

professionellen

Handelns

auf die Neufassung

der

In-

haben.

§7 DRiG: "Jeder ordentliche Professor der Rechte an einer Universität im Gel-

tungsbereich dieses Gesetzes ist zum Richteramt befähigt."

ΠΙ. Aufbau der Arbeit

59

Es gibt nun einen Gegenstand, der aus dieser Perspektive besonders vielversprechend erscheint. Es handelt sich dabei um einen kurzen Abschnitt der preußischen Rechtsgeschichte, der gleich in mehreren Hinsichten das Kriterium der Übergangssituation zu erfüllen scheint. Gemeint ist die Zeit der preußischen Zivilprozeßrechtsreform zwischen den Veröffentlichungen der Zivilprozeßordnungen Corpus Juris Fridericianum (CJF) 1781 und Allgemeine Gerichtsordnung (AGO) 1793. Forschungsstrategisch hat diese Zeit v.a. zwei Vorteile. Zum einen sind professionalisierungstheoretisch wichtige Institutionen des Rechtssystems noch nicht ausgebildet, wie z.B. der Akkusationsprozeß im Strafrecht (damit verbunden die Einführung der Staatsanwaltschaft), die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, die Einrichtung der freien Advokatur, geschweige denn die Bildung der professionellen Assoziationen. Dies alles erfolgt erst im Verlauf des 19.Jahrhunderts. 126 Andererseits findet aber im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Innovation auf dem Gebiet des Rechts statt, die in der Rechtsgeschichte mit dem Begriff "Kodifikationszeitalter" benannt wird: In den entwickelten Territorialstaaten erfolgt vielerorts eine Vereinheitlichung des Rechts; es werden Gesetzbücher formuliert, die für das gesamte jeweilige Herrschaftsgebiet Geltung besitzen und so die partikularen Rechtskreise ablösen. Auch das CJF ist Teil dieser Entwicklung, handelt es sich doch um die erste umfassende Zivilprozeßordnung, die für das gesamte preußische Territorium g i l t . 1 2 7 Das Eigentümliche der preußischen Entwicklung ist nun darin zu sehen, daß hier nicht nur eine Vereinheitlichung des Rechtswesens erfolgen sollte, sondern daß auch eine stärkere Reglementierung und Kontrolle der Rechtsprechung anvisiert war. So besteht die rechtliche Neuerung des CJF v.a. darin, die anwaltliche Vertretung aus dem Zivilverfahren zu verbannen. Die Advokatur wurde aufgelöst und durch die neu geschaffenen Positionen des "Justizkommissars" und des "Assistenzrats", für die sich die ehemaligen Anwälte bewerben konnten, ersetzt. Die Justizkommissare hatten dabei mit dem eigentlichen Prozeß nichts mehr zu schaffen; ihr Tätigkeitsbereich war die Rechtsberatung und v.a. notarielle Arbeiten. Die im Rahmen des Prozeßrechts neu definierten Aufgaben der vormaligen anwaltlichen Vertretung wurden von den Assistenzräten, d.h. von richterlichen Beamten, ausgeübt. Die herausragende Bedeutung dieses Experiments für die Geschichte der deutschen An-

1 2 6

Vgl. K.Kroeschell,

1 2 7

Der von Cocceji entworfene Codex Fridericianus wurde zwar schon in der Zeit

Deutsche Rechtsgeschichte 3, Opladen 1989, S.163.

zwischen 1747 und 49 in aUen preußischen Provinzen eingeführt, es handelte sich dabei jedoch eher um eine richterliche Dienstpragmatik als um ein durchgestaltetes Gesetzbuch.

60

Α. Die Professionalisierungstheorie

waltschaft wurde v.a. von der älteren Rechtsgeschichte betont 1 2 8 , kommt aber neuerdings auch im Rahmen der historischen Betrachtung der Professionen wieder in den Blickpunkt 1 2 9 . Die Entwicklung betraf jedoch nicht nur die Anwälte. Auch der Spielraum der Richter wurde durch die zeitgleich mit dem CJF eingerichtete "Gesetzkommission" beschränkt. Die wesentliche Aufgabe dieses an das Justizministerium angebundenen Gremiums bestand nämlich darin, Auslegungsprobleme der Gerichte stellvertretend zu lösen. Die Richter sollten - so die Intention Friedrichs II. - die Gesetze nicht mehr interpretieren, sie sollten nur noch Tatsachen ermitteln und die Gesetze anwenden. Falls sich bei dieser 'Anwendung' Unklarheiten ergaben, sollte die Gesetzkommission angerufen werden, um das Interpretationsproblem durch Entscheidungen mit Gesetzesstatus zu klären. Diese beiden Phänomene machen deutlich, daß der Versuch, die Justiz verstärkt der administrativen Kontrolle zu subsumieren, geradezu ein 'historisches Krisenexperiment' für ein mögliches professionelles rechtspflegerisches Handeln darstellt. Setzt sich die Tendenz zur Bürokratisierung des Rechts durch oder zeigt sich eine 'Widerständigkeit', die die Entwicklung in Richtung auf eine professionelle Autonomie weist? Wir wissen, daß dieses Experiment schon nach kurzer Zeit gescheitert ist: Schon 1782 werden per Verordnung die Justizkommissare in einem bestimmten Rahmen zum Prozeß zugelassen, 1793 werden in der AGO die Assistenzräte gänzlich durch sie ersetzt. Auch der Gesetzkommission erging es nicht viel besser: 1794 wurde im Allgemeinen Landrecht (ALR) die Antragspflicht eingeschränkt; 1798 wurde sie aufgehoben, die Anfragen bei der Kommission waren nur noch fakultativ; 1806 beendete die Gesetzkommission ihre Tätigkeit. 1 3 0 Dieses Scheitern könnte ein Indiz dafür sein, daß es einen professionellen Habitus gab, der sich gegen die Bürokratisierung der Rechtspflege durchsetzte und dadurch die weitere Rechtsentwicklung beeinflußte.

1 2 8

Hier v.a. die hervorragende, der Profession verbundene Untersuchung von

A. Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, Leipzig 1905, S.341ff. 129 Vgl H.Siegrist, Public Office or Free Profession? German Attorneys in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Cocks/Jarausch 1990, S.46-65, hier: S. 48. Aus einer ganz anderen Perspektive: L.Kem, Zur Verwendung des Operations Research in der rechts- und sozialgeschichtlichen Forschung, in: P.Ch.Ludz (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte, (KZfSS Sonderheft 16) Opladen 1973. 130 vgl E.Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München/Berlin 1954, S.46.

ΠΙ. Aufbau der Arbeit

61

Nachdem der Gegenstandsbereich der Untersuchung mit dieser krisenhaften Epoche der preußischen Rechtsentwicklung festgelegt ist, muß eine Datenbasis gefunden werden, die sich für die Bearbeitung des entworfenen Fragenkomplexes eignet. Um unter professionalisierungstheoretischen Gesichtspunkten exemplarisch die Praxis richterlichen Handelns zu rekonstruieren, benötigte man im Grunde lückenlose Protokolle von konkreten Verfahren. Solche Protokolle sind jedoch aus dieser Zeit nicht greifbar, oder nur in einer solchen Reduktion und Aufbereitung, daß von Verfahrensprotokollen im strengen Sinne keine Rede sein kann. Ich habe jedenfalls bei meinen Recherchen geeignete Texte solcher Art, die einen Bezug zum CJF aufweisen, nicht auffinden können. Im Geheimen Staatsarchiv Merseburg 131 bin ich jedoch auf Akten gestoßen, die eine geeignete Alternative zu Verfahrensprotokollen darstellen. Dabei handelt es sich um die in der Einleitung genannten richterlichen Gutachten zu Fragen der Prozeßrechtsreform. Diese Gutachten sind Teil einer Aktensequenz 132 , die folgende Texte enthält: einen Brief Friedrich Wilhelm II. an den Justizminister v.Carmer (19.1.1787), zehn Vorschläge zur Reform des Zivilprozeßrechts von einem anonymen Autor, ein Promemoria zu den Vorschlägen und eine Bemerkung zu dem Promemoria (beide ebenfalls anonym), sowie gutachterliche Stellungnahmen von vier Richtern des Kammergerichts Berlin zu den Vorschlägen (vom Januar/Februar 1787). Der Hintergrund dieser Aktensequenz ist ein Vorstoß zur Zivilprozeßrechtsreform, der weitgehend vom König selbst ausging. Jedenfalls unterstützt Friedrich Wilhelm II. die Vorschläge und fordert offenbar auch selbst die richterlichen Gutachten darüber ein. Was die Stellungnahmen für die hier verfolgte Analyse so interessant macht, ist der Umstand, daß sie von ihrer Pragmatik her geradezu als ein 'historisches ExpertenintervieW angesehen werden können: Kompetente Rechtspraktiker werden zu ihrer Einschätzung von Verfahrensproblemen befragt. Man kann vermuten, daß sich in diesen praxisbezogenen Äußerungen ein faktisch operierender Professionshabitus in seiner möglichen Kontrastivität zu politisch-ideologischen Loyalitätsbindungen am ehesten unverstellt zeigen wird. Das sequenzanalytische Verfahren der objektiven Hermeneutik ist für die Analyse eines solchen Datenmaterials in besonderer Weise geeignet, da es ermöglicht, nicht nur die pointiert 'inhaltliche' Seite der Texte, sondern auch ihre 'Untertöne', das wenig Kontrollierte und scheinbar Nebensächliche, im Hinblick auf den Habitus zu rekonstruieren, der die Gesamtgestalt erzeugt. 131

Jetzt GStA Berlin-Dahlem.

132

Unter Rep. 84 X V I (Akten und Materialien zur Allgemeinen Gerichtsordnung,

1780-1797) 15 Bd. X (Monita ab 1786).

62

Α. Die Professionalisierungstheorie

Diese Vorschläge und die entsprechenden richterlichen Stellungnahmen 133 machen das Kernstück der Datenbasis aus, da sie einen Zugriff auf die faktische historische Rechtspraxis ermöglichen. Ihre Analyse steht jedoch erst am Ende der Untersuchung. Sie bildet den Endpunkt einer sich sozusagen reusenartig verengenden Sukzession von Interpretationen, welche sich auf unterschiedlichen Analyseebenen vor allem mit den institutionell-normativen Vorgaben und Gegebenheiten des richterlichen Handelns befassen. Ausgangspunkt der Analysen ist dabei jeweils das CJF, das dieses Vorgehen insofern ermöglicht, als es nicht nur Zivilprozeßrecht ist, sondern in vielerlei Hinsicht den Status eines allgemeinen Gerichtsverfassungsrechts hat. Das CJF selbst bildet damit die zweite Materialschicht dieser Untersuchung, die durch andere Gesetzestexte und verschiedene historische Daten ergänzt wird. Die Darstellung des empirischen Teils der Arbeit folgt in ihrem Aufbau der Abfolge der aufeinander bezogenen Analyseschritte: Im anschließenden Kapitel Β wird zunächst versucht, ein heuristisches allgemeines Modell der richterlichen Handlungsproblematik zu entwerfen, das die Folie für die Analyse der Gesetzestexte abgeben kann. Die zentralen Fragen sind hier: Was ist ein Rechtskonflikt? Wie läßt sich die Differenzierung von Straf- und Zivilrecht verstehen? Wie läßt sich die Differenz von formellem und materiellem Recht verstehen? Darüberhinaus wird eine erste Hypothese über die Ausrichtung des CJF erarbeitet. In Kapitel C sind diejenigen Paragraphen des CJF thematisch, welche die Initiierung des Prozesses regeln. Es werden erste Hypothesen über die Struktur dieses historischen Zvilverfahrens und die Kodifizierungspraxis, die sich in den Gesetzestexten ausdrückt, entwickelt. In Kapitel D geht es um die institutionelle Einbettung der Rechtspflege (z.B. durch die Stellung der Justiz zur Herrschaftsverwaltung oder die Struktur der Gerichtsorganisation) sowie die implizite Konzeption des richterlichen Berufshandelns, die im umfänglichen 'Pflichtenkatalog' des CJF enthalten ist. Die Interpretation des mit dem CJF eingerichteten Zivilverfahrens wird in Kapitel E wieder aufgenommen. Es beginnt mit der Explikation von Grundelementen eines idealtypischen Zivilverfahrens, wobei auch die Rolle der anwaltlichen Vertretung beleuchtet wird. Die anschließende Rekonstruktion der Verfahrensstruktur des CJF erfolgt im wesentlichen 'summarisch', d.h. es wird nicht mehr der Gesetzestext selbst interpretiert, sondern eine vom 1 3 3

Die beiden anonymen Kommentare können bei der Interpretation außer acht

gelassen werden, da die Stellungnahmen nicht auf sie eingehen. Sie waren den Richtern offenbar nicht bekannt.

