Die Begnadigung in vergleichender Perspektive: Rechtsphilosophische, verfassungs- und strafrechtliche Probleme [1 ed.] 9783428487714, 9783428087716

Die Arbeit behandelt die Begnadigung in rechtsvergleichender Perspektive. Mit einer detaillierten und systematischen Dar

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Die Begnadigung in vergleichender Perspektive: Rechtsphilosophische, verfassungs- und strafrechtliche Probleme [1 ed.]
 9783428487714, 9783428087716

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 97

Die Begnadigung in vergleichender Perspektive Rechtsphilosophische, verfassungs- und strafrechtliche Probleme

Von

Dimitri Dimoulis

Duncker & Humblot · Berlin

D I M I T R I DIMOULIS

Die Begnadigung in vergleichender Perspektive

Strafrechtliche Abhandlungen * Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 97

Die Begnadigung in vergleichender Perspektive Rechtsphilosophische, verfassungs- und strafrechtliche Probleme

Von

Dimitri Dimoulis

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Alessandro Baratta, Saarbrücken

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Dimoulis,

Dimitri:

Die Begnadigung in vergleichender Perspektive : rechtsphilosophische, verfassungs- und strafrechtliche Probleme / von Dimitri Dimoulis. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 97) Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 1994/95 ISBN 3-428-08771-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-08771-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Am Ende - oder am Anfang, je nach der Blickrichtung steht das Wort oder die Tat.

Hans Kelsen

Eine Stimme, die sich sofort im Publikum wiederholte, rief "Halt, Halt," gerade ehe der Kopf fiel, und so starb denn die Unglückliche mit der letzten Täuschung, als wäre sie begnadigt.

Der Beobachter (Stuttgart), 27.6.1845

Vorwort

Diese Arbeit hat im Wintersemester 1994/95 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes als Dissertation vorgelegen. Eine Dissertation gilt als Produkt persönlicher Anstrengung und Verantwortung; hier möchte ich den "anderen" Aspekt erwähnen und alle diejenigen nennen, die mir mit Rat und Tat gezeigt haben, daß Lernen und Verstehen ein kollektiver Prozeß ist.

Herr Prof. Dr. Aristovoulos Manessis, Mitglied der Akademie von Athen, und Frau Prof. Dr. Arlette Heymann-Doat, Univ. Paris-I, haben diese Arbeit in früheren Phasen gelesen und mit weiterführender Kritik gefördert. Prof. Dr. Georgios Stamatis, Univ. Panteios Athen, und Prof. Dr. Dr. Johannes Milios, Technische Univ. Athen, haben mir ermöglicht, meinen Horizont im Bereich der Sozialwissenschaften zu erweitern. Philippos Wassilogiannis, Rechtsanwalt in Griechenland, hat mir geholfen, die Problematik der Arbeit zu vertiefen. Frau Studienrätin Heide Hornberger-Giannoulis hat das Manuskript durchgesehen und zu seiner sprachlichen Verbesserung entscheidend beigetragen. Meinen Eltern Evangelia Lewaditou-Dimoulis und Stergios Dimoulis, Rechtsanwälten in Griechenland, verdanke ich vielseitige Unterstützung, nicht zuletzt haben sie mich unermüdlich mit Material für diese Arbeit versorgt. Die Arbeit hätte nicht geschrieben werden können, wenn Christina Giannoulis, LL. M. Eur., mir nicht dabei geholfen hätte. Ihre Art, die verfassungstheoretischen Fragen zu erörtern, die Genauigkeit der sprachlichen Formulierung zu überprüfen und den Prozeß einer wissenschaftlichen Tätigkeit zu verinnerlichen, hat meine Darstellung geprägt. Herr Prof. Dr. Alessandro Baratta hat die Dissertation betreut; für unzählige Anregungen und vor allem für das Forschungsklima, das er zu schaffen weiß, bin ich ihm dankbar: Auf ihn bezogen ist das Wort Doktorvater mehr als eine Sprachkonvention. Herrn Prof. Dr. Ulfrid Neumann möchte ich für die Bereitschaft, das Zweitgutachten zu dieser Dissertation zügig vorzubereiten, ebenfalls herzlich danken.

8

Vorwort

Ferner möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder und dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Strafrechtliche Abhandlungen, N.F." bedanken.

Mit einem dreijährigen Stipendium hat die Stiftung "Alexandras S. Onassis" diese Arbeit gefördert; dem Vorstand und dem Personal schulde ich großen Dank.

Saarbrücken, im April 1995

Dimitri Dimoulis

Inhaltsverzeichnis

Α. Einleitung I. Definitionen und Kontroversen

24

II. Methodische Fragen

28

1. Aus der Geschichte lernen?

28

2. Die Frage der Rechtsauslegung

33

a) Ziel der Rechtsauslegung

34

b) Die Ebenen der Rechtsauslegung

40

aa) Die Rekonstruktionsebene

41

bb) Die Ebene der systematischen Auslegung

41

cc) Die Ebene der Kritik

51

III. Gegenstand und Gang der Untersuchung

53

1. Die deduktive Methode

53

2. Gegenstand und Modus der Rechtsvergleichung

54

3. Notwendigkeit und Risiken der Vielschichtigkeit

55

B. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung I. Die allgemeine Ratlosigkeit und ihre Ursachen II. Das Prinzip der Gewaltenteilung. Begriffliche tionenunterscheidung und -trennung

56 Bestimmung der Funk58

1. Von der politischen Mehrdeutigkeit zur rechtlichen Fixierung der Gewaltenteilung

58

2. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Gewaltenteilung

60

3. Einheit und Funktionen der Staatsgewalt

63

4. (Um-)Deutungsversuche der Gewaltenteilung

67

5. Die Gewaltenteilung als Theorie der Funktionenunterscheidung und -trennung

72

10

nsverzeichnis

a) Funktionenunterscheidung

74

b) Funktionen(träger)trennung

77

6. Die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung: weder Essentialismus noch Ausdehnungsfähigkeit (Funktion und Grenzen der "historischen" Betrachtung)

81

a) Rechtliche vs. politische Bedeutung des Prinzips

84

b) Rechtliche vs. gesellschaftliche Bedeutung des Prinzips

90

7. Gewaltenteilung und Rechtsnatur der Begnadigung

95

III. Die Begnadigung als Akt sui generis 1. Die vorgeschlagenen Interpretationen

98 98

2. Kritik

100

3. Die Begnadigung als Akt sui generis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

105

IV. Die Begnadigung als Akt der gesetzgebenden Funktion

111

1. Die vorgeschlagenen Interpretationen

111

2. Kritik

112

V. Die Begnadigung als Akt der vollziehenden Funktion 1. Die Begnadigung als Verwaltungsakt (Darstellung und Kritik)

115 115

a) Organizismus

115

b) Nominalismus

117

c) Der "extreme" Nominalismus

118

2. Die Begnadigung als Regierungsakt

121

a) Die vorgeschlagenen Interpretationen

121

b) Kritik

123

VI. Die Begnadigung als Akt der rechtsprechenden Funktion

128

1. Die vorgeschlagenen Deutungen

128

2. Begriff des Judikativaktes

131

a) Die vorgeschlagenen Kriterien (Darstellung und Kritik)

132

b) Zur "dynamischen" Definition des Judikativaktes: das Kriterium der Praxis

134

c) Zur "dynamischen" Definition des Judikativaktes: Korrektureffekt, Assimilierungseffekt und relative Autonomie der Staatsfunktionen

139

aa) Korrektureffekt

139

nsverzeichnis

bb)Assimilierungseffekt

143

cc) Das dialektische Verhältnis zwischen dem Organ und dem Rechtsakt: Die Bedeutung der relativen Autonomie der Staatsfunktionen 144 d) Zur "dynamischen" Definition des Judikativaktes: Die rechtsprechenden Effekte 3. Die judikative Rechtsnatur der Begnadigung

147 151

a) Einleitung

151

b) Die Amnestiefunktion im Bereich der Strafrechtspflege

154

c) Exkurs: Amnestiefunktion und Funktionsregeln des Bestrafungsprozesses

157

d) Schuldfrage und Judikativakt e) Rechtsprechende Effekte und Rechtsnatur des Gnadenaktes 4. Die Konsequenzen der judikativen Rechtsnatur der Gnade: Justitiabilität der Gnadenentscheidungen? a) Die Frage der Justitiabilität in Frankreich, Italien und Griechenland

160 163 174 175

aa) Die grundsätzliche Unmöglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle

175

bb)Die indirekten Formen der Kontrolle

177

cc) Die bereits erfolgte (begrenzte) Nachprüfung der Gnadenentscheidungen durch die ordentlichen Gerichte

179

b) Die Frage der Justitiabilität in Deutschland

181

aa) Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG

181

bb)Die Begnadigung als Akt der "öffentlichen Gewalt"

182

cc) Verletzung von Rechten durch den Gnadenakt?

184

dd) Gerichtliche Kontrolle und Rechtsnatur der Gnade

191

ee) Ergebnis

193

5. Abschließende Bemerkungen

195

a) Die Behandlung der Frage der Justitiabilität im Schrifttum

195

b) Dynamische Gestaltung der Rechtsnatur und Justitiabilität der Gnade

198

c) Judikative Rechtsnatur und "politischer" Charakter der Gnadenakte

199

nsverzeichnis

12

C. Die rechtlichen Grenzen der Gnadenkompetenz I. Einleitung

207

II. Die ausdrücklich gesetzten Grenzen der Gnadenkompetenz

213

1. Schranken ratione materiae

213

a) Gnade für "Strafen"

213

b) Gnade für Maßregeln der Besserung und Sicherung

220

c) Aufhebung von Rechtsfolgen der Verurteilung

226

d) Aufhebung der Rechtsfolgen "aller Art" von verhängten Strafen nach der griechischen Verfassung

227

e) Die Verbesserung der Rechtsstellung des Verurteilten

231

f) "Zustimmung" des Verurteilten?

231

g) Gnade im"Einzelfall"

235

h) Der räumliche Geltungsbereich der Gnadenkompetenz

238

2. Schranken ratione personae

240

a) Voraussetzungen für die Begnadigung eines Ministers nach der griechischen Verfassung

242

aa) Begnadigung eines "Ministers"

244

bb) "Zustimmung" des Parlaments

246

cc) Politische Voraussetzungen der Begnadigung zugunsten eines Ministers b) Begnadigung des Präsidenten der Republik nach der griechischen Verfassung

249 250

aa) Begnadigung durch den Stellvertreter des Präsidenten?

251

bb) Begnadigung durch den neuen Präsidenten

253

cc) Zustimmung des Parlaments?

253

c) Schranken ratione personae in Frankreich, Italien und Deutschland

254

aa) Frankreich

254

bb) Italien

255

cc) Deutschland

255

III. Die indirekt abzuleitenden Grenzen der Gnadenkompetenz

259

1. Beschränkung auf "Ausnahmefälle"?

259

2. Der Gleichheitssatz als Grenze der Gnadenkompetenz?

264

a) Die Bedeutung(en) des Gleichheitssatzes

264

nsverzeichnis

b) Gleichheit in der Strafzumessung?

271

c) Gleichheit und Gnade

278

3. Die Begnadigung als verfassungsrechtlich vorgesehene Ausnahme von dem Gewaltenteilungsprinzip 283 a) Zeitliche Schranken der Ausübung der Gnadenkompetenz

290

b) Subsidiarität der Gnadenkompetenz?

295

c) Verbot der extensiven Auslegung des Gnadenerweises

304

d) Das rechtskräftige Urteil als "Grenze" des Gnadenaktes

304

e) Verbot eines Widerrufs der Gnadenentscheidung

310

f) Gesetzliche Begrenzung der Gnadenkompetenz?

316

g) Verbesserung der Rechtsstellung des Verurteilten und Gesetzlichkeitsprinzip

325

IV. Ergebnis

338

D. Die technische Funktion der Begnadigung im Rahmen des Strafrechtssystems (Gnadenmotivation, -begründung und -praxis) I. Die Gnadengründe nach der Lehre und der Rechtsprechung

341

1. Mängel der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung

342

2. Gnade aus Gründen der Kriminalpolitik

343

3. Gnade aus politischen Gründen

345

II. Status der Gnadengründe

346

1. Ableitungsweise der Gnadengründe

346

2. Rechtliche Bedeutung der Gnadengründe

350

III. Begründung der Gnadenentscheidung?

358

1. Die Frage der Begründung

358

2. Notwendigkeit einer Begründung der Gnadenentscheidungen 3. Folgen und "Hindernisse" einer Begründung der Gnadenentscheidungen

360 368

IV. Die aporetischen Grundlagen der herrschenden Typologie der Gnadengründe 370 1. Die Frage der Rationalität der Begnadigung

370

2. Gerechtigkeit durch Gnade?

376

a) Die Deutungen der Gerechtigkeit

377

nsverzeichnis

14

b) Die "gerechte" Gnade V. Versuch einer neuen Klassifizierung

389 der Gnadengründe

1. Gnadengründe und Strafrechtssystem

394 394

a) Die Orientierung der Gnadengründe an den Regeln des Strafrechtssystems

394

b) Aufbau und Zwecke des Strafrechtssystems

400

c) Ableitung der Gnadengründe aus den Zwecken des Strafrechtssystems 406 d) Gnadenordnungen und Gnadengründe

411

e) Ergebnis

417

2. Gnade und Individualisierung der Strafe: Die spezialpräventive Begnadigung a) Allgemeines

418 418

b) Gnade und gerichtliche Strafaussetzung

421

c) Kollektive Gnadenakte

426

d) Bedingte Gnade

436

e) Amnestierende Gnade

444

3. Gnade aus generalpräventiven Gründen

446

a) Fälle einer Begnadigung infolge einer "ungerechten" Verurteilung b) Die positive Generalprävention als Begnadigungsgrund 4. Die "politische" Gnade

446 450 452

a) Theoretische Bestimmung der politischen Funktion der Gnade

452

b) Die institutionell politische Gnade

465

c) Die generalpräventiv bedingte politische Gnade

465

d) Die rein politische Gnade

472

e) Die parteipolitische Gnade

480

VI. Gnadenstatistik und technische Funktion der Gnade: Fragestellungen und Stand der Forschung 483 1. Bestimmung der Zwecke einer statistischen Untersuchung

483

2. Die vorhandenen Daten

487

3. Ergebnis

495

nsverzeichnis

£. Die Träger der Gnadenkompetenz I. Das Gnadenorgan in den untersuchten Rechtsordnungen 1. Deutschland

497 497

2. Italien

507

3. Griechenland

508

4. Frankreich

509

II. Die Gnadenentscheidung im parlamentarischen System

511

1. Gnade als Ermessensentscheidung des Staatsoberhauptes (präsidiale Auslegung)

512

2. Gnadenentscheidung als Ergebnis des Einvernehmens zwischen Staatsoberhaupt und Regierung (Zusammenarbeitsauslegung)

515

3. Gnade als Entscheidungskompetenz der verantwortlichen Regierung (ministeriale Auslegung)

518

a) Die Lehrmeinungen

518

b) Das parlamentarische System

519

c) Parlamentarisches System und Gnadenkompetenz in Deutschland, Italien und Griechenland

525

d) Parlamentarisches System und Gnadenkompetenz in Frankreich

535

III. Rechtfertigung

der herrschenden "präsidialen"Auslegung?

541

F. Die symbolische Funktion der Begnadigung I. Einleitung

546

1. Die metajuristische Ebene

547

2. Die symbolisch-ideologische Ebene

549

II. Der Gnadendiskurs als Symptom der Legitimierungsfunktion

der

Begnadigung

553

1. Der Gnadendiskurs

553

2. Die Legitimierungsfunktion der Begnadigung

562

III. Organisatorische funktion

Voraussetzungen und Folgen der Legitimierungs575

1. Einleitung

575

2. Die symbolische Stellung des Staatsoberhauptes

576

16

nsverzeichnis

3. Gnade und Staatsoberhaupt IV. Exkurs: Die patriarchalische

586 Gnade

592

1. Die Gnade der Kirche

592

2. Die Gnade des Ehemanns

594

V. Ausblick: Die Zukunft des Gnadeninstituts

595

1. Die schädliche Gnade

595

2. Die omnipräsente Gnade

597

3. Die "wirkliche" Gnade

600

Literaturverzeichnis

605

Abkürzungsverzeichnis

a. Α.

anderer Ansicht

AAI

Autorités administratives indépendantes

ABl.

Amtsblatt

Abs.

Absatz

AJDA

L'Actualité juridique - Droit administratif (Ztschr. )

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts (Ztschr.)

APhD

Archives de philosophie du droit (Ztschr.)

ArchPolCr

Archives de politique criminelle (Ztschr.)

Arm

Armenopoulos (griech. Ztschr.)

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art.

Artikel

AV

Allgemeine Verfügung

BayVerfGH

Bayerischer Verfassungsgerichtshof

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

CE

Conseil d'Etat (Staatsrat Frankreichs)

CPPJ

Cahiers de philosophie politique et juridique

DeP

Dei delitti e delle pene (Ztschr.)

DikPol

Dikaio kai politiki (Recht und Politik) (griech. Ztschr.)

DöV

Die öffentliche Verwaltung (Ztschr.)

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

DtZ

Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt

2 Dimoulis

18

Abkürzungsverzeichnis

Efannoges

Efarmoges Dimossiou Dikaiou (Anwendungen des öffentlichen Rechts) (griech. Ztschr.)

EtEllNom

Efimeris Ellinon Nomikon (Griechische Juristen-Zeitung)

EfimNom

Efimeris Ellinikis kai gallikis Nomologias (Zeitung für griechische und französische Rechtsprechung)

EGGVG

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz

EllDik

Elliniki Dikaiossyni (Griechische Justiz) (griech. Ztschr.)

EpDimDik

Epitheorissis Dimossiou kai Dioikitikou Dikaiou (Zeitschrift für Staats- und Verwaltungsrecht) (griech. Ztschr.)

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

f. (ff.)

folgende

franz.

französisch

franz. Verf.

Verfassung der Republik Frankreich von 1958

FS

"Festschrift", "Mélanges" etc.

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht

Ges.

Gesetz

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

ggf.

gegebenfalls

GnO(en) GnO 1935

Gnadenordnung(en) Verordnung über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 1935 (Deutschland)

griech.

griechisch

(griech.)

in griechischer Sprache

griech. GnO

Verordnung mit Gesetzeskraft Nr. 68 vom 18.12.1968 i. V. m. Verordnung mit Gesetzeskraft Nr. 1295 vom 7.12.1972 über das Gnadenverfahren

griech. Verf.

Verfassung der Republik Griechenland von 1975

GS

Gedächtnisschrift

GVB1.

Gesetz- und Verordnungsblatt

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

Hess. StGH

Hessischer Staatsgerichtshof

HLR

Harvard Law Review

h. M.

herrschende Meinung

i. d. F.

in der Fassung

i. d. R.

in der Regel

Abkürzungsverzeichnis DLR

Israel Law Review

INSEE

Institut national de la statistique et des études économiques (Frankreich)

i. S.

im Sinne

ital. Verf.

Verfassung der Republik Italien von 1947

ital.

italienisch

i. V. m.

in Verbindung mit

JA

Juristische Arbeitsblätter

JCP

Jurisclasseur périodique (Ztschr.)

JGG

Jugendgerichtsgesetz

JM

Justizminister, Justizministerium

JR

Juristische Rundschau

JuS

Juristische Schulung (Ztschr.)

JZ

Juristenzeitung

19

KG

Kammergericht

KJ

Kritische Justiz (Ztschr.)

KrimB

Kriminalsoziologische Bibliographie (Ztschr.)

KrimJ

Kriminologisches Journal

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

LG

Landgericht

LT-Drucks.

Drucksachen des Landtages

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

MschrKrim

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform

m. w. Hinw.

mit weiteren Hinweisen

NeonDik

Neon Dikaion (Neues Recht) (griech. Ztschr.)

ΝJ

Neue Justiz (Ztschr. )

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NK

Neue Kriminalpolitik (Ztschr.)

NomWima

Nomiko Wima (Juristische Tribüne) (griech. Ztschr.)

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

2*

20 OLG ÖZöR PoinChron QC

Abkürzungsverzeichnis Oberlandesgericht Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht Poinika Chronika (Strafrechtliche Annalen) (griech. Ztschr.) La questione criminale (Ztschr.)

RDP

Revue du droit public et de la science politique

RDPP

Rivista di diritto e procedura penale

RE

Runderlaß

Recueil

Recueil des décisions du Conseil Constitutionnel (jährlich erscheinende amtliche Sammlung; das Erscheinungsjahr des zitierten Bandes ergibt sich aus dem angegebenen Datum der Entscheidung)

Recueil Lebon

Recueil des arrêts du Conseil d'Etat (jährlich erscheinende amtliche Sammlung; das Erscheinungsjahr des zitierten Bandes ergibt sich aus dem angegebenen Datum der Entscheidung)

RFDA

Revue française de droit administratif

RFDC

Revue française du droit constitutionnel

RFSP

Revue française de science politique

RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

RIFD

Rivista internazionale di filosofia del diritto

Rnr.

Randnummer

RRJ

Revue de recherche juridique

RScC

Revue de science criminelle

RSynt

Revue de synthèse

RV

Rundverfügung

s.

siehe

S.

Seite(n)

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung

Sp.

Spalte

StatBA

Statistisches Bundesamt

StGB

Strafgesetzbuch

STh

Synchrona Themata (Aktuelle Probleme) (griech. Ztschr.)

StPO

Strafprozeßordnung

StrÄndG

Strafrechtsänderungsgesetz

StVollzG

Strafvollzugsgesetz

Abkürzungsverzeichnis TheorKoin

Theoria kai Koinonia (Theorie und Gesellschaft) (griech. Ztschr.)

ToSynt

To Syntagma (Die Verfassung) (griech. Ztschr.)

Verf.

Verfassung

VfZ

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

vgl.

vergleiche

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

WStG

Wehrstrafgesetz

Yale LJ

The Yale Law Journal

ZAR

Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

ZfRsoz

Zeitschrift für Rechtssoziologie

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZSR

Zeitschrift für Schweizerisches Recht

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Ztschr.

Zeitschrift

Α. Einleitung

Diese Arbeit geht von zwei Feststellungen aus. Die erste bestimmt ihre Orientierungen auf dem Gebiet des Rechts: Die Begnadigung "ist eine Grenzfrage des Strafrechts und des Staatsrechts und beschäftigt die Rechtsphilosophie"1. Die zweite betrifft die Nützlichkeit einer neuen Untersuchung: Die Vielschichtigkeit der Materie hat die Konsequenz, daß "das Thema (...) bisher nicht zum Abschluß gekommen ist, ja gar kein Ende finden kann"2; oder, drastischer formuliert, "le droit de grâce demeure aujourd'hui, en dépit des apparences, un inconnu"3. In der Tat wird die Begnadigung meistens als "Randerscheinung" betrachtet4. In der vorliegenden Arbeit wird eine kritische Darstellung des juristischen Schrifttums über die Gnade unternommen, in der ständigen Bemühung, der gebotenen Vielschichtigkeit der Betrachtung treu zu bleiben. Durch die laufende Bezugnahme auf die Grundfragen des Straf- und Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie, welche die Begnadigung aufwirft, und durch deren Analyse allein ist es möglich, über die Gnade etwas Neues zu sagen. Das Neue kann in zwei Richtungen entstehen: einerseits durch Erweiterung der Perspektive über die spezifischen Probleme des Gnadeninstituts5 und die ad hoc Literatur hinaus, andererseits durch kritische Klarstellungen, die durch strikte Unterscheidung der Argumentationsebenen versuchen, die oftmals festgestellte Konfusion aufzuklären.

1

Bayer le, S. 4; vgl. Sternberg, S. 3; König, S. 1; Rüping, S. 31; Müller-Dietz, "Recht und Gnade", S. 474. 2 Müller-Dietz, "Recht und Gnade", S. 474; vgl. Ax. Maurer, S. 1. 3 Prétot, S. 1525. 4 Schätzler, Handbuch, S. 4, 142; daß die Gnadenfragen "recht stiefmütterlich behandelt" werden, bemerkt - etwas übertreibend - König, S. 1. 5 Die praktische Bedeutung einer Darstellung der spezifischen Probleme wird dadurch deutlich, daß der größte Teil des Schrifttums ihnen gewidmet ist. Handbücher des Gnadenrechts sind der klarste Ausdruck dieser Richtung. S. vor allem Monteil und Schätzler, Handbuch; ein ähnliches Vorhaben ist bei den meisten juristischen Gnadendissertationen spürbar.

24

Α. Einleitung

Ι . Definitionen und Kontroversen

a) Als Begnadigung wird hier - ihrer üblichen juristischen Bedeutung nach - der staatliche Akt (Gnadenakt) definiert, durch den im Einzelfall eine rechtskräftig verhängte Sanktion definitiv oder bedingt erlassen, gemildert oder u gewandelt wird 6 . Die Kompetenz zur Erteilung von Gnadenakten ist in allen heute geltenden Verfassungen vorgesehen7, wird i. d. R. Organen der Exekutive zugewiesen und ist ein Untersuchungsgegenstand für die Juristen8. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Begnadigung auf dem Gebiet des Strafrechts, d. h. auf Gnadenentscheidungen in bezug auf Sanktionen, die mit einem strafrechtlichen Urteil zusammenhängen9. Wir halten dies für gerechtfertigt, nicht nur wegen der Notwendigkeit, den Umfang des Themas zu begrenzen, sondern auch aus dem Grund, daß ein gnadenweiser Erlaß strafrechtlicher Sanktionen die größte Bedeutung sowohl für die Betroffenen als auch für den Rechtsstaat (Gebot der Respektierung gerichtlicher Entscheidungen) hat, und allgemein als "der bedeutsamste Anwendungsfall der Gnade"10, um den sich die stärksten Kontroversen entfalten, betrachtet wird. Dies bedeutet aber nicht, daß der Terminus Begnadigung sich ausschließlich auf Entscheidungen zum Erlaß oder zur Herabsetzung von Kriminalstrafen bezieht11; im Gegenteil weist das Problem der gnadenfahigen Sanktionen

6 Neben dieser aus "objektiver" Sicht formulierten Definition kann die Begnadigung aus der Sicht des Betroffenen definiert werden als "[mesure] en vertu de laquelle un individu reconnu coupable et définitivement condamné se trouve soustrait, en tout ou en partie, à l'application de la sanction" (Stefani/Levasseur/Bouloc , S. 535); zu einer Übersicht der vorgeschlagenen Definitionen s. Ax. Maurer, S. 2 ff. 7 "Daß kein Staat der Erde ohne Gnade [sc. Begnadigung] auskommt" stellt Schätzler, Handbuch, S. 146 fest, in Anlehnung an L. Sebba, The Pardoning Power - A World Survey, 1977. S. aus den Verf. Westeuropas die Art.: 73 belgischer Verf.; 24 dänischer Verf.; 60 Abs. 2 GG; 17 französischer Verf.; 47 Abs. 1 griechischer Verf.; 13 Abs. 6 irischer Verf.; 87 Abs. 11 italienischer Verf.; 38 luxemburgischer Verf.; 77 niederländischer Verf. 1972 (bleibt in Kraft gemäß der Verf. von 1983); 65 Abs. 2 österreichischer Verf.; 137 Abs. 5 portugiesischer Verf.; 62 Abs. i spanischer Verf. 8 Die juristische Literatur über die Begnadigung spiegelt die bereits angedeutete Vielschichtigkeit der Frage wider: Sie umfaßt Dissertationen, Monographien, Zeitschriftenaufsätze und kurze Erwähnungen in Handbüchern des Straf- und Verfassungsrechts, während die Begnadigung ein großes Interesse in der Rechtsphilosophie geweckt hat. 9 Zur Bestimmung des Gegenstandes von Gnadenentscheidungen s. ausführlich unten S. 213 ff. 10 Blaser, S. 1; vgl. etwa Ar. Maurer, S. 4. 11 Zur Begnadigung außerhalb des Strafrechts s. u. a. Kugler/Knobloch, S. 1501 ff; Schätzler, Handbuch, S. 50 ff.

I. Definitionen und Kontroversen

25

große Schwierigkeiten auf und bleibt bis heute rechtsdogmatisch offen 12, so daß die Begrenzung der Untersuchung auf das Gebiet des Strafrechts zwar die meisten Gnadenfragen umfaßt, aber das Thema der Wirkungen des Instituts im Sanktionensystem nicht erschöpft. b) Was die terminologischen Fragen angeht, werden wir in dieser Arbeit die Entscheidungen bei der Ausübung der Kompetenz als (negative bzw. positive) Gnadenentscheidungen bezeichnen; bei positiven Gnadenentscheidungen werden die Termini "Gnadenakt", "Gnadenerweis", "Gnade" oder "Begnadigung" als Synonyme gebraucht; "Gnade" und "Begnadigung" werden schließlich als Kurzbezeichnungen für das Gnadeninstitut im allgemeinen verwendet. Die Gnadenbefugnis wird im Schrifttum - in Anlehnung an den Sprachgebrauch der meisten Verfassungen 13 - des öfteren als "Begnadigungsrecht" bzw. "Gnadenrecht"14 oder sogar als "Gnadengewalt"15 bezeichnet. Diese Wortwendungen werden hier vermieden: Einerseits sind sie juristisch nicht exakt, da eine verfassungsrechtlich normierte Kompetenz nicht als "Recht" der zuständigen Staatsorgane betrachtet werden sollte16, während der Begriff "Gewalt" nicht geeignet ist, um eine vereinzelte Kompetenz zu bezeichnen; andererseits bedeuten sie nicht eine bloße sprachliche Ungenauigkeit, sondern sie bringen vielmehr ein Vorverständnis zum Ausdruck, hinsichtlich der Bedeutung der Gnadenkompetenz als einer Ausnahme, eines "rechtsfreien" Aktes oder sogar einer "Gewalt sui generis" - eine Sonderstellung, die meistens mittels einer historischen Betrachtung der Begnadigung "erklärt" wird. Bei der Auslegung von Rechtsnormen gilt es aber, solche, durch die Sprache vermittelte "Vorbestimmungen" zu vermeiden; somit werden hier die neutralen Bezeichnungen "Gnadenbefugnis" oder "Gnadenkompetenz" benutzt. Ähnliches gilt für die Bezeichnung des für Gnadenentscheidungen zuständigen Organs; im Schrifttum wird es oft als "Inhaber des Gnadenrechts"17, als "Inhaber" bzw. "Träger der Gnadengewalt"18, oder als "Träger des Begnadi-

12

Vgl. unten S. 214 ff. Dazu unten S. 513. 14 In Frankreich "droit de (faire) grâce", in Italien "diritto di grazia", in Griechenland "dikaioma aponomis charitos". 15 "Pouvoir de faire grâce", "potere di grazia", "exousia aponomis charitos". 16 Bezeichnend für die Gleichsetzung zwischen Kompetenz und Recht ist die Arbeit von Stähle, S. 1 : "Unter Begnadigungsrecht im subjektiven Sinne ist die Befugnis des Trägers der Staatsgewalt zur Begnadigung zu verstehen"; dazu vgl. unten B, Anm. 165. 17 Blaser, S. 49. 18 Kakies, S. 16. 13

26

Α. Einleitung

gungsrechtes"19, sogar als Träger eines ihm verliehenen "Verfassungsrechts" 20 bezeichnet; dabei wird die Gnadenkompetenz mit einem subjektiven Recht gleichgesetzt, und somit wird oft "die Befugnis des Gnadenträgers, Gnade zu gewähren, also das subjektive Recht zu begnadigen" 21 erwähnt. Um den Eindruck der Existenz eines frei verfügbaren "Gnadenrechts" zu vermeiden, werden hier solche Ausdrücke ebenfalls gemieden; zur Bezeichnung des für die Gnadenentscheidung von Verfassungs wegen zuständigen Organs gebrauchen wir die Bezeichnung "Gnadenorgan", "Gnadeninstanz" oder "Träger der Gnadenkompetenz"; den Terminus "Gnadenbehörde" werden wir - wie üblich 22 - zur Bezeichnung der mit den Vorbereitungsaufgaben beauftragten nachgeordneten Stellen verwenden. c) Diese terminologische Klarstellung deutet bereits an, daß für einen großen Teil des Schrifttums die Begnadigung keine "normale" Kompetenz ist; das Gnadeninstitut befindet sich weiterhin im Spannungsfeld zwischen einem traditionellen Verständnis im Sinne der "Rechtsfireiheit" und einem rechtsstaatlichen Verständnis, das die "Normalisierung" des Instituts anstrebt. Die zweite "Front" befürwortet die "Verrechtlichung" des Instituts und bejaht die gerichtliche Nachprüfung der Gnadenentscheidungen, davon ausgehend, daß die Gnade keinesfalls als "persönliches Recht" eines Staatsorgans23 oder als "außerrechtliches" Institut betrachtet werden dürfe 24; sie sei dagegen eine in der Verfassung begründete und nach rechtsstaatlichen Prinzipien auszuübende Kompetenz. Wenn aber somit die große Trennungslinie im Schrifttum zwischen Verfechtern und Gegnern einer "rechtsstaatlichen" Begnadigung deutlich wird, werden wir in dieser Arbeit durch die Darstellung und Kommentierung der Kontroverse zu zeigen versuchen, wie die Vorverständnisse in Fragen der Auslegung einfließen, welche Konsequenzen sie haben und daß es sich dabei letztendlich weder um zwei klar trennbare, "ganz unterschiedliche" Betrachtungsweisen25, noch um eine frontale Auseinandersetzung handelt, deren

19

Schmidt, S. 568; Schuster, S. 33; Schätzler, Handbuch, S. 18. G. Schneider, S. 104; Kordogiannopoulos, S. 742. 21 Schätzler, Handbuch, S. 12 (meine Hervorh.), der allerdings im Gegensatz zu anderen Autoren klarstellt, das "Begnadigungsrecht" sei ein "Recht" des Staates und nicht des zuständigen Organs (ebda, S. 18). 22 Vgl. Bachof, S. 470, Anm. 5; Schätzler, Handbuch, S. 167 f. 23 S. ζ. B. Schenke, S. 591 ; Prétot , S. 1527. 24 S. ζ. Β. Geerds, S. 24 f.; König, S. 110 ff. 25 So ζ. B. Müller-Dietz, "Recht und Gnade", S. 474. 20

I. Definitionen und Kontroversen

27

Symbol "das Schisma im BVerfG, jenes 4:4-Unentschieden"26 wäre, so daß man sich für eine "Partei" entscheiden müßte. Heutzutage sollte zwar deutlich sein, daß die Gnade eine im Rechtsstaat integrierte Kompetenz bildet, der rechtliche Grenzen gesetzt sind; denn für ein Verständnis der Begnadigung als etwas der Rechtsordnung "Vorgegebenes" bzw. als ein "Recht" gibt es genausowenig juristische Anhaltspunkte wie bei jeder anderen Kompetenz auch27; schließlich würde eine gewohnheitsrechtlich begründete Begnadigung, mit der die Exekutivorgane durch einen Straferlaß die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidungen durchbrechen könnten, einen klaren Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip bedeuten, so daß eine Gnade ohne verfassungsrechtliche Verankerung nicht existieren kann 28 . Aus diesen Feststellungen folgt aber nicht zugleich, daß das Gnadeninstitut durchaus "verrechtlicht" sei, noch sollten die Aussagen über seinen "außerrechtlichen" Charakter als Überbleibsel vorschnell verworfen werden. Bei der Gnade verflechten sich rechtliche und symbolische Probleme und führen bei denselben Autoren zu widersprüchlichen Aussagen29. Auch wenn dabei die Kritik und die Unterscheidung von Deutungsebenen unerläßlich ist - und bei beiden "Fronten" Richtiges neben Kritikbedürftigem vorhanden ist -, werden wir sehen, daß ein globales Verständnis des Instituts der Frage seiner symbolischen Funktion nicht ausweichen sollte; dadurch wird es möglich, die im Schrifttum anzutreffenden Widersprüche als Zeichen des Stellenwertes der Begnadigung im Rechtssystem zu begreifen.

26

105 ff).

So Schätzler, "Gnade vor Recht", S. 1249 (zu dieser Entscheidung s. unten S.

27 "Es gibt in aller Welt keine Befugnis des Staates, die sich sachlich zutreffend als Ausfluß von Freiheit, als ein dem staatlichen Funktionsträger um seiner selbst willen zuerkanntes subjektives Recht kennzeichnen ließe", Burmeister, "Verträge", S. 219 m. w. Hinw. 28 Dazu vgl. schon Laband: "Selbstverständlich (...) ist endlich, daß auch das Begnadigungsrecht seine Wurzel in der öffentlichen Rechtsordnung des Staates hat, daß es also überhaupt nur besteht und nur in dem Umfange besteht, in welchem es durch das Verfassungsrecht eines Staates (...) anerkannt ist" (Bd. ΙΠ, S. 510); s. auch unten S. 285 ff. 29 Ein Beispiel des Widerspruchs gibt uns auf terminologischer Ebene der Entwurf des Saarländischen Gnadengesetzes vom 17.1.1994 (LTVDrucks. 10/1769; dazu s. unten C, Anm. 281); der Entwurf will gemäß der Zielsetzung zum Ausdruck bringen, "daß Gnade keine Gunstbezeugung eines Souveräns, sondern die Aufhebung oder Milderung von Rechtsnachteilen (...) bedeutet", und die Gnadenkompetenz wird in Art. 1 § 1 als "Befugnis des Landes zur Begnadigung" bezeichnet. Derselbe Entwurf verwendet aber die Termini "Träger des Gnadenrechts" (Zielsetzung) und "Begnadigungsrecht" (Art. 1 § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1). Das ständige Schwanken zwischen kriminalpolitisch wirkender Begnadigung und ideologisch als "Recht" verstandener Gnade, das es hier zu untersuchen gilt, wird bereits deutlich.

28

Α. Einleitung

II. Methodische Fragen

In bezug auf die Methode der vorliegenden Arbeit ist es angebracht, hier zwei Problemkreise anzudeuten. Der erste betrifft die im Schrifttum herrschende "geschichtlich-einheitliche" Betrachtung des Gnadeninstituts, der zweite die Frage der Rechtsauslegung.

1. Aus der Geschichte lernen? Die Studien über rechtliche Fragen der Begnadigung beginnen, i. S. einer quasi obligatorischen Einleitung, mit einem - meistens kurzen - Rückblick in die geschichtliche Entwicklung des Instituts, der zu einem besseren Überblick beitragen soll 30 . Derartige Rückblicke sind zweifellos von geschichtlichem Interesse31, und daraus gehen zwei wesentliche Betrachtungen hervor 32: a) Es hat sich die Ansicht herausgebildet, die "Idee" der Gnade stamme aus dem "Sakralbereich", d. h. aus der Vorstellung, es gebe eine übergeordnete Gewalt, die die Macht habe, verschiedene Formen und Fälle eines "Fehlverhaltens" zu verzeihen - eine Vorstellung, die mit religiösen Anschauungen eng verbunden ist und diese auf die Ebene der Gesellschaftorganisation überträgt. b) Was die "praktische" Gnade betrifft, also die "Verzeihung" durch Erlaß einer Sanktion, gab es in der Geschichte zwei - oft parallel wirkende - Gnadenformen und entsprechend zwei "Gnadenträger": Die Begnadigung erfolgte einerseits als private "Verzeihung" seitens des Opfers - in dem Maß, in dem die Bestrafung eine private Frage war oder ein über das Gewaltmonopol verfügender zentraler Machtapparat eine diesbezügliche Dispositionsfreiheit einräumte, i. d. R. wenn das Delikt nicht als Angriff gegen den Souverän betrachtet wurde - und andererseits als Ausdruck eines Fürstenrechts, als Ausfluß der Herrschaftsmacht,' die, indem sie die reale und symbolische Fähigkeit besaß, eine Sanktion zu verhängen, auch deren Erlaß in bestimmten Konstellationen anordnen konnte. 30 S. u. a. Funke, S. 2 ff.; Leineweber, S. 3 ff.; Klees, S. 4 ff; Geerds, S. 6 ff; König, S. 45 ff; Kakies, S. 2 ff; ν. Ρ reuschen, Der Rechtsschutz, S. 11 ff; Ax. Maurer, S. 7 ff; Schätzler, Handbuch, S. 7 ff; Vrabiesco, S. 11 ff; Monteil, S. 14 ff; Ρ ré tot, S. 1529 f., 1548 ff; Carrara , S. 117 f.; Zagrebelsky, Grazia, S. 757ff; Georgopoulos, Gnade, S. 12 ff; Nikolaou, S. 409 ff; Raikos, Die Begnadigung, S. 5 ff. 31 Vgl. aus den fundierten Untersuchungen zur Begnadigungsgeschichte Bayerle, S. 4 ff; Grewe, S. 41 ff ; Hupe, passim; Foviaux, S. 15 ff.; Merten, Rechtsstaatlichkeit, S. 30 ff; s. die Hinw. zu den Quellen der Gnadengeschichte bei Riiping, S. 31 ff 32 Vgl. zusammenfassend Krause, Sp. 1715.

