Die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in Deutschland und Frankreich: Eine interdisziplinäre und rechtsvergleichende Betrachtung [1 ed.] 9783428549993, 9783428149995

Die Arbeit befasst sich mit der rechtsvergleichenden prozessualen Frage, welche Auswirkungen ein abgeschlossener bzw. re

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Die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in Deutschland und Frankreich: Eine interdisziplinäre und rechtsvergleichende Betrachtung [1 ed.]
 9783428549993, 9783428149995

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Schriften zum Prozessrecht Band 242

Die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in Deutschland und Frankreich Eine interdisziplinäre und rechtsvergleichende Betrachtung

Von Franziska Stegmair

Duncker & Humblot · Berlin

FRANZISKA STEGMAIR

Die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in Deutschland und Frankreich

Schriften zum Prozessrecht Band 242

Die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in Deutschland und Frankreich Eine interdisziplinäre und rechtsvergleichende Betrachtung

Von Franziska Stegmair

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 19 Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-14999-5 (Print) ISBN 978-3-428-54999-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84999-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Danksagung Großer Dank gilt Frau Prof. Dr. Petra Wittig, meiner Doktormutter, für die Be­ treuung meiner Dissertation und ihre wertvolle Unterstützung. Ihre konstruktiven Anregungen und Anmerkungen haben mir wichtige Denkanstöße gegeben und diese Arbeit sehr bereichert. Frau Prof. Dr. Beate Gsell sei herzlich gedankt für die Erstellung des Zweit­ gutachtens. Von ganzem Herzen danke ich meinem Partner Johannes für seine uneinge­ schränkte Unterstützung und sein großes Verständnis. Er war immer für mich da und hat mich auch in schwierigen Momenten stets aufgemuntert. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mir meine Ausbildung ermöglicht haben und immer an mich glauben. Ihnen widme ich diese Arbeit. 

Franziska Stegmair

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1. Teil Deutschland

36

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivil­ prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 I.

Grundsätzlich keine Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile . . 36

II.

Ausnahmsweise Bindung des Zivilrichters an ein rechtskräftiges Strafurteil . . 59

III. Erheblicher Einfluss der im Straf- und Ermittlungsverfahren gewonnenen Er­ kenntnisse auf die zivilrichterliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 IV. Begründung der gesetzlichen Lösung zugunsten der Unabhängigkeit und Bin­ dungsfreiheit des Zivilrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . 113 I.

Aussetzungsbefugnis, aber keine Aussetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

II.

Voraussetzungen der Aussetzungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

III. Ermessenskriterien im Rahmen der Abwägungsentscheidung gem. § 149 Abs. 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. Begründung der Aussetzungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 V.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

2. Teil Frankreich

118

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivil­ prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I.

Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

II.

Voraussetzungen der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

III. Umfang der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 IV. Rechtliche Einordnung und gesetzliche Anknüpfung des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

10

Inhaltsübersicht V.

Fortwährender Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

VI. Abgrenzung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von anderen Urteilswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 VII. Verwertung einzelner Erkenntnisse des Strafverfahrens im Zivilverfahren . . . . 167 VIII. Rechtfertigung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . 167 IX. Nachteile der französischen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 X.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . 179 I.

Traditionelles Prinzip: „le criminel tient le civil en l’état“ . . . . . . . . . . . . . . . . 180

II.

Gemeinsame Voraussetzungen einer Verfahrensaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 181

III. Obligatorische Aussetzung der „action civile“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 IV. Gesetzesänderung 2007: Aussetzungsermessen für „actions à fins civiles“ . . . 189 V.

Vorschlag einer weitergehenden Abschaffung des Prinzips „le criminel tient le civil en l’état“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

3. Teil

Zusammenfassung der Ergebnisse

196

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivil­ prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 I.

Berücksichtigung der Ergebnisse des Strafprozesses bei der Sachverhaltsermitt­ lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

II.

Berücksichtigung des Strafurteils bei der rechtlichen Würdigung . . . . . . . . . . . 202

B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . 203 I.

Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

II.

Formale Annäherung der Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

4. Teil Bewertung der nationalen Konzepte im Hinblick auf die Einhaltung bestimmter Verfahrensprinzipien



205

A. Bewertung der Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfol­ genden Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I.

Bewertungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Inhaltsübersicht II.

11

Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 B. Bewertung der Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . 232 I.

Bewertungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

II.

Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

5. Teil Reformbedarf?

240

A. Reformbedarf im deutschen Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 I.

Reformbedarf im Hinblick auf die Auswirkungen eines abgeschlossenen Straf­ prozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

II.

Reformbedarf im Hinblick auf die Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

B. Reformbedarf im französischen Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1. Teil Deutschland

36

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivil­ prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 I.

Grundsätzlich keine Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile . . . 36 1. Begriff der Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Bedeutung der Bindungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Rechtliche Einordnung der Bindungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Keine Bindung im Wege der positiven Rechtskraftwirkung des Straf­ urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 b) Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gem. § 286 Abs. 1 ZPO als Hindernis für eine Bindungswirkung des Strafurteils . . . . . . . . . . . . . . . 43 c) § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. als gesetzliches Verbot einer Bindungswir­ kung des Strafurteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 d) § 118 Abs. 3 BRAO, § 57 Abs. 1 BDG e contrario . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 e) Beweiskraft des Strafurteils als öffentliche Urkunde gem. §§ 415 ff. ZPO 47 f) Vorfragenkompetenz und fakultative Verfahrensaussetzung gem. § 149 Abs. 1 ZPO als Indizien für die Bindungsfreiheit des Zivilrichters? . . . 48 g) Gesetzliche Zuständigkeitsverteilung als Indiz für eine Bindungswirkung des Strafurteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 h) Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte für und gegen eine Bindungswir­ kung des Strafurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 aa) Die Unabhängigkeit des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 bb) Der Gewaltenteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 cc) Das Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 dd) Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung bzw. Einheit­ lichkeit der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 ee) Die Gleichwertigkeit der Gerichtszweige, Art. 95 Abs. 1 GG . . . . 58 i) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

II.

Ausnahmsweise Bindung des Zivilrichters an ein rechtskräftiges Strafurteil . . 59 1. Bindung aufgrund vorangegangenen (Grund)Urteils im Adhäsionsverfahren 60

14

Inhaltsverzeichnis 2. Bindung aufgrund Tatbestandswirkung und Gestaltungswirkung . . . . . . . . 60 3. Bindung aufgrund von Beweisregeln, die die freie Beweiswürdigung aus­ schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 III. Erheblicher Einfluss der im Straf- und Ermittlungsverfahren gewonnenen Er­ kenntnisse auf die zivilrichterliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Gesetzliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a) Verwertung des Strafurteils im Wege des Urkundenbeweises . . . . . . . . . 63 b) Verwertung des strafgerichtlichen Hauptverhandlungsprotokolls im Wege des Urkundenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Verwertung einzelner Erkenntnisse aus dem Strafverfahren im Wege des Urkunden- oder Sachverständigenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 d) Abgrenzung: Auswirkungen eines Strafurteils auf die Darlegungs- und Beweislast im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Blick in die gerichtliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a) Zumeist zutreffende Anwendung der gesetzlichen Regelungen . . . . . . . 73 aa) Zutreffende Anwendung der Regeln über die Darlegungslast . . . . . 73 bb) Zutreffende Würdigung des Strafurteils auf der Beweiswürdigungs­ ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 cc) Folgen der zutreffenden Anwendung der gesetzlichen Regelungen 75 b) Teilweise ungenaue bzw. unzutreffende Anwendung der gesetzlichen Re­ gelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 aa) Unzutreffende bzw. ungenaue Anwendung der Regeln über die Dar­ legungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 bb) Unberechtigter Stellenwert des Strafurteils auf der Beweiswürdi­ gungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 cc) Ursachen und Folgen der unzutreffenden Gesetzesanwendung . . . 85 3. Gescheiterte Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Begründung der gesetzlichen Lösung zugunsten der Unabhängigkeit und Bin­ dungsfreiheit des Zivilrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2. Gesichtspunkte, die für eine Unabhängigkeit des Zivilrichters sprechen . . . 92 a) Unterschiedliche Aufgaben von Zivil- und Strafverfahren . . . . . . . . . . . 93 b) Geltung unterschiedlicher Verfahrensgrundsätze im Zivil- und Strafver­ fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Untersuchungsgrundsatz und Beibringungsgrundsatz . . . . . . . . . . . 97 bb) Beweislastregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Unterschiedliche Beweisverbote und Zeugnisverweigerungsrechte 100 dd) Strafprozessualer nemo tenetur-Grundsatz und Wahrheitspflicht im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Anspruch auf rechtliches Gehör unbeteiligter Dritter . . . . . . . . . . . . . . . 102 d) Wahrung der Rechte des Angeklagten im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . 104

Inhaltsverzeichnis

15

3. Mögliche Nachteile der Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten der Bin­ dungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Nachteilige Auswirkungen der Bindungsfreiheit auf Effizienz und Pro­ zessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Verzicht auf bessere Wahrheitsermittlung durch weitergehende Erkennt­ nismöglichkeiten des Strafverfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 c) Beeinträchtigung des Interesses einer geordneten Rechtspflege und des Ansehens der Justiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 d) Kritik im Hinblick auf den Opferschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 e) Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens . . . . . . . 112 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . 113 I.

Aussetzungsbefugnis, aber keine Aussetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

II.

Voraussetzungen der Aussetzungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Verdacht einer strafbaren Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Einfluss der Ermittlungen auf die zivilgerichtliche Entscheidung . . . . . . . . 114 3. Aufhebung der Aussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

III. Ermessenskriterien im Rahmen der Abwägungsentscheidung gem. § 149 Abs. 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. Begründung der Aussetzungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 V.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

2. Teil Frankreich

118

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivil­ prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I. II.

Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Voraussetzungen der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Bindungswirkung eines formell rechtskräftigen Strafurteils . . . . . . . . . . . . 123 2. Bindungswirkung im Hinblick auf sämtliche Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . 124

III. Umfang der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Sachlicher Umfang der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Bindungswirkung der Entscheidung über die Strafbarkeit . . . . . . . . . . . 125 b) Keine Beschränkung der Bindungswirkung auf den Tenor des Straf­ urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Bindungswirkung der tragenden Elemente des Strafurteils, soweit diese entscheidungserheblich für das Zivilverfahren sind . . . . . . . . . . . . . . . . 126

16

Inhaltsverzeichnis aa) Bindung im Hinblick auf die „constatations certaines et nécessaires“ des Strafurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 bb) Entscheidungserheblichkeit einzelner Elemente des Strafurteils für die Entscheidung des Zivilrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 d) Keine Möglichkeit des Gegenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Persönlicher Umfang der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Traditionelle Anerkennung der „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Entwicklung der Rechtsprechung im Hinblick auf die „erga omnes“-Wir­ kung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . 132 aa) Die Entscheidung „Sainglas gegen Sainglas“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 bb) Einschränkung der negativen Folgen der „erga omnes“-Wirkung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ durch eine objektive Beschränkung des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . 133 cc) Die Entscheidung der Cour de cassation vom 3. Juni 1998 . . . . . . 135 dd) Die Entscheidung der Cour de cassation vom 12. Juli 2000 . . . . . . 137 ee) Die Entscheidung der Cour de cassation vom 10. Oktober 2008 . . 139 c) Erwartete Auswirkungen der Entscheidungen auf die persönliche Reich­ weite der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . 141 aa) Bindungswirkung des Strafurteils gegenüber denjenigen, die tatsäch­ lich am Strafprozess beteiligt waren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Bindungswirkung des Strafurteils gegenüber denjenigen, die sich am Strafprozess hätten beteiligen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Keine Berücksichtigung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 IV. Rechtliche Einordnung und gesetzliche Anknüpfung des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Regelungen des Code civil, die auf eine strafrechtliche Verurteilung oder die Begehung einer Straftat abstellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Die obligatorische Verfahrensaussetzung gem. Art. 4 Abs. 2 CPP („le crimi­ nel tient le civil en l’état“) als Grundlage der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Bindung des Zivilrichters im Wege der negativen Rechtskraftwirkung des Strafurteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Bindung des Zivilrichters im Wege der positiven Rechtskraftwirkung des Strafurteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5. Bindung des Zivilrichters im Wege einer unwiderlegbaren Beweiswirkung des Strafurteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 6. Gesetzliche Zuständigkeitsverteilung und Gerichtsorganisation als Indizien für eine Bindungswirkung des Strafurteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Inhaltsverzeichnis

17

7. Regelungen des Code de procédure pénale, die die Existenz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ voraussetzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 8. Der Grundsatz der „unité des juridictions pénale et civile“ als Argument für eine Bindungswirkung des Strafurteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 9. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 V.

Fortwährender Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Entwicklung hin zu einer größeren Freiheit des Zivilrichters bei der recht­ lichen Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Abschaffung der „unité des fautes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Erheblicher Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Reduzierung des Anwendungsbereichs der „autorité de la chose jugée au pé­ nal sur le civil“ durch die Einschränkung des Grundsatzes „le criminel tient le civil en l’état“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3. Arbeitsentwurf zur Beschränkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf „actions civiles“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4. Einschränkung der „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

VI. Abgrenzung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von anderen Urteilswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 VII. Verwertung einzelner Erkenntnisse des Strafverfahrens im Zivilverfahren . . . . 167 VIII. Rechtfertigung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . 167 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Überlegenheit des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Bessere Wahrheitsermittlung im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) „Prééminence du pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Rechtssicherheit, Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit gerichtlicher Ent­ scheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5. Verflechtung zwischen „action civile“ und „action publique“ . . . . . . . . . . . 174 IX. Nachteile der französischen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Inkohärenz der französischen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Verstoß der „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gegen das rechtliche Gehör unbeteiligter Dritter . . . . . . . . . . . . 176 3. Nachteile für Opfer und Angeklagte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Geltung unterschiedlicher Verfahrensgrundsätze im Zivil- und Strafver­fahren 177 5. Nichtbeachtung des Grundsatzes der materiellen Wahrheit und Verdrängung der freien richterlichen Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 X.

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

18

Inhaltsverzeichnis

B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . 179 I.

Traditionelles Prinzip: „le criminel tient le civil en l’état“ . . . . . . . . . . . . . . . . 180

II.

Gemeinsame Voraussetzungen einer Verfahrensaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 181

III. Obligatorische Aussetzung der „action civile“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Begründung der obligatorischen Verfahrensaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Verhinderung des Einflusses des Zivilurteils auf die strafrichterliche Ent­ scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Überlegenheit des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Prozessuale Absicherung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 d) Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 e) Prozessökonomie, geordnete Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Kritik an der obligatorischen Verfahrensaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Missbrauchsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Verzögerung des Zivilverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. Gesetzesänderung 2007: Aussetzungsermessen für „actions à fins civiles“ . . . 189 1. Grund für die Einschränkung der Aussetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Reichweite des Aussetzungsermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Begründung des Aussetzungsermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Kritik an der fakultativen Verfahrensaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 V.

Vorschlag einer weitergehenden Abschaffung des Prinzips „le criminel tient le civil en l’état“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

3. Teil

Zusammenfassung der Ergebnisse

196

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivil­ prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 I.

Berücksichtigung der Ergebnisse des Strafprozesses bei der Sachverhalts­ ermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Allgemeine Bedeutung der Ergebnisse des Strafprozesses bei der Sachver­ haltsaufklärung im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Im Besonderen: Persönliche Reichweite der Ergebnisse des Strafprozesses bei der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Inhaltsverzeichnis

19

a) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 II.

Berücksichtigung des Strafurteils bei der rechtlichen Würdigung . . . . . . . . . . . 202 1. Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Annäherung der Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . 203 I.

Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

II.

Formale Annäherung der Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

4. Teil Bewertung der nationalen Konzepte im Hinblick auf die Einhaltung bestimmter Verfahrensprinzipien



205

A. Bewertung der Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfol­ genden Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I.

Bewertungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

II.

Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Die Widerspruchsfreiheit gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Der Grundsatz der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Die bestmögliche Wahrheitsermittlung im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4. Der Opferschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5. Das Recht auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . 217 6. Die Wahrung der Rechte des Angeklagten im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . 224 7. Effizienz- und prozessökonomische Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 8. Die freie richterliche Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 B. Bewertung der Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess . 232 I. II.

Bewertungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Die Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Die Prozesswirtschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

20

Inhaltsverzeichnis 5. Teil

Reformbedarf?

240

A. Reformbedarf im deutschen Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 I.

Reformbedarf im Hinblick auf die Auswirkungen eines abgeschlossenen Straf­ prozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Vorteile einer uneingeschränkten Bindungswirkung des Strafurteils . . . . . . 240 2. Ablehnung einer uneingeschränkten Bindungswirkung aufgrund nicht hin­ nehmbarer Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3. Asymmetrische Bindungswirkung als alternative Lösung? . . . . . . . . . . . . . 242 4. Kein Reformbedarf im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

II.

Reformbedarf im Hinblick auf die Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

B. Reformbedarf im französischen Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Auffassung am angegebenen Ort a. a. O. Abschn. Abschnitt a. F. alte Fassung AktG Aktiengesetz AO Abgabenordnung ArbGG Gesetz über die Gerichte für Arbeitssachen Art. Artikel Ass. plén. Assemblée plénière de la Cour de cassation Aufl. Auflage BAG Bundesarbeitsgericht BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter Bd. Band BDG Bundesdisziplinargesetz BeckOK Beck’scher Online-Kommentar Beck online Rechtsprechung BeckRS BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof Sammlung der Entscheidungen des BGH in Zivilsachen BGHZ BRAK Bundesrechtsanwaltskammer BRAO Bundesrechtsanwaltsordnung BR-Drucksache Deutscher Bundesrat Drucksache BT-Drucksache Deutscher Bundestag Drucksache Bulletin des arrêts de la Cour de cassation (Chambre civile) Bull. civ. Bulletin des arrêts de la Cour de cassation (Chambre criminelle) Bull. crim. BVerfG Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des BVerfG BVerfGE CA Cour d’appel Code civil C. civ. CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands Ch. mixte Chambre mixte de la Cour de cassation Chron. Chronique Civ. Chambre civile de la Cour de cassation Com. Chambre commerciale de la Cour de cassation CP Code pénal CPC Code de procédure civile CPP Code de procédure pénale Crim. Chambre criminelle de la Cour de cassation CSU Christlich-Soziale Union D. Recueil Dalloz

22

Abkürzungsverzeichnis

das heißt d. h. Diss. Dissertation DP Recueil périodique et critique Dalloz EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGZPO Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung Einl. Einleitung Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und EMRK Grundfreiheiten Charta der Grundrechte der Europäischen Union EU-Grundrechtecharta f. folgende Seite Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angele­ FamFG genheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für das gesamte Familienrecht mit Betreuungsrecht, FamRZ Erbrecht, Verfahrensrecht, Öffentlichem Recht folgende Seiten ff. FGO Finanzgerichtsordnung Fn. Fußnote GA Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gaz. Pal. Gazette du Palais GG Grundgesetz Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbHG Grdz Grundzüge GRUR Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht GSSt Großer Senat für Strafsachen GVG Gerichtsverfassungsgesetz Herv. im Original/d. Verf. Hervorhebung im Original/des Verfassers herrschende Meinung h. M. Hrsg. Herausgeber i.E. im Ergebnis InsO Insolvenzordnung Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IPBPR Informations rapides IR JBeschlG Justizbeschleunigungsgesetz Juristische Blätter JBl. JCP Juris-classeur périodique, édition générale Juristische Rundschau JR JuMoG Justizmodernisierungsgesetz JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KG Berlin Kammergericht Berlin LAG Landesarbeitsgericht LG Landgericht LMRR Lebensmittelrecht-Rechtsprechung MDR Monatsschrift für Deutsches Recht MiStra Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen MüKo Münchener Kommentar m. w. N. mit weiteren Nachweisen n° Numéro

Abkürzungsverzeichnis

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Neue Juristische Online-Zeitschrift NJOZ NJW Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR NJW Rechtsprechungs-Report NJW-Spezial Neue Juristische Wochenschrift-Spezial NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-RR NStZ Rechtsprechungs-Report Strafrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA OEG Opferentschädigungsgesetz OGH Oberster Gerichtshof (Österreich) OLG Oberlandesgericht Österreichische Zivilprozessordnung öZPO Pas. Pasicrisie belge RD pén. crim. Revue de droit pénal et de criminologie Chambre des requêtes de la Cour de cassation Req. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen RGSt RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RID pén. Revue internationale de droit pénal RiStBV Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Rn. Randnummer Revue de la recherche juridique RRJ Revue de science criminelle et de droit pénal comparé RSC RsprEinhG Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes Revue trimestrielle de droit civil RTD civ. S. Seite S. Recueil Sirey Zeitschrift für Schiedsverfahren SchiedsVZ SGG Sozialgerichtsgesetz SK-StPO Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung Soc. Chambre sociale de la Cour de cassation Sommaires de jurisprudence somm. StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StR Strafsenat StraFo Strafverteidiger-Forum StV Strafverteidiger u. a. und andere VersR Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht VfGH Österreichischer Verfassungsgerichtshof vgl. vergleiche Vor/Vorbem. Vorbemerkung VwGO Verwaltungsgerichtsordnung WM Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht ZAP Zeitschrift für die Anwaltspraxis ZIS Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik ZPO Zivilprozessordnung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZZP Zeitschrift für Zivilprozess

Einleitung Eine Rechtsordnung, die wie die deutsche oder französische Rechtsordnung eine verfahrensrechtliche Trennung von Zivil- und Strafverfahren vorsieht, muss sich mit der Problematik auseinandersetzen, wie damit umzugehen sein soll, wenn Straf- und Zivilgerichtsbarkeit gleichzeitig oder nacheinander mit demselben Sachverhalt befasst sind. Denn häufig sieht sich der mutmaßliche Täter nicht nur einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt, sondern wird auch mit der Geltend­ machung zivilrechtlicher Ansprüche konfrontiert. Zivil- und Strafgerichtsbarkeit haben deshalb mitunter dasselbe Geschehen tatsächlich und rechtlich zu würdi­ gen. Oft findet das Strafverfahren dabei zeitlich vor dem Zivilverfahren statt oder ist zumindest anhängig bevor das Urteil im Zivilprozess ergeht. Dies lässt sich un­ ter anderem auf den Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 EMRK zurück­ führen, der dem Einzelnen ein Recht darauf gewährt, dass über eine gegen ihn er­ hobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.1 Dieser Grundsatz gilt nicht nur für den eigentlichen Strafprozess, sondern „für die gesamte Dauer des Strafverfahrens vom Zeitpunkt der Kenntnis des Beschuldigten von den gegen ihn gerichteten Ermittlungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens.“2 Daher verpflichtet der Beschleunigungsgrundsatz die staat­ lichen Behörden nicht erst ab Anklageerhebung, sondern bereits im Ermittlungs­ verfahren3, und zwar ab dem Zeitpunkt, ab dem der Betroffene erkennen kann, „dass die Behörde wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung gegen ihn ermittelt.“4 Besondere Bedeutung kommt diesem Grundsatz gem. Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 EMRK in Haftsachen bei, da durch die Untersuchungshaft schwerwiegend in das Freiheitsrecht des Betroffenen eingegriffen wird.5 Ein weiterer Grund für das zeitliche Nachfolgen des Zivilprozesses dürfte darin liegen, dass der ­mutmaßliche 1 Vgl. zum Beschleunigungsgrundsatz BVerfG NStZ 2006, 680, 681; BVerfG NJW 1984, 967; BGH Urteil vom 9. Oktober 2008, 1 StR 238/08, BeckRS 2008, 22239, Rn. 11; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 33 ff.; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 160. 2 BGH Urteil vom 09. Oktober 2008, 1 StR 238/08; BeckRS 2008, 22239, Rn. 11; so auch Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Art. 6 EMRK, Rn. 10; Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK, Rn. 92. 3 Nr. 5 RiStBV verpflichtet die Staatsanwaltschaft explizit, das Ermittlungsverfahren zu be­ schleunigen. 4 Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art.  6 EMRK, Rn.  93 mit zahlreichen Rechtsprechungs­ nachweisen: Dies ist jedenfalls spätestens mit der Beschuldigtenvernehmung der Fall, kann aber auch bei anderen Eingiffsmaßnahmen gegeben sein; in diesem Sinne auch Kohlmann, in: Schroeder/Zipf, Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag, 501, S. 504 f. 5 BVerfG NJW 1980, 1448 f.; BGH Urteil vom 9. Oktober 2008, 1 StR 238/08, BeckRS 2008, 22239, Rn. 11; Schultheis, in: Karlsruher Kommentar, § 121, Rn. 20.

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Geschädigte oftmals die Erkenntnisse des Strafverfahrens abwarten wird, um die Erfolgsaussichten seiner zivilrechtlichen Ansprüche abzuwägen. Nicht selten wird der Strafprozess außerdem zur Vorbereitung des Zivilprozesses genutzt.6 Denn vor allem durch Akteneinsichtsrechte im Ermittlungsverfahren (etwa gem. § 406 e StPO), aber auch im Laufe des Strafprozesses selbst, lassen sich nützliche Er­ kenntnisse für einen nachfolgenden Zivilrechtsstreit gewinnen.7 Wegen dieser be­ sonderen Praxisrelevanz sollen daher im Folgenden sowohl die Auswirkungen eines abgeschlossenen als auch eines anhängigen Strafprozesses auf den Zivilpro­ zess in Deutschland und Frankreich untersucht werden, während die weniger pra­ xisrelevante Frage der Auswirkungen eines vorangegangenen Zivilprozesses auf den späteren Strafprozess nicht Gegenstand der Untersuchung ist.8 Auch die Spe­ zialfrage der Geltendmachung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche im Straf­ prozess gem. §§ 403 ff. StPO bzw. Art. 2 ff. Code de procédure pénale (CPP) wird im Folgenden bewusst nicht mit einbezogen. Denn während im französischen Recht die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen, die aus einer Straftat her­ rühren, im Strafprozess eine lange Tradition hat und in der Praxis sehr häufig ist9, hat das Adhäsionsverfahren in Deutschland keine besondere Praxisrelevanz.10 Die Tatsache, dass dieses im deutschen Recht eher ein „Schattendasein“11 führt, wäh­ rend die Durchsetzung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche im französischen Recht regelmäßig im Strafprozess erfolgt12, wird vor allem auf die grundlegenden Unterschiede in der Ausgestaltung des Verfahrens im deutschen und französischen Recht zurückgeführt.13 Nicht zuletzt aufgrund der Attraktivität und herausragen­ den Bedeutung des Adhäsionsverfahrens in Frankreich wird in zahlreichen Arbei­ ten, die sich mit dem Adhäsionsverfahren oder der strafprozessualen Stellung des 6

Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393, S. 394; Groß, GA 1996, 151; Hamm, NJW 1996, 2981. Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393, S. 394; Groß, GA 1996, 151; Hamm, NJW 1996, 2981. 8 Vgl. hierzu ausführlich unter anderem Koch, Ist der Strafrichter an Zivilurteile gebun­ den?; Kugler, Die Bindung des Strafrichters an Zivilurteile; Tschöpe, Die Grenzen der Bindung des Strafrichters an die präjudiziellen Entscheidungen gerichtlicher und sonstiger Behörden;­ Bötticher, in: Caemmerer/Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 511; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107; Eggert, MDR 1974, 445; Schwab, NJW 1960, 2169; Schwab, ZZP 77 (1964), 124. 9 Ferid/Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, S. 454; Hanel, in: Will, Schadensersatz im Strafverfahren, S. 40; Kaiser, Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren, S. 86, 98; Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 97 f.; Prinz von Sachsen Gessaphe, ZZP 112, 3, S. 25; zu den Vorzügen der Geltendmachung im Strafprozess Viney, Introduction à la responsabilité, S. 189 f. 10 Rauscher, in: MüKo, Einl. Rn. 3; Haller, NJW 2011, 970, S. 971; Hansen/Wolff-Rojczyk, GRUR 2009, 644, S.  645; Stoffers/Möckel, NJW 2013, 830; Loos, GA 2006, 195, S.  197;­ Köckerbauer, NStZ 1994, 305. 11 So die Formulierung bei Haller, NJW 2011, 970 und Stoffers/Möckel, NJW 2013, 830. 12 Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 97 f.; Prinz von Sachsen Gessaphe, ZZP 112, 3, S. 25. 13 Vgl. hierzu ausführlich Hanel, in: Will, Schadensersatz im Strafverfahren, 40, S.  44 f.; Prinz von Sachsen Gessaphe, ZZP 112, 3–35; Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren; Spiess, Das Adhäsionsverfahren in der Rechtswirklichkeit, S. 253 ff. 7

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Verletzten im deutschen Recht beschäftigen, auf das französische Modell einge­ gangen, sodass an dieser Stelle auf die umfassende Aufarbeitung dieser Thematik verwiesen werden darf.14 Wird nach rechtskräftigem Abschluss des Strafprozesses Klage vor den Zivilge­ richten erhoben, geht es klassischerweise15 um die Fälle, in denen der Geschädigte Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung gegen den mutmaßlichen Tä­ ter geltend macht. Hierzu zwei Beispiele: Fall  1: B ist Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter einer GmbH. Auf sei­nen Antrag hin eröffnet das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung (§§ 17, 19 InsO). Das Insolvenzverfahren wird drei Jahre später wegen Masseunzuläng­ lichkeit eingestellt. Durch das Urteil des Strafgerichts wird B aufgrund seines Geständnisses im Rahmen einer Verständigung wegen Insolvenzverschleppung (§ 15 a Abs. 4 InsO) und Betrugs (§ 263 Abs. 1 StGB) zu einer Gesamtfreiheits­ strafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Be­ währung ausgesetzt wird. Gläubiger K verlangt nunmehr von B vor den Zivil­ gerichten Schadensersatz wegen Insolvenzverschleppung gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15 a Abs. 1 InsO bzw. § 826 BGB. B wendet ein, dass die Verurteilung zu Unrecht erfolgt sei.16 Fall 2: K ist in ihrer geistigen Entwicklung retardiert und wohnt bei einer Pflege­ familie. Gegen den Pflegevater B wird ein Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der K eingeleitet. B wird im Strafprozess wegen sexuel­ len Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutz­ befohlenen gem. §§ 174, 176, 52 StGB, begangen jeweils zum Nachteil der K, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig, nachdem die Revision und ein Wiederaufnahmeantrag des Beklagten als unbegrün­ det verworfen wurden. K nimmt B im Zivilprozess auf Zahlung eines angemes­ senen Schmerzensgeldes gem. §§ 253 Abs. 2, 825 BGB in Anspruch. B weist den­ Anspruch zurück und bestreitet die ihm zur Last gelegten Taten.17 Des Weiteren kann die Frage der Strafbarkeit nicht nur im Verhältnis zwischen dem mutmaßlichen Straftäter und dem Verletzten, sondern auch zwischen diesem 14 Unter anderem Ferid/Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, S.  454 ff.; Hanel, in: Will, Schadensersatz im Strafverfahren, 40 ff.; Weber, Produkthaftung und strafprozessuales Adhäsionsverfahren; Prinz von Sachsen Gessaphe, ZZP 112, 3 ff.; Spiess, Das Adhäsionsver­ fahren in der Rechtswirklichkeit, S. 228 ff.; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 486 ff. 15 Die Frage nach den Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess ist aber in­ vielen weiteren Situationen relevant, etwa bei der Prüfung von Erbunwürdigkeitsgründen gem. § 2339 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BGB oder im Streit um die Wirksamkeit einer Kündigung vor den Arbeitsgerichten, um nur zwei weitere Fälle zu nennen. 16 Sachverhalt nach OLG Koblenz Urteil vom 18. Januar 2007, 6 U 536/06, BeckRS 2007, 01829. 17 Sachverhalt nach LG Saarbrücken Urteil vom 13. Dezember 2007, 2 O 77/05, BeckRS 2011, 27532.

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und einem Dritten, der selbst gar nicht am Strafprozess beteiligt war, von Bedeu­ tung sein. Dabei kann sich das Strafurteil für den Dritten sowohl als vorteilhaft als auch als nachteilig darstellen. Auch hierzu zwei Beispiele: Fall 3: B wird in einem Indizienprozess wegen Totschlags gem. § 212 Abs. 1 StGB durch rechtskräftiges Strafurteil zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt, da er den Ehemann von X getötet habe. Land K gewährt der X eine Witwenrente gem. § 1 Abs. 8 Opferentschädigungsgesetz (OEG) und verlangt im Zivilprozess aufgrund übergegangenen Rechts Schadensersatz von B. B bestreitet, den Ehe­ mann von X getötet zu haben. Er behauptet stattdessen, er sei zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen, und bietet hierfür Zeugenbeweis an.18 Fall 4: Der 15-jährige K zündet auf einem Ausstellungsgelände unmittelbar ne­ ben einem Zelt einen Papierhaufen an. Das Zelt gerät in Brand. K wird durch Urteil des Jugendschöffengerichts aufgrund des genannten Vorfalles wegen f­ahrlässiger Brandstiftung gem. § 306 d Abs. 1 StGB verurteilt. Im Zivilprozess begehrt K von B als Haftpflichtversicherer Deckung für die Ansprüche, die gegen ihn wegen des Brandschadens geltend gemacht werden. B lehnt die Zahlung mit der Begründung ab, K habe den Brand vorsätzlich herbeigeführt.19 Sämtliche Beispielsfälle sind schließlich auch dahingehend modifizierbar, dass die Klage vor den Zivilgerichten erhoben wird, bevor das Strafverfahren rechts­ kräftig abgeschlossen ist, und eine Partei die Aussetzung des Zivilverfahrens im Hinblick auf das laufende Strafverfahren beantragt. Durch die soeben geschilderte Doppelzuständigkeit von Zivil- und Strafgerichts­ barkeit entsteht eine Art Konkurrenzverhältnis, das auf unterschiedliche Art und Weise gelöst werden kann. Die nachfolgende Darstellung soll daher untersuchen, ob, und wenn ja, welche Auswirkungen der Strafprozess auf den Zivilprozess im deutschen und im französischen Recht hat. Diese interdisziplinäre Konkurrenz zwischen Zivil- und Strafverfahren beschäftigt die Rechtsprechung und Wissen­ schaft sowohl in Frankreich als auch in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert.20 Schon deshalb lohnt es sich, zu erforschen, wie die verschiedenen Rechtsordnun­ gen heute das viel diskutierte Problem lösen. Da sich das französische Konzept im Umgang mit konkurrierenden Zivil- und Strafverfahren deutlich vom deutschen Konzept unterscheidet, soll nachfolgend gerade auch die französische Rechtsord­ nung untersucht werden. Dabei ist insbesondere der Frage nachzugehen, ob die verschiedenen nationalen Konzepte zu unterschiedlichen Lösungen der Konkur­ renzproblematik führen. Während die Frage der Verfahrenskonkurrenz in beiden Ländern auch heute noch viel diskutiert wird, ist unumstritten, wie innerhalb ein und derselben Ge­ 18

Sachverhalt nach OLG Koblenz Urteil vom 28.  November 2000, 3 U 804/00, BeckRS 2013, 21354. 19 Sachverhalt nach BGH NJW 1983, 1739. 20 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. IV. 1. und 2. Teil, A. I.

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richtsbarkeit mit parallelen oder aufeinanderfolgenden Verfahren umzugehen ist. Hier besteht in beiden Rechtsordnungen Einigkeit, dass es nicht zu widersprüch­ lichen Entscheidungen der Gerichte und zur Wiederholung von Prozessen kom­ men soll. In beiden Rechtsordnungen wird dieses Ergebnis innerhalb der jewei­ ligen Gerichtsbarkeit durch die Institute der Rechtshängigkeit und Rechtskraft gewährleistet. Soweit derselbe Streitgegenstand und dieselben Parteien betroffen sind, hat sich das deutsche Zivilprozessrecht zu Gunsten des Rechtsfriedens, der Rechtsgewiss­ heit und des Ansehens der Gerichte21 entschieden und zielt darauf ab, ein erneutes Verfahren und widersprüchliche Entscheidungen verschiedener Gerichte zu ver­ meiden sowie den Streit endgültig beizulegen.22 Für den Fall, dass zwei Klagen mit demselben Streitgegenstand parallel rechtshängig gemacht werden, wird dies durch den Grundsatz der entgegenstehenden Rechtshängigkeit gem. § 261 Abs. 3 Nr.  1 ZPO gewährleistet, wonach während der Dauer der Rechtshängigkeit die Streitsache von keiner anderen Partei vor einem Zivilgericht rechtshängig gemacht werden kann. Das gleichzeitig angerufene Gericht hat das Prozesshindernis der entgegenstehenden Rechtshängigkeit von Amts wegen zu berücksichtigen23 und weist die zweite Klage als unzulässig ab.24 Im Fall von aufeinanderfolgenden Verfahren verhindert das Institut der mate­ri­ ellen Rechtskraft gem. § 322 Abs. 1 ZPO widersprüchliche Entscheidungen zweier Zivilgerichte. Die materielle Rechtskraft setzt im deutschen Recht voraus, dass das Urteil formell rechtskräftig, das heißt unangreifbar ist.25 Dabei verhindert die nega­ tive Rechtskraftwirkung des Zivilurteils, dass ein Gericht, das bezüglich desselben Streitgegenstands oder dessen kontradiktorischen Gegenteils erneut von denselben Parteien angerufen wird, nochmals verhandelt und entscheidet. Denn das zweite Ge­ richt hat die spätere Klage von Amts wegen als unzulässig abzuweisen.26 Damit ist nicht nur eine abweichende Entscheidung unzulässig, sondern bereits das gesamte neue Verfahren an sich.27 Des Weiteren „besteht, wenn die im ersten Prozess rechtskräftig entschiedene Rechtsfolge im zweiten Prozess nicht die Hauptfrage, sondern eine Vorfrage darstellt, die Wirkung der Rechtskraft in der Bindung des nunmehr entscheidenden Gerichts an die Vorentscheidung“28. Diese, auch als positive Wir­ kung der Rechtskraft bezeichnete29, Wirkung verhindert also nicht eine e­ rneute, 21 So BGH NJW 2004, 1805, 1806; Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 27, kritisch jedoch zum Ansehen der Justiz, Rn. 30. 22 BGH NJW 2004, 1805, 1806; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 322, Rn. 1. 23 BGH NJW 1986, 2195; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 261, Rn. 15; Becker-Eberhard, in: MüKo, § 261, Rn. 42. 24 Becker-Eberhard, in: MüKo, § 261, Rn. 42. 25 Reichold, in: Thomas/Putzo, § 322, Rn. 1; Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 24. 26 BGH NJW 1995, 2993; Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 39. 27 BGH NJW-RR 2009, 790; BGH NJW 2008, 1227, 1228; BGH NJW 2003, 3058, 3059; BGH NJW 1995, 1757 und 2993; BGH NJW 1985, 1711, 1712. 28 BGH NJW 2003, 3058, 3059. 29 Vgl. Musielak, § 322, Rn. 10 m. w. N.

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sondern nur eine abweichende Entscheidung des zweiten Gerichts im Hinblick auf die bereits rechtskräftig entschiedene Vorfrage, da das zweite Gericht inso­ weit gebunden ist.30 Sowohl für die negative als auch für die positive Rechtskraft­ wirkung gilt allerdings, „daß die Bestimmung des § 322 Abs. 1 ZPO der Rechtskraft eines Urteils bewußt enge Grenzen gesetzt hat dergestalt, daß diese sich auf den unmittelbaren Gegenstand des Urteils, d. h. die Rechtsfolge beschränkt, die den Entscheidungssatz bildet, nicht aber auf einzelne Urteils­elemente, tatsächliche Feststellungen und rechtliche Folgerungen erstreckt, auf denen die getroffene Entscheidung aufbaut […].“31 In Frankreich gelten ähnliche Grundsätze. Auch hier sol­ len im Zivilverfahren durch die Institute der Rechtshängigkeit und der materiellen Rechtskraft doppelte Inanspruchnahmen der Gerichte und widersprüchliche Ent­ scheidungen verhindert werden. Für den Fall, dass mehrere zuständige Gerichte in derselben Sache angerufen werden, gewährleistet der Grundsatz der entgegen­ stehenden Rechtshängigkeit gem. Art. 100 Code de procédure civile (CPC), dass das zweite Gericht keine abweichende Entscheidung trifft. Wird ein zweites Ge­ richt trotz Rechtshängigkeit der Klage bei einem anderen Gericht angerufen, muss es sich auf Antrag einer Partei für unzuständig erklären, Art. 100 S. 1 CPC. Wird kein Antrag gestellt, kann sich das Gericht von Amts wegen für unzuständig erklä­ ren, Art. 100 S. 2 CPC. Werden gleichzeitig zwei Gerichte unterschiedlicher Ord­ nung angerufen, kann die Einrede der entgegenstehenden Rechtshängigkeit nur vor dem Gericht niedrigerer Ordnung geltend gemacht werden, Art. 102 CPC. Im Fall von aufeinanderfolgenden Zivilverfahren verhindert das Institut der „autorité de la chose jugée“, gem. Art. 1351 Code civil (C. civ.) und Art. 480 CPC, dass ein Gericht über dieselbe Sache erneut entscheidet. Im Gegensatz zum deut­ schen Recht treten die Wirkungen der „autorité de la chose jugée“ bereits vor Ein­ tritt der formellen Rechtskraft mit Erlass des Urteils ein (Art. 480 CPC); sie sind in diesem Stadium jedoch noch vorläufig, da noch Rechtsmittel gegen die Entschei­ dung zulässig sind.32 Ist das Urteil nicht mehr mit Rechtsmitteln angreifbar, erlangt das Urteil „force de la chose jugée“ (Art. 500 CPC).33 Diese „force de la chose ju­ gée“ entspricht in etwa der formellen Rechtskraft des Urteils im deutschen Recht.34 30

BGH NJW 2003, 3058, 3059; BGH NJW 1995, 1757 und 2993; BGH NJW 1983, 2032; Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 51; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 322, Rn. 9. Die positive Rechts­ kraftwirkung kommt vor allem, aber nicht ausschließlich, zum Tragen, wenn im Erstprozess im Wege der Feststellungs- oder Zwischenfeststellungsklage (§ 256 Abs. 1 oder 2 ZPO) ein bestimm­ tes Rechtsverhältnis (z. B. das Eigentum) rechtskräftig festgestellt wurde, das für die im zweiten Prozess zu treffende Entscheidung Vorfrage ist. Das zweite Gericht ist an die Vorentscheidung des ersten Gerichts ferner auch dann gebunden, wenn der Anspruch, über den im zweiten Prozess gestritten wird, vom Bestehen eines anderen Anspruchs abhängt, über den bereits rechtskräftig entschieden wurde (so hängt etwa der Anspruch auf Herausgabe der Nutzungen nach Rechtshän­ gigkeit gem. §§ 292 Abs. 2, 987 BGB vom Bestehen eines Herausgabeanspruchs ab, BGH NJW 1983, 164, 165; BGH NJW 1981, 1517; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 322, Rn. 10). 31 BGH NJW 2003, 3058, 3059. 32 Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile, S. 765; Perrot, Institutions judiciaires, S. 490. 33 Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile, S. 766; Perrot, Institutions judiciaires, S. 490. 34 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 39.