ΠΙ. Aufbau der Arbeit

63

Verfasser vorgenommene Zusammenfassung der Verfahrensschritte. In dieses Kapitel ist ein Exkurs eingelagert, in dem der Frage nach den Gründen des Scheiterns des 'Assistenzratsmodells' nachgegangen wird. Während es in den vorhergehenden Kapiteln darum ging, das Verhältnis der institutionellen Einrichtungen zu einem möglichen professionellen Handeln in der Rechtspflege zu bestimmen, wird in Kapitel F mit den richterlichen Stellungnahmen zu den Reformvorschlägen dieses Handeln selbst betrachtet. Da die Interpretation der Texte sich sowohl vom Zeitaufwand als auch vom Textumfang her gesehen als sehr umfänglich erwies, wurde eine Begrenzung des Materials notwendig. Es werden daher nur zwei Vorschläge mit den entsprechenden Stellungnahmen betrachtet, die kontrastierende Themen betreffen: das Thema des Armenrechts und der persönlichen Anwesenheit der Parteien im Zivilverfahren. Am Ende der Untersuchung steht eine Schlußbemerkung, in der die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung mit konkurrierenden Ansätzen der Professionsgeschichte verglichen werden und ein Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen erfolgt.

Β. Der Rechtskonflikt als Bezugspunkt rechtspflegerischen Handelns Der Ausgangspunkt der Analyse soll der das 'Krisenexperiment' des preußischen Zivilprozesses auslösende Text, soll das Zivilprozeßrecht von 1781 selbst sein. Bevor aber die eigentliche Interpretation dieses Gesetzestextes im Hinblick auf die für das juristische Handeln wesentlichen Momente erfolgen kann, müssen vorab einige Klärungen vorgenommen werden, die die Frage nach dem spezifischen Charakter des zu untersuchenden Materials und der dadurch notwendig gemachten Vorgehensweise betreffen. Um was für eine Textsorte handelt es sich eigentlich und welche spezifisch historische Ausprägung hat sie erfahren? Zu einer Annäherung an den Text bietet sich eine Analyse des einzigen bisher bekannten Datums an: seines Titels. 1

L Das 'Ganze des Rechts* A m 26.April 1781 trat in Preußen das neue Gesetzbuch mit dem Namen "Corpus Juris Fridericianum" in Kraft. Genauer gesagt, nur ein Teil desselben, nämlich sein "Erstes Buch. Von der Prozeßordnung". Bemerkenswert ist, daß der Name dieses Gesetzeswerkes ein lateinischer ist, findet es doch auf ein deutschsprachiges Gebiet Anwendung. In früheren Zeiten wäre eine solche Übertragung des Lateinischen aufgrund seiner Verwendung als Amtssprache, als Sprache der gelehrten okzidentalen Welt motiviert gewesen. Diese Bedeutung hatte das Latein im Preußen des späten 18.Jahrhunderts in der Form jedoch nicht mehr. Warum also ein lateinischer Name für eine preußische Prozeßordnung, insbesondere, wo doch der Gesetzgeber - Friedrich II. - oft betont hatte, daß die Gesetze in einer den Untertanen verständlichen Sprache abgefasst sein sollten?

1

Interessanterweise wurde dieses Datum meines Wissens in der rechtshistorischen

Forschung bisher nicht thematisiert. Um in der folgenden Analyse eine möglichst voraussetzungsfreie Interpretation zu ermöglichen, werden zunächst die im vorigen Kapitel benannten, für die Gegenstandswahl notwendigen Kontextuierungen wieder abgeblendet.

I. Das 'Ganze des Rechts'

65

Betrachten wir zunächst die Übersetzung des lateinischen Ausdrucks. Die Grundbedeutung von "corpus" ist "Körper", "Leib", "Person", davon abgeleitet "ein Ganzes", in Bezug auf Schriftwerke auch "Gesamtwerk" oder "Sammlung". Im vorliegenden Fall - der Verbindung mit "ius"("Recht" 2 ) - ist eine Übersetzung mit "das Ganze" wohl am angemessensten, da sie die metaphorische Verwendung von "Körper" als einer organischen Einheit am besten wiedergibt. Mithin bezeichnet also "Corpus Juris" "das Ganze des Rechts". Diesem Begriff ist nun wie einem Eigennamen das Adjektiv "fridericianum" oder "friederizianisch" beigefügt, so daß die wörtliche Bedeutung von "Corpus Juris Fridericianum" als "Das friederizianische Ganze des Rechts" bestimmt werden kann. Dieser Titel verweist, wie jeder Jurist oder Historiker sofort sieht, auf das historisch bedeutsame Gebilde "Corpus Juris Civilis". Durch den gewählten Titel stellt sich das vorliegende Gesetzbuch in eine abendländische Rechtstradition, die ihren Anknüpfungspunkt in den von dem byzantinischen Kaiser Justinian zwischen 528 und 534 vorgenommenen Gesetzeskodifikationen hat. Diese Gesetzestexte - bestehend aus dem 'Codex' (einer Sammlung der Kaiserkonstitutionen inklusive der Gesetze Justinians), den 'Institutionen' (einem Lehrbuch des römischen Rechts), den 'Digesten' (einer Sammlung klassischer Juristenschriften) und den 'Novellen' (ergänzende Gesetze Justinians) - waren die wesentliche Grundlage der mittelalterlichen Rezeption des römischen Rechts. Dabei wurde das Studium der Texte unter dem Einfluß scholastischen Denkens mit einem Konzept der Einheitlichkeit des Rechts verknüpft, für welches dann wiederum die Justinianischen Kodifikationen - als Textganzes - in einer spezifischen Idealform standen.3 Auch wenn diese erst 1585 in der juristischen Literatur mit dem die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Rechts markierenden Namen "corpus iuris" bezeichnet wurden 4 , war das damit verbundene Konzept allgemein für die abendländische Rechtsentwicklung seit dem Mittelalter kennzeichnend.5 Ein Indiz dafür ist auch die seit dem 13. Jahrhundert übliche Bezeichnung "Corpus Juris Canonici" für das Kirchenrecht. Diese Tradition, auf die das CJF schon rein sprachlich verweist, ist jedoch nur ein Element des Komplexes der rechtshistorischen Bedeutung des corpus iuris. Andere zentrale Dimensionen 2

Auf den Unterschied zwischen "ius" und "lex" soll hier nicht eingegangen wer-

den. 3

So J.H.Bennan:"As in the case of theology, the written text as a whole, the Corpus Juris Civilis, like the Bible and the writings of the church fathers, was accepted as sacred, the embodiment of reason." J.H.Berman , Law and Revolution, Cambridge 1983, S.132. 4 In der kritischen Textausgabe von Dionysius Gothofredus; vgl. A.Söllner, Einführung in die römische Rechtsgeschichte, München 1989, S. 137. 5 Vgl. Berman, S.139ff.

Β. Der Rechtskonflikt

66

seien hier kurz genannt: das römische Recht galt traditionell als Kaiserrecht (so fügten die Kaiser des Mittelalters ihre Gesetze dem corpus iuris hinzu 6 ); es wurde als wesentliches Element des gelehrten Rechts zum Hauptbestandteil des sogenannten "gemeinen Rechts (ius commune)", des jenseits der partikularen Rechtskreise des Feudalismus allgemein (jedoch nur subsidiär) geltenden Rechts; das Recht des römischen Bürgers (corpus iuris civilis) wurde im wesentlichen mit dem Bereich der heute sogenannten zivilrechtlichen Problematik identifiziert (auch wenn einige strafrechtliche Thematiken in ihm enthalten waren). Der Titel des CJF verweist also zunächst, anstatt auf einen materialen Rechtsbereich, auf eine rechtshistorische Tradition. Die hier grob skizzierten Dimensionen dieser mit dem Begriff 'corpus iuris' verknüpften Tradition müssen bei der bewußten Namensgebung des neuen preußischen Gesetzbuches als Hintergrund auf jeden Fall mitthematisch gewesen sein, auch wenn sich hier nicht sagen läßt, auf welche Elemente konkret Bezug genommen wurde, noch, ob die Namensgebung zentral von Friedrich II. oder von seinen Beratern ausging.7 Die spezifische Verortung in dieser Tradition verdeutlicht den Geist der preußischen Rechtsschöpfung und die historische Übergänglichkeit dieser Epoche. Wenn das CJF auf die Rechtssammlung Justinians verweist, Friedrich II. also in gewisser Weise dessen Nachfolge antritt, geht es jedoch zum einen schon deshalb darüber hinaus, weil es sich gleichzeitig auf eine Interpretation dieser Rechtssammlung als Inbegriff des Rechts in seiner Gesamtheit, auf die Idee der Geschlossenheit des Rechtssystems bezieht. Diese Ausrichtung ist noch dadurch verstärkt, daß der gewählte Titel in einer spezifischen Nuance über das historische Vorbild hinausgeht: Das direkte sprachliche Pendant, "Corpus Juris Fridericiani" bzw. "Das Ganze des friederizianischen Rechts", wurde nicht gewählt, sondern eine die Einheit und Geschlossenheit noch mehr betonende Variante. Zum anderen wird das, was vorher quasi ein rechtswissenschaftliches Konstrukt war, jetzt praktisch realisiert: nach dem Modell des römischen Rechts in seiner abendländischen Rezeption wird in einer Neuschöpfung ein 'organisches Ganzes des Rechts' eingerichtet. Der Name "Corpus Juris Fridericianum" repräsentiert damit eine eigentümliche Idee der Innovation, nämlich eine fundamentale Neuerung, die gleichzeitig in ihrer organischen Geschlossenheit - schon etwas in sich 'fertiges', beendetes

6

Vgl. H.Mitteis/H.Lieberich,

7

Daß wohl eher letzteres der Fall war, zeigt eine Bemerkung Friedrich Π. zu einem

Deutsche Rechtsgeschichte, München 1988, S.324.