Π. Methodische Fragen

29

Dieses Schema, in dem sich (neben Details, die die konkreten Gnadenträger sowie die Begnadigungsrituale und -falle betreffen) der historische Rückblick im juristischen Schrifttum erschöpft, ist für eine juristische Betrachtung des Gnadeninstituts kaum nutzvoll. Daß die Machthabenden oder die Betroffenen über eine Sanktion verfügen können - und daß dies gesellschaftlich akzeptiert wird - ist eine "logische" Konstruktion, die wir als die allgemeinste Definition der Begnadigung als Gunst und Sanktionenerlaß betrachten können, wobei die geschichtliche Betrachtung lediglich das Selbstverständliche belegt! Eine elementare Ja-oder-Nein-Dialektik (Bestrafung oder Verzeihung) ist zweifellos charakteristisch für die Strafrechtssysteme - wie auch für das menschliche Handeln allgemein33; dies vermag aber kaum dabei zu helfen, das Gnadeninstitut zu verstehen, das wie, von wem und zu welchen Zwecken heute Gnade gewährt wird, d. h. es vermag nicht, das heutige Gnadeninstitut zu erklären. Andererseits erweist sich die zentrale Erkenntnis der so rekonstruierten Gnadengeschichte, wonach die Begnadigung "ihren Ursprung im Sakralen hat" 34 , d. h. ihre "Gründung im Göttlichen als gratia dei oder gratia divina" 35 , bei näherer Betrachtung als eine Leerformel. Wenn wir uns nämlich in den Diskurs vergangener Gesellschaften versetzen, dann gilt der "Ursprung im Sakralen" allgemein für die politischen Machtapparate und die Möglichkeit zur Bestrafung der Untertanen, und noch allgemeiner für die Gesellschaftsordnung in ihrer Gesamtheit; er ist ein Charakteristikum der hierarchischen Gesellschaftsorganisation und der Konzentration von Machtmitteln in einer Herrschergruppe und keine spezielle Eigenschaft des Gnadeninstituts. Wenn wir dagegen die Geschichte aus der gebotenen Distanz betrachten, dann erfüllt die Begnadigung als menschlich konstruiertes Institut eine bestimmte gesellschaftliche Funktion, für die kein Anlaß besteht, sie mit dem "Sakralen", also mit einer Glaubensannahme, einer "zutiefst christlichen Botschaft" 36, zu assoziieren. Schließlich bringt die Erkenntnis, daß die Gnadengeschichte von einer fortschreitenden "Verflachung durch Abschneidung der irrationalen Wurzeln" gekennzeichnet ist 37 , wiederum den flächendeckenden Säkularisierungsprozeß zum Ausdruck, in dem sich der Rechtfertigungsmodus der Machtausübung "Der Mensch paranoischer Struktur ist einer, der sehr schwer oder gar nicht verzeihen kann", Canetti , S. 333. 34 So ζ. Β. Merten, "Gnadenakte", Sp. 1191. 35 Merten, Rechtsstaatlichkeit, S. 10. 36

37

Ebda.

Krause, Sp. 1718. Eine materialreiche Rekonstruktion der Stellung der Begnadigung im Rahmen der absoluten und konstitutionellen Monarchie, wo gezeigt wird, daß im Wandel der Zeit die Gnade allmählich ihren Charakter als Prärogative mit "sakraler" Rechtfertigung verlor, findet sich bei Zagrebelsky, Amnistia, S. 27 ff.

30

Α. Einleitung

ändert. Aus all diesem folgt, daß der "Sakralbezug" kaum zum Verständnis des Gnadeninstituts beitragen kann. Problematisch bei der Darstellung der Gnadengeschichte im juristischen Schrifttum ist aber auch, daß sie auf einer Kontinuitätsvorstellung des Gnadeninstituts beruht. Die Gnade sei "nur aus der Entwicklung, d. h. von den historischen Grundlagen her zu verstehen"38, bzw. die Gnadengeschichte vermöge "wesentliche Aufschlüsse über den Sinn der Gnade" zu vermitteln 39. Die Feststellung, daß die Gnade eine geschichtlich geprägte Bindung zum Charismatischen und Irrationalen habe, wird fast ausnahmslos als Evidenz akzeptiert, wobei von dieser Bindung auch diejenigen Autoren ausgehen, die die Abschaffung dieser "irrationalen" Gnade befürworten 40 oder die einen radikalen Wandel in ihrer Funktionsweise durch eine "rechtsstaatliche" Neugestaltung der Gnade für zeitangemessen halten41. Eine solche Betrachtung führt eine Hypostasierung der Gnade herbei, die im Laufe der Geschichte als Institut erscheint, das erstens Universalität (es sei in jeder Gesellschaft anzutreffen) und zweitens eine innere Kohärenz aufweist. Somit wird der Gnade eine weitgehende Autonomie vom jeweiligen Rechtssystem, in dem sie ausgeübt wird, verliehen, und sie tritt in Erscheinung als Institut mit eigener Logik und Geschichte, das durch Abstraktion aus den verschiedensten Perioden "destilliert" wird. Die geschichtlichen Referenzen der Gnade basieren somit - implizit - auf einer Vorstellung von der Geschichte, die als höchst bedenklich erscheint. Das Schrifttum geht zunächst von der Gleichsetzung der historischen Zeit mit der homogenen, gleichmäßig und linear fließenden, natürlichen Zeit aus - deren Muster der Uhren-Zeit folgt -, die durch ihre Omnispräsenz die Idee suggeriert, sie sei die "normale", tendenziell die einzige Form des Zeitablaufs 42. Es wurde dagegen gezeigt, daß die geschichtliche Zeit durch Brüche und Rhythmuswechsel gekennzeichnet ist, auf der Basis von Perioden, die mit der Aufeinanderfolge von Produktionssystemen zusammenfallen 43, wobei die Suche in einer Dimension der Diachronie nach dem "Wesen" einer Institution oder eines Systems (ζ. B. des Rechts in der Geschichte) als eine essentialistische 38

Geerds, S. 6. Radbruch, S. 274. 40 So neuerdings Euba, S. 118 ff.; G. Schneider, S. 101 f. 41 Vgl. ζ. B. die bereits erwähnten Arbeiten von Geerds und König. 42 Zu den verschiedenen Auffassungen der gesellschaftlichen Zeit im Rahmen der Geschichtsforschung, wo der Glauben an die Linearität der Zeit die naive Ausgangsthese von Historikern des 19. Jahrhunderts war, s. eingehend Pomian, passim. 43 Zur historischen Zeit, die diskontinuell, komplex, anisotrop, ungleichmäßig fließend und von gesellschaftlichen Ereignissen abhängig ist s. Althusser , in: ders./ Balibar, S. 115 ff., 124 ff.; Baltas, S. 61 ff. 39

Π. Methodische Fragen

31

Fehldeutung angesehen werden muß, die sowohl idealistische als auch materialistische Züge annehmen kann (ζ. B. "Wesen des Rechts" sei die Gerechtigkeit oder die Gewalt)44 und in jedem Fall stillschweigend voraussetzt, daß etwas, was ζ. B. "Recht" heißt, als Idee vorhanden ist, sich in der Geschichte des Menschen entwickelt und bewährt, indem es seinem Wesen "treu" bleibt. Die Betrachtung der Begnadigung in einer Diachronie verkennt die Eigenartigkeit der rechtlichen Ebene einer bestimmten Gesellschaft (innerhalb der die Gnadenbefugnis gestaltet und ausgeübt wird) und vergleicht - aufgrund des ideologisch evidenten Charakters der Geschichte als linearer Aufeinanderfolge von Geschehnissen - inkommensurable Größen, so daß sie im Ergebnis a-historisch wird. Anders ausgedrückt setzt diese Betrachtung stillschweigend eine übermäßige Ausdehnung von Begriffen wie "Recht" und "Staat" voraus, die angeblich überall anzutreffen und wesensgleich seien, und untersucht die Begnadigung in diesem imaginär einheitlichen Rahmen. Die "geschichtliche" Betrachtung beruht auf einer zweifelhaften erkenntnistheoretischen Voraussetzung, da sie zu einer Auffassung der Begnadigung tendiert als eines Phänomens mit einheitlicher "Substanz", die abstrakt begriffen 45 und bestätigt wird aufgrund des historisch unveränderbaren "Kerns" des Instituts, dem Autonomie gegenüber dem Recht zugemessen wird 46 . Der Sinn für den historischen Wandel geht aber verloren, wenn Institute mit gleichem Namen formalistisch gleichgesetzt werden. Diese lineare Konstruktion führt bestimmte Autoren zur Verbindung der Gnade mit einer übergeschichtlichen Rechts- und Gerechtigkeitsidee. Diesem Gedankengang folgend zog ein Befürworter der "geschichtlichen" Betrachtung den Schluß, daß die Gnade zu denjenigen Instituten gehöre, die "mittels ihrer dynamischen Präsenz im Rahmen des sich entwickelnden positiven Rechts (...), ihre innere Verbundenheit mit der Idee des Rechts beweisen"47. Der geschichtliche Ansatz fuhrt somit zu einer essentialistischen und zugleich fixisti44 Zur Frage der historischen Eigentümlichkeit der zeitgenössischen Rechtssysteme vgl. Poulantzas, L'Etat, S. 17ff.; Manitakis, in: Alimprantis u. a., S. 37 ff 45 Zu dieser Tendenz s. die Kritik von Manitakis, Das Subjekt, S. 51 ff. m. w. Hinw., vgl. dens., in: Alimprantis u. a., S. 39 f.; Wesel, "Zur Methode", S. 359 und passim. 46 Am problematischsten dabei ist, daß dieser "eigenständige" Sinn der Gnade verliehen wird unter Berufung auf außerrechtliche Elemente, die als unveränderbar betrachtet werden; dazu s. unten S. 554 ff. 47 Nikolaou, S. 407; ähnlich die Auffassung von Grewe in seiner vielbeachteten Gnadendissertation: "Das Begnadigungsrecht [gewinnt] in der modernen Rechtsentwicklung seit dem Naturrecht einen überaus komplexen Charakter, in dem außerordentlich verschiedenartige kulturgeschichtliche Bildungen aufbewahrt sind, eingeschmolzen freilich durch die Kraft der Kontinuität der abendländischen Geschichte und dadurch verselbständigt zu einer Idee" (S. 96 - meine Hervorh.).

Α. Einleitung

32

sehen Auffassung, die einen "zeitlosen Kerngehalt des Instituts"48 festzustellen glaubt und dies als Erklärungsbasis für das Institut benutzt mit der Folge, daß die Gnade quasi naturalisiert wird, als notwendiges Attribut jeder Gesellschaft. Diese Naturalisierung führt zu der Annahme, daß "Recht nicht ohne Gnade gedacht noch verwirklicht werden kann" 49 und "Gnade so existentiell wie Recht lebensnotwendig ist" im Rahmen einer Auffassung, die das Recht und die Gnade als "unabweisbar" betrachtet50. Es handelt sich um eine Denkweise, welche die Geschichte der menschlichen Gesellschaften als eine grundlegend wesensgleiche Totalität ansieht, deren agierende Gründe bestimmte Wesenheiten sind (Mensch, Arbeit, Recht, Moral usw.); sie versucht, diese Wesenheiten durch formale Ähnlichkeiten in verschiedenen geschichtlichen Perioden zu konstruieren und somit die geschichtliche Entwicklung als ein "Spiel" von grundsätzlich unveränderbaren Einheiten, als ewige Wiederkehr des Gleichen zu interpretieren 51. Wenn aber dieses - durch idealistische philosophische Positionen und im methodischen Rahmen einer geistesgeschichtlichen Betrachtung erfolgende 52 Verständnis der Geschichte als hochproblematisch erscheint, stellt sich die Frage, warum es mit solcher Vehemenz im Fall der Begnadigung vertreten wird und warum der Urspung als maßgebend für das Institut betrachtet wird, obwohl niemand behaupten würde, daß ζ. B. das heutige Strafrechtssystem durch die "irrationale Wurzeln" des Bestrafungsvorgangs in anderen Gesellschaften bestimmt wäre oder daß andere Kompetenzen des Staatspräsidenten wie fürstliche Prärogativen ausgeübt werden sollten! Wir können behaupten, daß diese Bezugnahme auf die Geschichte im Fall der Gnade weder aus Informationsgründen erfolgt, noch, weil die heutigen Kompetenzen der Staatsorgane tatsächlich durch die juristische Vorgeschichte bestimmt würden; sie bestrebt vielmehr eine Instrumentalisierung der Geschichte, um daraus eine "nützliche" Schlußfolgerung zu ziehen. Wir werden diese "geschichtlich-einheitliche" Betrachtung der Gnade als eine innere Notwendigkeit des Instituts analysieren, das auf symbolischer Ebene einen alternativen Diskurs im Vergleich zu demjenigen des Strafrechts erzeugt, indem es im Schrifttum als eine "außerrechtliche" und quasi monarchische Prärogative 48

Schenke, "Die Bedeutung", S. 320. Schätzler, Handbuch, S. 5, der hinzufügt, die Begnadigung bilde ein "notwendiges Korrelat des Rechts" und sei somit "unentbehrlich in einem mit Leben erfüllten Rechtssystem" (ebda, S. 142 f.). 50 Müller-Dietz, "Recht und Gnade", S. 481; vgl. Kern, "Die Verdrängung des Rechts", S. 588; Merten, Rechtsstaatlichkeit, S. 63. 51 Vgl. die Kritik von Macherey, "Eins teilt sich in zwei", S. 19 ff. 52 So ausdrücklich in bezug auf die Gnade Grewe, S. 41. 49

Π. Methodische Fragen

33

verstanden wird 53 . Dies findet einen wichtigen Anhaltspunkt in der Postulierung einer Kontinuität der Gnadengeschichte, wobei die Gnade als Wesenheit erscheint, die unabhängig von den jeweiligen rechtlichen Regelungen bestimmt wird, also die Geschichte - wie es oft der Fall ist - als Zeuge berufen wird, um eine in der Gegenwart vertretene, "funktionale" Auffassung zu bestätigen. Es ist also nicht richtig, daß die Geschichte der Begnadigung deswegen "bei der Klärung der modernen (...) Gnade kaum zu verwerten" sei, weil sie uneinheitlich sei 54 ; denn selbst wenn diese Geschichte einheitliche Züge aufwiese, wäre ein "vertikaler" Schnitt in die historische Zeit nicht geeignet, um die spezielle Funktion der Begnadigung in den einzelnen Gesellschaftsformationen und ihre Wechselbeziehung zu den anderen Elementen der Organisation des Staates und des Strafrechtssystems zu verdeutlichen. Eine fruchtbare Untersuchung der Gnadengeschichte kann demnach nur mit einer "horizontalen" Betrachtung der juristischen Ebene in einer geschichtlichen Periode unternommen werden. Gegenstand der Untersuchung müßte also die Ermittlung eventueller Änderungen im Auslegungsmodus der Gnadenkompetenz innerhalb einer Periode sein, ζ. B. im konstitutionellen Staat der zwei letzten Jahrhunderte - Änderungen, die meistens umfassendere Wandlungen in den Methoden der strafrechtlichen Repression sowie der Organisation des Staates widerspiegeln55. Einen solchen Wandel im Rahmen der heutigen Rechtsordnungen würde ζ. B. eine künftige institutionelle Anerkennung der Justitiabilität der Gnadenentscheidungen oder ein Wechsel des zuständigen Organs durch Verfassungsrevision herbeiführen. Eine interessante Untersuchung der Funktion der Gnade in der Geschichte könnte auch durch eine quantitative empirische Analyse in bezug auf die Gnadengründe oder die Häufigkeit der Ausübung der Kompetenz durchgefühlt werden - eine Arbeit, die bisher nicht geleistet wurde.

2. Die Frage der Rechtsauslegung Da die Begnadigung durch eine Verfassungsnorm geregelt wird, setzt jede Analyse des Gnadeninstituts eine Position in Fragen der Interpretation des Verfassungsrechts voraus; dies ist um so mehr notwendig, da die Meinung, die 53

pitel F. 54

Zu dieser Betrachtung s. ζ. B. Seuffert,

S. 500 ff.; vgl. im einzelnen unten Ka-

Kakies, S. 8. S. in dieser Richtung die Bemerkungen von Bachoj\ S. 470 und Anm. 27 auf S. 472; vgl. Zagrebelsky, "Grazia", S. 759 und Prétot, S. 1549 f. 55

3 Dimoulis

34

Α. Einleitung

Gnade sei von gewohnheitsrechtlichen oder sogar "außerrechtlichen" Elementen bestimmt, großen Anklang findet. Die Tatsache, daß die Stellungnahme zur Auslegungsfrage dem Gnadenschrifttum implizit ist, ist für viele Konfusionen und Fehlinterpretationen verantwortlich. Erforderlich ist demnach eine Darstellung der erkenntnistheoretischen Ausgangspunkte und der Regeln der Verfassungsinterpretation 56, die im Laufe der Arbeit anläßlich konkreter Auslegungsfragen in vielen Punkten expliziert werden sollen.

a) Ziel der Rechtsauslegung Ob die verfassungsrechtliche Methodendiskussion in den letzten Jahren "durch die Rückbesinnung auf die Normativität der Verfassung (...) und damit einhergehend durch eine Rehabilitierung der Interpretationsregeln der klassischen Hermeneutik gekennzeichnet ist" 57 , erscheint als zweifelhaft; es ist vielmehr der Feststellung zuzustimmen, daß die herrschende Interpretationslehre durch einen "haltlosen Methodensynkretismus" gekennzeichnet ist, dessen Hauptmerkmal der Versuch einer Materialisierung der Auslegung ist 58 . Eine Rückkehr zu den "klassischen" Auslegungsmethoden, die von mehreren Seiten gefordert wird 59 , ist aber durchaus wünschenswert. Das Recht bildet ein gesellschaftliches Phänomen oder "Subsystem", an dessen Vorgängen der Interpret unmittelbar beteiligt ist; es ist mit materiellen Interessen verbunden und entfacht "Leidenschaften" - was auch den Streit um die Auslegungsmethode und viel stärker um die konkreten Interpretationslösungen erklärt. Wenn aber die Auslegungstätigkeit60 methodische Glaubwürdigkeit und eine Entsprechung zu ihrem Erkenntnisgegenstand erlangen will, muß sie die Konsequenzen der Beteiligung des Interpreten an der Rechtswirk56 Folgendes ist ausführlicher behandelt in: Dimoulis, "Der rechtlich-politische Pragmatismus", S. 394 ff.; Giannoulis/Dimoulis, "Zur ewigen Wiederkehr des Naturrechts", passim. 57 Krölls, S.41 m. w.Hinw. 58 So Römer, S. 87 ff. (94). Zur Rekonstruktion der methodischen Auseinandersetzung um die Verfassungsauslegung s. Böckenförde, Staat, S. 53 ff.; Koch, "Einleitung", S. 61 ff.; Stein, Rnr. 9 ff. 59 Vgl. etwa Luchaire, "De la méthode", S. 276 ff.; Gusy , S. 505 ff.; Summers, S. 66 ff. 60 Die Juristen erheben meistens - mit übermäßiger Selbstüberschätzung - den Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Tätigkeit; sie stützen sich dabei vor allem auf die institutionell-politische Bedeutung der juristischen Praxisformen, also auf das außerwissenschaftliche (Macht-)Argument der gesellschaftlichen und akademischen Anerkennung. Daß die juristische Tätigkeit keinen wissenschaftlichen Charakter haben kann, zeigen u. a. Amselek, S. 131 ff.; Arnaud , S. 471 f.

Π. Methodische Fragen

35

lichkeit "einzudämmen" versuchen, indem sie eine Distanz zu den unmittelbaren Streitgegenständen gewinnt. Unerläßlich ist dabei die Ersetzung der Auslegung aus der Sicht des Beteiligten/Betroffenen durch eine Interpretation mit objektiven Ansichten. Die Diskussion über die juristische Methode setzt die Bestimmung des Auslegungszwecks voraus. Die herrschende Auffassung behauptet in verschiedenen Versionen, Zweck der Auslegung sei es, von den juristischen Texten ausgehend eine situationsgerechte Lösung zu finden; speziell auf der Ebene des Verfassungsrechts argumentiert sie mit der Prinzipienhaftigkeit, Vieldeutigkeit und Bruchstückhaftigkeit der Verfassungsnormen, um zu behaupten, daß der Interpret diese Vorschriften "auszufüllen" habe. Von diesem Prinzip auszugehen bedeutet jedoch, daß der Interpret, indem er nach dem Geist der Verfassung sucht, selbst zum "Geist der Verfassung" wird, wie uns eine Betrachtung der Auslegungspraxis zeigen kann, die selbst bei eindeutigen Bestimmungen Umdeutungen vornimmt, um sie dem anzupassen, was der Interpret als angemessen betrachtet61. Ein solches "schöpferisches" Verständnis der Auslegung62 führt tendenziell zur Auflösung der Verbindlichkeit der Norminhalte, denn es wird nicht unterschieden zwischen dem, was die Verfassung bestimmt, und dem, was der Interpret bzw. die öffentiche Meinung in einem konkreten Problem als die richtige Lösung ansieht. Die verschiedenen Analysen der Funktionsweise einer auf die Konsensfindung unter den Beteiligten gerichteten juristischen Rhetorik und die Entwürfe einer Theorie der juristischen Argumentation, die die Rechtsauslegung als einen nicht kognitiven Prozeß verstehen und in ihren jüngeren Varianten 63 die Entscheidungsfindung mittels der Aufstellung von Regeln rationalen Argumentierens zu "kontrollieren" versuchen64, sind zweifellos verdienstvoll für die Entwicklung einer Strategie zum Zweck eines erfolgreicheren Vortragens einer Behauptung im Prozeß der Urteilsfindung sowie zur Prognose künftiger richterlichen Entscheidungen; sie könnten auch interessant sein als Untersuchungen der Mechanismen der Rechtsanwendung in der Perspektive einer Soziologie der Determinanten juristischen Entscheidens und des Verhaltens der 61 Dabei bietet die Verfassungsjudikatur mit ihrer Grundrechts- und selbst Staatspolitik unter dem Deckmantel der Ermittlung des Sinns der Verfassungsnormen ein charakteristisches Beispiel. 62 Vgl. dazu die fundierte Kritik von Maus, "Die Trennung", S. 191 ff. 63 Vgl. statt aller Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, passim. 64 Zu den Ansätzen, die sich in diese Tradition einordnen lassen, s. den Überblick von U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, passim; H assemer, "Juristische Hermeneutik", S. 195 ff.

*

36

Α. Einleitung

"Sprecher". Sie können aber nicht als Beitrag zu einer Rechtsauslegung, als Antwort auf die Frage, was der Normeninhalt ist, gelten, denn ihr Horizont erschöpft sich im praktischen Erfolg des Argumentierens und in der nach verschiedenen Kriterien und in unterschiedlichen Situationen überzeugenden Begründung einer Auslegung, also in einem durchaus instrumentellen Vorhaben. Wenn aber ζ. B. versucht wird, eine Bindung der Staatsorgane herzuleiten, die sich aus der Verfassung nicht ergibt (wie wir sehen werden, ist dies der Fall in der Gnadenliteratur, wenn ζ. B. versucht wird, der Begnadigung eine quantitative Begrenzung aufzuerlegen, oder wenn aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen die "Rechtsfreiheit" der Gnadenentscheidung befürwortet wird), dann wird die Normativität der Verfassung in Frage gestellt: denn ein solcher Ansatz erlaubt es, mit demselben Glaubwürdigkeitsanspruch auch die gegenteilige Auslegung zu vertreten.

Unabhängig von den Gründen der Durchsetzung eines Materialisierungsansatzes bei der Auslegung, der in der Verfassung eine konkretisierungsbedürftige und fortbildungsfahige "Rahmenordnung" sieht65, muß sich eine methodisch glaubwürdige Verfassungsinterpretation den Zweck der Ermittlung des durch den Verfassungstext objektivierten "Willens" der normsetzenden Au tät, d. h. der Erschließung der "ideellen sozialen Realität des Rechts" aus dem Inhalt der Verfassungsnormen 66, setzen. Jede andere Orientierung "verkennt die Phänomenologie der Sprache des Rechts: den Verbindlichkeitsanspruch der Rechtsnormen"67. Die hier definierte Zielsetzung wird meistens als unrealisierbar, naiv oder falsch, mit einem Wort als Folge des weitgehend diskreditierten "Positivismus", verworfen. Trotz der vielen Einwände spricht für diese Zielsetzung aber das Argument der Rechtssicherheit, vor allem der Vorhersehbarkeit der Rechtsentscheidungen68, die von jeder "materiellen" Verfassungs- und Auslegungstheorie aufgrund der Subjektivität und des Versuchs einer Ableitung der "optimalen" konkreten Lösung aus abstrakten Prinzipien grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das Argument der Rechtssicherheit sollte nicht axiologisch begriffen werden (sie sei wünschenswert, weil die heutigen Rechtsordnungen an sich "gerecht" seien oder weil die Formalität Voraussetzung für "gute In-

Zu einem Erklärungsversuch in Zusammenhang mit Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vgl. Breuer, S. 87 ff. 66 Vgl. Krölls, S. 46, 49; vgl. etwa Stern, Bd. I, S. 124 f., 139; Brugger, S. 19 m. w. Hinw. 67 Wassilogiannis, Der verfassungsrechtliche Gebrauch, Kap. I. 68 Kelsen, "Was ist juristischer Positivismus?", S. 468; zu den "allgemeinen Gründen fur Formalität" s. neuerdings Summers, S. 68 ff.; vgl. Brugger, S. 3 f.

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halte" sei69), sondern ausschließlich methodisch als das Grundmerkmal der heutigen Rechtsordnungen. Selbst wenn mit politischen Argumenten etwas anderes für besser gehalten wird (etwa die "Selbstbestimmung der Zivilgesellschaft", die Offenheit der politischen Entscheidungsprozesse oder die Rechtssicherheit, nur unter der Bedingung, daß das Rechtssystem eine grundlegende inhaltliche Änderung erfährt), entspricht dies nicht der Auslegung des (Verfassungs-)Rechts, das als geschriebenes und "starres" Recht so ausgelegt werden muß, wie es selbst anordnet, d. h. mit Respektierung der von ihm vorgeschriebenen Rationalität und des Typus der gesellschaftlichen Organisation. Der Versuch einer Umwandlung der Auslegung in ein Forum der Rechtsfortbildung, wo unter Experten nach der "optimalen" Lösung gesucht wird, die unter Berufung auf Prinzipien oder unter Hinweis auf die Besonderheit der Situation abgeleitet wird durch Anwendung rationaler Maßstäbe im juristischpraktischen Diskurs 70, führt letztendlich (selbst wenn keine extremen Auffassungen hinsichtlich der Freiheit der Auslegung vorgebracht werden, wie ζ. B. die Position, daß "der Normtext (...) keine unübersteigbare Grenze für Auslegung und Rechtsfortbildung" sei71, um Auslegungen "entgegen dem eindeutigen Wortlaut" der Verfassung als "geglückte Rechtsfortbildung" zu begrüßen72) zur Verschwommenheit der Auslegung, wobei die Berufung auf den Wortsinn der Rechtsnormen eher als Vorwand zur Durchsetzung der angestrebten Auslegung benutzt wird. In allen Fällen gilt, daß die Forderung einer nicht starren Auslegung, die "als Überwindung des Gesetzespositivismus gefeiert wird, (...) in Wirklichkeit die Eliminierung rationaler und demokratischer Gesetzgebung ist" 73 . Wer das Recht mit übermäßig materiellen Erkenntnisansprüchen zu interpretieren versucht, verfehlt seinen Erkenntnisgegenstand74, da weder das "Gerechte" noch das "Nützliche" Ziel der Auslegungstätigkeit sein kann. Wenn letzteres geschieht, dann zeigt der Interpret eine beabsichtigte Subjektivität, d. h. er nimmt anhand "technischer" oder rechtspolitischer Argumente (Vagheit der gesetzlichen Begriffe bzw. Unerträglichkeit der Anwendung einer als "nicht angemessen" empfundenen Lösung) von außen eine Beurteilung vor, was Recht ist (sein sollte). 69 Diese substantielle Rechtfertigung der Formalität ist ζ. B. bei Summers, passim, anzutreffen. 70 Zu diesem Ansatz s. ζ. B. Günther, passim. 71 So Bryde, S. 270. 72 Ebda; s. aus der Rechtsprechung ζ. B. BVerfGE 34, 269, 287. 73 Römer, S. 94; dazu eingehend Maus, "Die Trennung", S. 201 ff, 208 ff. 74 Vgl. Krölls, S. 44.

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Α. Einleitung

In ungeeigneter Weise sprechen demnach über das Recht diejenigen, welche die traditionellen Auffassungen des Naturrechts in einer rationaleren Version vertreten 75 und behaupten, daß "das Rechtssystem ein gegenüber der Moral offenes System ist", so daß in den Begriff des Rechts moralische Elemente integriert werden76. Eine solche "Offenheit" löst das Objekt der Rechtsauslegung auf, indem einerseits alles zum Anlaß rechtlicher Entscheidungen werden kann und andererseits mehrere voneinander stark divergierende, konkrete Entscheidungen aus den abstrakten moralischen Prinzipien abgeleitet werden können. Der Rückgriff auf die Moral immunisiert die Entscheidungen der Staatsorgane gegen Kritik, und dieser Auslegungsansatz mündet in eine "affirmative Beschreibung der Rechtspraxis"77; zugleich wird ein dem Recht äußeres Richtigkeitskriterium neutralisiert, indem das angewandte Recht auch in aller Regel als moralisch richtig präsentiert wird, also die Gehorsamspflicht materiell begründet wird 78 . Das Recht wird bei seiner Erzeugung durch die Politik bzw. die Moral beeinflußt, und seine Abänderungen - wie auch die nicht seltenen "Abweichungen" bei seiner Anwendung - sind durch gesellschaftliche Vorstellungen und Interessen bedingt. Zweck des Gesetzgebers und somit auch des Interpreten ist es aber, den offenen Charakter der gesellschaftlichen Regeln und Forderungen in einem "geschlossenen" System zwecks der Rechtsgewißheit festzulegen 79. Eine Moralisierung der Auslegung stellt somit einen Rückzug dar, der aus persönlichen Interessen (ζ. B. dem Ausgang eines gerichtlichen Verfahrens) oder aus einem publizistischen Interesse an der Richtigkeit der Entscheidung gerechtfertigt sein kann. Wenn aber der Interpret als Interessensvertreter mit Legitimierungsabsichten einer bestimmten Auffassung bzw. des Rechtssystems 75 Der innere Zusammenhang zwischen der naturrechtlichen und der "offen-dialogischen" Betrachtung des Rechts besteht darin, daß die Rechtsauslegung für beide fremdbedingt ist, sei es durch überpositive Prinzipien oder durch eine "rationale Diskussion" zwischen Interpreten. Diese Gemeinsamkeit bestätigte neuerdings der unmittelbare Übergang des französischen Staatsrechtslehrers Rials vom ersten zum zweiten Ansatz ("Supraconstitutionnalité", S. 57 ff.; "Entre artificialisme et idolâtrie", S. 163 ff). 76 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 494 und passim; vgl. aus der neueren Literatur Dreier, S. 35 ff, 99 ff, 113 ff m.w.Hinw.; Habermas, S. 135 ff; zu diesem Fragenkomplex s. die Beiträge in: Jung/Miiller-Dietz/Neumann\ vgl. den Überblick bei Höffe, S. 121 ff 77 Vgl. Maus, "Die Trennung", S. 192 ff. (194). 78 Zur These der begrifflichen Unterscheidung von Recht und Moral als Voraussetzung der Rechtsauslegung s. u. a. Kelsen, "Was ist juristischer Positivismus?", S. 468; Baratta, Philosophie, S. 237 ff, 246; Hoerster, "Zur Verteidigung", S. 2480 ff; dens., "Die rechtsphilosophische Lehre", S. 184 ff; Gusy, S. 506 ff/, Maus, "Die Trennung"^. 194 ff, 203 ff. 79 Vgl. unten S. 88 f.

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allgemein auftritt, spricht ihm dies die Eigenschaft des Rechtsinterpreten ab, da er rechtliche Argumente auf "zynische" Weise gebraucht, um die Lösung durchzusetzen, die er für die günstigste hält. Die Tendenz der "moralistischen" Auslegung begreift das juristische Sollen als ein aus "höheren" Prinzipien abgeleitetes "Soll-Sollen". Welche Normen einem Rechtssystem angehören und was sie befehlen, kann aber nur aus innerer Sicht beurteilt werden, aufgrund der von ihm gesetzten Maßstäbe, d. h. unabhängig von der Wertung dieser Regelungen aus materieller oder aus prozeduraler Sicht (Angemessenheit bzw. demokratische Setzung der geltenden Rechtsnormen). Durch die beabsichtigte Subjektivität erweisen sich die meisten Strömungen der Rechtsauslegung als im Ergebnis nihilistisch (selbst wenn sie ihren Nihilismus nicht offenlegen, wie ζ. B. diejenigen Auffassungen, die von einer dezisionistischen Annahme ausgehend die Möglichkeit/Zweckmäßigkeit einer Auslegung in Frage stellen80 oder die Bindung an das Gesetz der Mehrheit anzweifeln/verweigern unter Berufung auf die flexible Regulierung in einer marktförmigen Great Society)81: Denn sie sprechen über die Rechtsnormen, als wären sie etwas Anderes, sei es die Moral, die Vernunft, das Naturrecht, oder die Anpassung an die Wirklichkeit; sie befolgen somit, was wir mißbräuchliche Zwecke der Rechtsauslegung nennen können, die ihren parteiischen Charakter durch die Gleichsetzung zwischen Rechtsauslegung und -Schöpfung verteidigen, was sich unter die Forderung nach einer Soziologisierung des Rechts subsumieren laßt82. Eine Auslegung, die den Norminhalt zu ermitteln versucht, muß dagegen von der Konvention der Wahrheit der Rechtsnormen ausgehen. Die philosophische Frage der Existenz eines Wahrheitskriteriums oder einer Wahrheitsdefinition mag sich in einem ständigen Schwanken zwischen der (relativistischen) Konsenstheorie, der (absoluten) Korrespondenztheorie und der (selbstreferentiellen) nominalistischen These befinden 83. Im Fall der Auslegung eines Textes ist es aber relativ einfach festzustellen, was er besagt, sofern wir ihn als per definitionem "wahr" erkennen, i. S. der Existenz einer Garantie der Wahrheit (eines "absoluten" - vorausgesetzten - Bezugs) mit der gleichzeitigen Solche Auffassungen vertritt heute die Schule der "analyse stratégique des institutions", die ältere dezisionistische, freirechtliche und rechtsrealistische Ansätze radikalisert; dazu unten B, Anm. 276. 81 Dies ist die Position radikaler neoliberalistischer Strömungen; vgl. unten B, Anm. 103. 82 Zur kritischen Darstellung dieser Tendenzen s. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie, S. 8 ff. und passim. 83 Vgl. die Übersicht der Diskussion bei Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 80 ff., 134 ff.; Skirbekk passim; Balibar, Lieux et noms de la vérité, S. 55 ff.

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Einsicht, daß es sich dabei um eine Fiktion handelt. Wenn nämlich die Beurteilung eines politisch kontroversen Problems sich i. d. R. als schwierig und ungewiß erweist - u. a. wegen der viel besprochenen Komplexität der heutigen Gesellschaften -, ist es dagegen relativ einfach festzustellen, was das Recht in seinen Rechtsnormen darüber sagt; eine Behauptung über Normeninhalte erlaubt somit eine Wahrheitsqualifikation i. S. der Korrespondenztheorie hinsichtlich der Übereinstimmung dieser Behauptung mit den Rechtsnormen, auf die sie sich beruft (Übereinstimmung der Behauptung "x ist verboten" mit dem factum juris, daß Paragraph W die Handlung χ unterbindet); Voraussetzung ist also, daß von den Wahrheitskriterien die Frage ausgeklammert wird, inwieweit diese Normen an sich oder unter Berufung auf außerrechtliche Beurteilungen richtig sind bzw. in der Praxis texttreu angewandt werden.

Die grundlegende Konvention der Rechtsauslegung beruht auf der Akzeptanz der Verbindlichkeit der Rechtsnormen, d. h. ihrer Fähigkeit zu gelten un das gesellschaftliche Zusammenleben aufgrund ihrer klaren Definitionen zu regeln. Sie postuliert die Wahrheit, Selbständigkeit und Transparenz des Systems der Rechtsnormen. Der Gesetzgebungsvorgang ist eine Tätigkeit, die die Eindeutigkeit des Willens des Gesetzgebers voraussetzt und die zwangsweise Durchsetzung/Anwendung des geltenden Rechts erfordert durch Apparate, die über das Monopol der legitimen Gewalt verfügen; eine Infragestellung kann nur von "außen", also nach Verlassen des Bereichs der Auslegung erfolgen. Das Befassen mit der Rechtsauslegung macht es erforderlich, die Interessen, die mit dem Sich-Durchsetzen eines Interpretationsansatzes zusammenhängen, zu "vergessen". Der Interpret sollte die - der Wahrheitskonvention immanente - Position des unvoreingenommenen Beobachters einnehmen und feststellen, welche Rechte und Verpflichtungen den Staatsorganen und den Bürgern zukommen, indem er bei der Rechtsauslegung die "Währung" benutzt, die im Bereich des Rechts gilt 84 . Von innen betrachtet ist das Recht immer "die Wahrheit und das Leben"; es ist eine geschlossene, "dogmatische" Welt.

b) Die Ebenen der Rechtsauslegung Im Rahmen eines objektiven Auslegungsvorgangs ist es notwendig, die drei möglichen Ebenen der Auslegungspraxis zu unterscheiden, wo verschiedene Erkenntnisinteressen befolgt und diverse methodische Mittel angewandt werden. 84 "Erinnern wir uns der Worte Freuds: Man hat die Verpflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem Lande, das man durchforscht, eben die herrschende ist', und keiner anderen" (Althusser , Ideologie, S. 107).

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aa) Die Rekonstruktionsebene Auf der ersten Ebene erfolgt die Feststellung der vertretenen Auslegungen und vor allem der "herrschenden" Meinung, sowohl derjenigen die im Schrifttum quantitativ und durch Autoritätskriterien überwiegt ("h. M.") 8 5 , als auch derjenigen, die vom "in letzter Instanz" zuständigen Organ übernommen wird. Letztere Auslegung ist von großer Bedeutung, denn sie bildet die jeweils "authentische" Interpretation, während die Feststellung der h. M. über die Rechtsanwendungswirklichkeit informiert und erlaubt, die Chancen der Durchsetzung einer Behauptung im Rahmen der institutionellen Rechtsanwendung zu beurteilen.