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Die „autorité de la chose jugée“ stimmt indes nicht vollständig mit dem Begriff der materiellen Rechtskraft des deutschen Rechts überein.35 Denn während die „autorité de la chose jugée“ im französischen Recht vor allem durch ihre negative Wirkung geprägt ist und in erster Linie darauf abzielt, das Verfahren zu beenden sowie eine Wiederholung des Prozesses zu verhindern36, soll die materielle Rechtskraft im deutschen Recht nicht nur einen erneuten Prozess, sondern darüber hinaus auch wi­ dersprüchliche Entscheidungen vermeiden.37 Dieses Ziel wird im deutschen Recht zum einen durch die negative Wirkung der Rechtskraft, die zur Unzulässigkeit eines zweiten Prozesses führt, und zum anderen durch ihre positive Wirkung, die bei Vor­ greiflichkeit das zweite Gericht inhaltlich an die Entscheidung des ersten Gerichts bindet, erreicht. Im französischen Recht zeichnet sich die „autorité de la chose ju­ gée“ dagegen primär durch ihre negative Wirkung aus.38 Sie verbietet einen erneu­ ten Prozess derselben Parteien in derselben Sache und führt zur Klageabweisung, Art. 122 CPC.39 Wie im deutschen Recht gem. §§ 322, 325 ZPO ist auch im franzö­ sischen Recht die Rechtskraft durch objektive und subjektive Grenzen beschränkt.40 Denn gem. Art. 1351 C. civ. setzt die Einrede der entgegenstehenden Rechtskraft die Identität der „chose demandée“, der „cause“ und der „parties“41 voraus. Nur in seltenen Ausnahmefällen ist im französischen Recht auch eine positive Rechts­ kraftwirkung anerkannt.42 Auch im deutschen Strafprozessrecht hat der Gesetzgeber die Entscheidung zu­ gunsten eines einmaligen Strafverfahrens getroffen. Dies ist schon verfassungsrecht­ lich gem. Art. 103 Abs. 3 GG vorgegeben. Vor Abschluss des Strafverfahrens wird dies durch das Institut der entgegenstehenden Rechtshängigkeit gewährleistet.43 Die Rechtshängigkeit tritt mit Erlass des Eröffnungsbeschlusses gem. §§ 203, 207 Abs. 1 StPO ein und bewirkt ein Verfahrenshindernis, wenn derselbe Angeklagte wegen derselben prozessualen Tat vor einem weiteren Gericht angeklagt wird.44 Be­ reits durch das Institut der entgegenstehenden Rechtshängigkeit soll also verhindert werden, dass der Angeklagte wegen derselben Tat nochmals ­bestraft wird.45 Ist das 35

Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 40. Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 40 f., 44. 37 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 41. 38 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 40. 39 Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile, S. 754; Perrot, Institutions judiciaires, S. 490. 40 Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile, S. 755 ff. 41 Übersetzung der Verfasserin: […] Identität des „Klageziels“, des „Klagegrundes“ und der „Parteien“ voraus. 42 So beispielsweise in Art. 95 CPC; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 52, 65 und Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 50 für den Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“; vgl. zur rechtlichen Einordnung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ als positive Rechts­ kraftwirkung des Strafurteils ausführlich unter 2. Teil, A. IV. 4. 43 Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 145. 44 BGH NJW 1968, 1730 und 2387, 2388 ; BGH LMRR 1950, 1; Meyer-Goßner, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 207, Rn. 13. 45 BGH NJW 1957, 1604, 1606; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 145. 36

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Strafverfahren abgeschlossen, begründet der Strafklageverbrauch als Folge der ne­ gativen Rechtskraft des Strafurteils die verfassungsrechtlich gewährleistete Sperr­ wirkung (ne bis in idem, Art. 103 Abs. 3 GG), wonach der Täter wegen derselben Tat nicht nochmals verfolgt46 und bestraft werden darf.47 Im französischen Strafpro­ zess bewirkt die „autorité de la chose jugée au criminel sur le ­criminel“, ebenso wie die materielle Rechtskraft des Strafurteils im deutschen Recht, das Verfahrenshin­ dernis des Strafklageverbrauchs, Art. 6, 368 CPP.48 Sind mehrere Verfahren in der­ selben Sache gleichzeitig rechtshängig, regeln die Art. 657 ff. CPP, welcher Richter zuständig ist. Auch hier erklärt sich der eine Richter zugunsten des anderen Rich­ ters für unzuständig, um sich widersprechende Entscheidungen zu verhindern.49 Die Regelungen der Rechtshängigkeit und Rechtskraft, die das deutsche und französische Zivil- und Strafverfahrensrecht für Konflikte innerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit vorsehen, sind jedoch nicht ohne Weiteres auf die Frage übertrag­ bar, ob und wenn ja, welche Auswirkungen der Strafprozess auf den Zivilprozess hat (oder auch umgekehrt). Jedenfalls das Institut der Rechtshängigkeit führt hier nicht weiter. Zwar gilt die Sperrwirkung der Rechtshängigkeit grundsätzlich „im Verhältnis aller Gerichtszweige zueinander“.50 Im Verhältnis zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit kommt sie jedoch nie zum Tragen, da es an der Identität des prozessualen Gegenstandes fehlt, soweit es nicht um einen im Strafprozess geltend gemachten Entschädigungsanspruch geht, § 404 Abs. 2 S. 1 StPO51 bzw. Art. 5 CPP. Denn während die Zivilgerichtsbarkeit gem. § 13 GVG bürgerliche Rechtstreitig­ keiten, Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit be­ handelt, befasst sich die Strafgerichtsbarkeit mit Strafsachen. Es kann sich also nie um einen identischen Prozess handeln, da der Zivilrichter nicht über die Strafbar­ keit der in der Anklage bezeichneten Tat (§ 264 Abs. 1 StPO) zu entscheiden hat. Ebenso fehlt, wie Leipold richtig feststellt, in Deutschland eine allgemeine gesetz­ liche Regelung, die verfahrensübergreifend das Problem lösen würde, ob und „inwieweit die Entscheidungen auch über die Grenzen der Rechtswege oder Verfah­ rensordnungen hinaus [Hervorhebung im Original] wirken, in denen sie erlassen wurden.“52 Auch in Frankreich existiert eine solche gesetzliche Regelung nicht. Daher stellt sich die Frage, wie die deutsche und die französische Rechtsordnung jeweils damit umgehen, dass der Zivilrichter während oder nach Beendigung des Strafverfahrens mit demselben Sachverhalt wie der Strafrichter befasst ist. 46 BVerfG NJW 1961, 867, 868; BGH NJW 1954, 609, 610; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, Einl., Rn. 171; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. K, Rn. 77. 47 BVerfG NJW 1961, 867, 868; BGH NJW 1954, 609, 610; Fischer, in: Karlsruher Kom­ mentar, Einleitung, Rn. 482; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 171; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. K, Rn. 77. 48 Perrot, Institutions judiciaires, S. 490; Pradel, Procédure pénale, S. 911; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 878; Fourment, Procédure pénale, S. 343. 49 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 136. 50 Roth, in: Stein/Jonas, § 261, Rn. 7; Becker-Eberhard, in: MüKo, § 261, Rn. 46. 51 Roth, in: Stein/Jonas, § 261, Rn. 7. 52 Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 287.

Einleitung

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Da die Antwort in beiden Ländern vornehmlich im Verfahrensrecht zu su­ chen sein wird, ist zunächst noch zu klären, wie ein solcher Verfahrensrechtsver­ gleich, der zudem interdisziplinär angelegt ist, methodisch sinnvoll durchzuführen ist. Die einschlägige Literatur zur Rechtsvergleichung beschäftigt sich kaum mit der Methode der Verfahrensrechtsvergleichung53, obwohl sich zahlreiche verfah­ rensrechtsvergleichende Werke finden lassen.54 Mangels einer speziellen Methode der Verfahrensrechtsvergleichung sind deshalb die allgemeinen Grundsätze der Rechtsvergleichung heranzuziehen.55 Auch wenn darüber diskutiert wird, ob ein „gesicherter Methodenkanon“ der Rechtsvergleichung überhaupt existiert56, hat sich als zumindest allgemein anerkannte Methode die funktionale Vergleichung herauskristallisiert.57 Die funktionale Vergleichung „vergleicht Rechtsordnungen danach, wie sie eine sich stellende Lebenssituation lösen“58. Sie besteht darin, in den zu vergleichenden Rechtsordnungen jeweils die Lösung für bestimmte „soziale Sachverhalte“ oder „Rechtsprobleme“ zu finden, die in beiden Ländern­ gleichermaßen auftreten.59 Damit eine solche Vergleichung funktionieren kann, ist zunächst der „Untersuchungsgegenstand“60 bzw. das „Sachproblem“61 bewusst offen zu formulieren.62 Denn die vorschnelle Festlegung des Untersuchungs­gegenstands oder bloße „Begriffsrechtsvergleichung“63 bzw. „Institutsrechtsvergleichung“64 be­ gründet die Gefahr, nicht die gebotene Neutralität der Untersuchung zu wahren 53 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S.  274; Gilles, Prozeß­ rechtsvergleichung, S. 6 f.; anders etwa Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsver­ gleichung; Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 274 ff.; Gilles, Pro­ zeßrechtsvergleichung, S. 96 ff. mit Darstellung von Länderberichten zu dieser Frage. 54 Um nur einige Beispiele zu nennen: Baumgarten, Der richtige Kläger im deutschen, fran­ zösischen und englischen Zivilprozeß; Vondenhoff-Mertens, Alternative Haftung im Zivilpro­ zeß; Kayser, Alternative Formen gerichtlicher und außergerichtlicher Streitbeilegung im deut­ schen und französischen Zivilprozess; Albrecht, Die Streitsache im deutschen und englischen Zivilverfahren; Nolte, Verständigung im Strafprozess in Deutschland und Frankreich; Peters, Urteilsabsprachen im Strafprozess; Teske, Der Urkundenbeweis im französischen und deut­ schen Zivil- und Zivilprozeßrecht; Weber, Produkthaftung und strafprozessuales Adhäsionsver­ fahren; Schilling, Die „principes directeurs“ des französischen Zivilprozesses. 55 In diesem Sinne auch Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265, 275; Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 9 f. 56 So Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 32; Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 264. 57 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 264; Zweigert, Einfüh­ rung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 34; Breidenstein, Zur Me­ thodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 9. 58 Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 9. 59 Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 51. 60 So die Bezeichnung bei Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 264. 61 So die Bezeichnung bei Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 35. 62 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 264 f.; Zweigert, Einfüh­ rung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 34. 63 So der von Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 9 verwandte Begriff. 64 Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 9.

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Einleitung

oder die Zusammenhänge in der fremden Rechtsordnung zu verkennen.65 Der Ge­ genstand der vorliegenden Untersuchung wurde mit der allgemeinen Frage nach den „Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess“ daher bewusst ge­ wählt, um den Blick auf die französische Rechtsordnung nicht durch Verwendung bestimmter nationaler, vom deutschen Rechtsverständnis geprägter Begriffe zu ver­ stellen. Nachdem somit der Untersuchungsgegenstand festgelegt ist, beinhaltet die funktionale Vergleichung vier Etappen66: Zunächst ist „anhand von Originalrechtsquellen“ theoretisch zu untersuchen, welche Antworten das nationale und das aus­ ländische Recht für die aufgeworfene Frage jeweils vorsehen.67 Nach diesem, auch als „Länderberichte“68 bezeichneten, Schritt geht es darum, die gefundenen Ergeb­ nisse zu verstehen und deren Ursachen zu erforschen.69 Dabei kommt es insbeson­ dere auf die „Hintergründe und Wertungen“ für die jeweilige nationale Lösung an.70 Vor allem der historischen Entwicklung und den substanziellen Verfahrens­ prinzipien beider Länder wird in diesem Abschnitt eine besondere Bedeutung zu­ kommen.71 Ist dies geschehen, können die beiden Lösungsansätze gegenüberge­ stellt werden, um deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen.72 Dies ist notwendige Voraussetzung, um auf der letzten Stufe eine Bewertung der gefun­ denen Ergebnisse zu ermöglichen.73 Diesem Schema folgend soll in der nachfol­ genden Untersuchung die Frage geklärt werden, welche Auswirkungen der Straf­ prozess auf den Zivilprozess in Deutschland und Frankreich hat. Zur Beantwortung 65 Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 35; Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 9. 66 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265. 67 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265; wobei alle Rechts­ quellen zu berücksichtigen sind, die auch nach der ausländischen Rechtsordnung zu beachten wären, also nicht nur positives Recht, sondern insbesondere auch Rechtsprechung und Lehre, Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 36; zu den Quellen ausführlich Gilles, Prozeßrechtsvergleichung, S. 32 ff. 68 Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 47. 69 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265. 70 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 275. Auch Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 14 f. betont, dass Normen nicht losgelöst von ihren Ursachen und zugrunde liegenden Wertungen betrachtet werden dürfen. 71 Vgl. zur Bedeutung dieser Hintergründe Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Pro­ zessrecht, 263, S. 275 f., 281; Gilles, Prozeßrechtsvergleichung, S. 30 f.; Breidenstein, Zur Me­ thodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 62 zur Bedeutung der historischen Entwicklung. 72 Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265. 73 Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 52 f.; Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265; Breidenstein, Zur Metho­ dik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 26; ob eine solche Bewertung aufgrund der drohenden Subjektivität zulässig ist, ist umstritten (vgl. Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Pro­ zessrecht, 263, S. 265 Fn. 8 mit weiteren Nachweisen und Zweigert, Einführung in die Rechts­ vergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 52 f.), soll jedoch in der vorliegenden Unter­ suchung erfolgen. Da zur Beantwortung der Frage nach den Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in der deutschen und französischen Rechtsordnung exakt dieselben Wer­ tungen diskutiert werden, bietet sich eine solche Bewertung geradezu an, vgl. hierzu ausführ­ lich im 4. Teil.

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dieser Frage sollen im ersten Teil die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zi­ vilprozess im deutschen Recht dargestellt werden, wobei zunächst die allgemeinen Grundsätze und im Anschluss daran die einzelnen Institute und die dahinterstehen­ den Wertentscheidungen beschrieben werden. Anschließend gilt es, sich im zweiten Teil mit der französischen Lösung des Problems zu befassen, indem auch hier zu­ nächst die geltenden Leitlinien erläutert werden, bevor auf das „wie“ und „warum“ der französischen Lösung eingegangen wird. Nach der Darstellung beider Lösungs­ ansätze sollen im dritten Teil die Ergebnisse der ersten beiden Teile gegenüberge­ stellt und insbesondere die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutschen und französischen Lösung zusammengefasst werden. Sodann sollen im vierten Teil die jeweiligen nationalen Konzepte im Hinblick auf die Einhaltung bestimmter Verfah­ rensprinzipien bewertet werden. Die Bewertung der Lösungen ist unerlässlich, um im letzten Teil der Untersuchung zu klären, ob vor dem Hintergrund der gefunde­ nen Ergebnisse Reformbedarf für das deutsche und das französische System besteht.

1. Teil

Deutschland Im deutschen Recht sind Zivil- und Strafverfahren grundsätzlich voneinan­ der unabhängig. Hat der Zivilrichter nach einem abgeschlossenen Strafprozesses über denselben Sachverhalt zu entscheiden, der bereits Gegenstand des Strafver­ fahrens war, ist er weder an die tatsächlichen Feststellungen noch an die recht­ liche Würdigung im Strafurteil gebunden. Obwohl das Strafurteil demnach im deutschen Recht keine Bindungswirkung für den nachfolgenden Zivilrechtsstreit entfaltet, können die im Strafprozess gewonnenen Erkenntnisse die zivilrichter­ liche Entscheidung dennoch maßgeblich beeinflussen. Sind beide Verfahren pa­ rallel rechtshängig, ist der Zivilrichter zwar nicht gehalten, die Verhandlung im Hinblick auf das rechtshängige Strafverfahren auszusetzen, jedoch kann er von seinem Aus­setzungsermessen Gebrach machen, um sich die gegebenenfalls wei­ tergehenden Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens zu Nutze zu machen. Mit der Entscheidung für die Unabhängigkeit beider Verfahren wird im deutschen Recht zugleich gebilligt, dass Straf- und Zivilrichter unter Umständen zu sich widersprechenden Entscheidungen kommen können. Nach dieser kurzen Ein­ führung soll nun ausführlich untersucht werden, welche Auswirkungen ein ab­ geschlossener Strafprozess auf einen nachfolgenden Zivilprozess hat  (A.) und wie sich ein rechtshängiger Strafprozess auf einen parallelen Zivilrechtsstreit aus­ wirkt (B.).

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess I. Grundsätzlich keine Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile Das deutsche Recht hat sich grundsätzlich für eine Unabhängigkeit des Zivil­ verfahrens vom Strafverfahren und gegen eine Bindung des Zivilrichters an das rechtskräftige Strafurteil entschieden. Dabei ist zunächst zu klären, was unter dem Begriff der Bindung in der nachfolgenden Untersuchung zu verstehen sein soll (1.). Sodann sollen die Bedeutung der Bindungsfreiheit (2.) und deren recht­ liche Einordnung  (3.) dargestellt werden. Die Entscheidung zugunsten der Bin­ dungsfreiheit wird jedoch durch einige Ausnahmen durchbrochen (II.). Außerdem haben Erkenntnisse aus dem Straf- und Ermittlungsverfahren einen erheblichen

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Einfluss auf die zivilrichterliche Entscheidung (III.). Die gesetzgeberische Lösung des Konflikts konkurrierender Verfahren zugunsten der Unabhängigkeit und Frei­ heit des Zivilrichters ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung und beruht auf der Abwägung bestimmter Verfahrensprinzipien (IV.). 1. Begriff der Bindung Im Folgenden wird häufig der Begriff der Bindung des Richters verwendet. Vorab soll deshalb erläutert werden, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Grundsätzlich lassen sich unter dem Terminus der Bindung des Richters unter­ schiedliche Aspekte zusammenfassen. So wird teilweise vom Begriff der Bin­ dung gesprochen, wenn es um die Tatbestandswirkung sowie um die Gestaltungs­ wirkung von Urteilen geht.1 Gleichzeitig wird unter dem Schlagwort der Bindung auch die sogenannte „Feststellungswirkung“2 oder „Drittwirkung“3 von Urtei­ len diskutiert. Dennoch unterscheiden sich die genannten Urteilswirkungen doch erheblich. Die sogenannte Tatbestandswirkung eines Urteils bedeutet, dass der Richter die Tatsache, dass ein Urteil ergangen ist, als Tatbestandsmerkmal einer Norm zu beachten hat.4 Eine Bindung an den Inhalt der Entscheidung bewirkt die Tatbestandswirkung dagegen nicht.5 Die Gestaltungswirkung eines Urteils führt dazu, dass sich mit Eintritt der formellen Rechtskraft des Urteils die materielle Rechtslage ändert.6 Die geänderte Rechtslage hat der zur Entscheidung berufene Richter aufgrund der Gesetzesbindung gem. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG zu be­ achten. Auch bei der Gestaltungswirkung geht es also streng genommen nicht darum, dass der Richter an den Inhalt einer bereits ergangenen Entscheidung ge­ bunden ist, sondern darum, dass der Richter die Veränderung der Rechtslage an­ zuerkennen hat.7

1 Zum Beispiel Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 66 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 302; andere lehnen diesen Begriff dagegen ab, da die Tatbestands- und Gestaltungswirkung von der inhaltlichen Bindung an eine Entscheidung zu unterschieden sei, so etwa J­ örgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechtsverhältnisse, S. 102; Schmitz, Die strafrichterliche Beweiswürdigung außerstrafrechtlicher Vorfragen, S. 111. 2 So bezeichnet von Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 51; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivil­ prozessrecht, S. 863; Eggert, Der strafrechtliche Schutz des gesetzlichen Unterhaltsanspruches, S. 101. 3 So bezeichnet von Schwab, ZZP 77 (1964), 124, S. 130. 4 Kissel/Mayer, § 13, Rn. 22. 5 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 60. 6 Reichold, in: Thomas/Putzo, Vorbem. § 253, Rn. 5 f; Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg, § 262, Rn. 16. 7 Nicklisch, Die Bindung der Gerichte an gestaltende Gerichtsentscheidungen und Ver­ waltungsakte, S. 38; deshalb wird der Begriff der Bindung für diesen Fall teilweise abgelehnt, Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechtsver­ hältnisse, S.  102; Schmitz, Die strafrichterliche Beweiswürdigung außerstrafrechtlicher Vor­ fragen, S. 111.

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1. Teil: Deutschland

Soweit der Begriff der Bindung in der vorliegenden Untersuchung verwendet wird, soll er als Widerspruchsverbot verstanden werden.8 Es geht also primär um die Frage, ob der Zivilrichter einem bereits ergangenen Strafurteil inhaltlich wider­ sprechen darf, das heißt die Rechtslage „in tatsächlicher und in rechtlicher Beziehung anders […] beurteilen [darf], als es in dem [ersten] Urteil geschehen ist“9. Nur der Vollständigkeit halber soll auf die Tatbestandswirkung und Gestaltungs­ wirkung des Strafurteils im Zivilprozess eingegangen werden. 2. Bedeutung der Bindungsfreiheit Der deutsche Gesetzgeber hat die Konkurrenz aufeinanderfolgender Verfahren dahingehend gelöst, dass der Zivilrichter selbst dann, wenn er die Verhandlung nach § 149 Abs.  1 ZPO bis zur Erledigung des Strafverfahrens ausgesetzt hat10, grundsätzlich nicht an das Strafurteil gebunden ist.11 Daher sind weder die recht­ liche Würdigung12 noch die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils13 für das Zivilgericht bindend. Es kann beispielsweise eine Schmerzensgeldklage gegen den im Strafprozess rechtskräftig verurteilten Beklagten gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 229 StGB abweisen, obwohl das Strafgericht diesen wegen fahrlässiger Körperverletzung schuldig gesprochen hat. Schließlich ist das Gericht auch nicht an den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt, der auf der Beweiswürdigung des Strafrichters beruht, gebunden.14

8 Bötticher, Kritische Beiträge zur Lehre von der materiellen Rechtskraft im Zivilprozeß, S. 73, unterscheidet zwischen Widerrufs- und Widerspruchsverbot. Vorliegend geht es nicht um die Änderung oder Aufhebung eines einmal ergangenen Urteils, sondern um die Frage, ob das Gericht der Entscheidung einer anderen Gerichtsbarkeit widersprechen darf; in diesem Sinne wird der Begriff der Bindung beispielsweise auch bei Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 25 f. verwandt. 9 Kuttner, Urteilswirkungen außerhalb des Zivilprozesses, S. 5; in diesem Sinne auch Brox, ZZP 73 (1960), 46, S.  49; Eggert, Der strafrechtliche Schutz des gesetzlichen Unterhalts­ anspruches, S.  101; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 26; König, Die Bindung des Richters an präjudizielle Urteile anderer Gerichte, S. 4 bezeich­ net dies als Beschränkung des Richters „in der Freiheit der Tatsachenermittlung und Rechtsanwendung“, ähnlich Nicklisch, Die Bindung der Gerichte an gestaltende Gerichtsentscheidun­ gen und Verwaltungsakte, S. 38. 10 Kissel/Mayer, § 13, Rn. 27. 11 BGH NJW 2005, 1024, 1025; BGH NJW 1983, 230, 231; BGH NJW 1953, 499, 500; KG Berlin Beschluss vom 2. Juli 2009, 12 U 113/09, BeckRS 2010, 01759; OLG Saarbrücken NJW-RR 2003, 176, 177; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, § 14 EGZPO, Rn. 1; Gruber, in: MüKo, § 14 EGZPO, Rn. 4; Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 74; Leipold, in: Stein/Jonas, § 286, Rn. 27; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 14 EGZPO, Rn. 2. 12 Kissel/Mayer, § 13, Rn. 27. 13 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. a). 14 BGH NJW-RR 2013, 9, 10; BGH NJW 2005, 1024, 1025; OLG München NJOZ 2007, 2163, 2164; Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 74; Leipold, in: Stein/Jonas, § 286, Rn. 27; Kissel/ Mayer, § 13, Rn. 27.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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3. Rechtliche Einordnung der Bindungsfreiheit Wie oben bereits dargestellt, fehlt in Deutschland eine allgemeine gesetzliche Regelung, welche explizit und allgemeingültig die Frage klären würde, ob Ge­ richte an die Entscheidungen von Gerichten einer anderen Verfahrensordnung gebunden sind. Nur vereinzelt finden sich ausdrückliche Aussagen zu einer ver­ fahrensübergreifenden Bindungswirkung von Urteilen. Eine solche Bindungswir­ kung über die Grenzen der jeweiligen Gerichtsbarkeit hinaus sehen beispielsweise § 118 Abs.  3 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und § 57 Abs.  1 Bundesdis­ ziplinargesetz (BDG) vor. Nach diesen Vorschriften sollen die tatsächlichen Fest­ stellungen eines rechtskräftigen Strafurteils für die nachfolgende Entscheidung im anwaltsgerichtlichen bzw. disziplinarrechtlichen Verfahren bindend sein. Diese Spezialregelungen sind jedoch für das Verhältnis von Straf- und Zivilgerichtsbar­ keit nicht sehr aussagekräftig.15 Um die Frage nach den Auswirkungen eines ab­ geschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess im deutschen Recht beantworten zu können, ist daher zunächst auf allgemeine prozessuale Grundsätze zurückzugreifen. So könnte insbesondere das Institut der Rechtskraft dazu führen, dass die Entscheidung des Strafrichters auch über die Grenzen der Strafgerichtsbarkeit hinaus zu beachten ist. Ob die Rechtskraft des Strafurteils tat­ sächlich eine Bindung des Zivilrichters bewirkt, soll daher zuerst beantwortet wer­ den [a)]. Anschließend werden weitere gesetzliche Anhaltspunkte beleuchtet, die für oder gegen eine Bindungswirkung des Strafurteils im nachfolgenden Zivil­ rechtsstreit sprechen könnten: der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gem. § 286 Abs. 1 ZPO [b)], § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. [c)], § 118 Abs. 3 BRAO, § 57 Abs. 1 BDG [d)], die Beweiskraft des Strafurteils als öffentliche Urkunde gem. §§ 415 ff. ZPO [e)] sowie die Vorfragenkompetenz und die fakultative Verfahrens­ aussetzung gem. § 149 Abs. 1 ZPO [f)]. Zuletzt soll auf allgemeine Erwägungen eingegangen werden, die in der Diskussion um das Verhältnis zwischen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit üblicherweise bemüht werden. Dabei geht es zum einen um die gesetzliche Zuständigkeitsverteilung [g)], zum anderen um verfassungsrecht­ liche Gesichtspunkte [h)]. a) Keine Bindung im Wege der positiven Rechtskraftwirkung des Strafurteils Denkbar wäre, das Institut der positiven materiellen Rechtskraft des Strafurteils zur Beantwortung der Frage heranzuziehen, ob der Zivilrichter an ein rechtskräf­ tiges Strafurteil gebunden ist. Dafür müsste zunächst geklärt werden, ob die ma­ terielle Rechtskraft einer Entscheidung über die Verfahrensordnungen hinaus zu beachten ist und sofern dies bejaht wird, welche Bestandteile des Strafurteils in Rechtskraft erwachsen können. Früher herrschte die weit verbreitete Ansicht, dass 15

Vgl. zum Aussagegehalt dieser Regelungen näher unter 1. Teil, A. I. 3. d).

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1. Teil: Deutschland

eine verfahrensübergreifende Rechtskraftbindung nicht bestehe16 und sich eine Bindungswirkung über die eigene Gerichtsbarkeit hinaus jedenfalls nicht aus der Wirkung der materiellen Rechtskraft ableiten lasse.17 Die Rechtsprechung und die heute herrschende Lehre bejahen dagegen grundsätzlich eine verfahrensübergrei­ fende Rechtskraft, und zwar unabhängig davon, ob in beiden Gerichtsbarkeiten die­ selben Verfahrensmaximen gelten.18 Denn der Sinn und Zweck der Rechtskraft, für Rechtsgewissheit und Rechtsfrieden zu sorgen, sei nicht auf die eigene Verfahrens­ ordnung beschränkt.19 Außerdem bildeten alle Gerichtsbarkeiten gleichwertig die rechtsprechende Gewalt im Sinne des Art. 92 GG.20 Schließlich zeigten Vorschriften wie etwa § 17 a Abs. 1, Abs. 2 S. 3 GVG, die der Entscheidung über die Eröffnung des Rechtswegs bzw. der Verweisung an das zuständige Gericht Bindungswirkung über die Gerichtsbarkeit hinaus zuschreiben, dass eine verfahrensordnungsüber­ greifende Bindung existiere.21 Darauf, dass die jeweiligen Gerichtsbarkeiten von unterschiedlichen Verfahrensmaximen geprägt sind, könne es nicht ankommen, 16 Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 133 mit Nachweisen; Bötticher, in: Caemmerer/Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 511, S. 535 mit Nachweisen; König, Die Bindung des Richters an präjudizielle Urteile anderer Ge­ richte, S. 67; in diesem Sinne auch Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechtsverhältnisse, S. 105 ff.; Schmitz, Die strafrichterliche Beweiswürdi­ gung außerstrafrechtlicher Vorfragen, S. 114 ff., die jedoch eine Fernwirkung aufgrund Rechts­ kraft bei Vorliegen identischer Prozessmaximen bejahen. 17 Geiger, in: Külz/Naumann, Staatsbürger und Staatsgewalt, Verwaltungsrecht und Ver­ waltungsgerichtsbarkeit in Geschichte und Gegenwart, 183, S. 204 ff.; dagegen Bötticher, in:­ Caemmerer/Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 511, S.  535; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 114. 18 BGH NJW 1953, 1103 für das Verhältnis zwischen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit; Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 290; Völzmann-Stickelbrock, in: Prütting/Gehrlein, § 322, Rn. 22 für das Zivilurteil; Bötticher, in: Caemmerer/Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deut­ sches Rechtsleben, 511, S. 535 f.; Schwab, ZZP 77 (1964), 124, S. 160; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 57 jeweils für das Zivilurteil; Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65.  Geburtstag, 157, S.  162 f.; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75.  Geburts­ tag, 107, S. 133; Kissel/Mayer, § 13, Rn. 26; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, § 13 GVG, Rn. 31; a. A. Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 113 ff., 129 f.; 180 ff.; Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechtsverhältnisse, S. 108 f.; Schmitz, Die strafrichterliche Beweiswürdigung außerstrafrecht­ licher Vorfragen, S. 114 ff., die eine Bindungswirkung aufgrund Rechtskraft nur bei Vorliegen identischer Prozessmaximen bejahen. 19 Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 290. 20 BGH NJW 1953, 1103 für das Verhältnis zwischen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit; Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn.  290; Völzmann-Stickelbrock in: Prütting/Gehrlein, § 322, Rn. 22; Kissel/Mayer, § 13, Rn. 26; nach Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 52 kann die Gleichwer­ tigkeit der Gerichtszweige lediglich Voraussetzung für eine Bindung sein, diese aber nicht be­ gründen. 21 Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn.  290; Bötticher, in: Caemmerer/Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 511, S.  535, wonach aus einer ausdrücklich angeord­ neten Bindung bzgl. des Rechtswegs nicht e contrario auf eine fehlende Rechtskraftwirkung in andere Gerichtszweige hinein geschlossen werden dürfe, da die Rechtswegbindung über die Frage der Rechtskraft hinausgehe.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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da der Gesetzgeber in allen Verfahrensordnungen die Ermittlung der Wahrheit an­ strebe.22 Wenn man also richtigerweise grundsätzlich eine Rechtskraftwirkung des Straf­urteils auch über die Strafgerichtsbarkeit hinaus annimmt, führt dies im Er­ gebnis jedoch aus folgenden Gründen dennoch nicht zur Bindung des Zivilrichters: Der BGH argumentierte früher unter Berufung auf § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F.23, dass das Gesetz eine solche Bindung ausdrücklich ausschließe.24 Aber auch un­ abhängig von einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung führt die materielle Rechtskraft des Strafurteils nicht dazu, dass der Zivilrichter an den Inhalt des Strafurteils gebunden wäre. Denn für das Strafurteil wird ganz überwiegend an­ genommen, dass sich die materielle Rechtskraft in der Bewirkung des Strafkla­ geverbrauchs erschöpft.25 Aus der negativen Rechtskraftwirkung des Strafurteils, d. h. aus dem Strafklageverbrauch, kann jedoch keine Bindung des Zivilrichters folgen, da der Streitgegenstand des Zivilverfahrens ein anderer ist.26 Soweit ver­ einzelt eine positive Rechtskraftwirkung des Strafurteils vertreten wird, soll diese nur das Bestehen oder Nichtbestehen des staatlichen Strafanspruchs erfassen27, so­ dass eine Bindungswirkung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess trotz positiver Rechtskraftwirkung ausscheidet, da der staatliche Strafanspruch nicht präjudiziell für den Zivilrechtsstreit ist.28 Eine Bindung des Zivilgerichts auf­ grund einer Rechtskraftwirkung des Strafurteils wäre nur denkbar, wenn das Urteil auch für einen nachfolgenden Strafprozess rechtskräftig feststellen würde, dass 22 In diesem Sinne Bötticher, in: Caemmerer/Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 511, S. 536. 23 Zu § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. c). 24 BGH NJW 1953, 1103, 1104; Bötticher, in: Caemmerer/Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 511, S. 535; a. A. Schieferdecker, Die Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile, S. 14 f., der der Ansicht ist, § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. verbiete zwar, dass das Strafurteil den Zivilrichter aufgrund einer Beweisregel binde, sage jedoch nicht darüber aus, ob eine Bindung aufgrund Rechtskraft zulässig sei; Foerster, Transfer der Ergeb­ nisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 211. 25 So RGSt 33, 303, 304 f.; 44, 255, 256; OLG Hamm NJW 1959, 1982; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 171; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 482; Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 163 f.;­ Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 67 m. w. N.; a. A. ­Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 152 f. 26 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 164; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 97. 27 Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 123; in diesem Sinne wohl auch Kissel/Mayer, § 13, Rn.  27, die der Ansicht sind, dass nur der staatliche Straf­ anspruch in Rechtskraft erwächst, nicht aber die zugrundeliegenden Feststellungen oder die rechtliche Würdigung des Gerichts; Kugler, Die Bindung des Strafrichters an Zivilurteile, S. 124 ff.; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 58; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 153 geht noch weiter: Durch das Strafurteil werde auch die Tatbegehung rechtskräftig festgestellt. 28 Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 303; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 58; in diesem Sinne wohl auch Pohle, in: Maunz, Staat und Bürger, 171, S. 198; Kissel/Mayer, § 13, Rn. 27; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 124.