Immediatbericht über das CJF, der ihm 1780 von seinem damaligen Justizminister v.Carmer vorgelegt wurde: "Der Titel ist indifferent, wenn nur die Sache von Nutzen ist." (Aus: F.Ebel, 200 Jahre preußischer Zivilprozeß, Berlin/New York 1982, S. 19)

I. Das 'Ganze des Rechts'

67

ist. 8 Die in diesem Rekurs auf eine Rechtstradition angelegte Programmatik einer universalistischen Kodifizierung steht dabei in einer eigentümlichen Spannung zu der durch das Adjektiv f f fridericianum ,, ausgedrückten Bindung an die personale Herrschaftsgewalt: das "Ganze des Rechts" hat einen partikularen 'Autor', den spätabsolutistischen Herrscher. Die hier entwickelte Rekonstruktion findet sich durch einige historische Daten bestätigt. 1746 gab Friedrich II. seinem damaligen Justizminister Cocceji auf dessen Anregung hin den Auftrag, ein "Teutsches Allgemeines Landrecht" zu verfertigen. 1749 hatte Cocceji den ersten Teil eines solchen Gesetzbuches, welches von ihm "Project des Corporis juris Fridericiani" genannt wurde, fertiggestellt. Die Leitidee war, das römische Recht als Quelle naturrechtlicher Bestimmungen zu verwenden, welche dann die Basis für die Erstellung eines Landrechtes im Sinne eines "jus naturae privatum" abgeben sollen. Allerdings blieb das Werk nur Fragment. 9 Dieses Projekt scheint zumindest als Projekt der direkte Bezugspunkt des CJF gewesen zu sein. 10 Man kann nun aus der Anlehnung an das corpus iuris nicht schließen, daß der Gesetzgebungsakt selbst strukturell homolog der Gesetzgebung Justinians war. Letztere bestand, wie schon der Inhalt der Teile des corpus iuris zeigt, vor allem in einer Sammlung und Komprimierung bestehender Gesetze und 8

Das CJF scheint so geradezu programmatisch das zu verkörpern, was Hegel eine "deutsche Krankheit" genannt hat, nämlich an ein Gesetzbuch die Forderung zu stellen, daß es ein "absolut fertiges, keiner weiteren Fortbestimmung fähiges sein solle". (G. W.F.Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §216, Werke Bd.7, Frankfurt/M. 1970) 9

Vgl. das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (A.Erler/E.Kaufmann hrsg.), Band 1, Berlin 1971, S.616ff. 10

Die nicht ganz eindeutige Sprachregelung bezüglich des Titels dieses Projekts läßt vermuten, daß die von uns in der Interpretation aufgemachte Differenz von Corpus Juris Fridericianwm und Corpus Juris Friderician/ auch real von Bedeutung war. So reserviert z.B. E.Schmidt (Rechtsentwicklung in Preußen, Darmstadt 1961, S.27) den letzteren Ausdruck explizit für das von Cocceji verfolgte Projekt. Allerdings läßt der Titel dieses Werks aufgrund der Genitivkonstruktion keinen eindeutigen Schluß in dieser Hinsicht zu. Die Berichte Coccejis an Friedrich Π. (in: ABB 1,8) legen eher die Vermutung nahe, daß Cocceji bezüglich der Grammatik des Titels keine eindeutige Position verfolgte: einmal (in einem Immediatbericht vom 16.6.1748) spricht er von "dem Corpore juris Fridericiani", ein andermal (in einem Immediatbericht vom 5.9.1749) heißt es "das Corpus juris Fridericianum". Man muß vermuten, daß seine Nachfolger sich angesichts der nicht eindeutig determinierten Grammatik des Titels bewußt für die 'programmatischere' Variante unter den beiden möglichen entschieden haben.

Β. Der Rechtskonflikt

68

juristischer Schriften, in die die Gesetzgebung Justinians selbst als ein Element unter anderen eingegliedert wurde. Der eigentich positivierende gesetzgeberische Akt bestand 'nur' in der abschließenden Verkündung der allgemeinen und ausschließlichen Geltung dieser Sammlung. Die programmatische Ausrichtung des preußischen Rechts läßt vermuten, daß die Kodifikation hier eine andere Gestalt hatte. Tatsächich bestand der Gesetzgebungsvorgang hier nicht in der Sammlung hauptsächlich empirisch vorgefundener Gesetze: zwar sollten anfangs - gemäß der die preußische Rechtsreform allgemein anleitenden Kabinettsorder vom 24. April 1780 11 - für jede Provinz eigene Gesetzbücher im Sinne einer solchen Sammlung erstellt werden, bezüglich deren dann das neue Recht nur als subsidiäres gedacht war, auf welches der Richter "beym Mangel der Provinzial-Gesetze recurriren" konnte, jedoch setzte das Publikationspatent vom 26. April 1781 das CJF als allgemeines, für den gesamten Herrschaftsbereich ausschließlich geltendes Recht ein. Im Verlauf der Abfassung des Gesetzestextes wurden zwar die einzelnen Landesjustizkollegia einbezogen, d.h. sie konnten und sollten Beschwerden und Anmerkungen äußern, das neue Gesetz wurde jedoch weitgehend unabhängig von den Landesgesetzen entwickelt. Überhaupt nahm man in dem sehr schnell ablaufenden Kodifikationsprozeß nicht allzu große Rücksicht auf die Ansichten der Provinzialregierungen: so wurde den Regierungen und Gerichten der 2.Teil des Gesetzes erst am 1.3.1781 zugesandt, der 3. und 4. Teil sogar erst am 30.5. Und noch Wochen nach diesem Termin monierten einige Regierungen, daß Teile der Prozeßordnung noch nicht angekommen waren. 12 Im Gehäuse des Verweises auf die Kodifikationen eines spätrömischen Kaisers fand also eine Gesetzgebung statt, die ein schönes Beispiel der Logik absolutistischer Herrschaft mit ihrer Ausrichtung auf territorialstaatliche Schließung und Vereinheitlichung darstellt. Schon durch seinen Namen ist das neue Gesetzbuch eingerückt in ein Programm umfassender Kodifikation, ein Zäsur setzendes Programm der Vereinheitlichung des Rechts, dessen Resultat wie ein repräsentatives Gebäude mit dem Namen Friedrichs verbunden war. 1 3

11

In: NCC VI, Sp. 1935-1944 (auch im CJF abgedruckt).

12

GStA Merseburg, Rep.84, Abt. XVI: Akten und Materialien zur Allgemeinen Gerichtsordnung ( 1780-1797), 14 Bd.I. 13

Dieser programmatische Charakter wird durch die Tatsache unterstrichen, daß die erste von Friedrich Π. (1748) erlassene Prozeßordnung den Titel "Codex Fridericianus Marchicus" trug, sich also nur in Bezug zu dem Teil des corpus iuris setzte, der die Sammlung der verschiedenen Kaisererlasse enthielt. Die Bezeichnung "codex" war offensichtlich - wie die Beispiele vom Codex Theodosianus (438) bis zum Codex Maximilianaeum Bavarious Civilis (1756) und dem nie in Kraft getretenen öster-

I. Das 'Ganze des Rechts'

69

Dabei handelt es sich jedoch um eine Innovation, die von ihrem Geist her paradoxerweise traditional ist. Das CJF ist noch keine zukunftsoffene Kodifikation, sondern es prätendiert die Geschlossenheit einer naturwüchsigen, organischen Einheit. Ein so weitreichender Anspruch, obwohl ein zweites Buch des CJF mit dem materiellen Zivilrecht niemals erscheinen und die als das erste Buch veröffentlichte Prozeßordnung nur insgesamt 12 Jahre in Kraft sein sollte! Aber um was für ein Gesetz handelt es sich nun eigentlich? Der durch "corpus juris" gegebene Hinweis auf das Zivilrecht ist nur ein sehr impliziter, zumal hier im Unterschied z.B. zum bayerischen Zivilrecht von 1756 14 das Prädikat "civilis" fehlt, welches ein deutlicherer Verweis auf den vorliegenden materialen Rechtsbereich wäre. Der Titel des ersten - und einzigen - Buches wurde schon genannt: "Von der Prozeßordnung". Auch hier erfolgt keine nähere Bestimmung. Nimmt man diesen Titel für sich, so ist verwunderlich, daß hier von "Prozeßordnung" (im Singular) gehandelt werden soll, denkt man doch vom Standpunkt der ausdifferenzierten materialen Rechtsbereiche sofort an die verschiedenen Prozeßordnungen, die sich auf die Bereiche des Zivilrechts, des Strafrechts und des öffentlichen Rechts beziehen. Welche Prozeßordnung ist hier gemeint? Daß hier von der Prozeßordnung die Rede ist, müßte nun eigentlich bedeuten, daß im vorliegenden Fall die genannten Bereiche historisch noch nicht ausdifferenziert sind und es tatsächlich nur eine Prozeßform für rechtliche Konflikte gab. Dies ist natürlich - so können wir hier einziehen nicht der Fall. 1 5 Daß es sich bei der vorliegenden Prozeßordnung faktisch um eine Zivilprozeßordnung handelt, wird aber nicht ausdrücklich genannt. "Von der Prozeßordnung" diskriminiert nur indirekt zwischen Verfahrensrecht und materiellem Recht, der Bereich dieses materiellen Rechts liegt hinter dem übergreifenden Titel verborgen. Vielleicht erfolgt eine Klärung im Rahmen der Gliederung des Gesetzbuchs? Das Inhaltsverzeichnis gliedert das CJF in vier Teile: 1. "Vom gerichtlichen Verfahren im ordentlichen und gemeinen Prozesse", 2. "Von Untergerichts- und summarischen Prozessen", 3. "Von den Pflichten der bei der Justiz angesetzten Personen", 4. "Von den Gesetzen, welche die Prozeßordnung näher bestimmen". reichischen Codex Theresianus (1766) zeigen - die übliche Bezeichnung des im eigentlichen Sinne herrschaftlichen Rechts. 14 Siehe Fn 13. 15

So gibt es ein eigenständiges Strafverfahren, daß - bezogen auf den hier behan-

delten Zeitraum - seit 1717 durch die Kriminalordnung geregelt wird. Deren bedeutendste Modifizierung bis zu dem hier thematischen Zeitraum war die Abschaffung der Folter 1740. Eine Neufassung der Kriminalordnung erfolgte jedoch erst 1805. 6 Maiwald

Β. Der Rechtskonflikt

70

Nur die Überschriften der ersten beiden Teile könnten Auskunft über den Bereich, auf den sich das CJF bezieht, geben. Dabei soll uns die Differenz von ordentlichem und summarischem Verfahren hier nicht so sehr interessieren, da sie unspezifisch bezüglich des materiellen Rechts ist. 1 6 Bliebe als mögliche Bestimmung nur der "gemeine Prozeß". Wie schon oben ausgeführt, bezeichnet der Terminus "gemeines Recht" dasjenige Recht, das jenseits der Partikularrechte allgemein galt, und bestimmt somit - auch wenn das römischkaiserliche Recht hier die Hauptrolle spielte - nicht eindeutig einen materialen Rechtsbereich. So fallt zusätzlich unter den Begriff ius commune eine ganze Liste von Rechten: Hauptsächlich das kanonische Recht, aber auch z.B. das gemeine (langobardische) Lehnsrecht, das gemeine Sachsenrecht oder der gemeine Stadtbrauch können hier prinzipiell gemeint sein. 17 Voraussetzung für diese Interpretation ist jedoch, daß man unter "gemeiner Prozeß" allgemein den Prozeß im "gemeinen Recht" versteht. Es gibt aber auch den "Gemeinen Prozeß" als spezielleren Terminus: dieser meint eine besondere Form des Zivilprozeßes, die im Reichsabschied von 1654 sanktioniert wurde. 18 Bezieht sich das CJF tatsächlich auf diesen historischen Vorläufer oder haben wir uns bei dieser Interpretation zu sehr von der Logik des Verweises auf Rechtstraditionen leiten lassen? Tatsächlich ist diese Lesart nicht unbedingt zwingend, denn "gemein" könnte hier auch durchaus im alltagssprachlichen Sinne gebraucht sein, und der "ordentliche und gemeine Prozeß" nur die Differenz zum "außerordentlichen und speziellen Prozeß" markieren. Wie dem auch sei, wir können für unsere Zwecke festhalten, daß in der zur Rahmung des Gesetzestextes verwendeten Begrifflichkeit eine Charakterisierung des Gegenstandsbereichs nur durch impliziten Verweis auf eine Rechtstradition erfolgt und nicht durch einen eigenständigen prägnanten Begriff. So sind z.B. die Bezeichnungen der gegenwärtigen deutschen Gesetzbücher nicht nur Eigennamen dahingehend, daß sie auf einen je konkreten Referenten verweisen, sondern sie können gleichzeitig als allgemeine Kennzeichnung ihres Inhalts dienen. Dies gilt in dieser Form für das CJF nicht, obwohl zur damaligen Zeit Bereichskategorisierungen wie "Civilsache" oder "Civilprozeß" durchaus 16

Bei

der

Differenz

von

"ordentlichem"

und

besonderem,

d.h.

hier:

"summarischem", Prozeß handelt es sich um eine damals übliche Unterscheidung, die auch im Strafprozeß Anwendung fand: im summarischen Prozeß kommen im Gegensatz zum ordentlichen in besonderen Fällen (z.B. bei Besitz- oder Baustreitigkeiten, beim Exekutivprozeß, beim Arrestprozeß) nicht alle Rechtsmittel zur Anwendung. Es handelt sich um Abkürzungsverfahren, die entweder gesetzlich näher bestimmt sind oder im Ermessensspielraum des Richters liegen. 17

Hierzu: H.Coing,

Europäisches Privatrecht, Bd.I, München 1985, s.34 ff.;

Handwörterbuch z.d. Rechtsg. Bd.I 1971, S. 1506ff. 18

Mitteis/Lieberich,

S.391.