Die Bemerkung, daß hinsichtlich der Rechtsanwendung "lediglich zuständige Organe und entsprechende Verfahren existieren"86, daß also "die rechtliche Kraft der Dezision etwas anderes (ist) als das Resultat der Begründung"87 ist zutreffend (und selbstverständlich), bedeutet aber bei weitem nicht, daß die auf diese Weise durchgesetzte Auslegung durch ihre institutionelle Kraft den Sinn der Rechtsnormen zum Ausdruck bringt, so daß eine Auslegung seitens der Juristen sich auf die Beschreibung der Kompetenznormen und die Katalogisierung der in der Praxis geltenden Auslegungen beschränken müßte. Die Rechtsnormen sind ontologisch vor dem zuständigen Organ vorhanden und transzendieren es sowohl zeitlich als auch axiologisch, denn sie sind verbindlich, selbst wenn ihre Einhaltung nicht zwangsweise durchgesetzt werden kann. Auf dieser Stufe der Auslegung wird also - außer der Information - die Rekonstruktion der im Schrifttum vorgetragenen Argumente und die Überprüfung ihrer Stichhaltigkeit bezweckt.

bb) Die Ebene der systematischen Auslegung Die zweite Ebene des Interpretationsvorgangs ist die logisch-systematische Auslegung der geltenden Bestimmungen als eines Ganzen voneinander abhängiger Elemente. Die Beziehungen unter den Rechtsnormen resultieren aus den tradierten Auslegungsregeln88 und den jeweiligen Wertungen einer Rechtsordnung über die Beziehungen ihrer Bestimmungen untereinander 85

Zur Funktion dieses Arguments s. Wesel, "hM", S. 88 ff. Wenizelos, "Die Verfassungsauslegung", S. 1533. 87 C. Schmitt, Politische Theologie, S. 42. 88 Dazu s. statt vieler Luchaire, S. 296 ff ; Stein, Rnr. 53 ff ; Summers, S. 73 f.; Brugger, S. 21 ff; vgl. die logische Rekonstruktion der canones der Auslegung bei Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 288 ff 86

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(Hierarchie, Beziehung allgemein/speziell, Regel/Ausnahme usw.). Die logisch-systematische Auslegung versucht, den Wortsinn einer Norm zu ermitteln und ihn mit dem Sinnzusammenhang aller ein konkretes Problem betreffenden Normen zu kombinieren, also die Bedeutung einer Rechtsnorm durch Bezugnahme auf ihr normatives Umfeld innerhalb des Normensystems zu konkretisieren. Diese "formale Methode der Gesetzesinterpretation"89 entspricht dem Charakter der Verfassung als kohärenten Textes und zielt darauf ab, ihm die größtmögliche normative Kraft zu verleihen: "Rechtliche Argumente sind solche, welche den Bedeutungsinhalt einer Norm aus sich selbst oder aus anderen erschließen' 00, also solche, die das Rechtssystem ausschließlich von "innen" auslegen, einem kognitiven Ansatz folgend. Bei jeder Darstellung von Auslegungsregeln läßt sich auf die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Bedeutung, ihre Widersprüche, die Unmöglichkeit einer Hierarchisierung und selbst ihr "Versagen" hinweisen, da sie tatsächlich keine absolute Garantie hinsichtlich der Ergebnisse der Auslegung bieten, was oft zu ihrer Ablehnung führt 91 . Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß diese Auslegungsregeln meistens doch zu angemessenen Ergebnissen führen, wobei die - in den logischen Schemata der Rechtstheorie oft vernachlässigte - Erfahrung zeigt, daß die Meinungsverschiedenheiten eher die Zweckmäßigkeit der Übernahme einer bestimmten Interpretation denn die Schwierigkeit, mit den traditionellen canones die korrekte Interpretation zu finden, betreffen. Diese Regeln dienen als Hilfsmittel für die Auslegungspraxis und nicht als "System", wie es bei ihrer Behandlung in der Methodendiskussion der Fall ist. Wir möchten behaupten, daß die Subjektivitätshindernisse in der Verständigung der Interpreten im Dialog über konkrete Auslegungsfragen überwunden werden können - wenn auch nicht restlos -, sofern zugleich auch zwei "Resistenzen" überwunden werden, die heute ihre hemmende Wirkung entfalten. Erstens gilt es, die "wissenschaftliche" Resistenz zu überwinden, indem der Anspruch einer wissenschaftlichen Garantie der juristischen Techniken aufgegeben wird, welche an sich ungeeignet sind für die Interpretation der politischen Praxis und die Konstituierung einer Staatstheorie. In der Tat hat die Feststellung vieler Juristen, daß das Recht der "Wahrheit", Lückenlosigkeit und wirklichkeitsgestaltenden Wirksamkeit weitgehend entbehrt, zu psycho-

89

Summers, S. 73. Gusy, S. 515. 91 So ζ. B. Hesse, Grundzüge, Rnr. 55 ff.; vgl. die Literaturhinw. bei Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 303 ff.; zur Leistungsfähigkeit der traditionellen Auslegungsmethoden s. neuerdings Brugger, S. 21 ff., bes. 30 ff. 90

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logisch bedingten Reaktionen einer umfassenden In-Frage-Stellung mativen Inhalts und seiner Geltung geführt.

des nor-

Eine Form der Reaktion auf diese "Entzauberung" bilden m. E. die technischen Einwände seitens derjenigen, die mit Hilfe der Semantik die Vagheit der Sprache des Rechts und die unklare Bedeutung gesetzlicher Begriffe feststellen, um daraus die fehlende Gesetzesbindung zu schließen92; dabei ist die Feststellung der großen semantischen Spielräume keine Entdeckung der Methodenlehre bei der Lektüre der Gesetzestexte, sondern vielmehr eine Gegebenheit der menschlichen Sprache, deren Unvollkommenheit hinsichtlich der Fähigkeit, alles "restlos" präzise auszudrücken, nur von denjenigen thematisiert wird, die absolute Eindeutigkeitsanforderungen stellen. Schwierigkeiten, die durch die Mehrdeutigkeit des Sprachgebrauchs des Gesetzgebers bedingt sind, wird es bei der Interpretation immer geben. Wenn man aber vom Ziel einer objektiven Auslegung, wie es bereits definiert wurde, ausgeht, läßt sich das Interpretationsproblem zufriedenstellend lösen - die Sprache ist das beste "Instrument" menschlicher Kommunikation, und schließlich wird auch die Vagheitsthese in derselben Sprache formuliert! - im Rahmen der Verfassungsauslegung aufgrund der Formulierung der Texte93. Die "Verarbeitung" der Verfassungstexte im Lauf der Zeit, die größtenteils stets dieselben Formulierungen aufgreifen und mittels ihrer unzähligen Anwendungsakte in hohem Maße technische Präzision und inhaltliche Bestimmtheit erhalten (geschichtliche Festigung der Interpretation, Feststellung der Funktionsvoraussetzungen und -grenzen der Verfassungsnormen), bewirkt ein "Glätten" der Begriffe. Die Klarheit der Auslegung wird auch durch die Diskursstrategie der Verfassunggeber ermöglicht: schlichte und formalisierte Aussagen in einem kurzen Text. Zweitens handelt es sich um die "politische" Resistenz, d. h. das Bestreben des Interpreten, seine politischen Ansichten durch die Auslegung durchzusetzen. Der Interpret möchte mit der Interpretation, die er vorschlägt, einverstanden sein; er schlägt also das vor, was er für richtig hält, indem er in die Auslegung seine politischen "Vorverständnisse" einbezieht. Diese Tendenz kommt in der Geschichte der juristischen Auslegung durch zwei grundlegende Strategien zum Ausdruck. Es handelt sich einerseits um die Strategie der juristischen Richtigkeit, der "eigenen richtigen Lösung". Hierzu gehören die verschiedenen gesetzesmora92 S. ζ. B. Koch, "Einleitung", S. 29 ff.; vgl. die Beiträge in: ders. (Hrsg.), Juristische Methodenlehre, sowie die Ubersicht bei U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 45 ff 93 Vgl. Krölls, S. 45.

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listischen Tendenzen, die durch Erweiterung des Rechtsbegriffs die von ihnen vorgezogene Auslegung als die einzig richtige darstellen, unter Berufung auf höhere Werte. Dazu gehört auch ein großer Teil der Rechtspositivisten, die unter dem Vorwand einer textgetreuen Auslegung die Rechtsnormen mit der Absicht einer "Ableitung" der vorentschiedenen Deutung interpretierten; es handelt sich um eine "rechtsschöpferische" Absicht, die selbst bei der - ihrem Selbstverständnis und der allgemeinen Auffassung nach - extrem positivistischen Ecole de l'exégèse in Frankreich anzutreffen war 94 und bis heute bei vielen, die für sich den Titel des Rechtspositivisten95 beanspruchen, vorhanden ist. In diesem Zusammenhang versucht der Rechtspositivismus, axiologisch-moralische Elemente in die juristische Interpretation einzuführen, er sieht seine gesellschaftliche Rolle in der jeweiligen Staatspolitik integriert und vertritt Auffassungen über die Wissenschaftlichkeit der Rechtsauslegung, eine panjuristische Vorstellung der Gesellschaft implizierend 96. Der Rechtspositivismus ist jedoch - trotz der von seinen Vertretern oft beabsichtigten materiellen Rechtfertigung einer Auslegung - überzeugend, wenn er betont, daß eine Auslegung als Beschreibung einer geltenden Rechtsnorm keinen logischen Zusammenhang damit hat, ob der Interpret in seiner Eigenschaft als Bürger anderer Meinung ist bzw. sich sogar weigern kann, am institutionellen "Spiel" der Rechtsauslegung teilzunehmen, wenn er das geltende Recht als antidemokratisch oder "ungerecht" bewertet - und darin besteht seine persönliche Verantwortung, da der Rechtspositivismus nicht mit der axiologischen Akzeptanz der geltenden Regelungen zusammenhängt und der Gehorsam gegenüber dem Gesetz ein moralisches Problem (oder realistischer gesehen, eine Frage des mittelbar und unmittelbar in einer Gesellschaft geübten Zwanges) bildet97.

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Dazu s. die einleuchtende Analyse von Rémy , S. 254 ff. Ein Beispiel der Darstellung der zu gegebenem Zeitpunkt herrschenden Auslegung als der einzig richtigen, obwohl sich dies nicht aus der Formulierung der Verfassung ergibt, bietet bei der Auslegung der Verfassungsgesetze der DI. Republik in Frankreich Carré de Malberg, Bd. I, Anm. 9 auf S. 714 f. Zur Kritik an den Inkonsequenzen des von Forsthoff vertetenen "Neopositivismus", der sich im Kampf gegen die Versuche, der Verfassung "materielle Gehalte" zu verleihen, gegen die sozialstaatliche Zielbestimmung des GG wendete, also als Positivismus eine politisch gesteuerte Auslegung vorgetragen hat und sich in mehreren Punkten vom Boden des positiven Rechts entfernte, s. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie, S. 71 ff 96 Diese Merkmale sind anzutreffen auch bei den neueren Studien von Gusy, S. 505 ff und Summers, S. 66 ff. 97 Dazu s. statt vieler Manessis, Die Garantien, Bd. I, S. 232 ff; Bobbio, S. 63 ff; Kelsen, "Was ist juristischer Positivismus?", S. 468; Baratta, Philosophie, S. 233; Hoerster, "Zur Verteidigung", S. 2481 f.; ders., "Die rechtsphilosophische Lehre", S. 185 ff 95

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Andererseits wird die Strategie der "politischen Ehrlichkeit" angewandt, wenn der Interpret der Auffassung ist, daß bei den jeweils vorgetragenen Auslegungen keine Hierarchisierung hinsichtlich ihrer juristischen Richtigkeit möglich sei. Gemäß dieser Strategie ließen sich die Auslegungen lediglich nach ihrer politischen Angemessenheit bewerten, und aus diesem Grund sollte jeder Interpret seine politische i. w. S. Orientierung bei der Auslegungstätigkeit offenlegen. Es handelt sich um die Übernahme einer konsensualen Auffassung, die entweder den "Anarchismus" der wissenschaftlichen Forschung vorbringt oder auf die Bindungen der "normalen Wissenschaft" im Rahmen eines Paradigmas hinweist. Dieser Ansatz erschöpft sich in der Betrachtung des Verhaltens der gesellschaftlichen Gruppe der Wissenschaftler, d. h. in einer Art Gesellschaftspsychologie, wo der Konsens der wissenschaftlichen Gemeinschaft oder die herrschenden Auffassungen von Bedeutung sind98. Starke Bedenken erzeugt seine Gründung auf einen extremen Subjektivismus (jeder Interpret "sieht" in der Welt, was er will), der keinen Platz hat in Erkenntnisvorgängen, ob es sich nun um Wissenschaften oder um autoritative Strukturen wie das Recht handelt. Ferner gehen diese Betrachtungsweisen von einer additiven Vorstellung der sog. Forschergemeinschaft aus (ihre Mitglieder haben nicht die Möglichkeit, die Richtigkeit einer Behauptung oder Theorie zu überprüfen) 99 - eine "egalitäre" Position, die in völligen Konformismus gegenüber den jeweils herrschenden Wissensnormen und sogar in eine irrationalistische Haltung mündet, da sie stillschweigend in eine platonische Metaphysik zurückfallt (damit alle Auffassungen als gleichwertig erscheinen, muß man Widerlegt wird dadurch die geläufige Position (zu Hinw. s. Maus, Bürgerliche Rechtstheorie, S. 37, Anm. 74; /. Müller, S. 324), wonach der Rechtspositivismus durch seinen "formalen" Gesetzesbegriff beliebige Norminhalte akzeptiere und somit fur die Anerkennung autoritärer Rechtsordnungen eine gewisse Verantwortung trage. Dagegen ist nämlich zweierlei einzuwenden: Einerseits stützen sich autoritäre Regime auf die Verwerfung der positivistischen Auslegung und der Rechtssicherheit in ihrer irrationalen, situationsbedingten und durch angebliche "Werte" legitimierten Rechtsauffassung und -praxis; sie beanspruchen also eine "Ethisierung" des Rechts durch die "Abkehr vom Gesetzesdenken" - wobei der "Führerbefehl" und die durch Machtapparate vertretenen "Grundanschauungen des Volkes" maßgeblich sind (s. am Beispiel des nationalsozialistischen Strafrechts und der "neuen Rechtswissenschaft" Baratta, Positivismo, passim; ders., Philosophie, S. 230 ff., 242 ff; vgl. allgemeiner Kirchheimer, S. 315 ff; Maus, Bürgerliche Rechtstheorie, S. 37 ff, 145 ff; /. Müller, S. 319 ff; D. Grimm, Recht und Staat, S. 376 ff ; Walther, S. 264 ff ; Manessis, Verfassungsrecht, S. 43 f.; Anthopoulos, Das Problem, S. 186 f.; eine überzeugende Dekonstruktion der gegen Positi visten gerichteten Wehrlosigkeitsthese hat Füßer, S. 301 ff unternommen). Andererseits ist die Kritik an einem "ungerechten" Regime nicht effizient, wenn der Regelungsinhalt seines Rechts ignoriert wird, während die Korrektur einer "ungerechten" Rechtsordnung nicht mit Mitteln der Auslegung erfolgen kann, wie ein geschichtlicher Überblick unmißverständlich zeigt (vgl. Cesarini Sforza, S. 323 f.; Hoerster, "Zur Verteidigung", S. 2481 f.; s. auch unten D, Anm. 210). 98 99

Vgl. die Kritik von Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte, S. 49 ff Kritisch dazu Balibar, "Le concept", S. 58 ff ; Lecourt, Bachelard, S. 155 ff

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sich in einen äußeren Beurteilungsstandpunkt versetzen, was nur ein extremer Idealismus für möglich hält) 100 . Dieser Interpretationsansatz reicht von einer romantischen Tendenz der "persönlichen" Auslegung der Legalität - die wir als Verfassungsanarchismus bezeichnen könnten101 - bis zur konsensualen Position (Akzeptanz jeder Auslegung unter der einzigen Voraussetzung, daß sie Befürworter in der "Gesellschaft der Interpreten" findet, denn die Kriterien der Verfassungsinterpretation seien "so offen, wie die Gesellschaft pluralistisch ist" und maßgebend sei der Konsens102) und versucht, der gewählten politischen Option mittels ihrer Durchsetzung als herrschender Meinung normative Geltung zu verschaffen. Abgesehen davon, daß es sich im Verfassungsrecht mehrmals erwiesen hat, daß die institutionell herrschende Interpretation die meisten und überzeugtesten Befürworter unter den Interpreten findet, bietet diese Auffassung der jeweils "herrschenden" Meinung Deckung, da sie per definitionem das Bestehende akzeptiert 103, indem sie die Realität als Maßstab für das Recht setzt. Es wird somit eine Umkehrung der für die Ordnung des Rechts eigentümlichen Beziehung zwischen Sein und Sollen beabsichtigt, d. h. es handelt sich um einen "radikal normauflösenden" 104 Auslegungsansatz105, um einen im Ergebnis dezisionistischen Ansatz. Ähnliches kann behauptet werden von den verschiedenen evolutionistischen Ansätzen der Auslegung aufgrund der historischen "Notwendigkeit" der konkreten Situation, die in einen Politizismus, d. h. in die Anpassung des Rechts an die Wirklichkeit nach dem Maßstab der Wirklichkeit selbst, mündet106. Wenn aber die Verfassung nicht zeitgemäß ist, ist die geeignete Weise ihrer Aktualisierung die Verfassungsänderung und nicht ihre Erhaltung um jeden 100

Vgl. dazu Tsinorema, S. 206 ff. Diese Bezeichnung benutzt in seiner Kritik an einem "spontaneistischen" Verständnis der Rechtsauslegung Wassilogianis, "Verfassungsmäßigkeit", S. 42 f. 102 Häberle, S. 297. 103 Vgl. die Kritik von Schlothauer, S. 165 ff. 104 Böckenförde, Staat, S. 69, 73 f. 105 Das einzige Verdienst dieser Auffassungen ist, daß sie die gängige Auslegungspraxis treffend beschreiben und eine entmythologisierende Funktion haben, indem sie die Interpreten dazu auffordern, die politischen Absichten ihrer Auslegungsvorschläge "zuzugeben". Sie können aber nicht akzeptiert werden, wenn sie den Anspruch erheben, daß die von ihnen beschriebene Abweichung als Methode übernommen wird. Wenn die Verfassungsauslegung ohnehin politischen Zweckmäßigkeiten unterliegt, wird das Problem verschärft, sobald die politisch voreingenommene Auslegung auch noch mit "reinem Gewissen" erfolgt, indem die Parteilichkeit eine theoretische Rükkendeckung erhält. 106 Dazu s. unten B, Anm. 25 sowie E, Anm. 184. 101

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Preis als uminterpretierbaren "heiligen" Textes - was einen stärkeren Formalismus als der den Positivisten vorgeworfene bedeutet! Während in all diesen Fällen die interpretatorische Behandlung der (Verfassungs-)Rechtsnormen sich auf externe Kriterien und Zielsetzungen stützt, erfordert die Verfassung eine distanzierte Auslegung, die die normativen eigentlich meta-interpretatorischen - Absichten des Interpreten nicht inkorporiert. Die distanzierte Auslegung beruht auf den "klassischen" Interpretationsregeln und akzeptiert die Behauptungen über Norminhalte, die aus dem Interpretationsvorgang hervorgehen und als die glaubwürdigsten erscheinen. Diese Interpretationsrichtung läßt sich auch technisch realisieren, da die Verfassung ein Gesetz ist und durch Juristen ausgeführt wird, da also zunächst die Voraussetzungen für eine Gleichsetzung der verfassungsrechtlichen mit der traditionellen juristischen Interpretationsmethode vorliegen 107, welche auf die Feststellung der objektiven Bedeutung eines Textes abzielt. Aus dieser systematisch-logischen Untersuchung resultiert die richtige Auslegung bzw. lassen sich mehrere genauso richtige Optionen ableiten. Die Existenz mehrerer gleichwertiger Optionen bedeutet, daß der Verfassunggeber die Entscheidung über bestimmte Fragen "aufgeschoben" hat, was den zuständigen Organen erlaubt, nach politischen Kriterien zu entscheiden. Eine derartige Auslegung bringt die Distanz der subjektiven Beurteilung zum Diskurs über die Norminhalte dadurch zum Ausdruck, daß sie immer in indirekter Rede erfolgt. Nur durch eine solche Distanz ist es im Ergebnis möglich, die Nähe zum auslegungsbedürftigen Text, d. h. die methodische Stringenz, zu erlangen. "Der Geltungsanspruch einer Verfassungsnorm ist mit den Bedingungen seiner Realisierung nicht identisch (...). Deshalb ist die rechtliche Verfassung nicht nur Ausdruck eines Seins, sondern auch eines Sollens" 108 . Als Grundlage dient die Position, daß das Recht zwar wirklichkeitsbedingt ist, dies aber keinen Rekurs der Auslegung auf empirische Befunde, i. S. einer Anpassung der Norm an die von ihm eventuell abweichende (Verfassungs-)Wirklichkeit, erlaubt 109: Die weitgehende Entsprechung zwischen Normativität und Wirklichkeit, also die eigentliche normative Kraft des Faktischen110, ist, was den Zeitpunkt der Entstehung der Norm betrifft, etwas für 107

Statt aller Forsthoff, Rechtsstaat, S. 131 ff.; kritisch zu dessen Annahmen u. a. Böckenförde, Staat, S. 57 ff 108 Hesse, Die normative Kraft, S. 8. 109 Vgl. Krölls, S. 50 f. 110 Diese Betrachtung setzt ein pragmatisches Verständnis des Rechts voraus, als Resultat einer politischen Entscheidung, die durch die Drohung der Gewaltausübung ständig "bekräftigt" wird und somit das "Recht des Stärkeren" durchsetzt; zu diesem Verständnis s. Spinoza, S. 238 f.: "ego naturale Jus semper sartum tectum conservo, quodque Supremo Magistratui in qualibet Urbe non plus in subditos juris, quam juxta mensuram potestatis, qua subditum superat, competere statuo, quod in statu Naturali

48

Α. Einleitung

die Auslegung Irrelevantes; die ebenso unleugbare normative Kraft des Faktischen bei der Rechtsanwendung ist ihrerseits eine Gegebenheit, die der Jurist aufgrund des Sinns der Rechtsnormen als rechtsmäßig oder rechtswidrig beurteilen kann. Wenn die Absicht besteht, herauszufinden, was der Gesetzgeber "sagt" und "will", wird erstens eine Übereinstimmung mittels des Dialogs eher möglich, wobei das Ziel begrenzt und klar ist - im Gegensatz zu einer uferlosen moralpolitischen Diskussion über große und kleine Gesellschaftsfragen; zweitens ermöglicht diese Zielsetzung die Verminderung der "Leidenschaft", d. h. die Objektivität, die die rechtliche Festlegung einer sich wandelnden Wirklichkeit erlaubt. Nehmen wir ζ. B. die Frage, ob der Gnadenkompetenz Grenzen durch den Gleichheitssatz gesetzt sind, die zu einer umfassenden Kontroverse geführt hat: Die einzige Möglichkeit, um zur Übereinstimmung zu gelangen, besteht im Ausschalten jeglicher subjektiven Beurteilung, was zu geschehen habe, sowie im Vermeiden einer Berufung auf abstrakte Prinzipien des Rechtsstaats, die keine zufriedenstellende Antwort auf konkrete Probleme erlauben. Beim Versuch der logisch-systematischen Verfassungsauslegung befindet sich der Interpret sicherlich nicht an einem archimedischen, über der geschichtlichen Realität liegenden Punkt 111 . Er hat vielmehr die Gesamtheit der politischen Gegebenheiten des historischen Moments, aber auch die historische Vergangenheit zu berücksichtigen, welche der Verfassung einen Sinn als politischem (Gesetzes-)Text vermitteln 112. Hier existiert eine objektive Erkenntnisvoraussetzung, die den Rechtsnormen konkreten Sinn und Funktionalität verleiht. Eine notwendige Voraussetzung, um die Interpretationsprobleme bestimmter Verfassungsbestimmungen zu lösen, ist das Verständnis der politischen Natur der Verfassungsinterpretation sowie der Gründe, der gesellschaftlichen Funktion und der Möglichkeiten alternativer Auslegungen dieser Bestimmungen. Wenn sich somit ζ. B. semper locum habet." Die Idee, das Recht sei Ausdruck der jeweils bestehenden Machtverhältnisse, was wir als "ius vel potentia"-Paradigma bezeichnen können, ist vor allem mit F. Lassalle verbunden, der dies als Voraussetzung betrachtete, damit das Recht nicht ein bloßes "Blatt Papier" ist (Lassalle, S. 124 ff.); zu den Formulierungen dieser Idee im 19. Jh. s. D. Grimm, Die Zukunft, S. 140 f.; adde: Marx, [Verteidigungsrede], S. 245; dens., Einleitung, S. 619 f.; vgl. aus der Literatur der letzten Jahrzehnte Hesse, Die normative Kraft, S. 3 ff; Poulantzas, L'Etat, S. 87 ff; Manessis, Verfassungsrecht, S. 60 ff, 164 ff; zu den Beziehungen zwischen Recht und Gewalt und den Versuchen, die Gewaltdimension im rechtlich-institutionellen Bereich zu verleugnen bzw. zu eliminieren s. die weiterführenden Überlegungen von Meßner, S. 252 ff 111 Hesse, Grundzüge, Rnr. 62. 112 Statt vieler Forsthoff, Rechtsstaat, S. 171 ff

Π. Methodische Fragen

49

die Frage stellt, ob die Allgemeinheit ein Merkmal des formellen Gesetzes sein muß, kann die Antwort nicht eine rein "juristische" sein, da der Ursprung des Problems einer politischen Forderung entspricht (der "Neutralität" des Gesetzes, welche die Erhaltung der bestehenden "Vermögensverteilung" und der von staatlichen Eingriffen grundsätzlich "freien" Konkurrenz garantiert) 113. Wenn diese Frage "juristisch" gestellt wird, dann hat der Interpret entweder das Problem nicht verstanden, oder er versucht, eine politische Aussage mit "technischen" Argumenten zu verhüllen. Durch die Kenntnis der politischen Hintergründe kann dagegen die konkrete Entscheidung eines Verfassunggebers in ihren gesellschaftspolitischen Rahmen eingeordnet werden, der Interpret versteht den Text, der den politischen Prozeß regelt, und kann die Folgen seiner vorgeschlagenen Interpretation voraussehen. In der hohen politischen Verdichtung liegt der einzige - quantitative - Unterschied der Verfassungsauslegung zu der Auslegung der übrigen Rechtsnormen. Trotzdem kann die Erkenntnis der politischen Natur des Rechts keineswegs seine Lenkung von der Politik, d. h. von fließenden gesellschaftlichen Forderungen, erlauben, was seinen formalen Charakter in Frage stellen würde 114. Die distanzierte Auslegung ermöglicht das Verständnis der - selbstgesetzten - Grenzen einer Verfassung. Die Starrheit der Verfassung liegt darin, daß sie "keine 'politische Vereinbarung1 ist - selbst wenn sie als solche erscheint -, sondern eine politische Entscheidung des souveränen Willens; dieser, nämlich die verfassunggebende Gewalt, überwiegt und setzt sich durch" 115 . Unseren Interpretationsansatz können wir rechtlich-politischen Pragmatismus nennen, im Sinn einer Methode, die sich gegenüber den Fiktionen des Rechtssystems kritisch verhält, ohne diese Haltung zugunsten eines idealistischen Korrekturversuchs von innen aufzugeben oder sich mit den Tautologien eines "Rechtsrealismus" zufrieden zu geben; es handelt sich also um den Standpunkt eines distanzierten Rechtspositivismus, der das Rechtssystem so, wie es ist, ansieht116, denn: er akzeptiert erstens den "positivistischen" Charakter der Auslegungskonvention des Rechts als eines aus der inneren Perspektive geschlossenen und "allmächtigen" normativen Ganzen; zweitens erkennt er die komparativen Vorteile dieser Konvention an (Rechtssicherheit, Maximierung der Garantiefunktion des Rechts), d. h. er versteht den juristi113 Zu diesem Fragenkomplex s. etwa F. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, S. 58 ff. 114 Dies belegen die Vertreter des "juristischen Formalismus"; s. aus der neueren Literatur Weinrib, S. 950 ff ; Schauer, S. 509 ff. 115 Manessis, Verfassungsrecht, S. 169. 116 Zu einem ähnlichen Verständnis der Aufgaben der Rechtsauslegung vgl. Manessis, Die Garantien, Bd. I, S. 217 ff ; Baratta, Philosophie, S. 246 ff ; Krölls, S. 41 ff ; vgl. die in Anm. 114 angeführten Arbeiten im Rahmen des "legal formalism".

4 Dimoulis

50

Α. Einleitung

sehen "Garantismus" als einen statischen Garantismus, der Klarheit über Geltungsfragen schafft - im Gegensatz zu einer Forderung der Veränderung durch eine alternativ-evolutionistische Auslegung, die die Rechtsnormen "auszunutzen" versucht mit fragwürdigen methodischen Voraussetzungen und politischen Ergebnissen117; drittens impliziert er, daß das Recht keine Begrenzung der Politik in der geschichtlichen Entwicklung setzen kann, obwohl es dies durch "Verbote der Politisierung" 118 versucht. Eine weitere - ebenso pragmatische - Voraussetzung für die glaubwürdige Auslegung besteht darin, den Wunsch aufzugeben, daß der Interpret zum Gesetzgeber wird - ein Wunsch, der in den weitgehend komplementären Ansätzen der Materialisierung und der Prozeduralisierung der Auslegung zum Ausdruck kommt, die die Interpretation als einen offenen Findungsprozeß verstehen. Der Interpret muß dagegen die Rechtsnormen als System auffassen, das der Tätigkeit der Staatsorgane klare Grenzen setzt, während die Ausgewogenheit und die Situtationsangemessenheit der Handlungen ihrer wechselseitigen Kontrolle überlassen bleiben. Wir werden bei der Untersuchung der Grenzen der Gnadenkompetenz feststellen, daß die Rechtsauslegung dazu tendiert, diesen Bereich mit schwachen Argumenten einzuschränken, indem sie bestimmte Gnadengründe angibt oder die begrenzte Ausübung der Kompetenz fordert; dies führt dazu, daß die Interpretation fließend wird und nicht einmal die eindeutigen rechtlichen Grenzen einhält, d. h. sie erlaubt den zuständigen Organen tendenziell alles. Durch eine "Selbstbeschränkung" - die sich auch hier daran orientiert, daß das Recht nicht zur Politik oder zur Instanz der Erteilung moralischer Gebote wird - zeigt der Interpret das, was aus den geltenden Bestimmungen resultiert, indem er den verbleibenden Raum den politischen i. w. S. Auseinandersetzungen, d. h. der Beurteilung der zuständigen Organe und - in Grundrechtsfragen - der Selbstbestimmung der Bürger überläßt; es handelt sich um die Einsicht, 117 Zum Ansatz dieser sich als fortschrittlich verstehenden "alternativen" Rechtsinterpretation s. aus der deutschen Literatur Abendroth, Antagonistische Gesellschaft, S. 109 ff.; in diesem Sinne wurde neuerdings geschrieben: "Da diese Konsequenzen vom Gesetzgeber nicht gezogen worden sind, muß versucht werden, die vorhandenen Nonnen durch Kommentierung soweit wie möglich in einer dem Stand des internationalen Wissens entsprechenden Weise auszulegen" (Feest, in: StVollzG-AK, vor § 2, Rnr. 21). Wenn aber die Wissenschaft zum Kriterium der Auslegung gemacht wird, dami kömien andere Juristen (sich auf andere Wissensquellen, Werte oder "geschichtliche Notwendigkeiten" berufend) das Recht auch anders auslegen, d. h. die Auslegung könnte durch Rechtskritik ersetzt und als Rahmen für Beliebiges benutzt werden. Daß der Soziologismus bei der Rechtsauslegung zu "einer permanenten Revolution des Rechts gegen gesellschaftliche Evolution" führen kann, und daß dies meistens seine politische Funktion war, zeigt Maus, Bürgerliche Rechtstheorie, passim (das Zitat von S. 167). 118 Vgl. unten S. 455 ff.

Π. Methodische Fragen

51

wo die Rechtsauslegung zu halten hat. Somit ergibt sich, daß die Auslegung sehr wenig aussagen kann, was freilich schwer zu lösende Probleme verursacht, wobei an vielen Stellen die Notwendigkeit von Richtlinien hinsichtlich der Ausübung einer Kompetenz nicht zu leugnen ist - wie u. a. die sehr weiten Grenzen der Gnadenkompetenz deutlich machen119. Notwendig ist dabei aber die Erläuterung der Ableitungsweise und des Verbindlichkeitsgrades jeder Auslegung, wobei vor allem zwischen Verbindlichem und Zweckmäßigem unterschieden werden sollte.

cc) Die Ebene der Kritik Die Grenzen und der weitgehend formale Charakter der Rechtsauslegung können nicht "gesprengt" werden durch eine Flucht nach hinten (moralisierende Ansätze) oder nach vorn (Varianten des interpretatorischen Pluralismus). Eine Überwindung kann nur durch die Analyse des Rechtssystems und der Interpretationspraxis auf metajuristischer Ebene erfolgen. Daß wir aber zuerst ermitteln, was das Recht befiehlt, entspricht nicht nur praktischen Notwendigkeiten, sondern ist auch Voraussetzung jeder Kritik. Aus dieser Perspektive ist die Analyse des Rechtssystems auf einer dritten Ebene möglich, wo eine externe Untersuchung unternommen wird. Es handelt sich um einen "kritischen Metadiskurs über den Diskurs der Rechtswissenschaft selbst"120, der zwar im Prozeß der Forschung des Rechts integriert ist, aber von der Rechtsauslegung getrennt wird hinsichtlich der Zwecke, der Bezugsquellen und der Methode. Sowohl die Wahrheitskonvention der Rechtsauslegung als auch die Grundbegriffe des Rechts können hinsichtlich ihrer philosophischen und politischen Stichhaltigkeit überprüft werden. Auf dieser Ebene kann behauptet werden, daß nichts richtig oder gegeben ist, weil es autoritativ gesetzt ist, daß also das Recht weder die "Wahrheit" noch das "Leben" ist: Um es mit B. Windscheid zu sagen: "Wir scheuen uns nicht, es auszusprechen, das Recht, welches wir haben, welches wir bilden, ist nicht das Recht"121. Deswegen müssen wir in bezug auf das Strafrecht - das hier interessiert, weil die Gnade als Mittel der Strafaussetzung in seinen Bereich gehört - "uns damit abfinden, daß die Grundlage unseres Strafrechts nicht die Wahrheit

119 120 121

4*

Zur Frage der infrarechtlichen Regeln vgl. unten S. 398 f. Baratta, "Über Juristenrecht", S. 75. Windscheid, Recht und Rechtswissenschaft, zitiert nach La Torre , S. 480.

52

Α. Einleitung

ist" 122 . Dieses Infragestellen ist auf der extrasystematischen Betrachtung begründet, woraus sich ergibt, daß "das Strafrechtssystem sich nicht dazu (eignet), einen wirksamen Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten", wie aus dem Vergleich der Ergebnisse des Bestrafungsvorgangs und seiner erklärten Zwecke hervorgeht - was die latenten Funktionen sowie die hohen und ungleichmäßig getragenen sozialen Kosten dieses Vorgangs ans Licht bringt 123 .

Zu dieser Ebene der extrasystematischen Betrachtung gehört aber nicht nur die Kritik des Rechts zum Zweck seiner Korrektur oder Überwindung ("Entmystifizierung der Rechtskategorie"124), sondern gleichwohl die Analyse der Funktion, die die Fiktionen des Rechts erfüllen. Auf dieser Ebene - auf der wir im letzten Kapitel dieser Arbeit hinsichtlich der symbolischen Funktion der Gnade operieren - kann man sich auf zwei - komplementäre - Annahmen stützen. Es handelt sich zunächst um die Annahme der Abhängigkeit des Rechts von anderen grundlegenden gesellschaftlichen Phänomenen und Vorgängen d. h. um die Annahme, daß die Welt des Rechts ein "Artefakt zweiten Grades" bildet, das als Konstruktion der ebenfalls konstruierten gesellschaftlichen Wirklichkeit seine Wirkungen entfaltet und durch seinen "Schöpfer" bestimmt ist 1 2 5 . Dies entspricht einer "kritischen Option", die unter Berufung auf das dem Rechtssystem externe Wissen die Distanz zwischen den Artefakten des Rechts und der gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie die Funktion dieser Artefakte analysiert 126. Dies - was hier nicht weiter erläutert werden kann - begründet einen völligen Gegensatz zu den traditionellen und modernen Ansätzen der "operativen Geschlossenheit" des Rechts, das sich selbst(re)produziere und -beobachte, also zu Theorien, die ihre agnostizistische Selbstreferenz durch die Flucht nach vorn in Form einer ständigen Radikalisierung des Autonomiekonzepts zu verschleiern versuchen127. Die zweite - hier ebenfalls "dogmatisch" angenommene - Position ist, daß das Recht eine - relative Eigenständigkeit aufweist und somit im Rahmen eines ÜberdetermininationsVorganges128 die gesellschaftliche Wirklichkeit vielfaltig zu beeinflussen ver-

122

Baratta, Philosophie, S. 290. Baratta, "Prinzipien", S. 513 ff. (538). 124 Baratta, Philosophie, S. 249. 125 Dazu s. Baratta, "L'esistenza", S. 39, mit einer Analyse des "lebensfremden" Formalismus der rechtlichen Artefakte (S. 38 ff m. w. Hinw.). 126 Ebda, S.48. 127 Zu den Ansätzen der Selbstbezogenheit des Rechts s. Teubner, passim; Ladeur, Posünodeme Rechtstheorie, passim, Luhmann, "Die Einheit", S. 135 ff ; dens., "Die Geltung", S. 277 ff; zur einer fundierten Kritik der "instrumenteilen Reflexion" des Luhmannschen Ansatzes s. - mit Überblick anderer Kritiken - Narr, S. 101 ff.,S. 335 ff; vgl. Nocke, S. 363 ff; Stamatis, S. 86 ff. 128 Zum Begriffs. Althusser , Pour Marx, S. 99 ff; J. Link, S. 57 ff. 123

ΠΙ. Gegenstand und Gang der Untersuchung

53

mag. Wenn aber somit das Recht als etwas viel Bedeutenderes als das Nebenprodukt einer "Basis" erscheint, vermag eine metajuristische Analyse der für die gesellschaftlichen Vorgänge ζ. T. konstitutiven Wirkungen des Rechtssystems wesentliche gesellschaftstheoretische Erkenntnisse zu vermitteln.

I I I . Gegenstand und Gang der Untersuchung

7. Die deduktive Methode Aufgrund dieser Orientierungen bei der Auslegung und angesichts der Vorbehalte gegen eine "geschichtlich-einheitliche" Betrachtung der Begnadigung werden wir das Gnadeninstitut in Verbindung mit den Grundelementen des Rechtssystems untersuchen. Diese deduktive Methode beruht auf "Exkursen" zu theoretischen Fragen. Der Gnadenerweis ist eine "Nicht-Strafe", eine Entscheidung, die die Bestimmung der Strafart und/oder -höhe betrifft und die Eigentümlichkeit aufweist, daß sie Organen der Exekutive anvertraut wird. Die Untersuchung von Grundprinzipien der Staatsorganisation (Gewaltenteilungsprinzip, parlamentarisches System usw.) sowie der Mechanismen des Strafrechtssystems bilden unerläßliche rechtliche "Brücken", um die Gnade als Bestandteil des Rechtssystems, in dem sie erzeugt und von dem ihre jeweilige Gestaltung abhängig ist, zu analysieren, d. h. um den Einordnungsmodus einer Kompetenz in ihre "Umwelt" zu bestimmen. Durch diese Methode werden wir fünf Fragenkomplexe untersuchen: - die Ansätze über die Rechtsnatur der Gnadenakte - eine zentrale Frage der juristischen Auseinandersetzung um die Begnadigungsprobleme, deren Beantwortung eine Bezugnahme auf die Gewaltenteilungslehre und somit auf zentrale Probleme der Verfassungslehre impliziert (Kapitel B); - die rechtlichen Grenzen der Kompetenz; ihre Ableitung erfordert die Auslegung der mit der Kompetenz zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen - die aus juristischer Sicht wichtigste Frage, die im Schrifttum bisher relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden hat (Kapitel C); - die Frage der Gnadengründe, die die technische Funktion der Kompetenz, d. h. ihre Rolle bei der Regulierung des Sanktionensystems, betrifft; die Bestimmung der Gnadengründe erfordert die Bezugnahme auf die Gnadenpraxis sowie auf die Zwecke und Funktionsregeln der Strafaussetzung (Kapitel D); - die Frage des für die Gnadenentscheidung zuständigen Organs, deren Beantwortung die Bestimmung der rechtlich vorgeschriebenen Beziehungen zwi-

54

Α. Einleitung

sehen den Organen der Exekutive in einer parlamentarischen Demokratie voraussetzt (Kapitel E), und schließlich - die Frage der symbolischen Funktion der Begnadigung, wo verschiedene Auffassungen über das Wesen der Gnade im Schrifttum zum Gegenstand kritischer Betrachtung werden; auf dieser Ebene lassen sich die herrschenden Auffassungen über die Funktion des Strafrechts, die durch den Gnadendiskurs der Juristen zum Ausdruck gebracht werden, untersuchen. Eine solche rechtsphilosophische Betrachtung bietet den Schlüssel zum Verständnis der juristisch-politischen Funktion des Gnadeninstituts und wird uns erlauben, der Zukunft des Instituts einige Bemerkungen zu widmen (Kapitel F).