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1. Teil: Deutschland

der Angeklagte die Tat begangen oder nicht begangen hat.29 Da sich jedoch die Rechtskraft des Strafurteils auch in einem nachfolgenden Strafprozess ausschließ­ lich auf den Tenor des Strafurteils bezieht und die Entscheidungsgründe, insbeson­ dere die tatsächlichen Feststellungen, nicht in Rechtskraft erwachsen30, muss dies auch für ein nachfolgendes Zivilverfahren gelten.31 Eine Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilprozess aufgrund der Rechts­ kraft scheitert jedenfalls an deren subjektiven Grenzen.32 Auch wenn eine gerichts­ zweigübergreifende Rechtskraft anzuerkennen ist, wirkt diese nur in ihren subjek­ tiven Grenzen.33 Der Strafprozess kennt schon keine „Parteien“34 und selbst wenn man von „Parteien“ im Strafprozess sprechen wollte35, befinden sich allenfalls Staatsanwaltschaft und Angeklagter, nicht aber Geschädigter und Angeklagter im Widerstreit.36 Daher besteht keine Parteiidentität zwischen den im Strafverfahren Beteiligten und den Parteien des Zivilprozesses. Auch kann man nicht damit argu­ 29 Dies vertritt beispielsweise Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nach­ folgende Zivilverfahren, S. 153; Tschöpe, Die Grenzen der Bindung des Strafrichters an die präjudiziellen Entscheidungen gerichtlicher und sonstiger Behörden, S. 22 f. 30 BGH NStZ 2010, 529; BGH NStZ-RR 2004, 238, 240; BGH NJW 1982, 1239, 1240; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75.  Geburtstag, 107, S.  142; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 170; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 482; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 164. 31 Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 303, Fn. 539. 32 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 190 ff., vertritt deshalb eine Bindung nur zulasten des Verurteilten, da nur diesem im Straf­ verfahren rechtliches Gehör gewährt worden sei. Die subjektiven Rechtskraftgrenzen sieht er dagegen verletzt, wenn auch Dritte, die am Strafverfahren nicht beteiligt waren, durch das Strafurteil gebunden wären. 33 In diesem Sinne BGH NJW 1962, 1925; OLG Hamm NJW 1959, 1982; Leipold, in: Stein/ Jonas, § 322, Rn. 292; Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 69; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 124, 125; Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 164; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S.  99 f.; Schieferdecker, Die Bindung des Zivil­ richters an rechtskräftige Strafurteile, S. 99, der jedoch im Privatklageverfahren Parteiidentität annimmt; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 158 ff. 34 BVerfG NJW 1983, 1043, 1044; BGH NJW 1960, 2346, 2347; Roxin/Schünemann, Straf­ verfahrensrecht, § 17 Rn. 5; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 9, Vor § 141 GVG, Rn. 8; ausführlich hierzu Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. J, Rn. 52–54; a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 190, der Staat und Angeklagten als Parteien des Strafprozesses bezeichnet. 35 Nach Ansicht des BVerfG und des BGH ist die Staatsanwaltschaft ausdrücklich nicht als Partei des Strafprozesses anzusehen, BVerfG NJW 1983, 1043, 1044; BGH NStZ 2008, 231; BGH NJW 1960, 2346, 2347. 36 In diesem Sinne Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 124 f.; Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65.  Geburtstag, 157, S.  164; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 158 f.; Schieferdecker, Die Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile, S. 99, der jedoch im Privatklage­ verfahren Parteiidentität annimmt; teilweise wird jedoch versucht, die Einschränkung durch die subjektiven Grenzen der Rechtskraft zu umgehen, Nachweise bei Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 99 f.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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mentieren, dass die Staatsanwaltschaft die Interessen des Geschädigten vertrete.37 Als „dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege“38 ist sie dazu ver­ pflichtet, den wahren Sachverhalt zu ermitteln.39 Da sie während des gesamten Ver­ fahrens alle den Beschuldigten bzw. Angeklagten be- und entlastenden Umstände zu berücksichtigen hat40, vertritt die Staatsanwaltschaft keine Privatinteressen, sondern ist der Objektivität verpflichtet.41 Schließlich kann auch in den Fällen, in denen der Geschädigte als Nebenkläger im Strafprozess beteiligt war, nicht von einer „Partei­ stellung“ des Nebenklägers im Strafprozess gesprochen werden42, da das ­Institut der Nebenklage (§§ 395 ff. StPO) nicht bezweckt, dem Geschädigten im Hinblick auf seine etwaigen zivilrechtlichen Ansprüche gegen den Angeklagten rechtliches Gehör zu gewähren.43 Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass sich aus dem Institut der materiellen Rechtskraft des Strafurteils keine Bindungswirkung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess ergibt. b) Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gem. § 286 Abs. 1 ZPO als Hindernis für eine Bindungswirkung des Strafurteils Nach weit überwiegender Ansicht ist es der Grundsatz der freien Beweis­ würdigung gem. § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO, der die Freiheit des Zivilrichters garan­ tiert und eine Bindung an die Beweiswürdigung des Strafrichters sowie die da­ rauf beruhenden Tatsachenfeststellungen verbietet.44 Nach § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu­ entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu er­ 37

Vgl. hierzu die Ansätze im französischen Recht unter 2. Teil, A. IV. 3. BGH NStZ 2008, 231; BGH NJW 1971, 2082, 2083; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, Vor § 141 GVG, Rn. 1. 39 BVerfG NJW 1987, 2662, 2663; BVerfG NJW 1983, 1043, 1044; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 12; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 141 GVG, Rn. 8. 40 Vgl. § 160 Abs. 2 StPO, der auch für die Hauptverhandlung gilt, BVerfG NJW 1983, 1043, 1044; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 160, Rn. 14; 296 Abs. 2 StPO. 41 BGH NStZ 2008, 231; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilpro­ zess, S. 159; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfah­ ren, S. 60, Fn. 72. 42 Vgl. hierzu Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 160 ff.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 59 f. 43 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 152 f.; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 161 m. w. N. und ausführlicher Begründung. 44 BGH NJW-RR 2013, 9, 10; BGH NJW-RR 2005, 1024; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, § 14 EGZPO, Rn. 1; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 57; König, Die Bindung des Richters an präjudi­ zielle Urteile anderer Gerichte, S. 70 f.; a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfah­ ren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 340, nach dem der Grundsatz der freien Beweiswürdi­ gung einer Bindungswirkung kraft Rechtskrafterstreckung nicht entgegenstünde. 38

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1. Teil: Deutschland

achten sei. Das heißt, dass der Richter nur an Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden ist45 und mit Ausnahme der gesetzlichen Beweisregeln (vgl. § 286 Abs. 2 ZPO) die Ergebnisse der Verhandlung nach seiner freien Überzeugung bewerten darf. Daher verbietet § 286 ZPO eine Bindung des Zivilrichters an die tatsäch­ lichen Feststellungen des Strafurteils.46 Die freie Beweiswürdigung garantiert dem Richter also zum einen die Freiheit, die im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse nach seiner freien Überzeugung zu bewerten. Zum anderen verpflichtet sie ihn, diese Freiheit auch zu nutzen. Daher ist es dem Zivilrichter durch § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO zugleich verboten, sich selbst durch gesetzlich nicht vorgesehene Beweis­ regeln zu binden.47 Eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil im Wege der Rechtskraft ließe § 286 Abs. 1 ZPO zwar zu, da die freie Beweiswürdigung nur in­ soweit gilt, als der Zivilrichter nach dem gesetzgeberischen Willen zur Entschei­ dung berufen ist48, jedoch scheitert eine solche Bindungswirkung kraft Rechts­ kraft, wie soeben erläutert, an deren objektiven und subjektiven Grenzen.49 c) § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. als gesetzliches Verbot einer Bindungswirkung des Strafurteils? Eine Stellungnahme zur Frage, ob der Zivilrichter an das Strafurteil gebunden ist, enthielt auch § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F., der nunmehr gegenstandslos ist. Dieser setzte im 19. Jahrhundert geltende landesrechtliche Verfahrensvorschriften außer Kraft50 indem er bestimmte: „(2) Außer Kraft treten insbesondere: 1. die Vorschriften über die bindende Kraft des strafgerichtlichen Urteils für den Zivilrichter; […].“

Teilweise wird vertreten, dass § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. nicht zur Beant­ wortung der Frage herangezogen werden dürfe, ob der Zivilrichter an das Straf­ urteil gebunden sei.51 Dafür spricht, dass die Norm eine Kollisionsregel darstellte, die das Verhältnis landesrechtlicher Vorschriften zur ZPO regelte.52 Daher könnte man vertreten, dass sich ihr keine allgemein gültige Regel entnehmen lasse. Außer­ dem lässt sich argumentieren, dass § 14 Abs. 2 EGZPO a. F. nur klarstellen soll, 45

Greger, in: Zöller, § 286 Rn. 13; Ahrens, in: Wieczorek/Schütze, § 286, Rn. 3. BGH NJW-RR 2013, 9, 10. 47 Greger, in: Zöller, § 286 Rn. 13 und ausführlich unter 1. Teil, A. III. 2. b) bb). 48 In diesem Sinne auch Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 136 und Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfah­ ren, S. 330. 49 Vgl. dazu unter 1. Teil, A. I. 3. a). 50 Hohloch, JuS 2005, 1045, S. 1046. 51 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 211 f. 52 Schreiber, in: Wieczorek/Schütze, 3. Aufl., § 14 EGZPO, Rn. 1; Foerster, Transfer der Er­ gebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 211. 46

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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dass auch solche Vorschriften, bei denen unklar ist, ob es sich um prozessrecht­ liche oder um materiellrechtliche Vorschriften handelt, in den Anwendungsbereich des Absatzes 1 fallen.53 Ganz überwiegend wurde jedoch aus dieser Vorschrift der Schluss gezogen, dass eine Bindung des Zivilrichters an das freisprechende oder verurteilende straf­ gerichtliche Urteil unzulässig sei.54 Nach der gesetzgeberischen Wertung des § 14 Abs. 2 Nr.1 EGZPO a. F. sei der Zivilrichter nicht an die Feststellungen des Straf­ urteils gebunden, sondern müsse stattdessen nach seiner freien Überzeugung selbst entscheiden, ob er den vom Strafrichter festgestellten Sachverhalt für wahr erachte.55 Zwar bestand Einigkeit darüber, dass § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. eine Beweiswirkung der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils verbiete.56 Nicht unumstritten war indes, ob § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. auch einer Bindungs­ wirkung aufgrund der materiellen Rechtskraftwirkung des Strafurteils entgegen­ stehe.57 Insbesondere der Wortlaut der Vorschrift und die Gesetzgebungsgeschichte werden jedoch zur Begründung dafür herangezogen, dass nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. jegliche Bindung des Zivilrichters, also auch eine Bindung im Wege der Rechtskraft, unzulässig sein solle.58 Vor Inkrafttreten der ZPO von 1877 be­ standen in den jeweiligen Teilen Deutschlands unterschiedlichste legislatorische Lösungen der Bindungsfrage sowie eine divergierende Rechtsprechungspraxis der obersten Gerichtshöfe.59 Dabei wurde die Bindungswirkung teils als Beweisregel, teils als Folge der Rechtskraftwirkung des Strafurteils gesehen.60 Da man sich nach dem Siebten Deutschen Juristentag von 1868, der die Frage ausführlich diskutiert hatte, in der ZPO von 1877 umfassend gegen eine Bindung des Zivilrichters ent­ schieden hatte, liegt es nahe, dass jegliche Bindung – sowohl im Wege der Beweis­ 53 Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn. 2; Foerster, Transfer der Ergeb­ nisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 212. 54 BGH NJW 1968, 1275, 1277; BGH NJW 1953, 1103, 1104; RGZ 62, 340, 344; aus dem Schrifttum nur Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn. 2; Barth, in: Prütting/­ Gehrlein, § 14 EGZPO, Rn. 2; Völzmann-Stickelbrock, in: Prütting/Gehrlein, § 322 ZPO, Rn. 26; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 56; a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 210 ff. mit der Begründung, § 14 Abs. 2 Nr.1 EGZPO a. F. regle als intertemporales Recht nur das Verhältnis der ZPO zu früheren landesrechtlichen Vorschrif­ ten, treffe jedoch keine Aussage für die Konkurrenz von Zivil- und Strafverfahren in der ZPO. 55 BGH NJW-RR 2005, 1024, 1025; OLG Koblenz Urteil vom 12.  Oktober 1989, 5 U 1130/88, BeckRS 1989, 04170; OLG Saarbrücken NJW-RR 2003, 176, 177. 56 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 161. 57 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 161. 58 Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 56; Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 163; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivil­ prozess, S. 65 f.; teilweise wurde dagegen vertreten, dass § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. zwar eine Beweiswirkung der Feststellungen ausschließe, nicht aber eine Bindungswirkung des Strafurteils im Hinblick auf den Schuldspruch, in diesem Sinne etwa Kuttner, Urteilswirkungen außerhalb des Zivilprozesses, S. 14 f.; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 122; Koch, Ist der Strafrichter an Zivilurteile gebunden?, S. 26. 59 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 159. 60 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 158.

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1. Teil: Deutschland

regel als auch im Wege der Rechtskraft – abgeschafft werden sollte.61 Auch in der Rechtsprechung wurde § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. als Norm aufgefasst, die eine Bindungswirkung des Strafurteils für das Zivilverfahren verbiete.62 Teilweise wird heute vertreten, dass durch die Aufhebung der Norm die gesetz­ geberische Entscheidung gegen die Bindungswirkung des Strafurteils entfallen sei und daher „der Weg für die deutsche Diskussion um eine Bindung des Zivilrichters an die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils frei“ sei.63 Ob dies tatsächlich der Fall ist, kann offen bleiben. Denn die Aufhebung des § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. führt jedenfalls nicht dazu, dass nunmehr eine Bindungswirkung des Strafurteils de lege lata bestünde.64 Weder die Rechtskraft des Strafurteils65 noch die Regelungen über den Urkundenbeweis66 oder verfassungsrechtliche Gesichts­ punkte67 bewirken eine inhaltliche Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil. d) § 118 Abs. 3 BRAO, § 57 Abs. 1 BDG e contrario Gegen eine Bindungswirkung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess spricht ferner ein Umkehrschluss zu § 118 Abs. 3 BRAO und § 57 Abs. 1 BDG. Nach § 118 Abs. 3 S. 1 BRAO sind für die Entscheidung im anwaltsgerichtlichen Verfah­ ren die tatsächlichen Feststellungen des Urteils im Strafverfahren bindend, auf de­ nen die Entscheidung des Gerichts beruht, wobei das Gericht die nochmalige Prü­ fung solcher Feststellungen beschließen kann, deren Richtigkeit seine Mitglieder mit Stimmenmehrheit bezweifeln. § 57 Abs. 1 S. 1 BDG sieht vor, dass die tatsäch­ lichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren im Disziplinar­ verfahren, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat, für das Gericht bindend sind, wobei das Gericht die erneute Prüfung solcher Feststellungen zu beschließen hat, die offenkundig unrichtig sind, § 57 Abs. 1 S. 2 BDG. Aus diesen Spezialrege­ lungen ergibt sich im Umkehrschluss, dass die Feststellungen des Strafurteils nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung gerade keine Bindungswirkung in einem nachfolgenden Prozess entfalten.68 Nur dort wo eine solche Wirkung ausnahmsweise explizit gesetzlich angeordnet ist, ist das nachfolgende Gericht gebunden. 61

Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 163; a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 213 ff. 62 BGH NJW 1953, 1103, 1104. 63 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 154. 64 Dies erkennt auch Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 165 an. 65 Vgl. dazu unter 1. Teil, A. I. 3. a). 66 Vgl. dazu unter 1. Teil, A. I. 3. e). 67 Vgl. dazu unter 1. Teil, A. I. 3. h). 68 In diesem Sinne auch Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 111 f., der in diesen Vorschriften „de lege lata eine echte Ausnahme im deutschen Verfahrensrecht“ sieht und Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilver­ fahren, S. 251, der die Vorschriften als „Fremdkörper“ im deutschen Verfahrensrecht bezeichnet.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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e) Beweiskraft des Strafurteils als öffentliche Urkunde gem. §§ 415 ff. ZPO Eine Bindung des Zivilrichters an den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt könnte sich außerdem aus der Beweiskraft des Strafurteils als öffentliche Urkunde ergeben, denn die Regeln über den Urkundenbeweis stellen gesetzliche Beweis­ regeln i. S. d. § 286 Abs. 2 ZPO dar, die die freie Beweiswürdigung des Richters ausschließen bzw. einschränken.69 Das Strafurteil stellt zwar eine öffentliche Ur­ kunde im Sinne der §§ 415, 417 ZPO dar; als solche erbringt es jedoch ausschließ­ lich formellen Beweis für seinen Inhalt.70 Das bedeutet, „dass die inhaltliche Richtigkeit der in der Urkunde enthaltenen Erklärungen und Beschreibungen, also die Wahrheit der dort getroffenen Aussagen und Stellungnahmen durch eine Urkunde nicht bewiesen werden kann.“71 Daher beweist das Strafurteil nicht, dass die vom Strafrichter getroffenen tatsächlichen Feststellungen richtig sind.72 Wird das Straf­ urteil im Wege des Urkundenbeweises verwertet, steht damit nur fest (insoweit ist die freie Beweiswürdigung des Zivilrichters also ausgeschlossen), dass das Urteil mit dem entsprechenden Inhalt ergangen ist.73 Da das Strafurteil im Übrigen voll­ umfänglich der Beweiswürdigungsfreiheit des Zivilgerichts unterliegt, ist dessen förmliche Beweiskraft streng genommen gering. Indes liegt es für den Zivilrichter häufig nahe, seine eigene Überzeugungsbildung maßgeblich auf ein bereits ergan­ genes Strafurteil zu stützen. Insbesondere die Tatsache, dass der jetzige Beklagte im Strafprozess rechtskräftig verurteilt wurde, lässt, wie noch zu sehen sein wird74, den Zivilrichter oftmals nicht unbeeindruckt. 69 Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 18; Greger, in: Zöller, § 286, Rn. 3; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 286, Rn. 20. 70 OLG Brandenburg Urteil vom 21. Juli 2006, 7 U 40/06, BeckRS 2006, 10159, unter II.; Schreiber, in: MüKo, § 417, Rn. 6; Leipold, in: Stein/Jonas, § 417, Rn. 1; Preuß, in: Prütting/ Gehrlein, § 417, Rn. 5; Rönnau, StV 2004, 455, S. 456; Huber, JuS 2004, 873, S. 875. 71 Krafka, in: BeckOK ZPO, § 415, Rn. 7. 72 OLG Brandenburg Urteil vom 21.  Juli 2006, 7 U 40/06, BeckRS 2006, 10159, unter II.; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 417, Rn. 2; Schreiber, in: MüKo, § 417, Rn. 6; Leipold, in: Stein/Jonas, § 417, Rn. 2; Preuß, in: Prütting/Gehrlein, § 417, Rn. 5; Beulke, in: Hoyer/Müller/ Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70.  Geburtstag, 663, S.  665; Oehlerking, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 30. 73 Preuß, in: Prütting/Gehrlein, § 417, Rn. 5; Krafka, in: BeckOK ZPO, § 415, Rn. 8; Gruber, in: MüKo, § 14 EGZPO, Rn. 4; Schreiber, in: MüKo, § 417, Rn. 6; umstritten ist, ob das Straf­ urteil darüber hinaus beweist, dass die im Strafurteil wiedergegebenen Aussagen tatsächlich­ gemacht wurden, dafür wohl Schlosser, in: Stein/Jonas, § 14 EGZPO, Rn. 3; Gruber, in: MüKo, § 14 EGZPO, Rn. 4; das OLG Brandenburg Urteil vom 21. Juli 2006, 7 U 40/06, BeckRS 2006, 10159, unter II., ist der Ansicht, dass das Strafurteil keine Urkunde i. S. d. § 415 Abs. 1 ZPO darstelle, die über eine vor dem Gericht abgegebene Erklärung errichtet werde, da die Aussagen von Zeugen bzw. vom Angeklagten nicht mit dem Ziel wiedergegeben würden, sie zu beurkun­ den. Diese Frage kann offen bleiben, da sich die Beweiskraft jedenfalls nicht auf die inhaltliche Richtigkeit der Aussage bezieht (so zutreffend auch OLG Brandenburg a. a. O.) und die Tat­ sache, dass die Aussage mit dem entsprechenden Inhalt abgegeben wurde, in der Regel unstrei­ tig sein wird. 74 Unter 1. Teil, A. III. 2. b).

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1. Teil: Deutschland

f) Vorfragenkompetenz und fakultative Verfahrensaussetzung gem. § 149 Abs. 1 ZPO als Indizien für die Bindungsfreiheit des Zivilrichters? Dass sich der Gesetzgeber gegen eine Bindung entschieden hat, könnte sich des Weiteren aus der Vorfragenkompetenz des Zivilrichters hinsichtlich strafrecht­ licher Vorfragen sowie aus seiner Befugnis zur Verfahrensaussetzung ergeben. Für jeden Gerichtszweig ist als allgemeines Prinzip anerkannt, dass das Gericht über bloße Vorfragen, für die als Hauptfrage eine andere Gerichtsbarkeit zustän­ dig wäre, entscheiden darf.75 Dies folgt aus einer Zusammenschau der gesetz­ lichen Regelungen der §§ 148, 149 ZPO, 46 Abs. 2 ArbGG, 114 SGG, 94 VwGO, 74 FGO, 396 AO, die allesamt eine Aussetzung des Verfahrens in das Ermessen des Gerichts stellen und folglich dessen Vorfragenkompetenz voraussetzen.76 Neben der im deutschen Recht anerkannten Vorfragenkompetenz könnte auch die Vorschrift des § 149 Abs. 1 ZPO, welche die Aussetzung des Zivilverfahrens in das Ermessen des Richters stellt, darauf hinweisen, dass das Strafurteil keine Bindungswirkung für den Zivilprozess entfaltet. Diese Norm berechtigt das Ge­ richt, die Verhandlung auszusetzen, wenn sich im Laufe des Rechtsstreits der­ Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf seine Entscheidung von Einfluss ist. Die Tatsache, dass das Zivilverfahren aufgrund dieser Ermessens­ vorschrift nicht zwingend bis zur Erledigung des Strafverfahrens ausgesetzt wer­ den muss, könnte ein Indiz dafür sein, dass der Zivilrichter nicht an das Straf­ urteil gebunden ist, da er schließlich nicht verpflichtet ist, die Entscheidung im Strafprozess abzuwarten.77 Allerdings ist dieser Schluss nicht zwingend. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass die Freiheit des Zivilgerichts auch dann­ fortbesteht, wenn bereits ein rechtskräftiges Strafurteil vorliegt.78 Denn die Frage der Verfahrensaussetzung kann, wie ein Blick in das französische Recht zei­ gen wird79, grundsätzlich unabhängig von der Anerkennung einer Bindungswir­ kung geregelt sein. Dort liegt nämlich die Aussetzung bestimmter Zivilverfah­ ren trotz bindender Wirkung der strafrichterlichen Entscheidung im Ermessen des Gerichts.80

75

RGZ 41, 267, 272; Kissel/Mayer, § 13, Rn. 17. Kissel, in: Gamm/Raisch/Tiedemann, Strafrecht, Unternehmensrecht, Anwaltsrecht, 189, S. 196. 77 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65.  Geburtstag, 157, S. 164 f. 78 Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 108; Schieferdecker, Die Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile, S. 18. 79 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IV. 80 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IV. 76

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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g) Gesetzliche Zuständigkeitsverteilung als Indiz für eine Bindungswirkung des Strafurteils? Weiterhin könnte sich eine Bindungswirkung aus der gesetzlichen Zuständig­ keitsverteilung der §§ 13, 23 ff., 71 ff., 118 ff. GVG ergeben. So ließe sich argu­ mentieren, dass aufgrund der besonderen Sachnähe und des besonderen Sachver­ stands nur das Strafgericht zur Entscheidung darüber befugt sei, ob eine bestimmte Handlung einen Straftatbestand erfülle, wohingegen die anderen Gerichte über diese Frage nicht entscheiden dürften, sondern an ein strafgerichtliches Urteil ge­ bunden seien.81 Gegen dieses Argument lässt sich einwenden, dass man umgekehrt aus der im deutschen Recht anerkannten Vorfragenzuständigkeit auch den Schluss ziehen könnte, dass diese auch dann noch gelten soll, wenn bereits ein Urteil der für die Hauptfrage zuständigen Gerichtsbarkeit ergangen ist.82 Richtigerweise kann man der Zuständigkeitsverteilung keine Aussage im Hinblick auf die Bindungswirkung des Strafurteils für einen späteren Zivilprozess entnehmen. Die Zuständigkeits­ regeln entscheiden nur darüber, in welchen Fällen die Strafgerichtsbarkeit bzw. Zivilgerichtsbarkeit zuständig ist und welches Gericht innerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit zur Entscheidung berufen ist. Rückschlüsse auf eine Bindungs­ wirkung des Strafurteils lassen sie nicht zu, da sie keine Aussage über das Verhält­ nis von Zivil- und Strafverfahren treffen.83 Denn die Tatsache, dass das Zivilgericht kraft gesetzlicher Zuständigkeitsverteilung nicht zur Entscheidung über die Straf­ barkeit von Handlungen berufen ist, bedeutet nicht gleichzeitig, dass es u­ ngeprüft den Inhalt der strafgerichtlichen Entscheidung für seine eigene Entscheidung über­ nehmen müsste.84 h) Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte für und gegen eine Bindungswirkung des Strafurteils Aussagen zur Bindungsfrage könnten sich nicht nur aus den soeben dargestell­ ten verfahrensrechtlichen Regelungen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Prinzipien ableiten lassen.

81

Knöpfle, BayVBl. 1982, 225, S. 229; Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außerstrafrechtlicher Rechtsverhältnisse, S. 95 m. w. N. 82 So auch Schieferdecker, Die Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile, S. 112. 83 Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 117, 118; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 52, der darauf hinweist, dass die Zuständigkeitsregeln keine gegenseitige An­ erkennung vorschreiben; Jörgensen, Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung außer­ strafrechtlicher Rechtsverhältnisse, S. 97. 84 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 52.

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1. Teil: Deutschland

aa) Die Unabhängigkeit des Richters Art. 20 Abs. 2, Abs. 3, 92, 97 Abs. 1 GG und § 1 GVG garantieren die Unabhän­ gigkeit des Richters.85 Aus diesen Vorschriften kann jedoch nicht gefolgert wer­ den, dass die Bindungsfreiheit des Zivilrichters verfassungsrechtlich vorgegeben wäre.86 Art. 97 Abs. 1 GG garantiert die sachliche Unabhängigkeit des Richters, das heißt, dass der Richter, soweit er seine Aufgabe der Rechtsprechung erfüllt, nur dem Gesetz unterworfen ist.87 „Die Vorschrift dient dem Schutz der rechtsprechenden Gewalt vor Eingriffen durch die Legislative und die Exekutive.“88 Zwar ist anerkannt, dass die Unabhängigkeit auch gegenüber der rechtsprechenden Gewalt selbst garantiert ist.89 Durch eine gesetzlich vorgeschriebene Bindung des Richters an Entscheidungen anderer Gerichte würde die richterliche Unabhängigkeit indes nicht beeinträchtigt.90 Denn die gesetzlich vorgesehene Bindung des Richters an Entscheidungen anderer Gerichte würde zwar seine Zuständigkeit und damit sein „Entscheidungsprogramm“ beschränken91, sie würde aber nicht die verfassungs­ rechtlich gewährleistete Unabhängigkeit bei seiner eigenen Entscheidung beein­ trächtigen.92 Dies ergibt sich bereits aus der Gesetzesbindung des Richters gem. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG, wonach der Richter eine gesetzlich vor­ gesehene Bindung, die lediglich seine Zuständigkeit einschränkt, zu beachten hat. Die sachliche Unabhängigkeit des Richters innerhalb der Judikative bedeutet da­ her vor allem, dass der Richter nicht an Rechtsauffassungen anderer, selbst im In­ stanzenzug höherer, Gerichte gebunden ist.93

85

BVerfG NJW 1982, 2425, 2429. Hinz, JR 2003, 356, S. 358; Kissel, in: Gamm/Raisch/Tiedemann, Strafrecht, Unterneh­ mensrecht, Anwaltsrecht, 189, S. 193. 87 BVerfG, NJW 1961, 655. 88 BVerfG, NJW 1961, 655. 89 BVerfG, NJW 1996, 2149, 2150; Detterbeck, in: Sachs, Art. 97, Rn. 14; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 97, Rn. 41; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 97, Rn. 7; Classen, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 97, Rn. 21. 90 BGH 1985, 2644, 2647 für die Frage, ob die Bindung der Gerichte an die Verfügungen der Generalstaatsanwaltschaft gegen Art. 97 Abs. 1 GG verstößt; Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, Art. 97, Rn. 14; Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Art. 97, Rn. 96; Bötticher, in: Caemmerer/ Friesenhahn/Lange, Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 511, S. 513 f. 91 Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 97, Rn. 15. 92 BVerfG, NJW 1961, 655; Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Art.  97, Rn.  96; soweit ge­ setzlich angeordneten Bindungswirkungen teilweise als Durchbrechung der Unabhängig­ keit bezeichnet werden (so etwa Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 97, Rn. 7; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 97, Rn. 42; Frister, in: SK-StPO, § 1 GVG, Rn. 29) ist dem nicht zu folgen, da nur der Entscheidungsumfang, nicht aber die Unabhängigkeit des Richters bei der Entschei­ dung beeinträchtigt ist, in diesem Sinne etwa Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art.  97, Rn. 15. 93 Detterbeck, in: Sachs, Art. 97, Rn. 15; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 97, Rn. 41. 86

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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bb) Der Gewaltenteilungsgrundsatz Auch dem Grundsatz der Gewaltenteilung nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG können keine Anhaltspunkte für oder gegen eine Bindungswirkung entnommen werden, denn er bezieht sich nur auf das Verhältnis der Judikative zu den anderen beiden Gewalten der Legislative und Exekutive.94 Er sagt nichts darüber aus, ob und un­ ter welchen Voraussetzungen eine gegenseitige Bindung innerhalb der Judikative besteht.95 cc) Das Rechtsstaatsprinzip Es wäre ferner denkbar, dem durch Art. 20 Abs. 3 GG garantierten Rechtsstaats­ prinzip Bindungsregeln zu entnehmen. So wird insbesondere der durch Art.  20 Abs.  3 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Grundsatz der Rechtssicherheit96 häufig als Argument für eine Bindungswirkung von Urteilen herangezogen.97 Da­ bei beschränkt sich die Begründung, sofern eine solche überhaupt existiert98, in der Regel darauf, dass der Bürger sich auf den Fortbestand bzw. die Beständigkeit einer einmal getroffenen Entscheidung verlassen können und zukünftige staatliche Entscheidungen vorhersehen können solle.99 Daher stellt sich zunächst die Frage, ob der Grundsatz der Rechtssicherheit tatsächlich als Argument für eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil herangezogen werden kann. Die Stimmen, die sich für eine Bindungswirkung des Strafurteils im Interesse des Vertrauens auf die Beständigkeit der strafgerichtlichen Entscheidung bzw. der Vorhersehbarkeit der zivilgerichtlichen Entscheidung aussprechen, nehmen genau genommen auf zwei verschiedene Ausprägungen der durch Art. 20 Abs. 3 GG gewährleisteten Rechts­ sicherheit Bezug. Zum einen geht es um die Beständigkeit einer Entscheidung un­ abhängig von deren Rechtmäßigkeit.100 Zum anderen steht die Vorhersehbarkeit 94

A. A. König, Die Bindung des Richters an präjudizielle Urteile anderer Gerichte, S. 60 f. Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 51; Schieferdecker, Die Bindung des Zivilrichters an rechts­ kräftige Strafurteile, S.  112; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75.  Geburtstag, 107, S. 117. 96 BVerfG NJW 1973, 1315; BVerfG NJW 1968, 147, 149; BVerfG NJW 1958, 97; BGH NJW 1996, 1467, 1470. 97 Feuerich, in: Feuerich/Weyland, § 118 BRAO, Rn. 43; Koch, Ist der Strafrichter an Zivil­ urteile gebunden?, S. 45; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutsch­ land, Österreich und der Schweiz, S. 106; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 82 f.; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 150. 98 Feuerich, in: Feuerich/Weyland, § 118 BRAO, Rn. 43 stellt beispielsweise nur fest, dass „einander widersprechende Tatsachenfeststellungen verschiedener Gerichte […] möglichst vermieden werden [sollen], weil dies der Rechtssicherheit widerstreiten würde.“ 99 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 48; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 57, 150. 100 von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 272 f.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 17 bezeichnet dieses Element der Rechtssicherheit als „Stabilität und Kontinuität 95

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1. Teil: Deutschland

staatlicher Entscheidungen in Rede.101 Diese beiden Aspekte werden von den Be­ fürwortern einer Bindungswirkung unterschiedlich stark betont. Zum Teil argumentieren sie, der Grundsatz der Rechtssicherheit erfordere, dass „jeder Streit über dieselbe bereits rechtskräftig entschiedene Sache den Parteien versagt [bleiben müsse]“102, da ansonsten „das nachfolgende Zivilgericht in gewisser weise als Instanzgericht für das rechtskräftige Strafurteil [fungiere]“103. Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, dass im Zivilverfahren nicht erneut über dieselbe Sache wie im Strafverfahren entschieden wird, da die Gegenstände der jeweiligen Entscheidung (zivilprozessualer Streitgegenstand und Strafbarkeit der angeklagten Tat) nicht übereinstimmen.104 Der Zivilrichter entscheidet nicht nochmals über die Strafbarkeit des Angeklagten wegen der ihm vorgeworfenen Tat. Allerdings wird im Zivilprozess der Streit über einen einzelnen Bestandteil der strafrichterlichen Prüfung, nämlich über das historische Geschehen, erneut auf­ gerollt. Richtigerweise kann das Argument der Rechtssicherheit daher allenfalls insoweit herangezogen werden, als im Zivilprozess über einen einzelnen, vom Strafrichter bereits entschiedenen Aspekt, nämlich den tatsächlichen Geschehens­ ablauf, erneut verhandelt und entschieden wird und damit dem Ergebnis des Straf­ prozesses insoweit widersprochen wird. Eine solche, zumindest teilweise Wie­ derholung des Strafprozesses und damit erneute und gegebenenfalls abweichende richterliche Überprüfung desselben Sachverhalts, über den bereits im Strafprozess endgültig befunden wurde, wird beispielsweise im französischen Recht für völlig inakzeptabel gehalten.105 Denn da der Streit über die Feststellung des tatsächlichen Geschehens als notwendiger Bestandteil der strafrichterlichen Prüfung ein Ende haben müsse, sei ein erneuter Streit und eine abweichende Entscheidung diesbe­ züglich unzulässig.106 Andere Befürworter einer Bindungswirkung stellen dagegen eher auf die Vor­ hersehbarkeit der zukünftigen Entscheidung des Zivilrichters ab.107 Nach der der­ zeitigen Rechtslage bestehe ihrer Ansicht nach die Gefahr, dass für den Bürger auch nach rechtskräftigem Abschluss des Strafprozesses nicht vorhersehbar sei, von […] Rechtsprechung“; Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 108; Völzmann, Die Bindungs­ wirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 57, 150; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 47. 101 BVerfGE 25, 269, 290; von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 391; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 17; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behörd­ licher Entscheidungen, S. 48; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilpro­ zess, S. 57, 150. 102 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 87. 103 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 21, Fn. 31. 104 In diesem Sinne auch von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 289; Haaf, Die Fernwirkung ge­ richtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 44. 105 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. VIII. 3. 106 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. VIII. 3. 107 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 150.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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welche Entscheidung der Zivilrichter treffen werde.108 Gegen diese Argumentation könnte sprechen, dass im deutschen Recht aufgrund der eindeutigen Gesetzeslage für den Bürger doch immerhin erkennbar ist, dass der Zivilrichter zu einer anderen Entscheidung als der Strafrichter kommen kann. Es besteht, so könnte man vertre­ ten, also keine rechtliche Unsicherheit, da die Gesetzeslage insoweit hinreichend bestimmt und damit eindeutig und unzweifelhaft ist. Dem ist zuzugeben, dass auf­ grund der eindeutigen Rechtslage für den Bürger durchaus ersichtlich ist, dass der Streit im Zivilverfahren neu aufgerollt wird und der Ausgang des Strafverfah­ rens für die Entscheidung im Zivilprozess nicht maßgeblich ist. Dennoch ist nach rechtskräftigem Abschluss des Strafprozesses nicht prognostizierbar, wie das Zi­ vilverfahren ausgehen wird. Fraglich ist deshalb, ob auch diese Unsicherheit un­ ter dem Begriff der Rechtsunsicherheit diskutiert werden kann. Dies dürfte zu be­ jahen sein. Denn der Grundsatz der Rechtssicherheit beinhaltet als weitere, vom Vertrauen auf die Beständigkeit einer Entscheidung und von der Frage der Erkenn­ barkeit des Rechts, unabhängige Ausprägung, dass der Bürger künftige Entschei­ dungen voraussehen und berechnen können soll.109 Das BVerfG führt hierzu aus: „Das dem Rechtsstaatsprinzip immanente Postulat der Rechtssicherheit fordert, daß der Staatsbürger die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten kann.“110 Unter dem Aspekt der Vor­ hersehbarkeit künftiger Entscheidungen wird unter anderem auch die Frage dis­ kutiert, inwieweit eine bereits getroffene Entscheidung eine spätere Entscheidung präjudiziert.111 Denn die Bindung des einen Entscheidungsträgers an die Entschei­ dung eines anderen Entscheidungsträgers stellt eine Methode dar, die Vorherseh­ barkeit der zukünftigen Entscheidung zu erhöhen.112 Daher stellt sich als nächstes die Frage, ob im Interesse der teilweisen Bestän­ digkeit des Strafurteils und der Vorhersehbarkeit zukünftiger staatlicher Entschei­ dungen eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil verfassungsrechtlich zwin­ gend vorgegeben ist. Dies könnte dann zu bejahen sein, wenn der Grundsatz der Rechtssicherheit das entscheidende und zentrale Element des Rechtsstaats wäre.113 Dies ist aber nicht der Fall. Denn der Grundsatz der Rechtssicherheit ist einer Ab­ wägung zugänglich.114. Er konfligiert namentlich mit dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit (auf das sogleich noch näher einzugehen sein wird), das ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankert ist115 und zum Prinzip der Rechtssicherheit in einem 108

Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 150. BVerfG NJW 1969, 1059, 1061; von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 391; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 57, 150; Haaf, Die Fernwirkung ge­ richtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 48. 110 BVerfG NJW 1969, 1059, 1061. 111 von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 106. 112 von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 395. 113 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 48. 114 BVerfG NJW 1973, 1315; BVerfGE 29, 413, 432; BVerfG NJW 1968, 147, 149; BVerfG NJW 1958, 97; BVerfGE 7, 194, 196; BVerfGE 3, 225, 237; BGH NJW 1996, 1467, 1470. 115 BVerfG NJW 1967, 195, 196; BVerfG NJW 1958, 97. 109

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1. Teil: Deutschland

Spannungsfeld steht.116 Die Entscheidung, welchem Grundsatz Vorrang einzuräu­ men ist, obliegt dem Gesetzgeber,117 wobei die Entscheidung zugunsten des einen keine Verletzung des anderen darstellt, da beide Prinzipien als Ausfluss des Rechts­ staatsprinzips Verfassungsrang haben.118 Daher steht es dem Gesetzgeber frei, wel­ chen Grundsatz er als vorrangig ansieht.119 Da der Grundsatz der Rechtssicherheit also einer Abwägung zugänglich ist und mit dem Prinzip der materiellen Gerech­ tigkeit in Ausgleich zu bringen ist, gibt er selbst keine Bindungswirkung des Straf­ urteils vor.120 Nichtsdestotrotz lässt sich das Bedürfnis nach Beständigkeit und Vor­ hersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen als ein Argument in der Diskussion um die Zweckmäßigkeit einer Bindung des Zivilrichters an das rechtskräftige Strafur­ teil heranziehen.121 Wie soeben gesehen, wird in der Diskussion um die Bedeutung des Strafurteils im Zivilprozess der Begriff der materiellen Gerechtigkeit oftmals als Gegenpol zum Grundsatz der Rechtssicherheit angeführt122, ohne dass jedoch darauf einge­ gangen würde, was mit dem Begriff der Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang gemeint ist. Auch das BVerfG zieht das Prinzip der Gerechtigkeit, das es wie den Grundsatz der Rechtssicherheit im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ver­ ankert sieht123, häufig heran, bestimmt jedoch die einzelnen Inhalte des Gerech­ tigkeitsbegriffs nicht explizit124 und verwendet den Begriff uneinheitlich.125 Da der Terminus der Gerechtigkeit in Rechtsprechung126 und Literatur127 unter ande­ rem als ein dem positiven Recht übergeordneter Grundsatz auftaucht, bedarf er der Konkretisierung. Denn die Frage, ob die Forderung nach materieller Gerechtigkeit einer Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilprozess entgegensteht, betrifft 116 BVerfG NJW 1973, 1315; BVerfGE 29, 413, 432; BVerfG NJW 1968, 147, 149; BVerfG NJW 1958, 97; BVerfGE 7, 194, 196; BVerfGE 3, 225, 237; BGH NJW 1996, 1467, 1470. 117 BVerfG NJW 1969, 1059, 1061; BVerfGE 7, 194, 196; BVerfGE 3, 225, 237. 118 BVerfG NJW 1969, 1059, 1061; BVerfGE 7, 194, 196; BVerfGE 3, 225, 237, 238. 119 BVerfG NJW 1969, 1059, 1061; BVerfGE 7, 194, 196. 120 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 48; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 59. 121 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 48 f.; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 59, 150; Foerster, Transfer der Er­ gebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 83. 122 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 48; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 85. 123 BVerfG NJW 1967, 195, 196; BVerfG NJW 1958, 97. 124 Vgl. nur BVerfGE 7, 194, 196; BVerfGE 3, 225, 237. 125 Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S.  65; zu den einzelnen Ausprägungen vgl.­ Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip und Jungbauer, Die Verwendung des Begriffs der „Gerechtigkeit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 126 So beispielsweise in der Rechtsprechung des BVerfG, BVerfGE 3, 225, 232 f. unter Bezug­ nahme auf die Radbruch’sche Formel zur verfassungswidrige Verfassungsnorm; BVerfGE 28, 119, 139 und BVerfGE 6, 132, 198 f. zur Rechtswirksamkeit nationalsozialistischer Regelungen. 127 So etwa in der Radbruch’schen Formel, Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 353; Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, S.  187; in diesem Sinne auch Höffe, Gerechtigkeit, S. 40 f.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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nicht die Korrektur einer Regelung des positiven Rechts aufgrund seiner extremen Ungerechtigkeit.128 Vielmehr geht es um einen Aspekt der Verfahrensgerechtig­ keit129, nämlich um die Frage, ob der Zivilrichter auch an ein Fehlurteil gebunden sein soll, also um den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und sachlicher Rich­ tigkeit der Entscheidung.130 Soweit der Begriff der materiellen Gerechtigkeit in der vorliegenden Untersuchung verwendet wird, soll er als sachliche Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung verstanden werden.131 Eine gerechte Entscheidung wird nach diesem Verständnis durch eine „richtige Rechtsanwendung auf wahre Sachverhalte“132 verwirklicht, wie es Verfassungsrichter Von Schlabrendorff einst plakativ formulierte. Erste Voraussetzung für eine sachlich richtige und damit ge­ rechte Entscheidung ist die Aufklärung des wahren Sachverhalts133, also der ma­ teriellen Wahrheit.134 Weitere Voraussetzung einer solchen Entscheidung ist so­ dann die richtige Rechtsanwendung auf den wahren Sachverhalt.135 Soweit also 128 Vgl. zur Verwendung des Begriffs der Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang BVerfGE 3, 225, 232 f.; Jungbauer, Die Verwendung des Begriffs der „Gerechtigkeit“ in der Rechtspre­ chung des Bundesverfassungsgerichts, S. 120 ff. 129 Hierzu ausführlich Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit. 130 Vgl. zu Entscheidungen des BVerfG und BGH, in denen der Begriff der Gerechtigkeit in diesem Sinne verwendet wird, BVerfG NJW 2007, 207; BVerfG MDR 1975, 468, 469; BVerfGE 35, 41, 47 ff. (S. 49: „Richtigkeit im Einzelfall“); 34, 238, 248 f.; BVerfGE 33, 367, 383; 22, 322, 329; 19, 166, 174 („materiell richtige und gerechte Entscheidung“); BVerfGE 7, 89, 92 („materielle Richtigkeit oder Gerechtigkeit“); BVerfGE 4, 309, 315; 3, 248, 253 f. (materiale Gerechtigkeit als „sachlich richtige Entscheidung“); BGH NJW 2005, 291, 293 („Interesse an einer zutreffenden Tatsachenfeststellung und damit einer materiell gerechten Entscheidung“); BGH NJW 2003, 1261, 1262; in diesem Sinne auch Radbruch/Wolf/­ Schneider, Rechtsphilosophie, S.  279, der, sofern es um die Rechtskraft geht, den Wider­ spruch zwischen Rechtssicherheit und Verwirklichung des materiellen und formellen Recht herausstellt; Schmidt, in: Karlsruher Kommentar, Vor § 359, Rn. 1; Sachs, in: Sachs, Art. 20, Rn. 122, 140, 142 (Konkurrenz zwischen Rechtssicherheit und Gesetzlichkeit); von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 666 („materielle Richtigkeit“); Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52, Rn. 22; Hoffmann-Holland/Singelnstein, in: Graf, § 359, Rn. 1 („materielle Wahrheit“);­ Günter, Rechtssicherheit vs. materielle Gerechtigkeit – Außerordentliche Rechtsbehelfe im Zi­ vilprozess, S. 1 f.; Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 83 f., 109; Hoffmann, Verfahrensgerech­ tigkeit, S. 85, 87 f. 131 Vgl. zu Entscheidungen, in denen der Begriff der Gerechtigkeit in diesem Sinne verwen­ det wird, BVerfG NJW 2007, 207, BVerfGE 35, 41, 47 ff.; 34, 238, 248 f.; 33, 367, 383; 22, 322, 329; 19, 166, 174; 7, 89, 92; 4, 309, 315; 3, 248, 253 f.; BGH NJW 2003, 1261, 1262. 132 von Schlabrendorff im Minderheitsvotum zu BVerfGE 35, 41, 52, 60, der im Gegensatz zur Mehrheit des Senats die Auffassung vertrat, dass die Zurechnung des Rechtsanwaltsver­ schuldens in Kindschaftssachen verfassungswidrig sei. 133 BVerfGE 70, 297, 308; 57, 250, 279, 284; Jungbauer, Die Verwendung des Begriffs der „Gerechtigkeit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 281; Robbers, Ge­ rechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 156. 134 Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 156; zur Wahrheit als notwendige Voraus­ setzung der Gerechtigkeit ausführlich Brecht, Politische Theorie, S. 487 ff.; Hoffmann, Verfah­ rensgerechtigkeit, S. 85; Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, S. 271. 135 von Schlabrendorff im Minderheitsvotum zu BVerfGE 35, 41, 52, 60; Robbers, Gerechtig­ keit als Rechtsprinzip, S. 58; Jungbauer, Die Verwendung des Begriffs der „Gerechtigkeit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 281.