I. Das 'Ganze des Rechts'

71

schon vorlagen. Da man nicht davon ausgehen kann, daß im Preußen des 18. Jahrhunderts diese implizierten Rechtstraditionen allgemein bekannt waren, kann man sagen, daß schon durch die Wahl der den Gesetzestext als solchen charakterisierenden Begrifflichkeit "Recht" tendenziell als Angelegenheit von Experten voreingerichtet ist. Da es zur damaligen Zeit schon prägnantere Bezeichnungen gab, wird man vermuten dürfen, daß diese nur durch Expertenwissen aufzulösende Ambiguität der Kategorisierung der programmatischen Ausrichtung des Titels geschuldet ist: Es war offensichtlich wichtiger, das fundamental Innovative des Gesetzbuchs in terms der Rechtstradition zu bezeichnen, als es explizit als Zivil(prozeß)recht auszuweisen.19 An dieser Stelle muß man noch auf eine bisher nicht genannte Bedeutungsnuance hinweisen, die sich daraus ergibt, daß der Titel zwar implizit auf die zivilrechtliche Problematik verweist, das damit eingerichtete Programm jedoch über diesen Rechtsbereich hinausgeht. Was bedeutet es, daß unter der Bedingung eines ausdifferenzierten Strafrechts "das Ganze des Rechts" mit dem Zivilrecht identifiziert wird? Diesem Rechtsbereich wird offensichtlich eine herausgehobene Bedeutung zugeschrieben, gegenüber der das Strafrecht eigentlich als gar kein "Recht" im eigentlichen Sinne erscheint. Eine vorsichtige Vermutung könnte dahin gehen, daß in dieser Epoche das Strafirecht noch nicht so zur Disposition einer herrschaftlichen Kodifikation stand wie das Zivilrecht, da es näher an der substantiellen Sittlichkeit liegt. Dafür würde z.B. auch die lange Geltungsdauer des preußischen Kriminalrechts sprechen. Das "Corpus Juris Fridericianum" verweist schon durch seinen Titel auf die historische Übergänglichkeit seiner Epoche. Er gibt Aufschluß darüber, daß es sich um eine fundamentale Neuerung handelt, die in einem ganz spezifischen zeitgebundenen Geiste vorgenommen wurde. Mit dem Anspruch eines in sich naturwüchsig geschlossenen Ganzen erfolgte tendenziell eine Neubestimmung des Rechts überhaupt, eine neue Rechtsverfassung. Die grundlegende Innovation zeigt sich auch in den Kapitelüberschriften, insbesondere in der des dritten Teils, denn hier werden rechtsbereichsunspezifisch die "Pflichten der bey der Justiz angesetzten Personen" allgemein festgelegt. Dieser Stellenwert des CJF läßt es als lohnend erscheinen, das Gesetzbuch als Datum der institutionellen Bedingungen und Konzeptualisierungen des richterlichen Handelns zu dieser Zeit zu analysieren. Doch wie analysiert man einen solchen Text? Bevor die eigentliche Interpretation beginnen kann, müssen einige Punkte geklärt werden, die die Pragmatik der Textgattung "Zivilprozeßrecht" betreffen. Ein solches Vorgehen ist

19

Man beachte im Kontrast dazu den Namen des das CJF ablösenden Gesetzes-

werks: Allgemeine Gerichtsordnung.

72

Β. Der Rechtskonflikt

allgemein deshalb notwendig, da es sich bei dem zu untersuchenden Text um einen spezifisch 'gemachten' Text handelt. Die Interpretation erfordert in diesem Fall eine Rekonstruktion der Pragmatik des jeweiligen Textes, d.h. es muß bestimmt werden, was die Textgattung als solche ausmacht. Die Pragmatik ist zwar prinzipiell auch aus dem konkreten Text zu erschließen, denn sie ist ja in seine Ausdrucksgestalt eingegangen; jedoch soll uns das CJF hier nicht Aufschluß darüber geben, was ein "Zivilprozeßrecht" ist, sondern es soll uns nur dahingehend interessieren, welche juristische Praxis durch es eingerichtet ist. Beide Fragen gleichzeitig zu verfolgen, würde die Analyse sehr unübersichtlich gestalten. Es gibt darüberhinaus ein weiteres Problem, das eine völlig voraussetzungslose Rekonstruktion der Textpragmatik aus dem konkreten Gesetzestext erschwert und auf das hier kurz im Vorgriff verwiesen werden soll. Das 'Normative' der Rechtsnorm liegt im positiven Recht nämlich typischerweise nicht in der sprachlichen Ausdrucksgestalt der Gesetzestexte, sondern in deren Rahmung: Da es sich bei den kodifizierten Rechtsnormen im wesentlichen um Regeln einer spezifischen Konfliktlösungspraxis handelt, ist ihre illokutionäre Struktur rein sprachlich die von Assertiven (d.h. wahrheitsfähigen Propositionen), bzw. ist sie prinzipiell in eine solche Struktur überführbar. 20 Ihren normativen Gehalt beziehen die Rechtsnormen erst aus ihrer Rahmung, nämlich daß sie als Entscheidungsregeln gelten. Ohne diese Rahmung in die Interpretation einzubeziehen, könnte man diese Texte tendenziell als ethnographische Texte verstehen, d.h. als Texte, die eine regelhafte Praxis nur abbilden. Es ist somit notwendig, vorab zu klären, um was es sich bei dem Texttypus, dessen 'token' das CJF ist, handelt, damit man eine Folie für die Interpretation bekommt. Dabei müssen verschiedene Abstraktionsniveaus beachtet werden, denn "Zivilprozeßrecht" verweist auf die einbettende Problematik des Zivilrechts, und dieser materiale Rechtsbereich ist wiederum eingebettet in das übergreifende Problem des Rechts. Die Notwendigkeit einer solchen Begriffsklärung verdeutlicht, daß eine professionalisierungstheoretische Analyse, die sich auf die Logik der entsprechenden Handlungsbereiche konzentriert und sie nicht - wie in dem dominanten Modell - letztlich als 'black box' behandelt, nicht umhin kommt, auch grundsätzliche Aussagen über diese Bereiche zu treffen. Dabei besteht nun das Problem, daß die hier angestrebten Bestimmungen in einem rein heuristischen Modell von "Recht", "Zivilrecht" und "Zivilpro-

2 0

Ich beziehe mich hier auf die von Searle (in: J.R.Searle, Ausdruck und Bedeu-

tung, Frankfurt/M. 1982, S.31ff.) vorgeschlagene Taxonomie von Sprechakten.

73

I. Das 'Ganze des Rechts'

zeßrecht" münden sollen, ohne den Gegenstand v o n vornherein deflatorisch festzulegen. Aus diesem G r u n d ist auch eine ausgiebige Literaturdiskussion hier nicht a m Platz, da man, u m die verschiedenen - i n der Regel v o n bestimmten Theorietraditionen her auf das Ganze der Phänomene des Rechts gehenden - Positionen überhaupt beurteilen zu können, selbst schon eine vertreten können muß. H i n z u tritt das Problem, daß zumindest i n der soziologischen Literatur die hier vor allem interessierende Frage der Bestimmung der Eigenlogik der materialen Rechtsbereiche eigentlich k e i n Thema i s t . 2 1 W i e läßt sich n u n ein möglichst allgemeines soziologisches M o d e l l v o n "Recht" bilden, das - jenseits eines Anspruchs auf Originalität - es ermöglicht, die konkrete Rechtspraxis zu rekonstruieren?

21

Die Frage der Differenzierung der materialen Rechtsbereiche ist für eine

Rechtssoziologie, die sich der "Rechtstatsachenforschung"

oder "soziologischen

Jurisprudenz" verschrieben hat und sich die Forschungsfragen von der Rechtswissenschaft vorgeben läßt, per se kein Erklärungsproblem (Vgl. exemplarisch: M.Rehbinder, Rechtssoziologie, Berlin/New York 1989, S.9ff). Aber dieses Problem - wie generell die Frage nach der Genese der je konkreten Rechtsnormen - ist auch in der mit allgemeinerem soziologischen Anspruch auftretenden Rechtssoziologie vernachlässigt. So liegt z.B. für so unterschiedliche Klassiker der Rechtssoziologie wie Th.Geiger und E.Ehrlich die Frage, welche Normen zu Rechtsnormen werden, jenseits des sozialwissenschaftlich erklärbaren: Ersterer gibt angesichts des Problems des Übergangs von "regelhaftem Handeln" über "subsistente Norm" zur Rechtsnorm die Formel "ignoramus" aus, während für letzteren das Verhältnis von außerrechtlicher Norm und Rechtsnorm letztlich eine Frage der "gesellschaftlichen Psychologie"

ist, die

bestimme, welcher Norm eine "opinio necessitatis" zukomme (vgl. Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Neuwied 1964, S.120; E.Ehrl ich, Grundlagen der Soziologie des Rechts, Berlin 1989, S.146f.). Selbst in der Rechtssoziologie Max Webers werden - gleich zu Beginn - nur die bestehenden unterschiedlichen Abgenzungen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht diskutiert, ohne zu einer eigenständigen Differenzierung zu gelangen. Ähnlich steht es mit der Trennung von Straf- und Zivihecht ( M Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S.387f. und S.39Qf.). In der modernen Rechtssoziologie ist die für eine professionssoziologische Analyse so zentrale Frage vielleicht auch deshalb kein Thema, da sie ihren Gegenstandsbereich häufig implizit durch die 'Gesetzesförmigkeit' von Normen bestimmt sieht. In dieser Perspektive ist eine Differenzierung von gesetzesförmigen Regierungsakten und den eigentlichen Normen rechtlicher Konfliktlösung nicht angelegt: Als 'Rechtsnorm' gilt alles, was die Form eines Gesetzes hat.