2. Gegenstand und Modus der Rechtsvergleichung Das Gnadeninstitut wird in dieser Arbeit in vergleichender Perspektive dargestellt. Untersucht werden die rechtlichen Fragen in vier Rechtsordnungen, in der Bundesrepublik Deutschland\ in Frankreich, Italien und Griechenland. Ein intensiver und aufschlußreicher Vergleich der Rechtsprechung und Lehre in Gnadenfragen ist in diesen Ländern möglich, da es sich um Rechtsordnungen mit direkt vergleichbaren rechtlichen Traditionen handelt, wobei die objektiven Voraussetzungen für eine ähnliche Funktion des Rechts auch aufgrund der weitgehend vergleichbaren gesellschaftspolitischen Gestaltung dieser vier Länder der Europäischen Union gegeben sind. Eine solche rechtsvergleichende Analyse existiert, soweit ersichtlich, bisher nicht im Schrifttum 129, wo nur fragmentarische Ausführungen anzutreffen sind - meistens zur Erläuterung des nationalen Rechts130 oder als kurzer informativer Anhang über "Gnade international" 131. Das Interesse eines systematischen Vergleichs in den hier untersuchten Rechtsordnungen besteht darin, die beeindruckenden Ähnlichkeiten sowohl in Fragen der rechtlichen Gestaltung als auch in der Weise der Interpretation durch die Lehre aufzuzeigen. Somit wird versucht, einen Beitrag zur Vermittlung der Konstanten der europäischen Rechtskultur, die in der weitgehenden nationalen Bezogenheit des juristischen Schrifttums oft verschleiert werden, zu leisten. Eine vergleichende Untersuchung hat das Problem der Wahl eines Vergleichungsmodus, der einerseits ausgewogene Bezugnahmen auf die verschieEine Ausnahme bildet die Arbeit von Raikos, Die Begnadigung - die in der Tradition des griechischen Schrifttums steht, bei der Auslegung europäische, vor allem deutsche und französische, Literatur einzubeziehen. 130 Georgopoulos, Gnade; Zagrebelsky, Amnistia. 131 Schätzler, Handbuch, S. 146.

ΠΙ. Gegenstand und Gang der Untersuchung

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denen Länder gewährleistet und andererseits die Arbeit übersichtlich gestaltet. Es lassen sich drei Fälle unterscheiden: - bei der Auslegung der Gnadenkompetenz wird das Gleichgewicht der Bezugnahme auf die vier Rechtsordnungen gehalten (wobei die deutsche Gnadenliteratur an sich umfangreicher ist), und es wird versucht, ein möglichst komplettes Bild des Schrifttums der untersuchten Länder zu vermitteln; weil meistens ähnliche Regelungen vorhanden sind und sich entsprechende transnationale Meinungen bilden, erfolgen die Hinweise i. d. R. "kumulativ"; wo Eigentümlichkeiten des nationalen Rechts auftreten, wird auf die Regelung und das Schrifttum jedes Landes getrennt Bezug genommen; - in Fragen, die mit dem Gnadeninstitut einen indirekten Zusammenhang aufweisen (ζ. B. Fragen der Strafaussetzung oder des Strafverfahrensrechts), werden Beispiele aus dem deutschen Recht angeführt; - schließlich werden in den hier angedeuteten "großen" theoretischen Fragen (ζ. B. Gewaltenteilung, Gleichheitssatz, Straftheorien) die Regelungen und die Lehre der vier Länder erwähnt, jedoch wird stärker auf die deutsche Literatur Bezug genommen.

3. Notwendigkeit

und Risiken der Vielschichtigkeit

Da die Gnade, wie eingangs bemerkt, durch eine nicht reduzierbare Multiplizität gekennzeichnet ist und dies sowohl hinsichtlich der Gebiete des Rechts als auch hinsichtlich der mit der Begnadigung speziell zusammenhängenden Fragen gilt, ist in dieser Arbeit ein ständiges Hin-und-Her-Wandern zwischen Detailfragen der Gnadenbefugnis und zentralen Themen des Straf- und Staatsrechts und der Rechtsphilosophie zu bemerken. Dies wirkt befremdend, angesichts der gewohnten Arbeitsteilung unter den Juristen, und auf den Anspruch der Vielschichtigkeit sind zweifellos viele inhaltliche Mängel dieser Arbeit zurückzuführen. Anstatt es aber ζ. B. als eine nicht der Begründung bedürftige Evidenz zu betrachten, daß Zweck der Gnade die Verwirklichung der Gerechtigkeit sei - wie es im Schrifttum meistens der Fall ist -, wurde es vorgezogen, diese Position kritisch zu untersuchen - was den Rekurs auf den Begriff der Gerechtigkeit und die Formulierung einer eigenen Position erforderlich macht -, in der Einsicht, daß ein Grundproblem der Rechtsphilosophie als Nebenfrage nicht angemessen behandelt werden kann. Wenn dieses "enzyklopädische" Vorhaben das Gleichgewicht der Arbeit durch die Bezüge auf heterogene Fragen und Quellen beeinträchtigt, bedeutet die Konstruktion theoretischer Brücken ein Risiko, das zu übernehmen ist, um die theoretischen Grundlagen zu erlangen, die eine Überprüfung der tradierten Auffassungen in vielen Gnadenproblemen erlauben.

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

I. Die allgemeine Ratlosigkeit und ihre Ursachen

Der Begriff "Rechtsnatur der Gnadenentscheidung" bezieht sich auf die Art und Weise der Einordnung der Begnadigungskompetenz in die Rechtspraxen der politischen Machtausübung, d. h. auf die Zuordnung der Gnade zu einer der staatlichen Funktionen. Die Beurteilung der Rechtsnatur eines staatlichen Aktes obliegt der Rechtslehre; sie beruht auf der Untersuchung der Charakteristika, welche die Ausübung einer Kompetenz bestimmen und eventuell Kontrollmechanismen seitens anderer staatlicher Organe festlegen. Die Frage nach der Rechtsnatur der Begnadigung beschäftigt den überwiegenden Teil der Gnadenliteratur und wird in einer Reihe von Gerichtsurteilen anhand des zentralen Problems der gerichtlichen Nachprüfung von Gnadenentscheidungen beantwortet. In der allgemeinen "Ratlosigkeit"1, die diese Frage auslöst, werden alle möglichen Interpretationsansätze vorgeschlagen: Die Gnadenentscheidung wird in unterschiedlichen Ansätzen der Gesetzgebung, der Vollziehung oder der Rechtsprechung zugeordnet, während sie auch schon für einen Akt sui generis, der nicht in die klassische Trias der konstituierten Gewalten einzuordnen sei, gehalten wurde. Symptomatisch für die Schwierigkeit des Problems und die diesbezüglich herrschende Ratlosigkeit ist, daß sogar die Meinung vertreten wurde, die Gnadenentscheidung sei ein Akt der Ausübung verfassunggebender Gewalt zum Zweck der Aufhebung der Folgen einer strafrechtlichen Verurteilung 2. Die Schwierigkeiten bei der Beantwortung dieser Frage, die zu theoretischen Meinungsverschiedenheiten und zur Formulierung eines weiten Spektrums von Ansichten führten, haben eine zweifache Ursache. Die äußere Ursache besteht darin, daß die Verfassungen der untersuchten Rechtsordnungen die Gnadenbefugnis Organen der Exekutive anvertrauen, obwohl die Begnadi-

"Angesichts der zuständigen Organe stellt das Institut der Begnadigung eine Irregularität dar und führt zur Ratlosigkeit der Lehre hinsichtlich der Einordnung des Gnadenaktes"; Stassinopoulos, [Bericht], S. 158; ebenso Dom, S. 1260. 2 Dazu unten S. 114.

I. Die allgemeine Ratlosigkeit und ihre Ursachen

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gung, vor allem wegen ihres direkten Bezugs zum strafrechtlichen System, nicht als typischer Exekutivakt betrachtet werden kann. Die innere - und wesentliche - Ursache ist jedoch folgende: Während die Bestimmung der Rechtsnatur der Gnadenentscheidung von der Problematik der Funktionenlehre abhängt, die mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zusammenhängt, befindet die Gnadenliteratur über die Einordnung der Begnadigung in eine der staatlichen Funktionen, ohne vorher den Gehalt deijenigen Funktion, der sie die Begnadigung zuordnet, zu untersuchen und zu definieren. Es handelt sich um das Phänomen, das als "unreflektierte Hypostasierung" der Funktionen bezeichnet wurde3. Angesichts der Tatsache, daß die Funktionenlehre - trotz ihrer großen Bedeutung für die Praxis und die Nachprüfung von Rechtsakten4 - einen äußerst umstrittenen Bereich der Rechtstheorie darstellt, setzt eine fundierte Definition der Rechtsnatur der Begnadigung die Bezugnahme zur sogenannten Gewaltenteilung sowie die Untersuchung einer Reihe von terminologischen, historischen und theoretischen Fragen voraus. In den nachfolgenden Ausführungen wird auf die Unterscheidung der ideologischen Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips von seiner juristischen Bedeutung, die uns hier interessiert, hingewiesen, anschließend werden Definitionen für den Begriff der Funktion und für die Unterscheidung der materiellobjektiven von der formell-organischen Gewaltenteilung vorgeschlagen (II). Es folgt eine systematisch-kritische Bezugnahme auf die Lehrmeinungen und die Rechtsprechung in der Frage der Rechtsnatur der Begnadigung, die sich in drei "transnationale" Gruppen einordnen lassen (III-V). Aufgrund der theoretischen Ergebnisse der Funktionenlehre und der kritischen Betrachtung der verschiedenen Meinungen über die Rechtsnatur der Begnadigung wird schließlich eine persönliche Meinung formuliert (VI).

Vgl. in einem ähnlichen Zusammenhang Achterberg, Probleme, S. 107: Die "Behauptung, das Maßnahmegesetz verstoße gegen die 'Gewaltenteilung' [bleibt] unreflektierte Hypostasierung, solange nicht dargelegt wird, was eigentlich unter 'Gesetzgebung' überhaupt verstanden wird." 4 Vgl. statt vieler Achterberg, Probleme, passim.

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

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I I . Das Prinzip der Gewaltenteilung. Begriffliche Bestimmung der Funktionenunterscheidung und -trennung

7. Von der politischen Mehrdeutigkeit zur rechtlichen Fixierung der Gewaltenteilung Die Gewaltenteilung ist ein Organisationsprinzip der Staatsgewalt, das 250 Jahre nach seiner abgeschlossenen Formulierung durch Montesquieu5 weiterhin die juristische und politische Theorie beschäftigt: "Sind nicht die beiden Themen des Wesens der Macht und des Gleichgewichts der Gewalten immer noch aktuell - und werden sie nicht immer wieder in denselben Worten, wie sie Montesquieu einmal festlegte, neu aufgenommen und diskutiert?"6. Verantwortlich für die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit, welche die Theorie der Gewaltenteilung heutzutage prägen7, ist ihre große Verbreitung und ihr "Erfolg", und zwar auf drei Ebenen. Es handelt sich um: a) Die sukzessive Ausfuhr der Theorie in Rechtsordnungen, die ursprünglich nach anderen Prinzipien konstituiert waren. Das gilt seit Anfang der 80er Jahre für den Versuch, die Gewaltenteilung in die Verfassungsordnung der "sozialistischen" Länder Osteuropas einzuführen, unter dem Druck der sozialen Konflikte zur allmählichen Übernahme des westlichen Modells gesell5

Es werden viele Vordenker des Gewaltenteilungsprinzips angeführt, unter ihnen sogar Homer. Dazu ausführlich Th. Tsatsos, Zur Geschichte, S. 11-50; Böckenförde, Gesetz, S. 20 ff.; Riklin, S. 27 ff.; Stern, Bd. Π, S. 514 ff ; Modugno, S. 9 ff ; Silvestri, passim; jeweils m. w. Hinw. auf die reiche Sekundärliteratur über die geschichtliche Herausbildung der Gewaltenteilungstheorie. In Wirklichkeit entstehen allerdings - trotz der mit Hinweis auf die Vordenker ideengeschichtlich postulierten Kontinuität der Lehre, die eher die Funktion einer Sakralisiening hat - erst seit Montesquieu theoretische Konstruktionen, die mit der modernen verfassungsrechtlichen Verankerung des Prinzips vergleichbar sind, d. h. drei Staatsfunktionen unterscheiden, die drei Organgruppen zugewiesen werden (Montesquieu, Buch XI, Kap. VI "De la Constitution de l'Angleterre"; S. 294 ff). Notwendig und zweckmäßig ist - im Gegensatz zu einem Kontinuitätsdenken in geschichtlichem Gewand - eine Rekonstruktion der verfassungsrechtlichen und rechtstheoretischen Geschichte der Gewaltenteilung, d. h. die Analyse der Versuche zur Konkretisierung dieser Theorie sowie zur Formulierung von Kriterien für die Definition der Funktionen; exemplarisch dazu Achterberg, Probleme, S. 8-105; Troper, La séparation, S. 109 ff 6 Althusser, Machiavelli, S. 109 f.; zur Auffassung Althussers, der diese Diskussion "größtenteils [als] historische Illusion" betrachtet (ebda, S. 110), s. unten B, Anm. 114. 7 Bezeichnend dafür ist die rhetorisch gestellte Frage: "Qu'est-ce d'ailleurs que la 'séparation des pouvoirs?" (Riais, "Supraconstitutionnalité", S. 65).

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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schaftlicher Organisation 8. Ein weiteres Symptom des Erfolgs der Gewaltenteilung ist der Versuch der Übernahme des gewaltenteilenden Organisationsschemas seitens der EG (insbesondere die Forderung nach gesetzgebenden Kompetenzen des EP mit dem Ziel der Beseitigung des sog. Demokratiedefizits), im Rahmen ihrer Transformation in eine Europäische Union mit staatsähnlicher Form 9 . b) Die Anwendung der Theorie auf verschiedenene Bereiche der juristischen und sozialen Organisation (vertikale Gewaltenteilung mit dem Ziel der "Überwindung des Absolutismus des Staates"10, quantitative Gewaltenteilung innerhalb der Gewalten 11 , informationelle Gewaltenteilung, die dem Schutz der Bürger vor der informationellen Amtshilfe dient 1 2 , u. v. ä.). c) Das Heranwachsen einer voluminösen Literatur zu dem Thema. Auf diese Art und Weise erfolgen mehrere "Neubestimmungen" des Inhalts der Theorie und Ergänzungen (ζ. B. föderative Gewaltenteilung 13 , Bändigung der

8 Bis vor kurzem versuchten die Verfassungen und die Verfassungstheorie der osteuropäischen Länder drei Elemente miteinander zu kombinieren: Die marxistische Auffassung über die Einheit der Staatsgewalt, die Wirklichkeit der politischen Herrschaft eines Parteiapparates und - unter dem unabstreitbaren Einfluß des westlichen Verfassungsstaats - die organisatorischen Vorteile sowie die Legitimationseffekte des Gewaltenteilungsprinzips. Obwohl im Rahmen der "Perestroika" öfters von einer Verfassungsrevision die Rede war, die das Gewaltenteilungsprinzip als Innovation von "entscheidender Bedeutung" einführen sollte (Le Monde vom 14.2.1990), war dieses Prinzip bereits in der "stalinistischen" Verf. von 1936 formell vorgesehen, i. S. einer Unterscheidung zwischen Organgruppen mit unterschiedlichen Kompetenzen und mit der Möglichkeit der gegenseitigen Kontrolle (bes. mit dem Hinweis auf die "unabhängige Rechtsprechung", so Art. 112 der Verf. 1936). Aus diesem Grund ist die weitverbreitete Auffassung, daß auf verfassungsrechtlicher Ebene zwischen den "kontrastierenden Staatsbildern", d. h. dem "gewaltengegliederten (...) Rechtsstaat namentlich westlicher Prägung auf der einen und der gewaltenmonistischen 'Volksdemokratie' auf der anderen Seite", unterschieden werden müsse (Stern, Bd. Π, S. 531; Herzog, Art. 20, V, Rnr. 12; Biscaretti di Ruffìa , S. 169, Anm. 149; Burdeau/Hamon/Troper , S. 198, 201, 211X juristisch nicht korrekt und ist bezeichnend für die allgemeine Verwechslung der rechtlichen, politischen und sozialen Ebene in bezug auf die Gewaltenteilung. Zur Gewaltenteilung in der UdSSR vgl. Lavigne, S. 602 ff.; Schweisfurth, S. 915 ff.; Dimoulis, "Die Sowjetverfassungen", S. 209 ff., 241 ff. 9 Zur historischen Entwicklung dieser Problematik und zur permanenten Forderung nach Gewaltenteilung s. Seeler, passim; Petzold, passim; Hahn, passim; Ress, S. 625 ff. 10 Süsterhenn, in: Rausch, S. 113 ff. ( 114). 11 Leisner, S. 405 ff. 12 BVerfGE 65, 3, 69. Vgl. die Analyse und Kritik von Mückenberger, S. 19 ff. 13 Ausführlich hierzu Schodder, der behauptet: "Die klassische Gewaltenteilung [behält ihre] Bedeutung als grundlegendes Ordnungsprinzip. Sie bedarf aber der Ergänzung" durch "die. gewaltenteilenden Wirkungen der gegenwärtigenföderativen Ordnung" (S. 9,24).

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

60

Gruppenmacht14), während in manchen Fällen die vollständige Ablehnung der Theorie vorgeschlagen wird 15 . Der vielseitige Erfolg, die Versuche einer Erweiterung und Umgestaltung des Gewaltenteilungsprinzips beeinträchtigen offensichtlich das richtige Verständnis seiner juristischen Bedeutung und verwandeln das Prinzip in einen eher politischen Grundsatz, der unterschiedlichen Interpretationen und Anwendungsmöglichkeiten bei der Organisation und Legitimation der Staatsgewalt zugänglich ist 16 . Um zu vermeiden, daß das Prinzip in ein allgemeines verschwommenes und ausdehnungsfähiges - ideologisches Postulat über die "Teilung der Macht" umgewandelt wird, ist eine Auseinandersetzung mit seiner rechtlichen und politischen Bedeutung notwendig. In diesem Zusammenhang wird auf die verfassungsrechtliche Verankerung der Gewaltenteilung in den untersuchten Rechtsordnungen und auf die verfassungsrechtlichen Begriffe der Einheit und der Teilung der Gewalten Bezug genommen.

2. Die verfassungsrechtliche

Verankerung der Gewaltenteilung

Das Prinzip der Gewaltenteilung wird von den meisten Verfassungen der Welt ausdrücklich garantiert. In den Rechtsordnungen, die uns hier interessieren, wird das Prinzip allgemein anerkannt, wenn auch mit unterschiedlichen Verfassungs(text)strategien. Das Grundgesetz bestimmt in Art. 20 Abs. 2, daß die Staatsgewalt "durch besondere Organe der Gesetzsgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" wird. Wenn auch diese Bestimmung kein ausdrückliches Postulat des Gewaltenteilungsprinzips darstellt, wird sie doch allgemein als sedes materiae der Gewaltenteilung anerkannt, da sie die drei staatlichen Funktionen festlegt und sie grundsätzlich drei "besonderen" Or14

Dazu eingehend Becker, passim. In Frankreich wird diese Auffassung mit Nachdruck vertreten von Troper (La séparation, passim; "L'interprétation", S. 114 ff) und seinen Schülern ÇMoulin , passim; Velley, S. 775 ff); dieser Ansatz verbindet den Logizismus (die Gewaltenteilungstheorie sei nicht kohärent oder praktisch nicht anwendbar) mit dem juristischen Nihilismus (unten B, Anm. 91 und 276). Vorläufer dieser Denkrichtung war am Anfang des Jahrhunderts Carré de Malberg, Bd. Π, S. 11 ff; zur Schwäche dieses Dekonstruktionsversuchs und zu den Voraussetzungen einer Kritik am Gewaltenteilungsschema s. Ladeur, Rechtssubjekt, Anm. 2 auf S. 132 f., Anm. 1 auf S. 168 und allgemeiner S. 122 ff 16 Von dem "politischen" Verständnis des Prinzips gehen diejenigen aus, die verschiedene Umstrukturierungen seines Inhalts vorschlagen. Vgl. statt vieler W. Weber, S. 255: "In einer tieferen Schicht ist Gewaltenteilung ein politisches Phänomen, ein Problem der Teilhabe an der politischen Macht." 15

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

61

gangruppen zuweist. Dieses Prinzip wird im folgenden an vielen Stellen des die Staatsorganisation regelnden Teils des GG durch die Festlegung von Garantien und Ausnahmen konkretisiert und ausgeformt. Art. 26 der griechischen Verfassung von 1975 begründet das Prinzip der Trennung der drei staatlichen Funktionen durch die Festlegung der Organe, denen die Ausübung der einzelnen Funktionen aufgetragen wird: "-1. Die gesetzgebende Funktion wird durch das Parlament und den Präsidenten der Republik wahrgenommen -2. Die vollziehende Funktion wird durch den Präsidenten der Republik und die Regierung wahrgenommen -3. Die rechtsprechende Funktion wird durch die Gerichte wahrgenommen." Die italienische Verfassung von 1947 beinhaltet keine allgemeine Bestimmung, die den Grundsatz der Gewaltenteilung verankert. Allerdings bezieht sich Art. 134 Abs. 2 auf die Organe der Staatsgewalt ("poteri dello stato"17), und der die Staatsorganisation betreffende Teil der Verfassung enthält Bestimmungen zur Festlegung der drei Organgruppen und ihrer Zuständigkeiten. Art. 70 bestimmt: "Die gesetzgebende Gewalt wird von den beiden Kammern gemeinsam ausgeübt"; gemäß Art. 102 wird "die Rechtsprechung (...) von ordentlichen Richtern ausgeübt", während Titel 3 des 2.Teils die Zusammensetzung sowie die Kompetenzen der Regierung und der öffentlichen Verwaltung festlegt 18. Komplexer aber ebenso eindeutig ist die Gewährleistung des Prinzips in dem Staatsorganisationsschema der französischen Verfassungsordnung. Obwohl die Verf. von 1958 keine entsprechende ausdrückliche Bestimmung beinhaltet - vor allem weil das Prinzip der Gewaltenteilung nach der Erklärung von 1789 für die demokratischen französischen Verfassungen als selbstverständlich gilt -, sind eine indirekte und drei direkte Normenkomplexe festzustellen, welche die Geltung des Prinzips garantieren. Auf verfassungsrechtlicher Ebene wird das Gewaltenteilungsgebot in direkter Form garantiert: a) durch Art. 16 der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1789. "Eine Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung" 19; b) aufgrund des 17

Art. 134: "Das Verfassungsgericht entscheidet über (...) Zuständigkeitskonflikte zwischen den Organen der Staatsgewalt." 18 Dazu eingehend und mit Literaturübersicht Modugno, S. 39 ff., der aber im Rahmen einer empiristisch-organizistischen Auffassung die Existenz des Prinzips verneint. 19 Die Artikel der Erklärung von 1789 sind aufgrund der Präambel der Verfassung von 1958 verfassungsrechtliche Normen, d. h. sie gehören zum sog. bloc de constitutionnalité , der aus vier Gruppen von Bestimmungen mit gleichem Verfassungsrang besteht: Den Verfassungsbestimmungen, der Erklärung von 1789, der Präambel der Verf. 1946 und den "von den Gesetzen der Republik anerkannten grundlegenden Prin-

62

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Verfassungsgesetzes vom 3.6.1958. Mit diesem Gesetz hat die Nationalversammlung den Art. 90 der franz. Verf. 1948 revidiert und einerseits die Regierung de Gaulle mit der Gestaltung der Verfassung der fünften Republik beauftragt, andererseits für den Inhalt eines Verfassungsentwurfs bestimmte Grundsätze gesetzt20. Somit bestimmt das Verfassungsgesetz: "Le pouvoir exécutif et le pouvoir législatif doivent être effectivement séparés (...). L'autorité judiciaire doit demeurer indépendante pour être à même d'assurer le respect des libertés essentielles (...)" (Art. 1 Abs. 2 und 4) 2 1 und c) aufgrund der Struktur des Verfassungstextes selbst, wodurch drei Organgruppen (Präsident der Republik, Regierung und Verwaltung - Titel II-III, Parlament - Titel IV, Rechtsprechung - Titel VII-VIII) konstituiert sowie ihre Zuständigkeiten und wechselseitigen Beziehungen geregelt werden. Die indirekte Verankerung des Prinzips geht aus der ständigen Rechtsprechung des Conseil constitutionnel hervor, die sich auf das "principe constitutionnel de la séparation des pouvoirs" und seine Konkretisierung durch die "conception française de la séparation des pouvoirs" beruft 22. Somit orientiert sich die Verfassungsmäßigkeitskontrolle und, darüber hinaus, die verfassungsrechtliche Ordnung an dem Prinzip der Gewaltenteilung, das zwar nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert ist, aber als Maßstab für die Festlegung und die gegenseitige Kontrolle der staatlichen Organe dient. Der überwiegende Teil der heutigen französischen Verfassungslehre geht davon aus, daß die Gewaltenteilung durch die Ausübung dreier Funktionen die Struktur der Rechtsordnung bestimmt23. Angesichts der fehlenden ausdrücklichen Anerkennung in der Verfassung werden aber auch Stimmen laut, die das zipien"; zur entsprechenden Rechtsprechung des Conseil constitutionnel, vgl. etwa Favoreu/Philip, S. 239 ff., 484 ff; Knaub, S. 1162 ff; jeweils m. w. Hinw. 20 Zur Bedeutung des Textes als Maßstabes der Verfassungsauslegung s. Quermonne, S. 50 f. 21 Documents pour servir à l'histoire de l'élaboration de la Constitution du 4 octobre 1958, Bd. I, Paris 1987, S. 211 f. Aus derselben amtlichen Sammlung geht hervor, daß die Teilnehmer an den Beratungen des Verfassungsentwurfs die Verankerung des Gewaltenteilungsprinzips für notwendig (und selbstverständlich) erachteten und die Bestimmungen des genannten Verfassungsgesetzes vom 3.6.1958 für verbindlich hielten: "La séparation des pouvoirs (...) est au coeur de la question constitutionnelle" (ebda, S. 245; s. auch ebda, S. 517 ff). 22 Entscheidungen vom 22.7.1980, Recueil, S. 46; 24.7.1985, Recueil, S. 58; 23.1.1987, Recueil, S. 8. Diese Rechtsprechung definiert die "conception française de la séparation des pouvoirs" als ein "von den Gesetzen der Republik anerkanntes grundlegendes Prinzip", d. h. als Prinzip mit Verfassungsrang (oben B, Anm. 19). Dazu Frontoni , S. 591 ff; Renoux, "L'apport", S. 172 ff; Favoreu/Philip, S. 423 ff. 23 Vgl. statt vieler Cadart, S. 109 ff, 318 ff; Knaub, S. 1152 ff; Frontoni, S. 590 ff; Chapus, "Les fondements", S. 192 ff; Chevallier, "La séparation des pouvoirs", S. 114, 136 ff.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

63

Prinzip theoretisch in Frage stellen, als Mythos bezeichnen und es "dekonstruieren" 24, während auch oft die Meinung vertreten wird, das Prinzip entspreche lediglich einer "Konkurrenz der Gewalten", als vager Ausdruck eines psychologischen und politischen Phänomens der Gegenüberstellung und des Ausgleichs25. Aus dieser Übersicht geht hervor, daß die Gewaltenteilung in den untersuchten Rechtsordnungen ein Verfassungsfaktum darstellt, das in der Existenz dreier Gruppen staatlicher Organe besteht, die sich aufgrund unterschiedlicher Regeln konstituieren und unterschiedliche Kompetenzbereiche haben. Der genaue juristische Inhalt und die Bedeutung der Gewaltenteilung ist dieser Feststellung allerdings nicht zu entnehmen. Erforderlich ist daher die Untersuchung der Begriffe "Gewalt" und "Funktion" und ihrer wechselseitigen Beziehung sowie die Auseinandersetzung mit dem begrifflichen Inhalt des aus den genannten Bestimmungen hervorgehenden Verfassungsgrundsatzes und seiner organisatorischen und ideologischen Dimension.

3. Einheit und Funktionen der Staatsgewalt "Trotz ihres komplexen Charakters ist die staatliche Gewalt einheitlich und unteilbar" 26. Diese Feststellung faßt die Analysen einer starken staatstheoretischen Tradition zusammen, die dem Prinzip der Gewaltenteilung jeden materiellen Gehalt abstreitet und hingegen die materielle Einheit der Staatsgewalt und den ausschließlich formal-technischen (d. h. juristischen) Charakter der Teilung ihrer Funktionen aufzeigt. Diese Kritik beruht im wesentlichen auf der Konzeption Rousseaus über die Einheit der Souveränität, die in der absoluten Souveränität des Gesetzes ihren

24

Dazu unten B, Anm. 91. Duhamel, Le pouvoir, S. 291 ff; vgl. Avril , Le régime, S. 146 ff, 415 ff; Quermonne, passim; die Auffassung über die Vagheit, die fehlende juristische Präzision und die angeblichen Widerspüche liegt nicht an der Unbestimmtheit der Gewaltenteilung in der franz. Verfassungsordnung. Sie ist vielmehr Ausdruck der in der franz. Lehre herrschenden Praxis, das Verfassungsrecht nicht auszulegen, sondern dessen Anwendung im Rahmen der politischen Auseinandersetzung zu beschreiben. Der jeweilige politische Wandel und insbes. die Amtszeit jedes einzelnen Staatspräsidenten dient zur Periodisierung der verfassungsrechtlichen Interpretation, die eher als Geschichte der politischen Institutionen zu verstehen ist. So wie in der Soziologie von einer société du spectacle die Rede ist, kann man die franz. Verfassungslehre wohl als die Verfassungslehre des Schauspiels bezeichnen. 26 Burdeau, Traité, S. 302. 25

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

64

Ausdruck findet 27 . Diese Auffassung erhielt ihre konkrete Bedeutung im Rahmen des Nationalstaates, als einer Form staatlicher Organisation, die auf der Volkssouveränität beruht, d. h. auf dem demokratisch geäußerten, im Ergebnis einheitlichen Volkswillen. Diese These hat Maximilien Robespierre auf das Gewaltenteilungsprinzip bezogen, als er 1791 der französischen Assemblée constituante vorgeschlagen hat, im Verfassungsentwurf den gebrauchten Begriff "pouvoirs" durch den Begriff "fonctions" zu ersetzen 28. Ähnlich ist in dieser Fragestellung der Ausgangspunkt der marxistischen Theorie, welche die Staatsmacht als "konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft" 29 betrachtet. Nach dieser Theorie 30 stellt die Einheit das Wesensmerkmal der Staatsgewalt dar, das auf der Abstraktionsebene ihres "Zwecks" 31 angesiedelt ist, d. h. in der historischen Ursache der Bildung des Staatsapparats und in seiner funktionellen Orientierung als einer Instanz mit integrierender Funktion, und zwar in zweifacher Hinsicht: Harmonisierungsversuch der miteinander kollidierenden Interessen der Fraktionen der herrschenden Klasse und zugleich Vereinheitlichung der ganzen Gesellschaftsformation mittels der Gewährleistung von Teilinteressen der beherrschten 27

Rousseau, Π. Buch, Kap. Π ("Que la souveraineté est indivisible"); S. 64 ff; auf einer ähnlichen Auffassung basiert auch Hegels Kritik an der Gewaltenteilung: "Mit der Selbständigkeit der Gewalten (...) ist (...) die Zertrümmerung des Staats unmittelbar gesetzt" (§ 272; S. 241). 28 Petzold, Die Gewaltentrennung, S. 22; vgl. Cobban, S. 138 f.; zu solchen Auffassungen s. Saint Girons, Essai, S. 138 ff 29 Marx, Das Kapital, S. 779. 30 Eine ausführliche Darstellung sprengt den Rahmen des hier angesprochenen Themas. Allerdings ist das Sprektrum der vertretenen Staatsauffassungen sehr breit und reicht vom Ökonomismus bis zum Politizismus, wobei die zentrale Frage den Grad und die Modalitäten der Autonomie des staatlichen Handelns betrifft. Aus der umfangreichen Literatur vgl. Poulantzas, Pouvoir politique, Bd. I, S. 43 ff, 141 ff, Bd. Π, passim; Reich, passim; Baratta, Philosophie, S. 198 ff; die Beiträge von Blanke und Kuhlen, in: Rottleuthner, S. 312 ff, 419 ff; Breuer, S. 57 ff; Miai lie, L'Etat du droit, passim; Michel, passim; Labica, S. 67 ff; die Beiträge von Balibar (Appareil; Classes; Pouvoir), Le Bec (Etat/ société civile) und Robelin (Etatisme), in: Labica/Bensussan , S. 47 ff, 176 ff, 406 ff, 413 ff, 900 ff; Mi li os, Kapitalistische Entwicklung, S. 49 ff; Balibar , in: ders./Wallerstein , S. 230 ff; Robelin, S. 127 ff; Anthopoulos, "Menschenrechte", S. 23 ff ; Dimoulis , "Die marxistische Staatstheorie", S. 42 ff. Vgl. die juristische Analyse des Staates "als ideellen Sachwalters des gesellschaftlichen Produktionszwecks der antagonistisch verfaßten Gesellschaft" bei Krölls, passim (das Zitat von S. 39). 31 Die marxistische Auffassung über die Einheit des Staatsapparats aufgrund des von ihm verfolgten Zwecks wird schon in der "Deutschen Ideologie" (1845) formuliert: "Per Staat] ist aber weiter Nichts als die Form der Organisation, (...) in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfaßt" (Marx/ Engels, Die Deutsche Ideologie, S. 62; vgl. ebda, S. 339); vgl. ausführlich Poulantzas, Pouvoir politique, Bd. Π, S. I l l ff

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

65

Klassen, d. h. durch die Subsumierung dieser Interessen unter die bürgerliche Herrschaft. Eine effiziente Wirkung in diese zwei Richtungen setzt allerdings die relative Autonomie des Staatapparats sowohl von der Produktion als auch von den unmittelbaren Interessen der herrschenden Klasse voraus, d. h. das Wirken des Staates als Verdichtung von Kräfteverhältnissen 32. Die organisatorische Komponente - und Voraussetzung - der relativen Autonomie ist die Trennung der staatlichen Funktion von den sonstigen gesellschaftlichen Funktionen sowie die Einheit des Staatsapparats, der durch grundsätzlich einheitliche Wirkungsrichtung gekennzeichnet ist. Über diese Abstraktionsebene hinaus setzt sich die marxistische Theorie mit der Vielfalt der staatlichen Organe und Funktionen auseinander. Diese Unterscheidung ist jedoch nicht mit der Trennung der drei juristischen Funktionen gleichzusetzen, sondern als supplementäres Handeln eines repressiven und eines ideologischen Staatsapparats zu verstehen33. Die Auffassung über die Einheit der Staatsgewalt und die Unterscheidung von Funktionen, die den verschiedenen staatlichen Organen zugewiesen werden, ist auch in einem anderen theoretischen Zusammenhang anzutreffen, nämlich in der rechtspositivistischen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts 34. So formulierte R. Carré de Malberg: "Au point de vue juridique, l'essence propre de toute communauté étatique consiste d'abord en ceci que, malgré la 32

Hierzu ausführlich Poulantzas, L'Etat, S. 135 ff.; entgegen allerdings den Auffassungen, die Poulantzas in diesem Werk vertritt, können sich die für den Staat konstitutiven und durch ihn ausgedrückten Machtverhältnisse nicht uneingeschränkt verändern (nach dem Muster des Kräfteparallelogramms in der Mechanik); der Veränderung ist eine immanente Grenze gesetzt, sobald es um die Erhaltung des Produktionssystems geht: Der Staatsapparat neigt zur Repression der Kräfte, die die Produktionsverhältnisse in Frage stellen; dazu Milios, "Der theoretische Bruch", S. 66 ff.; Müll er/Reinfeld t/Schwarz/Tuckfeld, S. 133 ff. 33 Althusser , Ideologie, S. 119 ff., 154 ff.; nach dieser Auffassung gehört zum repressiven Staatsapparat die Verwaltung i. w. S., d. h. alle Entscheidungen, die verbindlich sind - auch wenn sie keine direkte Gewaltanwendung implizieren -, weil ihre Durchsetzung gesichert ist durch ein Netz von "institutionellen Garantien, Gebundenheiten, Beschränkungen und Prozessen, die der gesamten Struktur (...) der Rechtsordnung immanent sind und in ihr wirken" (Manessis, Verfassungsrecht, S. 131). Darüber hinaus umfaßt der Begriff des ideologischen Staatsapparates - wodurch "die Ideologie einer physischen Kraft gleichkommt [als] gewaltlose Organisation der Gewalt" (ebda, S. 92) - auch Institutionen, die rechtlich als privat funktionieren (Familie, Kirche, Kultur usw.). Zu dieser radikalen Infragestellung der Tauglichkeit der Unterscheidung öffentlich/privat für die Bestimmung des Staatsbegriffs und zum Verständis des Staats als einer Vereinheitlichungsinstanz s. z. B. Berthold, S. 77 ff.; J.C. Müller u. a.y S. 42 ff.; Dimoulis, "Die marxistische Staatstheorie", S. 47 f. 34 Statt vieler Saint Girons , Manuel, S. 72 f.; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 501, 606 ff.; Aravantinos, S. 37 ff.; vgl. N.N. Saripolos, S. 6 ff.; die Auffassung von der Einheit der Staatsgewalt, deren integrierende Bestandteile die drei Funktionen sind, findet sich schon bei Kant , I. Teil, § 48 ff ; S. 316 ff. 5 Dimoulis

66

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

pluralité de ses membres (...), elle se trouve ramenée à l'unité par le fait de son organisation", während "il faut distinguer, d'avec le pouvoir qui est un, d'une part les fonctions du pouvoir qui sont multiples, et d'autre part les organes du pouvoir qui peuvent être multiples pareillement"35. Die Unterscheidung Staatsgewalt/Staatsfunktionen, die Anerkennung der Einheit der Staatsgewalt und die kritische Auseinandersetzung mit der "Gewaltenteilungs"lehre stellen heutzutage einen allgemein anerkannten theoretischen Standpunkt dar 36. Für seine Begründung auf verfassungsrechtlicher Ebene ist die "positivistische" Betrachtung ein ausreichender und überzeugender Ansatz, denn sie leitet die Einheit der Staatsgewalt aus der Einheit der verfassunggebenden Gewalt ab, die als juristisch bestätigter Wille und als höchste Entscheidung die staatliche Verfassungsordnung gestaltet. Die Rechtsgrundlagen dieser Ansicht liegen in der Erklärung aller Verfassungen, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und von den zuständigen Organen gemäß den Bestimmungen der Verfassung ausgeübt wird 37 . Angesichts der Volksentscheidung, eine Gesellschaftsfonnation nach Maßgabe der Verfassung, die kraft dieses einheitlichen und höchsten Willens als höchstes Gesetz gilt, zu gestalten und zu organisieren, kann nicht von einer Vielfalt der Gewalten die Rede sein, sondern es können nur die einzelnen Funktionen der einheitlichen Staatsgewalt analysiert werden38. Zutreffend ist insofern die kurze Definition

35 Carré de Malberg, Bd. I, S. 8 f. und S. 259, Anm. 1; ähnlich Saint Girons , Manuel, S. 73 f. 36 Dazu Th. Τ satsos, Zur Geschichte, S. 74 ff. ("Es ist ein Verdienst der Staatsfunktionenlehre herausgestellt zu haben, daß eine Teilung der einheitlichen Staatsgewalt ausgeschlossen ist", S. 75); vgl. H. Peters passim; Pernthaler, S. 163 ff ; Achterberg, Probleme, S. 109 ff; Stern, Bd. Π, S. 533 ff; Zippelius, S. 61ff; Hauriou/GicqueU S. 231 f.; Cadart, S. 321; D. Tsatsos, Verfassungsrecht Π, S. 133 f. 37 Art.: 20 Abs. 2 GG; 3 Abs. 1-2 franz. Verf.; 1 ital. Verf.; 1 Abs. 2-3 griech. Verf. 38 Was die Verfassungstexte betrifft, ist die griechische Verfassungsgeschichte ein Beispiel für den Vorgang der Durchsetzung des Begriffs "Funktion". Die Verf. von 1822 und 1823 gebrauchten den Begriff dynameis (Mächte) für die Bezeichnung der drei Funktionen (§§ 88 bzw. 14, 15, 71). In den nächsten Verf. wurde der Begriff exousiai (Gewalten) verwendet (Art.: 36 Verf. 1827; 15, 20, 21 Verf. 1844; 22, 27, 28 Verf. 1864/1911/1952; 3, 4, 5 Verf. 1927), während in die geltende Verf. zum ersten Mal der Begriff leitourgies (Funktionen) eingeführt wurde (Art. 26 Verf. 1975), und somit die Auffassung der Einheit der Gewalt und der Unterscheidung ihrer Funktionen auch terminologisch sanktioniert wurde. Der Begriff "Gewalt" steht jedoch in der geltenden griech. Verf. weiterhin mit dem Funktionentrennungsprinzip in Verbindung, nachdem die "rechtsprechende Funktion" (Art. 26 Abs. 3) auch als "rechtsprechende Gewalt" bezeichnet wird (Art. 9 Abs. 1 und Überschrift des V. Abschnitts des ΙΠ. Teils). Es handelt sich dabei nicht nur um eine verfassungsrechtliche Reminiszenz, sondern auch um einen Versuch, mit der Bezeichnung "Gewalt" die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Funktion zu unterstreichen.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

der "sog. Gewaltenteilung" licher Machtausübung" 39.

als "Unterscheidung verschiedener

67

Zweige staat-

Diese notwendige formale Begründung der rechtlichen Einheit des Staates und die entsprechende Betrachtung der Gewaltenteilung als eines Verfassungsprinzips, d. h. als eines Grundsatzes zur Organisation der Funktionen und der Organzuständigkeiten40, ersetzen allerdings keineswegs die Notwendigkeit der Bezugnahme auf soziopolitische Analysen hinsichtlich der Einheit der Staatsgewalt, d. h. hinsichtlich ihrer materiellen und zwangsmäßigen Einheit im Rahmen einer Gesellschaftsformation. Denn soziopolitisch begründete Analysen zeigen, daß, auch wenn eine Vielfalt sozialer Kräfte existiert, in einem Staat letztendlich politische Einheit herrscht - eine Einheit, die die marxistische Theorie als Herrschaft eines Klassenbündnisses definiert. Ohne die Klarstellung dieser grundlegenden soziologischen Einheit können immer wieder Versuche einer "Neubestimmung" der Gewaltenteilung unternommen werden, unter Hinweis auf die angebliche soziale Vielfalt der Gewalten und die Notwendigkeit ihrer Einschränkung -, welche nur durch eine Neubestimmung der Gewaltenteilung möglich sei. Solche Ansätze41 verkennen jedoch, daß das Gewaltenteilungsprinzip (als normativ zu interpretierendes Funktionenordnungsprinzip) nur nach Maßgabe der Verfassung gilt und keine wirkliche Teilung der sozialen Macht widerspiegelt.