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n­ achfolgend vom Streben nach einer gerechten Entscheidung die Rede ist, ist das Streben nach einer richtigen Entscheidung gemeint, die insbesondere auf der Auf­ klärung des wahren Sachverhalts beruht. dd) Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung bzw. Einheitlichkeit der Rechtsprechung Oftmals wird der Grundsatz der Einheitlichkeit in seiner Gestalt als Einheit der Rechtsordnung und/oder Einheitlichkeit der Rechtsprechung herangezogen, um eine Bindungswirkung von Urteilen zu begründen bzw. zu befürworten.136 Ob die Grundsätze der Einheit der Rechtsordnung oder der Einheitlichkeit der Recht­ sprechung tatsächlich eine Bindungswirkung des Strafurteils im nachfolgenden Zivilprozess gebieten, hängt davon ab, welchen konkreten Inhalt diese vielsagen­ den Begriffe haben. Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung wird vom BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art.  20 Abs.  3 GG hergeleitet.137 Unter dem Begriff der Einheit der Rechtsordnung versteht man die „Widerspruchsfreiheit der Gesamtrechtsordnung“138. Daher können Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechts­ ordnung als Synonym verwendet werden.139 Fraglich ist also, ob die unterschied­ liche Würdigung des tatsächlichen Geschehens im Straf- und Zivilprozess geeignet ist, einen Widerspruch in der Rechtsordnung hervorzurufen, der zu verhindern wäre. Dafür könnte sprechen, dass auch richterliche Entscheidungen zur Rechts­ ordnung gehören140, sodass das Postulat der Widerspruchsfreiheit auch für rich­ terliche Entscheidungen gelten müsste. Dagegen spricht jedoch, dass der Begriff der Einheit der Rechtsordnung üblicherweise im Zusammenhang mit Widersprü­ chen zwischen abstrakten Rechtsnormen gebraucht wird.141 Die so verstandene Einheit der Rechtsordnung wird durch die Vermeidung „begriffliche[r] und syste­ matische[r] Unterschiede sowie Wertungsunterschiede zwischen verschiedenen 136

Vgl. OLG Hamm, zitiert in BGH NJW 1954, 81, OLG Braunschweig NJW 1953, 558 für die umgekehrte Frage der Bindung des Strafrichters an ein rechtskräftiges Zivilurteil; Koch, Ist der Strafrichter an Zivilurteile gebunden?, S. 41; Völzmann, Die Bindungswirkung von Straf­ urteilen im Zivilprozess, S. 149; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nach­ folgende Zivilverfahren, S. 86 f. 137 BVerfGE 98, 83, 97; BVerfGE 98, 106, 118, 119; BVerfGE 98, 265, 301. 138 Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 143; in diesem Sinne auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 16, der die Widerspruchsfreiheit als „negative Komponente“ der Einheit der Rechtsordnung begreift. 139 Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 144. 140 Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 144; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 9. 141 In diesem Sinne auch Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 145; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 43 ff.; von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 259; Sommermann, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 20 Abs. 3, Rn. 298. Besteht ein Widerspruch zwischen abstrakten Normen, stellen sich die widersprüchlichen Gerichtsentscheidungen lediglich als Folge der widersprüch­ lichen materiellrechtlichen Normen dar, Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 145.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Rechtsgebieten“142 gewährleistet. Daher wird die Widerspruchsfreiheit der Rechts­ ordnung auch mit der „Stimmigkeit der Rechtsordnung insgesamt“143 oder mit der „Harmonie auch über die Grenzen zwischen Sach- und Rechtsgebieten hinweg“ gleichgesetzt.144 Selbst wenn man die Einheit der Rechtsordnung nicht nur als Widerspruchsfrei­ heit zwischen abstrakten Rechtsnormen, sondern als Widerspruchsfreiheit auch zwischen einzelnen Gerichtsentscheidungen definieren möchte, müssten diver­ gierende straf- und zivilgerichtliche Entscheidungen einen Wertungswiderspruch­ hervorrufen, denn nur ein Wertungswiderspruch würde zu einem Widerspruch in der Rechtsordnung führen.145. Ein solcher Wertungswiderspruch ist jedoch nicht erkennbar.146 Denn die gegebenenfalls unterschiedliche Sachverhaltsfeststellung im Straf- und Zivilprozess beruht auf den unterschiedlichen Verfahrensgrundsät­ zen und den unterschiedlichen Methoden der Entscheidungsfindung im Straf- und Zivilprozess.147 Durch die unterschiedliche verfahrensrechtliche Ausgestaltung der beiden Gerichtszweige nimmt die Rechtsordnung divergierende Ergebnisse hin.148 Als Beispiel soll an dieser Stelle149 ein Hinweis auf den Beibringungsgrund­ satz im Zivilprozess genügen. Aufgrund des Beibringungsgrundsatzes hängt der dem Urteil zugrunde gelegte Sachverhalt vom Vorbringen der Parteien ab.150 So kann das Gericht etwa nur die Tatsachen bei seiner Entscheidung berücksichti­ gen, die die Parteien vorgetragen haben.151 Außerdem hat der Zivilrichter eine Tat­ sache ohne Rücksicht auf seine Überzeugung von der Richtigkeit derselben seiner Entscheidung zugrunde zu legen, wenn diese zwischen den Parteien unstreitig ist (§ 138 Abs. 3 ZPO) oder zugestanden ist (§ 288 Abs. 1 ZPO).152 Abschließend ist noch festzustellen, dass, selbst wenn – entgegen dem Vorgesagtem – ein Wertungs­ widerspruch angenommen würde, sich dem Grundsatz der Widerspruchsfreiheit 142

Cassardt/Creifelds/Weber, Rechtswörterbuch, S. 344. von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 259. 144 von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 259. 145 Nach Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 146 hat sich „der Begriff des ‚Wertungswiderspruchs‘ […] weitgehend als Synonym für die Forderung nach Wahrung der Einheit der Rechtsordnung etabliert.“; in diesem Sinne auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 112, nach dem nur ein Wertungswiderspruch einen Systembruch darstelle. 146 In diesem Sinne auch Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidun­ gen, S. 45. 147 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. IV. 2. b). 148 So Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 175; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und be­ hördlicher Entscheidungen, S. 45; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivil­ prozess, S. 59; Groß in einem Diskussionsbeitrag, Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhandlun­ gen des 57. deutschen Juristentages, L 126; Ossenbühl hält dies dagegen für einen „Mißstand in unserer Rechtsordnung“, a. a. O., L 133. 149 Ausführlich dazu unter 1. Teil, A. IV. 2. b). 150 BGH NJW 2005, 291, 293; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 10. 151 BGH NJW 1989, 3161, 3162; Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl I, Rn.  2; Prütting, in: Prütting/Gehrlein, Einleitung, Rn. 28. 152 Reichold, in: Thomas/Putzo, § 288, Rn. 5. 143

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1. Teil: Deutschland

der Rechtsordnung nicht entnehmen ließe, wie der Widerspruch aufzulösen wäre. Es wäre daher nicht zwingend vorgegeben, dass der Widerspruch durch eine Bin­ dung des Zivilrichters an das Strafurteil zu lösen ist. Auch das Prinzip der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, auf das verfassungs­ rechtlich in Art. 95 Abs. 3 S. 1 GG und einfachgesetzlich in § 132 Abs. 2 GVG Bezug genommen wird, erfordert keine Bindung des Zivilrichters an ein rechts­ kräftiges Strafurteil.153 Denn dieses Prinzip bezieht sich ausschließlich auf die Be­ urteilung von identischen Rechtsfragen.154 Es verlangt nicht, dass Straf- und Zi­ vilrichter zu einer identischen Sachverhaltsfeststellung kommen.155 Auch wenn widersprüchliche Beurteilungen desselben tatsächlichen Geschehens zwischen Zi­ vil- und Strafgerichtsbarkeit also verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind, da weder die Einheit der Rechtsordnung noch die Einheitlichkeit der Rechtspre­ chung divergierende Entscheidungen verbietet, werden einheitliche Entscheidun­ gen der beiden Gerichtszweige von den Befürwortern einer Bindungswirkung des Strafurteils dennoch für vorzugswürdig erachtet.156 ee) Die Gleichwertigkeit der Gerichtszweige, Art. 95 Abs. 1 GG Auch die durch Art. 95 Abs. 1 GG garantierte Gleichwertigkeit und Gleichran­ gigkeit der Gerichtszweige157 könnte als ein Argument in der Diskussion um die Bindungswirkung des Strafurteils über die Grenzen der Strafgerichtsbarkeit hin­ aus herangezogen werden.158 Art.  95 Abs.  1 GG regelt ausdrücklich nur die Er­ richtung der obersten Gerichtshöfe für die ordentliche, Verwaltungs-, Finanz- und Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. Darüber hinaus wird er aber als verfassungs­ rechtliche Anerkennung der Gleichwertigkeit der Gerichtszweige interpretiert.159 Aus Art. 95 Abs. 1 GG folgt daher zunächst nur, dass alle Gerichtszweige gleich­ wertig die rechtsprechende Gewalt ausüben. Zwar wird die Gleichwertigkeit der Gerichtszweige herangezogen, um die gerichtszweigübergreifende Rechtskraft­ wirkung von Urteilen zu begründen.160 Eine weitergehende verfassungsrechtliche 153

In diesem Sinne auch Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 175; Foerster, Transfer der Er­ gebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 86. 154 § 2 Abs. 1 RsprEinhG; § 132 Abs. 2 GVG. 155 Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 175. 156 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  149; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 86 f. 157 BVerfGE 12, 326, 333; 8, 174, 177. 158 BGH NJW 1953, 1103 bejaht unter Berufung auf diesen Grundsatz die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Verwaltungsgerichtsurteils für den Zivilrichter. 159 BVerfGE 12, 326, 333; BGH NJW 1953, 1103; Detterbeck, in: Sachs, Art. 95, Rn. 11; Meyer, in: von Münch/Kunig, Art. 95, Rn. 16. 160 BGH NJW 1953, 1103 für das Verhältnis zwischen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit; Leipold, in: Stein/Jonas, § 322, Rn. 290; Völzmann-Stickelbrock, in: Prütting/Gehrlein, § 322, Rn. 22; a. A. Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 52; vgl. bereits unter 1. Teil, A. I. 3. a).

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Bindungsregel im Sinne einer vorgeschriebenen Bindung oder eines Bindungsver­ bots ergibt sich aus der Gleichwertigkeit der Gerichtszweige jedoch nicht.161 Der Grundsatz enthält keine Aussagen dazu, ob der Richter an Entscheidungen ande­ rer Gerichtsbarkeiten gebunden ist. Denn die Gleichwertigkeit der Gerichtszweige lässt sich auch dahingehend interpretieren, dass eine Bindung an die Entschei­ dungen anderer Gerichte gerade ausgeschlossen sein soll.162 Daher bietet dieser Grundsatz keine Antwort auf die Frage, ob die deutsche Rechtsordnung eine Bin­ dung des Zivilrichters an Entscheidungen des Strafrichters vorgibt. i) Zusammenfassung Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass das Strafurteil im deutschen Recht de lege lata keine Bindungswirkung für den nachfolgenden Zivilprozess entfaltet. Auch aus verfassungsrechtlichen Erwägungen lässt sich eine solche Bindungswirkung nicht ableiten. Trotzdem kann der Strafprozess auch im deut­ schen Recht Auswirkungen auf den Zivilprozess haben. Denn zum einen ist der Zivilrichter in Ausnahmefällen an das Strafurteil gebunden  (II.). Zum anderen können sowohl das rechtskräftige Strafurteil als auch einzelne im Strafverfahren gewonnene Beweisergebnisse die zivilrichterliche Entscheidung erheblich beein­ flussen (III.).

II. Ausnahmsweise Bindung des Zivilrichters an ein rechtskräftiges Strafurteil Dass sich das deutsche Recht grundsätzlich für die Unabhängigkeit und Bin­ dungsfreiheit des Zivilrichters entschieden hat, wird schließlich dadurch illustriert, dass der Zivilrichter nur kraft gesetzlicher Anordnung ausnahmsweise an das rechtskräftige Strafurteil gebunden ist. Dies ist zum einen der Fall, wenn im straf­ prozessualen Adhäsionsverfahren ein (Grund)Urteil ergangen ist (1.). Zum ande­ ren kann der Zivilrichter aufgrund der Tatbestands- und Gestaltungswirkung des Strafurteils (2.) oder aufgrund von Beweisregeln, die die freie Beweiswürdigung des Richters ausschließen (3.), an das Strafurteil gebunden sein.

161 Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 52; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, 107, S. 118; a. A. Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 95, Rn. 5, der davon ausgeht, dass aufgrund der Gleichwertigkeit der Gerichtszweige eine Bindung an die Entscheidungen ande­ rer Gerichte, mit Ausnahme der Rechtskraftbindung, unzulässig wäre. 162 In diesem Sinne auch Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidun­ gen, S. 47; Heusch, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 95, Rn. 5.

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1. Teil: Deutschland

1. Bindung aufgrund vorangegangenen (Grund)Urteils im Adhäsionsverfahren An ein Strafurteil sind Zivilrichter und Parteien ausnahmsweise gem. § 406 Abs. 3 S. 1 StPO gebunden, wenn der Strafrichter im Rahmen des Adhäsionsverfah­ rens dem Antrag, durch den ein aus der Straftat erwachsener vermögensrechtlicher Anspruch geltend gemacht wurde, stattgegeben hat, da die Entscheidung über den Adhäsionsantrag einem Urteil im bürgerlichen Rechtsstreit gleich steht. Insoweit besitzt das Strafurteil also dieselbe materielle Rechtskraft wie ein Zivilurteil nach § 322 Abs. 1 ZPO. Der Zivilrichter ist außerdem an ein im Adhäsionsverfahren er­ gangenes Grundurteil gebunden.163 Zwar ist ein Grundurteil nicht der materiellen Rechtskraft fähig.164 Jedoch ordnet § 406 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO die entsprechende Anwendung des § 318 ZPO an, der eine Bindung ausdrücklich vorsieht.165 Das Grundurteil bindet jedoch nur den Richter und die am Adhäsionsverfahren Beteilig­ ten und entfaltet daher keine Rechtskraft gegenüber Dritten. Denn die Bindungswir­ kung des Grundurteils nach § 318 ZPO ist, genauso wie die Wirkung der materiellen Rechtskraft gem. §§ 322, 325 ZPO, auf die am Verfahren Beteiligten beschränkt.166 2. Bindung aufgrund Tatbestandswirkung und Gestaltungswirkung Eine Bindung des Richters besteht auch, wenn das vorangegangene Strafurteil als Tatbestandsmerkmal einer materiellen167 oder verfahrensrechtlichen Norm ge­ nannt wird.168 Diese sogenannte Tatbestandswirkung des Strafurteils hat der Zivil­ richter zu berücksichtigen. Sie bedeutet aber nur, dass das Gericht die Tatsache, dass ein Strafurteil ergangen ist, zu beachten hat.169 An den Inhalt der Entschei­ dung ist das Gericht nicht gebunden.170 Ein Beispiel einer verfahrensrechtlichen Norm, die auf ein Strafurteil als Tatbestandsmerkmal abstellt, ist § 581 Abs.  1 ZPO. Die Norm bestimmt als Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Restitutions­ klage, dass ein rechtskräftiges Strafurteil existieren muss.171 Liegt ein solches vor, steht für den Zivilrichter bindend fest, dass ein rechtskräftiges Strafurteil im Sinne

163

BGH NJW 2013, 1163. Reichold, in: Thomas/Putzo, § 322, Rn. 4. 165 Reichold, in: Thomas/Putzo, § 322, Rn. 4. 166 BGH NJW 2013, 1163. 167 Die Tatbestandswirkung eines Strafurteils wurde vom BGH für § 2339 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BGB abgelehnt, sodass der Zivilrichter nicht an die strafgerichtliche Verurteilung gebunden ist, vgl. BGH NJW-RR 2005, 1024, 1025. 168 BGH NJW 1983, 230, 231. 169 Kissel/Mayer, § 13, Rn. 22. 170 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 60. 171 BGH NJW 1985, 230, 231 mit Nachweisen der h. M.; a. A. Gaul, in: Holzhammer, Fest­ schrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 68 f.; Völzmann, Die Bindungswir­ 164

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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des § 581 Abs. 1 ZPO ergangen ist. Die Frage aber, ob tatsächlich eine Straftat be­ gangen wurde, mithin ein Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO vorliegt, hat das Zivilgericht ohne Bindung an das Strafurteil zu prüfen.172 Auch an die durch Gestaltungswirkung eines Strafurteils geänderte Rechtslage ist der Zivilrichter gebunden.173 Dabei zielt die Gestaltungswirkung des Strafur­ teils nicht, wie im Zivilverfahren174, darauf ab, durch ein rechtsänderndes Urteil das materielle Recht zu verändern. Dennoch kann auch das Strafurteil in Einzel­ fällen die materielle Rechtslage ändern, etwa wenn die Einziehung gem. §§ 74 ff. StGB oder der Verfall eines Gegenstands gem. §§ 73 ff. StGB im Strafurteil an­ geordnet wird. Der durch Einziehung und Verfall gem. §§ 73 e Abs. 1 S. 1, 74 e Abs. 1 StGB bewirkte Eigentumsübergang auf den Staat ist vom Zivilrichter auf­ grund seiner Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG zu beachten. 3. Bindung aufgrund von Beweisregeln, die die freie Beweiswürdigung ausschließen Schließlich kann das Zivilgericht auch dann durch ein Strafurteil gebunden sein, wenn seine freie Beweiswürdigung ausnahmsweise aufgrund von Beweisregeln ausgeschlossen ist, § 286 Abs. 2 ZPO. Gesetzliche Beweisregeln legen den Be­ weiswert einer bestimmten Tatsache unabhängig von der Überzeugung des Ge­ richts fest und binden das Gericht.175 Die §§ 415 ff. ZPO enthalten zwar solche Beweisregeln.176 Wie bereits untersucht177, erbringt das Strafurteil nach diesen Vor­ schriften jedoch keinen Beweis für seine inhaltliche Richtigkeit. Eine weitere Be­ weisregel im Sinne des § 286 Abs. 2 ZPO stellt § 190 StGB dar.178 Diese ­Vorschrift kung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 89 ff., wonach das Strafurteil auch Voraussetzung für die Begründetheit der Restitutionsklage sei, da es das Vorliegen einer strafbaren Handlung im iudicium rescindens (bei der Frage, ob das vorangegangene Urteil aufzuheben ist) für den Zi­ vilrichter bindend feststelle. 172 BGH NJW 1983, 230, 231; Gottwald, in: MüKo, § 322, Rn. 74; anders noch BGHZ 50, 115, 118 f., 123: In der Entscheidung ging der VIII. Zivilsenat noch davon aus, dass das Ur­ teil ohne eigene Prüfung des Zivilrichters aufzuheben sei und der Zivilrichter erst im iudicium­ rescissorium frei entscheiden dürfe. 173 Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 92; Schieferdecker, Die Bindung des Zivilrichters an rechtskräftige Strafurteile, S. 30 ff., der zutreffend klarstellt, dass sich die Bindung nicht aus dem Urteil selbst ergebe, son­ dern aus der Gesetzesbindung des Richters, der die durch Gestaltungsurteil geänderte Rechts­ lage zu beachten habe. 174 Reichold, in: Thomas/Putzo, Vorbem 253, Rn. 5. 175 Reichold, in: Thomas/Putzo, § 286, Rn. 20. 176 Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 18; Greger, in: Zöller, § 286, Rn. 3; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 286, Rn. 20. 177 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. e). 178 Zwar handelt es sich bei § 190 StGB nicht um einen durch die ZPO bezeichneten Fall, wie es der Wortlaut des § 286 Abs. 2 ZPO verlangt. Dies schließt jedoch die Anwendung des § 190 StGB

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1. Teil: Deutschland

behandelt die Konstellation, dass sich derjenige, der einer üblen Nachrede oder Verleumdung verdächtigt wird, auf die Wahrheit seiner Behauptung beruft. Ist der Beleidigte wegen der Tat rechtskräftig verurteilt, deren Begehung der Ver­ dächtige behauptet, bestimmt § 190 S. 1 StGB, dass der Beweis der Wahrheit als erbracht anzusehen ist. An diese Beweiswürdigungsregel ist auch der Zivilrich­ ter gebunden.179 Macht der Kläger im Zivilprozess beispielsweise einen Entschä­ digungsanspruch gem. § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG bzw. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 186 StGB mit der Begründung geltend, der Be­ klagte habe durch üble Nachrede sein allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt und beruft sich der Beklagte zu seiner Verteidigung darauf, dass die von ihm be­ haupteten Tatsachen wahr seien, begründet das Strafurteil auch im Zivilprozess vollen Beweis für die Wahrheit der vom Beklagten behaupteten Tatsachen, wenn der Kläger wegen der vom Beklagten behaupteten Vorgänge rechtskräftig ver­ urteilt wurde.180

III. Erheblicher Einfluss der im Straf- und Ermittlungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse auf die zivilrichterliche Entscheidung Obwohl also das Strafurteil für den nachfolgenden Zivilprozess keine Bin­ dungswirkung entfaltet, können die Erkenntnisse, die im Ermittlungs- oder Straf­ verfahren gewonnen wurden, dennoch – wie sogleich zu zeigen sein wird – unter bestimmten Voraussetzungen im Zivilprozess Berücksichtigung finden und damit die zivilrichterliche Entscheidung erheblich beeinflussen. 1. Gesetzliche Ausgangslage Bevor der Blick der Praxis zugewandt werden soll, gilt es zunächst nochmals klarzustellen, welche Bedeutung die Erkenntnisse des Strafverfahrens nach der­ gesetzlichen Ausgangslage im Zivilprozess haben können und dürfen.

nicht aus, da durch § 286 Abs. 2 ZPO nur die in den Landesgesetzen aufgestellten Beweisregeln aufgehoben werden sollten, wohingegen die in den Reichsgesetzen (also auch die im StGB) enthaltenen Beweisregeln weiterhin anwendbar bleiben sollten, BGH NJW 1985, 2644, 2646. 179 BGH NJW 1985, 2644, 2646; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 286, Rn. 20; Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 25; Foerste, in: Musielak, § 286, Rn. 14. 180 BGH NJW 1985, 2644, 2646.

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a) Verwertung des Strafurteils im Wege des Urkundenbeweises Eine urkundenbeweisliche Verwertung des Strafurteils ist im Zivilprozess möglich181, wenn sich eine Partei zum Beweis ihres Sachvortrags auf das Straf­ urteil beruft.182 Zwar darf sich der Zivilrichter in diesem Fall zum Zweck seiner Überzeugungsbildung auf das Strafurteil stützen.183 Die im Urteil enthaltenen tatsächlichen Feststellungen sind allerdings nicht bindend, sondern unterliegen der freien Beweiswürdigung.184 Sie dürfen nicht ungeprüft übernommen wer­ den185, da das Strafurteil nicht beweist, dass die getroffenen Tatsachenfeststel­ lungen richtig sind und der Wahrheit entsprechen.186 Daher steht aufgrund des Strafurteils nur fest, dass der Angeklagte im Strafverfahren verurteilt oder frei­ gesprochen wurde, nicht aber, dass sich die Geschehnisse tatsächlich wie im Strafurteil geschildert zugetragen haben. Das Strafurteil hat insoweit also keinen festgelegten Beweiswert, sondern nur einen frei zu würdigenden Beweiswert.187 Die Tatsache, dass der Strafrichter zu einem bestimmten Beweisergebnis ge­ kommen ist, darf der Zivilrichter bei seiner Beweiswürdigung aber zumindest mitverwerten.188 Bietet jedoch eine Partei das Strafurteil als Beweismittel an und beantragt die andere Partei gegenbeweislich die Vernehmung eines Zeugen, darf die beantragte Zeugenvernehmung nicht mit dem Hinweis auf die strafgerichtlichen Feststel­ lungen abgelehnt werden.189 Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisauf­ nahme gebietet nämlich, den angebotenen Beweis zu erheben.190 Denn „[d]er 181 BGH NJW-RR 2005, 1024, 1025; OLG Zweibrücken Urteil vom 1. Juli 2010, 4 U 7/10, BeckRS 2010, 21764; KG Berlin Beschluss vom 1.  Juli 2009, 12 U 113/09, BeckRS 2010, 01759; OLG Köln FamRZ 1991, 580; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 14 EGZPO, Rn. 2; Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn. 2. 182 Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn. 2; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 8. 183 BGH NJW-RR 2005, 1024, 1025; OLG Zweibrücken Urteil vom 1. Juli 2010, 4 U 7/10, BeckRS 2010, 21764; KG Berlin Beschluss vom 2.  Juli 2009, 12 U 113/09, BeckRS 2010, 01759; OLG Köln FamRZ 1991, 580; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 14 EGZPO, Rn. 2; Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn. 2. 184 BGH Beschluss vom 24. Januar 2012, VI ZR 132/10, BeckRS 2012, 04956, Rn. 3; BGH NJW-RR 2005, 1024, 1025. 185 BGH Urteil vom 2.  März 1973, V ZR 57/71, juris, dort Rn.  6; OLG Köln Urteil vom 11. Januar 1991, 19 U 105/90, BeckRS 1991, 00862, Rn. 7; OLG Koblenz Urteil vom 12. Ok­ tober 1989, 5 U 1130/88, BeckRS 1989, 04170, Rn. 44. 186 OLG Brandenburg Urteil vom 21. Juli 2006, 7 U 40/06, BeckRS 2006, 10159, unter II.; Schreiber, in: MüKo, § 417, Rn. 6; Leipold, in: Stein/Jonas, § 417, Rn. 2; Preuß, in: Prütting/ Gehrlein, § 417, Rn. 5; Huber, ZRP 2003, 268, S. 271. 187 BGH NJW 1980, 1000 allgemein für öffentliche Urkunden. 188 BGH NStZ-RR 2001, 138, 139 für ein im Strafprozess zu würdigendes Strafurteil; OLG Köln Urteil vom 11. Januar 1991, 19 U 105/90, BeckRS 1991, 00862, Rn. 7. 189 BGH NJW-RR 1988, 1527, 1528; BGH VersR 1967, 475. 190 BGH NJW-RR 1988, 1527, 1528.

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persönliche Eindruck von den Zeugen, die Anwesenheit der Parteien, das ihnen eingeräumte Fragerecht sowie die Möglichkeit und Zulässigkeit der Gegenüberstellung von Zeugen bieten eine Gewähr für die Ermittlung der Wahrheit, die dem Urkundenbeweis mangelt.“191 Da das Strafurteil im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden kann, ist es unerheblich, gegen wen es ergangen ist.192 So kann sich beispielsweise der strafrechtlich verurteilte Schädiger im Deckungsprozess gegen seine Versicherung auf das Strafurteil berufen, obwohl diese nicht am Straf­ prozess beteiligt war.193 b) Verwertung des strafgerichtlichen Hauptverhandlungsprotokolls im Wege des Urkundenbeweises Auch das Protokoll der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht kann im Zi­ vilrechtsstreit grundsätzlich verwertet werden.194 Allerdings dürfte dies in der Pra­ xis keine allzu große Rolle spielen, da das Hauptverhandlungsprotokoll in aller Regel entweder gar keine inhaltliche Wiedergabe von Aussagen enthält oder allen­ falls deren wesentliches Ergebnis. Denn gem. § 273 Abs. 2 StPO werden grund­ sätzlich nur vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht die wesentlichen Er­ gebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufgenommen. Diese Protokollierung erfolgt durch den Urkundsbeamten und muss nicht von dem Vernommenen ge­ nehmigt werden.195 In allen anderen Fällen, in denen nicht der Strafrichter oder das Schöffengericht zuständig ist und somit § 273 Abs. 2 StPO nicht einschlägig ist, handelt es sich um ein reines Formalprotokoll, da nur protokolliert wird, dass zur Sache ausgesagt wurde, nicht aber, was ausgesagt wurde. Lediglich ausnahms­ weise hat der Vorsitzende von Amts wegen oder auf Antrag einer an der Verhand­ lung beteiligten Person die vollständige Niederschrift und Verlesung einer Aus­ sage anzuordnen, wenn es auf die Feststellung des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung ankommt, § 273 Abs. 3 S. 1 StPO. Häufig wird also das Haupt­ verhandlungsprotokoll keine detaillierten Einlassungen von Angeklagten, Zeugen oder Sachverständigen enthalten.196 Sollte im Einzelfall die Aussage im Sitzungs­ protokoll wörtlich protokolliert werden, kommt eine Verwertung der protokollier­ ten Aussage nach den im nachfolgenden Abschnitt dargestellten Grundsätzen in Betracht.

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BGH NJW-RR 1988, 1527, 1528. Dazu näher unter 3. Teil, A. I. 2. a). 193 BGH NJW 1983, 1739. 194 Vgl. hierzu Wigginghaus, Synergieeffekte zwischen Straf- und Zivilprozess, S. 148 ff. 195 Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 273, Rn. 14. 196 In diesem Sinne auch Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn. 4. 192

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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c) Verwertung einzelner Erkenntnisse aus dem Strafverfahren im Wege des Urkunden- oder Sachverständigenbeweises Zum Beweis eines streitigen Umstands kann sich eine Partei im Zivilprozess nicht nur auf das Strafurteil, sondern auch auf einzelne Urkunden aus den Straf­ akten berufen.197 Insbesondere Vernehmungsprotokolle und schriftliche Zeugen­ aussagen aus dem Ermittlungs- oder Strafverfahren können im Wege des Urkun­ denbeweises in den Zivilprozess eingeführt werden.198 Diese Beweismittel dürfen ausschließlich im Wege des Urkundenbeweises und nicht als Zeugenbeweis ver­ wertet werden199 und beweisen nicht, dass die in der Urkunde festgehaltenen Er­ klärungen richtig sind.200 „Welchen Beweiswert der Richter einer in einer Urkunde festgehaltenen Erklärung für deren inhaltliche Richtigkeit beimißt, unterliegt […] seiner freien Beweiswürdigung.“201 Damit der Zivilrichter die Ergebnisse der Beweisaufnahme aus dem Strafver­ fahren im Wege des Urkundenbeweises überhaupt berücksichtigen darf, muss auch hier eine Partei zumindest die Verwertung angeregt bzw. beantragt haben.202 Die Verwertung der Erkenntnisse ohne entsprechenden Beweisantrag oder Anregung einer Partei ist unzulässig.203 Sofern eine Partei von ihrem Recht Gebrauch macht, die unmittelbare Vernehmung der bereits im Strafverfahren vernommenen Zeu­ gen zu beantragen204, kann sie auf diesem Weg eine erneute Beweisaufnahme vor dem Zivilgericht erzwingen.205 Die Verwertung des Vernehmungsprotokolls anstatt der beantragten Zeugenvernehmung wäre unzulässig.206 Eine erneute Vernehmung von Zeugen im Zivilprozess dürfte in der Praxis nicht selten der Fall sein. Ist ein­ 197 BGH NJW 2000, 1420, 1421; BAG NJW 1999, 81; RGZ 105, 219, 221; OLG München Beschluss vom 24. Oktober 2011, 7 U 2719/11, juris; OLG München NJW 1972, 2047, 2048; Leipold, in: Stein/Jonas, § 284, Rn. 35; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/­Hartmann, § 286, Rn. 64; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 286, Rn. 11. 198 BGH Beschluss vom 12. April 2011, VI ZB 31/10, BeckRS 2011, 12917, Rn. 13; BGH NJW 2000, 1420, 1421; BAG NJW 1999, 81; BGH NJW 1995, 2856, 2857; Reichold, in: Thomas/ Putzo, § 286, Rn. 11; Hohloch, JuS 2005, 1045, S. 1046. 199 BGH NJW 1995, 2856, 2857; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 286, Rn.  11; Leipold, in: Stein/Jonas, § 284, Rn. 35. 200 BGH NJW 1995, 2856, 2857; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 415, Rn. 5; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 415, Rn. 9; Leipold, in: Stein/Jonas, § 415, Rn. 25. 201 BGH NJW 1995, 2856, 2857; Huber, in: Musielak, § 415, Rn. 3; Geimer, in: Zöller, § 415, Rn. 5. 202 BGH NJW-RR 2011, 568, 569; BGH NJW 2000, 1420, 1421; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 8; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 286, Rn. 11. 203 BGH NJW-RR 2011, 568, 569; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 8. 204 BGH NJW 2000, 1420, 1421; BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215; Leipold, in: Stein/Jonas, § 284, Rn. 38. 205 BGH NJW 2000, 1420, 1421; BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215; BGH VersR 1970, 322; OLG Koblenz Urteil vom 28. November 2000, 3 U 804/00, BeckRS 2013, 21354; OLG Köln Urteil vom 11. Januar 1991, 19 U 105/90, BeckRS 1991, 00862, Rn. 7. 206 BGH NJW 2000, 1420, 1421; BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215; Reichold, in: Thomas/ Putzo, § 286, Rn. 11.

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1. Teil: Deutschland

Umstand zwischen den Parteien streitig und beruft sich die eine Partei zum Beweis ihres Vortrags auf einzelne Erkenntnisse aus den Strafakten, wird die andere Par­ tei häufig zum Beweis des Gegenteils die Vernehmung eines neuen oder bereits im Strafprozess gehörten Zeugen beantragen.207 Stellt keine Partei einen solchen Antrag, muss das Gericht der beantragten Ver­ wertung der Vernehmungsprotokolle oder schriftlichen Zeugenaussagen aus den Strafakten entsprechen.208 Jedoch genießen diese Urkunden nur einen einge­ schränkten Beweiswert. Erstens kommt nach Ansicht des BGH einer „Urkunde über die frühere Vernehmung eines Zeugen in einem anderen Verfahren […] im Allgemeinen ein geringerer Beweiswert zu als dem unmittelbaren Zeugenbeweis; er kann je nach Sachlage sogar gänzlich fehlen […]. Der eingeschränkte Beweiswert einer solchen Urkunde beruht im wesentlichen [sic] darauf, dass die Verfahrensbeteiligten von dem Zeugen keinen persönlichen Eindruck haben, ihm keine Fragen stellen und Vorhalte machen können und Gegenüberstellungen nicht möglich sind […]. Hieraus ergeben sich insbesondere dann erhebliche Probleme, wenn es auf die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Zeugen ankommt.“209 Zweitens darf der Zivilrichter die Zeugenaussage nicht aufgrund von Umständen als unglaub­ würdig würdigen, „die sich nicht [unmittelbar] aus der Urkunde ergeben und für die sich auch sonst keine belegbaren Umstände finden lassen“.210 Dadurch wird die Beweiswürdigung des Zivilrichters jedoch nicht ungebührend eingeschränkt. Vielmehr ergibt sich diese Einschränkung aus der Besonderheit des Urkunden­ beweises, denn eine Urkunde „läßt keinen Beweis über Tatsachen außerhalb ihrer selbst zu, die sich mit ihrem unzweideutigen Inhalt nicht vertragen.“211 Daher darf der Zivilrichter beispielsweise nicht davon ausgehen, dass die Aussage eines Zeu­ gen auf dessen Wunsch beruhe, den Angeklagten nicht zu belasten, wenn sich da­ für keine Anhaltspunkte aus dem Protokoll ergeben.212 Auch ein Geständnis des Angeklagten im Strafprozess kann im nachfolgenden Zivilrechtsstreit berücksichtigt werden, sogar wenn es später widerrufen wurde.213 Es entfaltet allerdings nicht die Bindungswirkung eines zivilprozessualen Ge­ ständnisses gem. §§ 288, 290 ZPO214, da es nicht, wie § 288 Abs. 1 ZPO verlangt,

207 Beispielsweise BGH NJW-RR 1988, 1527, 1528; OLG Koblenz Urteil vom 28. Novem­ ber 2000, 3 U 804/00, BeckRS 2013, 21354, II. 208 BGH Beschluss vom 12. April 2011, VI ZB 31/10, BeckRS 2011, 12917, Rn. 13. 209 BGH NJW 2000, 1420, 1421; BGH NJW 1995, 2856, 2857; in diesem Sinne auch Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 9; a. A. Leipold, in: Stein/Jonas, § 284, Rn. 37, wonach der Be­ weiswert nicht zwingend geringer sein muss. 210 BGH NJW 1982, 580, 581; so auch BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215. 211 BGH NJW 1982, 580, 581. 212 BGH NJW-RR 1992, 1214, 1215. 213 BGH NJW-RR 2004, 1001, 1002; OLG Koblenz Urteil vom 18. Januar 2007, 6 U 536/06, BeckRS 2007, 01829, II.2.a. 214 BGH NJW-RR 2004, 1001; OLG Bamberg NJW-RR 2003, 1223; OLG Koblenz Urteil vom 18. Januar 2007, 6 U 536/06, BeckRS 2007, 01829, II.2.a.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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im Laufe des zivilrechtlichen Rechtsstreits abgegeben wurde. Der Zivilrichter ist daher nicht an das Geständnis gebunden, sondern muss sich im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung von dessen Beweiswert selbst überzeugen. Daher ist es denkbar, dass das Zivilgericht trotz eines Geständnisses des Angeklagten im Straf­ prozess zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Sachverhalt anders darstellt, als vom Angeklagten im Strafprozess gestanden. So wurde beispielsweise der frühere Angeklagte B im einleitenden Beispielsfall 1215 durch Urteil des Strafgerichts auf­ grund seines Geständnisses im Rahmen einer Verständigung wegen Insolvenzver­ schleppung (§ 15 a Abs. 4 InsO) und Betrugs (§ 263 Abs. 1 StGB) zu einer Gesamt­ freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Im Zivilprozess, in dem ein Gläubiger des B von diesem Schadensersatz wegen Insolvenzverschleppung gem. § 823 Abs.  2 BGB i. V. m. § 15 a Abs. 1 InsO bzw. § 826 BGB verlangte, kam das Zivilgericht zu der Überzeugung, dass B das Geständnis im Strafprozess nur aus taktischen Gründen abgegeben hatte, „um eine höhere Freiheitsstrafe zu vermeiden und den ansonsten länger andauernden und mit einer großen Öffentlichkeitswirksamkeit verbundenen Prozess abzukürzen.“216 Es wies die Klage des Gläubigers daher ab. Behaup­ tet die geständige Partei im Zivilprozess die Unrichtigkeit ihres Geständnisses im vorausgegangenen Strafprozess und bietet Beweis hierfür an, gebietet die Pflicht des Gerichts zur Erschöpfung der angebotenen Beweismittel auch hier eine er­ neute Beweiserhebung.217 Eine Besonderheit gilt für im Strafverfahren eingeholte Sachverständigengut­ achten. Diese konnten vor Inkrafttreten des Ersten Justizmodernisierungsgeset­ zes im Jahr 2004 nur im Wege des Urkundenbeweises im Zivilprozess verwertet werden.218 Seither erlaubt allerdings § 411 a ZPO die Verwertung gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholter Gutachten219 als Sachverständigenbeweis (und nicht lediglich als Urkundenbeweis).220 Voraussetzung dafür, dass die erneute Be­ gutachtung im Zivilprozess durch ein bereits bestehendes Sachverständigengut­ achten ersetzt werden kann, ist, dass „die im jetzigen Prozeß mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens zu klärende Beweisfrage durch das bereits vorliegende 215

Vgl. Einleitung Fall 1. OLG Koblenz Urteil vom 18. Januar 2007, 6 U 536/06, BeckRS 2007, 01829, II.2.a. 217 BGH NJW-RR 2004, 1001, 1002. 218 Greger, in: Zöller, § 411 a, Rn. 1; Katzenmeier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn. 1; Leipold, in: Stein/Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 1; § 284, Rn. 35. 219 Das 1. Justizmodernisierungsgesetz hatte diese Möglichkeit nur für gerichtliche Gutachten vorgesehen, seit dem 2. Justizmodernisierungsgesetz sind auch im Ermittlungsverfahren einge­ holte Gutachten erfasst, Greger, in: Zöller, § 411 a, Rn. 1; Katzenmeier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn. 1. 220 Reichold, in: Thomas/Putzo, § 411 a, Rn.  2; Zimmermann, in: MüKo, § 411 a, Rn.  1;­ Katzen­meier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn.  1; Leipold, in: Stein/Jonas, § 411  a ZPO, Rn. 19; ­Huber, JuS 2004, 873, S. 876; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 45; a. A. Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkennt­ nisse, S. 49: Verwertung nur im Wege des Urkundenbeweises. 216

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1. Teil: Deutschland

Gutachten beantwortet [Herv. im Original] wird.“221 An der Identität der zu klä­ renden Beweisfrage kann es aufgrund der unterschiedlichen Beweislastregeln im Straf- und Zivilprozess fehlen.222 So kommt die Übernahme des Gutachtens aus dem Strafprozess etwa dann nicht in Betracht, wenn „dieses an mehreren entscheidenden Stellen, dem Strafverfahren und den sich daraus ergebenden Vorgaben entsprechend, mit Unterstellungen zugunsten [des Angeklagten] operiert und deshalb zu Ergebnissen gelangt ist, die im […] Zivilverfahren nicht in gleicher Weise verwertet werden [dürfen].“223 Eine Verwertung des im Strafverfahren erholten Gut­ achtens muss wohl auch dann ausscheiden, wenn die im Gutachten beantwortete Beweisfrage auf der Anwendung materiellrechtlicher Regelungen beruht, die mit den nun anzuwendenden Begriffen des Zivilrechts nicht übereinstimmen.224 In bei­ den Fällen muss ein neues Gutachten in Auftrag gegeben werden.225 Unabhängig davon können die Parteien übereinstimmend eine Neubegutachtung beantragen, die in diesem Fall nach überwiegender Ansicht nicht abgelehnt werden darf.226 Wird die Neubegutachtung im Zivilprozess durch ein bereits existierendes Sach­ verständigengutachten ersetzt, richten sich die Rechte der Parteien nach den zivil­ prozessualen Vorschriften über den Gutachtenbeweis.227 Insbesondere kann jede Partei „gemäß § 411 Abs. 4 ZPO Einwendungen gegen das Gutachten […] erheben oder gemäß §§ 402, 397 ZPO die Anhörung des Gutachters in der mündlichen Verhandlung […] beantragen“.228 Diesem Antrag muss das Gericht entsprechen229, und zwar unabhängig davon, ob es „das schriftliche Gutachten für überzeugend hält und selbst keinen weiteren Erläuterungsbedarf sieht“.230 Welchen Beweiswert das Sachverständigengutachten für die zu beweisende Tatsache hat, unterliegt der freien Beweiswürdigung des Zivilrichters.231