74

Β. Der Rechtskonflikt

Π. Die Strukturlogik des Rechtskonflikts Es ist bei der Entwicklung eines solchen Modells angebracht, mit der Klärung der allgemeinsten Frage zu beginnen und zu bestimmen, was soziologisch unter "Recht" zu verstehen ist, um von da aus die Fragen nach dem Charakter von "Zivilrecht" (im Unterschied zu anderen Bereichen materiellen Rechts) und "Prozeßrecht" zu behandeln. Um dabei zu einer möglichst voraussetzungslosen Bestimmung zu gelangen, bietet sich als Zugang eine Untersuchung der alltagssprachlichen Verwendungsweisen von "Recht" an. 2 2 Betrachten wir einige 2 3 Beispiele dieser Verwendungen: "du hast recht gehabt", "sie hat recht bekommen" im Kontrast zu "sie hat recht behalten", "mit vollem Recht behauptet er das", "sie ist im Recht", "du mußt ihm recht geben", "er hat das Recht auf χ verloren", sowie - heutzutage weniger gebräuchlich "indem er das getan hat, hat er recht getan". Die Verwendungsweisen "recht haben", "recht behalten", "recht geben", "im Recht sein" haben zur Voraussetzung das Vorliegen einer konkreten Strittigkeit zwischen zwei (oder mehr) Positionen, bezüglich deren eine Klärung erfolgt ist oder zumindest prinzipiell erfolgen kann. Die Pragmatik der Strittigkeit ist hier zentral, dagegen der Bereich, auf den sie sich bezieht, eher sekundär. In diesem Rahmen von Strittigkeit und Klärung werden mit den Verwendungsweisen Zuschreibungen bezüglich der in dem Klärungsprozeß 'obsiegenden' Position vorgenommen (in diesem Sinne am direktesten: "recht geben"). Die Rede von "recht bekommen" verweist demgegenüber schon auf den autoritativen Akt der Sanktionierung einer Position 24 , während "ein Recht auf etwas haben" die legitime, d.h. eigentlich unstrittige Inanspruchnahme bestimmter Handlungen, die aber konkret als strittig erscheinen, meint. Einem demgegenüber anders gelagerten Bedeutungskreis gehört die Rede von "recht tun" oder "mit Recht etwas tun" an. Hier wird nicht auf eine Strittigkeit verwiesen, sondern implizit die Erfüllung eines normativen Musters in Anspruch genommen, nämlich das 'richtige' im Rahmen einer nicht kodifizierten Billigkeitsvorstellung zu tun. 2 2

In die folgenden Überlegungen gehen Ergebnisse eines von U. Oevermann und A.Wernet im Sommersemester 1990 und dem darauffolgenden Wintersemester gehaltenen Seminars "Probleme der Rechtssoziologie und die Professionalisierung der Rechtspflege" ein. 2 3

Die Formulierungen mit Dativ ("das ist mir recht" usw.), sowie der Gebrauch rein im Sinne von "richtig" sollen hier nicht behandelt werden. Auch der Gebrauch von "Recht", in dem schon implizit auf eine Rechtsordnung verwiesen wird (wie z.B. "Recht sprechen"), soll uns als ein abgeleiteter hier nicht interessieren. 2 4

Man hat nicht immer dann, wenn einem "recht gegeben" wird, auch "recht bekommen".

Π. Die Strukturlogik

75

Nach dieser ersten Annäherung läßt sich "Recht" also - zunächst - nicht als etwas 'Substanzhaftes', als ein eigener Bereich des Normativen (im Unterschied z.B. zu 'Sitte' und 'Gewohnheit') bestimmen, sondern es scheint seinen Ort vielmehr in einer spezifischen Pragmatik der Strittigkeitslösung zu haben. Anders gesagt: Recht ist etwas, daß sich in dieser spezifischen Strittigkeitslösung erst herstellt. Wie die Beispiele zeigen, wird es sich bei dieser Form des Konflikts zentral nicht um einen hypothetischen Konflikt (wie v.a. in der Proponenten/Opponenten-Struktur des wissenschaftlichen Diskurses vereinseitigt), sondern vielmehr um einen praktischen Konflikt handeln, einen Konflikt, der einer Klärung im eigentlichen Sinne bedarf und dessen auch fähig ist. Empirische Voruntersuchungen zu dieser Arbeit, insbesondere eine Analyse einer frühmittelalterlichen Fehdehandlung, legten nahe, einen weiteren zentralen Aspekt der rechtlichen Strittigkeitsklärung im Rekurs auf ein vermittelndes Drittes zu sehen, einen Rekurs auf diejenige Instanz, die in den obigen Beispielen autoritativ entscheidet, wer "recht bekommt". In diesem historischen Fall wurden in einem Konflikt, der sich durch praktische Kompromißflndung nicht mehr lösen ließ, die möglichen Formen der Bearbeitung der Strittigkeit durchgespielt: feindschaftliche Fehdehandlungen, Zweikampf und Rekurs auf eine mediatisierende Instanz (wobei diese als Gerichtsinstanz noch sehr unvollständig ausgebildet war, weshalb auch keine stabile Konfliktlösung erfolgte). Während man bezüglich des ersten Typs der Konfliktbearbeitung noch gar nicht von einer Strittigkeitslösung im eigentlichen Sinn sprechen kann, da hier ein Wechselspiel rein feindschaftlicher Akte zur Rechtsdurchsetzung erfolgt, die bestenfalls ex post nach gesellschaftlichen Standards von Fehdehandlungen ausgeglichen werden können, stellt der duellförmige Zweikampf insoweit schon eine Strittigkeitslösung dar, als sich die Kontrahenten wechselseitig auf ein Verfahren der Auseinandersetzung und Konfliktbereinigung 'geeinigt' haben. Es ist jedoch eine Lösung nur im formellen Sinne, ein Arrangement, das sozusagen minimalistisch auf die Notwendigkeit einer Entscheidung antwortet. Zudem ist die Einhaltung der Standards der Auseinandersetzung und Konfliktbeendigung den Kontrahenten selbst aufgebürdet. Davon hebt sich der dritte Typ dadurch ab, daß hier eine Instanz erscheint, die nicht nur im Sinne einer 'dritten Partei' in das Konfliktgeschehen eingreift, sondern die den Konflikt auf eine andere Ebene hebt, indem sie ihn nach allgemeinen, konfliktbezogenen Entscheidungskriterien 'bearbeitet'. Erst dadurch ist die Möglichkeit einer stabilen Strittigkeitslösung gegeben. Mit dieser 'Instanz des Dritten' ist im hier entwickelten Modell des Rechtskonflikts allgemein die Strukturstelle der Vermittlung zwischen antagonistischen Positionen gemeint; und zwar eine Vermittlung nicht im Sinne einer "Schlichtung", sondern im Sinne einer "Klärung" von Rechtsstandpunkten nach allgemeinen, überpersönlichen Kriterien. Dabei ist es vom Modell her zunächst uninteressant, welche Gestalt diese Instanz im Einzelfall haben mag,

76

Β. Der Rechtskonfikt

ob sie in Form einer Entscheidung eines Stammes (mit implizitem Rekurs auf Gerechtigkeitsvorstellungen), in einer bestimmten Form eines Gottesurteils oder in Form ausdifferenzierter Institutionen vorliegt. In jedem Fall ist für einen Rechtskonflikt in diesem Sinne konstitutiv, daß die Entscheidung dieser mediatisierenden Instanz prinzipiell konsensfahig ist, d.h. der Instanz muß in ihrer Funktion Legitimität zukommen, damit die Lösung des Konflikts überhaupt eine sein kann. Wir wollen hier jedoch mit Durkheim von einem Rechtskonflikt im eigentlichen Sinne erst dann sprechen, wenn eine eigens mit der Konfliktlösung betraute Institution ausdifferenziert ist 2 5 , und zwar als Institution, der zudem eine Erzwingungsgewalt zur Durchsetzung ihrer Entscheidung zukommt. 26 Solange es diese Erzwingungsgewalt nicht gibt, handelt es sich bei der mediatisierenden Instanz um eine Schiedsinstanz, die zwar schon auf überpersönliche Kriterien der Urteilsfindung rekurriert, die sich jedoch praktisch wenig von einer Schlichtungsinstanz unterscheidet, denn ihr Urteil ist im konkreten Fall immer an die Anerkenntnis der Parteien gebunden. Eine praktische Klärung und Beendigung der Strittigkeit erfolgt strukturell erst mit der Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung des Urteils. Da die Erzwingungsgewalt als Polizeigewalt letztlich von der politischen Gemeinschaft bereitgestellt werden muß, ist die Rechtsprechung somit an die Herrschaftsinstanz rückgebunden. Bezüglich der Institutionalisierung eines Organs des 'Dritten' muß man nun zwei Momente unterscheiden: die Einrichtung eines Gerichts als der konkreten, mit der Klärung von Strittigkeiten befaßten Instanz, und die Ausbildung desjenigen, worauf dieses Gericht im Rahmen der Klärung rekurriert, 2 5

Durkheim spricht im Zusammenhang seiner Straftheorie davon, daß das zentrale

Kriterium der legalen Bestrafung in der Tatsache besteht, daß sie organisiert ist: "Die einzige Organisation, auf die man überall trifft, wo es eine eigentliche Strafe gibt, beschränkt sich...auf die Errichtung eines Gerichts. Wie es aber auch immer zusammengesetzt sei, ob es das ganze Volk umfaßt oder nur eine Auswahl, ob es einer geregelten Prozedur folgt oder nicht, sei es bei der Ermittlung oder der Durchführung der Strafe, allein dadurch, daß die strafbare Handlung, statt von jedermann abgeurteilt zu werden, der Beurteilung einer eigens dafür gebildeten Körperschaft unterworfen ist, allein dadurch, daß die kollektive Reaktion durch ein bestimmtes Organ vermittelt wird, ist sie nicht länger diffus, sondern organisiert." (E.Durkheim , Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/M. 1988, S.146.) 2 6

Vgl. auch R.D.Schwartz/J. C.Miller

y

Legal Evolution and Societal Complexity,

in: AJS 70 (1964), S. 159-169. Die Autoren entfalten hier ein Modell, nach dem das moderne Rechtssystem in der sukzessiven Herausbildung der Elemente "mediation", "police" (zur Normdurchsetzung), sowie "counsel", entsteht.

77

Π. Die Strukturlogik

d.h. das 'Dritte' im Sinne allgemein geltender Standards von Gerechtigkeit. Eine wirkliche Klärung der Strittigkeit kann erst dann erfolgen, wenn im Rahmen der Entscheidungsfindung der Einzelfall im Lichte allgemein geltender Normen betrachtet werden kann. Rein formell irrationale Entscheidungsmittel (Gottesurteil) stellen diesbezüglich einen Grenzfall dar, da hier die Standards der Gerechtigkeit, die die Entscheidung determinieren, von der Konzeption her für die Beteiligten nicht einsehbare, letztlich göttliche Standards sind. 2 7 Ein anderer Grenzfall wäre eine begründungslos und von Fall zu Fall erfolgende Billigkeitsentscheidung (Kadijustiz). Recht stellt sich in der Lösung von Rechtskonßikten rung eines praktischen

Streits

eine mit Erzwingungsgewalt hige Entscheidung

zwischen

her, d.h. in der Klä-

antagonistischen

begabte Instanz,

Positionen

die ihre prinzipiell

unter Rekurs auf überpersönlich

durch

konsensfä-

geltende Standards fällt.