4. (Um-)Deutungsversuche

der Gewaltenteilung

Die Gewaltenteilung bestimmt das grundlegende Organisationsschema der Verfassungsordnung. Die Ursprünglichkeit und Rigidität42 des Prinzips geht aus seiner Stellung am Anfang der meisten Verfassungstexte hervor, so daß die nachfolgenden Verfassungsbestimmungen des staatsorganisatorischen Teils Anwendungen des Prinzips darstellen, d. h. Bestimmungen, die das Ge39

C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 127 (meine Hervorh.). So sind nach Hesse, "Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung (...) nur Mittel staatlichen Wirkens" - Grundzüge, Rnr. 481 ff. (501). 41 Dazu unten S. 68 ff., 87 ff. 42 Die Rigidität des Prinzips wird in der griech. Verf. besonders deutlich. Der die Gewaltenteilung betreffende Art. 26 - die erste Bestimmung des Teils "Organisation und Funktionen des Staates" - enthält eine Aufzählung und begründet eine Hierarchie der Funktionen (oben S. 61); außerdem ist die Unzulässigkeit einer Verfassungsänderung dieser Bestimmung ausdrücklich vorgesehen (Art. 110 Abs. 1). Zur entsprechenden Problematik in der Bundesrepublik (eine Verfassungsänderung des Grundsatzes der Gewaltenteilung ist unzulässig, denn sie würde den materiellen Kern der Verfassung berühren - Art. 79 Abs. 3 GG), vgl. Maunz/Dürig, Rnr. 48; Hesse, Grundzüge, Rnr. 703 f. 40

*

68

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

waltenteilungsprinzip konkretisieren bzw. Ausnahmen von diesem allgemeinen Organisationsschema begründen. Die strategische Bedeutung, die dieser Bestimmung zukommt, wird in ihrer Bezeichnung vom BVerfG als "tragendes Organisationsprinzip" der Verfassung43, d. h. als Strukturprinzip für die Gestaltung des Staatsapparats, deutlich. Daraus folgt, daß eine hermeneutische Neubegründung des Prinzips zum Zweck der Charakterisierung von Funktionen, die nicht in seine "begriffliche Dynamik"44 gehören, juristisch unzulässig ist. Die Anerkennung weiterer Funktionen oder eines staatlichen "ius eminens", woraus sich untypische Funktionen herleiten, würde zur Bildung eines Bereichs führen, in den die institutionalisierten Wirkungen und Gegenwirkungen der drei konstituierten Funktionen nicht eindringen könnten - eine Situation, die mit dem Organisationskodex der Verfassungen und mit dem demokratischen Prinzip nicht vereinbar wäre. Das Prinzip der Dreiteilung der Gewalten, deren Inhalt, Bedeutung und Definition wir anschließend untersuchen werden, ist wiederholt in Frage gestellt worden. So wurde behauptet, die "wirkliche Gewaltenteilung" existiere heutzutage im Machtverhältnis der politischen Parteien und insbesondere in der parlamentarischen Gegenüberstellung von Regierung und Opposition, denn eine Trennung zwischen gesetzgebender und vollziehender Funktion existiere in der Praxis nicht, und die Machtbegrenzung könne nur durch die ausgleichende Funktion der politischen Parteien und praktisch in der Stärkung der verfassungsrechtlichen Stellung der parlamentarischen Opposition gegen-

43 BVerfGE 3, 225, 247; E 34, 52, 59; vgl. etwa Hesse, Grundzüge, Rnr. 498: "Als Prinzip der Konstituierung, Rationalisierung, Stabilisierung und Begrenzung staatlicher Gewalt ist der Gewaltenteilungsgrundsatz das organisatorische Grundprinzip der Verfassung. " 44 Eine derartige Neubestimmung hält ζ. B. D. Τ satsos (Verfassungsrecht I A, S. 277 f. sowie: Verfassungsrecht Π, S. 140 ff.) für erforderlich; ders. ("Über die Herkunft", S. 39 ff) behauptet, das Gewaltenteilungsprinzip habe "von Locke bis heute (...) eine einheitliche Bedeutung" (ebda, S. 43), d. h. einen unveränderten begrifflichen Kern. Nach dieser Auffassung dient die Zielsetzung des Gewaltenteilungsprinzips, nämlich die Garantie der politischen Freiheit, als Auslegungsmaßstab, der Umstrukturierungen der Gewaltenteilung zuläßt, sofern sie seiner ratio entsprechen und die politische Freiheit durch eine jeweils effektive Machtbegrenzung sichern. Vgl. neuerdings einen entsprechenden Ansatz unter Berufung auf die "Logik der Gewaltenteilung" bei Habermas, S. 208 ff Zur Problematik der "neuen Formen der Machtbegrenzung" - d. h. der Tendenz, "mit Hilfe neuer Dimensionen die alte Gewaltenteilungsidee, Machtkonzentrationen (...) entgegenzuwirken, mit Rechtsinhalten wiederzubeleben, die (...) im Lichte des Balancierungs- und Kontrollsystems fruchtbar gemacht werden können" - vgl. ζ. B. Stern, Bd. Π, S. 546 ff (547) m. w. Hinw.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

69

über der politischen Handlungseinheit von Regierung und parlamentarischer Mehrheit erfolgen 45. Andere Lehrmeinungen gehen von einem logisch-dualistischen Schema der Gewaltenteilung aus, d. h. von der Trennung zwischen dem Treffen einer Entscheidung und ihrer Ausführung 46: "Tout sera loi ou application de la loi" 47 . In diesem Zusammenhang wird der rechtsprechenden Tätigkeit keine funktionelle Autonomie anerkannt; die Ablehnung ihrer funktionellen Eigenständigkeit beruht somit entweder auf der klassischen Ansicht, die Rechtsprechung sei materiell der vollziehenden Gewalt zuzuordnen48, oder auf den neuformulierten Interpretationsansätzen im Anschluß an die Theorie Kelsens, wonach die Rechtsakte sowohl Rechtserzeugung als auch -anwendung bedeuten49, und die Akte der Rechtsprechung dementsprechend eine Kombination der beiden Funktionen darstellen, indem sie gleichzeitig Rechtserzeugungs- und Rechtsanwendungsakte sind50. Weitere Stimmen in der Literatur schlagen ein Vierteilungsschema vor, indem sie innerhalb der vollziehenden Funktion die "politische Regierungsfunktion" von der "technischen Verwaltungsfunktion" unterscheiden. Somit wird eine Differenzierung vorgenommen, welche in die juristische Kategorisierung der Funktionen Maßstäbe einführt, die den Zweck und die politische Bedeutung der Rechtsakte betreffen 51,52. In ähnlichem Zusammenhang wurde in 45

Duverger, La monarchie républicaine, S. 119; zu dieser allgemein anerkannten Feststellung vgl. Gaudemet, S. 121 ff.; Gehring, S. 633 ff.; Ossenbühl, S. 546 f.; H.-P. Schneider, in: Benda u. a., Teil 1, S. 244 f.; ders., in: Merten, Gewaltentrennung, S. 84 ff.; D. Tsatsos, Verfassungsrecht I A, S. 238 f., 280 f.; Wenizelos, Vorlesungen, S. 292 f. 46 Diese Unterscheidung wurde schon im 14. Jh. von Marsilius de Padua in seinem "Defensor pacis" als die einzig mögliche dargestellt; bis ins 17. Jh. wurde sie in England und Schottland allgemein vertreten ÇModugno, S. 9 ff.; Riklin, S. 28); ähnlich ist die von Locke angenommene Grundunterscheidung zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt, wobei letztere auch die für außenpolitische Fragen zuständige "federative power" umfaßt (Nr. 143 ff.; S. 289 ff.). Dazu Modugno, S. 11 f. und ausführlich Silvestri, S. 250 ff. Vgl. aus juristischer Sicht Saint Girons, Essai, S. 1 ff., 276 ff.; ders., Manuel, S. 77 ff.; Burdeau, "Remarques", S. 213 ff.; Th. Tsatsos, Zur Geschichte, S. 51 f. m. w. Hinw. 47 Saint Girons, Manuel, S. 77. 48 Saint Girons, Essai, S. 135 f.; ders., Manuel, S. 515 ff.; Duguit, Traité, Bd. I, Aufl. 1911, S. 361 f.; Hauriou, Précis, S. 380; zu dieser in Frankreich verbreiteten Auffassung vgl. die Kritik von Carré de Malberg, Bd. I, S. 691 ff.; vgl. Troper, La séparation, S. 43 ff.; Verpeaux, S. 36 ff. 49 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 233 f. 50 Troper, "Fonction juridictionnelle", S. 7 ff. 51 S. etwa Modugno, S. 23 ff. m. w. Hinw.; vgl. die Darstellung und Kritik dieser Ansichten bei Biscaretti di Ruffla, S. 164 ff.

70

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Frankreich neuerdings die Auffassung vertreten, die Dreiteilung der Funktionen sei überholt, im Hinblick auf die sog. Autorités Administratives Indépendantes, die "unabhängige" Behörden darstellen und Schlichtungskompetenzen in politisch sensiblen Bereichen wie Handelswettbewerb, Börsengeschäfte, Bankkontrolle, Rundfunk und Datenschutz wahrnehmen 53 . Auch die Wiener Schule lehnt, aufgrund ihres Verständnisses der Rechtserzeugung, die Problematik der Funktionentrennung ab und betrachtet die drei Funktionen als Momente einer stufenweisen Abfolge der Rechtskonkretisierung im Rahmen eines einheitlichen Rechtserzeugungsprozesses und einer einheitlichen Rechtsordnung 54. Einige der genannten Aspekte des Versuchs einer "Modernisierung" oder "Korrektur" des Gewaltenteilungsprinzips können sich aus staatstheoretischer Sicht als fruchtbar erweisen. Das gilt vor allem für die Analysen über die politische Vereinheitlichung der gesetzgebenden und der vollziehenden Funktion in den zeitgenössischen parlamentarischen Demokratien, wodurch bestimmte 52

Zu weiteren Ansichten über eine Zwei- oder Vielteilung s. Achterberg, Probleme, S. 2; Cadart, S. 322 ff.; ein Fünfteilungsmodell hat Constant , De la liberté, S. 280 ff als "Berichtigung" der Dreiteilung vorgeschlagen. 53 Die Diskussion um die Frage, ob die Autorités Administratives Indépendantes in die vollziehende Gewalt einzuordnen sind oder ob sie eine "vierte Gewalt" bilden, stellt sich zwar als Infragestellen der klassischen Gewaltenteilung dar, bezweckt aber im Grunde genommen das Infragestellen des Monopols staatlichen Wirkens in bestimmten Bereichen und versucht den Eindruck eines Übergangs in eine Periode des "außerstaatlichen Konsenses" zur Konfliktlösung aufgrund eines "Minimums an Staat" und eines "Polyzentrismus" der Macht herzustellen. Auf diese Art und Weise versucht man, die Einheit der Staatsgewalt - und den letztendlich autoritären Charakter ihrer Entscheidungen - zu leugnen, unter Berufung auf die Ideologie des Pluralismus und das selbständige Wirken von Verwaltungsorganen - was von einem seiner Vertreter als "fille du mouvement perpetuel du marché" bezeichnet wurde (Cohen-Tanugi, S. 39; vgl. Schnapper, S. 102 ff). Vom juristischen Standpunkt aus - nach der überzeugenderen Lehrmeinung und der Rechtsprechung des Conseil d'Etat - sind die AAI Verwaltungsorgane; durch ihre Konstituierung wird die Struktur der Staatsgewalt nicht modifiziert, während die Einführung einer vierten Gewalt per Gesetz angesichts des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht möglich ist; dazu J.-P. Costa, S. 342 ff; Chapus, Droit administratif, S. 137 ff ; zur "konstruktiven Interpretation" seitens des Conseil constitutionnel s. ausfuhrlich Teitgen-Colly, S. 154 ff; zur ideologischen und politischen Dimension des Wirkens der AAI vgl. Pisier/Bouretz, S. 160 ff; Pisier, S. 69 ff; die Versuche einer Modifizierung des klassischen Gewaltenteilungsschemas mittels einer vom juristischen Neoliberalismus inspirierten Problematik des Polyzentrismus basieren auf soziopolitischen Überlegungen, die sich in einem dafür ungeeigneten juristischen Rahmen (in diesem Fall den verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Dreiteilung der Funktionen) durchzusetzen versuchen; dazu Widalis, in: Papachristou, S. 109 ff. 54

Zur Kritik der traditionellen Theorie von der Trennung der drei Funktionen s. insbes. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 231 ff, 248 ff; vgl. Th. Tsatsos, Zur Geschichte, S. 56 ff; Achterberg, Probleme, S. 33 ff; unter dem Einfluß der Kelsenschen Theorie lehnt Papalambrou die "Gewaltentrennungslehre" ab ("Der Begriff 1', S. 336 ff); vgl. Vezanis, S. 285 ff.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

71

Veränderungen in der Form der Ausübung von Staatsgewalt festgestellt werden und darauf hingewiesen wird, daß die Machtzentren nicht mit den geltendenrechtlichen Schemata der Kompetenzaufteilung identisch sind55. Auch die Auffassungen über die wesentliche Ähnlichkeit zwischen der vollziehenden und der rechtsprechenden Funktion, da beide Rechtsnormen auslegen und konkretisieren, sowie die Theorien über die Ähnlichkeit aller staatlichen Funktionen als Instanzen der Gestaltung der Rechtsordnung sind im Bereich der Rechtstheorie von Bedeutung. Diese Ansätze bedeuten allerdings entweder einen Versuch, die soziale Wirklichkeit aus der Machtausübung (bzw. aus der Machtaufteilung) heraus zu deuten, oder einen Versuch, die Rechtsnormen und ihr Verhältnis zu den Organen, die sie erlassen und anwenden, zu analysieren. In beiden Fällen können jedoch die staats- oder rechtstheoretischen Feststellungen nicht die normative Geltung des Gewaltenteilungsprinzips beeinflussen, welches keiner wissenschaftlichen Wahrheit entspricht, die Berichtigungen unterliegt. Genauso inakzeptabel wäre eine vollständige Ablehnung des Gewaltenteilungsprinzips - wie es in der Kelsenschen Perspektive der Fall ist -, denn sie verkennt die juristische Bedeutung und die Wirkungen des Prinzips und begnügt sich mit der Beschreibung der Kompetenzaufteilung zwischen den staatlichen Organen: Sie nimmt an, daß jedes Organ für die Aufgaben zuständig ist, die ihm von Verfassungs wegen zugewiesen sind, wobei davon ausgegangen wird, das Gewaltenteilungsprinzip beeinflusse diese letzendlich "zufällige" Aufteilung in keinerlei Hinsicht56. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist jedoch ein vom Verfassunggeber festgelegter Grundsatz der Organisation der Staatsgewalt und ist somit weder ein Ausdruck für die Transformationen der sozialen Struktur und die Mechanismen der Ausübung der Macht, noch ein Erklärungsschema für die Wesensmerkmale der Rechtsnormen. Aus diesem Grund sind Neubegründungen und Neubestimmungen des Gewaltenteilungsprinzips nicht zulässig, sofern sie auf Argumenten außerhalb des geltenden Rechts beruhen, und dürfen nicht als Korrektur eines juristischen Prinzips dargestellt werden, d. h. sie müssen von der juristischen Untersuchung getrennt werden. Ein Infragestellen der autonomen Gestaltung und der inneren Konsistenz der drei Funktionen, die in den Verfassungen der untersuchten Länder vorgesehen sind, ist ein Zeichen von Soziologismus in der Rechtsauslegung57, d. h. ein Versuch der Berichtigung

55

Vgl. etwa Poulantzas, L'Etat, S. 170 ff., 241 ff.; H äußermann, passim. So ζ. B. der Anhänger der Kelsenschen Auffassung Papalambrou, "Der Begriff 1', S. 370. 57 Zur Kritik s. ζ. B. Böckenförde, Staat, S. 71 ff. 56

72

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

des Rechts aufgrund von Auffassungen über das gesellschaftliche "Sollen" 58 . In den folgenden Ausführungen werden die Parameter der Trennung der Funktionen in ihrer rechtlichen Dimension untersucht, ohne Einführung soziologischer Deutungen, welche das Recht an die Wirklichkeit bzw. die Vorstellungen der Verfassungsinterpreten anzupassen versuchen 59.

5. Die Gewaltenteilung als Theorie der Funktionenunterscheidung und -trennung 60 Die Theorie der Funktionenunterscheidung und -trennung, eine Bezeichnung, die die sog. Gewaltenteilung präzise definiert, beinhaltet zwei Regeln für die Organisation und Ausübung der Staatsgewalt61. Diese Regeln wurden 58 Problematisch ist daher der Ansatz von Gehring, S. 633, die Auslegung des Gewaltenteilungsprinzips einer Verfassung sei "zeitbedingt" und von "Veränderungen der politischen Machtlage und der sozialen Verhältnisse" abhängig. 59 Zu dieser "beabsichtigten Subjektivität" s. oben S. 37 ff. 60 Indem sie auf die Feststellung der Rechtsnatur der Gnade abzielen, sind die nachfolgenden Ausführungen zur Gewaltenteilungslehre in zweifacher Hinsicht begrenzt: Erstens werden hier keine weiteren machtteilenden Aspekte untersucht, die in einer Rechtsordnung parallel zur Gewaltenteilung verlaufen (wie ζ. B. die Kompetenzverteilung in bundesstaatlich ausgebauten Staaten). Zweitens wird die organisatorische Verbindung der Organe mit den verschiedenen Mitwirkungs- und Kontrollkompetenzen, welche die Balancierung der Gewalten und die Verwirklichung der Gewaltenteilung garantieren (personelle Trennung, Inkompatibilitäten, Ernennung und Abberufung der Staatsorgane, Hierarchisierung der Gewalten durch die Nonnenhierarchie, Balancierung innerhalb jeder einzelnen Gewalt usw.) ausgeklammert; dieser Aspekt steht nicht in direktem Zusammenhang mit dem Begriff und der Trennung der Funktionen, die uns hier interessieren; er wird im Organisationsteil des Verfassungsrechts behandelt und zeigt, daß eine vollständige Untersuchung der Gewaltenteilung das Funktionieren der gesamten Staatsgewalt analysieren muß. Prinzipien wie das parlamentarische System oder die Unabhängigkeit der Rechtsprechung bedeuten in dieser Hinsicht spezielle Ausprägungen der Gewaltenteilung, d. h. Konkretisierungen der verfassungsrechtlichen Mechanik; daß aus diesen Verbindungen allzuoft eine "Aufhebung" der verfassungsrechtlich garantierten Gewaltenteilung abgeleitet wird (s. die Übersicht bei Kimminich, S. 31 ff.), ist auf die Mißdeutung der Gewaltenteilung als einer Unterscheidung zwischen isolierten "Sphären" zurückzuführen, die die Evidenz ignoriert, daß die Zusammenarbeit und die Interaktion keine Vermengung der jeweiligen Kompetenzbereiche und Arbeitsmodi impliziert. 61 Der Begriff Gewaltenteilung ist höchst umstritten und es existieren berechtigte Bedenken hinsichtlich seiner Genauigkeit (ζ. B. Achterberg, Probleme, S. 109 ff.), obwohl ihn das Schrifttum zum Zweck der Verständigung weiterhin benutzt. Weil jedoch hinter der Terminologie Meinungsverschiedenheiten in bezug auf den Sinn und die Geeignetheit der Theorie festzustellen sind, ist nicht die Suche nach dem "besten" Terminus sondern die Richtigkeit der Analyse entscheidend. Hier wird der Begriff Gewaltenteilung als umfassende Bezeichnung der juristischen und politischen Theorie gebraucht, während bei der theoretischen Bestimmung der zwei Regeln der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Gewaltenteilung die Begriffe Funktionenunterscheidung

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

73

von der Verfassungstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts im Rahmen der Lehre der Staatsfunktionen herausgearbeitet und werden der Bedeutung gerecht, die in den Verfassungen der untersuchten Rechtsordnungen dem Prinzip der Funktionenunterscheidung und -trennung62 zugemessen wird. Diese Theorie ist zwar nicht einheitlich, widerspruchslos und vollständig, sie ist aber für die Interpretation des Verfassungsprinzips der Gewaltenteilung geeignet. Die Regeln, die im folgenden dargestellt werden, wurden in dieser Form in der Lehre nicht formuliert; nicht anzutreffen ist in der Lehre insbesondere die Unterscheidung zwischen absoluter und tendenzieller Gewaltenteilung, hier analysiert wird, um den Irrtum der herrschenden Betrachtungsweise zu vermeiden: Es wird nämlich meistens betont, daß das "Schema" der Dreiteilung "nirgends rein verwirklicht ist" 63 , so daß es sich um "kein absolut grundlegendes verfassungsrechtliches Gebot" handeln könne64. Die Auffassung eines Gegensatzes zwischen Idealtypischem und Pragmatischem65, die davon ausgeht, daß es einerseits eine reine, wirklichkeitsfremde Theorie und andererseits eine realistische, anpassungsfähige Anwendungsform gibt, kann nicht akzeptiert werden. Die "absolute" Gewaltenteilung - so wie der Begriff hier verstanden wird, d. h. als Gliederung der staatlichen Akte in drei Kategorien ist in der Verfassung verankert und ist die notwendige Voraussetzung für die Gewaltenteilungslehre überhaupt, denn sonst gäbe es allein die - ohne normative Kriterien - jeweils "real existierende" Kompetenzaufteilung. Der Gegensatz von "Idee" und "Wirklichkeit" läßt, darüber hinaus, die Anwendung der Gewaltenteilung als nicht rein erscheinen, d. h. er entspricht einer juristisch

und Funktionen(träger)trennung verwendet werden; die Begriffe Funktionenunterscheidung und Funktionentrennung gebraucht Herzog, Art. 20, V, Rnr. 14 f. zur Unterscheidung des funktionalen vom organischen Aspekt der Gewaltenteilung (zur Benutzung ähnlicher Termini in der älteren Lehre s. Kimminich, Anm. 85 auf S. 35 f.). 62 Dazu statt aller Laband, Bd. Π, S. 172 ff; zur Gewaltenteilung s. aus der neueren Literatur Th. Tsatsos, Zur Geschichte, passim; die Beiträge in: Rausch, bes. Hahn, S. 446 ff; Herzog, Art. 20, V, Rnr. 37 ff; Achterberg, Probleme, passim; Zimmer, passim; Stern, Bd. Π, S. 513 ff; Hesse, Grundzüge, Rnr. 476 ff; die Beiträge von Zippe lius, Mass und Schneider, in: Merten, Gewaltentrennung; Troper, La séparation, passim; Flantz, in: Seurin, S. 91 ff; Fleiner-Gerster, S. 360 ff; Chantebout, Droit, S. 101 ff; Cadart, S. 109 ff, 306 ff; Burdeau/Hamon/Troper, S. 127 ff; Chevallier , "La séparation", S. 113 ff.\Modugno, passim; Baratta , "Divisione", S. 123 ff ; Biscaretti di Ruffìa , S. 163 ff ; Manessis, Die Garantien, Bd. Π, S. 350 ff ; D. Tsatsos, Verfassungsrecht Π, S. 129 ff; Wenizelos, Vorlesungen, S. 282 ff. 63 BVerfGE 3, 225, 247; E 34, 52, 59. 64 H Peters, S. 23. 65 Etwa C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 187; Stern, Bd. Π, S. 526; Zippelius, S. 304 f. m. w. Hinw.

die

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

nicht angebrachten Interpretation der verfassungsrechtlichen Gestaltung des staatlichen Handelns mit unzulässigen Konsequenzen66. Unsere Unterscheidung zwischen zwei Regeln der Funktionenlehre zeigt, daß die sogenannten Durchbrechungen nichts anderes als Folgen der tendenziellen Gewaltenteilung - d. h. der Funktionen(träger)trennung - sind; die tendenzielle Gewaltenteilung beeinträchtigt nicht die absolute, sondern existiert neben und mit ihr. Diese Kodifizierung ist gewiß nicht die einzige. Andere Kodifizierungen des Inhalts der Gewaltenteilungslehre - wie etwa die Unterscheidung zwischen Gewaltentrennung und Gewaltenbalancierung67 oder die Formulierung von zwei "Prinzipien der Gewaltenteilung" (Spezialisierung der Organe einerseits und Unabhängigkeit der Organe andererseits)68 - verkennen jedoch, daß die wesentliche Frage die Unterscheidung der Funktionen ist, d. h. die Bezeichnung und Klassifizierung der staatlichen Akte. Anstatt diese Frage zu untersuchen, werden Durchbrechungen beider Prinzipien festgestellt, mit dem Hinweis auf die "realistische" Anwendung der Theorie oder auf die Notwendigkeit ihrer Ablehnung. Wie im folgenden zu zeigen ist, sind Spezialisierung und Unabhängigkeit, bzw. Gewaltentrennung und -balancierung lediglich zwei Aspekte der per definitionem tendenziellen Funktionen(träger)trennung.

a) Funktionenunterscheidung Die hier aufgestellte Theorie stellt als erstes die Regel der Aufteilung des staatlichen Handels in drei große rechtliche Kategorien-Funktionen auf. Demnach läßt sich jeder Rechtsakt seinen Merkmalen entsprechend in eine der drei Funktionen einordnen, d. h. nach dem Kriterium seiner Ähnlichkeit mit dem "wesenstypischen Akt" jeder Funktion. Die erste Regel der Funktionenlehre hat absoluten Charakter, vorausgesetzt, daß von der Theorie ein über66 Das ist bei der Rechtsprechung des BVerfG der Fall (E 9, 268, 279 ff.; E 30, 1, 27 f.; E 34, 52, 58 ff.), die sich auf die "ratio der Gewaltenteilung" einerseits und die Unantastbarkeit des "Kernbereichs" jeder Funktion andererseits bezieht (dazu ausführlich Stern, Bd. Π, S. 541 ff. m. w. Hinw.). Auf diese Weise erfolgt eine zweifache Verzerrung der Gewaltenteilungskonzeption: Einerseits eine begriffliche Erweiterung, wonach ζ. B. die die Gewaltenteilung gestaltenden Verfassungsnormen an dem angeblich reinen Modell gemessen und eventuell als "gewaltenteilungwidrig" erklärt werden könnten; andererseits eine Reduzierung auf den Schutz des Kernbereichs, wodurch per Gesetz Durchbrechungen der verfassungsrechtlichen Gewaltenteilung ermöglicht werden könnten. 67 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 186 ff.; Hesse, Grundzüge, Rnr. 477 ff. 68 Troper, La séparation, passim; ders., "Montesquieu", S. 578 ff.; Burdeau/Hamon/Troper, S. 127 f.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

75

zeugendes, nachvollziehbares Kriterium für die Einordnung jedes Rechtsaktes in eine dieser Kategorien aufgestellt wird. Diese Regel ermöglicht die Einordnung jedes Rechtsaktes in eine einzige der drei Staatsfunktionen. Es handelt sich um den materiell-objektiven 69 Aspekt der Funktionenlehre, der als Funktionenunterscheidung zu bezeichnen ist, weil er zuerst die staatlichen Funktionen unterscheidet und definiert und anschließend die staatlichen Akte in drei Kategorien einordnet, je nach der Funktion, zu der sie immanent gehören. Die Existenz materieller Funktionen geht nicht nur aus den theoretischen Überlegungen über die Unterscheidung zwischen dem materiellen und formellen Begriff der Rechtsakte70 hervor; sie ist auch in den Verfassungen garantiert, im Rahmen der Bestimmungen, welche die Gewaltenteilung gestalten. Das ist den Bestimmungen zu entnehmen, die eine Funktion (deren Charakter als gegeben vorausgesetzt wird) staatlichen Organen anvertrauen, die auf diese Weise zum Funktionen(haupt)träger werden und den Namen der entsprechenden Funktion tragen. So bezieht sich das GG auf "Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" (Art. 20 Abs. 2). Daß der Verfassunggeber die Existenz der Funktionen voraussetzt und sie anschließend den Organen zuweist, wird in Art. 92 GG deutlich ("Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut"): Diese Bestimmung ist sinnvoll, nur wenn man davon ausgeht71, daß eine materiell bestimmte rechtsprechende Funktion existiert, die grundsätzlich (d. h. abgesehen von verfassungsrechtlichen Ausnahmen) von den Gerichten als Hauptträger ausgeübt wird. Um es anders - theoretisch - auszudrücken, ist die Unterscheidung der Staatsfunktionen im formellen und im materiellen Sinne, sowie ihre Einordnung in die Gewaltenteilungslehre, eine innere Notwendigkeit dieser Lehre, denn würde man annehmen, der Verfassung sei keine Definition der einzelnen Funktionen zu entnehmen, so hätte sie keinen Inhalt und keine Zweckmäßigkeit. In diesem Fall könnte sich der Gesetzgeber den Erlaß von Rechtsakten aller Funktionen vorbehalten und darüber hinaus nach seinem Ermessen festlegen, was als Vollziehung bzw. als Rechtsprechung gelten soll. In einem solchen Fall wäre jede Kontrolle der Einhaltung der Gewaltenteilung, d. h. die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Kompetenzausübung seitens der verschiedenen Staatsorgane, unmöglich. Es wurde zutreffend festgestellt, daß "ein rein 69

Zu den Begriffen materiell-objektiv und formell-subjektiv, die die Unterscheidung zwischen den zwei Formen der Gewaltenteilung wiedergeben, vgl. etwa Modugno, S. 20 ff.; Biscaretti di Ruffia, S. 163, 167; Manessis, Die Garantien, Bd. Π, S. 352, 358. 70 Dazu ausführlich Böckenförde, Gesetz, S. 226 ff.; Starck, Der GesetzesbegrifT, S. 24 ff., 91 ff.; Achterberg, Probleme, S. 12 ff. 71 So richtig BVerfGE 22, 49, 73; vgl. etwa Heyde, in: Benda w. a., Teil 2, S. 1203 f.

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

formeller Funktionenbegriff - nach dem etwa alles Rechtsprechung ist, was der Richter tut - die vom Grundgesetz [und den meisten Verfassungen Europas D. D.] erstrebte 'Gewaltenteilung' nicht ermöglicht" 72 ; trotzdem ist diese Auffassung der Deckungsgleichheit des Formellen mit dem Materiellen, die als Organizismus zu bezeichnen ist und die C. Schmitt für eine "logisch(e) Taschenspielerei" hielt 7 3 , bei allen "Dekonstruktionen" der Gewaltenteilung anzutreffen 74 und scheint in der Frage der Rechtsnatur der Gnade die herrschende Meinung zu sein 75 . Im Rahmen der Lehre über die materiellen Funktionen treten die größten Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten bei der Aufstellung eines Kriteriums für den Begriff der rechtsprechenden Funktion auf, denn die entsprechenden Rechtsakte werden, wie wir gesehen haben 76 , oft für Exekutivakte (Vollziehung des Willens des Gesetzgebers bei der Anwendung des Rechts durch den Richter) oder für Legislativakte (bei der Anwendung der gesetzten Rechtsnormen - bzw. unter dem Vorwand ihrer Anwendung - gestaltet der Richter neue Rechtsnormen) 77 gehalten, oder sie werden als gleichzeitig vollziehende und gesetzgebende Akte bezeichnet.