221

Leipold, in: Stein/Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 10; auch 12; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 411 a, Rn. 2; Katzenmeier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn. 5. 222 Katzenmeier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn. 14, der auf die besonderen Beweislast­ regeln im Rahmen der Arzthaftung hinweist; auch Greger, in: Zöller, § 411 a, Rn. 2 geht da­ von aus, dass es bei Gutachten aus dem Straf- oder Ermittlungsverfahren häufig an der gleichen Fragestellung fehlen dürfte. 223 OLG München Urteil vom 17. Dezember 2010, 10 U 1753/10, BeckRS 2011, 00097, un­ ter I.; NJW-Spezial 2011, 43. 224 Katzenmeier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn. 14, Leipold, in: Stein/Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 10, die jeweils als Beispiel abweichende Kausalitätsbegriffe nennen. 225 Leipold, in: Stein/Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 12. 226 Katzenmeier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn. 7; Greger, in: Zöller, § 411 a, Rn. 3; a. A. Leipold, in: Stein/Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 12. 227 Katzenmeier, in: Prütting/Gehrlein, § 411 a, Rn. 2; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 411 a, Rn. 4; Leipold, in: Stein/Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 24 f.; Greger, in: Zöller, § 411 a, Rn. 4. 228 BGH Beschluss vom 23. November 2011, IV ZR 49/11, BeckRS 2011, 29266, Rn. 10. 229 BGH Beschluss vom 23. November 2011, IV ZR 49/11, BeckRS 2011, 29266, Rn. 10; Leipold, in: Stein/Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 25. 230 BGH Beschluss vom 23. November 2011, IV ZR 49/11, BeckRS 2011, 29266, Rn. 10. 231 Greger, in: Zöller, § 402, Rn. 7 a; Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 8; Leipold, in: Stein/­ Jonas, § 411 a ZPO, Rn. 19.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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d) Abgrenzung: Auswirkungen eines Strafurteils auf die Darlegungs- und Beweislast im Zivilprozess Wie bereits geschildert232, kann das Strafurteil im Wege des Urkundenbeweises im Zivilprozess verwertet werden. Von dieser Beweiswirkung eines Strafurteils ist die Frage zu unterscheiden, ob dieses bereits auf der Ebene der Darlegungs- oder Beweislast der Parteien im Zivilprozess von Bedeutung sein kann. Die Ebene der Darlegung ist der Ebene der Beweiserhebung vorgelagert. Die abstrakte Darle­ gungslast betrifft die Frage, welche Partei welche Tatsachen im Zivilprozess vor­ tragen muss.233 Sie richtet sich nach der objektiven Beweislast.234 Die objektive Be­ weislast oder Feststellungslast legt fest, zu wessen Lasten die Ungewissheit einer entscheidungserheblichen Tatsache ausschlägt.235 Die subjektive Beweislast oder Beweisführungslast folgt ebenfalls der objektiven Beweislast236 und bestimmt, wel­ che Partei Beweis für eine Tatsache anbieten muss, die zwischen den Parteien strei­ tig ist.237 Die Bezugnahme einer Partei auf ein ergangenes Strafurteil führt nicht zu einer Umkehrung der abstrakten Darlegungs- und Beweislast.238 Daher bleibt es bei der Grundregel, wonach die eine Partei die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen trägt, die Gegenpartei dagegen die Dar­legungsund Beweislast für die rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmen­ den Tatsachen.239 Von der Frage dieser abstrakten Darlegungslast wiederum zu unterscheiden ist die konkrete Darlegungslast oder Substantiierungslast. Sie betrifft die Frage, wie detailliert die Parteien jeweils vortragen müssen.240 Sie kann „im Laufe des Rechtsstreits zwischen den Parteien hin- und herpendeln.“241 Auf der Ebene der konkreten Darlegungslast kann dem Strafurteil im Gegensatz zur Ebene der abstrakten Darle­ gungslast Bedeutung zukommen. Macht der Kläger im Zivilprozess einen Anspruch geltend, muss er zur Erfüllung seiner Darlegungslast die Tatsachen, für die er die ab­ strakte Darlegungslast trägt, schlüssig vortragen. Ein schlüssiger Sachvortrag liegt vor, wenn der klägerische Vortrag, seine Wahrheit unterstellt, „in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich [ist], das geltend gemachte Recht als 232

Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a). In Abgrenzung zur konkreten Darlegungslast Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 103; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 86. 234 BGH NJW 1989, 161, 162; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 651; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 86, 88. 235 Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 97, 100; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 58. 236 Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 60; Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 101. 237 Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 97 f.; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 59. 238 BGH Urteil vom 26. Januar 1989, X ZR 100/87, BeckRS 1989, 31082925, unter 1.; OLG Brandenburg Urteil vom 19. April 2006, 4 U 157/05, BeckRS 2006, 05563, unter II.2.a)aa); Hinz, JR 2003, 356; Rönnau, StV 2004, 455, S. 459. 239 Reichold, in: Thomas/Putzo, Vorbem § 284, Rn. 23. 240 Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 103; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 86. 241 Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 86. 233

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1. Teil: Deutschland

in der Person des Kl. entstanden erscheinen zu lassen.“242 Der Beklagte, der sich gegen einen geltend gemachten Anspruch verteidigen will, muss den Klagevortrag gem. § 138 Abs. 2 ZPO bestreiten und die Tatsachen, die seine Einwendungen ge­ gen den klägerischen Anspruch tragen, schlüssig behaupten, § 138 Abs. 1 ZPO. Gem. § 137 Abs. 3 S. 1 ZPO ist ergänzend zum Parteivortrag auch eine Bezug­ nahme auf Dokumente zulässig soweit keine der Parteien widerspricht und das Ge­ richt sie für angemessen hält. Daher kann eine Partei im Zivilprozess zur Ergän­ zung ihres Sachvortrags, also bereits auf der Darlegungsebene, auf Feststellungen des Strafurteils Bezug nehmen und die strafrichterlichen Feststellungen so zum Gegenstand ihres Sachvortrags machen.243 Dafür muss die Partei die Feststellun­ gen des Strafurteils nicht wortwörtlich im Schriftsatz vortragen um ihrer Darle­ gungspflicht zu entsprechen, sondern es genügt, dass sie auf das Strafurteil Bezug nimmt.244 Wie detailliert nunmehr die Gegenpartei vortragen muss, richtet sich da­ nach, wie substantiiert der Gegner vorgetragen hat.245 „In der Regel genügt gegenüber einer Tatsachenbehauptung des darlegungspflichtigen Kl. das einfache Bestreiten des Bekl. […]. Ob und inwieweit die nicht darlegungsbelastete Partei ihren Sachvortrag substantiieren muß, läßt sich nur aus dem Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag bestimmen, wobei die Ergänzung und Aufgliederung des Sachvortrags bei hinreichendem Gegenvortrag immer zunächst Sache der darlegungs- und beweispflichtigen Partei ist […].“246

Nachdem also eine Partei (unter Berufung auf die Feststellungen des Strafurteils) substantiiert vorgetragen hat, muss die gegnerische Partei den Vortrag substanti­ iert bestreiten247, indem sie sich zu den von der anderen Partei vorgetragenen Tat­ sachen erklärt und sich mit diesen auseinandersetzt, § 138 Abs. 2 ZPO. Hat eine Partei ausführlich und detailliert vorgetragen, genügt ein pauschales Bestreiten der Tatsachen oder gar ein Bestreiten mit Nichtwissen (das nur in besonderen Aus­ nahmefällen zulässig ist, § 138 Abs. 4 ZPO) nicht und führt dazu, dass die von der Gegenpartei behaupteten Tatsachen als zugestanden gelten, § 138 Abs. 3 ZPO.248 Dabei ist jedoch zu beachten, dass alleine die Bezugnahme auf die Feststellun­ 242 BGH NJW 2007, 60, 62; OLG Koblenz Urteil vom 12.  Oktober 1989, 5 U 1130/88, BeckRS 1989, 04170, Rn. 40; Wagner, in: MüKo, § 138, Rn. 18. 243 OLG Frankfurt a. M. Urteil vom 15. Juli 2014, 11 U 120/12, BeckRS 2014, 16682, Rn. 12; OLG Nürnberg NJW 2008, 1453, 1454; OLG Koblenz Urteil vom 12.  Oktober 1989, 5 U 1130/88, BeckRS 1989, 04170, Rn. 42. 244 BGH NJW 1984, 128, 129 (für eine vorgelegte Vertragsurkunde); OLG Nürnberg NJW 2008, 1453, 1454; OLG Koblenz Urteil vom 12. Oktober 1989, 5 U 1130/88, BeckRS 1989, 04170, Rn. 42. 245 BGH NJW 2005, 2710, 2711; BGH NJW 1999, 1404, 1405; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 86. 246 BGH NJW 1999, 1404, 1405. 247 OLG Frankfurt a. M. Urteil vom 15. Juli 2014, 11 U 120/12, BeckRS 2014, 16682, Rn. 12; OLG Nürnberg NJW 2008, 1453, 1454; Wagner, in: MüKo, § 138 Rn. 19. 248 BGH NJW-RR 1986, 980, 981; Wagner, in: MüKo, § 138 Rn. 19; Stadler, in: Musielak, § 138, Rn. 10.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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gen des Strafurteils zur Ergänzung des Sachvortrags nicht zu einer Erhöhung der Darlegungslast des Gegners führt.249 Verlangt der Kläger beispielsweise vom Be­ klagten Schadensersatz wegen Beihilfe zum Betrug gem. §§ 823 Abs. 2, 830 BGB i. V. m. §§ 263, 27 StGB und nimmt zur Erfüllung seiner Darlegungslast auf die Feststellungen des Strafurteils Bezug, das den Beklagten rechtskräftig wegen Un­ treue gem. § 266 StGB und Beihilfe zum Betrug gem. §§ 263, 27 StGB verurteilt hat, erfüllt er hierdurch seine Substantiierungslast.250 Da sich die Darlegungs­ last des Beklagten nach der Einlassung des Klägers richtet, genügt es nicht, dass der Beklagte den Sachvortrag des Klägers gar nicht bestreitet, denn nach der Ge­ ständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO gilt der Vortrag des Klägers in diesem Fall als zugestanden. Die Geständnisfiktion tritt ebenfalls ein, wenn der Beklagte den substantiierten Vortrag des Klägers pauschal bestreitet, ohne auf den vom Kläger geschilderten Sachverhalt konkret einzugehen.251 Hat sich der Beklagte dagegen schon umfassend zu den klägerischen Vorwür­ fen geäußert, bevor das Strafurteil ergangen ist, liegt bereits ein substantiiertes Be­ streiten vor.252 Die Einlassung des Beklagten muss auch nicht nochmals wiederholt werden, nachdem das Strafurteil ergangen ist.253 Denn das Bestreiten gilt aufgrund der Einheit der mündlichen Verhandlung bis zum Schluss der mündlichen Ver­ handlung fort.254 Nur wenn es konkrete Anhaltspunkte gibt, darf davon ausgegan­ gen werden, dass der Beklagte von seinem Bestreiten konkludent Abstand genom­ men hat.255 Insbesondere das letzte Beispiel zeigt, dass die Bezugnahme auf die Feststellungen des Strafurteils zur Ergänzung des Sachvortrags nicht generell zu einer Erhöhung der Darlegungslast des Gegners führt. Zwar kann sich die Bezug­ nahme auf Feststellungen des Strafurteils auf die Darlegungslast der Gegenpartei auswirken; jedoch stellt dies keine Eigenart des Strafurteils dar, sondern ist eine Folge der zivilprozessualen Regeln über die Darlegungslast der Parteien. Aller­ dings ist diese Bedeutung des Strafurteils bereits auf der Darlegungsebene nicht zu unterschätzen. Denn die Möglichkeit, sich zur Ergänzung ihres Sachvortrags auf die Feststellungen des Strafurteils zu berufen, erlaubt der einen Partei relativ mühelos einen umfangreichen Sachvortrag und kann bei der anderen Partei eine ebenso umfangreiche Darlegungslast auslösen. Erst wenn eine Partei zur Begründung ihres Anspruchs oder ihrer Einwen­ dungen schlüssig vorgetragen hat und die andere Partei diesen Vortrag in erheb­ licher Weise bestritten hat, handelt es sich um eine streitige, beweisbedürftige Tat­ sache. Nur in diesem Fall muss das Gericht den von der beweisbelasteten Partei 249 So zutreffend beispielsweise das LAG Hessen Urteil vom 30. Juni 2010, 18–10 Sa 1113/08, BeckRS 2010, 73264, unter I.3.a). 250 OLG Brandenburg Urteil vom 19. April 2006, 4 U 157/05, BeckRS 2006, 05563, unter II.2. 251 OLG Brandenburg Urteil vom 19. April 2006, 4 U 157/05, BeckRS 2006, 05563, unter II.2. 252 BGH Urteil vom 26. Januar 1989, X ZR 100/87, BeckRS 1989, 31082925, unter 1. 253 BGH Urteil vom 26. Januar 1989, X ZR 100/87, BeckRS 1989, 31082925, unter 1. 254 Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, S. 50. 255 Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, S. 50.

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a­ ngebotenen Beweis überhaupt erheben.256 Ist der Parteivortrag dagegen nicht sub­ stantiiert bestritten oder unzulässigerweise mit Nichtwissen bestritten und gilt da­ her als zugestanden, darf das Gericht den Beweis nicht erheben. Erst wenn also der Sachvortrag in erheblicher Weise bestritten ist, gelangt man von der Darlegungs­ ebene auf die Beweisebene. Auf der Beweisebene kann das Strafurteil dann auf Antrag der beweisbelasteten Partei im Wege des Urkundenbeweises unter Beach­ tung der dargestellten Grundsätze257 verwertet werden. 2. Blick in die gerichtliche Praxis Ist die Ebene der Darlegungslast einmal überwunden, nachdem eine Partei zur Begründung ihres Anspruchs schlüssig vorgetragen hat und die andere Partei die­ sen Vortrag in erheblicher Weise bestritten hat, folgt nunmehr die Ebene der Be­ weiserhebung. Bietet eine der Parteien das Strafurteil als Beweismittel an, hat das Zivilgericht den angebotenen Beweis zu erheben.258 Da gerade für eine strafrecht­ liche Verurteilung verfassungsrechtlich und strafprozessual hohe Hürden bestehen, erscheint es naheliegend, dass das Zivilgericht von einer solchen Verurteilung nicht völlig unbeeindruckt bleibt, auch wenn dem Strafurteil nach der deutschen Rechts­ lage keine Richtigkeitsvermutung zukommt. So betonte schon die Gesetzesbegrün­ dung zur ZPO einerseits, dass es dem Zivilrichter zu überlassen sei, „nach freier Ueberzeugung zu entscheiden, ob die von dem Strafrichter festgestellten That­ sachen […] für wahr zu erachten seien.“259 Andererseits, so heißt es in den Mate­ rialien zur ZPO, wird das Zivilgericht diese Überzeugung „regelmäßig auf Grund des Strafurtheils gewinnen, wenn nicht für die Unrichtigkeit des letzteren sehr gewichtige Gründe von den Parteien beigebracht werden. Nur ausnahmsweise wird im Zivilverfahren eine nochmalige Beweisaufnahme über die vom Strafrichter bereits als erwiesen angenommene Thatsache erforderlich sein, und es darf die sichere Erwartung gehegt werden, daß widersprechende Entscheidungen der Zivilund Strafgerichte über dieselbe Thatfrage zu den äußersten Seltenheiten gehören werden.“260 Die historische Erwartung, dass widersprechende Entscheidungen der Zivil- und Strafgerichte nur sehr selten auftreten werden, überrascht, wenn man sich die gesetzliche Ausgangslage verdeutlicht, nämlich, dass der Zivilrichter we­ der im Wege der Rechtskraft noch aufgrund der formellen Beweiswirkung des Strafurteils an die Entscheidung des Strafrichters gebunden ist.261 Daher stellt sich die Frage, wie die Zivilgerichte aktuell mit einem rechtskräftigen Strafurteil um­ gehen. Ein Blick in die Praxis zeigt, dass die Mehrheit der Gerichte dem Strafurteil 256

Greger, in: Zöller, § 286, Rn. 12. Vgl. unter 1. Teil, A. III. 1. a). 258 BGH Beschluss vom 12. April 2011, VI ZB 31/10, BeckRS 2011, 12917, Rn. 13; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 284, Rn. 2; Greger, in: Zöller, § 286, Rn. 12. 259 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280. 260 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280. 261 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. a) und e). 257

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die gesetzlich normierte Bedeutung beimisst [a)]. Dennoch gewinnt man den Ein­ druck, dass ein nicht völlig unerheblicher Teil der Rechtsprechung dem Strafurteil einen höheren Stellenwert zuschreibt als gesetzlich vorgesehen [b)]. a) Zumeist zutreffende Anwendung der gesetzlichen Regelungen Eine stichprobenartige Untersuchung der Verfasserin von über 100 Entschei­ dungen deutscher Zivil- und Arbeitsgerichte offenbart, dass mehr als drei Viertel der untersuchten Entscheidungen die Regelungen über die Darlegungslast zutref­ fend anwenden und dem Strafurteil auch auf der Beweiswürdigungsebene die rich­ tige Bedeutung beimessen. aa) Zutreffende Anwendung der Regeln über die Darlegungslast Wie soeben dargestellt, ist die Bedeutung des Strafurteils im Rahmen der Dar­ legungslast von der Beweiswirkung des Strafurteils zu unterscheiden.262 Im Hin­ blick auf die Ebene der Darlegungslast geht die überwiegende Mehrheit der unter­ suchten Entscheidungen zutreffend davon aus, dass das Strafurteil nicht zu einer Umkehrung der Darlegungs- oder Beweislast führt, sich die Parteien jedoch die Feststellungen des Strafurteils als Sachvortrag zu eigen machen können. Exem­ plarisch kann an dieser Stelle eine Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz vom 3. April  2014 herangezogen werden. Das LAG Rheinland-Pfalz führt in diesem Urteil aus263: „Es war zulässig, dass die Beklagte auf Seite 35 […] des Strafurteils […] zur Sachverhaltsdarstellung und als Beweisurkunde Bezug nimmt. Entgegen der Ansicht des Klägers könnte das Berufungsgericht das Strafurteil […] als Urkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigen. […] Vorliegend bedurfte es jedoch keiner Beweisaufnahme. Der Sachvortrag der Beklagten […] ist unstreitig, § 138 Abs. 3 und Abs. 4 ZPO. Der Kläger durfte ihn nicht pauschal mit Nichtwissen bestreiten. Er hätte sich vielmehr nach § 138 Abs. 1 und 2 ZPO vollständig über den von der Beklagten vorgetragenen Sachverhalt erklären und im Einzelnen bezeichnen müssen, in welchen einzelnen Punkten er die tatsächlichen Erklärungen der Beklagten für falsch hält. Nach § 138 Abs. 4 ZPO ist eine Erklärung mit Nichtwissen nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind. Schon aus dem Wort ‚nur‘ in § 138 Abs. 4 ZPO ist abzuleiten, dass das Gesetz grundsätzlich von der Unzulässigkeit der Erklärung mit bloßem Nichtwissen ausgeht und sie nur unter den genannten Voraussetzungen ausnahmsweise zulässt […]. Danach war es nicht ausreichend, dass der Kläger den [Vorwurf] lediglich mit Nichtwissen bestritt.“264 262

Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. d). LAG Rheinland-Pfalz Urteil vom 3. April 2014, 5 Sa 366/13; BeckRS 2014, 69422, unter

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II.2.

264

LAG Rheinland-Pfalz Urteil vom 3. April 2014, 5 Sa 366/13; BeckRS 2014, 69422, unter

II.2.

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Das LAG Rheinland-Pfalz geht zutreffend davon aus, dass sich die Darlegungs­ last der einen Partei nach dem Umfang der Einlassung der anderen Partei richtet, sodass der Kläger die detaillierte Einlassung der Beklagten mittels Bezugnahme auf das Strafurteil in gleichem Umfang hätte bestreiten müssen.265 Das unzuläs­ sige Bestreiten mit Nichtwissen führte nach § 138 Abs. 3 ZPO dazu, dass der Vor­ trag der Beklagten als zugestanden galt, sodass eine Beweisaufnahme hierüber un­ zulässig war. bb) Zutreffende Würdigung des Strafurteils auf der Beweiswürdigungsebene Außerdem erkennen die meisten Gerichte zutreffend, dass das Strafurteil keinen Beweis dafür liefert, dass der Angeklagte die Tat begangen bzw. nicht begangen hat und entscheiden daher nach ihrer eigenen freien Überzeugung, ob die zwischen den Parteien streitigen Tatsachen für wahr zu erachten sind. Ein anschauliches Bei­ spiel bietet das bereits in der Einleitung geschilderte Urteil des Landgerichts Saar­ brücken266: Im Strafprozess wurde der Pflegevater eines Kindes wegen sexuellen Missbrauchs des Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefoh­ lenen (§§ 174, 176, 52 StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren ver­ urteilt. Der Pflegevater legte gegen das strafrichterliche Urteil Revision ein und beantragte die Wiederaufnahme des Verfahrens. Beide Rechtsbehelfe blieben je­ doch erfolglos. Im anschließenden Zivilverfahren nahm das Kind den rechtskräf­ tig Verurteilten auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes gem. §§ 253 Abs. 2, 825 BGB in Anspruch. Der Beklagte wies den Anspruch zurück und be­ stritt die ihm zur Last gelegten Taten. Das LG Saarbrücken wies die Schmerzens­ geldklage der Klägerin, die sich zum Beweis des sexuellen Missbrauchs auf das strafgerichtliche Urteil berufen hatte, mit der Begründung ab, dass die Klägerin nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen konnte, „dass der Beklagte die von ihr behaupteten sexuellen Missbrauchshandlungen […] begangen [habe].“267 Hierzu führte das Landgericht aus: „Ein strafgerichtliches Urteil entfaltet für den Zivilprozess keine Bindungswirkung. Dies ist mit der [den] Zivilprozess beherrschenden freien Beweiswürdigung nicht vereinbar. Der Zivilrichter muss sich seine Überzeugung grundsätzlich selbst bilden und ist regelmäßig auch nicht an einzelne Tatsachenfeststellungen eines Strafurteils gebunden […].“268 „Im Rahmen eines Zivilprozesses hat die klagende Partei ihre Ansprüche darzulegen und zu beweisen. Vermag das Gericht nach Ausschöpfung aller zu Gebote stehenden Beweismittel keine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer bestrittenen Behauptung zu gewinnen, so geht diese Unaufklärbarkeit zulasten desjenigen, der die Beweislast trägt. Nach 265

Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. d). LG Saarbrücken Urteil vom 13. Dezember 2007, 2 O 77/05, BeckRS 2011, 27532. 267 LG Saarbrücken Urteil vom 13. Dezember 2007, 2 O 77/05, BeckRS 2011, 27532, vor I. 268 LG Saarbrücken Urteil vom 13. Dezember 2007, 2 O 77/05, BeckRS 2011, 27532, unter I. 266

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dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht weder davon überzeugt, dass die von der Klägerin behaupteten sexuellen Missbrauchshandlungen durch den Beklagten stattgefunden haben, noch davon, dass der Beklagte die behaupteten sexuellen Missbrauchshandlungen nicht vorgenommen hat. Dieses Ergebnis führt jedoch zur Abweisung der Klage, da die Klägerin ihre Behauptung zur Überzeugung des Gerichts nachweisen muss.“269

Obwohl das Strafgericht in der Überzeugung, dass der Beklagte die Klägerin sexuell missbraucht hatte, diesen zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt hatte, war das Zivilgericht, das sich umfassend mit den Feststellungen und der Beweis­ würdigung des Strafgerichts auseinandergesetzt hatte, nicht ausreichend von der Tatbegehung überzeugt. cc) Folgen der zutreffenden Anwendung der gesetzlichen Regelungen Bei zutreffender Anwendung der Regelungen über die Darlegungslast und über die Beweiswirkung des Strafurteils entfaltet das rechtskräftige Strafurteil keine Bindungswirkung für den nachfolgenden Zivilprozess. Der Umstand, dass dem Strafurteil eine erhebliche Rolle auf der Ebene der Darlegungslast zukommen kann, indem es der bezugnehmenden Partei ermöglicht bzw. erleichtert, die an­ spruchsbegründenden oder -vernichtenden Tatsachen schlüssig vorzutragen, führt nicht zu einer Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilrichter. Denn nach­ dem eine Partei einen bestimmten Sachverhalt vorgetragen hat, steht für das Zi­ vilgericht noch nicht fest, dass sich der Sachverhalt tatsächlich so wie behauptet zugetragen hat. Nur wenn die Gegenpartei den auf die strafgerichtlichen Feststel­ lungen gestützten Sachvortrag unstreitig stellt oder unsubstantiiert bestreitet, ist der im Strafurteil geschilderte Sachverhalt zwischen den Parteien unstreitig und der Zivilrichter darf keinen Beweis erheben. Auch die zutreffende Berücksichtigung des Strafurteils im Wege des Urkunden­ beweises führt nicht dazu, dass der Zivilrichter an das Strafurteil und insbesondere an den dort festgestellten Sachverhalt gebunden wäre.270 Vielmehr hat das Gericht „den Sachverhalt ohne Bindung an das Strafurteil selbst aufzuklären und zu bewerten […].“271 Nachdem der Zivilrichter gem. § 286 Abs. 1 ZPO den Streitstoff selbst gewürdigt hat, ist es einerseits möglich (und in der Praxis häufig), dass er die Überzeugung des Strafrichters teilt. Andererseits geschieht es nicht selten, dass das Zivilgericht zu einer anderen Überzeugung kommt oder nach der Beweisauf­ nahme Zweifel hat, ob der behauptete Umstand zutreffend oder unzutreffend ist. Im letzteren Fall entscheiden dann die Regelungen über die Beweislast, zu wessen Lasten sich die verbleibenden Zweifel auswirken. Insofern entspricht die heutige 269

LG Saarbrücken Urteil vom 13. Dezember 2007, 2 O 77/05, BeckRS 2011, 27532, unter I.c). BGH NJW-RR 2013, 9, 10; BGH Beschluss vom 24. Januar 2012, VI ZR 132/10, BeckRS 2012, 04956; BGH NJW-RR 2005, 1024, 1025. 271 In diesem Sinne für die Arbeitsgerichte: BAG NZA 2000, 1282, 1287. 270

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Rechtsprechungspraxis nicht den Erwartungen, die noch in den Motiven zur ZPO zum Ausdruck gebracht wurden und nach denen „widersprechende Entscheidungen der Zivil- und Strafgerichte über dieselbe Thatfrage zu den äußersten Seltenheiten gehören werden.“272 Auch die noch im 19. Jahrhundert geäußerte Prognose, wonach „[n]ur ausnahmsweise […] im Zivilverfahren eine nochmalige Beweisaufnahme über die vom Strafrichter bereits als erwiesen angenommene Thatsache erforderlich sein“273 werde, hat sich nicht bewahrheitet. Wie der BGH immer wie­ der betont, rechtfertigt die Existenz des Strafurteils nicht, von einer gegenbeweis­ lich angebotenen, unmittelbaren Beweiserhebung unter Berufung auf das Strafur­ teil abzusehen, da dies gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen würde.274 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Mehrheit der Zivilgerichte dem Strafurteil die zutreffende Bedeutung sowohl auf der Darlegungs- als auch auf der Beweiswürdigungsebene beimisst. b) Teilweise ungenaue bzw. unzutreffende Anwendung der gesetzlichen Regelungen Die stichprobenartige Untersuchung offenbart aber auch, dass fast ein Viertel der analysierten Entscheidungen dem Strafurteil entweder auf der Darlegungs- oder auf der Beweiswürdigungsebene einen unberechtigten Stellenwert zuschreiben. Bevor dies sogleich näher erläutert werden soll, ist auf ein weiteres, bemerkenswer­ tes Ergebnis der Untersuchung hinzuweisen: Mehr als ein Sechstel der analysier­ ten Entscheidungen, darunter auch der BGH, sieht den Zivilrichter in der Pflicht, „sich mit den Feststellungen [des Strafurteils] auseinanderzusetzen, die für seine eigene Beweiswürdigung relevant sind […].“275 Dies ist eine selbstverständliche Folge der Beweiswürdigungspflicht des § 286 Abs. 1 ZPO. Denn das Gericht muss gem. § 286 Abs. 1 ZPO den gesamten Streitstoff, der ordnungsgemäß in das Verfah­ ren eingeführt wurde, würdigen.276 Hierzu gehört natürlich auch das Vorbringen der Parteien einschließlich der durch die Beweisaufnahme gewonnenen Ergebnisse.277 Daher ist es doch erstaunlich, dass die Rechtsprechung phrasenhaft die Pflicht des Zivilrichters betont, sich mit den strafgerichtlichen Feststellungen auseinander­ zusetzen, die für seine eigene Beweiswürdigung relevant sind. Natürlich ist der Zi­ vilrichter im Hinblick auf seine Pflicht zur freien Beweiswürdigung gehalten, sich mit dem als Beweis angebotenen Strafurteil auseinanderzusetzen.

272

Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280. 274 Vgl. nur BGH NJW-RR 1988, 1527, 1528. 275 BGH NJW-RR 2005, 1024, 1025; BGH Urteil vom 27. September 1988, XI ZR 8/88, juris, Rn. 16; OLG Zweibrücken Urteil vom 6. Oktober 2009, 8 U 75/08, BeckRS 2009, 88978 unter II.; KG Berlin NJOZ 2006, 1189, 1190; OLG Koblenz NJW-RR 1995, 727, 728. 276 Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 7. 277 Prütting, in: MüKo, § 286, Rn. 8. 273

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Nachdem also nicht unbedingt nachvollziehbar ist, warum in den untersuchten Entscheidungen die selbstverständliche Beweiswürdigungspflicht des Zivilrich­ ters derart betont wird, liegt die Frage nahe, ob die Gerichte vielleicht die Auffas­ sung vertreten, der Zivilrichter habe sich mit den Feststellungen des Strafurteils unabhängig von einem Beweisantritt durch die Parteien auseinanderzusetzen. Eine solche Auffassung wäre jedoch aus rechtlichen und praktischen Gründen un­ haltbar. Hat nämlich keine der Parteien das Strafurteil als Beweis angeboten oder sich zumindest darauf berufen, darf das Zivilgericht das Strafurteil nicht verwer­ ten, selbst wenn es die Strafakte gem. § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO vorbereitend bei­ gezogen hat. Denn dies würde gegen den zivilprozessualen Beibringungsgrund­ satz ver­stoßen, der für die Verwertung einer Urkunde den Beweisantritt einer Partei voraussetzt.278 Auch aus praktischen Gründen würde eine solche Pflicht we­ nig Sinn machen. Denn woher soll der Zivilrichter von einem Strafurteil erfahren, wenn sich nicht eine der Parteien auf dieses Urteil beruft? Von einer Art Nachfor­ schungspflicht des Gerichts scheint keine der Entscheidungen auszugehen, auch wenn sie dieses dazu verpflichtet sehen, sich mit den Feststellungen des Straf­ urteils auseinanderzusetzen. Daher erscheint es naheliegender, dass die Rechtspre­ chung lediglich eine Selbstverständlichkeit betont, indem sie hervorhebt, dass die Beweiswürdigungspflicht des Zivilrichters auch für das Strafurteil gilt. Interpre­ tiert man die oben zitierte Floskel auf diese Weise, wird dem Strafurteil kein unbe­ rechtigter Stellenwert zugeschrieben, da sich die Beweiswürdigungspflicht des Zi­ vilrichters gem. § 286 Abs. 1 ZPO auf den gesamten Streitstoff bezieht. aa) Unzutreffende bzw. ungenaue Anwendung der Regeln über die Darlegungslast Allerdings messen 7 der 102 analysierten Entscheidungen dem Strafurteil auf der Darlegungsebene einen unberechtigten bzw. ungenauen Stellenwert zu. Ins­ besondere das OLG München scheint davon auszugehen, dass die Berufung auf ein verurteilendes Strafurteil im Rahmen der Sachverhaltsdarlegung beim Geg­ ner generell eine höhere Darlegungslast auslöse.279 Es ist nämlich der Ansicht, die gegnerische Partei müsse „substantiiert dartun […], dass und aus welchen Gründen das Strafurteil fehlerhaft ist.“280 Diese, mit dem Begriff der „Quasibeweislastumkehr“281 bezeichnete, Erhöhung der gegnerischen Darlegungslast wird damit begründet, dass in „einem verurteilenden Strafurteil zumeist ein ausführlicherer 278 BVerfG NJW 1994, 1210, 1211; BGH NJW-RR 2011, 568, 569; BGH NJW 2004, 1324, 1325; 2000, 1420, 1421; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 8. 279 OLG München Beschluss vom 24. Oktober 2011, 7 U 2719/11, juris, dort Rn. 4; OLG München Beschluss vom 21. September 2011, 7 U 2719/11, juris, dort Rn. 7; OLG München NJOZ 2007, 2163, 2164 f. 280 OLG München Beschluss vom 24. Oktober 2011, 7 U 2719/11, juris, dort Rn. 4. 281 So das LG München zitiert in OLG München Beschluss vom 24.  Oktober 2011, 7 U 2719/11, juris, dort Rn. 4.

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und genauerer Sachverhalt formuliert sein [wird], als in einem freisprechenden Urteil. Verwendet eine Partei im Zivilprozess ein Strafurteil als Sachverhaltsdar­ legung, wird demzufolge ein verurteilendes Strafurteil beim Gegner eine höhere Beweislast auslösen als ein freisprechendes Strafurteil.“282 Zwar nimmt das OLG München zutreffend an, dass eine Partei unter Bezugnahme auf die im Strafurteil enthaltenen Feststellungen vortragen kann und dass sich der Umfang der Darlegungslast einer Partei grundsätzlich nach der Einlassung der Ge­ genpartei richtet.283 Kommt demnach eine der Parteien ihrer Darlegungslast nicht nach und bestreitet den Sachvortrag der Gegenpartei nicht in erheblicher Weise, gilt dieser nach der Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.284 Indes ist es ungenau, wenn das OLG München standardmäßig ausführt: „Verwendet […] eine Partei im Zivilprozess ein Strafurteil als Sachverhaltsdarlegung, löst ein verurteilendes Strafurteil beim Gegner eine höhere Darlegungslast aus.“285 Denn aus dem zi­ vilprozessualen Beibringungsgrundsatz folgt, dass nicht das Strafurteil, sondern die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen maßgeblicher Streitstoff sind.286 Nur der sub­ stantiierte Vortrag der einen Partei (und nicht etwa das Strafurteil an sich) führt dazu, dass sich die Gegenpartei substantiiert auf diesen Tatsachenvortrag einlassen muss. Nicht nur ungenau, sondern unzutreffend ist die Annahme des OLG München, die Bezugnahme auf ein verurteilendes Strafurteil zur Ergänzung des Sachvor­ trags führe grundsätzlich zu einer Erhöhung der Darlegungslast der anderen Partei. Denn, wie bereits dargestellt287, hat die Bezugnahme auf das Strafurteil durch eine Partei weder zur Folge, dass sich die Darlegungslast umkehrt288, noch, dass sich die Darlegungslast der Gegenpartei generell erhöht. Die Darlegungslast richtet sich nämlich ausschließlich nach der Einlassung des Gegners289, also danach, wie aus­ führlich die Gegenpartei vorgetragen hat. Nach der Rechtsprechung des BGH ge­ nügt der Gegner der darlegungspflichtigen Partei seiner Sustantiierungslast in der Regel durch einfaches Bestreiten.290 Liegt ein hinreichender Gegenvortrag vor, ob­ liegt „die Ergänzung und Aufgliederung des Sachvortrags immer zunächst […] der darlegungs- und beweispflichtigen Partei […].“291 Im Übrigen hängt die Darle­ 282

OLG München NJOZ 2007, 2163, 2164 f. OLG München NJOZ 2007, 2163, 2165. 284 OLG München Beschluss vom 21. September 2011, 7 U 2719/11, juris, dort Rn. 7; OLG München NJOZ 2007, 2163, 2165. 285 OLG München Beschluss vom 21. September 2011, 7 U 2719/11, juris, dort Rn. 7; in die­ sem Sinne auch OLG Köln Urteil vom 20. April 2012, 3 U 145/08, BeckRS 2012, 04976, dort unter II.3.a). 286 In diesem Sinne auch BGH Urteil vom 26.  Januar 1989, X ZR 100/87, BeckRS 1989, 31082925, unter 1. 287 Vgl. unter 1. Teil, A. III. 1. d). 288 BGH Urteil vom 26. Januar 1989, X ZR 100/87, BeckRS 1989, 31082925, unter 1.; OLG Brandenburg Urteil vom 19. April 2006, 4 U 157/05, BeckRS 2006, 05563, unter II.2.a)aa). 289 BGH NJW 2005, 2710, 2711; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 86. 290 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. d). 291 BGH NJW 1999, 1404, 1405. 283

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gungslast davon ab, wie detailliert die vortragende Partei den Sachverhalt bereits geschildert hat. Hat sich eine Partei beispielsweise bereits umfassend zu den geg­ nerischen Vorwürfen geäußert bevor das Strafurteil ergangen ist, liegt bereits ein substantiiertes Bestreiten vor.292 Die Bezugnahme der anderen Partei auf die Fest­ stellungen des Strafurteils führt in diesem Fall nicht zu einer Erhöhung der Darle­ gungslast. Beruft sich eine Partei zur Ergänzung ihres Sachvortrags auf die Fest­ stellungen des Strafurteils, hängt die Substantiierungslast der Gegenpartei letztlich davon ab, wie umfangreich die strafgerichtlichen Feststellungen sind. Diese kön­ nen jedoch im Einzelfall, insbesondere wenn das Urteil auf einer Verständigung beruht, dürftig ausfallen.293 Auch hier kann auf das einleitende Beispiel Bezug ge­ nommen werden, in dem der Beklagte nach einer Verständigung im Strafprozess wegen Insolvenzverschleppung gem. § 15  a Abs.  4 InsO verurteilt worden war. Denn das für die zivilrechtliche Klage zuständige OLG Koblenz führt im Hinblick auf die Feststellungen des Strafurteils aus: „Diese Feststellungen sind nicht ausreichend, um den Senat von dem dargestellten Sachverhalt zu überzeugen. Sie erschöpfen sich in der Wiedergabe der Tatbestandsmerkmale des Straftatbestands der Insolvenzverschleppung und beinhalten keine Einzelheiten, die zur Grundlage einer Überzeugungsbildung gemacht werden können.“294

Auch in einem solchen Fall bewirkt die Bezugnahme der einen Partei auf die Feststellungen des Strafurteils also keine erhöhte Substantiierungslast der ande­ ren Partei. Schließlich kann dem OLG München nicht dahingehend gefolgt wer­ den, dass in „einem verurteilenden Strafurteil zumeist ein ausführlicherer und genauerer Sachverhalt formuliert sein [wird], als in einem freisprechenden Urteil“295 und dass „demzufolge ein verurteilendes Strafurteil beim Gegner eine höhere Beweislast [auslöst] als ein freisprechendes Strafurteil.“296 Denn wie detailliert und ausführlich der Sachverhalt in einem freisprechenden Urteil formuliert ist, hängt insbesondere davon ab, ob es sich um einen Freispruch aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen handelt. Eine Korrektur der Grundregel, wonach die konkrete Darlegungslast davon ab­ hängt, wie substantiiert der Sachvortrag des Gegners ist297, etwa nach den Grund­ sätzen der sekundären Darlegungslast, kann zwar im Einzelfall je nach Sachver­ haltskonstellation geboten sein, kommt jedoch nicht generell in Betracht. Denn diese Ausnahme gilt nur für Extremfälle, in denen die darlegungspflichtige Partei „außerhalb des von [ihr] darzulegenden Geschehensablaufs steht und die maßgebenden Tatsachen nicht näher kennt, während sie der anderen Partei bekannt 292

BGH Urteil vom 26. Januar 1989, X ZR 100/87, BeckRS 1989, 31082925, unter 1. So weist das LG München Urteil vom 26. Oktober 2006, 26 O 25039/05, BeckRS 2012, 01754 zutreffenderweise darauf hin, dass „so genannte ‚deals‘ zu besonderen Problemen bei der Wertung strafrechtlicher Entscheidungen im Zivilrecht führen können.“ 294 OLG Koblenz Urteil vom 18. Januar 2007, 6 U 536/06, BeckRS 2007, 01829, dort unter II.2.a) 295 OLG München NJOZ 2007, 2163, 2164. 296 OLG München NJOZ 2007, 2163, 2165. 297 BGH NJW 2005, 2710, 2711; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 86. 293

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und ihr ergänzende Angaben zuzumuten sind […].“298 Streiten die Parteien im Zi­ vilprozess darüber, ob sich der Sachverhalt tatsächlich wie im Strafurteil geschil­ dert zugetragen hat, handelt es sich nicht generell um solche Geschehnisse, die sich ausschließlich im Bereich der einen Partei abgespielt haben und von denen die andere Partei keine Kenntnis hat. Daher bleibt es bei der Grundregel, wonach sich „der Umfang der jeweils erforderlichen Substantiierung des Sachvortrags […] aus dem Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag [bestimmt], wobei die Ergänzung und Aufgliederung des Sachvortrags bei hinreichendem Gegenvortrag immer zunächst Sache der darlegungs- und beweispflichtigen Partei ist.“299 Nur wenn tat­ sächlich eine solche Situation besteht, in der ausnahmsweise die darlegungspflich­ tige Prozesspartei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehens steht, wohin­ gegen der Gegner diese Umstände kennt, kommt eine Korrektur der Grundregel nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast in Betracht. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sich ein detaillierter Sach­ vortrag unter Bezugnahme auf Feststellungen des Strafurteils zwar auf die Darle­ gungslast der Gegenpartei auswirken kann. Unzutreffend ist jedoch die vom OLG München bemühte Formulierung, wonach ein „im Zivilprozess vorgetragene[s Strafurteil] […] die Darlegungslast des Gegners“300 generell erhöhe. Denn die Dar­ legungslast der vortragenden Partei richtet sich ausschließlich danach, wie ausführ­ lich die Gegenpartei (unter Bezugnahme auf das Strafurteil) vorgetragen hat und wie detailliert sie selbst die streitigen Vorgänge bereits geschildert hat. Lässt das Gericht einen eigentlich erheblichen Sachvortrag einer Partei „zu Unrecht als ‚unsubstantiiert‘ außer Betracht“, verletzt dies den Anspruch auf rechtliches Gehör.301 Denn dieser verpflichtet das Gericht, „den entscheidungserheblichen Sachvortrag der Partei in der nach Art.  103 GG gebotenen Weise zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben [….]“.302 Hiergegen verstößt das Gericht, wenn es „die Substanziierungsanforderungen in unvertretbarer Weise [überspannt]“.303 bb) Unberechtigter Stellenwert des Strafurteils auf der Beweiswürdigungsebene Aber nicht nur auf der Darlegungsebene wird die Bedeutung des Strafurteils teilweise überstrapaziert. Auch auf der Beweiswürdigungsebene scheint immer­ hin ein Sechstel der untersuchten Entscheidungen dem Strafurteil einen unberech­ tigten Stellenwert zuzuschreiben. Bereits die Motive zur ZPO waren davon aus­ 298 BGH NJW 1999, 1404, 1405 f.; BGH NJW 1989, 161, 162; so auch Wagner, in: MüKo, § 138, Rn. 21. 299 BGH NJW 2005, 2710, 2711. 300 OLG München Beschluss vom 24. Oktober 2011, 7 U 2719/11, juris, dort Rn. 4. 301 Greger, in: Zöller, Vor § 128, Rn. 6 b. 302 BGH NJW 2012, 1647, 1648. 303 BGH NJW 2012, 1647, 1648; BGH NJW 2009, 2137, 2138; in diesem Sinne auch Greger, in: Zöller, Vor § 128, Rn. 6 b.