-

In dieser ersten, sehr allgemeinen hypothetischen Bestimmung der Handlungsproblematik des Rechtsbereichs lassen sich schon jetzt in sich widersprüchliche Handlungsanforderungen im professionalisierungstheoretischen Sinne ausmachen. Die grundlegende Spannung liegt auf der 'Zielebene' dieses Handlungsbereichs: unter den Bedingungen der Gegnerschaft soll eine prinzipiell konsensfahige Entscheidung getroffen werden. Faktisch wird die Konsensfahigkeit dadurch hergestellt, daß die richterliche Handlungsinstanz eine konkrete

Fallentscheidung nach allgemein

geltenden

Standards

des Rechts

fallen muß. Daraus ergibt sich für das richterliche Handeln ein strukturelles Paradoxon: Es muß mit seinem Urteil eine Entscheidung treffen, die keine ist. Eine Entscheidung ist das Urteil nämlich nur insofern, als es - wie noch zu sehen - keinen Automatismus der Urteilsfindung gibt. Die Konfliktlösungssituation ist in dieser Hinsicht eine 'offene' Handlungssituation. Andererseits handelt es sich bei dem Urteil insofern um keine Entscheidung im eigentlichen Sinn, da es sich als ein in den rechtlichen Standards vorgeprägtes ausweisen muß. Aufgrund der richterlichen Bindung an das Allgemeine findet also eher 2 7

Es ist allerdings fraglich, inwieweit dieses Modell in Reinkultur, d.h. als reiner

Formalismus überhaupt denkbar ist, oder ob nicht doch hinter den irrationalformalistischen Entscheidungsmitteln ein materialer Kem steht. So könnte man z.B. die germanische "Feuer-" oder "Wasserprobe" als einen materialen 'Test' auf die Ernsthaftigkeit bzw. den Grad der subjektiven Überzeugung von der Rechtlichkeit eines von einer Partei vertretenen Anspruchs verstehen (es handelt sich dabei um eine Form des 'Beweises', nach der die Partei entweder eine Brandverletzung an der Hand über sich ergehen lassen mußte (wenn die Wunde nach einigen Tagen entzündet war, so galt dies als ein göttliches Zeichen gegen die Partei) oder sich gefesselt in einen Teich oder Fluß weifen ließ (ging die Partei unter, so galt dies als ein göttliches Zeichen für die Partei - und sie wurde schnell herausgezogen); vgl. J.H.Baker, An Introduction to English Legal History, London etc. 1990, S. 5).

78

Β. Der Rechtskonflikt

ein Auffinden einer Entscheidung statt. Die Konfliktlösungssituation ist in dieser Hinsicht von ihrem Ausgang her determiniert. 28 In der Logik des Rechtskonflikts ist der strukturelle Kern der richterlichen Rechtsbindung zu sehen - den man so auch unabhängig vom Vorhandensein eines Gesetzes im modernen Sinn, also einer positivierten Rechtsnorm, verstehen kann, denn die Bindung an überpersönlich geltende Standards des Rechts gilt als professionsethische Bindung auch dann, wenn diese Standards nicht explizit formuliert sind. Darüberhinaus kann man sagen, daß von der Logik des richterlichen Handelns her gesehen eine Tendenz besteht, sich an Repräsentationen der allgemein geltenden Standards des Rechts zu orientieren, sich quasi Objektivationen dieser Standards zu 'suchen', um das Urteil konsistent als ein nicht nur subjektives ausweisen zu können. Die habituelle Rechtsbindung geht so gesehen auf eine Gesetzesbindung aus, noch bevor das positivierte Recht in die Welt trat. Indem die Rechtsbindung die richterliche Handlungsinstanz in ihrer Praxis an etwas Überpersönliches bindet, ist sie ein Garant der für die Erreichung einer prinzipiell konsensfahigen Entscheidung notwendigen richterlichen Unparteilichkeit. Im Vergleich dazu muß auch ein Schlichter unparteilich sein, will seine Vermittlung Erfolg haben. Doch während der Schlichter tendenziell unter Beweisnot steht, seine Unparteilichkeit in seiner Schlichtertätigkeit praktisch zu rechtfertigen, indem er v.a. eine möglichst faire Kompromißregelung anstrebt, liegt aufgrund der Gesetzesbindung des Richters die Begründungslast hier umgekehrt: man muß ihm "Befangenheit" erst nachweisen, denn die Unparteilichkeit ist qua Rechts- bzw. Gesetzesbindung Teil der Berufsrolle. 29 Dies gilt natürlich um so mehr, je deutlicher die Standards des Rechts in der historischen Entwicklung ausformuliert werden und ist am deutlichsten im vollständig positivierten Recht. Umgekehrt kann man sagen, daß dort, wo die Gerechtigkeitsvorstellungen noch weitgehend implizit sind, die Frage der Unparteilichkeit in höherem Maße auch an die Person gebunden ist.

2 8

In dieser Hinsicht besteht eine entscheidende Differenz zur Arzt/Patienten-In-

teraktion, in der der Arzt tatsächlich federführend zukunftsoffene Entscheidungen fallt. Das richterliche Handeln ist demgegenüber eher 'retrospektiv1 und muß seine 'Entscheidungen' gerade als Nichtentscheidungen ausweisen. 2 9

Ein ähnlicher Versuch, die Logik richterlichen Handelns durch einen Vergleich

mit einer mediatisierenden Schlichtungsinstanz im Hinblick auf die Differenz 'Klärung nach Kriterien geltenden Rechts/Kompromißbildung' wird in den Arbeiten von Torstein Eckhoff vorgenommen. Vgl. T.Eckhoff

y

Impartiality, Separation of Powers,

and Judicial Independence, in: Scandinavian Studies in Law 9 (1965), S.9-48; ders., The Mediator and the Judge, in: V.Aubert (Hg.), Sociology of Law, Middlesex 1969.

Π. Die Strukturlogik

79

Mit steigender Kodifizierung und Positivierung des Rechts erfolgt so eine Handlungsentlastung der Richter 3 0 - gleichzeitig aber steigt damit aber auch die Professionalisierungsbedürftigkeit dieses Handelns. Wenn die Entscheidung nur auf Basis geteilter, aber unbestimmter Billigkeitsvorstellungen erfolgen soll, kann der konkrete Fall vom Richter auch im Lichte dieser impliziten materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen betrachtet werden. Je kodifizierter das Recht aber wird, je systematisierter es in dem Sinne einer Verklammerung von konkreten Gesetzen und allgemeinen Gesetzesprinzipien wird, desto mehr tritt ein Spannungsverhältnis in den Vordergrund, das sich für den Richter aufgrund seiner Gesetzesbindung stellt: er kann bei der Beurteilung eines Falles nicht mehr rein seinen intuitiven Billigkeitsvorstellungen folgen, sondern er ist gezwungen, in Distanz zu diesem intuitiven Urteil - und u.U. sogar gegen es - bei der gesamten Fallbetrachtung die kodifizierten Rechtsnormen in Anschlag zu bringen. Dieses Problem ist die Grundlage der spezifisch juristischen Hermeneutik, die heutzutage meist mit der Formel des "Hin- und Herwanderns des Blicks" (Engisch) zwischen dem Tatbestand der Rechtsnorm und dem konkreten Sachverhalt des Falles charakterisiert wird: es wird nicht nur auf Basis der Rekonstruktion des Sachzusammenhanges des Falls die Rechtsnorm gesucht, unter die er sich subsumieren läßt, sondern die Rekonstruktion des Sachzusammenhangs erfolgt gleichzeitig schon im Lichte des für das kodifizierte Recht Relevanten. Die Gesetzesbindung ermöglicht also dem Richter eine distante, unparteiliche Betrachtung der Sache, fordert ihm aber gleichzeitig eine Distanz auch zum eigenen moralischen Urteil ab, die nur professionellhabituell handhabbar ist. 3 1 3 0

Die Gesetzesbindung ist für den Richter nicht nur professionelle Pflicht, sondern

auch Privileg. 31

An dieser Stelle ist kurz auf das Problem einzugehen, daß in der gegenwärtigen

juristischen Methodendiskussion die Vorstellung vom Richter als dem 'Sprachrohr des Gesetzes' v.a. im Gefolge der Argumentationstheorie einer deutlichen Kritik ausgesetzt ist. Äußerungen wie: "Die dem Richter gestellte Aufgabe heißt: Findung einer durch das Gesetz begründeten Entscheidung." {K.Engisch, Einfuhrung in das juristische Denken, Stuttgart/Berlin/Köln 1989, S.49) scheinen eher die Ausnahmen zu sein. Im Unterschied dazu wird mehr Gewicht auf eine Vorstellung vom hermeneutischen Verstehensprozeß als etwas gestalterischem, handelnden gelegt. In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage der richterlichen Rechtsschöpfung eine Rolle. Ohne hier auf die eigentlich methodologischen Problematiken eingehen zu können, scheint mir dieser Disput zumindest teilweise dem Umstand geschuldet zu sein, daß man die Rede von der "Findung einer durch das Gesetz begründeten Entscheidung" - im übrigen ganz ähnlich der soziologischen Diskussion um die Wertfreiheitsproblematik - als eine Tatsachenfeststellung auffaßt und nicht als Formulierung einer professionsethischen

80

Β. Der Rechtskonflikt

Die notwendig professionalisierte Bearbeitung des strittigen Falles wird auch in einer weiteren, schon hier ersichtlichen Dimension deutlich: Die richterliche Instanz ist in herausgehobener Weise der Dialektik von Handlungszwang und Begründungsverpflichtung unterworfen. Da es sich um die Lösung einer praktischen Strittigkeit handelt, ist die juristische Hermeneutik nicht in dem Sinne handlungsentlastet wie die wissenschaftliche, welche sich nur mit hypothetischen Problemen beschäftigt. Die juristische Hermeneutik ist prinzipiell nicht zeitungebunden, sondern sie muß in einem begrenzten Zeitrahmen ein praktisch folgenreiches Urteil fallen. Während sie also nicht den Vorteil eines zeitenthobenen Räsonnements besitzt, steht sie gleichzeitig unter einer viel deutlicheren Begründungsverpflichtung. Sie muß nicht 'einfach 1 wie die wissenschaftliche Forschung ihren Teil zum 'in the long run' verlaufenden Erkenntnisfortschritt beitragen und ausweisen, daß die gewonnenen Hypothesen besser als die bisherigen sind, sondern sie muß ihr den Konflikt abschließendes Urteil als ein den geltenden Standards des Rechts entsprechendes darstellen können: "justice est faites". 32 Wenn man aus dem abstrakten Modell des Rechtskonflikts schon recht weitgehende Schlußfolgerungen über die Problematik richterlichen Handelns ziehen und erste Anhaltspunkte für die Professionalisierungsbedürftigkeit dieBindung. Darauf kommt es jedoch in dem hier entwickelten Modell an: die Bindung an das Gesetz ist hier die moderne Formulierung einer aus der Logik des Rechtskonflikts erforderlichen richterlichen Bindung an überpersönlich geltende Standards des Rechts. Wenn die Logik des Rechtskonflikts aufrecht erhalten werden soll, darf das richterliche Urteil eben nicht wirklich handelndes, gestalterisches Urteil sein. In diesem professionalisierungstheoretischen Zusammenhang ist auch interessant, daß dort, wo geradezu 'ausdrücklich' richterliche Rechtsschöpfung im Sinne einer Entwicklung neuer Rechtsnormen betrieben wird, nämlich v.a. im angelsächsischen case-law, dasjenige, was für den Betrachter als objektiv 'neu' erscheinen muß, von den Juristen als etwas schon vorgängig bestehendes, überhaupt nicht 'gemachtes' dargestellt wird.

(Vgl.

zur

Methodendiskussion:

K.Larenz,

Methodenlehre

der

wissenschaft, Berlin etc. 1983, S.42ff.; allgemein: A.Kaufmann/W.Hassemer

Rechts(Hg.),

Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 1989. Eine Darstellung und Bewertung der Diskussion aus professionalisierungstheoretischer Sicht gibt B.Caesar-Wolf,\

Der Deutsche Richter am "Kreuzweg" zwischen Professio-

nalisierung und DeprofessionaUsierung, in: S.Breuer/RTreiber (Hg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers, Opladen 1984, S. 199-222. Zum Phänomen der 'Gesetzesbindung' des case-law vgl. T.Eckhoff 1965, S.18; sowie - allerdings mit einer ganz anderen Interpretation - Y.Dezelay, From Mediation to Pure Law: Practice and Scholarly Representation within the Legal Sphere, International Journal of the Sociology of Law 1986, 14, S.89-107, hier: S.92.) 3 2

Dies gilt auch dann, wenn ein Instanzenzug ausgebildet ist.