72 Achterberg, Probleme, S. 115 m. w. Hinw.; vgl. Ule, S. 628; vgl. bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 609, 614 f. 73 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 151; als "naiv" hatte Jellinek (Allgemeine Staatslehre, S. 609) die Gleichsetzung von Organtätigkeit mit Staatsfunktion bezeichnet. 74 Zu den Versuchen einer "Dekonstruktion" der Gewaltenteilungslehre - die sich in der Verneinung der Existenz materieller Funktionen einig sind - zählt auch die Abhandlung von Zimmer, wo der Bereich jeder Gewalt aufgrund der ihr verfassungsrechtlich zugewiesenen Kompetenzen umrissen wird und schließlich die Zusammensetzung, /die Kompetenzen und die Legitimierung der einzelnen Gewalten beschrieben werden: Es handelt sich also um eine tautologische und empiristische Verwechslung der Kompetenzen jeder Organgruppe mit der entsprechenden Funktion (S. 205 ff.; vgl. schon Modugno, S. 40 ff.). Die aus formallogischer Sicht formulierte Kritik an der Funktionenlehre ist berechtigt, sofern sie von einer apriorischen und tautologischen Definition der Funktionen abrät; sobald sie aber zur völligen Ablehnung der Lehre führt, vermag sie nicht die obengestellte Frage zu beantworten, wie es allein durch Bezugnahme auf die Organe und auf die Beschreibung ihrer Kompetenzen möglich ist, das verfassungsrechtliche Prinzip der Gewaltenteilung einzuhalten. 75 Dazu unten S. 115 ff. 76 Oben S. 69 f. 77 Auf diese Analyse stützt sich auch die zeitweise aufkommende Besorgnis einer "Regierung der Richter", besonders angesichts der Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die - dieser Auffassung nach - die Auflösung der Bindung des Richters an das Gesetz institutionalisiert hat; dazu Lambert, passim; C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 19 ff.; Marcic, passim; hinsichtlich einer justizstaatlichen Entwicklung vgl. die strenge Kritik von Forsthoff\ Rechtsstaat, S. 243 ff. und de Lacharrière, S. 133 ff.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

77

Das Definitionsproblem der rechtsprechenden Gewalt kann aber gelöst werden, wenn ein materiell-historisches Kriterium entwickelt wird, das die wesenstypischen Charakteristika eines Rechtsaktes mit der historisch herausgebildeten Arbeitsweise jedes Teils des Staatsapparates kausal verbindet. Es handelt sich um die Definitionsmethode, die man als dialektisch bezeichnen könnte, denn sie stützt sich bei der Definition des Funktionsbegriffs und des Unterschieds zwischen den Rechtsakten verschiedener Funktionen nicht auf die "ideellen" Charakteristika der Akte, sondern auf die Praxis deijenigen Organe, die diese Akte in der Regel erlassen. Dieses Kriterium, das auch die relative Autonomie der Funktion gegenüber dem Organ berücksichtigt, soll im folgenden verdeutlicht werden78 bei der Bestimmung des Begriffs der rechtsprechenden Funktion in bezug auf die Rechtsnatur des Gnadenaktes.

b) Funktionen(träger)trennung Im Gegensatz zum absoluten Charakter der Funktionenunterscheidung hat die zweite Regel der Funktionenlehre, d. h. ihr formell-organischer Aspekt, relativen Charakter, indem sie eine Tendenz der Organisation der Staatsgewalt darstellt, d. h. eine grundsätzlich geltende Regel der Aufteilung der Macht zwischen den drei Gruppen staatlicher Organe. Nach dieser Regel werden die drei staatlichen Funktionen, die gemäß der Funktionenunterscheidung definiert werden, von drei Organgruppen wahrgenommen, wobei jede Gruppe den Namen der entsprechenden Funktion trägt. Es handelt sich nach Art. 20 Abs. 2 GG um "besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung". Diese drei Organgruppen konstituieren sich anhand: a) des Spezialisierungsprinzips: Angesichts der verfassungsrechtlichen Bestimmungen betreffend die Gewaltenteilung darf jede Organgruppe nur diejenigen Zuständigkeiten wahrnehmen, die zu ihrer Funktion gehören; b) des Unabhängigkeitsprinzips'. Das Unabhängigkeitsprinzip ist die notwendige Ergänzung des Spezialisierungsprinzips und garantiert, daß die Organe eine wirkliche Autonomie bei der Gestaltung der Rechtsakte ihrer Funktion haben, daß sie also nicht unter der absoluten Kontrolle durch Organe anderer Funktionen stehen, was die Gewaltentrennung auf ein rein formelles Prinzip reduzieren würde. Die Bestimmungen des die Staatsorganisation betreffenden Teils der Verfassung regeln die Ernennung und Zusammensetzung der Organe sowie die Garantien der Unabhängigkeit und Autonomie jeder Or78

Vgl. unten S. 132 ff

78

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

gangruppe. Sie stellen in dieser Perspektive eine Konkretisierung der Gewaltenteilung dar, die somit zur organisatorischen Grundlage der Verfassung wird 79 . Die Zuweisung der Funktionen an unabhängige Organe, d. h. die Funktionen(träger)trennung, hat jedoch keinen absoluten Charakter. Ausnahmen von dem Prinzip der Unabhängigkeit werden durch die institutionelle Verflechtung der Organe80 eingeführt. Diese wechselseitige Abhängigkeit und Wechselwirkung der Funktionen kann zusammengefaßt werden unter dem Begriff der Balancierung und Zuordnung der Gewalten, die auf die Machthemmung und kontrolle 81 abzielt und eine institutionelle Relativierung des Gebots der Funktionen(träger)trennung bedeutet; angesichts des Grundsatzes der Gewaltenteilung ist sie nur insofern und in dem Maße zulässig, als sie in der Verfassung vorgesehen ist. Das Prinzip der Unabhängigkeit der drei Organgruppen wird demnach von der Verfassung selbst relativiert, und diese Tatsache erklärt die Hierarchie der Organe und der Geltung der Rechtsnormen, je nach Grad und Art der Ausnahme vom Prinzip der Unabhängigkeit. Auf diese Weise läßt sich auch die an der Gewaltenteilung geübte Kritik widerlegen, sofern sie die Geltung der Funktionenlehre in Frage stellt, weil in der Praxis eine Zusammenarbeit und, vor allem, eine Hierarchie der Organe existiert. Diese Elemente der Balancierung der Gewalten aufgrund ihrer institutionellen Verflechtung sind in allen Verfassungen anzutreffen und systematisch zu interpretieren als - angesichts der Einheit der Staatsgewalt notwendige - verfassungsrechtliche Ausnahmen von der Autonomie jeder Organgruppe. Diese Ausnahmen heben jedoch die grundsätzliche Unabhängigkeit der Organgruppen und ihre Möglichkeit, im Bereich ihrer Zuständigkeiten in hohem Maße selbstständige Entscheidungen zu treffen, nicht auf. Ausnahmen kennt aber auch das Prinzip der Spezialisierung -was im Hinblick auf die Untersuchung der Rechtsnatur der Gnadenentscheidung von größerem Interesse ist. Dies gilt für die Fälle, in denen die Verfassung den Orga79 Ein Zeichen der grundlegenden Bedeutung der Gewaltenteilung besteht darin, daß die meisten Lehrbücher des Verfassungsrechts den Lehrstoff nach diesem Prinzip gliedern. 80 Beispiele der Verflechtung im GG sind die Angewiesenheit des Bundeskanzlers (und der Regierung) auf das Vertrauen des Bundestages (Art. 63, 64 Abs. 1, 67 Abs. 1 GG) oder die Zuständigkeit des Bundespräsidenten, auf Vorschlag des Bundeskanzlers unter den Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 GG den Bundestag aufzulösen; dementsprechend sind die Organe der gesetzgebenden oder vollziehenden Gewalt für die Wahl der Richter des BVerfG und die Berufung der Richter der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zuständig (Art. 94 Abs. 1, 95 Abs. 2). 81 Statt vieler Hesse, Grundzüge, Rnr. 492 ff.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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nen einer Funktion die Ausübung von Kompetenzen anvertraut, die materiell zu einer anderen Funktion gehören (Funktionenverschränkung* 2). So gewährt das GG dem Bundestag und dem Bundesrat die Kompetenz, den Bundespräsidenten unter den Voraussetzungen des Art. 61 Abs. 1 vor dem BVerfG anzuklagen und ihre Beauftragte mit den Aufgaben des Staatsanwalts zu betrauen. Die Möglichkeit, daß die Bundesregierung, die Bundesminister oder die Landesregierungen durch Gesetz ermächtigt werden können, Rechtsverordnungen zu erlassen (Art. 80 Abs. 1 GG), bedeutet ein Betrauen von Organen der vollziehenden Funktion mit gesetzgebenden Kompetenzen; es handelt sich also um eine in der Verfassung vorgesehene Ausnahme von dem Verbot der Übertragung gesetzgebender Aufgaben an Organe anderer Funktionen 83 . Die Möglichkeit der Relativierung des Gewaltenteilungsprinzips durch Funktionenverschränkung ist allerdings nicht unbeschränkt, denn das Prinzip gilt im Regelfall, während Ausnahmen nur aufgrund einer ausdrücklichen Bestimmung - oder Gesetzesermächtigung - der Verfassung eingeführt werden können. Mit anderen Worten begründet die Garantie des Gewaltenteilungsprinzips eine Kompetenzvermutung'. Die Organe jeder Funktion sind für die Wahrnehmung der dieser Funktion entsprechenden Tätigkeiten zuständig. Wie treffend formuliert wurde, existiert "ein prinzipielles Verbot der Wahr-

82

Der Begriff "Funktionenverschränkung" wird im folgenden gebraucht, um das Phänomen zu bezeichnen, das Achterberg präzise definiert hat als "Verzahnungen funktioneller Natur", die vorhanden sind, "wenn eine Staatsfunktion im formellen Sinne eine andere Staatsfunktion im materiellen Sinne ausübt" (Probleme, S. 113). Aus diesem Schema gehen hervor "nove classi di attività statuali, risultanti dal prodotto dei poteri (tre) per le funzioni (tre)" (Modugno , S. 23). 83 Hesse stellt fest, daß es sich hier nicht um eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsatzes handelt (Grundzüge, Rnr. 525). Der Grund ist allerdings nicht, wie er behauptet, daß der Bundestag in diesem Fall "das Grundlegende regelt" und in der Lage ist, "die Handhabung der Ermächtigung (...) zu kontrollieren und Regelungen zu treffen, die das von der vollziehenden Gewalt gesetzte Recht (...) aufheben" (ebda). Der wirkliche Grund ist nicht der abhängige und auf die Regelung der Einzelheiten beschränkte Charakter der Übertragung - außerdem erfolgt gemäß anderen Verfassungen die Übertragung von Kompetenzen der Legislative an die Exekutive ohne Zustimmung des Parlaments, während die von der Exekutive erlassenen "gesetzgeberischen Akte" unmittelbare Wirkung haben, wobei das Parlament nur nachträglich entscheiden kann, ob es die Akte genehmigen oder "für die Zukunft außer Kraft" setzen wird (so Art. 44 Abs. 1 griech. Verf.); in solchen Fällen ist eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht denkbar, weil die Kompetenzenübertragung eine in der Verfassung vorgesehene Ausnahme von dem Spezialisierungsprinzip der Organe darstellt; somit wird die grundsätzliche Zuständigkeit der gesetzgebenden Organe für die Gesetzgebung und das grundsätzliche Verbot ihrer Übertragung (ein Verbot, das vom GG, der griech. und der franz. Verfassung indirekt abzuleiten ist, während es in der ital. Verfassung ausdrücklich vorgesehen ist - Art. 76) bestätigt. Demnach wird auch die Geltung des Spezialisierungsprinzips und der Funktionen(träger)trennung bestätigt, die, wie bereits festgestellt, nur tendenziell gilt, d. h. von Verfassungs wegen Ausnahmen zuläßt, die aus diesem Grund keine Durchbrechungen darstellen.

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

nehmung oder Zuweisung von Funktionen, die der Struktur des Organs und der von ihm wahrzunehmenden Grundfunktion nicht entsprechen" 84.

Festzustellen ist demnach eine Tendenz der Deckungsgleichheit des materiell-objektiven und des formell-subjektiven Aspekts der Gewaltenteilung, oh ne daß sich in der Praxis beide Aspekte völlig decken können. Im Gegensatz zur absoluten Funktionenunterscheidung gilt die Funktionen(träger)trennung in der Praxis tendenziell, d. h. nur als Neigung zur absoluten Geltung. Diese Tendenz, die man "Gesetz der Gewaltenteilung" nennen könnte, ist im formellen Sinne als Konsequenz des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewaltenteilung zu interpretieren, im materiellen Sinne ist sie jedoch als politische Forderung zu verstehen. Sie ist Ausdruck der Forderung nach institutioneller Verhinderung des Absolutismus, der Forderung, daß die Gewaltenteilung an praktischer Bedeutung gewinnen muß, um die Machthemmung und -kontrolle effizient zu gewährleisten. Wenn die Funktionenunterscheidung keine Entsprechung auf der Ebene der Organgruppen findet, wird sie reduziert auf ein Gebot der Vielfalt der Organe und Funktionen ohne bestimmten Rechtstatus und ohne konkrete Rechtswirkungen, wobei vernachlässigt würde, daß ein von der Verfassung anerkannter Verantwortungsbereich jeder Organgruppe existiert. Diese politische Forderung hat ihr rechtliches Pendant in dem bereits erwähnten Entsprechungsgebot zwischen Funktionen und Organen, woraus die Tendenz der absoluten Geltung der Funktionen(träger)trennung resultiert 85.

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Hesse, Grundzüge, Rnr. 489. Bezüglich der Gründe, warum das Gebot der Funktionen(träger)trennung nur als Tendenz verwirklicht ist, gibt es mehrere Interpretationsebenen. Die Ausnahmen von dem Unabhängigkeitsprinzip der Organe sind auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und wechselseitiger Kontrolle der Organe der einheitlichen Staatsgewalt zurückzuführen. Dies bringt die berühmte Formulierung Montesquieus zum Ausdruck: Wenn die Gewalten in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen, "elles seront forcées d'aller de concert" (Buch XI, Kap. VI; S. 302). Die Ausnahmen von dem Spezialisierungsprinzip sind formell auf die Bestimmungen, d. h. auf den "Willen" des Gesetzgebers zurückzuführen, während sie gerechtfertigt sind aus Gründen politischer, ideologischer oder technischer Effizienz bei der Ausübung bestimmter Kompetenzen; diese Gründe sind von Fall zu Fall festzustellen (die gerichtlichen Aufgaben der Organe der Gesetzgebung im Falle der Anklage des Bundespräsidenten erklären sich ζ. B. aus der politischen Bedeutung der Anklage, die mit einem strafrechtlichen Prozeß nur formelle Gemeinsamkeiten hat). In bezug auf die Begnadigung s. unten S. 568 ff., 576, 586 ff. 85

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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6. Die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung: weder Essentialismus noch Ausdehnungsfähigkeit (Funktion und Grenzen der "historischen" Betrachtung) Darüber hinaus sind einige Bemerkungen erforderlich, die bei der Beurteilung des Gewaltenteilungsprinzips und seiner Einordnung in den Rahmen der juristischen Interpretation hilfreich sind. Als erstes ist auf folgendes hinzuweisen: Die Gewaltenteilung ist weder eine institutionell-praktische Anwendung der "Entdeckung" eines politischen Denkers (sei es Aristoteles, Locke oder Montesquieu), noch die Anwendung einer "goldenen Regel" der politischen Organisation oder einer allgemeingültigen philosophischen Wahrheit, welche aus der theoretischen Betrachtung des Problems der Macht hervorgegangen und zur Lösung einer - für jede verfassungsrechtliche Ordnung notwendigen - Teilung der Gewalten gelangt ist. Eine derartige von der Verbindlichkeit des Gewaltenteilungsprinzips ausgehende Konzeption findet zum ersten Mal ihren Ausdruck in Art. 16 der franz. Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1789: "Eine Gesellschaft, in der (...) die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung." In dieser Bestimmung erscheint die Gewaltenteilung als ein überhistorisches Prinzip mit einheitlicher Bedeutung86 und als Maßstab für die Richtigkeit bzw. Akzeptanz jeder künftigen Verfassung. Ein solcher essentialistischer Ansatz - der unter anderem zur Sakralisierung der Auffassung Montesquieus als Regel der Gewaltenteilung fuhrt - ist geschichtlich nicht bestätigt: Er wird von der festgestellten Polymorphie der staatlichen Organisation in verschiedenen Geschichtsperioden widerlegt. Auch wenn der Verfassunggeber das Gewaltenteilungsschema aufgreift, ist er frei, die tendenzielle Funktionen(träger)trennung auf besondere Weise zu gestalten, indem er die Verflechtungen und die Balancierung der Gewalten auf besondere Weise regelt. Aus historischer Sicht kann man daran erkennen, daß das Gewaltenteilungsprinzip, wie auch andere Organisationsprinzipien und Grundrechte, "vor-konstitutionellen" Charakter haben: Sie existierten schon vor der Verabschiedung der zeitgenössischen Verfassungen und gehören zum Gedankengut der Verfassunggebungs- und -anwendungspraxis; der Verfassunggeber hat dieses Gedankengut im Verfassungstext festgeschrieben, weil es ihm vom politischen Kräfteverhältnis vorgeschrieben wurde; der Verfassunggeber ist rechtlich jedoch nicht verpflichtet, dieses Gedankengut zu übernehmen, und

86 Kritisch dazu Troper, La séparation, S. 109 ff.; der s., "L'interprétation de la Déclaration", S. 117 ff.; vgl. Hesse, Grundzüge, Rnr. 478 ff.

6 Dimoulis

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

eine Verfassung, die von dieser Tradition abweicht, ist nicht "rechtswidrig: Die geschichtlich einmaligen, normativen Aussagen der Verfassung werden von diesem Gedankengut nicht determiniert. Bei den Denkrichtungen, die von moralischen oder naturrechtlichen Positionen ausgehen, beeinflußt hingegen die Anerkennung der geschichtlich-politischen Prägung der Verfassung die juristische Interpretation 87; es handelt sich um eine verbreitete Denkweise, die eine imaginäre Kausalität postuliert, indem sie bestimmte Ereignisse, Entwicklungen und Eigenschaften mit institutionellen Folgen verbindet, die in Wirklichkeit in keinem kausalen Zusammenhang stehen88. Diese Denkweise (da der Verfassunggeber von einem relativ unbestimmten, d. h. mehreren Interpretationen zugänglichen Gedankengut inspiriert wurde, sollte dieses einerseits ihn bei der Ausgestaltung der einschlägigen Normen binden und andererseits als Maßstab bei der Interpretation der konkreten normativen Aussagen herangezogen werden) ist formallogisch falsch und fuhrt aufgrund eines subjektiv bedingten Verständnisses der vor-konstitutionellen Organisationsmuster - zu einer rational nicht nachvollziehbaren Verfassungsauslegung, welche die Norm durch etwas Unbestimmtes ersetzt. Das bedeutet allerdings nicht, daß man den politischen Einfluß der vor-konstitutionellen Prinzipien auf die Gestaltung der Verfassung ignorieren soll (was einem sturen Positivismus entspricht); es bedeutet vielmehr eine Reduktion der vor-konstitutionellen Prinzipien auf ihren eigentlichen Sinn und ihre eigentliche Funktion, d. h. eine Anerkennung ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit, ihre Abkoppelung von der Verfassungsauslegung. Auch wenn "die moralischen Grundsätze des Naturrechts in den modernen Verfassungsstaaten positives Recht geworden (sind)"89, sollte eine solche Feststellung der geistesgeschichtlichen Herkunft des Rechts nicht zur Schlußfolgerung führen, das Recht sei gegenüber der Moral offen 90. Diese Prinzipien sind heute Bestandteile des positiven Rechts und deshalb ausschließlich durch seine Methoden auszulegen. Aus diesen Klarstellungen läßt sich jedoch nicht ableiten, daß die zwei genannten Regeln der Gewaltenteilung nicht gültig wären und daß die Verfassungen der vier Staaten - aber auch der meisten westlichen Demokratien nicht von demselben Schema der Gewaltenteilung ausgingen. In der Tat leiten 87 88

90 f. 89 90

In bezug auf das Gewaltenteilungsprinzip s. BVerfGE 3,225,233 und 247 f. Hierzu Giannoulis/Dimoulis, "Auf dem Weg zu einem Europa der Bürger", S. Habermas, S. 552 ff. (552). So aber Habermas, S. 550 ff.; vgl. oben S. 37 ff.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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sie ihr Organisationsprinzip aus der Funktionenlehre her. Es handelt sich dabei um eine rein empirische Feststellung, daß nämlich die Verfassunggeber tatsächlich den Organisationsrahmen der Gewaltenteilung übernommen haben. Dies ist jedoch für den künftigen Verfassunggeber nicht zwingend (er ist ζ. B. nicht gehindert, eine vierte Gewalt zu institutionalisieren). Auch läßt diese Feststellung heute keine hermeneutische Korrektur der in jeder Verfassung in concreto ausgestalteten Gewaltenteilung zu, unter Berufung auf ein "wahres" Vorbild, das - entgegen dem Wort der Verfassung "eingehalten" werden müßte, oder im Hinblick auf den Wandel der sozialen Wirklichkeit, die angeblich eine andere, der "Logik" bzw. "Essenz" des Prinzips eher entsprechende Gewaltenteilung erfordert. Die Gestaltungsspielräume der tendenziellen Gewaltenteilung sind, wie wir gesehen haben, so weit, daß die genannten zwei Regeln nur als Minimum gelten. Sie tragen zum Verständnis der gemeinsamen Tradition der Verfassungen und der gemeinsamen Prinzipien der staatlichen Funktion bei, was allerdings nicht bedeutet, daß die Verfassungen gleichförmig gestaltet sind91. Auf der Kritik an der essentialistischen Auffassung über die Kontinuität oder Einheit der Gewaltenteilung und an ihrer normativen Absicht beruht auch die Widerlegung des soziologistischen Ansatzes bezüglich hermeneutischer Korrekturen des Prinzips. Auf diese Weise wird die Abkoppelung der rechtlichen Bedeutung des Prinzips von seiner politischen und ideologischen Dimension ermöglicht. Die historisch-philosophische Reflexion über die Quellen des Postulats der Gewaltenteilung ist von großem Interesse für die Geschichte der politischen Ideologien. Weil die Gewaltenteilung als Prinzip der Staatsorganisation eine Idee mit bemerkenswerter juristischer Kontinuität ist, kann die Untersuchung ihrer Quellen in der politischen Philosophie zum Verständnis der sozialen Prozesse beitragen, welche zur Herausbildung der politischen Ideen führten, die anschließend in fast allen Ländern als Begründungs- und Legitimationsbasis der Institutionen des nationalen-bürgerlichen Staates fungieren. Dieser Prozeß, den wir als "ursprüngliche politische Akkumulation"92 bezeichnen Darin besteht unsere Meinungsverschiedenheit zu den Dekonstruktionisten der Gewaltenteilung, die - wie Troper in den o. g. Arbeiten (B, Anm. 15 und 50) - mittels einer logizistischen Kritik aus der Vieldeutigkeit des Gewaltenteilungsprinzips die Unmöglichkeit seiner verfassungsrechtlichen Verwirklichung ableiten, mit der Schlußfolgerung, daß die Gewaltenteilung nicht existiere; die heutige Auffassung von Troper, der jede Möglichkeit einer juristischen Klassifizierung und rationalen Interpretation der Rechtsnormen ablehnt, ist m. E. eine Folgerung seiner Ablehnung der Theorie der Gewaltenteilung, d. h. der destruktiven Kritik an einem Organisationsprinzip, das in fast allen Verfassungen verankert ist und die staatliche Praxis gestaltet. 92 Diese Bezeichnung, die auf die Marxsche Analyse der "ursprünglichen Akkumulation des Kapitals" hinweist (Das Kapital, Bd. 1, S. 741 ff.), benutzt Althusser, um 6*

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

können, betrifft u. a. die theoretische Herausarbeitung des Gewaltenteilungsprinzips, wobei das Werk Lockes93, Montesquieus94 und der amerikanischen Verfasser der Federalist Papers95 die wichtigsten Ansatzpunkte sind. Eine solche Analyse hat jedoch keine Relevanz für das Verständnis des Prinzips, so wie es in den Verfassungen garantiert wird; denn im verfassungsrechtlichen Zusammenhang stellt das Gewaltenteilungsprinzip ein reines Problem juristischer Auslegung dar, d. h. einer Interpretation des Prinzips in seiner Eigenart und mit seinen Ausnahmen. Hingegen kann die historische Untersuchung des Postulats der Gewaltenteilung sogar zu verkehrten Schlußfolgerungen führen und zwar in zweifacher Hinsicht.

a) Rechtliche vs. politische Bedeutung des Prinzips Als politisches Postulat hat die Gewaltenteilung eine bestimmte Zielsetzung und Funktion. Sowohl in den Analysen der Klassiker, die den "Rohstoff 1 des Prinzips formulierten, sowie der Kommentatoren ihrer Werke, als auch in der heute herrschenden Staatslehre gilt die Gewaltenteilung als die ursprüngliche institutionelle Voraussetzung und Garantie der politischen Freiheit. Die Verteilung der Macht an mehrere, voneinander unabhängige und als Gewalten konstituierte Organgruppen wird erstens als Garantie des politischen Gleichgewichts - weil behauptet wird, daß nur "le pouvoir arrête le pouvoir" - und zweitens als Mittel zur Verhinderung des Machtmißbrauchs96 dargestellt. den gewaltsamen Prozeß der Bildung des Nationalstaats sowie seine ideologische Entsprechung im "erbaulichen Diskurs der Philosophen des Naturrechts über die Geschichte des Staates" zu beschreiben (Machiavelli, S. 24). 93 Traité de gouvernement civil, Nr. 134 ff. (S. 278 ff.); dazu etwa Silvestri , S. 242 ff. 94 Buch XI, Kapitel VI; S. 294 ff. 95 Es handelt sich um eine Sammlung von Artikeln, verfaßt von Hamilton, Madison und Jay zum Zweck der Analyse und Verteidigung der amerikanischen bundesstaatlichen Verfassung von 1787, die 1788 in zwei Bänden erschienen sind. Abgesehen von einem Plädoyer für eine starke bundesstaatliche Gewalt, nehmen viele dieser Artikel Bezug auf die Gewaltenteilung nach dem Vorbild Montesquieus (Artikel XL VII t i ; S. 397 ff.); dazu s. ausführlich Dubouchet, S. 812 ff. m. w. Hinw. 96 Diese Betrachtungsweise faßt Montesquieu in dem Satz zusammen: "Pour qu'on ne puisse abuser du pouvoir, il faut que, par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir", dessen Bedeutung auch aus seinem Platz in dem Kapitel über die Definition der Freiheit ("Ce que c'est que la liberté") hervorgeht (Buch Π, Kap. IV; S. 293); wichtig ist, daß diese Auffassung keine allgemeine Wahrheit ausdrückt, wie meistens in der Sekundärliteratur behauptet wird; sie beruht hingegen auf einer bestimmten anthropomorjphen Vorstellung von der Gewalt, nachdem der Gedanke "tout homme qui a du pouvoir est porté à en abuser" (ebda) als Rechtfertigungsgrund für die Wechsel-

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

85

In dieser Sichtweise erscheint der Staat, in dem die organische Gewaltenteilung gewährleistet ist, als das absolute Gegenteil des "Despotismus", der "Gewaltenvermengung" und der tendenziellen Konzentration bei einem "Träger der Gewalt", der ohne Kontrolle und Gegengewichte geneigt wäre, diese Gewalt zu mißbrauchen. Die Trennung und Balancierung der Gewalten 97 wird daher zur organisatorischen und ideologischen Grundlage des liberalen Staates 98 , zu einem Grundsatz mit allgemeiner Geltung 99 . Einige Vertreter dieser Auffassungen gehen so weit, den obengenannten Art. 16 der franz. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 - der die Gewaltenteilung zur Bedingung der Existenz einer wirklichen Verfassung erhebt - als einen Grundsatz des Naturrechts zu interpretieren, als vor-konstitutionelles Prinzip und als höchste Freiheitsgarantie 100 , 101 . Die Koppelung der Gewaltenteilung mit der

seitige Kontrolle der Gewalten innerhalb der Staatsorganisation genannt wird, die bei Montesquieu, bei der heutigen liberalistischen Reflexion (ζ. B. Manen t, S. 132 ff.) und sogar bei der juristischen Literatur (etwa Herzog, Art. 20, V, Rnr. 12, wo erwähnt wird, daß die Gewaltenteilung aus der "Fehlsamkeit des Menschen" hervorgeht) anzutreffende Zurückführung der Machtausübung auf ein Problem der menschlichen Natur - die ein Gegengewicht braucht, weil sie zum Machtmißbrauch neigt - kann sich als Scheinargument für die Notwendigkeit eines "Gegengewichts" erweisen, wenn man davon ausgeht, daß sich das Problem der Macht nicht auf individuelle Willensakte und menschliche Schwächen reduzieren läßt; diese anthropomorphe Sichtweise verwechselt die Träger einer gesellschaftlichen Funktion mit der Funktion selbst, indem sie Modelle zwischenmenschlicher Beziehungen verallgemeinert. Außerdem lassen sich diese Modelle auch anders interpretieren: Zum "Gesetz von Thukydides", wonach jeder Mensch dazu neigt, die Macht, die er besitzt, voll auszuüben, nicht aber zu mißbrauchen, s. Duhamel, in: Duverger, Les régimes, S. 264; Duhamel, in: ders. /Parodi, S. 20; vgl. die Argumentation Spinozas bezüglich einer im Ergebnis beschränkten Macht auch wenn diese beim Monarchen konzentriert ist -, denn die spontane Angst der Macht vor den Massen verwandelt eine "de iure" absolute Macht in eine faktisch relative Macht, unabhängig von juristischen Einschränkungen und institutionellen Machtbegrenzungen (dazu Balibar, "Spinoza", S. 356 ff.). 97 Zum newtonschen-mechanistischen Charakter dieser Systematik, die von der Physik auf die Politik übertragen wird, s. Landau, in: Seurin, Le constitutionnalisme, S. 76 ff., vgl. Imboden, in: Rausch, S. 490; zur aus den Naturwissenschaften übernommenen politischen Metaphorik Montesquieus s. die fundierte Analyse von Kuhfuß, S. 37 ff.; zum Einfluß des physikalischen Denkens und der merkantilistischen Handelsbilanztheorien auf die verschiedenen politischen Gleichgewichtsmodelle s. Mendier/ Schwengler-Rohmeis, S. 152 ff. 98 Statt vieler Baratta, "Divisione", S. 126, 129; Cadart, S. 318 f.; Chevallier , "La séparation", S. 115. 99 Neuerdings wurde geschrieben: "Le libéralisme [politique-constitutionnel D.D.] pleinement constitué (...) est fondé sur deux idées: L'idée de la représentation et celle de la séparation des pouvoirs" (Manent, S. 123). 100 Dies kommt auch bei neueren naturrechtlichen Ansätzen zum Ausdruck; s. Riais, "Supraconstitutionnalité", S. 64 ff., wo die Gewaltenteilung zu einem Grundsatz des Naturrechts erklärt wird (ebda, S. 68). Zur "supraconstitutionnalité"-Debatte s. Bacot, S. 690 ff.; Troper, "La Déclaration", S. 13 ff.

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Freiheit als individueller Autonomie scheint so überzeugend zu sein (die Gewaltenteilung hebt die Gefahr der Beherrschung und Unterdrückung auf), daß Graf von Montesquieu als ein "Anarchist ohne es zu wissen"102 bezeichnet wurde. Trotz der Durchsetzung dieser Prinzipien des Liberalismus, die dazu geführt haben, daß die Gewaltenteilung heutzutage allgemein als Garantie der Freiheit gilt 1 0 3 , d. h. in kausalem Zusammenhang mit der Freiheit gesehen 101 BVerfGE 3,225,233 und 247 f. Ähnliche Auffassungen in bezug auf den überkonstitutionellen Charakter des Gewaltenteilungsprinzips und die Verpflichtung des Verfassunggebers zu dessen Einführung vertrat in Griechenland die parlamentarische Mehrheit bei der Diskussion des Verfassungsentwurfs von 1975; dazu Wenizelos, Die Schranken, S. 112 f. 102 M Waline, zit. nach Burdeau, "Remarques", S. 206, Anm. 1. 103 Die Gleichsetzung von Freiheit und Gewaltenteilung ist ein Leitmotiv des politischen und juristischen Denkens und wurde bei der Diskussion über Art. 16 der franz. Erklärung von 1789 in der Assemblée Constituante mehrmals betont (s. Rials , La Déclaration S. 251 ff.): "Sans la séparation des pouvoirs il n'y a que despotisme" (Alexandre de Lameth, 26.8.1789; zit. ebda, S. 252). Vgl. etwa F. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, S. 50 f., 74 f., 235; Stern, Bd. Π, S. 518, 549; Kriele, in: Benda u. aTeil 1, S. 137 f.; dens., "Menschenrechte", S. 602 ff ; Böckenförde, Recht, S. 52; Fouille, S. 12; Cadart, S. 306; Burdeau/Hamon/Troper, S. 127. Selbst ein Gegner der Gewaltenteilung wie Hegel (s. oben B, Anm. 27) glaubte, daß wenn sie "in ihrem wahren Sinne genommen worden wäre, als die Garantie der öffentlichen Freiheit betrachtet werden konnte" (§ 272; S. 240). Abgesehen von sonstigen Einwänden wird die Glaubwürdigkeit und die politische Effizienz dieser Konstruktion dadurch untergraben, daß die Freiheit (i. S. einer Freiheit des Individuums nach den Vorstellungen des Liberalismus) nicht aufgrund einer Eingrenzung der Macht in Richtung einer stärkeren Selbstbestimmunng der Individuen angestrebt wird, sondern als eine Frage des Gleichgewichts der Gewalten in der Hoffnung ihrer gegenseitigen Neutralisierung dargestellt wird, aufgrund der Vorstellung, daß die "Kollision" der Gewalten zu mehr Freiheit verhelfe (s. z. B. Manent, S. 123 ff.). Während also sicher ist, daß die Gewaltenteilung "die reflexive Struktur demokratischer Legitimation gewährleistet", indem jede Rechtsentscheidungsinstanz durch andere kontrolliert wird (s. ζ. B. Maus, "Die Trennung", S. 208), ist der Zusammenhang dieser Reflexivität mit einem Mehr an Freiheit oder Richtigkeit der Entscheidungen durch die sich in prozeduralen Garantien erschöpfende Gewaltenteilung keineswegs gewährleistet. An dieser Stelle wird einer der Widersprüche des Liberalismus deutlich, der keine Kritik der Macht an sich und ihres Zwangscharakters beabsichtigt, sondern einen Kompromiß zwischen Macht und individueller Freiheit anstrebt, indem er entweder die Vereinbarkeit von Ordnungs- und Freiheitsidee schlicht voraussetzt (so Th. Tsatsos, Zur Geschichte, S. 96; Kriele, in: Benda u. a., Teil 1, S. 137 f.) oder die Garantiefunktion der Staatsgewalt gegenüber der "privaten sozialen Macht" in den Vordergrund stellt (F. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, S. 117 ff.). Die zeitgenössischen - hauptsächlich vom "anti-staatlichen" Denken der neoliberalen Theorie geprägten - Vorstellungen einer "Zersplitterung der Macht" durch ein Netz von Kontrollfunktionen und Gegengewalten sind eindeutig vom Gleichgewichts- und Machtaufteilungsschema der klassischen Gewaltenteilung beeinflußt; sie radikalisieren jedoch dieses Schema und differenzieren sich davon, indem sie weniger die institutionellen Hemmungen und eher die "Autonomie des Individuums" und die Resultate der "spontanen Ordnung" betonen bzw. die Rechtsordnung als Ergebnis eines "minimalen

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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wird, kommen Zweifel an der Geeignetheit und dem Wirklichkeitsgehalt dieser Theorie auf. Diese Bedenken entstehen - wie bereits erwähnt - angesichts des mechanistischen und anthropomorphen Charakters und der zweifelhaften Wirksamkeit des Gewaltenteilungsprinzips als Freiheitssicherung; vor allem entstehen sie aber wegen der ideologischen Funktion, die von F. Neumann als "Verneblung der wahren Machthaber" 104 zusammenfassend dargestellt wurde, wobei die individuelle Freiheit in den Vordergrund gestellt wird und die realen Modalitäten und Zwecke der Funktion des Staatsapparates verhüllt werden 105 . Unabhängig von den politischen Legitimationswirkungen der ideologischen Auffassung, welche die rechtliche Gewährleistung der Gewaltenteilung begleitet - obwohl die Verbindung der Gewaltenteilung mit der Freiheit, wie wir gesehen haben, weder selbstverständlich noch unproblematisch ist-, bewirkt die Hervorhebung dieser ideologischen Auffassung auch eine Verzerrung der juristischen Interpretation, indem sie das politische Element in den Vordergrund stellt. Wird die Notwendigkeit eines institutionell geregelten Gleichgewichts der Machtträger zum ausschlaggebenden Element der Gewaltentteilung erhoben (Freiheitssicherung durch Gleichgewicht), so ist der Weg für jede "Anpassung" und "Modifizierung" des Prinzips offen, unter dem Vorwand der Erfüllung seines Wesensgehalts und des tragenden Grundgedankens (die Argumentation lautet: Nachdem das Prinzip die Teilung der Macht zum Zweck der Freiheitssicherung garantiert, muß stets die effizienteste Teilung erreicht werden, damit ein maximaler Freiheitsschutz gewährleistet ist, denn sonst handelt Vertrags" zwischen selbständigen Individuen normativ umdeuten (v. Hayek , Bd. 1, S. 13 ff., 63 ff.; Bd. 3, S. 54 ff.; Buchanan, S. 54 ff.; Kioupis, S. 145 ff., 175 ff.); vgl. die fundierte Kritik solcher Ansichten bei Tosel, S. 43 ff. und Papachristou, passim. Zu einer Unterscheidung der zwei Formen des Liberalismus aufgrund der Bedeutung, die sie dem Schema der Gewaltenbalancierung zumessen, s. auch Manin , S. 10 ff. 104 F. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, S. 47, wonach eine der Bedeutungen der Theorie in der "Verhüllung der Herrschaft des Bürgertums" (S. 50) besteht. 105 Zur Kritik der Gewaltenteilung als ideologischem Schema, das die Einheit der Staatsgewalt verdeckt und sie aufgrund der Balancierung der Institutionen als neutralisiert darstellt, s. Althusser , Machiavelli, S. 113 ff.; Baratta , "Divisione", S. 126 ff.; Miaille , L'Etat, S. 95 ff., 212 ff.; vgl. Dujardin , S. 141 ff., wonach sich die gesamte Verfassungslehre "comme lieu du rapport d'une essence - la liberté - à une organisation séparée du pouvoir dEtat" (ebda, S. 23) definieren läßt, d. h. auf den Vorstellungen von der Gewaltenteilung als institutioneller Voraussetzung und als höchster Garantie der Freiheit basiert; zur ideologischen Funktion der Gewaltenteilung vgl. die weiterführenden Überlegungen von Ladeur, Rechtssubjekt, S. 141 ff. Die genannten Ansätze haben nichts mit den Kritikversuchen gemeinsam, die durch neue institutionelle Gegengewichte und neue Machtaufteilungen eine Verbesserung der Gewaltenteilung anstreben (indem sie die Grundidee an sich für die Garantie der Freiheit für geeignet halten); sie bezweifeln im Gegenteil ihre Resultate und zeigen ihre ideologische Funktion auf.

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

es sich um eine nur scheinbare Garantie). An dieser Stelle erkennen wir die oben erwähnte Argumentationsweise deijenigen wieder, die sich auf das Ziel des Prinzips beziehen und seine Neubestimmung beabsichtigen, indem sie sich auf soziologische Argumente bezüglich der "Machtkonzentration", aber auch auf philosophische Argumente und Analysen berufen 106 . Es handelt sich um eine Auflösung des Juristischen im Politischen, um einen Interpretationsansatz, der von der politischen Gestaltung des Gewaltenteilungsprinzips ausgeht 1 0 7 , d. h. von einer allgemeinen Balance- bzw. Mäßigungstheorie 108, welche die allgemeine Form der Gewaltenteilung darstellt und das "Rohmaterial"

106

Zur angeblichen Notwendigkeit einer Änderung des Schemas, so daß es sozialen und politischen Kräften entspricht, d. h. zur Auffassung, daß die Gewaltenteilung ein politisches Prinzip ist, das aus der ständigen geschichtlich-philosophischen Bearbeitung der Gewaltenteilungsidee hervorgeht, s. u. a. W. Weber, S. 255 ff. (die Gewaltenteilung als "leergewordenes Gehäuse" - S. 255; "unwirklich und fassadenhaft" -S. 260; aus diesem Grund seien neue Formen der Teilung der Macht erforderlich, wobei die konservative Version der Stärkung der Verwaltung gegenüber dem Parteiensystem vorgeschlagen wird -S. 268 f.); mit einem Demokratisierungsansatz verknüpft dagegen dieselben Feststellungen Karsch, S. 45 ff., 108 ff ; vgl. Loewenstein, in: Rausch, S. 215 ff., 268 ff., wo die Neubestimmung des Prinzips auf der Basis des "dauernden und unvergänglichen Kerns der Lehre" Montesquieus gefordert wird (ebda, S. 225); ähnlich H. Peters, S. 23 ff.; Küster, in: Rausch, S. 10 ff.; Th. Tsatsos, Zur Geschichte, S. 81 ff.; Petzold, S. 33 ff.; Zippelius, S. 294 ("innerhalb des Gefüges der rechtlichen Zuständigkeiten bringen sich die gesellschaftliche Kräfte (...) rechtlich zur Wirkung; sie füllen das Gehäuse der rechtlichen Kompetenzen mit Leben (...) gegenüber einer formalen Betrachtung tritt der ältere und fundamentalere Gedanke einer Balance der realen Gewalten wieder in den Vordergrund"); Ossenbühl, S. 548 ff; Gehring, S. 633 ff; Riklin, S. 33 ff., der aufgrund der geschichtlichen Untersuchung der Gewaltenteilung den "juristischen Reduktionismus" kritisiert und die "Erweiterung" der Gewaltenteilung "durch die Beteiligung der verschiedenen sozialen Kräfte und durch die verschränkte Verteilung der Funktionen" zum Zweck der Sicherung der Freiheit vorschlägt; vgl. die Kritik von Lange, S. 213 ff, an der "fehlerhaften" juristischen Auffassung der Gewaltenteilung und die anschließende Betrachtung des Prinzips als eines politischen, auf die Konsensfindung zielenden Grundsatzes (ebda, S. 233 f.). 107 Symptomatisch für diese Betrachtungsweise ist die h. M., daß in der UdSSR keine Gewaltenteilung existierte (oben B, Anm. 8). Die Tatsache, daß die Verfassungstexte das Gewaltenteilungsprinzip ausdrücklich vorsahen, d. h. formell juristisch anerkannten, wird von dieser Auffassung nicht berücksichtigt, wobei deutlich wird, daß die Gewaltenteilung meistens als politisches Prinzip und nicht als Regel der Staatsorganisation (Spezialisierung der Organgruppen auf eine Kategorie staatlicher Akte) verstanden wird. Eine weitere Folge des politischen Schwerpunkts bei der Auslegung des Gewaltenteilungsprinzips ist die Auffassung, es sei theoretisch möglich, daß Verfassungsnormen existieren, die als Verletzungen des Gewaltenteilungsprinzips rechtsungültig sind (so BVerfGE 3,225,247 f.; s. oben S. 82, 85). 108 Hierzu eingehend Kuhfuß, passim; zur Ideengeschichte der Gleichgewichtstheorien seit dem 15. Jh. vgl. die Übersicht bei Mendler/Schwengler-Rohmeis, S. 152 ff. m. w. Hinw.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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bildet, die den Verfassunggeber zur rechtlichen Gestaltung - aber somit auch zur Fixierung - des Prinzips inspiriert hat 109 .

109 Mit seinem interessanten, aber nicht überzeugend argumentierenden Beitrag über "Begriff und Geltung des Rechts" gibt uns Alexy ein Beispiel, wie ein fließendes Gewaltenteilungsverständnis auch auf der Ebene der Rechtstheorie zu falschen Ergebnissen führt. Bei der Begründung seiner These, daß zum Begriff des Rechts keine "extrem ungerechten" Verfassungs- und Gesetzesnormen gehören (ebda, S. 201), tritt er dem Einwand entgegen, ein Richter, der eine "extrem ungerechte" Norm nicht anwenden würde, verstoße gegen das Gewaltenteilungsprinzip: Nachdem die Grundrechtsverletzungen des Gesetzgebers von den Verfassungsgerichten inhaltlich weitgehend kontrolliert werden, müsse dementsprechend - behauptet R. Alexy - auch die - auf die Fälle der "extremen Ungerechtigkeiten" beschränkte - Möglichkeit des Richters, eine geltende Rechtsnorm nicht anzuwenden, akzeptiert werden (ebda, S. 97 f.). Mit der Anwendung des Arguments a maiori ad minus in diesem Fall wird der Charakter der Rechtsordnung als abgestufter Kompetenzaufteilung mißachtet: Aus der noch so weitgehenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Gesetze läßt sich keinesfalls eine gerichtliche Zuständigkeit ableiten, wonach die Verfassungs- und Gesetzesnormen an der Gerechtigkeit zu messen seien, um (nicht) angewandt zu werden. Eine derartige Erweiterung der gerichtlichen Zuständigkeit zur Kontrolle der gesetzgebenden (aber auch der verfassunggebenden, s. ebda, S. 201) Gewalt ist unzulässig, denn das Gewaltenteilungsprinzip fordert, daß in der Verfassung ausdrücklich festgelegt wird, in welchen Fällen die Kontrolle der Handlungen einer Gewalt durch eine andere stattfindet (wie im Fall der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Gesetze, Art. 100 GG). Die These von Alexy beruht allerdings nicht auf juristischen Argumenten, etwa auf einem Hinweis auf die "Gesetz-und-Recht"-Klausel des Art. 20 Abs. 3 GG (der auch inakzeptabel wäre - s. Forsthoff, Rechtsstaat, S. 122 ff; Roe Hecke und Starck, "Die Bindung", S. 17 ff., 48 ff.; Heyde, in: Benda u. a., Teil 2, S. 1243 ff.), sondern sie resultiert aus einer mit moralischen Argumenten vorgetragenen Erweiterung und zugleich Einschränkung des Rechtsbegriffs. Die von Alexy vorgenommene Gleichsetzung einer von Verfassungs wegen vorgesehenen mit einer von der Theorie angestrebten Kontrolle der Rechtsnormen - mit der Begründung, es handle sich um einen minimalen quantitativen Verstoß gegen die Gewaltenteilung - ist u. a. auf die Vorarbeit zurückzuführen, die ein Teil der Lehre geleistet hat, indem sie eine - den jeweiligen Umständen und Ansichten entsprechende - "korrigierende" Auslegung des grundlegenden und rigiden Verfassungsprinzips der Gewaltenteilung befürwortet.