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gegangen, dass das Zivilgericht seine Überzeugung „regelmäßig auf Grund des Strafurtheils gewinnen [wird], wenn nicht für die Unrichtigkeit des letzteren sehr gewichtige Gründe von den Parteien beigebracht werden“304, und das, obwohl das Strafurteil von Gesetzes wegen gerade keinen Beweis für seine Richtigkeit begründet.305 In diesem Sinne finden sich auch heute wieder einige Entscheidungen, die da­ von ausgehen, dass „in der Regel […] den strafgerichtlichen Feststellungen zu folgen sein [wird], sofern nicht gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit von den Parteien beigebracht werden.“306 Dies aber interessanterweise nicht ohne vorab klarzustellen, dass die Feststellungen des Strafurteils für den Zivilrichter nicht bin­ dend sind und der freien Beweiswürdigung unterliegen.307 Denn, so führt das LG Karlsruhe bemerkenswerterweise aus, „[z]war sind die Feststellungen des Strafverfahrens im vorliegenden Fall nicht bindend, jedoch würde eine von den Ermittlungsbehörden abweichende Beurteilung des Sachverhalts besondere Umstände erfordern, insbesondere neue Tatsachen oder Sachverhalte, die die Polizei noch nicht in ihre Überlegungen mit hat einfließen lassen können, die eine andere Be­ urteilung durch die Zivilgerichte rechtfertigen würden.“308 Diese Entscheidungen verkennen den Beweiswert des Strafurteils als öffent­ liche Urkunde gem. §§ 415, 417 ZPO und stellen eine gegen § 286 ZPO versto­ ßende Beweiswürdigungsregel309 auf.310 Eine solche Regel, wonach den strafge­ richtlichen Feststellungen grundsätzlich zu folgen ist, sofern die Parteien keine gewichtigen Gründe für deren Unrichtigkeit vorbringen, ist mit der Freiheit der 304

Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280. Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. a). 306 OLG Köln Urteil vom 11. Januar 1991, 19 U 105/90, BeckRS 1991, 00862, Rn. 7 (a. A. OLG Köln Urteil vom 20. April 2010, 3 U 145/08, BeckRS 2012, 04976, unter II.3.a), in dem das OLG Köln betont, dass sich der Zivilrichter seine eigene Überzeugung bilden müsse); so auch OLG Koblenz NJW-RR 1995, 727, 728; KG Berlin NJOZ 2006, 1189, 1190 f.; OLG Zweibrücken Urteil vom 6. Oktober 2009, 8 U 75/08, BeckRS 2009, 88978, unter II. (Auch hier a. A. OLG Zweibrücken NJW-RR 2011, 496, 497: „Allerdings darf der Zivilrichter die vom Strafgericht getroffenen Feststellungen nicht ungeprüft übernehmen; er hat vielmehr die in der Beweisurkunde dargelegten Feststellungen einer eigenen kritischen Prüfung zu unterziehen […].“) 307 OLG Zweibrücken Urteil vom 6. Oktober 2009, 8 U 75/08, BeckRS 2009, 88978, unter II.; KG Berlin NJOZ 2006, 1189, 1190; OLG Koblenz NJW-RR 1995, 727, 728; OLG Köln Ur­ teil vom 11. Januar 1991, 19 U 105/90, BeckRS 1991, 00862, Rn. 7. 308 LG Karlsruhe Urteil vom 28. Juli 2006, 7 O 180/06, BeckRS 2009, 18305, unter I.2. 309 Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1899; in diesem Sinne auch Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 41; a. A. Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 43 f. mit der Begründung, dass es sich ja um eine Regel handle, an die sich das Gericht nicht halten müsse. Diese Argumentation verkennt jedoch, dass das Gesetz eine solche Beweisregel nicht kennt. 310 Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn.  2 und Leipold, in: Stein/Jonas, § 286, Rn. 27, bezeichnen die von einigen Gerichten verwendete Formel, wonach den tatsäch­ lichen Feststellungen regelmäßig zu folgen sei, als „eine zu suggestive“ bzw. „zu pauschal[e]“ Aussage. 305

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richterlichen Beweiswürdigung unvereinbar.311 Zwar stellen die Vorschriften über den Urkundenbeweis gem. §§ 415 ff. ZPO grundsätzlich die freie richterliche Be­ weiswürdigung einschränkende gesetzliche Beweisregeln i. S. d. § 286 Abs. 2 ZPO dar.312 Das Strafurteil als öffentliche Urkunde beweist jedoch gerade nicht, dass die darin für erwiesen erachteten Tatsachen richtig sind.313 Die formelle Beweiskraft des Strafurteils bezieht sich ausschließlich darauf, dass das Urteil mit dem darin enthaltenen Inhalt ergangen ist.314 Daher ist die Beweiswürdigungsfreiheit des Zi­ vilrichters nur dahingehend eingeschränkt, dass aufgrund des Strafurteils feststeht, dass der Strafrichter die entsprechende Entscheidung tatsächlich getroffen hat.315 Ob die vom Gericht getroffenen Tatsachenfeststellungen und die im Urteil wie­ dergegebenen Aussagen tatsächlich der Wahrheit entsprechen, steht nicht fest und muss vom Zivilrichter unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhand­ lungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeu­ gung entschieden werden. Trotz des im Strafverfahren geltenden Untersuchungs­ grundsatzes kommt dem Strafurteil keine Richtigkeitsgewähr zu316 und es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, wonach die im Strafurteil enthaltenen Fest­ stellungen stets zutreffend sind. Daher ist es nicht gerechtfertigt, im Zivilverfahren grundsätzlich von der Richtigkeit der strafrichterlichen Feststellungen auszugehen und diese nur bei Vorliegen besonderer Gründe nicht zu übernehmen. Die Freiheit der Beweiswürdigung berechtigt den Richter nicht nur, sondern ver­ pflichtet ihn auch, diese Freiheit auszunutzen317, die erhobenen Beweise im Ein­ zelnen zu würdigen und nach seiner eigenen freien Überzeugung zu entscheiden, ob sich der Sachverhalt wie im Strafurteil geschildert zugetragen hat. Die Pflicht zur freien Beweiswürdigung verbietet es dem Zivilrichter außerdem, sich in seiner Freiheit durch Schaffung abstrakter Beweisregeln einzuschränken.318 Denn die Entscheidung des Gerichts wird in diesem Fall nicht, „wie es nach § 286 I ZPO geboten ist, auf eine individuelle Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme, sondern in verfahrensrechtlich unzulässiger Weise auf eine abstrakte Beweisregel gegründet, die das Gesetz nicht kennt (vgl. auch § 286 II ZPO).“319 Daher verstößt die Bildung einer ungeschrie­ benen Beweisregel, wonach den strafgerichtlichen Feststellungen regelmäßig zu folgen sein wird, sofern nicht gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit von den 311

Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1899; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannovera­ ner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 41; a. A. Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 43 f. 312 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. e). 313 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. e). 314 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. e). 315 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. e). 316 Dazu ausführlich unter 1. Teil, A. IV. 2. a). 317 Greger, in: Zöller, § 286, Rn. 13; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 19. 318 BGH NJW, 1995, 955, 956; 1988, 566, 567; Leipold, in: Stein/Jonas, § 286, Rn. 2; Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 19; Ahrens, in: Wieczorek/Schütze, § 286, Rn. 28, 115. 319 BGH NJW 1988, 566, 567; ähnlich BGH NJW 1995, 955, 956.

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Parteien beigebracht werden, gegen § 286 Abs. 1 ZPO. Eine vom Straf­urteil abwei­ chende Beurteilung durch den Zivilrichter erfordert nicht das Vorliegen besonderer Umstände oder gewichtiger Gründe, und schon gar nicht, wie vom LG Karlsruhe gefordert320, das Vorliegen neuer Tatsachen. Im Hinblick auf die eindeutige Gesetzeslage ist es bemerkenswert, dass sowohl die Autoren, die sich in jüngster Zeit mit der Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess beschäftigt haben321, als auch die zivilprozessuale Kommentarlite­ ratur322 kaum auf diese Praxis einiger Instanzgerichte eingeht. Nur vereinzelt heißt es, dass die zum Teil in der Rechtsprechung verwendete Formel, wonach den tat­ sächlichen Feststellungen regelmäßig zu folgen sei, „eine zu suggestive“ bzw. „zu pauschal[e]“ Aussage sei.323 Auch Foerster, der immerhin auf diese Praxis ein­ geht, stellt lediglich fest, dass es sich „bei einem im Zivilverfahren vorgelegten Strafurteil dann nicht mehr um einen Urkundenbeweis [handelt].“324 Diese Aus­ führungen lassen nicht hinreichend klar erkennen, dass die Erfindung einer derarti­ gen Beweiswürdigungsregel gegen die freie richterliche Beweiswürdigung gem. § 286 Abs. 1 ZPO verstößt325 und erwecken den Eindruck, dass die Rechtsprechung nach eigenem Ermessen darüber entscheiden könne, welche Bedeutung einem Strafurteil im nachfolgenden Zivilprozess zukommt.326 Dies verbietet jedoch die Gesetzesbindung der Judikative gem. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG. Allerdings könnte man auf den Gedanken kommen, dass die von den Gerichten zum Teil bemühte Beweiswürdigungsregel, wonach in der Regel den strafgericht­ lichen Feststellungen zu folgen ist, sofern keine gewichtigen Gründe für deren Unrichtigkeit von den Parteien beigebracht werden327, als zulässige ­richterliche 320

LG Karlsruhe Urteil vom 28. Juli 2006, 7 O 180/06, BeckRS 2009, 18305, unter I.2. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess; Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkenntnisse; Wigginghaus, Synergieeffekte zwischen Strafund Zivilprozess. 322 Mit Ausnahme von Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn. 2 und Leipold, in: Stein/Jonas, § 286, Rn. 27, die jedoch auch nur feststellen, dass die von einigen Gerichten verwendete Formel, wonach den tatsächlichen Feststellungen regelmäßig zu folgen sei, „eine zu suggestive“ bzw. „zu pauschal[e]“ Aussage sei. 323 Schlosser, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., § 14 EGZPO, Rn.  2 und Leipold, in: Stein/Jonas, § 286, Rn. 27. 324 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 23. 325 Eindeutig sprechen dies immerhin Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1898 und Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 41 aus. 326 Diesen Eindruck erweckt auch die Feststellung Foersters, wonach der Zivilrichter eigent­ lich an das Strafurteil gebunden sei, von dem er nur in begründeten Ausnahmefällen abweichen dürfe, Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 24. 327 OLG Zweibrücken Urteil vom 6. Oktober 2009, 8 U 75/08, BeckRS 2009, 88978, unter II.; KG Berlin NJOZ 2006, 1189, 1190  f.; OLG Koblenz NJW-RR 1995, 727, 728; OLG Köln Urteil vom 11. Januar 1991, 19 U 105/90, BeckRS 1991, 00862, Rn. 7. 321

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Rechtsfortbildung anzusehen ist, die folglich nicht zu beanstanden wäre.328 Die Befugnis des Richters zur Rechtsfortbildung ist zwar allgemein anerkannt.329 Je­ doch sind dieser Befugnis aufgrund der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt330: „Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen […]. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein […].“331

Nach diesen Grundsätzen überschreitet die Praxis einiger Instanzgerichte die Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung, da sie dem klaren Gesetzeswortlaut und damit dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers zuwider läuft. Diese rich­ terliche Schöpfung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Beweiswürdigungsregel dient nicht etwa dazu, eine erkennbar planwidrige Regelungslücke zu schließen, sodass davon ausgegangen werden könnte, der Gesetzgeber billige diese Rechts­ fortbildung stillschweigend. Denn bereits mit Einführung der ZPO hat sich der Gesetzgeber in § 14 Abs. 2 Nr. 1 EGZPO a. F. ausdrücklich gegen jegliche Art von Vorschriften über die bindende Kraft des strafgerichtlichen Urteils für den Zivil­ richter und für die vollständige Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung aus­ gesprochen.332 An dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber auch bis heute fest­ gehalten, obwohl ein Reformvorhaben vor einigen Jahren die Einführung einer Beweiswürdigungsregel anstrebte, der zufolge das Zivilgericht an die tatsäch­ lichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils gebunden sein sollte, so­ fern keine Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen be­ stehen.333 Von der Einführung einer Bindungswirkung des Strafurteils nahm der Gesetzgeber damals bewusst Abstand und brachte so zum Ausdruck, dass an der uneingeschränkten Beweiswürdigungsfreiheit des Zivilgerichts auch im Hinblick auf ein rechtskräftiges Strafurteil festhalten werden soll. Diese eindeutige gesetz­ geberische Entscheidung haben die Gerichte aufgrund ihrer Gesetzesbindung gem. Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG zu respektieren. Darüber hinaus stellen die Re­ gelungen des § 286 Abs. 1 und 2 ZPO eindeutig klar, dass die Beweiswürdigungs­ freiheit nur durch gesetzlich normierte Beweisregeln eingeschränkt werden darf 328

Während das BVerfG eine Rechtsfortbildung praeter legem anerkennt, BVerfG NJW 1993, 2861, 2863, ist eine solche contra legem unzulässig, BVerfG NJW 1973, 1491, 1494; NJW 1958, 2059, 2060 f. 329 BVerfG NJW 2011, 836, 838; BVerfG NJW 1973, 1221, 1225. 330 BVerfG NJW 2011, 836, 838; NJW 1973, 1221, 1225. 331 BVerfG NJW 2011, 836, 838. 332 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. c). 333 Gesetzesentwurf der Fraktion CDU/CSU vom 20. Mai 2003, BT-Drucksache 15/999, 3; dazu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 3.

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und verbieten daher, dass sich der Richter durch ungeschriebene Beweisregeln selbst bindet. Schließlich belegen auch einzelne Vorschriften, die eine Bindungs­ wirkung der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils für den Richter im Fol­ geprozess vorsehen, wie beispielsweise § 118 Abs. 3 BRAO und § 57 Abs. 1 BDG, dass nur der Gesetzgeber die Beweiswürdigungsfreiheit des Richters durch aus­ drückliche Anordnung begrenzen kann. Über diese eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers setzten sich die Gerichte hinweg, die eine Regel schaffen, wonach grundsätzlich den strafgerichtlichen Feststellungen zu folgen sei, sofern nicht ge­ wichtige Gründe für deren Unrichtigkeit von den Parteien beigebracht werden. Daher lässt sich diese Rechtsprechung nicht als zulässige richterliche Rechtsfort­ bildung begreifen. cc) Ursachen und Folgen der unzutreffenden Gesetzesanwendung Nachdem die stichprobenartige Untersuchung ergeben hat, dass fast ein Vier­ tel der untersuchten Entscheidungen dem Strafurteil entweder auf der Darlegungsoder auf der Beweisebene einen gesetzeswidrigen Stellenwert zuschreiben, stellt sich die Frage, warum sich einige Zivilgerichte offenbar an die Ergebnisse des Strafprozesses gebunden fühlen. Ursache dieser irrig angenommenen Bindungs­ wirkung könnte ein psychologisches Phänomen sein.334 So beschreiben Bock, Eschelbach, Geipel und andere Autoren335 drei „verfahrenspsychologische Ausgangsthesen“336, die ihrer Ansicht nach die Zivilgerichte dazu veranlassen, den strafgerichtlichen Feststellungen zu folgen: Erstens werde allgemein angenom­ men, dass ein höchstrichterliches Strafurteil „– von extremen Ausnahmefällen bei Justizirrtümern abgesehen – richtig“ sei.337 Zweitens gingen die Zivil­gerichte davon aus, dass das Strafurteil aufgrund des im Strafprozess geltenden Unter­ suchungsgrundsatzes eine höhere Richtigkeitsgewähr biete.338 Drittens bestehe die Annahme, dass jemand, der die Tat nicht begangen habe, kein Geständnis ab­ lege und Opferzeugen stets die Wahrheit sagten.339 Diese „verfahrenspsychologischen Ausgangsthesen“340 dürften zwar etwas überzeichnet sein. Dennoch scheint es nicht fernliegend, dass die Gerichte, die dem Strafurteil eine über das gesetzlich vorgesehene Maß hinausgehende Bedeutung beimessen, dies in der Annahme tun, dass ein rechtskräftiges, gegebenenfalls durch mehrere Instanzen und im Wieder­ aufnahmeverfahren bestätigtes Strafurteil zutreffend sein müsse. 334

In diesem Sinne beispielsweise Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1897, der die Ansicht ver­ tritt, dass das Strafurteil „richterpsychologisch ein erhebliches Präjudiz“ entfalte; so auch Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 338. 335 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 338 f. 336 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 338. 337 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 338. 338 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 338. 339 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 339. 340 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 338.

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Die unzutreffende Anwendung der Vorschriften über die Darlegungslast und die Beweisrechtsverstöße können dazu führen, dass das Strafurteil den Ausgang des Zivilprozesses bestimmt und der Zivilrichter dem Strafurteil unreflektiert folgt. Denn wenn das Zivilgericht von einer erhöhten Darlegungslast ausgeht und die Gegenpartei den auf das Strafurteil gestützten Sachvortrag nach Ansicht des Zi­ vilgerichts nicht genügend substantiiert bestritten hat, behandelt es den Sachvor­ trag aufgrund der Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Der unstreitige Sachverhalt bedarf in diesem Fall keines Beweises und ist vom Zi­ vilrichter ohne weitere Prüfung als wahr zu behandeln.341 Aber auch die Beweis­ rechtsverstöße können zur Folge haben, dass die Entscheidung im Zivilprozess letztlich vom Ausgang des Strafverfahrens abhängt. Geht das Gericht nämlich davon aus, dass nur unter besonderen Umständen von der tatsächlichen Würdi­ gung des Strafgerichts abgewichen werden dürfe, wird es in aller Regel den straf­ gerichtlichen Feststellungen folgen, obwohl das Strafurteil nach der zutreffenden Gesetzesanwendung keinen Beweis für seine Richtigkeit begründet und das Zivil­ gericht berechtigt ist, den Sachverhalt jederzeit abweichend vom Strafgericht zu würdigen. Die Folgen dieser zu Recht stark kritisierten Rechtspraxis342 werden un­ ter verschiedenen Schlagwörtern diskutiert. So sprechen einige Autoren von einer „präjudiziellen Wirkung“343 des Strafurteils im Zivilprozess oder davon, dass der Zivilrichter das Strafurteil „prima facie“ als zutreffend behandle344 und „sich faktisch an das rechtskräftige Strafurteil gebunden fühle“345. Wieder Andere verwen­ den den Begriff des „faktischen Transfers“346 der Ergebnisse des Strafprozesses in den Zivilprozess. Unabhängig davon, wie man die Folgen der gesetzeswidrigen Rechtspraxis begrifflich einprägsam beschreiben möchte, bleibt jedenfalls fest­ zuhalten, dass sowohl die überhöhten Substantiierungserfordernisse als auch die Beweisrechtsverstöße eine Rechtsanwendung contra legem darstellen. 3. Gescheiterte Reformvorschläge Der Blick in die Praxis hat gezeigt, dass die Mehrheit der Zivilgerichte dem Strafurteil die gesetzlich normierte Bedeutung beimisst. Zugleich lässt die Recht­ sprechungsanalyse aber auch erkennen, dass ein nicht völlig unerheblicher Teil der Gerichte offenbar überhöhte Substantiierungserfordernisse annimmt und die eigene Beweiswürdigungsfreiheit entgegen § 286 Abs.  1 und 2 ZPO durch eine ungeschriebene Beweiswürdigungsregel einschränkt. Nicht zuletzt aufgrund die­ ser Tendenzen in der Rechtsprechung, dem Strafurteil eine gesetzeswidrige Be­ 341

Reichold, in: Thomas/Putzo, § 288, Rn. 5; Wagner, in: MüKo, § 138, Rn. 26. Vgl. hierzu etwa Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zi­ vilverfahren, S. 20 ff.; Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1898. 343 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 335. 344 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 335. 345 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 337. 346 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 94. 342

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deutung beizumessen347, wurde und wird immer wieder vorgeschlagen, eine Bin­ dungswirkung des Strafurteils de lege ferenda einzuführen.348 Auch der Gesetzgeber beabsichtigte vor nunmehr über zehn Jahren die Ein­ führung einer Bindungswirkung strafgerichtlicher Feststellungen für den nach­ folgenden Zivilprozess. Ein Entwurf der Bundesregierung sowie ein wortgleicher Entwurf der CDU/CSU-Fraktion und des Bundesrats hatten damals auf unter­ schiedlichem Wege (§ 415 a ZPO als Regelung über den Urkundenbeweis, § 286 Abs. 3 ZPO als Regel der Beweiswürdigung)349 eine Bindung des Zivilrichters an die im Strafurteil festgestellten Tatsachen vorgesehen: „§ 415 a Beweiskraft rechtskräftiger Strafurteile (1) Rechtskräftige Urteile über Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begründen vollen Beweis der darin für erwiesen erachteten Tatsachen. (2) Auf begründeten Antrag einer Partei ist über diese Tatsachen erneut Beweis zu er­ heben.“350 „§ 286 Abs. 3 ZPO (3) An tatsächliche Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils, auf denen dieses beruht, ist das Gericht gebunden, wenn der Grund des Anspruchs aus demselben Sachverhalt her­ geleitet wird. Eine Bindungswirkung nach Satz 1 besteht nicht, soweit das Gericht Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Feststellungen hat oder soweit Rechtsgründe eine abweichende Beweiswürdigung oder eine erneute Beweiserhebung gebieten.“351

Die vorgeschlagenen Regelungen wurden schließlich doch nicht verabschiedet.352 Obwohl man anfangs die Notwendigkeit einer Bindungswirkung heraufbeschwo­ ren hatte, distanzierte man sich im Gesetzgebungsverfahren schnell wieder von der Idee. Dies legt den Schluss nahe, dass die beiden Bindungsvorschriften übereilt in den Gesetzesentwurf aufgenommen wurden, ohne zuvor die Folgen einer solchen 347 So bezeichnet beispielsweise Foerster die Praxis einiger Gerichte, dem Strafurteil eine über das Gesetz hinausgehende Bedeutung beizumessen, als „Trennungsdilemma“, das es­ abzuschaffen gilt, Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivil­ verfahren, S. 23. 348 Vgl. zu neueren Vorschlägen Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivil­ prozess; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren. 349 Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2.  Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, wo­ bei § 415 a ZPO erga omnes-Wirkung entfalten sollte, während § 286 Abs. 3 ZPO eine Bin­ dungswirkung nur im Hinblick auf die im Strafprozess Beteiligten anstrebte, Beulke, in: Hoyer/ Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70.  Geburtstag, 663, S. 666. 350 Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2003, BT-Drucksache 15/1508, 6. 351 Gesetzesentwurf der Fraktion CDU/CSU vom 20. Mai 2003, BT-Drucksache 15/999, 3; wortgleicher Gesetzesentwurf des Bundesrats vom 28. August 2003, BR-Drucksache 15/1491, 5. 352 OLG Zweibrücken NJW-RR 2011, 496, 497; sehr kritisch zum Gesetzesentwurf Huber, ZRP 2003, 268, S.  271 f.; Völzmann-Stickelbrock, in: Prütting/Gehrlein, § 322 ZPO, Rn.  26; ausführlich zu der angestrebten Gesetzesreform Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an straf­ gerichtliche Erkenntnisse, S. 59 ff.

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Bindungswirkung und deren Zulässigkeit näher zu untersuchen.353 Insbesondere die Undifferenziertheit und Unbestimmtheit der Regelungen sowie deren Verstoß gegen das durch Art.  103 Abs.  1 GG verfassungsrechtlich garantierte rechtliche Gehör wurden im Gesetzgebungsverfahren scharf kritisiert.354 So wurde beiden Vorschriften vorgeworfen, dass die Differenzierung zwischen für erwiesen erach­ teten Tatsachen und solchen, die als wahr unterstellt wurden oder auf der Anwen­ dung des „in dubio pro reo“ Grundsatzes beruhen355, aus dem Strafurteil nicht klar ersichtlich sei.356 § 415 a ZPO differenzierte außerdem nicht zwischen tragenden und sonstigen Feststellungen und stattete sogar Feststellungen zur Person mit der Beweiswirkung aus.357 Wichtigster Kritikpunkt war jedoch der Verstoß der Rege­ lungen gegen das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG, 6 Abs. 1 EMRK. Insbesondere § 415 a ZPO sah sich diesem Vorwurf ausgesetzt.358 Denn die Bindungswirkung der im Strafurteil für erwiesen erachteten Tatsachen sollte gem. § 415 a ZPO für und gegen alle wirken359, d. h. auch zulasten des Geschädig­ ten und dritter Personen, denen im Strafprozess kein rechtliches Gehör gewährt wurde. Zwar sah die Regelung eine Möglichkeit vor, auf begründeten Antrag einer Partei erneut Beweis zu erheben. Dies setzte jedoch nach der Gesetzesbegründung, die auf § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO verwies360, voraus, dass die Partei in ihrem Antrag Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellung­ 353

Die Bundesregierung nahm nach eigenen Angaben „die verfassungsrechtlichen Bedenken […] im Hinblick auf das rechtliche Gehör zum Anlass, die Voraussetzungen für die Verwertung strafprozessualer Erkenntnisse im Zivilprozess nochmals zu überprüfen“, Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf, BT-Drucksache 15/1508, 50. 354 Vgl. hierzu beispielsweise Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 313 f.; Huber, ZRP 2003, 268, S. 271; Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Straf­ rechtsausschuss zum strafprozessualen Teil von JuMoG und JBeschlG, S. 23; Stellungnahme des Bundesrats zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drucksache 15/1508, 39 f.; Knauer/ Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 37 f., 42 f. 355 Zwar stellte § 286 Abs.  3 ZPO nicht ausdrücklich auf die für erwiesen erachteten Tat­ sachen ab; indes sollten nach der Gesetzesbegründung solche Feststellungen, die als wahr un­ terstellt wurden oder auf der Anwendung des „in dubio pro reo“ Grundsatzes beruhten, nicht von der Bindungswirkung erfasst sein, Gesetzesentwurf der Fraktion CDU/CSU vom 20. Mai 2003, BT-Drucksache 15/999, 17; Gesetzesentwurf des Bundesrats vom 28. August 2003, BRDrucksache 15/1491, 16. 356 Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 413; Huber, ZRP 2003, 268, S. 271. 357 Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2003, BT-Drucksache 15/1508, 20; kritisch hierzu Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Strafrechtsausschuss zum strafprozessualen Teil von JuMoG und JBeschlG, S. 23. 358 Stellungnahme des Bundesrats zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Druck­ sache 15/1508, 39; Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Strafrechtsausschuss zum strafprozessualen Teil von JuMoG und JBeschlG, S. 23; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 37. 359 Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2003, BT-Drucksache 15/1508, 21. 360 Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2003, BT-Drucksache 15/1508, 21.

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darlegt.361 Wäre es der im Strafverfahren unbeteiligten Partei im Rahmen ihres An­ trags jedoch nicht gelungen, das Gericht von den Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellung zu überzeugen, wäre der Partei das recht­ liche Gehör vollständig versagt worden.362 Der vorgeschlagene § 286 Abs. 3 ZPO, der immerhin darauf abstellte, dass das Zivilgericht nur bei Sachverhaltsidentität an die tragenden Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils gebunden sein sollte, und so die Bindungswirkung auf die am Strafverfahren beteiligten Personen beschränken wollte363, genügte den An­ forderungen an das rechtliche Gehör ebenfalls nicht.364 Denn auch wenn sich der zivilrechtliche Anspruch gegen einen Dritten richtet (wie beispielsweise gegen die Versicherung des Angeklagten) oder wenn der Verletzte, der lediglich als Zeuge im Strafprozess beteiligt war, zivilrechtlich gegen den Schädiger vorgeht, wird der Grund des Anspruchs aus demselben Sachverhalt hergeleitet. In beiden Fällen würde nach § 286 Abs. 3 ZPO eine Bindungswirkung eintreten, obwohl weder dem Verletzten noch dem Dritten im Strafprozess rechtliches Gehör gewährt wurde. Zwar sollte nach § 286 Abs. 3 S. 2 ZPO keine Bindungswirkung bestehen, soweit Rechtsgründe eine abweichende Beweiswürdigung oder eine erneute Beweiserhe­ bung gebieten. Diese Ausnahme sollte etwa dann gelten, wenn eine der Parteien des Zivilverfahrens am Strafprozess nicht beteiligt war und auch keine Möglich­ keit hierzu hatte (beispielsweise weil es ihr an der Nebenklagebefugnis fehlte).365 Trotz dieser Ausnahmeregelung genügte die geplante Norm den Anforderungen an das rechtliche Gehör ebenso wenig, da aufgrund der lediglich beschränkten Rechte des Nebenklägers im Strafprozess (vgl. §§ 397, 400 StPO) dem rechtlichen Gehör nicht so umfassend Rechnung getragen wird, dass dies eine Bindungswirkung des Strafurteils im Zivilprozess rechtfertigen könnte.366 Schließlich gab der Gesetz­ geber wohl in Anbetracht der gerechtfertigten Kritik die ursprünglich beabsich­ tigte Einführung einer Bindungsvorschrift auf.

361 Die Bundesregierung hielt es in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundes­ rats zum Regierungsentwurf, BT-Drucksache 15/1508, 50, für möglich, die Bindungswirkung auszuschließen, wenn der Zivilrichter Zweifel an der Richtigkeit des Strafurteils habe. Außer­ dem müsse es einer Partei, die am Strafprozess nicht beteiligt war, unabhängig von Zwei­ feln des ­Gerichts jederzeit möglich sein, die Richtigkeit der Feststellungen anzugreifen. Diese Einschränkungen haben jedoch keinen Eingang in den vorgeschlagenen Gesetzeswortlaut ge­ funden. 362 Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 37. 363 Gesetzesentwurf der Fraktion CDU/CSU vom 20. Mai 2003, BT-Drucksache 15/999, 18; Gesetzesentwurf des Bundesrats vom 28. August 2003, BR-Drucksache 15/1491, 16; Stellung­ nahme des Bundesrats zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Drucksache 15/1508, 41. 364 Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 38. 365 Stellungnahme des Bundesrats zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BT-Druck­ sache 15/1508, 41; Gesetzesentwurf des Bundesrats vom 28. August 2003, BR-Drucksache 15/1491, 16. 366 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 59 f., dort Fn. 70; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 161 f.

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1. Teil: Deutschland

IV. Begründung der gesetzlichen Lösung zugunsten der Unabhängigkeit und Bindungsfreiheit des Zivilrichters Im letzten Abschnitt der Untersuchung wurde zunächst dargestellt, wie das Strafurteil und einzelne Erkenntnisse des Strafprozesses nach der gesetzlichen Ausgangslage den Zivilprozess beeinflussen können. Der anschließende Blick in die Praxis hat gezeigt, dass einerseits die Mehrheit der Zivilgerichte dem Straf­ urteil tatsächlich den gesetzlich normierten Stellenwert einräumt, andererseits ein nicht völlig unerheblicher Teil der Rechtsprechung von der Entscheidung des Strafrichters nicht unbeeindruckt zu bleiben scheint und daher die Bedeutung des Strafurteils und insbesondere dessen Beweiswirkung überspannt. Auch die Motive zur ZPO gehen, wie bereits gesehen, davon aus, dass der Zivilrichter dem Strafur­ teil in der Regel folgen werde.367 Daher stellt sich die Frage, warum sich der deut­ sche Gesetzgeber dennoch für die Freiheit und Unabhängigkeit des Zivilrichters und gegen eine inhaltliche Bindungswirkung des Strafurteils entschieden hat und stattdessen der Ansicht war, der Zivilrichter solle „nach freier Ueberzeugung […] entscheiden, ob die von dem Strafrichter festgestellten Thatsachen […] für wahr zu erachten seien.“368 Die gesetzgeberische Entscheidung gegen eine Bindungs­ wirkung des Strafurteils beruht auf einer historischen Entwicklung, die zunächst dargestellt werden soll (1.), bevor auf die Gesichtspunkte, die für diese Entschei­ dung zugunsten der Unabhängigkeit des Zivilrichters im deutschen Recht spre­ chen, einzugehen ist (2.). Abschließend sollen mögliche Nachteile der Bindungs­ freiheit diskutiert werden (3.). 1. Historische Entwicklung Die heutige Unabhängigkeit des Zivilrichters im Hinblick auf ein rechtskräfti­ ges Strafurteil ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung. Das germanische Recht ging noch von einer Einheitlichkeit des Rechts aus, ohne zwischen Pri­ vatrecht und Öffentlichem Recht zu differenzieren369, sodass sich die Bindungs­ frage nicht stellte. Das Mittelalter war von dem Grundsatz des römischen Rechts geprägt, wonach bei Konkurrenz von Zivil- und Strafverfahren das Strafverfah­ ren zeitlich Vorrang vor dem Zivilverfahren genießen sollte, da der Strafsache als ­„publica causa“ eine größere Bedeutung zugemessen wurde und durch den Vorrang des Strafverfahrens divergierende Entscheidungen vermieden werden sollten.370 Dieser Vorrang des Strafverfahrens beruhte darauf, dass man dem Straf­ urteil eine höhere Richtigkeitsgewähr zumaß und war durch die Aussetzung des 367

Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 2. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280. 369 König, Die Bindung des Richters an präjudizielle Urteile anderer Gerichte, S. 18. 370 König, Die Bindung des Richters an präjudizielle Urteile anderer Gerichte, S. 18. 368

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Zivilverfahrens bis zum Erlass des Strafurteils sicherzustellen.371 Das Strafurteil stellte sodann ein bedeutsames Beweismittel im Zivilverfahren dar, ohne den Zi­ vilrichter jedoch zu binden.372 Die heutige Lösung beruht insbesondere auf den Entwicklungen des 19. Jahr­ hunderts.373 Die Diskussion um eine Bindungswirkung des Strafurteils nahm in dieser Zeit zu, nachdem Mitte des 19. Jahrhunderts der Grundsatz der Schriftlich­ keit im Strafprozess durch den Mündlichkeitsgrundsatz abgelöst worden war374 und dem Zivilrichter daher nicht mehr sämtliche Unterlagen zur Verfügung standen, auf die der Strafrichter seine Entscheidung gestützt hatte.375 Daher gewann die Frage nach den Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in dieser Zeit er­ heblich an Bedeutung. Allerdings beantworteten die Partikularrechte des 19. Jahr­ hunderts diese Frage nicht einheitlich, sondern sahen unterschiedlichste Lösungen im Hinblick auf das Verhältnis von Straf- und Zivilverfahren vor. So entschied sich beispielsweise das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 in Art. 8 und 9 für eine strikte Bindung des Zivilrichters sowohl an das freisprechende als auch an das ver­ urteilende Strafurteil.376 Württemberg, Baden, Kurhessen, Sachsen und Preußen maßen zwar der strafgerichtlichen Verurteilung Bindungswirkung bei, nicht je­ doch einem Freispruch.377 Auch die preußischen und norddeutschen Entwürfe einer Prozessordnung (von 1864 bzw. 1870) sahen eine Bindungswirkung des Strafur­ teils für den nachfolgenden Zivilprozess vor.378 Während die Bindungsvorschrif­ ten überwiegend als Beweisregel aufgefasst wurden, gab es auch Länder, welche die Bindung in der „Ausdehnung der Wirkungen des Kriminalurteils“ begründet­

371

König, Die Bindung des Richters an präjudizielle Urteile anderer Gerichte, S. 18. Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65.  Geburtstag, 157, S. 158 f. 373 Zur historischen Entwicklung ausführlich Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157; Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 412; Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkenntnisse, S. 10 ff. 374 Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S.  65; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2.  Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 34. 375 Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S.  69; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2.  Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 34. 376 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 158 mit weiteren Nachweisen; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutsch­ land, Österreich und der Schweiz, S. 63. 377 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280; Gaul, in: Holz­ hammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 158 mit weiteren Nach­ weisen der jeweiligen Regelungen; König, Die Bindung des Richters an präjudizielle Urteile anderer Gerichte, S. 19; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutsch­ land, Österreich und der Schweiz, S. 63 ff. 378 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280; Gaul, in: Holz­ hammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 158 mit weiteren Nach­ weisen. 372

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1. Teil: Deutschland

sahen.379 Die Bindungswirkung des Strafurteils war insbesondere in den Partiku­ larstaaten vorherrschend, die vom französischen Recht beeinflusst waren380, in dem noch heute eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil existiert.381 Gegen eine absolute Bindung des Zivilrichters, aber für eine besondere Beweiswirkung des Strafurteils im Zivilprozess hatte sich die Strafprozessordnung von Hannover vom 18. November 1850 entschieden.382 Nicht nur die Gesetzgebung der Partikularstaa­ ten, sondern auch die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe war im Hinblick auf die Bindungsfrage uneinheitlich. Während einige oberste Gerichte dem Straf­ urteil bloße Beweiswirkung zuschrieben, vertraten andere Gerichte die Auffassung, dass der Zivilrichter an das Strafurteil gebunden sei.383 Ausgangspunkt und Grundstein für die heutige Lösung war der Siebte Deut­ sche Juristentag im Jahre 1868, auf dem die Bindungsfrage kontrovers diskutiert wurde.384 Mit Bezug auf die dort vorgetragenen Argumente gegen eine Bindung des Zivilrichters entschied sich der deutsche Gesetzgeber in § 14 Abs.  2 Nr.  1 des Einführungsgesetzes zur ZPO vom 30.  Januar 1877 für eine Beseitigung der Landesvorschriften, die eine ebensolche Bindung vorsahen.385 Insbesondere der Grundsatz der freien Beweiswürdigung und die Tatsache, dass der Zivil­ richter seine Entscheidung regelmäßig ohnehin aufgrund des Strafurteils gewin­ nen werde, waren für die Entscheidung gegen eine formelle Bindungswirkung maßgeblich.386 2. Gesichtspunkte, die für eine Unabhängigkeit des Zivilrichters sprechen Der deutsche Gesetzgeber hat sich zugunsten der Bindungsfreiheit des Zivil­ richters entschieden, da Straf- und Zivilverfahren unterschiedliche Aufgaben ver­ folgen  [a)] und von widersprüchlichen Verfahrensgrundsätzen geprägt sind  [b)]. Außerdem sprechen der Anspruch auf rechtliches Gehör [c)] und die Rechte des Angeklagten im Strafverfahren [d)] gegen eine Bindungswirkung des Strafurteils. 379 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 158 m. w. N. 380 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280. 381 Vgl. ausführlich unter 2. Teil, A. I. 382 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65.  Geburtstag, 157, S. 158; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 34; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 64. 383 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 159 mit weiteren Nachweisen; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutsch­ land, Österreich und der Schweiz, S. 65 ff. 384 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 159. 385 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 159; Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 412. 386 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, S. 280.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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a) Unterschiedliche Aufgaben von Zivil- und Strafverfahren Die deutsche Lösung zugunsten einer Bindungsfreiheit des Zivilrichters kann im Einzelfall zu widersprüchlichen Entscheidungen der Zivil- und Strafgerichts­ barkeit führen. Dieser Widerspruch wird zwar oftmals als unbefriedigend emp­ funden387, ist jedoch der deutschen Rechtsordnung aufgrund der unterschiedlichen Verfahrenszwecke beider Gerichtszweige und der darauf beruhenden unterschied­ lichen Verfahrensausgestaltung388 immanent.389 Zivil- und Strafprozess müssen­ daher nicht zum selben Ergebnis kommen.390 Bevor sogleich auf diese Unterschiede in Zielsetzungen und Ausgestaltung bei­ der Verfahren einzugehen sein wird, dürfen auch deren Gemeinsamkeiten nicht unbeachtet bleiben. So tragen beispielsweise endgültige Entscheidungen sowohl im Straf-391 als auch im Zivilprozess392 zum Rechtsfrieden bei.393 Ferner dienen beide Verfahren zumindest im Ergebnis der Bewährung und Verwirklichung des jeweiligen materiellen Rechts, dessen Beachtung durch die (drohende)  gericht­ liche Durchsetzung sichergestellt wird.394 Denn nicht nur die tatsächliche, son­ dern bereits die bloße Androhung einer zwangsweisen Durchsetzung sowohl des materiellen Zivilrechts als auch des materiellen Strafrechts in einem gerichtsför­ migen Verfahren trägt dazu bei, dass die Rechtsordnung respektiert wird.395 Auch der Wahrheitsfindung als notwendige Voraussetzung einer gerechten Entschei­ dung kommt in beiden Verfahren eine wichtige Bedeutung zu.396 ­Insbesondere 387