Π. Die Strukturlogik

81

ses Handelns gewinnen konnte, so ist daraus jedoch noch nicht ersichtlich, auf was sich das 'Gesetz', auf was sich die geltenden Standards des Rechts beziehen. Aus dem Modell ergibt sich nur, daß es sich dabei um Standards der Konfliktlösung handeln muß. Aber was ist der Inhalt dieser Standards? Oder anders gefragt: Was ist der Kern der materialen Rechtsbereiche, worin besteht ihre 'Eigenlogik', die für ihre historische Ausdifferenzierung verantwortlich sein könnte? Versuchen wir zu diesem Zweck das Modell weiter auszubuchstabieren. Dem Rechtskonflikt liegt eine Strittigkeit zwischen antagonistischen Positionen zugrunde, die geklärt werden muß. Dabei stehen hinter diesen Positionen 'Parteien' im weitesten Sinn, d.h. es gibt Handlungsinstanzen, die praktische Positionen im Rahmen dieser Strittigkeit einnehmen. 33 Zwischen den beteiligten Parteien wird eine Beziehung bzw. eine gemeinsame Praxis bestehen - sonst würde es keinen praktischen Konflikt geben -, eine Praxis jedoch, die sich in einer Krise befindet, welche sie aus sich heraus nicht mehr lösen kann. Ein Kompromiß, der immer bedeutet, daß die gemeinsame Praxis Vorrang vor dem Rechtskonflikt hat, ist nicht mehr möglich, es muß eine Klärung durch die mediatisierende Instanz geben. 34 Aber wenn sich diese Praxis auch in einem ihre 'Einheit' selbst in Frage stellenden Konflikt befindet, so löst sie sich in der rechtlichen Konfliktlösung dennoch nicht in Feindschaft auf, wie es strukturlogisch für die Fehde kennzeichnend ist, denn sie hat sich ja zumindest auf die mediatisierende Instanz 'geeinigt'. Man kann jetzt das Ausgangsproblem des Rechtskonflikts von der Seite der praktischen Krise betrachtet wiederholen: Der Rechtskonflikt muß eine 3 3

Das in dieser Darstellung angelegte Modell eines ,Parteienkonflikts , kann

mißverständlich sein: es wird hier nicht behauptet, daß jeder empirische Rechtskonflikt den Charakter eines Streits zwischen konkreten Parteien hat, sondern es geht zunächst nur darum, das allgemeine Modell im Hinblick auf seine Schärfung möglichst weit auszubuchstabieren. Das Modell des reinen Parteienstreits beschreibt angemessen nur die wenig ausdifferenzierten Rechtssysteme wie z.B. das germanische Recht. Für dieses ist kennzeichnend, daß der Rechtskonflikt von der Pragmatik her die Struktur eines zivilrechtlichen Streits (Parteien) hat, von der inhaltlichen Seite jedoch die Form eines strafrechtlichen Streits (verhandelt werden nur Rechtsvergehen). Für den Fall z.B. eines ausdifferenzierten Strafrechts erweist sich ein einfaches Parteienmodell als unzureichend. 3 4

So ist die Anrufung einer Schiedsinstanz zum Zweck einer Schlichtung keine

Einleitung eines Rechtskonfliktes, da diese nur zur Unterstützung der Kompromißfindung dient. Eine Schlichtung in diesem Sinn hat quasi therapeutischen Charakter: Die kollektive Praxis befindet sich zwar in einer Krise, die jedoch nicht das betrifft, was ihre 'Kollektivität* ausmacht.

Β. Der Rechtskonflikt

82

Pragmatik reziproker Strittigkeitslösung herstellen, in der unter Beibehaltung der Gegnerschaft eine konsensfahige Klärung der strittigen Fragen erfolgt. Erst dieses pragmatische setting erlaubt - im Unterschied zu Feindschaft und Kompromißbildung - strukturell eine Lösung des Konflikts auf der inhaltlichen Ebene. Von hier aus ist zunächst ganz allgemein zu vermuten, daß die Inhalte der Standards, auf die im Rahmen der Strittigkeitslösung rekurriert wird, mit der Art der jeweils in Frage stehenden Beziehung zu tun haben. Dabei wird es nicht um Unterschiede der je konkreten Beziehungen gehen, sondern um allgemeine, strukturelle Differenzen kollektiven Handelns. Man sieht, daß man bei der Verfolgung dieser Fragestellung notgedrungen in die Untiefen soziologischer Grundbegriffe gerät. Obwohl hier in keiner Weise der Anspruch erhoben werden kann, das zugrundeliegende Problem erschöpfend zu klären, soll dennoch - getreu dem Levi-Strauss'sehen Motto, daß jede Struktur besser ist als keine Struktur - versucht werden, ein analysetaugliches Modell zu entwerfen. Dabei soll im folgenden der Hypothese nachgegangen werden, daß die basale Differenzierung der zur Anwendung kommenden rechtlichen Standards in den unterschiedlichen Konfliktdimensionen begründet zu sehen ist, die aus zwei wesentlichen Modi sozialer Kooperation entstehen: Zum einen die Logik zweckfreier Kooperation, die konstitutiv für soziale Praxis überhaupt ist und die v.a. in Gemeinschaftsbeziehungen realisiert wird, zum anderen die Logik spezifischer Kooperation k o n t r a k t i l e r Beziehungen. 35 In dieser Differenz scheint uns der Schlüssel für die Differenzierung der materialen Bereiche des Strafrechts und des Zivilrechts zu liegen. 3 6 Wie sehen die Konfliktdimensionen der jeweiligen Modi sozialer Kooperation im einzelnen aus? Betrachten wir zunächst den Fall derjenigen Beziehungen, die wesentlich durch die Logik zweckfreier Reziprozität gekennzeichnet sind. Das wesentliche Kriterium dieser Form von Sozialbeziehungen 3 5

Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung, die sich an die prominente so-

ziologische Dichotomie der Begriffe 'Gemeinschaft' und 'Gesellschaft' einerseits, und an die Hegeische Theorie der Rechtsverletzung und des bürgerlichen Rechtsstreits andererseits anlehnt. Vgl. F Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1988; Weber,

Wirtschaft und Gesellschaft, S.20ff. und S.200f.; Hegel, Rechtsphilosophie,

S.84f. und S.90f. 3 6 Der dritte große materiale Rechtsbereich - das öffentliche Recht - soll uns hier, da es uns vorwiegend um die Bestimmung der Eigenlogik des Zivihechts geht, nicht interessieren. Für unsere Zwecke genügt der Vergleich der beiden Bereiche der "ordentlichen Gerichtsbarkeit". Die rechtliche Selbstbindung des Staates in konstitutioneller wie administrativer Hinsicht ist auch bezüglich des basalen Rechtskonfikts ein eher abgeleitetes Phänomen - das allerdings die Schnittstelle von Recht und Herrschaft zentral betrifft.

Π. Die Strukturlogik

83

besteht - wie schon erwähnt - in ihrer 'Diffusität': der Ausschluß von Thematisierungen ist begründungspflichtig, man ist Mitglied als ganze Person, d.h. das Personal ist nicht - wie in rollenförmigen Beziehungen - ersetzbar. Welche Elemente können hier strittig im Sinne eines Rechtskonflikts sein? Wenn man auch sagen kann, daß solche Beziehungen - Freundschaftsbeziehungen, Gattenbeziehungen, Eltern/Kind-Beziehungen, allgemein jegliche Vergemeinschaftungen - v.a. durch ihre Diffusität charakterisiert sind sind, so muß man doch feststellen, daß gerade die personalen Elemente als solche sich einem Rechtsstreit sperren. Die jeweils persönlichen, partikularen Konflikte können nicht Gegenstand einer gerichtlichen Klärung sein, die nach allgemeinen Standards des Rechts erfolgt. Solche Konflikte würden auch nicht notwendig die Kooperation der Vergemeinschaftung selbst in Frage stellen. Die 'Einheit der Praxis' ist nur dann gestört, wenn im Konflikt die - kodifizierten oder nichtkodifizierten - konstitutiven Regeln 37 dieser Praxis selbst in Frage gestellt sind. Und dies ist in einem praktischen Sinn nur bei einer Verletzung ebendieser Regeln der Fall. Nimmt man einige typische organisierte Vergemeinschaftungsformen als Beispiel - die Familie, die Zunft, die Religionsgemeinschaft, die frühe Universität, die politischen Gemeinschaften (die mittelalterliche Stadt, der Staat) -, so sieht man, daß jedes dieser Gebilde historisch eigene Rechtsprechungsinstanzen entwickelt hat, die im Fall der Verletzung der je eigenen Regeln zuständig waren (dabei bildet die Herrschaftsgewalt des Hausvaters in der vormodernen Familie aufgrund der wenig formalisierten Struktur dieser Gewalt - sieht man einmal von der Ausnahme des römischen pater familias 38 ab einen Grenzfall). Welche Formen der Reaktion kann es nun im Fall einer solchen Regelverletzung theoretisch geben? Rein von der Logik der Gruppe gesehen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder es erfolgt eine Transformation der Regeln (revolutionär) oder der Ausschluß des Regelverletzers. Dabei wäre der Ausschluß als institutionelle Bestätigung des schon mit der Verletzung selbst vollzogenen Ausschlusses zu verstehen. Die erste Möglichkeit soll hier nicht interessieren, da sie als revolutionärer Akt nicht zu einem Rechtskonflikt führen kann. Betrachtet man aber den zweiten Fall, so taucht sofort das Problem auf, inwieweit sich ein Ausschluß mit der dem Modell nach bestehenden Mitgliedschaft qua ganzer Person verträgt (Stichwort 'Unkündbarkeit des Personals'). Ist ein solcher Ausschluß überhaupt möglich? 3 7

Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf die von Searle (J.R.Searle, Sprechakte,

Frankfurt 1971, S.54ff.) eingeführte Differenz von regulativen und konstitutiven Regeln: während erstere eine logisch präexistente Praxis regulieren, regulieren konstitutive Regeln nicht nur eine Praxis, sondern sie machen gleichzeitig diese Praxis erst möglich (wie z.B. Spielregeln). 3 8

Vgl. Söllner, Römische Rechtsgeschichte S.43f.

Β. Der Rechtskonflikt

84

Sieht man die oben genannten Beispiele als rein partikulare Vergemeinschaftungskreise, so ist ein Ausschluß sehr wohl möglich und hat auch faktisch stattgefunden: So gibt es im Fall der Familie Phänomene, die von Tötung oder Verkauf der Familienmitglieder (in der frühen römischen Gesellschaft) bis zur Enterbung reichen, Ausschlüsse im Fall der Zunftorganisation wie auch der Universität, Phänomene der Exkommunizierung im Fall der Religionsgemeinschaften, Verbannung im Fall der politischen Gemeinschaften. Doch es handelt sich hier nur um historische Randphänomene, deren konkrete Ausformungen schon zeigen, daß es sich nicht um rein 'neutrale' Kündigungen der Mitgliedschaft handelt - wie z.B. bei versäumten Zahlungen des Vereinsbeitrages. Es spielt immer auch ein Moment der Aberkennung der Zugehörigkeit zur im weitesten Sinne endogamen Gruppe hinein: der Gattung Mensch. Der Ausschluß aus einer konkreten Gemeinschaft bedeutet tendenziell den Ausschluß aus jeglicher Gemeinschaft. 39 Schon die mit einem solchen Ausschluß verbundenen entehrenden Begleitumstände (man denke hier nur an das Militär) weisen ein solches Moment auf. Sobald es sich also bei einer 'Gruppe' um eine Vergemeinschaftung im Sinne einer im Kern zweckfreien Kooperation handelt, der man als ganze Person angehört, ist eine einfache Kündigung der Mitgliedschaft im Fall der Regelverletzung prinzipiell prekär. Es handelt sich dabei eben auch nicht um eine 'Gruppe' im nur formellen Sinn, deren Regeln nur partikular-konventionellen Status besitzen, sondern die konstitutiven Regeln einer Vergemeinschaftung 'transportieren' in ihrer je konkreten Ausformung immer auch die Sozialität schlechthin konstituierenden Regeln der Reziprozität. 40 Jede Verletzung der Regeln einer Gemeinschaft bedeutet immer auch eine Verletzung der Sittlichkeit, die diese Gemeinschaft historisch realisiert hat. Diejenige Form der Reaktion auf eine Verletzung der konstitutiven Regeln einer Gemeinschaft, die wie der Ausschluß die Abweichung als Abweichung markiert, die dem Rechtsverletzer aber strukturell den Status als Subjekt und

3 9

Als herausragendes Beispiel kann hier das dem germanischen Recht eigentümli-

che Phänomen der "Friedlosigkeit" dienen. Bei schweren Vergehen (z.B. Kultdelikte oder Heerflucht), die die Gemeinschaft als solche bedrohen, wurde der Rechtsverletzer kategorial aus der humanen Gattung ausgeschlossen: Jeder war verpflichtet, ihn zu erschlagen wie ein Tier ("Werwolf'). Vgl. Mitteis/Lieberich 1988, S.40f. 4 0

Das prominenteste Beispiel hierfür ist sicherlich die Entwicklung des kirchlichen

Bußrechts im Mittelalter: Ausgerichtet auf die 'gemeinschaftsimmanente' Regelverletzung ("Sünde" als religiöses Vergehen) bildete es jedoch aufgrund des ethischen Universalismus eine Kernform eines allgemeinen Strafrechts. Vgl. Berman 1983, S. 18 Iff.