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Um dieser Tendenz einer Auflösung des Gewaltenteilungsprinzips in dem ihm zugrundeliegenden politischen Rohmaterial entgegenzuwirken110, darf man die Garantie der Gewaltenteilung in der Verfassung nicht als bloße Blankettbestimmung auffassen, die lediglich den Freiheitsschutz gebietet. Zu diesem Zweck ist es notwendig, erstens die Frage der Herkunft des Prinzips und seiner Bedeutung in der politischen Philosophie von der Frage der juristischen Interpretation zu trennen und zweitens, seine ideologische Funktion (Darstellung einer Rechtsordnung, die die Gewaltenteilung kennt, als Rechtsordnung der Freiheitsverwirklichung) zu erkennen und zu "beseitigen", d. h. das Prinzip als eine konkrete Kombination der Gewaltenunterscheidung und -trennung in jeder Verfassung zu verstehen. Auf diese Weise wird die Interpretation von der geschichtlich-ideologischen Überdetermination, die für die herrschende Lehre heutzutage bezeichnend ist, gelöst. Somit wird das Gewaltenteilungsprinzip als rechtliches Prinzip anhand der zwei genannten Regeln ausgelegt und nicht angeblichen Forderungen zur Teilung der Macht angepaßt.

b) Rechtliche vs. gesellschaftliche Bedeutung des Prinzips Die zweite Konsequenz der "historischen" Betrachtung der Gewaltenteilung - die mit der ersten zusammenhängt - liegt in dem Versuch einer Materialisation des Prinzips, so daß es der Teilung der Macht zwischen gesellschaftlichen Kräften, d. h. der Repräsentation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen durch verschiedene staatliche Organe, entspricht. Der Versuch der Materialisation bedeutet eine Durchsetzung des Gesellschaftlichen zulasten des Juristischen und beruht hauptsächlich auf der Heranziehung der Entstehungsgeschichte der Gewaltenteilung. In bestimmten Analysen wurde nämlich gezeigt, daß Montesquieu keine Theorie der Gewaltenteilung im Sinne ihrer juristischen Ausprägung - die sie als Verfassungsprinzip seitdem erfahren hat 110 Die Auflösungstendenzen sind bereits in der Unklarheit der meisten Neubestimmungsversuche erkennbar. So ist der Versuch von Doehrirtg, S. 211 ff, im BVerfG eine "vierte Gewalt" mit schiedsrichterlichen Aufgaben zu sehen, einerseits durch Widersprüche (es wird behauptet, daß dies der verfassungsrechtliche Status des Gerichts gebietet und zugleich gegen die verfassungsrechtliche Zuordnung des BVerfG zur Judikative geschieht) und andererseits durch die Zweideutigkeit der Aussage gekennzeichnet: Ist die Neubestimmung der Gewaltenteilung eine Kritik der Ungenauigkeit der verfassungsrechtlichen Dreiteilung der Gewalten anhand von soziologischen Erkenntnissen oder ist sie eine Auslegung der Verfassung, die für die Entscheidungsweise des Gerichts bindend sein sollte? (Einen ebenfalls sibyllinischen Ansatz der Neubestimmung des "Funktionensystems", um es mit seiner psychologistischen Integrationslehre zu vereinbaren, hatte Smend, S. 205 ff, 253 ff. unternommen.) Der methodisch inkonsistente Versuch, durch eine Betrachtung der Gewaltenteilung von außen Konsequenzen fur die Auslegung des Rechts zu ziehen, ist bei allen Neubestimmungsansätzen ersichtlich.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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(Funktionenunterscheidung, Spezialisierung der staatlichen Organe) - einfuhren wollte. Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Nicht-Konzentration aller Funktionen bei einem Organ zielte er auf die Umverteilung der Macht zwischen den gesellschaftlichen Kräften (König, Adel, Volk), wobei diese Kräfte im Staatsapparat vertreten sein sollten und durch ihre Gegenüberstellung das "Gleichgewicht" und die Gewährleistung der Freiheit garantieren sollten 1 1 1 . "Pour qu'un équilibré [entre le pouvoir et la liberté] soit réel et effectif (...) il faut qu'il s'appuie sur des forces politiquement et socialement existantes" 112 , oder, genauer gesagt, "hier liegt vor allem ein politisches Problem der Gestaltung von Kräfteverhältnissen vor (...). Die wirkliche Mäßigung liegt [für Montesquieu] weder in der strikten Teilung der Gewalten, noch auch in der juristischen Sorge und Achtung der Legalität" 113 . Diese Analyse, die in bezug auf das Werk und die Absichten Montesquieus zutreffend i s t 1 1 4 , erfuhr auch eine geschichtliche Bestätigung, die in mehreren 111

S. vor allem die in Deutschland kaum rezipierten Arbeiten von Eisenmann, "L'esprit des lois", S. 165 ff.; "La pensée constitutionnelle", S. 133 ff.; "Le système constitutionnel", S. 241 ff.; vgl. Goyard-Fabre, S. 322 ff.; Lange, S. 213 ff 112 Flachos,S. 81. 113 Althusser, Machiavelli, S. 113. 114 Ohne auf die Frage intensiv eingehen zu können, ist die Auffassung, Montesquieu habe die Verteilung der Macht an gesellschaftliche Kräfte bezweckt, nur als allgemeine Aussage richtig. Erstens bezweckte Montesquieu, wie Althusser gezeigt hat, die Teilung der Macht nicht der Freiheitssicherung wegen, sondern um die Interessen der traditionellen feudalen Gesellschaftsschicht zu sichern; die politische Stellung des Adels war bedroht angesichts der Ausdehnung der Handels- und Börsengeschäfte, der Bildung eines nationalen Marktes, des wachsenden politischen Einflusses der bürgerlichen Kaufleute und des - für den absolutistischen Staat typischen - wachsenden politischen Gewichts der Zentralgewalt um den Monarchen; in dieser Phase der Auflösung der feudalistischen Strukturen versuchte Montesquieu, die institutionelle Stellung des Adels zu stärken (vgl. Goyard-Fabre, S. 339 ff; Silvestri, S. 295 ff; Ladeur, Rechtssubjekt, S. 116 ff); zweitens - und dieser Einwand hängt auch mit der "Parteilichkeit Montesquieus" zusammen - betraf die vorgeschlagene Umverteilung der Macht nicht die angeblichen drei sozialen Kräfte (König, Adel, Volk), wie allgemein behauptet wird (so etwa Th. Tsatsos, Zur Geschichte, S. 86; Draht, in: Rausch, S. 22ff; Herzog, Art. 20, V, Rnr. 16; Stejfani, in: Rausch, S. 325 ff; Petzold, S. 20 f.; Riklin, S. 29); die "Umverteilung der Macht" sollte zwischen dem Adel und den Bourgeois stattfinden, d. h. in der Zeit des Absolutismus zwischen Fraktionen einer herrschenden Klasse, deren allgemeine Interessen durch den König und den Zentralen Staatsapparat vertreten waren: Auf diese Weise wurde der Ausschluß des "Volkes", d. h. der ausgebeuteten Masse, von der Machtausübung auch institutionell festgeschrieben, wobei der Grundkonflikt dieser Zeit, der sich hinter den inneren Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse verbarg, zum Ausdruck kam (Althusser , Machiavelli, S. 109 ff, 118 ff). Daraus wird deutlich, daß der Ansatz Montesquieus in Wirklichkeit wenig zu tun hat mit der Freiheit, auf deren Legitimation er sich berief. Es handelte sich vielmehr um einen Versuch der Umverteilung der Macht innerhalb der herrschenden Klasse; ignoriert wird diese Tatsache allerdings auch von Kritikern der Gewaltenteilungslehre, die· sich zwar auf die Analyse Althussers beziehen (Miai lie, L'Etat, S. 217 ff; Dujardin, S. 142 ff; Troper, "Montesquieu", S. 581 \Manitakis, "Verfassungs-

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Situationen deutlich wurde. Die Vorstellung Montesquieus hat sich bestätigt, als die Gewaltenteilung nach der französischen Revolution von 1789 vorübergehend als Mechanismus zur Verteilung der Macht an gesellschaftliche Mächte diente 1 1 5 - ein Phänomen, das in revolutionären Situationen auch andere Länder charakterisiert, solange der Staatsmechanismus nicht gefestigt ist. Die sozialen Bewegungen und Konflikte wurden daher auf die staatliche Ebene übertragen und kamen in den Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Organen zum Ausdruck 116 . Aufgrund der Analyse des Werks von Montesquieu und der genannten Beispiele wird auch heutzutage die Ansicht vertreten, die Gewaltenteilung entspreche einer Machtaufteilung zwischen verschiedenen sozialen Kräften, wobei jede soziale Gruppe in erster Linie durch eine Organgruppe vertreten sei 1 1 7 , oder es wird behauptet, daß die "wirkliche Gewaltenteilung" von dem formellen juristischen Schema abgekoppelt und in bezug auf neue Gewalten aktualisiert werden müsse, um auch soziale Kräfte und Machtgruppen einzubeziehen 118 . Ein derartiger Versuch einer normativen Projektion von Vorstellungen über die "wahre" oder "effiziente" Gewaltenteilung in die heutige

recht", S. 3 f.), aber trotzdem von einer Aufteilung der Macht zwischen drei miteinander konkurrierenden Kräften - die keine einheitliche Klasse bilden - ausgehen und somit die Auffassung einer "gesellschaftlichen" Gewaltenteilung aufgreifen. 115 Die Geschichte der französischen Revolution zeigt jedenfalls, daß es keine eindeutige Entsprechung zwischen der Handlungsstrategie bestimmter Gesellschaftsgruppen und den auftretenden Organkonflikten gegeben hat, wie manche Marxisten behaupten, indem sie die juristische Gewaltenteilung als Matrix der gesellschaftlichen Konflikte auffassen (so etwa Poulantzas, Pouvoir politique, Bd. Π, S. 332 ff.). Zu den politischen Umstellungen dieser Zeit und zum indirekten Zusammenhang der Auseinandersetzungen unter Staatsorganen mit unterschiedlichen Strategien s. ausführlich SobouU S. 183 ff., 228 ff., 264 ff., 316 ff., 377 ff. 116 Das gilt zum Beispiel für Griechenland zur Zeit des Nationalaufstandes von 1821, als die miteinander konkurrierenden sozialen Kräfte die Kontrolle über unterschiedliche Staatsorgane hatten, wobei die politische Auseinandersetzung ζ. T. im Konflikt zwischen Legislative und Exekutive zum Ausdruck kam; dies wird durch die ständige Transformation des Staatsapparates und die fortwährende verfassungsrechtliche Umorientierung (Verabschiedung von vier Verfassungstexten im Zeitraum 18221844) verdeutlicht; hierzu Milios, Kapitalistische Entwicklung, S. 133 ff. m. w. Hinw. 117 Diese Ansicht vertreten vor allem Theoretiker, die sich auf die marxistische Richtung beziehen; Poulantzas, Pouvoir politique, Bd. Π, S. 330 ff.; Dujardin, S. 132 ff; Manitakis, "Verfassungsrecht", S. 4. 118 Unter den Vertretern einer "neuen" Lesart des Werks von Montesquieu, mit dem Resultat einer den sozialen Verhältnissen entsprechenden (soziologischen), flexiblen Auffassung der Gewaltenteilung als Modus der Machtaufteilung zwischen Machtgruppen s. Draht, in: Rausch, S. 33 ff, 75 ff; Kägi, ebda, S. 286 ff; Stefani , ebda, S. 349 ff. betont die Notwendigkeit des sozialen Bezugs, damit das Schema nicht zum "toten Theorem" werde (S. 349).

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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Wirklichkeit mit der Absicht, das für formalistisch gehaltene juristische Schema zu korrigieren, kann aus mehreren Gründen nicht akzeptiert werden. Die Einheit der Staatsgewalt läßt keine Zersplitterung der Macht zu und schließt eine quasi korporatistische Auffassung der Funktion der Staatsorgane aus 119 . Abgesehen von den gesellschaftlichen Ursachen dieser Einheit und den sozialen Konflikten, die sich dahinter verbergen, ist die Akzeptanz der Einheit der Staatsgewalt aus juristischer Sicht notwendig, während auch ein empirischer Standpunkt die einheitliche Funktionsrichtung des Staatsapparates bestätigt. Der Staat ist eine politische Einheit, die sowohl eine notwendige Voraussetzung für die Organisation einer Gesellschaftsformation als auch - was am wichtigsten ist - ein Resultat des staatlichen Handelns selbst (politische Einheitsbildung120) darstellt. Innerhalb eines demokratischen Staates kommen die sozialen Konflikte zwar zum Ausdruck, aus ihnen resultiert aber letztendlich eine einheitliche Richtung der Ausübung von Politik seitens der demokratisch legitimierten Organe der Legislative und der Exekutive, die verfassungsrechtlich eng miteinander verbunden sind und heute einen politisch einheitlichen Mechanismus bilden. Was die rechtsprechende Gewalt anbelangt, wird sie aufgrund einer "separatistischen" Problematik meistens als ein unabhängiger "Dritter" innerhalb des Staates aufgefaßt 121; trotz eines gewissen qualitativen Unterschieds ist es jedoch falsch anzunehmen, es handle sich dabei um einen politisch verschiedenen Teil des Staatsgewalt. Die Organe der Rechtsprechung werden zwar auf andere Weise als die übrigen Staatsorgane konstituiert, d. h. sie sind abgekoppelt von dem politisch-repräsentativen Legitimationsschema der zwei anderen Funktionen, und werden durch die berufliche Qualifikation ihrer Träger, die institutionellen Garantien ihrer Unabhängigkeit und die "Unverän119 Vgl. Böckenförde, Staat, S. 370: "Damit würde die demokratisch konstituierte und vermittelte Einheit der Staatsgewalt zugunsten eines politischen Neokorporatismus aufgegeben." 120 Hierzu Hesse, Grundzüge, Rnr. 5 ff. (6) m. w. Hinw. 121 Die Neutralität der rechtsprechenden Gewalt und die Problematik des unbeteiligten Dritten hängt unmittelbar mit der Entstehungsgeschichte der Gewaltenteilung zusammen, nachdem bereits bei Montesquieu und den Verfassern der "Federalist papers" die Rechtsprechung als etwas "Anderes" dargestellt wird, als Kombination eines grundsätzlichen Unvermögens ("en quelque façon nulle") mit einer Durchsetzungskraft, die ihr durch die Möglichkeit der "letzten Entscheidung" und durch die ideologische Fiktion ihrer neutralen, unpolitischen Stellung verliehen wird (Vlachos, S. 123 ff; Dubouchet, S. 838 ff); zur politischen Neutralität der Richter und ihrem besonderen Status s. Triepel, S. 12 ff ; vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 273 f. und ausführlich J.-L. Costa, S. 262 ff ("la puissance du juge est un pouvoir dont la caractéristique essentielle est de n'être pas politique", ebda, S. 266), wo die Garantien der Unabhängigkeit der Richter zugleich als Folge und Voraussetzung ihrer politischen Neutralität dargestellt werden; s. auch Hey de, in: Benda u. a., Teil 2, S. 1200 f., 1235 f.

Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

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derlichkeit" - jenseits von politischem Wandel - des Justizapparates legitimiert. Trotzdem können die Organe der Rechtsprechung wegen ihrer Bindung an das Gesetz und wegen der fehlenden, direkten und demokratischen, politischen Legitimation keinen eigenen politischen Willen zum Ausdruck bringen. Und genau dieses Charakteristikum registriert die Literatur, indem sie die Judikative als "pouvoir apolitique"122 darstellt. Die Bezeichnung "apolitique" ist treffend nicht etwa weil die Entscheidungen der Judikative in einem politischen Vakuum getroffen würden und keine politische Auswirkungen hätten, sondern weil das politische Handeln den Richtern untersagt ist und ihnen nur die Funktion der "Bestätigung" des verfassungs- bzw. gesetzmäßigen Charakters von politischen Entscheidungen anderer staatlicher Organe obliegt. Die Judikative ist also nicht-politisch, weil sie grundsätzlich123nur eine im eigentlichen Sinn des Wortes konservative Funktion erfüllt. Aus der einheitlichen politischen Orientierung des Staatsapparates geht deutlich hervor, daß sich die Gewaltenteilung als inhärentes Prinzip der staatlichen Funktion außerhalb der sozialen Konflikte abspielt124 und nicht geeignet ist, sie auszudrücken. Eine durch die Gewaltenteilung realisierte Institutionalisierung der gesellschaftlichen Konflikte würde in juristischer Hinsicht das in der Verfassung vorgesehene System der Wechselbeziehungen und Abstufungen der staatlichen Kompetenzen, das sich vor allem durch die Hierarchie der Rechtsnormen ausdrückt, gefährden. Darüber hinaus ist die Materialisation des Gewaltenteilungsprinzips auch nicht sinnvoll, denn sie führt nicht zur "Vervollkommnung" der Gewaltenteilung, wie es vielleicht den Anschein 122

J.-L. Costa, S. 285. Dieses Charakteristikum der Judikative bleibt bestehen, trotz der in den letzten Jahrzehnten festzustellenden Ausdehnung ihrer Verfügungsgewalt und der Verlagerung von politischen Entscheidungen auf die Gerichte (zu dieser Tendenz vgl. Baratta, "Jenseits der Strafe", S. 401 ff). Diese nicht zu leugnende Ausdehnung - die sich allerdings im Vergleich zur Ausdehnung der Verwaltungsaufgaben als weniger bedeutend erweist - hat jedoch eher konjunkturellen Charakter (die Hypothese einer "qualitativen" Veränderung der Rolle des Justizapparates ist in der Literatur ständig anzutreffen - oben B, Anm. 77). Darüber hinaus sind die fortbestehenden Schwierigkeiten der Legitimierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, sobald sie ihre "self-restraint" aufgibt (unten S. 145 f.) sowie die Notwendigkeit der Gestaltung von neuen Institutionen, wenn es um Entscheidungen in politisch umstrittenen Fragen geht (wie die AAI in Frankreich oben B, Anm. 53), festzustellen. Dies läßt uns vermuten, daß die richterliche Arbeitsund Legitimationsweise trotz aller Veränderungen von der Matrix der Neutralität und der politischen "Inkompetenz" nicht abweicht. Aufgrund der Bindung der Gerichte an die verfassungsmäßige Ordnung und der rechtlichen Schranken der Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze sind die "traditionellen" Merkmale der Judikative juristisch nach wie vor geboten und garantiert. 123

124

"Das Gewaltenteilungsprinzip [ist] kein soziologisch zu deutendes Gewaltenverteilungs-, sondern ein normativ zu interpretierendes Funktionentrennungs- und -zuteilungsprinzip" (Stern, Bd. Π, S. 536); das ist die richtige Auffassung, die sich aber in der Literatur nicht durchgesetzt hat.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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hat, sondern stellt eher einen Rückgang dar, der die Besitzstände der juristischen Funktionentrennung in Frage stellt; die Einführung einer soziologischen Problematik relativiert notwendigerweise das normative Schema. Diese Abwertung des juristischen Elements entspricht einer allgemeineren Auffassung über die Methode der Rechtsauslegung, die auf juristischer Ebene soziologische Fragestellungen einführt und diesen öfters den Vorrang einräumt, indem sie die sog. problemorientierte Interpretation sowie die Anpassung des Rechts an die Wirklichkeit und an die Gegebenheiten der sozialen Widersprüche favorisiert 125.

7. Gewaltenteilung und Rechtsnatur der Begnadigung Aufgrund der vorangehenden Ausführungen ist festzuhalten, daß die rechtliche Bedeutung der Gewaltenteilung von ihrer ideologischen Funktion und von den Ergebnissen der politischen Philosophie über die Staatsorganisation getrennt werden muß. Die für die Rechtsauslegung ausschlaggebende Bedeutung der Gewaltenteilung ist ausschließlich technisch, d. h. sie hat nicht die soziale Dynamik, die ihr oft zugeschrieben wird, und darf nicht mit ihrer ideologischen Funktion (Freiheitssicherung) gleichgesetzt werden. Wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, ist "die Teilung der Gewalten (...) im Grunde nichts anders als die profane industrielle Teilung der Arbeit, zur Vereinfachung und Kontrolle angewandt auf den Staatsmechanismus."126 Die Darstellung der verschiedenen Interpretationsansätze, die durch eine Überbewertung des politisch-ideologischen Elements und eine daraus folgende 125 Die zwei letztgenannten Tendenzen werden in Behauptungen deutlich, welche die Gewaltenteilung für "degradiert" halten, weil sie in hohem Maße an Bedeutung verloren habe (Draht, in: Rausch, S. 77), sowie in Forderungen nach ihrer Abkoppelung vom rechtlichen Schema, ihrer "Éntdogmatisierung" zum Zweck der "größeren Freiheit und Redlichkeit" (Kägi, ebda, S. 311); es handelt sich um Tendenzen eines Übergangs vom System- zum Problemdenken, d. h. um eine grundsätzliche Abkehr von der Betrachtung der Verfassung als "Normensystems" (so Kägi, ebda, S. 312; Draht, ebda, S. 75); diese "politische" Auffassung der Gewaltenteilungslehre kann allerdings nicht erklären, warum der Verfassunggeber darauf besteht, diese dogmatische Konstruktion zu bestätigen und warum sich die juristische Interpretation, fern von persönlichen Erwägungen, nicht weiterhin an diesem Gebot orientieren sollte; an dieser Stelle wird deutlich, wie einige Juristen versuchen, ihre Auffassung über die richtige Staatsorganisation in das Recht "hineinzuinterpretieren", um es der sozialen Wirklichkeit anzupassen. Zu diesem Problem s. oben S. 31 ff, 42 ff 126 Marx/Engels, "Vereinbarungssitzung vom 4. Juli", S. 194. Dieser Aspekt der Gewaltenteilung wird von mehreren Juristen aufgegriffen (etwa Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 608; Küster, in: Rausch, S. 8; Th. Tsatsos, Zur Geschichte, S. 86; Forsthoff\ Rechtsstaat, S. 84; Cadart, S. 306), allerdings ohne Bezugnahme auf die zitierte, anschauliche Beschreibung der technischen Funktion der Gewaltenteilung.

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Β. Die Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Relativierung der rechtlichen Bedeutung der Gewaltenteilung gekennzeichnet sind, dient nicht nur der Klärung des Gewaltenteilungsbegriffs, der anschließend als Schlüsselbegriff bei der Untersuchung der Rechtsnatur der Gnade aufgegriffen wird. Die Trennung des Rechtsprinzips von dem sozialen Gewicht einer "realen" Teilung von Gewalten innerhalb des Staatsapparats zeigt a contrario, daß die Verwechslung dieser zwei Elemente - die in der betreffenden Literatur oft festzustellen ist - für das verschwommene Verständnis und die unkorrekte Anwendung des Gewaltenteilungsprinzips im Hinblick auf die rechtlichen Probleme der Gnadenkompetenz verantwortlich ist. Die Analyse der speziellen Gnadenliteratur zeigt, daß größtenteils konfuse Vorstellungen über die Gewaltenteilungslehre herrschen, entweder in Form einer Vermutung von Widersprüchen, da wo es sich um Funktionenverschränkungen handelt, oder in Form einer Mißachtung des Einflusses dieser Verschränkungen auf die Rechtsnatur eines Aktes. Um die Konsequenzen sichtbar zu machen, die ein mangelndes Verständis der Gewältenteilungslehre bei der Untersuchung der Rechtsnatur der Begnadigung impliziert, lassen sich an dieser Stelle drei Beispiele aus Gnadendissertationen anführen: a) M. König behauptet in bezug auf die Rechtsnatur der Gnade, es handle sich um eine "Verwaltungstätigkeit (...) auch in den Fällen, in denen Gerichte in geringem Umfang Gnadengewalt ausüben (...), denn die Gnade ist kein Akt der Rechtsprechung", d. h. sie sei materiell ein Akt der Exekutive127. Gleichzeitig und in Widerspruch dazu führt er jedoch an, die Begnadigung sei ein "Eingriff in die Rechtspflege" 128 - dessen "Verfassungsmäßigkeit" anschließend untersucht wird 1 2 9 - wobei der Ausübung der Begnadigungskompetenz Schranken gesetzt würden, denn eine nicht "rationale Ausübung" sei nicht erlaubt. Hier erkennt man die Verwechslung von Materiellem und Formellem sowie die quantitative Vorstellung von den Funktionenverschränkungen aufgrund einer fehlerhaften Interpretation des Gewaltenteilungsbegriffs. b) Auf einer ebenfalls fehlerhaften Konzeption der Funktionenlehre beruht die Untersuchung der Rechtsnatur der Gnade von D. Kakies 130 , mit der Feststellung eines angeblichen Widerspruchs zwischen dem Grundsatz der Gewaltenteilung und der Zuweisung der Gnadenkompetenz an Organe der vollziehenden Gewalt, obwohl "die Begnadigung materiell zum Bereich der den Richtern anvertrauten Strafzumessung gehört", da sie die "Fortsetzung des 127 128 129 130

König,, S. 66. Ebda, S. 68, 111 Ebda, S. 68 ff Kakies, passim.

Π. Das Prinzip der Gewaltenteilung

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Verfahrens der Strafzumessung" darstelle 131; es wird dabei ignoriert, daß eine in der Verfassung ausdrücklich vorgesehene Verschränkung der Gewalten keinen Widerspruch bedeutet, sondern eine konkrete Gestaltung des Prinzips, das außerhalb der Verfassung rechtlich nicht existiert. Ebenfalls fehlerhaft, weil sie den tendenziellen Charakter der organischen Gewaltenteilung ignoriert, ist die Auffassung desselben, die Begnadigung sei kein Judikativakt, weil sie nicht den Gerichten zugewiesen ist 1 3 2 - eine Auffassung, die sich nicht vereinbaren läßt mit seiner Ausgangsthese, die Gnade gehöre materiell zur Rechtsprechung. c) Um "das Verhältnis der Begnadigung zum Grundsatz der Gewaltenteilung" festzustellen, stützt sich R. Kanzleiter auf eine "rein formale Abgrenzung" der Funktionen, die er als die einzig "sinvolle" bezeichnet133, mit einer Begründung134,die uns trotz allen Bemühens unverständlich blieb. Obwohl der Autor anschließend den Gnadenakt "dem Gebiet der Verwaltung" zuordnet 135 behauptet er in direktem Widerspruch dazu, daß "im Ergebnis ein Exekutivorgan, in seiner Funktion als Gnadenträger in den Bereich der rechtsprechenden Gewalt hinübergreift" 136. Im folgenden untersucht er die Frage einer eventuellen "Grundgesetzwidrigkeit und damit Nichtigkeit (!) des Begnadigungsrechts" 137, obwohl diese Untersuchung die von ihm als nicht "sinnvoll" erklärte materielle Abgrenzung der Funktionen voraussetzen würde; schließlich gibt der Autor die anscheinend kopfzerbrechende Frage der Beziehungen zwischen materiellen und formellen Begriff der Funktionen auf und begnügt sich mit der Feststellung, daß der Gnadenakt "rechtsfrei" bzw. "außerrechtlicher Natur" sei 138 . Anhand dieser Beispiele kann man zum Ergebnis gelangen, daß die Meinungsverschiedenheiten und die allgemeine Ratlosigkeit139 in bezug auf die Rechtsnatur der Gnade in erster Linie auf das vage Verständnis der rechtlichen Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips - das vielmehr als ein allgemeiner und eher politischer Grundsatz aufgefaßt wird - zurückzuführen sind, d. h.

131 132 133 134 135 136 137 138 139

7 Dimoulis

Ebda, S. 27. Ebda, S. 30 f.; ebenso Funke, S. 7. Kanzleiter, S. 48. Ebda, S. 48, Anm. 3. Ebda, S.49. Ebda, S. 50. Ebda, S. 51. Ebda, S. 53, 90. Dazu oben S. 56.

Β. Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

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auf die mangelnde oder fehlerhafte Handhabung des passenden rechtlichen "Instrumentes", nämlich der Funktionenlehre. Das griechische Wort für Ratlosigkeit weist gleichzeitig auf ihre Ursache hin: Amechanie, Mittellosigkeit, Werkzeugmangel.

I I I . Die Begnadigung als Akt sui generis

1. Die vorgeschlagenen Interpretationen In den Verfassungen der untersuchten Rechtsordnungen wird die Gnadenkompetenz Organen anvertraut, die der vollziehenden Gewalt zuzuordnen sind 140 . Die französische, die italienische und die griechische Verfassung weisen die Gnadenbefugnis dem Präsidenten der Republik zu 1 4 1 und bestimmen entweder ausdrücklich im Begnadigungsartikel (griech. Verf.) oder durch die Gegenzeichnungsbestimmungen (franz. Verf., ital. Verf.), daß die Kompetenz unter Mitwirkung der Regierung ausgeübt wird. Dementsprechend wird im GG die Ausübung des "Begnadigungsrechts" für den Bund dem Bundespräsidenten anvertraut (Art. 60 Abs. 2 GG), während die Behörden, denen er diese Befugnis übertragen kann, der Exekutive angehören; in den Landesverfassungen wird die Gnadenkompetenz den Organen der Exekutive - in der Regel dem Ministerpräsidenten - zugewiesen. Die Tatsache, daß die Gnade von Trägern der vollziehenden Gewalt gewährt wird, ist zwar an sich kein ausschlaggebendes Kriterium für die Rechtsnatur der Begnadigung. Aus der oben analysierten begrifflichen Unterscheidung zwischen absoluter (materieller) und tendenzieller (funktioneller) Gewaltenteilung läßt sich nämlich theoretisch die Möglichkeit einer Funktionenverschränkung ableiten, in Form der Ausübung einer Funktion im materiellen Sinne durch Organe, die formell zu einer anderen Funktion gehören. Das bedeutet also, daß Kriterium der Rechtsnatur eines Aktes nicht das zuständige Organ sein kann, sondern die immanenten Merkmale des Aktes selbst. Was die Rechtsnatur der Begnadigung betrifft, behauptet eine der vertretenen Auffassungen, der Gnadenakt lasse sich in keine der drei Staatsfunktionen einordnen; er gilt als "Akt der Staatsgewalt in ihrer Ganzheit"142, und "das

140 141 142

S. im einzelnen unten S. 497 if. Art.: 17 franz. Verf.; 87 Abs. 11 ital. Verf.; 47 Abs. 1 griech. Verf. Arndt, S. 108.

ΠΙ. Die Begnadigung als Akt sui generis

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Wahre daran i s t " 1 4 3 , daß es sich um einen Akt sui generis handelt. Diese Staatsfunktion sui generis wird aus dem ius eminens der Staatsgewalt hergeleitet, das die Grenzen und Schranken der Staatsfunktionen nicht k e n n t 1 4 4 , 1 4 5 . Diese Auffassung ist im Ergebnis - und oft wird sie auch ausdrücklich so formuliert - ein Infragestellen der Gewaltenteilungslehre selbst. Die Auffassung von P. Laband, daß "die Begnadigung ein staatlicher Akt ist, bei welchem die Trennung der staatlichen Funktionen in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung verschwindet und der deshalb aus dem Zentralpunkt der staatlichen Gewalt hervorgeht" 146 wird somit auch heutzutage vertreten, wenn behauptet wird, daß "die Macht zu begnadigen sich von der herkömmlichen Gewaltentrias deutlich abhebt" 147 , und die Verfassungsbestimmung über die

143

Laband, Bd. ΠΙ, S. 509; wörtlich übernommen von N.N. Saripolos, S. 523 f. Unter den Vertretern dieser Auffassung - von denen sich einige ausdrücklich auf die Konstruktion des ius eminens berufen - s. Grewe, S. 38 und 120 ff., bes. S. 136; Arndt, Sp. 108 f.; Mittelbach, S. 97; Leineweber, S. 28 ff.; Κ Peters, S. 699; Laubenthal, S. 100; Schätzler, "Gnade vor Recht", S. 1253 f.; dens., Handbuch, S. 122, 147; Monteil, S. 39; Chapus, Droit administratif, S. 615; N.I. Saripolos , S. 341; Iliopoulos , S. 24, Anm. 1; Georgopoulos , Gnade, S. 35; Doris , S. 1260; Kordogiannopoulos , S. 742 ff.; Pantelis , S. 41; Rôtis , S. 469. Vgl. Stern, Bd. Π, S. 264, Bd. ΠΙ/Ι, S. 1370, der allerdings die Begnadigung auch als Exekutivakt bezeichnet (Bd. ΠΙ/1, S. 1372, 1374) und sie anderenorts als eine der wenigen Kompetenzen des Staatsoberhauptes, die eine Teilhabe an der Judikative darstellen, versteht (Bd. Π, S. 212), um auf diese Weise die festgestellte Verwechslung zwischen Funktionellem und Materiellem im Zusammenhang von Gewaltenteilung und Rechtsnatur der Begnadigung noch einmal zu bestätigen. 145 Es wurde mehrmals behauptet, der commissaire du gouvernement Célier habe in seinen Schlußfolgerungen zur Entscheidung Gombert des franz. Conseil d'Etat (Célier , S. 91) die Auffassung vertreten, die Begnadigung gehöre einer vierten Gewalt an (so Ρ ré tot, S. 1561; Blaser , S. 61; König, S. 64), was keineswegs zutrifft. Célier erwähnt zwar in dem meistzitierten Abschnitt seines Berichts: "Nombre d'excellents esprits affirment que le droit de grâce [est] attaché à un quatrième pouvoir, que l'on pourrait appeler le pouvoir souverain"; im darauffolgenden Abschnitt erfolgt jedoch die Klarstellung: "Le domaine du pouvoir souverain est celui de la régulation des pouvoirs publics (...). Π ne nous paraît pas possible de voir l'exercice de ce pouvoir dans des décisions individuelles comme les mesures de grâce"; Célier hält die Begnadigung für eine Kompetenz vollziehender Rechtsnatur, für eine "pouvoir propre du pouvoir exécutif' zur Aufhebung der Folgen einer gerichtlichen Entscheidung: "On ne se trouve plus dans le domaine du pouvoir judiciaire mais dans celui de l'exécutif et la raison même de l'incompétence du Conseil dEtat disparaît" (S. 91). 146 Laband, Bd. ffl, S. 509; ähnlich Mittelbach, S. 97 m. w. Hinw.; vgl. neuerdings Κ Peters, S. 699 (die Begnadigung sei "Ausfluß der obersten einheitlichen und ungeteilten Staatsgewalt"). 147 Schätzler, Handbuch, S. 122; vgl. Rotis, S. 469. 144

7*

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Β. Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Begnadigung als eine "Gewaltenteilungsnorm" bezeichnet wird, die zur Ausübung der "Gnadenmächt" ermächtigt 148. Angesichts dieser weitverbreiteten Auffassung läßt sich die Betrachtung der Gnadenkompetenz von W. Grewe im Jahre 1936 als "Dispensationsgewalt, [die] Bestandteil einer allen anderen übergeordneten Gesamtgewalt" bzw. einer "umfassender Gesamtgewalt" ist 149 , nicht (nur) aus dem politischen Kontext der Zeit erklären, wie allgemein behauptet wird 150 . Sie entspricht vielmehr - unabhängig von konkreten Regimen und Rechtsordnungen - einer festen Überzeugung von dem außerrechtlichen Charakter der Begnadigung.

2. Kritik Die Richtigkeit dieser Ansicht ist zweifelhaft, denn der Begriff des ius eminens, auf dem sie basiert, läßt sich weder mit soziologischen noch mit rechtlichen Kriterien - welche für die Bestimmung der Rechtsnatur der Begnadigung entscheidend sind - definieren. Was den soziologischen Aspekt anbelangt, existieren vor der Entstehung einer geschriebenen Verfassung, die eine Gesellschaftsformation rechtlich organisiert, keine Herrschaftsrechte im juristischen Sinne, noch läßt sich der Träger der Herrschaft definieren, dem diese Rechte zustehen. In diesem geschichtlichen Stadium bestimmt das soziale Kräfteverhältnis de facto die Herrschaftsverhältnisse. Der Begriff von Rechten läßt sich nicht definieren, weil er juristisch nicht normiert ist: Herrschaft ist lediglich ein faktischer Zustand, ihre Intensität und die Art ihrer Ausübung hängen von den konkreten Umständen ab. Wenn der Begriff des ius eminens sich aber vor der Bildung einer Rechtsordnung nicht bestimmen läßt, ist er auch innerhalb einer organisierten Rechtsordnung nicht zu definieren. Von dem Augenblick an, in dem die sozialen Kräfteverhältnisse klare Konturen annehmen und die Herrschaftsausübung rechtlich organisiert wird, sind die Kompetenzen der Staatsorgane in der Verfassung festgefügt und die Rechte und Pflichten der Bürger juristisch festgelegt. Die Organisation der Rechtsordnung beruht nunmehr ausschließlich auf den Bestimmungen der Verfassung, die per definitionem das gesamte 148

Schätzler, ebda, S. 122, 147 mit der Feststellung: "Das gilt für den demokratischen Rechtsstaat (...) ebenso wie für jede andere aktuelle Staatsform" (ebda, S. 122); vgl. Monteil, S. 39 ("le pouvoir gracieux (...) est une fonction particulière de l'Etat"). 149 Grewe , S. 136, 140. 150 So ζ. B. König, S. 65; Kakies, S. 27.