Vgl. hierzu beispielsweise unter 1. Teil, A. IV. 3. c). Ausführlich hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. b); Foerster, Transfer der Ergebnisse von Straf­ verfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 115 ff., betont dagegen vor allem die Gemeinsam­ keiten. 389 Groß in einem Diskussionsbeitrag, Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhandlungen des 57. deutschen Juristentages, L 126. 390 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 119 ff., vertritt die Ansicht, dass die unterschiedlichen Ziele des Zivil- und Strafverfahrens einer Bindungswirkungswirkung des Strafurteils nicht entgegenstünden, da das engere Ziel des Zivilverfahrens, nämlich die Durchsetzung der subjektiven Rechte des Einzelnen, als minus im Strafverfahren, das zumindest auch den Schutz des Einzelnen bezwecke, mit enthalten sei. 391 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 3. 392 BGH NJW 1953, 1830, 1831; Vollkommer, in: Zöller, Einleitung, Rn. 39; Brehm, in: Stein/ Jonas, Vor § 1, Rn. 14; nach Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 3 ist dies je­ doch lediglich eine Konsequenz der Feststellung der subjektiven Rechte durch das Urteil und kein eigenes Ziel des Zivilprozesses. 393 In diesem Sinne auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 116. 394 Für den Strafprozess: Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn. 5; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. B, Rn. 8; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 193 f.; für den Zivilprozess: Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 5, 6; 12; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 3. 395 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 193 f.; Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 6. 396 Diese Gemeinsamkeit hebt beispielsweise auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 116 f. hervor. 388

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im ­Strafprozess stellt die Erforschung des wahren Sachverhalts ein zentrales Ver­ fahrensziel dar.397 Dennoch gilt dieses Ziel nicht uneingeschränkt398, denn es ist „kein Grundsatz der StPO, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte (§§ 245, 52 ff., 252, 81a  ff., 95 ff., 69 Abs.  3 StPO).“399 Der Strafprozess soll gleichzeitig eine „materiell richtige, prozessförmig zustande gekommene und Rechtsfrieden schaffende Entscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten“400 ermöglichen. Diese Ziele stehen häufig im Widerstreit zueinander und sind gegen­ einander abzuwägen.401 Daher wird die Suche nach der materiellen Wahrheit im Strafprozess durch die Grund- und Verfahrensrechte des Angeklagten und anderer Beteiligter begrenzt.402 Außerdem ist der im Strafurteil festgestellte Sachverhalt letztlich das Ergebnis einer persönlichen Überzeugung des Strafrichters, die nicht unfehlbar ist. Daher soll zwar mit Hilfe des Untersuchungsgrundsatzes die mate­ rielle Wahrheit ermittelt werden. Dennoch stimmt der im Strafurteil festgestellte Sachverhalt (also die prozessuale Wahrheit) nicht notwendigerweise mit der ma­ teriellen Wahrheit überein. Anders als im Strafprozess ist die Ermittlung des wah­ ren Sachverhalts im Zivilprozess kein eigentliches Verfahrensziel.403 Denn im Zi­ vilrechtsstreit besitzen die Parteien die Herrschaft über das Verfahren404 und es ist deshalb ihre Aufgabe, den Tatsachenstoff zu beschaffen und zu beweisen.405 Dies wird häufig dahingehend missverstanden, dass der Ermittlung der Wahrheit im Zi­ vilprozess keine Bedeutung zukomme.406 Richtigerweise ist die Aufklärung des tat­ sächlichen Geschehens aber eine der wichtigsten Aufgaben des Zivilrichters407 und zur Verwirklichung der subjektiven Rechte unerlässlich.408 Wie der BGH betont, besteht auch im Zivilprozess sehr wohl ein „Interesse an einer zutreffenden Tat­ 397 BVerfG NJW 1981, 1719, 1722 („Als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann.“); BVerfG NJW 1983, 1043; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 244, Rn. 11; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 3; Kühne, in: LöweRosenberg, Einl. Abschn. B, Rn. 20. 398 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 3; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 3. 399 BGH NJW 1960, 1580, 1582. 400 Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn.  4; so auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 3; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 3; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. B, Rn. 45; ausführlich hierzu BVerfG NJW 1981, 1719, 1722. 401 Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn. 4; Roxin/Schünemann, Strafverfah­ rensrecht, § 1, Rn. 3. 402 So muss die materielle Wahrheit beispielsweise zurücktreten, wenn ein Beweisverwer­ tungsverbot eingreift, Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 4; Fischer, in: Karls­ ruher Kommentar, Einleitung, Rn. 3; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. B, Rn. 36. 403 Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 25 m. w. N. 404 BVerfG NJW 1983, 1599, 1600. 405 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 397. 406 Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 25. 407 Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 25. 408 BGH NJW 2005, 291, 293.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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sachenfeststellung und damit einer materiell gerechten Entscheidung.“409 In zahl­ reichen Prozessen geht es nicht (nur) um die Lösung von Rechtsfragen, sondern vor allem um die Aufklärung des streitgegenständlichen Geschehens.410 Der Beibrin­ gungsgrundsatz beschränkt und ermöglicht gleichzeitig die materielle Wahrheits­ findung.411 Er wird häufig mit dem Begriff der „formellen Wahrheit“ umschrie­ ben412, weil die Prozessparteien den dem Zivilurteil zugrunde gelegten Sachverhalt und dessen Beweisbedüftigkeit bestimmen.413 So kann das Gericht etwa nur die Tatsachen bei seiner Entscheidung berücksichtigen, die von den Parteien vorgetra­ gen wurden.414 Außerdem hat das Gericht seiner Entscheidung eine Tatsache ohne weitere Prüfung zugrunde zu legen, wenn diese zwischen den Parteien unstreitig (§ 138 Abs. 3 ZPO) oder zugestanden ist (§ 288 Abs. 1 ZPO).415 Auch der Begriff der formellen Wahrheit ist insoweit irreführend, als er den Eindruck erweckt, dass der Beibringungsgrundsatz im Zivilprozess die Wahrheitssuche in erster Linie be­ hindere, wohingegen er eigentlich als alternative Methode der Wahrheitserfor­ schung416 die Aufklärung des Sachverhalts gerade ermöglichen soll. Im Zivilpro­ zess, in dem sich gegensätzliche Interessen gegenüberstehen, wird er für die beste Methode der Sachverhaltsaufklärung gehalten.417 Denn die Parteien haben ein In­ teresse daran, dem Gericht unter Beachtung der Wahrheitspflicht (§ 138 Abs.  1 ZPO) alle Tatsachen und Beweismittel vorzulegen, um den Verfahrensausgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen.418 Zwar ist es theoretisch denkbar, dass auch un­ wahre Tatsachen zugestanden werden, dies dürfte jedoch aufgrund der widerstrei­ tenden Interessenlage der Parteien in der Praxis nur selten geschehen.419 Obwohl Zivil- und Strafprozess also durchaus Gemeinsamkeiten besitzen, ver­ folgen sie dennoch grundlegend verschiedene Aufgaben. Diese unterschiedlichen Zielsetzungen können auch nicht mit dem Argument herabgespielt werden, dass 409

BGH NJW 2005, 291, 293. Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn.  25; so betont auch Laumen, in: Prütting/Gehrlein, § 286, Rn. 4, dass die „Herbeiführung einer der materiellen Rechtslage gerecht werdenden Entscheidung […] nur erreicht werden [könne], wenn die Sachverhaltsfeststellung der Wahrheit möglichst nahe kommt.“ 411 Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 25; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 398. 412 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 398; Leipold, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., Vor § 128, Rn. 84. 413 BGH NJW 2005, 291, 293; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 398. 414 BGH NJW 1989, 3161, 3162; Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl I, Rn.  2; Prütting, in: Prütting/Gehrlein, Einleitung, Rn. 28. 415 Reichold, in: Thomas/Putzo, § 288, Rn. 5. 416 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 398; Leipold, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., Vor § 128, Rn. 84. 417 Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl I, Rn.  3; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozess­ recht, S. 398; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 37. 418 Leipold, in: Stein/Jonas, 21. Auf., Vor § 128, Rn. 83. 419 Leipold, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., Vor § 128, Rn. 83. 410

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es in beiden Verfahren um die Durchsetzung von Ansprüchen gehe.420 Diese Argu­ mentation verkennt, dass Zivil- und Strafverfahren zwar gegebenenfalls denselben Lebenssachverhalt zu beurteilen haben, die Durchsetzung des staatlichen Straf­ anspruchs und die Verwirklichung zivilrechtlicher Ansprüche jedoch nicht mitein­ ander vergleichbar sind.421 Denn während der zivilrechtliche Anspruch das Recht bezeichnet, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen422, stellt der staatliche Strafanspruch keine „subjektive Rechtsposition des Staates“ dar.423 Der Umstand, dass eine bestimmte Strafnorm die Rechtsfolge der Strafbarkeit für ein dort beschriebenes menschliches Verhalten vorsieht, führt nicht zu einem subjekti­ ven Recht des Staates.424 Vielmehr handelt es sich bei dem sogenannten staatlichen Strafanspruch um „[d]ie aus der Justizgewährungspflicht [Herv. im Original] abzuleitende“425 Pflicht des Staates, im Interesse des individuellen Rechtsgüter­ schutzes und im Interesse der Allgemeinheit Straftaten gerichtlich zu verfolgen.426 Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs beschreibt daher lediglich die Pflicht bzw. „Zuständigkeit“427 des Staates, im öffentlichen Interesse die Verlet­ zung materieller Strafrechtsnormen festzustellen und die dafür vorgesehene Strafe durchzusetzen428 sowie den unschuldigen Angeklagten freizusprechen, wenn sich im Strafverfahren herausstellt, dass keine Straftat begangen wurde.429 Im Gegen­ satz zum Strafprozess ermöglicht der Zivilprozess dem Bürger, als Ausgleich für das grundsätzliche Verbot der Selbsthilfe430, seine subjektiven Rechte festzustellen und zu verwirklichen.431 Er verpflichtet ihn jedoch nicht, seine subjektiven Rechte 420

So Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 115, 117 f. 421 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S.  192, Rn.  65; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 2, Rn. 2; Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn. 6; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1, Rn. 11; a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 117 f. 422 So die Definition des zivilrechtlichen Anspruchs in § 194 Abs. 1 BGB. 423 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 2, Rn. 2; Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn. 6. 424 Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 2, Rn. 2. 425 Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. H, Rn. 70. 426 In diesem Sinne auch die Formulierung des BVerfG in NJW 1981, 1719, 1722: „Aus der Aufgabe des Strafprozesses, den Strafanspruch des Staates um des Rechtsgüterschutzes einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmig geordneten Verfahren durchzusetzen […]“; ähnlich Senge, in: Karlsruher Kommentar, Vor § 48, Rn.  81; Beulke, in: Satzger/ Schlucke­bier/Widmaier, Einl., Rn. 6; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. H, Rn. 70. 427 So die Formulierung bei Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 192, Rn. 65. 428 In diesem Sinne auch die Formulierung des BVerfG in NJW 1979, 2349: „Der Rechtsstaat kann nur verwirklicht werden, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden.“; ähnlich Senge, in: Karlsruher Kommentar, Vor § 48, Rn. 81; Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn. 5; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. H, Rn. 70. 429 Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn. 5. 430 Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 2. 431 BGH NJW 2005, 291, 293; BGH NJW 1953, 1830, 1831; Vollkommer, in: Zöller, Einlei­ tung, Rn. 39; Brehm, in: Stein/Jonas, Vor § 1, Rn. 5; Rauscher, in: MüKo, Einl., Rn. 8.

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in einem Gerichtsverfahren durchzusetzen.432 Denn anders als die Durchsetzung einer gesetzlich angedrohten Strafe, die ausschließlich im Wege eines prozessord­ nungsgemäßen Strafverfahrens erfolgen kann, können private Rechte, die regel­ mäßig bereits freiwillig erfüllt werden, theoretisch (und in der Praxis häufig) auch ohne gerichtliche Durchsetzung verwirklicht werden.433 Da beide Verfahrensord­ nungen trotz einiger Gemeinsamkeiten also unterschiedliche Aufgaben erfüllen, muss die Würdigung desselben Sachverhalts in beiden Verfahren nicht zum sel­ ben Ergebnis führen. b) Geltung unterschiedlicher Verfahrensgrundsätze im Zivil- und Strafverfahren Ein weiteres Argument für die Bindungsfreiheit des Zivilrichters ist die unter­ schiedliche Ausgestaltung des straf- und zivilgerichtlichen Verfahrens. Da diese von unterschiedlichen Verfahrensmaximen geprägt sind434 und unterschiedliche Methoden der Urteilsfindung vorsehen, sind divergierende Entscheidungen der Straf- und Zivilgerichtsbarkeit in der deutschen Rechtsordnung angelegt.435 Auf­ grund der Unabhängigkeit des Zivilrichters vom Ausgang des Strafverfahrens blei­ ben die zivilprozessualen Verfahrensgrundsätze auch nach Existenz eines rechts­ kräftigen Strafurteils unberührt. Zwar können und sollen nachfolgend nicht alle verfahrensrechtlichen Unterschiede dargestellt werden. Allerdings ist zumindest auf die ganz wesentlichen Gegensätze beider Verfahren kurz einzugehen: aa) Untersuchungsgrundsatz und Beibringungsgrundsatz Im Strafverfahren gilt das „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“436, das sich im Amtsermittlungsgrundsatz bzw. Untersuchungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO manifestiert437, während das Zivilverfahren vom Verhandlungs- bzw. Beibrin­ gungsgrundsatz als Ausdruck der Parteiherrschaft geprägt ist.438 Nach dem Bei­ bringungsgrundsatz haben die Parteien den entscheidungserheblichen Sachverhalt

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Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 2, Rn. 2. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 2; Weigend, Deliktsopfer und Strafver­ fahren, S. 193; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 2, Rn. 2. 434 Vollkommer, ZIP 2003, 2061; Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für FriedrichChristian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 667; Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkenntnisse, S. 119 ff. 435 Vgl. hierzu auch unter 1. Teil, A. IV. 2. a). 436 BVerfG NJW 2003, 2444, 2445. 437 BVerfG NJW 2003, 2444, 2445; BGH NJW 1984, 247, 248; 438 Krehl, in: Karlsruher Kommentar, § 244, Rn.  28; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, Einl., Rn. 10; Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl I, Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 397; Leipold, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., Vor § 128, Rn. 75. 433

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darzulegen und zu beweisen.439 Dieser Grundsatz beruht auf der Erwägung, dass für die Ermittlung eines Sachverhalts, der nur für Rechtsbeziehungen zwischen Privaten relevant ist, kein öffentliches Interesse existiert.440 Im Strafprozess, in dem dagegen ein öffentliches Aufklärungsinteresse besteht, hat das Gericht selbst alle entscheidungserheblichen Tatsachen zu ermitteln und die Wahrheit zu erfor­ schen.441 Der Untersuchungsgrundsatz führt dazu, dass die Verfahrensbeteiligten – anders als im Zivilprozess – nicht über den Streitstoff disponieren können.442 Da­ her hat deren Verhalten keinen Einfluss auf Ermittlungspflichten des Gerichts.443 Da der Zivilrichter im deutschen Recht nicht an ein strafgerichtliches Erkenntnis gebunden ist, bleibt die Herrschaft der Parteien im Zivilprozess trotz Existenz eines rechtskräftigen Strafurteils unangetastet. Ungeachtet des Strafurteils ist es weiter­ hin Sache der Parteien, den Tatsachenstoff darzulegen und zu beweisen.444 bb) Beweislastregeln Außerdem unterscheiden sich die beiden Verfahrensarten im Hinblick auf ihre Beweislastregeln erheblich.445 Im Strafprozess existieren aufgrund des Unter­ suchungsgrundsatzes keine formellen Beweisregeln446, die bestimmen würden, wen die Beweisführungslast trifft. Nach Ansicht des BGH ist der Grundsatz „in dubio pro reo“447 „keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft des Angekl. zu gewinnen vermag.“448 Al­ lerdings besteht insoweit eine Parallele zu den materiellen (bzw. objektiven) Be­ 439 BGH NJW 2005, 291, 293; Leipold, in: Stein/Jonas, 21. Aufl., Vor § 128, Rn. 75; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 398 f. 440 Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl I, Rn. 3. 441 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, S. 397. 442 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17, Rn. 5. 443 BGH NStZ-RR 2010, 236, 237; Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl I, Rn. 6. 444 Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkenntnisse, S. 121; Herrmann, Zur Bindung des Zivilrichters an Strafurteile in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 143. 445 Dazu ausführlich Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 41 f.; Rönnau, StV 2004, 455, S. 459; Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkenntnisse, S. 123 ff. 446 Einschränkend Walter, JZ 2006, 340, der davon ausgeht, dass auch im Strafverfahren „ein Teil der Beweislast unvermeidbar beim Beschuldigten“ liegt, da das Gericht trotz Geltung des Untersuchungsgrundsatzes nur ermittelt, wenn Anlass dazu besteht. 447 Hierzu BVerfG NStZ-RR 2007, 381, 382; BGH NStZ-RR 2009, 90, 91; Kühne, in: LöweRosenberg, Einl. Abschn. I, Rn.  48 ff.; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 261, Rn. 26 ff.; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 62–65; Montenbruck, In dubio pro reo aus normtheoretischer, straf- und strafverfahrensrechtlicher Sicht; Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“. 448 BGH NStZ-RR 2009, 90, 91; so auch BVerfG Beschluss vom 26. August 2008, 2 BvR 553/08, BeckRS 2008, 42275.

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weislastregeln449 im Zivilprozess, die eine Entscheidungsregel vorgeben, wenn trotz Erschöpfung aller angebotenen und verfügbaren Beweismittel ein bestimm­ ter Sachverhalt oder eine bestimmte Tatsache ungeklärt bleibt (sogenanntes „non-­ liquet“).450 Denn sowohl die objektive Beweislast im Zivilprozess als auch der Zwei­ felssatz im Strafverfahren geben dem Gericht vor, wie es bei Sachverhaltszweifeln zu entscheiden hat. Durch die Bindungsfreiheit des Zivilrichters soll ein Systembruch in Bezug auf zivilrechtliche Beweislastregeln vermieden werden.451 Eine uneingeschränkte Bin­ dung des Zivilrichters sowohl an ein verurteilendes als auch an ein freisprechen­ des Strafurteil würde nämlich das ausdifferenzierte System der zivilprozessualen­ Beweislastregeln aushebeln.452 Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Hat der Zivilrichter im Arzthaftungsprozess im Anschluss an einen Strafprozess, in dem der Arzt rechtskräftig freigesprochen wurde, über Schadensersatzansprüche des Patienten gegen den behandelnden Arzt aus Vertragshaftung zu entscheiden, wen­ det er die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten und mittler­ weile in § 630 h BGB normierten Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten an.453 Aufgrund dieser Beweislastregeln ist die Position des Patienten trotz eines Freispruchs des Arztes sehr günstig.454 Wäre hingegen der rechtskräftige Frei­ spruch bindend, würde die Klage des Patienten vor den Zivilgerichten automa­ tisch abgewiesen.455 Auch anhand des Beispiels der Unaufklärbarkeit einer Tat­ sache lassen sich die Unterschiede beider Verfahren illustrieren. Verteidigt sich der Angeklagte im Strafverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB mit seiner Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB zum Tatzeitpunkt und bestehen trotz Erschöpfung aller verfügbaren Beweismittel Zweifel an der Schuld­ fähigkeit des Angeklagten, ist dieser nach dem Zweifelsgrundsatz freizusprechen. Im Zivilverfahren ist das Ergebnis ein anderes. Da der nunmehr Beklagte die Be­ weislast für die ihm günstige Tatsache der Deliktsunfähigkeit trägt, muss er diese­ 449

In diesem Sinne Walter, JZ 2006, 340, S. 344, der den Zweifelssatz als materielle Beweis­ lastregel einordnet. 450 BGH NJW 2007, 2122, 2123; BGH NJW 1973, 2207, 2208. 451 Vollkommer, ZIP 2003, 2061; Huber, ZRP 2003, 268, S. 271. 452 Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Zi­ vilverfahrensrechtsausschuss unter Beteiligung des Verkehrsrechtsausschusses zum JuMoG, S. 25; Huber, ZRP 2003, 268, S. 272; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  134 f. und Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 62 f., 292 f. gehen davon aus, dass ein Verstoß gegen die zivilprozes­ sualen Beweislastregeln nicht bestehe, wenn lediglich das verurteilende Erkenntnis für den Zi­ vilrichter bindend sei. Um die zivilrechtlichen Beweislastregeln nicht zu konterkarieren genüge es, dass die Bindungswirkung eine weitergehende zivilrechtliche Haftung als strafrechtliche Verantwortlichkeit ermögliche, Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nach­ folgende Zivilverfahren, S. 294. 453 Reichold, in: Thomas/Putzo, Vorbem § 284, Rn. 30; vgl. hierzu ausführlich Weidenkaff, in: Palandt, § 630 h, Rn. 1 ff. 454 Huber, ZRP 2003, 268, S. 271. 455 So die frühere Rechtslage im französischen Recht, vgl. 2. Teil, A. III. 2. a).

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darlegen und beweisen.456 Konnte sich das Gericht nicht von der Deliktsunfähig­ keit des Beklagten überzeugen, geht die Unaufklärbarkeit zulasten des Beklagten und der Klage wird stattgegeben. Eine Bindungswirkung des freisprechenden Er­ kenntnisses hätte dagegen zur Folge, dass die Klage des Geschädigten abzuwei­ sen wäre. cc) Unterschiedliche Beweisverbote und Zeugnisverweigerungsrechte Weiterhin sind die strafprozessualen und zivilprozessualen Beweisverwertungs­ verbote sowie Zeugnisverweigerungsrechte nicht kongruent.457 Zwar gilt für beide Verfahren, dass außer in den Fällen eines ausdrücklich gesetzlich vorgesehenen Verwertungsverbots rechtswidrig erlangte Beweismittel nicht per se unverwertbar sind. Vielmehr wird aufgrund einer Güter- und Interessenabwägung untersucht, ob der Gesetzesverstoß bzw. der Eingriff in eine verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition gerechtfertigt werden kann.458 Dennoch muss die Abwägung nicht zum selben Ergebnis führen, da es im Zivilverfahren nicht um die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs, sondern „um den ganz anders gelagerten zivilrechtlichen Konflikt von Interessen gleichgeordneter Bürger geht.“459 Wurde bei­ spielsweise eine Partei des Zivilverfahrens als Beschuldigter im Ermittlungsver­ fahren bei einer Vernehmung nicht ordnungsgemäß über das Schweigerecht gem. §§ 163 a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO belehrt, ist die Aussage im Strafverfah­ ren nicht verwertbar.460 Dagegen kann dieselbe Aussage im Zivilverfahren trotz unterbliebener Belehrung verwertet werden, da der Hinweis auf die Selbstbelas­ tungsfreiheit nach Ansicht des BGH nicht dazu dient, den Betroffenen vor einer zivilrechtlichen Inanspruchnahme zu schützen.461 Ferner sieht das Zivilprozess­ recht Zeugnisverweigerungsrechte vor, welche die StPO nicht kennt.462 Hierunter 456

BGH NJW 1987, 121; Sprau, in: Palandt, § 827, Rn. 3. Vgl. hierzu auch Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S.  414; Netzer, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 28, S. 29; Rönnau, StV 2004, 455, S. 459. 458 Zum Zivilverfahren: BGHZ 153, 170; Greger, in: Zöller, § 286, Rn.  15 a, Balthasar, JuS 2008, 35; zum Strafverfahren: BVerfG NJW 2012, 907, 910; BVerfG NJW 2011, 2417, 2418 f.; BVerfG NJW 2011, 2783, 2784; BGH NJW 1999, 959, 961; BGH NJW 1992, 1463, 1464; BGH NJW 1983, 1570, 1571; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl, Rn. 55 a;­ Fischer, in: Karlsruher Kommentar, Einleitung, Rn. 387 ff.; Paul, NStZ 2013, 489, S. 491 ff.; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. L, Rn. 26 und mit ausführlicher Darstellung alter­ nativer Ansätze Rn. 128 ff. 459 BGHZ 153, 165, 171. 460 (Außer der verteidigte Angeklagte hat nicht rechtzeitig widersprochen oder kannte sein Schweigerecht) BGH NJW 2007, 2706, 2709; BGH NJW 1992, 1463, 1464; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 136, Rn. 20; Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 136, Rn. 26; Paul, NStZ 2013, 489, S. 492; ausführlich hierzu Gleß, in: Löwe-Rosenberg, § 136, Rn. 77 ff. 461 BGHZ 153, 165, 170  f. 462 Ausführlich dazu Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 43; Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 414; Rönnau, StV 2004, 455, S. 460. 457

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fällt etwa das Zeugnisverweigerungsrecht aus sachlichen Gründen gem. § 384 Nr. 1, Nr. 3 ZPO und das Recht, das Zeugnis gem. § 383 ZPO aufgrund eines Nä­ heverhältnisses zum Opfer der Straftat zu verweigern (wohingegen § 52 StPO die Zeugnisverweigerung nur aufgrund eines Näheverhältnisses zum Angeklagten­ zulässt).463 Aufgrund der Unabhängigkeit des Zivilrichters existiert in Bezug auf Beweis­ verbote und Zeugnisverweigerungsrechte keine Diskrepanz. Anders läge dies im Falle einer umfassenden Bindung des Zivilrichters durch das Strafurteil.464 Wäre eine solche Bindung gesetzlich vorgeschrieben, würde sich die Frage stellen, wel­ che Verfahrensordnung Priorität hat und sich gegenüber den Grundsätzen der an­ deren Ordnung durchsetzen soll.465 Eine Bindung des Zivilrichters an das Straf­ urteil wäre daher nur unter Billigung eines gewissen Systembruchs möglich, da entweder die eine oder die andere Verfahrensordnung zurücktreten müsste.466 dd) Strafprozessualer nemo tenetur-Grundsatz und Wahrheitspflicht im Zivilprozess Ein letzter verfahrensrechtlicher Unterschied, der die vorangegangene – nicht abschließende Aufzählung  – beenden soll, ist der Widerspruch zwischen straf­ prozessualer Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) und zi­ vilprozessualer Wahrheitspflicht gem. § 138 Abs.  1 ZPO. Die Selbstbelastungs­ freiheit, die in Art.  14 Abs.  3  g des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) und Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK467 verbürgt und ver­ fassungsrechtlich durch die Menschenwürde, das Persönlichkeitsrecht und das Rechtsstaatsprinzip garantiert ist (Art.  1 Abs.  1, 2 Abs.  1, 20 Abs.  3 GG), stellt 463 Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 43; Rönnau, StV 2004, 455, S. 460. 464 Netzer, NJW Sonderheft zum 2.  Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 28, S.  29; a. A. Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 138 f.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 131 mit der Begründung, dass die Beweisverbote im Strafverfahren strenger als im Zivilverfahren ausgestaltet seien und eine Bindungswirkung daher keine Nachteile für den Betroffenen bringe. Dies trifft jedoch nur dann zu, wenn die Bindungswirkung des Strafurteils ausschließlich zulasten des Angeklagten geht. Im Falle einer umfassenden Bindungswirkung des Strafurteils könnte sich der Angeklagte auf den für ihn günstigen Freispruch berufen. Dies würde zwar nicht zu seinem Nachteil, je­ doch zum Nachteil des Geschädigten gehen. 465 Unproblematisch sieht Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 129 f. die abweichenden Zeugnisverweigerungsrechte. Dies wird da­ mit begründet, dass eine Zeugenaussage im Strafverfahren auch im Wege des Urkundsbewei­ ses verwertet werden dürfe, sodass das Zeugnisverweigerungsrecht der ZPO ohnehin leer liefe; ähnlich Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 139. 466 Dies erkennt auch Netzer, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 28, S. 29. 467 EGMR NJW 2010, 213, 215; Schädler/Jakobs, in: Karlsruher Kommentar, Art. 6 EMRK, Rn. 28; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Art. 6 EMRK, Rn. 4.

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1. Teil: Deutschland

einen zentralen Bestandteil eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens dar.468 Die Strafprozessordnung gibt dem Beschuldigten daher ein umfassendes Schweige­ recht (vgl. §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163 a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1, 2 StPO).469 Die Zivilprozessordnung sieht dagegen vor, dass die Parteien ihre Erklä­ rungen vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben haben, § 138 Abs. 1 ZPO. Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, gelten als zugestanden, wenn nicht die Absicht, sie bestreiten zu wollen, aus den übrigen Erklärungen der Par­ tei hervorgeht, § 138 Abs. 3 ZPO. Während sich der Angeklagte also im Strafver­ fahren nicht selbst belasten muss und seine Aussage (auch teilweise) verweigern darf, besteht im Zivilprozess die Pflicht, sich vollständig und wahrheitsgemäß zu erklären. Zwar besteht auch im Zivilverfahren ein Schweigerecht, wenn sich der Betroffene andernfalls selbst einer Straftat bezichtigen müsste, jedoch profitieren die Parteien nicht von einem „echten“ Schweigerecht wie im Strafverfahren.470 Denn die Weigerung einer Partei, sich vernehmen zu lassen, darf der Zivilrichter zu deren Lasten würdigen.471 Im Strafverfahren wäre hingegen die Verwertung des Schweigens zulasten des Beschuldigten unzulässig.472 Auch hier verhindert folg­ lich die Unabhängigkeit und Bindungsfreiheit des Zivilrichters eine Kollision der unterschiedlichen Verfahrensgrundsätze.473 c) Anspruch auf rechtliches Gehör unbeteiligter Dritter Schließlich sichert die Bindungsfreiheit des Zivilrichters auch den verfassungs­ rechtlich garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK, der auf der Pflicht zur Wahrung der Menschenwürde beruht474, und das Recht auf ein faires Verfahren, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprin­ zip, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK.475 Nach der Rechtsprechung des Bun­ desverfassungsgerichts gewährt 468 BVerfG NJW 1981, 1431; BGH NStZ 1995, 555; BGH NJW 1992, 2304, 2305; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25, Rn. 1; umfassend hierzu Diemer, in: Karlsruher Kom­ mentar, § 136, Rn. 10 ff., und Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. J, Rn. 87 ff. 469 BGH NJW 1992, 2304, 2305. 470 Stadler, in: Musielak, § 138, Rn. 3. 471 BGHZ 153, 165, 172. 472 Soweit der Angeklagte die Einlassung vollständig verweigert, BVerfG NStZ 1995, 555; BGH NJW 1974, 2295, 2296; Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschn. J, Rn. 91 f.; MeyerGoßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 261, Rn. 16 mit weiteren Nachweisen. 473 Rönnau, StV 2004, 455, S. 459; Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkenntnisse, S.  129 ff.; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 137 f. hält Bedenken nur für den Fall gerechtfertigt, dass das Gesetz eine Bindungswirkung auch zulasten des Geschädigten oder Dritten vorsähe; auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 128 sieht im Falle einer bloß einseitigen Bindungswirkung des Strafurteils zulasten des Angeklagten keine Nachteile für den strafrecht­ lich verurteilten Beklagten im Zivilverfahren. 474 BVerfG NJW 1959, 427, BVerfG NJW 1958, 665; Rauscher, in: MüKo, Einl., Rn. 215. 475 BVerfG NJW 1984, 2403; BVerfG NJW 1981, 1719, 1722; BVerfG NJW 1975, 103.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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„Art. 103 I GG […] dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, im Verfahren zu Wort zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern […]. Dem entspricht die grundsätzliche Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen […].“476

Die Bindungsfreiheit des Zivilrichters garantiert, dass das Strafurteil nicht zulasten von Personen wirkt, die am Strafverfahren nicht beteiligt waren und ihr prozessuales Recht auf rechtliches Gehör nicht ausüben konnten. Dabei kann es sich sowohl um den Geschädigten477 als auch um völlig außenstehende Dritte, wie etwa Versiche­ rungen, handeln. Würde das Strafurteil auch zulasten desjenigen wirken, der sich im Hinblick auf die gegen ihn geltend gemachten Ansprüche nicht verteidigen konnte, verstieße dies gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und gegen das Recht auf ein faires Verfahren.478 Denn um dem Äußerungsrecht der Parteien wirksam Rech­ nung zu tragen, darf „[d]as Gericht […] nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten […].“479 Werden der gerichtlichen Entscheidung dagegen solche Tatsachen und Beweis­ergebnisse zugrunde gelegt, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten weder im Strafprozess noch im Zivilprozess erklären konnten, ist der Gehörsanspruch verletzt.480 476

BVerfG NJW 1983, 2762, 2763. Fraglich ist, ob das rechtliche Gehör des Geschädigten dadurch gewahrt wird, dass dieser als Nebenkläger im Strafprozess aufgetreten ist. Dies kann vorliegend dahinstehen, darf jedoch durchaus bezweifelt werden, vgl. hierzu Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 160 ff.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 59 f. 478 In diesem Sinne auch Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S.  412, 413; Rönnau, StV 2004, 455, S. 457; Knauer/Wolf, StraFo 2003, 365; Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme der BRAK zu JuMoG und JBeschlG, S. 23; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 126 ff., und Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 59 ff., die beide zwischen „symmetrischer“ Bindung (Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 126; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S.  60) und „asymmetrischer“ Bindung (Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 130; Foerster, Trans­ fer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S.  27) unterscheiden. „Symmetrische“ Bindungswirkung bedeutet, dass das Strafurteil unabhängig davon, ob es sich um eine Verurteilung oder einen Freispruch handelt, sowohl zugunsten und zulasten des Ange­ klagten als auch zugunsten und zulasten Verletzter und Dritter im Zivilprozess wirkt, ­Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 60; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  126 f. „Asymmetrische“ Bin­ dungswirkung meint dagegen, dass nur die strafrechtliche Verurteilung zulasten des Verurteil­ ten Bindungswirkung im späteren Zivilprozess entfaltet, Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 130; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 28. Beide Autoren sind der Ansicht, dass nur die symmetrische Bindung, also eine Bindung, die auch zulasten von am Strafprozess unbeteiligten Dritten wir­ ken würde, gegen das Recht auf rechtliches Gehör verstoße. 479 BVerfG NJW 1983, 2762, 2763; so auch BVerfG NJW 1994, 1210. 480 VfGH JBl. 1991, 104, 107; BVerfG NJW 2002, 1334; BVerfG NJW 1994, 1210; BVerfG NJW 1983, 2762, 2763; Greger, in: Zöller, Vor § 128, Rn. 6; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, Grdz § 128, Rn. 42. 477

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1. Teil: Deutschland

Dass eine umfassende Bindungswirkung des Strafurteils zulasten Dritter verfas­ sungsrechtlich problematisch wäre, zeigt eine Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1990.481 Anders als der deutsche Gesetz­ geber hatte sich der österreichische Gesetzgeber durch Einführung des § 268 öZPO vom 1. August 1895 für die Bindungswirkung in Bezug auf ein verurteilendes Strafurteil entschieden.482 § 268 öZPO bestimmte: „Wenn die Entscheidung von dem Beweise und der Zurechnung einer strafbaren Handlung abhängt, ist der Richter an den Inhalt eines hierüber ergangenen rechtskräftigen verurteilenden Erkenntnisses des Strafgerichtes gebunden.“483

Die österreichischen Gerichte legten § 268 öZPO weit aus und sahen von der Bin­ dung des Strafurteils im Zivilverfahren auch Dritte erfasst, die nicht am Strafver­ fahren beteiligt waren.484 Der österreichische Verfassungsgerichtshof hob darauf­ hin § 268 öZPO mit der Begründung auf, dass die Auslegung der Norm gegen das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoße, da die Bindungs­ wirkung auch Parteien des Zivilverfahrens erfasse, denen kein rechtliches Gehör als Beteiligte im Strafverfahren gewährt wurde.485 In Reaktion auf die Aufhebung des § 268 öZPO durch den Verfassungsgerichtshof vertritt der Oberste Gerichtshof (OGH) nunmehr die Auffassung: „Die Rechtskraft wirkt also derart, daß der Verurteilte das Erkenntnis gegen sich gelten lassen muß, es wirkt somit für den Rechtsbereich des Verurteilten, bezogen auf diesen Rechtsbereich aber gegen jedermann. Damit kann sich aber im nachfolgenden Rechtsstreit niemand gegen eine andere Partei darauf berufen, er habe eine Tat, derentwegen er vom Strafgericht rechtskräftig verurteilt wurde, nicht begangen, ganz unabhängig davon, ob diese andere Partei am Strafprozeß beteiligt und bejahendenfalls, welche prozessuale Stellung ihr in diesem Verfahren eingeräumt war.“486

Danach wirkt das verurteilende Strafurteil nur noch zulasten des Angeklagten, nicht aber zulasten Dritter, die am Strafprozess nicht beteiligt waren.487 d) Wahrung der Rechte des Angeklagten im Strafverfahren Durch die Bindungsfreiheit des Zivilrichters wird außerdem garantiert, dass das Strafverfahren ausschließlich die Aufklärung der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat zum Gegenstand hat. Dadurch wird dem, insbesondere im Interesse des Be­ 481 VfGH JBl. 1991, 104; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Sym­ posium 2003, 33, S. 35. 482 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157. 483 So zitiert in VfGH, JBl. 1991, 104, 105. 484 VfGH JBl. 1991, 104, 106; Fasching, in: Gottwald, Festschrift für Ekkehard Schumann zum 70. Geburtstag, 83, S. 84 mit weiteren Nachweisen. 485 VfGH, JBl. 1991, 104, 107. 486 OGH JBl. 1996, 117, 124. 487 OGH JBl. 1996, 117, 124; Fasching, in: Gottwald, Festschrift für Ekkehard Schumann zum 70. Geburtstag, 83, S. 86.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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schuldigten488 liegenden, Beschleunigungsgrundsatz, der in Art. 6 Abs. 1 EMRK und im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 20 Abs. 3 GG) verankert ist489, Rechnung getragen. Dieser Grundsatz ist vor allem in Haftsachen von elementarer Bedeutung.490 Eine Bindungswirkung des Strafurteils im nach­ folgenden Zivilprozess könnte zur Folge haben, dass sich das Strafverfahren ver­ zögert.491 Denn der Angeklagte, der sich im Falle einer Bindungswirkung nicht nur gegen die Anklage verteidigen müsste, sondern darüber hinaus versuchen würde, auch die negativen Folgen des Strafurteils für das Zivilverfahren abzuwehren, wäre unter Umständen einer Art doppelten Verteidigung ausgesetzt.492 Dies könnte sein Recht auf effektive Verteidigung im Strafverfahren beeinträchtigen. Eine Verzöge­ rung des Strafverfahrens droht insbesondere bei einer Vielzahl von Geschädigten (etwa in Prospekthaftungs- oder Produkthaftungsfällen), wenn diese in großer Zahl Nebenklage erheben und sich der Angeklagte ohnehin zahlreichen „Anklägern“ gegenübersieht.493 Bereits heute wird kritisiert, dass Strafverfahren häufig dazu missbraucht werden, den Zivilprozess vorzubereiten.494 Für den Geschädigten kann es nämlich interessant sein, vor der zivilprozessualen Klageerhebung Anzeige zu erstatten, um die Staatsanwaltschaft, die aufgrund des Legalitätsprinzips zu Ermitt­ lungen verpflichtet ist (§ 152 Abs. 2 StPO), zur Untersuchung des Sachverhalts zu veranlassen.495 So profitiert der Geschädigte etwa bei komplexen Wirtschaftsstraf­ sachen von einer kostenlosen Klärung komplizierter Fragen im Strafverfahren.496 488 Nach BGH NJW 1976, 116, 117 dient das Beschleunigungsgebot auch dem öffentlichen Interesse; so auch Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl., Rn. 160. 489 BVerfG NStZ 2006, 680, 681; BGH Urteil vom 9. Oktober 2008, 1 StR 238/08, BeckRS 2008, 22239, Rn. 11. 490 Dies ergibt sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 EMRK, BVerfG NJW 2006, 677, 678; BVerfG NJW 1980, 1448 f.; BGH Urteil vom 9. Oktober 2008, 1 StR 238/08, BeckRS 2008, 22239, Rn. 11 f.; Schultheis, in: Karlsruher Kommentar, § 121, Rn. 20; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 121, Rn. 1; Beulke, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Einl., Rn. 66. 491 Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Zi­ vilverfahrensrechtsausschuss unter Beteiligung des Verkehrsrechtsausschusses zum JuMoG, S. 25; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 39; Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 413; a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfah­ ren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 71 ff. 492 Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Zivil­ verfahrensrechtsausschuss unter Beteiligung des Verkehrsrechtsausschusses zum JuMoG, S. 25; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33. S. 39; Lange/ Müller, ZRP 2003, 410, S. 413. a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 201 ff. mit der Begründung, dass der Ausgang des Strafverfah­ rens nicht von der Verteidigung des Angeklagten abhänge, da das Strafverfahren der Aufklärung der Wahrheit verpflichtet sei und der Angeklagte lediglich ein Recht habe, sich zu verteidigen. Dies entspricht indes nicht der strafprozessualen Realität. Das Gericht kann den Sachverhalt häufig nur dann aufklären, wenn es durch Beweisanträge des Angeklagten oder dessen Vertei­ diger zur Aufklärung angeregt wird. 493 Herrmann, ZIS 2010, 236, S. 242. 494 In diesem Sinne Hamm, NJW 1996, 2981; Groß, GA 1996, 151. 495 Groß, GA 1996, 151. 496 Hamm, NJW 1996, 2981.