Π. Die Strukturlogik

85

Mitglied der Gemeinschaft belassen kann, ist die Strafet Die oben genannten Instanzen sind denn auch primär Strafinstanzen. Aber worin besteht in dem Konflikt, der zur Bestrafung fuhrt, die Strittigkeit? Von einem Parteienstreit im eigentlichen Sinne kann hier doch keine Rede sein? Eine Strittigkeit besteht nun allerdings, jedoch in einer abstrakten Weise. Sie besteht insofern, als die regelverletzende Handlung mit dem Anspruch auf Vernünftigkeit auftritt, als sie eine Handlung ist, die einem verantwortungsfahigen Subjekt zugeschrieben werden kann. Wenn dies der Fall ist, stellt die Handlung eine Kritik der je geltenden Regeln der Sittlichkeit dar. Umgekehrt wird die gleiche Handlung, wird sie von jemandem ausgeübt, dem die Verantwortungsfahigkeit nur beschränkt oder gar nicht zugeschrieben werden kann, nicht als Kritik der geltenden Regel angesehen. Wie man hier sieht, ist die Idee der Strafe an die historische Ausbildung eines Konzepts der Schuld gebunden, ein Konzept, das in der abendländischen Strafrechtsgeschichte v.a. durch das kanonische Recht beeinflußt wurde. 42 Die Strittigkeit besteht also zwischen den in einer Rechtsgemeinschaft geltenden Regeln der Sittlichkeit und der faktischen Kritik dieser Regeln durch die sie verletzende Handlung. Dabei ist zu beachten, daß die Kritik, die in der Verletzung der Regeln steckt, nicht ihre Geltung betrifft. Insofern hinter den geltenden Regeln der Rechtsgemeinschaft die universellen Regeln der Reziprozität stehen, es sich also nicht nur um rein partikulare, soziale Ungleichheit nur fortsetzende Normen handelt, bestätigt die Verletzung der Regeln als Abweichung gleichzeitig ihre Geltung. In dem rechtlichen Klärungsprozeß wird dementsprechend nicht entschieden, welche Position recht hat, sondern nur, um was für eine Verletzung es sich eigentlich handelt, wem sie zugeschrieben werden kann und in welchem Maße sie als eigenverantwortlich zugeschrieben werden kann. Letzteres betrifft v.a. die Frage der Höhe des Strafmaßes bei gleichem Straftatbestand - hier spielt dann die subjektive Haltung des Täters zur Tat eine Rolle. In dem im Fall der Verurteilung erfolgenden strafenden Eingriff in die Handlungsautonomie des Rechtsverletzers wird die verletzte Regel restituiert. 41

Auch in dieser Hinsicht gibt es historische Grenzformen. So gab es im Fall bestimmter, als besonders herausragend empfundener Vergehen (z.B. Hexerei, Vatermord, Staatsverrat) Hinrichtungsformai (Verbrennung, Vierteilung etc.), die über die Kategorie der Strafe hinausgingen: Es scheint so, als ob die Tilgung der Tat hier an die vollständige Zerstörung der psycho-physischen Integrität des Täters gebunden war - ein Nachklang des Ausschlusses aus der humanen Gattung. Mit einem besonders eindringlichen Beispiel dieser Art läßt M.Foucault sein "Überwachen und Strafen" (Frankfurt/M. 1977) beginnen. 4 2

Vgl. K.Kroeschell,

7 Maiwald

Deutsche Rechtsgeschichte Bd.2, Opladen 1980, S.281.

Β. Der Rechtskonflikt

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Das Recht der Gemeinschaft wird wiederhergestellt. In der abendländischen Rechtsgeschichte gab es - wie gesehen - anfangs diesbezüglich durchaus konkurrierende, in sich geschlossene Gemeinschaften, konkurrierende Rechtskreise, die nicht nur rein konventionelle Gruppenregeln vertraten, sondern darüberhinaus sich für die Aufrechterhaltung allgemeiner Sittlichkeit verantwortlich zeigten und entsprechende Regeln der Bestimmung ihrer Verletzung ausbildeten. Im Verlauf des universalhistorischen Rationalisierungsprozesses engt sich der Kreis der 'strafberechtigten' Vergemeinschaftungen jedoch ein. Im Rahmen der territorialstaatlichen Durchsetzung des Gewaltmonopols wird die zentrale Instanz der Restituierung der Regeln der Reziprozität die übergreifende politische Gemeinschaft: der Staat. 43 Zusammenfassend kann man sagen, daß es also nicht die personale Beziehung der Vergemeinschaftungen selbst ist, die ausschlaggebend für die Logik des strafrechtlichen Konflikts ist, sondern die Struktur, für die diese v.a. stehen: die Struktur zweckfreier Reziprozität. 'Reziprozität' wird dabei verstanden als die sozialer Praxis selbst inhärente wechselseitige Anerkennung von Handlungssubjekten, d.h. als das Grundmuster von Sozialität schlechthin, welches in der konkreten Interaktion nicht erst im Sinne einer 'Leistung' herzustellen ist, sondern das jeder Interaktion schon vorgängig ist. 4 4 Auf die Regeln der Reziprozität nimmt das Strafrecht sozusagen negativ 45 dadurch Bezug, daß es die möglichen Verletzungen der Reziprozitätsverpflichtung quasi typologisch ausbuchstabiert. Auf diese Standards wird im rechtlichen Klärungsprozeß rekurriert. Dabei tendiert die Explikation der Strafrechtsnormen im Verlauf des Rationalisierungsprozesses dahin, daß - neben der Verletzung der politischen Gemeinschaft (z.B. Landesverrat) - nur noch die unter Verletzung der Reziprozität erfolgenden Eingriffe in die Handlungsautonomie

4 3

Wenn man sich im Rahmen einer Bedeutungsrekonstruktion fragt, wo die

pragmatischen Erfüllungsbedingungen der Verwendung des Ausdrucks "strafen" vorliegen, so ist das - neben wenigen anderen Zusammenhängen (Militär) - im Grunde nur im staatlich ausgeübten Strafrecht und in Eltern/Kind-Beziehungen, bzw. davon abgeleiteten, der Fall. 4 4

Diesem Modell einer Strukturgesetzlichkeit, die humaner Sozialität als solcher

unterliegt, kommt besonders in der strukturalistischen Tradition eine große Bedeutung zu, ob diese nun im Durkheim'schen Sinne als 'Zusammenarbeit', bei Piaget als 'Kooperation', bei Lévi-Strauss als 'Gegenseitigkeit' bezeichnet wird - oder eben als Reziprozität. Vgl. zum Reziprozitätsbegriff auch Oevermann 1983, S.237ff 4 5

Vgl. G.H.Meady The Psychology of Punitive Justice, in: Α. J.Reck (Hg.), George

Herbert Mead, Selected Writings, Indianapolis, New York, Kansas City 1964.

87

Π. Die Strukturlogik

von Subjekten ausbuchstabiert werden. Der Verstoß gegen andere gesellschaftliche Regeln, wie Homosexualität und Inzest, verliert an Bedeutung. 46 Wenn die Grundlage des strafrechtlichen Konflikts die Verletzung der basalen Regeln der Reziprozität ist, wie sieht der Fall im zivilrechtlichen Konflikt aus? Wir hatten vorgeschlagen, die Grundlage dieses Konflikttyps in der Logik kontraktueller Beziehungen begründet zu sehen. Diese Beziehungen sind durch zwei Momente gekennzeichnet, die sie von den vorher besprochenen unterscheidet: Zum einen ist die Gegenseitigkeit hier nicht zweckfrei, sondern im Gegenteil zweckgerichtet; sie erfolgt in der Sphäre bewußter Interessenverfolgung. Zum anderen ist sie spezifiziert, d.h. sie ist begrenzt auf die vertraglich festgelegte wechselseitige Erbringung von Leistungen. Dies ist der Grund, weshalb w i r hier von der Logik spezifischer

Reziprozität

sprechen

wollen. Wenn sich das Vertragshandeln quasi seine eigene Reziprozität schafft, so ist es dennoch in bestimmter Weise in Sozialität eingebettet. Durkheim hat diesen Zusammenhang mit der Rede von den 'nichtkontraktuellen Voraussetzungen des Vertrags' bezeichnet. 47 Die Vertragsbeziehung kann nicht alles im Vertrag selbst festlegen, sie ist an vorvertraglich geltende Standards gebunden. Vor allem aber kann eines nicht im Vertrag festgelegt werden: die Garantie, daß den wechselseitigen Verpflichtungen auch nachgekommen wird. 4 8 Das Vertragshandeln, die zweckgebundene Reziprozität, ist eingebettet in eine durch zweckfreie Reziprozität gestiftete Praxis. Will man diesen Zusammenhang auf der Ebene sozialer Interaktion als Tauschbeziehung ab4 6

In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, daß Verbrechen im Rahmen

primärer Sozialbeziehungen (Kinds- und Elternmord) - sozusagen 'Verbrechen in der ödipalen Triade' - ihren eigenen Stellenwert verlieren, den sie v.a. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch hatten. 47

Durkheim , Arbeitsteilung, S.267f.

4 8

Die prägnanteste Formulierung Dürkheims bezüglich dieser allgemeinen Frage

findet sich in: E.Durkheim , Physik der Sitten und des Rechts, Frankfurt/M. 1991, S.254: "Soll man sagen, im Vertrag seien zwei Willen präsent, die sich gegenseitig bänden; sie seien in gewisser Weise solidarisch geworden, und diese Solidarität lasse ihre Freiheit nicht unangetastet? Aber wie soll das Versprechen meines Vertragspartners, er werde eine entsprechende Leistung erbringen, wenn ich meinerseits eine bestimmte Leistung erbringe, wie sollte dieses Versprechen mich und ihn verpflichten, unsere jeweiligen Leistungen zu erbringen? Meine Verpflichtung dem anderen gegenüber wird ja nicht dadurch zwingender, daß der andere mir gegenüber eine Verpflichtung eingegangen ist. Denn beide Verpflichtungen sind von derselben Art, und wenn keine von ihnen das moralische Ansehen besitzt, das den Willen zu zwingen vermag, dann können beide zusammen dieses Ansehen nicht zuwege bringen."

Β. Der Rechtskonflikt

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bilden, so kann man sagen: Der zweckfreie, gebrauchswertzw