ΙΠ. Die Begnadigung als Akt sui generis

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juristische Feld "besetzt" (Herrschaft der Verfassung 151). Die verfassungsmäßig konstituierte Staatsgewalt kann keine Herrschaftsteile zurückbehalten, die willkürlich verteilt und "gegen den Lauf von Gesetz und Recht" ausgeübt werden könnten152. Im Rechtsstaat153 sind die Kompetenzen der Staatsorgane auf die verfassungsrechtlich konstituierten Funktionen beschränkt, die in der Verfassung 151 Dazu s. die klassische Analysen von Carré de Malberg, Bd. Π, S. 483 ff. und C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 ff.; vgl. Böckenförde, Staat, S. 42 ff., 90 ff., 107 ff.; Stern, Bd. I, S. 143 ff.; Burdeau/Hamon/Troper, S. 66 ff. 152 So aber Laband, Bd. ΠΙ, S. 509. Diese Ansicht ist vielleicht als Auslegung der Verfassung einer konstitutionellen Monarchie vertretbar, wo der König allein Träger der Staatsgewalt ist und "die Fülle der Staatsgewalt bei sich [behält]" auch wenn er bei ihrer Ausübung verfassungsmäßigen Bindungen unterliegt (s. ζ. B. Böckenförde, Recht, S. 277 ff. (278); ders., Staat, S. 33 ff.). Im Geltungsbereich demokratischer Verfassungen ist sie jedoch juristisch nicht gerechtfertigt. 153 Der Rechtsstaat wird hier "positivistisch" verstanden, als derjenige Staat, der durch ein System von Rechtsnormen seine Selbstbindung einführt. Die Befolgung dieser Normen ist nicht nur für alle Bürger, sondern auch für die staatlichen Organe verbindlich, und soll somit den Schutz gegenüber staatlicher und privater Willkür gewähren, was positiv ausgedrückt die Garantie von Freiheitsräumen, also von Grundrechten, beinhaltet (Carré de Malberg, Bd. I, S. 231 ff., 488 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 126 ffForsthoff, Rechtsstaat, passim; Maus, in: Tohidipur, S. 13 ff.). "Rechtsstaat bedeutet nicht zugleich den aus soziologischer Sicht gerechten Staat" (Manessis, Verfassungsrechtliche Theorie, S. 37). Die formale Definition beschränkt sich darauf, ein wesentliches Element des modernen Rechts zu identifizieren (Allgemeinheit und Verbindlichkeit der Rechtsnormen als Bedingung der Voraussehbarkeit und der Transparenz ihrer Anwendung) und entzieht sich den Aporien der - wohl herrschenden - materialen Auffassungen (Hesse, in: Tohidipur, S. 295 ff.; D. Grimm, "Reformalisierung", S. 707 ff.; Stern, Bd. I, S. 781 ff.; Dreier, S. 75 ff.; Benda, in: Benda u. a., Teil 1, S. 478 ff.; Habermas, S. 166 ff. und passim; Chevallier , "L'Etat de droit", S. 313 ff.; D. Tsatsos, Verfassungsrecht Π, S. 152 ff.). Sie entzieht sich erstens dem Problem der Gerechtigkeit einer Rechtsordnung, wobei eine Liste von Voraussetzungen des "wirklichen" Rechtsstaates zu unüberbrückbaren Kontroversen führt, und zweitens der Gefahr, durch die unterschiedlichen Interpretationen der Gebote des materialen Rechtsstaats selbst die traditionellen Garantien in Frage zu stellen, aufgrund der Tendenz der Umdeutung des Rechts- in einen Richterstaat (vgl. Baratta, Philosophie, S. 223 ff.; Maus, in: Tohidipur, S. 13 f., 48 ff.; Hase/Ladeur/Ridder, S. 796 ff. mit Beisp. aus der Judikatur). Aus diesen Gründen hört der material verstandene Rechtsstaat auf, ein brauchbarer Begriff zu sein und tendiert dazu, die Rechtssicherheit, also den Zweck und die Errungenschaft des Rechtsstaates, de facto interpretationis zu annullieren, d. h. unter dem Vorwand einer Überwindung des Formalismus die Entformalisierung herbeizuführen (vgl. Maus, in: Tohidipur, S. 65 ff.; die Gefahr einer "Schwächung des rechtsstaatlichen Prinzips der Berechenbarkeit (...) staatlicher Machtäußerungen" erkennen selbst Verteter der materialen Definition mit dem resignativen Hinweis, daß sich dieser Prozeß "als irreversibel erwiesen hat" - Dreier, S. 92; eine Irreversibilität, die aber nur unter der Annahme der These der Offenheit des Rechts eintritt, also eine Zirkularitätsbeziehung zwischen "irreversiblen" Folgen und beanspruchten "Prinzipien" impliziert). Daß die Garantien eines formalen Rechtsstaats gering sind, d. h. sehr verschiedenartige geschichtliche Kombinationen von reeler Demokratie, Sozialstaatlichkeit und Grundrechtsschutz unter seinen Begriff subsumierbar sind, erkennen wir freilich an: aber die Rechtskritik gegenüber einem bestimmten Rechtsstaat gewinnt an

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Β. Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

anhand der Gewaltenteilung, d. h. der rechtlichen Form der Souveränität, endgültig fixiert sind: "Es gibt keine Rechtstitel 'vor' und 'außerhalb' der Verfassung, die zu rechtmäßigem Handeln staatlicher Organe ermächtigen könnten"154 Dementsprechend werden in den Verfassungbestimmungen, welche die Gewaltenteilung festlegen, die Formen staatlicher Gewaltausübung abschließend aufgezählt, so daß kein ius eminens zur Wahrnehmung von Kompetenzen sui generis existiert. Aus diesem Grund verstößt die Auffassung einer "eigenartigen" Rechtsnatur der Begnadigung gegen das Verfassungsprinzip der Dreiteilung der Gewalten 155 , das heutzutage ohne "historische Reminiszenz" einer Zentralgewalt 156 gilt, denn - wie bereits zu Anfang des Jahrhunderts festgestellt wurde - "solch absolutistisches Gebilde giebt es im Rechtsstaate nicht"157

Effektivität, wenn die illusionäre Immanenz bestimmter Forderungen in einer Rechtsordnung aufgegeben wird (zum Ansatz, die Machtkritik als Staatskompetenz zu institutionalisieren, vgl. die Kritik von Hase u. a., S. 798; zur Unterscheidung der Rechtssicherheits- von der Gerechtigkeitsfrage bei der Definition des Rechtsstaats s. Baratta, Philosophie, S. 225 f.). Die bei den Vertretern des materialen Begriffs gemeinsame Aussage, die formale Definition sei deshalb nichtssagend, weil alle moderne Staaten ihren Voraussetzungen gerecht werden, verkennt außerdem, daß der formale Begriff immer noch eine wichtige Garantiefunktion bei der Kontrolle der Einhaltung der Selbstbindungen der Staatsgewalt, also der effektiven Machtbegrenzung, erfüllen kann: Rechtsstaat ist derjenige Staat, der seine Selbstbindung nicht nur erklärt, sondern auch respektiert (s. ζ. B. die Forderungen nach einer systeminternen Begrenzung der Strafgewalt i. w. S., durch die konsequente Anwendung von erklärten Prinzipien bei Baratta, "Prinzipien", S. 518 ff.). Der formalen Definition sind zwei Bedingungen hinzuzufügen: die demokratische Legitimation des Gesetzgebers und die institutionelle Möglichkeit der gegenseitigen Kontrolle der Entscheidungen der Staatsorgane (vgl. Baratta, "Prinzipien", S. 521; Maus, "Die Trennung", S. 208 ff.). Mit der Einbeziehung des Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzips gewinnt der Rechtsstaatbegriff diejenige Mindestvoraussetzungen, die zu seiner Effektivität unerläßlich sind: Bei einer diktatorischen Machtkonzentration würde die Verbindlichkeit der Rechtsnormen für die Staatsgewalt zur Farce entarten. 154 Böckenförde, Staat, S. 43; vgl. Hesse, Grundzüge, Rnr. 348: In einem rechtlich konstituierten Staat "verbietet sich die Annahme eines Reservats staatlichen Wirkens, das (...) dem Geltungsanspruch der Verfassung nicht untersteht"; ebenso Burmeister, "Verträge", S. 218 f.; die Auffassung, der Rechtsstaat sei ein Synonym der "restlosen" Erfassung der staatlichen Tätigkeit in einem Kompetenzenbündel, bildet eine Konstante des Staatsrechts; s. z. B. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 131. 155 Vgl. die Kritik von Pralle, S. 4; Geerds, S. 32 f.; König, S. 64 f.; Blaser, S. 61 f.; Kakies, S. 27 ff.; Rüping, S. 42 f.; Ax. Maurer, S. 41 ff., 93 ff.; Schenke, "Rechtsschutz", S. 590; jeweils m. w. Hinw.; s. auch Hess. StGH (Urteil vom 28.11.1973), NJW 1974, S. 792. 156 Geerds, S. 33. 157 Binding, Grundriss, S. 312.

Π. Die Begnadigung als Akt sui generis

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Wenn man davon ausgeht, daß materielle Funktionen als grundlegender Inhalt des Gewaltenteilungsgrundsatzes existieren, ist die Anerkennung einer vierten, implizit herzuleitenden, vagen und beliebig ausdehnungsfahigen Funktion sui generis völlig ausgeschlossen. Außerdem wird das verfassungsrechtliche Verbot der Ausübung von Staatsgewalt außerhalb der "drei unterscheidbaren und verfassungsgetzlich verschieden ausgestalteten Legitimations-, Sanktions-, und Kontrollzusammenhängen" auch von denjenigen als wesentliche Konsequenz des Gewaltenteilungsprinzips anerkannt, die die Existenz von drei entsprechenden materiellen Funktionsbegriffen verneinen und die Gewaltenteilung als organische Trennung verstehen158. Angesichts dieser Einstimmigkeit in der Funktionenlehre entbehrt die von einem Teil der Gnadenliteratur vertretene Auffassung über die Existenz einer Funktion sui generis jeder juristischen Grundlage. Die Tatsache, daß immer noch behauptet wird, "in der Macht zu begnadigen steckt ein Stück Allzuständigkeit der Staatsspitze, ein Stück pouvoir neutre" 159, läßt sich nur aus den immanenten Besonderheiten des Gnadeninstituts und dessen außergewöhnlichen Legitimation erklären 160; jedenfalls schreitet die Lehre in ihrem Versuch, einen geeigneten juristischen Ausdruck dafür zu finden, zu zweifelhaften Konstruktionen. Derartige Auffassungen werden allerdings unterstützt durch das bei einem großen Teil der Lehre festzustellende vage Verständnis der Gewaltenteilung als programmatischen Grundsatzes, der ständig neu definiert werden könne und müsse; diese Vagheit führt zu einer beliebigen - und im Fall der Begnadigung zu einer dem Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung entgegengesetzten - "Neubestimmung". Die Kritik, die an diesem Gewaltenteilungsverständnis geübt wurde 161, ist Voraussetzung für eine fundierte Widerlegung von Auffassungen, wie diejenigen über die Rechtsnatur sui generis des Gnadenaktes. Während im Rechtsstaat die Existenz eines außerrechtlichen ius eminens, das die Begnadigung bestimmt, nicht denkbar wäre, ist die Existenz einer vierten Gewalt, d. h. die Betrachtung der Verfassungsbestimmung über die Begnadigung als einer Gewaltenteilungsnorm, prinzipiell nicht ausgeschlossen, nachdem - wie bereits dargestellt wurde - der Verfassunggeber über die Gestaltung der Funktionen souverän bestimmt. Angesichts der garantierten Dreiteilung der Gewalten in den untersuchten Verfassungen kann die Behauptung einer gesonderten Gnadengewalt als vierter Gewalt allerdings nicht unreflektiert vorgetragen werden, sondern erfordert - und dieser Aufgabe kommt 158 159 160 161

Zimmer, S. 205. Schätzler, "Gnade vor Recht", S. 1253; ders. Handbuch, S. 122. Dazu unten Kapitel F, bes. S. 563 ff. S. oben 68 ff., 88 ff.

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Β. Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

das Schrifttum, das diese Ansicht vertritt, nicht nach - erstens eine Analyse der wesentlichen Differenz der Begnadigung von den Akten der drei Funktionen und zweitens eine Darstellung der Anhaltspunkte, aus denen zu schließen ist, daß der Verfassunggeber implizit eine vierte Funktion vorgesehen hat. Anders ausgedrückt: indem die untersuchten Verfassungen die funktionale und organische Dre/teilung der Gewalten festgelegt haben, kann man nicht behaupten, es existiere eine vierte Gewalt, es sei denn man erbringt den Beweis, daß der Verfassunggeber durch eine spezielle Bestimmung (etwa die Gnadennorm) das Grundschema der Dreiteilung ergänzt bzw. korrigiert hat 162 . Bei den Lehrmeinungen, welche die Begnadigung als einen Rechtsakt sui generis verstehen, fehlt nicht nur jeder entsprechende Ansatz, er wird nicht einmal axiomatisch vorausgesetzt. Denn tatsächlich wird von ihnen gar keine begriffliche Differenz zwischen der Begnadigung und den Rechtsakten der drei Funktionen angenommen, nachdem einige Theoretiker behaupten, die Begnadigung sei sowohl ein Rechtsakt sui generis als auch ein Regierungs- bzw. Verwaltungsakt 163, wobei die Behauptung der Rechtsnatur sui generis ohne spezielle Analyse der Merkmale der Begnadigungsbefugnis, meistens unter Berufung auf den "außerrechtlichen" Charakter der Gnade, aufgestellt wird. Die Gnade gilt demnach als "Äußerung der Staatsgewalt von ungewöhnlicher Kraft", die das System der wechselseitigen Kontrolle der Staatsfunktionen sprengt, indem sie momentan deren institutionalisierte Trennung aufhebt und "den Urteilsbefehl des Gerichts seiner Wirkung beraubt" 164. Auf diese Weise wird die Gnade aus dem "Alltag" der strafrechtlichen Repression herausgenommen und wird nicht als Kompetenz betrachtet, die vom geltenden Recht bestimmt wird 165 und die durch eine effizientere Regulierung 162

Deshalb ist die im wesentlichen richtige Aussage Burmeisters in ihrer tautologisierenden Allgemeinheit nicht zu übernehmen: "Erscheinungen der Staatlichkeit unter dem Grundgesetz sind funktional und organisatorisch Äußerungen entweder der rechtsetzenden oder der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt; sie können nichts anderes sein, denn die Staatsgewalt erschöpft sich in der Summe der dreigeteilten Funktionen" ("Verträge", S. 218 - meine Hervorh.); die Gewaltenteilungsnorm (Art. 20 Abs. 2 GG) verbietet aber die Existenz einer vierten Gewalt nur im organischen Sinn (die Staatsgewalt wird "durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt"); die verfassungsrechtliche Existenz einer vierten Gewalt im funktionalen Sinn ist zwar unwahrscheinlich aber nicht a priori ausgeschlossen. 163 So etwa Laband, Bd. m, S. 507, Schätzler, "Gnade vor Recht", S. 1254, ders., Handbuch, S. 122, N.N. Saripolos, S. 129, Anm. 1, Kordogiannopoulos, S. 744, Rotis, S. 469 f., denen zufolge die Rechtsnatur sui generis den vollziehenden Charakter der Gnade nicht ausschließt und vielmehr dessen "Ergänzung" darstellt. 164 Laband, Bd. m, S. 509. 165 "Le droit de grâce constitue (...) une compétence résultant (...) du droit et, plus précisément, de la constitution" schreibt Prétot (S. 1527), womit er auf etwas hinweist, was eigentlich selbstverständlich sein sollte (vgl. oben S. 27). Erichsen, S. 97 ff., be-

Π . Die Begnadigung als Akt sui generis

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der Strafen den wirksamen Schutz der Rechtsordnung zum Zweck hat. Nach dieser Argumentation hat die Gnade "außerrechtlichen Charakter" 166, sie sei "nur metaphysisch zu begründen" und "der Rechtsordnung vorgegeben"167, so daß die betreffenden Lehrmeinungen letztendlich zu einem quasi naturrechtlichen Ansatz hinsichtlich der Voraussetzungen und des Ziels der Begnadigung gelangen168. Somit wird deutlich, daß die Vorstellung von einem Rechtsakt sui generis nicht auf juristischen Abwägungen beruht, sondern - sofern sie nicht von der monarchischen Herkunft der Gnade beeinflußt ist - eher von subjektiven Erwägungen ausgeht, welche die Begnadigung außerhalb des juristischen Systems ansiedeln (die Gnade sei "normfrei") 169; derartige Erwägungen haben keinen juristischen Anhaltspunkt und sind angesichts der verfassungsrechtlichen Garantie und Regelung der Gnadenkompetenz nicht überzeugend.

3. Die Begnadigung als Akt sui generis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Was die Rechtsprechung anbelangt, fand die Behauptung der Rechtsnatur sui generis Anklang in dem grundlegenden - wie auch im Schrifttum höchst umstrittenen - Beschluß des BVerfG zur Frage der Justitiabilität von Gnadenentscheidungen aus dem Jahre 1969, wo die Zulässigkeit des Rechtswegs für

tont, daß die Gnade als inhaltlich geregelte Kompetenz Rechtsqualität besitzt und nicht als Rechtsakt sui generis oder als "gebliebenes Institut" bezeichnet werden kann; vgl. König, S. 26, 76, 110 ff.; Geerds, S. 24 f.; Rüping,, S. 35, 43 f.; Ax. Maurer, S. 94 f.; Schenke, Art. 19 Abs. 4, Rnr. 236; dens., "Rechtsschutz", S. 591; Svolos, S. 112: "die Gnade (...) ist lediglich eine Kompetenz des Staatsoberhauptes, die genauso wie jede andere wahrgenommen wird"; Georgopoulos, "Die Zulässigkeit", S. 173 f.; aus der Rechtsprechung vgl. Hess. StGH, NJW 1974, S. 791: "Die Ausstattung des Ministerpräsidenten als Staatsorgan mit einer bestimmten Befugnis ist ein rechtlicher Vorgang, dem die Verfassung selbst die ihr immanenten Grenzen setzt." 166 So etwa Drews, S. 4. 167 Schätzler, "Gnade vor Recht", S. 1251. 168 Nach Laband, "beruht [die Begnadigung] nicht auf dem positiven Recht (...), sie steht der Schuld- und Rechtsfrage völlig unabhängig gegenüber" (Bd. ΠΙ, S. 506). In diese Richtung bewegt sich auch ein Teil der zeitgenössischen Literatur: Giannidis behauptet "die Gnade sei keine Anwendung von (positivem) Recht" ("Recht und Gnade", S. 5); ähnlich Pantelis, S. 41 f.; die Auffassung Labands überträgt Rotis, S. 465 ff, indem er behauptet, die Begnadigung sei ein Regierungsakt, gleichzeitig aber auch ein Rechtsakt sui generis, der sich gegen das Gesetz und das Recht wende (ebda, S. 469 f.). Vgl. Arndt, Sp. 108; Kugler/Knobloch, S. 1502, 1504; Euba, S. 122 ff; Schätzler, "Gnade vor Recht", S. 1254; ders., Handbuch, S. 121 f. 169 So Schätzler, Handbuch, S. 121.

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ablehnende Gnadenentscheidungen verneint wurde 170. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, daß die Ablehnung eines Gerichts, negative Gnadenentscheidungen nachzuprüfen, gegen Art. 19 Abs. 4 GG 1 7 1 verstoße. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde verworfen mit der Begründung, daß die Ablehnung eines Gnadenerweises - wie auch eine positive Gnadenentscheidung kein gewönlicher Akt der Exekutive ist und demnach nicht der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. Konkret behauptete das BVerfG 172 : a) das Institut der Begnadigung sei eine "gebliebene" Prärogative aus Zeiten der Monarchie; als "Gestaltungsmacht besonderer Art" lasse es sich nicht in das System der Dreiteilung der Gewalten einordnen ünd sei aus diesem Grund auch nicht gerichtlich nachprüfbar; b) es fehle an Verfassungs- und Gesetzesnormen, die als greifbare Maßstäbe für eine gerichtliche Nachprüfung des weiten Ermessensspielraums des für die Begnadigung zuständigen Organs dienen könnten; c) der Verurteilte habe kein Recht i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG auf einen Gnadenerweis: "Ein solches Recht kann daher nicht verletzt werden". Im Jahre 1984 bestätigte das BVerfG die Unzulässigkeit der gerichtlichen Nachprüfung von Gnadenentscheidungen173. Es wurden bereits Einwände gegen die Behauptung einer Rechtsnatur sui generis geäußert, denn sie widerspricht der vom Gewaltenteilungsprinzip geprägten Struktur des Rechtsstaates und führt zu fehlerhaften Konstruktionen, wie etwa die Auffassung des BVerfG, das Gnadeninstitut unterliege nicht der Systematik der Funktionenverschränkungen; nachdem jedoch in demselben Beschluß anerkannt wird, daß der Gnadenerweis ein "Eingriff der Exekutive 170

BVerfGE 25, 352 ff. "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen." 172 BVerfGE 25, 352, 358 ff. 173 BVerfGE 66, 337, 363. Zur gleichlautenden Rechtsprechung des BVerwG, s. E 14, 73 ff.; E 49, 221 ff.;NJW 1983, S. 187 ff. Über die Frage der gerichtlichen Kontrolle von Gnadenentscheidungen in der Bundesrepublik wird ein "ermüdender Streit" (Merten, Rechtsstaatlichkeit, S. 80) geführt, der sich auf die Frage konzentriert, ob die Begnadigung ein Rechtsakt sui generis ist, oder ob sie eine vollziehende Rechtsnatur hat. Ermüdend ist dabei m. E. weniger die Wiederholung derselben Argumente als die Tatsache, daß die Rechtsnatur der Gnade nicht in Zusammenhang mit der Funktionenlehre untersucht wird. Zur Justitiabilität der Gnade s. König, S. 174 ff.; Blaser, S. 66 ff.; Bettermann, "Die Rechtsweggarantie", S. 537 ff; ν. Ρ reuschen, "Für ein rationales Gnadenrecht", S. 458 f.; Seuffert, S. 491 ff., bes. S. 499 ff.; Petersen, S. 502 ff.; Rüping, S. 43 f.; Ax. Maurer, S. 56 ff.; Schenke, "Rechtsschutz", S. 588 ff.; dens., Art. 19 Abs. 4, Rnr. 232 ff.; Bachof, S. 469 ff.; Stern, Bd. I M , S. 1371 ff; G. Schneider, "Anmerkungen", S. 101 ff.; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, vor § 12 GVG, Rnr. 19 ff.; Schätzler, Handbuch, S. 126 ff.; jeweils m. w. Hinw. auf Literatur und Rechtsprechung, die sich, wie zutreffend formuliert wurde, "in ausgefahrenen Gleisen" bewegen (Bachof S. 469). 171

Π . Die Begnadigung als Akt sui generis

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in die rechtsprechende Gewalt" ist 174 , wäre es konsequenter, die Gnadenbefugnis als eine der in der Verfassung vorgesehenen Verschränkungen aufzufassen. Nicht überzeugend sind auch die zwei anderen Argumente, die das BVerfG zur Ablehnung der Justitiabilität von Gnadenentscheidungen vorgetragen hat. Die Feststellung, daß die Verfassung den zuständigen Organen eine weite Ermessensfreiheit bei der Handhabung der Begnadigung zuerkennt, ist zwar an sich richtig, aber nicht entscheidend: Die Einschränkung des Kontrollumfangs bedeutet nicht automatisch die Unzulässigkeit jeder Nachprüfung und das Fehlen jeden Maßstabs für eine Kontrolle der Ermessensfreiheit, ζ. B. hinsichtlich eines etwaigen Ermessensmißbrauchs175. In der Argumentation des BVerfG wird das Quantitative dem Qualitativen gleichgesetzt, was berechtigterweise als "unlogisch"176 bezeichnet wurde. Ferner ist die allgemeine Aussage, der Verurteilte habe kein Recht auf einen Gnadenerweis, nicht a priori gerechtfertigt. Der Verurteilte hat zwar weder einen unmittelbaren noch einen mittelbaren - etwa unter Berufung auf den Gleichheitssatz - Rechtsanspruch auf Begnadigung177. Das bedeutet jedoch nicht, daß jede Form der gerichtlichen Nachprüfüng unmöglich wäre. Tatsächlich müßte die Möglichkeit des Rechtsschutzes für Fälle vorgesehen werden, in denen die Begnadigung zu einer Verschlechterung der Stellung des Verurteilten führt. Das ist ζ. B. der Fall, wenn mit einem Gnadenerweis, der die 174

BVerfGE 25, 352, 361. "Bedarf das Ermessen des Spielraums, so ist damit ein weiteres gegeben: der Bezug auf eine Grenze" (Forsthoff,\ Lehrbuch, S. 84). Daß die Ermessensfreiheit immer rechtlichen Bindungen unterliegt, betonen u. a. Bettermann, "Der Schutz der Grundrechte", S. 793, 797 ff.; Erichsen, in: ders./Martens, S. 209 ff. m. w. Hinw.; vgl. in bezug auf die Gnade Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 244; König, S. 117; Blaser, S. 80; Merten, Rechtsstaatlichkeit, S. 81. 176 Bettermann, "Die Rechtsweggarantie", S. 538; ebenso Hess. StGH, NJW 1974, S. 792. 177 Zur Problematik des Zusammenhangs zwischen der Begnadigung und dem Gleichheitssatz s. unten S. 278 ff; zu eventuellen Rechtsverletzungen während des Gnaden Verfahrens oder bei Erlaß der Gnadenentscheidung s. Ax. Maurer, S. 77 ff. m. w. Hinw. Mit juristischen Argumenten nicht vertretbar ist allerdings auch die Ansicht, die willkürliche Ablehnung einer Begnadigung verletze rechtlich geschützte Interessen des Gnadengesuchstellers und begründe demnach einen Anspruch auf Gnadenerweis, d. h. auf Änderung des rechtskräftigen Strafurteils, obwohl es die Gnadeninstanzen nicht für notwendig halten. Daß es kein "Recht auf Gnade" geben kann, belegen u. a. Grewe, S. 11; Kanzleiter, S. 86 ff.; Seuffert, S. 498 f.; Schätzler, "Gnade vor Recht", S. 1253; ders., Handbuch, S. 129 ff.; Merten, Rechtsstaatlichkeit, S. 64, 81; Bachof, S. 471; Monteil, S. 6, 307; Prétot, S. 1532; Jeanjean, S. 153; Zagrebelsky, Amnistia, S. 213, Anm. 64. Die Gegenmeinung vertreten u. a. König, S. 125 ff.; Blaser, S. 80; Schenke, "Rechtsschutz", S. 591. 175

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Β. Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Strafe umwandelt, auch eine Nebenfolge auferlegt wird, die in dem Gerichtsurteil nicht ausgesprochen war, so daß die Rechte, die dem Verurteilten aufgrund des Gesetzlichkeitsprinzips zustehen, beeinträchtigt werden. Ein solcher Fall beschäftigte früher die Rechtsprechung178. Die vier dissentierenden Richter vertraten in derselben Entscheidung des BVerfG 179 die Auffassung, die Begnadigung sei in die Systematik der Gewaltenteilung einzuordnen und sei kein Rechtsakt sui generis, sondern ein Akt der vollziehenden Gewalt, der - wie ohne Begründung behauptet wurde - keinen Eingriff in die Rechtsprechung darstelle. Demnach müsse die Gnadenentscheidung "von Motiven getragen seien, die sich an der Gerechtigkeitsidee orientieren, wie sie vom Grundgesetz im einzelnen konkretisiert worden ist" 1 8 0 ; diese Motive bildeten gleichzeitig die Maßstäbe für eine gerichtliche Nachprüfung. Der Versuch einer Verrechtlichung der Gnade unter dem Aspekt ihrer Gleichstellung mit den sonstigen Methoden der Strafmilderung oder des Straferlasses hat den Vorteil einer "Entmystifizierung" der Begnadigung und unterscheidet sich somit von dem großen Teil sowohl der älteren als auch der neueren juristischen Literatur, die von der Gnade als "Relikt aus Zeiten der Monarchie" bzw. als "Prärogative" von außerordentlichem Charakter ausgeht181. Zweifelhaft ist allerdings die Richtigkeit eines Ansatzes, der die Gerechtigkeit zum Maßstab der gerichtlichen Kontrolle erhebt; ginge man nämlich davon aus, daß "die Bindung an die Gerechtigkeit gleichbedeutend mit der Bindung an die Verfassung (wird)" 182 , d. h. daß die verfassungskonformen Rechtsnormen die Gerechtigkeitsidee verwirklichen, dann wäre die Bezugnahme auf die Gerechtigkeit überflüssig, und an ihre Stelle müßten die konkreten Kontrollmaßstäbe der Handhabung der Begnadigungsbefugnis treten. Weil aber keine derartigen Maßstäbe vorgeschlagen werden und die vier dissentierenden Richter zudem davon ausgehen, daß die Gerechtigkeit von der geltenden Verfassung konkretisiert wird (und nicht mit ihr identisch ist) 183 , 178 Zur Entscheidung Gugel des franz. Conseil d'Etat s. unten S. 121; zu einer ähnlichen Entscheidung der franz. Cour de Cassation s. unten S. 180. Die Notwendigkeit der gerichtlichen Kontrolle in solchen Fällen betonen Légal , "Les limites", S. 659 ff.; Monteil , S. 58 ff.; Merle/Vitu, S. 847 m. w. Hinw.; vgl. schon die Hinw. bei Garraud, Anm. 1 auf S. 400 f. 179 BVerfGE 25, 352, 363 ff. Bei dieser Entscheidung ergab sich Stimmengleichheit und die Verfassungsbeschwerde wurde gemäß § 15 Abs. 2 Satz 4 Β VerfGG verworfen. 180 BVerfGE 25, 352, 364. 181 Dazu s. unten S. 553 ff. 182 So etwa Robbers, S. 38. 183 BVerfGE 25, 352, 364.

Π . Die Begnadigung als Akt sui generis

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handelt es sich hier vielmehr um einen Ansatz zur kausalen Verbindung einer transzendentalen und nicht konkretisierbaren Gerechtigkeitsidee184 mit den Regeln der rechtlichen Staatsorganisation (Verfassung = Modus zur Realisation der Gerechtigkeit durch die "adäquate" Auslegung der Verfassungsbestimmungen) - ein Ansatz, der sich als irreführend erweist und jedenfalls keine nachvollziehbaren Kriterien für die gerichtliche Nachprüfung der Begnadigung bietet. Diese Auffassung führt zu einer Substitution der Entscheidung der zuständigen Organe durch eine gerichtliche Beurteilung, die letzendlich auf einer subjektiven Vorstellung von Gerechtigkeit beruhen würde; derartige Gerechtigkeitserwägungen stellen keine konkrete Richtigkeitsgrantie dar und sind außerdem im Bereich der strafrechtlichen Repression nicht anwendbar. Das Strafrechtssystem zielt unmittelbar auf die Erhaltung der Ordnung ab und nicht auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit, besonders wenn diese als "Idee" aufgefaßt wird, die nicht anhand konkreter und von einer systematischen Verfassungsinterpretation abzuleitender Maßstäbe definierbar ist. Damit unterscheidet sich die Meinung der vier dissentierenden Richter zwar im Hinblick auf die Rechtsfolgen von den Auffassungen über eine Rechtsnatur sui generis der Gnade, indem sie eine gerichtliche Nachprüfung der Handhabung der Begnadigungsbefugnis befürwortet; ihre Argumentationsweise ist jedoch nach wie vor geprägt von der Vorstellung des Ausnahmecharakters der Gnade, die in unmittelbarem - aber auch vagem und letztendlich willkürlichem - Zusammenhang mit der Gerechtigkeit stehe und ein aliud im Vergleich zu anderen Kompetenzen im Bereich der Strafaussetzung darstelle. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, daß die Ablehnung der gerichtlichen Nachprüfung von Entscheidungen in Gnadensachen nur eine (und zwar scheinbare) Ausnahme kennt, in der die gerichtliche Kontrolle von der Rechtsprechung des BVerfG für erforderlich gehalten wurde. Das BVerfG hat entschieden, daß der Widerruf eines Gnadenerweises aus dem Grund, daß der Verurteilte seinen Verpflichtungen bei der gnadenweisen Strafaussetzung zur Bewährung nicht nachgekommen ist, der gerichtlichen Kontrolle unterliegt 185. Der Widerruf eines Gnadenerweises ist ein gewöhnlicher (Justiz-)Verwaltungsakt, der aufgrund konkreter Kriterien erlassen wird, d. h. aufgrund der Prüfung, ob die durch den Gnadenerweis auferlegten Verpflichtungen eingehalten wurden. Das Verfahren zum Erlaß des Widerrufs entspricht nicht dem

184 185

Dazu unten S. 377 ff. BVerfGE 30, 108, 110 f.

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Β. Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

Verfahren und der Handhabung der Begnadigung, die grundsätzlich durch das Fehlen von rechtlich bindenden Kriterien gekennzeichnet ist. Der Widerruf des Gnadenerweises - der durch die meisten GnOen in Deutschland an untergeordnete Stellen delegiert wird 1 8 6 -, ist ein Verwaltungsakt, der "im pflichtgemäßen Ermessen der Gnadenbehörde steht" 187 und immer mit Gründen zu versehen ist 1 8 8 ; seine Rechtmäßigkeit wird gerichtlich nachgeprüft 189. Aus diesem Grund kann der Widerruf nicht als actus contrarius des Gnadenerweises bezeichnet werden, und es handelt sich dabei nur scheinbar um eine Ausnahme von der Verneinung der Justitiabilität in Gnadensachen, d. h. es handelt sich nicht um einen Bruch in der Praxis der Ablehnung einer gerichtlichen Kontrolle von Gnadenentscheidungen, und somit wird dadurch auch die Frage der Rechtsnatur des Gnadenaktes nicht tangiert. Es ist also kein Widerspruch, wenn das BVerfG einerseits die gerichtliche Nachprüfung der Gnadenentscheidungen ablehnt und andererseits die gerichtliche Kontrolle des Widerrufs für notwendig hält 190 ; denn im Fall des Widerrufs kann es vorkommen, daß aufgrund einer neuen Strafe sine lege die Rechtsstellung des Begnadigten verschlechtert wird und ihm gewährte Freiheitsrechte, auf deren Fortbestand er vertrauen konnte, genommen werden; das ist ζ. B. der Fall, wenn eine Widerrufsentscheidung getroffen wird, obwohl die im Gnadenakt gesetzten Voraussetzungen seitens des Verurteilten eingehalten wurden, oder auch wenn der Widerruf sich als eine zum Verstoß gegen die Weisungen nicht verhältnismäßige Sanktion erweist 191. Aus den genannten Gründen wäre es konsequent, wenn für den Widerruf des Gnadenerweises die Zulässigkeit des Rechtswegs auch in den anderen Rechtsordnungen, die wir hier untersuchen, anerkannt würde. Das Problem hat u. W. die Rechtsprechung in Frankreich bisher nicht beschäftigt, was wahrscheinlich auf die Seltenheit von Widerrufsakten zurückzuführen ist. In Griechenland werden - zumindest in den letzten Jahren - keine bedingten Be186

Dazu zusammenfassend Schätzler, Handbuch, S. 132. KG, Beschluß vom 20.11.1990, NStZ 1993, S. 55. 188 S. etwa § 31 Abs. 3 GnO Nordrhein-Westfalens (abgedruckt bei Schätzler, Handbuch, S. 422). 189 Zuständig ist der Strafsenat des örtlich zuständigen Oberlandesgerichts 23 EGGVG. Ausführlich zur Nachprüfungsfrage Schätzler, Handbuch, S. 131 ff; Eisenberg, S. 55; jeweils m. Hinw. auf die Rechtsprechung (adde OLG Stuttgart, Beschluß vom 6.7.1987, NStZ 1987, S. 480). 190 So auch Schätzler, Handbuch, S. 132. Als "unlogisch" und "inkonsequent" bezeichnet diese Rechtsprechung des BVerfG dagegen Bettermann, "Die Rechtsweggarantie", S. 537 f. (538); vgl. Schenke, "Rechtsschutz", S. 592; Ax. Maurer, S. 72 m. w. Hinw. 191 Zu den Schranken des Widerrufs s. unten S. 310 ff., 438 ff. 187

nach

IV. Die Begnadigung als Akt der gesetzgebenden Funktion

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gnadigungen erteilt 192 , und somit ist die Widerrufsproblematik in der Praxis nicht von Bedeutung. In Italien dagegen erfolgt der Widerruf durch Beschluß des Vollstreckungsrichters oder des Gerichts, das eine neue Verurteilung ausspricht, im Fall der Nicht-Einhaltung seitens des Begnadigten der im Gnadenerweis vorgesehenen Pflichten; gegen den Widerrufsbeschluß ist Revision zulässig193. In Italien sind somit die Garantien sowohl bei der Widerrufsentscheidung als auch bei ihrer Kontrolle besonders hoch und kommen denjenigen des Widerrufs der gerichtlichen Strafaussetzung gleich 194 , was sich angesichts der schweren Folgen eines Widerrufsaktes für den Begnadigten als notwendig erweist.

IV. Die Begnadigung als Akt der gesetzgebenden Funktion

7. Die vorgeschlagenen Interpretationen Kann die Begnadigung als Akt der gesetzgebenden Funktion definiert werden? Die positive Antwort auf diese Frage stützt sich auf die Behauptung Montesquieus, daß die Milderung von ungerechten Folgen eines Gesetzes das Eingreifen des gesetzgebenden Organs erfordert, da es allein zuständig sei, die Nicht-Anwendung eines Gesetzes zu beschließen195. Diese Auffassung beruht auf folgenden Überlegungen: Der Gnadenerweis sei ein Befehl, der die NichtAnwendung von geltenden sekundären Rechtsnormen auf bestimmte Delikte zum Gegenstand habe. Somit sei die Begnadigung notwendigerweise lex specialis, denn aufgrund der Hierarchie der Rechtsnormen bedeute die Nicht-An192

Schreiben des griech. JM an den Verfasser vom 6.4.1993. Art. 674 i. V. m. 665 und 666 Abs. 6 ital. StPO von 1988. Aus der Formulierung des Art. 596 Abs. 4 der alten ital. StPO ging hervor, daß die Widerrufsentscheidung in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft fiel; das Schrifttum und die Rechtsprechung behaupteten jedoch, daß der Widerruf des Gnadenerweises immer eine richterliche Zuständigkeit ist; dazu Gianzi, "Grazia", S. Ill m. w. Hinw. Die neue StPO von 1988 hat diese Auslegung, die in Richtung der Rechtsstaatlichkeit geht, völlig übernommen. 194 Die Frage, ob dieser Entscheidungsvorgang dem Widerruf eines Gnadenerweises den Charakter eines materiell judikativen Aktes verleiht - und nicht denjenigen eines Justizverwaltungsaktes, wie es in den anderen Rechtsordnungen der Fall ist - kann hier nicht untersucht werden. 195 Montesquieu, Buch XI, Kapitel VI (S. 301). Diese Meinung ist seit Thomas von Aquin eine Konstante der "Naturrechtslehre" über die Begnadigung: s. Sternberg, S. 14, 50 und passim; sie wird vertreten u. a. von Althusius (Hupe, S. 70), Carpzov und Grotius (Grewe, S. 36 ff mit ausführlicher Darstellung dieser Auffassung). 193

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Β. Rechtsnatur der Gnadenentscheidung

wendung einer Strafrechtsnorm im Einzelfall eine ad personam Aufhebung des Gesetzes und setze eine Rechtsnorm voraus, die in der Hierarchie der Rechtsnormen denselben Rang hat wie die aufzuhebende Rechtsnorm. Demnach sei die Begnadigung notwendigerweise ein Gesetzgebungsakt im materiellen Sinne (nur-materielles-Gesetz) 196 , 197 . Die Setzung dieser neuen Rechtsnorm wird nicht nur für die Begnadigung als notwendig erachtet, sondern sie wird als Korrektur "des als unvollkommen erkannten Gesetzes im einzelnen F a l l " 1 9 8 für erforderlich gehalten.

2. Kritik Der juristische Schwachpunkt dieses Ansatzes ist offensichtlich: Denn der Gnadenakt wird nach dem Verfahren und den Voraussetzungen erlassen, die in den entsprechenden Verfassungsbestimmungen festgelegt sind, und ist aus diesem Grund lediglich A nwendung einer speziellen Rechtsnorm, die sich auf

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Diese Deutung wird von einem kleinen Teil der Lehre vertreten, was allerdings nicht bedeutet, daß sie keinen Anklang findet (so aber Nikolaou, S. 418). Unter ihren Vertretern s. v. Ihering, S. 427 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 189; Schmidt, S. 567; Sermet, S. 13; Mortati , S. 777; Raikos, Die Begnadigung, S. 8; vgl. die von Prétot, S. 1559 zit. Autoren. 197 Als "Legislativakt" (in Anfuhrungsstrichen) wurde die Begnadigung neuerdings von Papalambrou, ("Das Begnadigungsrecht", S. 244) bezeichnet, der dainit erklären will, warum der griech. Staatsrat, der die Gesetzmäßigkeit der Verwaltungsakte kontrolliert, den Gnadenakt nicht gerichtlich nachprüft. Die Grundthese des Autors ist jedoch, daß die Frage nach der Rechtsnatur der Begnadigung "derartig absolut formuliert, sinnlos ist", weil die Unterscheidung zwischen Legislativ- und Exekutivakten nur relativ sein könne (jeder Rechtsakt sei zugleich Exekutivakt in bezug auf die Rechtsakte höherer Stufe und Legislativakt in bezug auf die Rechtsakte niederer Stufe) (ebda, S. 243). Diese Ansicht ist darauf zurückzuführen, daß der Autor die Gewaltenteilungslehre aufgrund von kelsenschen Argumenten grundsätzlich ablehnt (