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1. Teil: Deutschland

Außerdem kann das Strafverfahren, insbesondere aufgrund von Akteneinsichts­ rechten, zur Beschaffung von Beweismitteln dienen, die im Zivilverfahren nur un­ ter Schwierigkeiten zu erlangen wären.497 Dieses Missbrauchsrisiko und die damit einhergehende Belastung des Angeklagten würde durch eine gesetzlich vorgese­ hene Bindungswirkung deutlich erhöht. Aber auch andere Institute, die zu einer schnelleren Beendigung des Strafverfah­ rens und damit zur effizienteren Verfahrensgestaltung führen, könnten durch eine Bindungswirkung beeinträchtigt werden.498 So könnte das Interesse des Angeklag­ ten an einer Verständigung gem. § 257 c StPO499 oder an einem Rechtsmittelver­ zicht500 deutlich zurückgehen, wenn sich dies im nachfolgenden Zivilverfahren zu seinen Lasten auswirkt. Zwar wird der Angeklagte auch ohne eine rechtliche Bin­ dungswirkung des Strafurteils sein Augenmerk immer auch darauf richten, wel­ che zivilrechtlichen Folgen sein strafprozessuales Verhalten, wie etwa ein Ge­ ständnis oder ein Rechtsmittelverzicht haben könnte. Denn die Erkenntnisse des Strafprozesses, insbesondere ein Geständnis des Angeklagten, können unabhän­ gig von einer förmlichen Bindung des Zivilgerichts an das Strafurteil jederzeit im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung im Zivilprozess berücksichtigt werden.501 Allerdings liegt es nahe, dass sich eine gesetzlich normierte Bindungs­ wirkung des Strafurteils erst recht auf das prozessuale Verhalten des Angeklagten und anderer Verfahrensbeteiligter, wie beispielsweise des Nebenklägers, auswirken dürfte.502 Denn wenn das Zivilgericht an die tatsächlichen Feststellungen des Straf­ urteils gebunden wäre, würde sich der Angeklagte noch gründlicher als bisher über­ legen, ob er tatsächlich ein Geständnis im Strafprozess ablegen bzw. einen Rechts­ mittelverzicht erklären möchte, mit der Folge, dass damit auch seine zivilrechtliche Verurteilung besiegelt wäre. Auch dürfte zu erwarten sein, dass ein Nebenkläger im Hinblick auf die mögliche Bindungswirkung des Strafurteils alle Rechtsmittel aus­ schöpfen würde, um eine Verurteilung des Angeklagten zu erreichen.503 497

BVerfG NJW 2007, 1052, 1053; Hamm, NJW 1996, 2981. Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 668; a. A. Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivil­ prozess, S. 143 ff., der diese Befürchtungen für unbegründet hält. 499 Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Zivil­ verfahrensrechtsausschuss unter Beteiligung des Verkehrsrechtsausschusses zum JuMoG, S. 25; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 39 f.; Rönnau, StV 2004, 455, S. 460 f.; Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme der BRAK zu JuMoG und JBeschlG, S. 24; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilver­ fahren, S. 436 geht dagegen davon aus, dass eine Bindungswirkung sich positiv auf die seiner Ansicht nach zu kritisierende Verständigungspraxis auswirken würde, da eine Bindungswirkung den Untersuchungsgrundsatz stärke und den Angeklagten an falschen Geständnissen hindere. 500 Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 39; Rönnau, StV 2004, 455, S. 461. 501 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. c). 502 So auch die Befürchtung von Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPOSymposium 2003, 33, S. 39. 503 Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 39. 498

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Eine Bindungswirkung könnte außerdem den Rechtsschutz des Angeklagten im späteren Zivilverfahren erschweren. Da eine Verteidigung im Strafverfahren nur nach Maßgabe des § 140 StPO nötig ist, könnte es passieren, dass der Ange­ klagte ohne Verteidiger vor dem Strafrichter verurteilt wird, dann aber im Zivilver­ fahren aufgrund des hohen Streitwerts vor dem Landgericht verklagt wird.504 Im Landgerichtsverfahren bestünde zwar gem. §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG i. V. m. 78 Abs. 1 ZPO Anwaltszwang, jedoch wäre der Ausgang des Zivilverfahrens durch den Rechtsanwalt aufgrund der Bindungswirkung durch das Strafurteil kaum mehr zu beeinflussen.505 3. Mögliche Nachteile der Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten der Bindungsfreiheit Nachdem soeben die Gründe dargelegt wurden, die gegen eine gesetzliche Bindungswirkung des Strafurteils und für die Freiheit des Zivilrichters bei der Beurteilung desselben Sachverhalts sprechen, werden im Folgenden mögliche Nachteile der Bindungsfreiheit diskutiert. Dabei soll es um die am häufigsten vor­ gebrachten Punkte der Effizienz und Prozessökonomie [a)], der Wahrheitsermitt­ lung [b)], des Interesses einer geordneten Rechtspflege und des Ansehens der Jus­ tiz [c)], des Opferschutzes [d)] und der Rechtssicherheit [e)] gehen. a) Nachteilige Auswirkungen der Bindungsfreiheit auf Effizienz und Prozessökonomie Der Umstand, dass das Strafurteil keine Bindungswirkung entfaltet, sodass der Sachverhalt, der bereits Gegenstand des Strafprozesses war, vor den Zivilgerichten erneut aufzuklären ist, könnte sich zulasten der Effizienz und Prozessökonomie aus­ wirken.506 Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich Aspekte wie die Beschleuni­ 504 Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 672; Rönnau, StV 2004, 455, S. 461. 505 Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 672; er ist daher der Ansicht, dass im Falle einer gesetzlich vorgeschrie­ benen Bindungswirkung dem Angeklagten auch ein Pflichtverteidiger im Strafverfahren bei­ zuordnen sei, da der Angeklagte ohne anwaltlichen Beistand nicht die zivilrechtlichen Folgen der strafrechtlichen Verurteilung überblicken könne; a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 407 ff., der darin kein Problem sieht. 506 Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2003, BT-Drucksache 15/1508, 20; Gesetzesentwurf der Fraktion CDU/CSU vom 20. Mai 2003, BT-Drucksache 15/999, 12; Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 411; Netzer, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPOSymposium 2003, 28, S. 29; Oehlerking, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Sym­ posium 2003, 30, S. 31; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 53; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 151 f.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 92 ff.

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1. Teil: Deutschland

gung und Kosten des Zivilverfahrens507 sowie der Justizhaushalt im Allgemeinen508 zusammenfassen. Das Zivilverfahren würde durch eine Bindungswirkung des Straf­ urteils zweifelsfrei beschleunigt und kostengünstiger, da eine weitere Beweisauf­ nahme entbehrlich wäre. Denn nach geltendem Recht müssen sich die Parteien des Zivilverfahrens nicht auf die Verwertung des Strafurteils oder einzelner Urkunden aus den Strafakten beschränken, sondern können jederzeit eine erneute Zeugenein­ vernahme beantragen.509 Wenn man so argumentiert, muss allerdings gleichzeitig berücksichtigt werden, dass sich die Belastungen im Fall einer Bindungswirkung gegebenenfalls in das Strafverfahren verlagern könnten510, sodass sich nicht zwei­ felsfrei feststellen lässt, ob insgesamt eine Effizienzsteigerung im Hinblick auf die gesamte Verfahrensordnung zu erreichen wäre. Die prozessökonomischen Nach­ teile der Bindungsfreiheit federt das deutsche Recht außerdem dadurch ab, dass das Strafurteil und einzelne im Strafverfahren gewonnene Beweisergebnisse im Zi­ vilrechtsstreit verwertbar sind. Abschließend bleibt festzuhalten, dass prozessöko­ nomische Erwägungen im Verfahrensrecht keinen Selbstzweck darstellen dürfen, da die unabdingbaren verfahrensrechtlichen Vorgaben in jedem Fall gegenüber Interes­ sen der Zeit-, Arbeits-, und Kostenersparnis vorrangig sind.511 Diese unabdingbaren Verfahrensprinzipien können nicht mit der Begründung hintan gestellt werden, es bestehe ein Bedürfnis nach einem schnelleren und effizienteren Verfahrensablauf.512 b) Verzicht auf bessere Wahrheitsermittlung durch weitergehende Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens? Auch das häufig vorgebrachte Argument der Richtigkeitsgewähr des Strafurteils bzw. der Überlegenheit des Strafprozesses513, das auf der Erwägung beruht, das Strafverfahren ermittle dank des Untersuchungsgrundsatzes und weitergehender Erkenntnismöglichkeiten den Sachverhalt besser und gründlicher, spricht nicht zwingend für eine Bindungswirkung des Strafurteils.514 Zwar ist zuzugeben, dass 507 Oehlerking, NJW Sonderheft zum 2.  Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 30, S.  31; Rönnau, StV 2004, 455, S. 456. 508 Vollkommer, ZIP 2003, 2061. 509 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a). 510 Vgl. hierzu soeben unter 1. Teil, A. IV. 2. d). 511 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.  55; auch­ Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 28 geht davon aus, dass eine Beurteilung anhand von Effizienzgesichtspunkten nicht zielführend sei, da die Effizienz eines Verfahrens nicht zu dessen „Funktion“ gehöre. 512 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 55. 513 Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2003, BT-Drucksache 15/1508, 20, 21; Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 413; Oehlerking, NJW Sonderheft zum 2. Hannovera­ ner ZPO-Symposium 2003, 30, S. 31. 514 In diesem Sinne auch Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Ge­ burtstag, 157, S. 166, 167; Lange/Müller, ZRP 2003, 410, S. 413; Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 667; Rönnau, StV 2004, 455, S. 456; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 146 f.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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der Strafprozess eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung erwarten lässt, wenn es um Erkenntnisse geht, die nur durch strafprozessuale Eingriffsbefugnisse (ins­ besondere im Ermittlungsverfahren) erlangt werden können.515 Da die im Straf­ verfahren gewonnenen Beweisergebnisse ohnehin im Zivilverfahren berücksich­ tigt werden können, besteht jedoch kein Bedürfnis nach einer Bindungswirkung des Strafurteils.516 Um von den erweiterten Methoden der Wahrheitsermittlung im Strafprozess zu profitieren, genügt es, einzelne Beweismittel des Strafverfahrens beizuziehen.517 Soweit nicht besondere strafprozessuale Eingriffsbefugnisse in Rede stehen, kann der These, wonach das Strafverfahren grundsätzlich besser als der Zivilpro­ zess zur Sachverhaltsaufklärung geeignet sei, nicht gefolgt werden.518 Denn, wie bereits dargestellt519, strebt auch das Zivilverfahren die Erforschung der Wahr­ heit an. Aufgrund der widerstreitenden Interessenlage der Parteien wird der von der Wahrheitspflicht flankierte Verhandlungsgrundsatz vom Gesetzgeber für die beste Methode der Sachverhaltsermittlung im Zivilrechtsstreit gehalten.520 Zum Teil wird sogar vertreten, dass der Zivilprozess dem Strafprozess im Hinblick auf die Sachverhaltsaufklärung überlegen sei.521 So besäßen beispielsweise bestimmte Zeugen (darunter Opferzeugen, Kronzeugen und Polizeibeamte) im Strafverfah­ ren einen unberechtigten „Vertrauensvorschuss“.522 Auch die im Zivilprozess, im Gegensatz zum Strafprozess523, übliche Protokollierung veranschauliche die Über­ legenheit des Zivilverfahrens.524 Schließlich würden bestimmte Beweisanträge im Strafprozess „exzessiv“ abgelehnt, während denselben Anträgen im Zivilverfah­ ren in der Regel entsprochen werde525, obwohl in beiden Verfahrensarten dieselben Ablehnungsgründe gelten.526 515

In diesem Sinne auch Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1906; Geipel, ZAP Fach 13, 1777. So auch das Argument gegen eine Bindungswirkung des Strafurteils im französischen Recht, vgl. 2. Teil, A. VIII. 2. a). 517 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. c). 518 In diesem Sinne beispielsweise auch Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1904; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2.  Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S.  36 f.; a. A. Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 2, wonach der Strafprozess dem Zivilprozess insoweit generell über­ legen sei. 519 Vgl. hierzu bereits unter 1. Teil, A. IV. 2. a). 520 Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl I, Rn.  3; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozess­ recht, S. 398; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 37. 521 Hierzu ausführlich Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1898 ff.; Geipel, ZAP Fach 13, 1777. 522 Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S.  1901 ff.; speziell zum Opferzeugen Meyer-Mews, NJW 2000, 916; Eschelbach, in: Graf, § 261, Rn. 55. 523 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. b). 524 Geipel, ZAP Fach 13, 1777, S. 1785. 525 Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1905 m. w. N. und Geipel, ZAP Fach 13, 1777, S. 1786 ff. am Beispiel des Ablehnungsgrundes der bedeutungslosen Tatsache. 526 Im Zivilverfahren gelten § 244 Abs. 3 und 4 StPO analog BGH NJW-RR 2013, 9, 10; BGH NJW 1970, 946, 949 f.; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 286, Rn. 27; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 284, Rn. 4. 516

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1. Teil: Deutschland

Zuletzt bleibt festzuhalten, dass auch für das Strafurteil keine Richtigkeits­ gewähr existiert. Trotz des im Strafverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsat­ zes und der weitreichenden Eingriffsbefugnisse im Ermittlungsverfahren muss das Strafurteil nicht zwingend der Wahrheit entsprechen. Obwohl es ein zentrales An­ liegen des Strafprozesses darstellt, den wahren Sachverhalt zu ermitteln, wird die Wahrheitssuche durch andere Verfahrensziele beschränkt.527 Außerdem kann auch der Untersuchungsgrundsatz nicht garantieren, dass „sämtliche Tatsachen und Beweismittel gefunden und damit eine absolute Wahrheit ans Tageslicht gebracht wird.“528 Schließlich ist das Strafurteil gem. § 261 StPO das Ergebnis einer per­ sönlichen Überzeugung des Richters, die ebenso wie die Überzeugung des Zivil­ richters falsch sein kann. Da dies auch die Stimmen in der Literatur erkennen, die eine Bindungswirkung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess de lege ferenda befürworten, schlagen sie bestimmte Ausnahmen vor, in denen die Bin­ dungswirkung nicht zum Tragen kommen soll.529 c) Beeinträchtigung des Interesses einer geordneten Rechtspflege und des Ansehens der Justiz? Fraglich ist, ob die Bindungsfreiheit des Zivilrichters, die unter Umständen zu widersprüchlichen Entscheidungen von Straf- und Zivilgericht führen kann, geeig­ net ist, die geordnete Rechtspflege und das Ansehen der Justiz zu beeinträchtigen.530 So wird argumentiert, dass das Vertrauen der Bürger in die Rechtspflege bzw. in die Autorität der Gerichte erschüttert würde, wenn der Zivilrichter im Hinblick auf den­ selben Sachverhalt zu einem anderen Ergebnis als der Strafrichter gelangen dürfe.531 Diese Befürchtungen sind unbegründet. Erstens wird die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen dadurch abgemildert, dass eine Berücksichtigung des Strafurteils durch den Zivilrichter möglich ist.532 Dieser kennt also bei seiner Entscheidung die vorausgegangene Entscheidung des Strafrichters und kann sich mit dieser auseinan­ dersetzen. Zweitens ist ein etwaiger Widerspruch aufgrund der unterschiedlichen 527

Vgl. hierzu bereits unter 1. Teil, A. IV. 2. a). Leipold, in: Stein/Jonas, Vor § 128, 21. Aufl., Rn. 84. 529 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S.  259 ff.: Keine Bindung de lege ferenda bei Vorliegen strafprozessualer Wiederaufnahme­ gründe; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 187: keine Bin­ dung de lege ferenda bei Zweifeln des Gerichts an der Richtigkeit und Vollständigkeit der straf­ gerichtlichen Feststellungen. 530 In diesem Sinne etwa Vollkommer, ZIP 2003, 2061, Fn. 5; Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 53; Bruns, Festschrift für Friedrich Lent zum 75.  Geburtstag, 107; Koch, Ist der Strafrichter an­ Zivilurteile gebunden?, S.  44; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivil­ prozess, S. 149; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilver­ fahren, S. 88. 531 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  149; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 88. 532 Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 160. 528

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Verfahrensgrundsätze und Zwecke beider Verfahren der Rechtsordnung von vor­ neherein immanent. Die geordnete Rechtspflege und das Ansehen der Justiz leiden nicht, da Straf- und Zivilverfahren aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung von vorneherein nicht zum selben Ergebnis kommen müssen.533 d) Kritik im Hinblick auf den Opferschutz Häufig wird gegen die Unabhängigkeit des Zivilrichters außerdem das Argument des Opferschutzes ins Feld geführt.534 Dieser Kritik ist zuzugeben, dass der Zivil­ richter den Antrag auf Vernehmung von Zeugen, die bereits im Strafprozess gehört wurden, ebenso wie einen Antrag auf Vernehmung eines neuen Zeugen nicht mit dem Hinweis auf das Strafurteil ablehnen darf.535 In diesem Fall kann der Verletzte die zivilrechtliche Verurteilung des Schädigers also nicht ohne weitere Beweisauf­ nahme alleine unter Berufung auf das Strafurteil erreichen. Allerdings kommt es im Zivilprozess keineswegs immer zu einer doppelten Beweiserhebung.536 Überdies kann eine umfassende Bindungswirkung des Strafurteils nicht nur zu­ lasten des Angeklagten, sondern auch zulasten des Geschädigten wirken und muss daher aus Opferschutzgesichtspunkten nicht zwingend vorteilhaft sein. Zwar wird dem Geschädigten eine zweite Beweisaufnahme erspart. Dies kann aber, wie ge­ sehen, auch dazu führen, dass der Geschädigte nicht mehr in den Genuss der ihm günstigen zivilprozessualen Beweislastregeln kommt. Eine Bindungswirkung kann also auch dazu führen, dass dem Geschädigten „Steine statt Brot“537 gege­ ben werden.538 Daher vertreten einige Stimmen in der deutschen Literatur neuer­ dings eine asymmetrische Bindungswirkung.539 Nach ihren Vorschlägen würde das Strafurteil nur zugunsten, nicht aber zulasten des Geschädigten wirken, da nur das verurteilende Erkenntnis, nicht aber der Freispruch den Zivilrichter binden würde. Außerdem relativiert sich das Schutzbedürfnis des Geschädigten dadurch, dass er seine zivilrechtlichen Ansprüche aus der Straftat jederzeit im Wege des Adhäsi­ onsverfahrens gem. §§ 403 ff. StPO geltend machen kann, wenn er eine doppelte Beweisaufnahme vermeiden möchte.540 Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass sich 533

Siehe hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. IV. 2. b). Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 2. September 2003, BT-Drucksache 15/1508, 20; Gesetzesentwurf der Fraktion CDU/CSU vom 20. Mai 2003, BT-Drucksache 15/999, 12; Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2062; Netzer, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Sym­ posium 2003, 28, S. 29; Oehlerking, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 30, S. 31; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 151. 535 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a). 536 Vgl. hierzu ausführlich unter 4. Teil, A. II. 4. 537 Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2062; in diesem Sinne auch Beulke, in: Hoyer/Müller/ Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 667 f. 538 Rönnau, StV 2004, 455, S. 459 mit einem anschaulichen Beispiel aus dem Produkthaf­ tungsrecht. 539 Vgl. hierzu ausführlich unter 5. Teil, A. I. 3. 540 Huber, ZRP 2003, 268, S. 271. 534

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1. Teil: Deutschland

das Opfer einer Straftat, wenn es nicht den Weg des Adhäsionsverfahrens wählt, nur als Nebenkläger im Strafverfahren beteiligen kann, sofern es durch eine der in § 395 StPO aufgeführten Straftaten verletzt wurde.541 Im Übrigen wird das Opfer zwar gegebenenfalls als Zeuge vernommen, kann aber in dieser Position keinen Einfluss auf die Beweisaufnahme nehmen.542 e) Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens Zuletzt werden nicht selten die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens vorgebracht.543 Obwohl diese Grundsätze verfassungsrechtlich ge­ währleistet sind544, gelten sie nicht absolut. Vielmehr steht der Grundsatz der Rechtssicherheit im Widerspruch zur materiellen Gerechtigkeit, die als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang genießt und durch eine sach­ lich richtige Entscheidung verwirklicht wird.545 Da weder dem einen noch dem an­ deren Grundsatz ausnahmslos Vorrang eingeräumt werden kann, ist es zuguns­ ten der sachlichen Richtigkeit der zivilgerichtlichen Entscheidung hinnehmbar, dass der Ausgang des Zivilprozesses trotz Existenz eines rechtskräftigen Strafur­ teils nicht sicher prognostizierbar ist und ein erneuter Streit über die Sachverhalts­ feststellung im Zivilprozess beginnt.546 Es würde dem Zweck des Zivilprozesses, nämlich der Feststellung und Verwirklichung subjektiver Rechte, entgegenstehen, wenn „das Gericht sehenden Auges auf einer falschen […] tatsächlichen Grundlage entscheiden müsste“547. Die uneingeschränkte Bindung des Zivilrichters auch an ein Fehlurteil würde die zivilgerichtliche Entscheidung zwar vorhersehbarer machen und einen wiederholten Streit über das tatsächliche Geschehen verhin­ dern, jedoch „das Interesse an einer zutreffenden Tatsachenfeststellung und damit einer materiell richtigen Entscheidung“548 unbeachtet lassen.549 Daher „führt [die Gerechtigkeit]“, wie Hartmann fast poetisch ausführt, „den Zivilrichter zu Grenzen einer auch nur gefühlsmäßigen Bindung an ein Strafurteil.“550 541

Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 40. Rönnau, StV 2004, 455, S. 457. 543 Brox, ZZP 73 (1960), 46, S. 52; Oehlerking, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPOSymposium 2003, 30; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 150. 544 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. h) cc). 545 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. h) cc). 546 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. h) cc); in diesem Sinne auch Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 286, Rn.  64, der Rechtssicherheit und Gerechtig­ keit als Elemente der „Rechtsidee“ gegenüberstellt, wobei der „Gerechtigkeit als Hauptziel des Zivilprozesses“ Vorrang gebühre. 547 BGH NJW 2005, 291, 293 für die Frage der Zulässigkeit neuer, unstreitiger Tatsachen in der Berufungsinstanz. 548 So die Formulierung des BGH in NJW 2005, 291, 293. 549 Daher erkennen auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 85 f. und Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivil­ prozess, S. 185 f. Ausnahmen ihrer vorgeschlagenen asymmetrischen Bindungswirkung an. 550 Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 286, Rn. 64. 542

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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4. Zusammenfassung Hinsichtlich der Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess lassen sich zusammenfassend folgende Ergebnisse festhalten: Hat der Zivilrichter nach Beendigung des Strafprozesses über densel­ ben Sachverhalt wie der Strafrichter zu entscheiden, haben weder die materielle Rechtskraft noch die Beweiskraft des Strafurteils als öffentliche Urkunde eine in­ haltliche Bindung des Zivilrichters zur Folge. Auch aus verfassungsrechtlichen Er­ wägungen lässt sich eine solche Bindung nicht ableiten. Vielmehr sprechen der Grundsatz der freien Beweiswürdigung und das Streben nach materieller Richtig­ keit für die Unabhängigkeit von Zivil- und Strafverfahren. Obwohl der Ausgang des Strafprozesses das Ergebnis des Zivilrechtsstreits nicht präjudiziert, können das Strafurteil und einzelne im Strafprozess gewonnene Erkenntnisse die Entscheidungsfindung im Zivilprozess doch maßgeblich beein­ flussen. Erstens kann dem Strafurteil bereits auf der Ebene der Darlegungslast Be­ deutung zukommen, da die Parteien ihren Sachvortrag durch Bezugnahme auf die Feststellungen des Strafurteils ergänzen können. Zweitens können das Strafurteil und einzelne Urkunden aus den Strafakten im Zivilprozess verwertet werden, wo­ bei sie der freien richterlichen Beweiswürdigung gem. § 286 Abs. 1 ZPO unterlie­ gen. Einem Beweisantrag der Gegenpartei auf Vernehmung des Zeugen hat das Gericht aber stattzugeben und darf diesen nicht unter Verweis auf die Existenz des Strafurteils ablehnen.

B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess I. Aussetzungsbefugnis, aber keine Aussetzungspflicht Finden Zivil- und Strafverfahren nicht nacheinander statt, sondern überschnei­ den sich zeitlich, ist das Zivilgericht nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers nicht verpflichtet, den Ausgang des Strafprozesses abzuwarten. Nach § 149 Abs. 1 ZPO kann es aber die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Straf­ verfahrens anordnen. Setzt das Gericht die Verhandlung aus, ist es, wie soeben ausführlich dargestellt, nicht an das Strafurteil gebunden.

II. Voraussetzungen der Aussetzungsbefugnis Ergibt sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat, deren Er­ mittlung auf die Entscheidung des Zivilrichters von Einfluss ist, kann dieser gem. § 149 Abs. 1 ZPO die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Straf­ verfahrens anordnen. Nach § 149 Abs. 2 ZPO ist die Verhandlung auf Antrag einer

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Partei fortzusetzen, wenn seit der Aussetzung ein Jahr vergangen ist, sofern keine gewichtigen Gründe für die Aufrechterhaltung der Aussetzung sprechen. 1. Verdacht einer strafbaren Handlung Die Aussetzung der Verhandlung nach § 149 Abs. 1 ZPO setzt den Verdacht einer Straftat voraus. Hierfür reicht ein Anfangsverdacht gem. §§ 152 Abs. 2, 160 StPO551, nicht jedoch ein vager Verdacht552 oder bloße Behauptungen.553 Nach dem Wort­ laut muss die Straftat nicht zwingend von den Parteien des Zivilverfahrens began­ gen worden sein. Daher genügt der Verdacht der Straftat irgendeines Prozessbetei­ ligten (Zeugen, Sachverständige, Streithelfer), nach überwiegender Ansicht sogar eines Dritten554, wenn dessen Verhalten entscheidungsrelevant ist (wie beispiels­ weise das Verhalten des Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen).555 2. Einfluss der Ermittlungen auf die zivilgerichtliche Entscheidung Die Anwendung des § 149 Abs. 1 ZPO setzt, anders als die Verfahrensausset­ zung nach § 148 ZPO, nicht voraus, dass das Strafurteil vorgreiflich für die zivil­ gerichtliche Entscheidung ist.556 Vielmehr genügt es, dass die Ermittlung der Straf­ tat auf die Entscheidung des Gerichts von Einfluss ist. Da der Zivilrichter nicht an ein rechtskräftiges Strafurteil gebunden ist, kann es also auf einen rechtlichen Einfluss im Sinne einer formalen Bindung nicht ankommen. Wie bereits dar­ gestellt557, können jedoch die strafverfahrensrechtlichen Erkenntnisse im Zivilpro­ 551

Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 3; Smid, in: Wieczorek/Schütze, § 149, Rn. 2; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 149, Rn. 4; Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn. 1; Wagner, in: MüKo, § 149, Rn. 3. 552 OLG München SchiedsVZ 2011, 167, 168. 553 OLG München SchiedsVZ 2011, 167, 168; OLG Frankfurt NJW-RR 1986, 1319, 1320. 554 Stadler, in: Musielak, § 149, Rn. 2; Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 7; Smid, in: Wieczorek/ Schütze, § 149, Rn.  2; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 149, Rn.  4; Greger, in: Zöller, § 149, Rn.  3; Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn.  1; a. A. Wagner, in: MüKo, § 149, Rn. 3; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 149, Rn. 1. 555 Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 7; Smid, in: Wieczorek/Schütze, § 149, Rn. 2. 556 Eine Aussetzung des Zivilverfahrens gem. § 148 ZPO kommt nicht in Betracht, da im Strafverfahren nicht über ein für den Zivilprozess präjudizielles Rechtsverhältnis entschieden wird, sondern über den staatlichen Strafanspruch, der im Zivilverfahren nie vorgreiflich sein kann, vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. a). Ein Einfluss rein tatsächlicher Art wird nach überwiegender Ansicht für eine Verfahrensaussetzung nach § 148 ZPO für unzureichend erachtet BGH WM 2012, 2024, 2026; BGH NJW 2005, 1947; BGH NJW 1983, 2496; offen ge­ lassen von OLG Dresden NJW-RR 1998, 1101; OLG München NJW-RR 1996, 766; OLG Köln MDR 1983, 848; Greger, in: Zöller, § 148, Rn. 5 a; Stadler, in: Musielak, § 148, Rn. 5; Smid, in: Wieczorek/Schütze, § 148, Rn. 37. 557 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III.

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zess als Beweismittel verwertet werden und so Einfluss auf die Tatsachenfeststel­ lung und Beweiswürdigung des Zivilrichters haben.558 Daher ist eine Aussetzung des Zivilverfahrens zulässig, wenn der Zivilrichter über denselben Sachverhalt wie der Strafrichter zu entscheiden hat.559 So kann beispielsweise eine auf § 823 Abs.  2 BGB i. V. m. § 229 StGB gestützte Schadensersatzklage ausgesetzt wer­ den, um den Ausgang des Strafprozesses wegen fahrlässiger Körperverletzung abzuwarten. Dass nach dem Wortlaut des § 149 Abs.1 ZPO eine Aussetzung nur in Betracht kommt, wenn sich der Verdacht „im Laufe des Rechtsstreits“ ergibt, steht dem nicht entgegen.560 Denn Sinn und Zweck der Aussetzungsbefugnis, näm­ lich die Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens für die zivilgerichtliche Be­ weiswürdigung fruchtbar zu machen, gebieten eine Aussetzung auch bei Iden­ tität des Sachverhalts561 und nicht nur dann, wenn sich ein Prozessbeteiligter im Laufe des Zivilverfahrens strafbar macht. Außerdem schließt die Formulierung des § 149 Abs. 1 ZPO nicht aus, dass die Straftat schon vor Prozessbeginn begangen wurde.562 Dagegen darf der Zivilrichter das Verfahren nicht aussetzen bis im Straf­ prozess über eine Rechtsfrage entschieden ist, die sich im Zivilprozess gleicher­ maßen stellt, da die Ermittlungen in diesem Fall keinen Einfluss auf die Sachver­ haltsaufklärung, sondern nur auf die rechtliche Würdigung haben.563 3. Aufhebung der Aussetzung Nach § 150 S. 1 ZPO kann das Gericht die von ihm erlassene Aussetzungsanord­ nung auch schon vor Beendigung des Strafverfahrens wieder aufheben. Ist das Strafverfahren noch nicht erledigt und seit der Aussetzung bereits ein Jahr vergan­ gen, hat das Gericht auf Antrag einer Partei gem. §§ 150 S. 2, 149 Abs. 2 ZPO die Verhandlung fortzusetzen, es sei denn, es sprechen gewichtige Gründe für die Auf­ rechterhaltung der Aussetzung.

558 BayObLG FamRZ 1992, 975, 976; OLG Düsseldorf MDR 1985, 239; KG Berlin MDR 1983, 139; Wagner, in: MüKo, § 149, Rn. 5; Greger, in: Zöller, § 149, Rn. 3; Roth, in: Stein/ Jonas, § 149, Rn. 8; Smid, in: Wieczorek/Schütze, § 149, Rn. 5; Stadler, in: Musielak, § 149, Rn. 3. 559 OLG Frankfurt MDR 1982, 675; OLG Hamburg MDR 1975, 669, 670; OLG Köln VersR 1973, 473, 474; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 149, Rn. 2; Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn.  2; Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65.  Geburtstag, 157, S. 165; ausführlich Fichtner, Grenzen des richterlichen Ermessens bei Aussetzung und Ruhen des Verfahrens in der ZPO, S. 115 ff.; Greger, in: Zöller, § 149, Rn. 3; Wagner, in: MüKo, § 149, Rn. 4; Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 4 will in diesem Fall § 149 ZPO analog anwenden; a. A. OLG Celle NJW 1969, 280. 560 OLG Frankfurt MDR 1982, 675; OLG Köln VersR 1973, 473, 474. 561 OLG Frankfurt MDR 1982, 675; OLG Köln VersR 1973, 473, 474. 562 OLG Frankfurt MDR 1982, 675; Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 4. 563 OLG Düsseldorf MDR 1985, 239; Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 8.

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III. Ermessenskriterien im Rahmen der Abwägungsentscheidung gem. § 149 Abs. 1 ZPO Können die Ermittlungen der Straftat auf die zivilrichterliche Entscheidung von Einfluss sein, liegt die Aussetzung der Verhandlung im pflichtgemäßen Ermes­ sen des Richters.564 Im Rahmen seiner Abwägungsentscheidung sind die poten­ ziellen Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens und die durch eine Verzöge­ rung des Zivilverfahrens drohenden Nachteile gegeneinander abzuwägen.565 Aus der Regelung des § 149 Abs. 2 ZPO wird außerdem abgeleitet, dass eine Ausset­ zung grundsätzlich untunlich ist, wenn mit einer Verzögerung des Rechtsstreits von über einem Jahr zu rechnen ist.566 Teilweise wird auch die Ansicht vertreten, dass in bestimmten Verfahren, etwa in Arzthaftungssachen, eine Aussetzung regel­ mäßig ermessensfehlerhaft sei und nur ausnahmsweise in Betracht komme.567 Dies wird damit begründet, dass der Erkenntnisgewinn im Strafverfahren aufgrund der unterschiedlichen Verschuldensmaßstäbe und Beweisregelungen im Zivilverfah­ ren unwesentlich sei568 und der Zweck des § 149 Abs.  1 ZPO daher in Arzthaf­ tungssachen nicht erreicht werden könne.569 Fraglich ist, ob im Rahmen der Ermessensentscheidung auch darauf abzustellen ist, welche Erkenntnisgewinne konkret mit dem Strafverfahren beabsichtigt sind. So wird teilweise vertreten, dass eine Aussetzung „nicht sachgerecht [sei], wenn die im Zivil- und Strafverfahren relevanten Beweisfragen durch Zeugenbeweis aufzuklären sind“, da in aller Regel eine erneute Zeugenbefragung im Zivilverfahren unerlässlich sei.570 Ginge es dagegen um „objektivierbare Beweise“, wie Sachver­ ständigengutachten571 oder um Ermittlungserkenntnisse, die nur im Wege straf­ prozessualer Eingriffsbefugnisse, nicht aber im Zivilverfahren zu erreichen seien, käme eine Aussetzung in Betracht.572 Da zwischen den Nachteilen, die sich aus der mit der Aussetzung verbundenen Verzögerung des Zivilprozesses ergeben, und den 564

BGH NJW-RR 2010, 423; OLG Frankfurt NJW-RR 2013, 184. BGH NJW-RR 2010, 423, 424; OLG Frankfurt NJW-RR 2013, 184; OLG Brandenburg NJW-RR 2010, 787, 788; OLG  Düsseldorf MDR 1980, 1028; Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn. 3; Greger, in: Zöller, § 149, Rn. 2; ausführlich zur Ermessensentscheidung Fichtner, Grenzen des richterlichen Ermessens bei Aussetzung und Ruhen des Verfahrens in der ZPO, S. 118 ff. 566 Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 11; Wöstmann, in: Saenger, § 149, Rn. 4. 567 OLG Koblenz MDR 2006, 289, 290; OLG Stuttgart NJW 1991, 1556; OLG Köln VersR 1989, 518, 519; Wöstmann, in: Saenger, § 149, Rn. 4; Greger, in: Zöller, § 149, Rn. 2; Schmid, NJW 1994, 767, S.  768; differenzierend Fichtner, Grenzen des richterlichen Ermessens bei Aussetzung und Ruhen des Verfahrens in der ZPO, S. 128 ff. 568 OLG Koblenz MDR 2006, 289, 290; OLG Stuttgart NJW 1991, 1556; OLG Köln VersR 1989, 518, 519; Greger, in: Zöller, § 149, Rn. 2. 569 OLG Stuttgart NJW 1991, 1556. 570 Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn. 4. 571 Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn.  5; in diesem Sinne auch Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 4. 572 Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn. 5. 565

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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Erkenntnissen, die ein Abwarten des Ausgangs des Strafprozesses zu Tage fördern könnte, abzuwägen ist, sollte nach richtiger Ansicht auch berücksichtigt werden, welche Erkenntnisse konkret zu erwarten sind. Denn die Verzögerung des Rechts­ streits ist nicht hinnehmbar, wenn eine erneute Beweisaufnahme im Zivilverfah­ ren zum Zeitpunkt der Verfahrensaussetzung bereits vorhersehbar ist.573 Während die Aussetzung umso eher in Erwägung zu ziehen sein dürfte, je näher das Ende des Strafverfahrens rückt574, scheidet diese im einstweiligen Rechtsschutz dagegen grundsätzlich aus575, da in diesen Fällen das Beschleunigungsinteresse überwiegt.

IV. Begründung der Aussetzungsbefugnis Der deutsche Gesetzgeber hat sich gegen eine Bindungswirkung des Straf­ urteils im Zivilprozess entschieden.576 Folglich ist das Zivilgericht auch nicht ge­ halten, ein laufendes Verfahren im Hinblick auf ein zu erwartendes Strafurteil aus­ zusetzen. Dennoch sieht § 149 Abs. 1 ZPO die Befugnis zur Verfahrensaussetzung vor, um sich die gegebenenfalls weitergehenden Untersuchungsmöglichkeiten des Strafverfahrens zu Nutze zu machen und widersprüchliche Urteile zu verhin­ dern.577 Damit verfolgt die Aussetzungsbefugnis im deutschen Recht also in erster Linie prozessökonomische Ziele.578 Dieses Ziel wird jedoch zumindest teilweise dadurch in Frage gestellt, dass im Zivilrechtsstreit dem Antrag einer Partei auf er­ neute Einvernahme von Zeugen stattzugeben ist.579

V. Zusammenfassung Die Einleitung des Strafverfahrens führt im deutschen Recht nicht automa­ tisch zur Aussetzung der Verhandlung im Zivilrechtsstreit. Diese kann aber aus­ gesetzt werden, um von den Beweisergebnissen des Strafverfahrens zu profitie­ ren. Im Rahmen seiner Ermessensentscheidung hat der Zivilrichter vor allem die Effizienzgewinne durch das Abwarten der strafgerichtlichen Entscheidung gegen die durch die Aussetzung verursachte nachteilige Verzögerung des Zivilverfahrens­ abzuwägen. 573

Dörr, in: Prütting/Gehrlein, § 149, Rn. 4. Wagner, in: MüKo, § 149, Rn. 9. 575 Roth, in: Stein/Jonas, § 149, Rn. 11; Smid, in: Wieczorek/Schütze, § 149, Rn. 7. 576 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 577 KG Berlin MDR 1983, 139; Greger, in: Zöller, § 149, Rn. 1; Hartmann, in: Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, § 149, Rn. 2. 578 OLG Stuttgart NJW 1991, 1556; OLG Köln VersR 1989, 1201; Gaul, in: Holzhammer, Festschrift für Hans W. Fasching zum 65. Geburtstag, 157, S. 166; Fichtner, Grenzen des rich­ terlichen Ermessens bei Aussetzung und Ruhen des Verfahrens in der ZPO, S. 109; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, § 149, Rn. 2. 579 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a). 574

2. Teil

Frankreich Im französischen Recht besteht zwischen Zivil- und Strafverfahren seit jeher ein streng hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis. Dieses Abhängigkeitsverhältnis be­ ruht auf dem Grundsatz der „primauté du criminel sur le civil“, nach dem das Straf­ verfahren grundsätzlich Vorrang gegenüber dem Zivilverfahren genießt. Diese Vor­ rangstellung manifestiert sich in zwei grundlegenden Prinzipien des französischen Rechts, nämlich im Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ und im Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“.1 Der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ betrifft die Konstellation, dass der Zivilrichter entscheidet, nachdem ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist und besagt, dass das Strafurteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Bindungswirkung für den Zivilprozess entfaltet. Das Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“ gilt dagegen, wenn Straf- und Zivilverfahren gleichzeitig rechtshängig sind und verpflichtete den Zivilrichter ehemals, sämtliche Zivilverfahren bis zur endgültigen Entschei­ dung im Strafverfahren auszusetzen. Die „primauté du criminel sur le civil“ wurde in den letzten Jahren, in denen sich das französische Recht in Richtung einer grö­ ßeren Unabhängigkeit von Zivil- und Strafverfahren entwickelt hat, einem erheb­ lichen Wandel unterzogen. Dies betrifft einerseits den Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, der einen fortwährenden Bedeutungsverlust er­ litten hat und andererseits das Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“, das nach einer Gesetzesänderung im Jahre 2007 nur noch für bestimmte Zivilverfahren gilt. In der nachfolgenden Untersuchung wird es häufig um zwei verschiedene Arten von Zivilklagen gehen, nämlich um die „action civile“ (im Plural „actions civiles“) und die „action à fins civiles“ (im Plural „actions à fins civiles“). Daher sollen diese beiden Klagen vorab kurz beschrieben werden. Die „action civile“ ist nach der Le­ galdefinition des Art. 2 Abs. 1 CPP („L’action civile en réparation du dommage causé par un crime, un délit ou une contravention […]“) eine Klage, die auf den Er­ satz des Schadens gerichtet ist, der durch ein Verbrechen, ein Vergehen oder durch eine Zuwiderhandlung verursacht wurde2. Sie kann grundsätzlich sowohl vor den Strafgerichten (Art. 3 Abs. 1 CPP, strafprozessuale „action civile“) als auch vor den Zivilgerichten (Art. 4 Abs. 1 CPP, zivilprozessuale „action civile“) erhoben werden.3 1

Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 477; Tellier, RSC 2009, 797. Übersetzung der Verfasserin. 3 Viney, Introduction à la responsabilité, S. 187, 201 f. m. w. N.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 256; nur ausnahmsweise ist der eine oder der andere Weg versperrt: Zum Beispiel Unzulässigkeit der „action civile“ vor den Strafgerichten im Verfahren vor der Cour de 2

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Alle anderen Zivilklagen, die nicht auf den Ersatz der durch eine Straftat verur­ sachten Schäden abzielen, werden „actions à fins civiles“ genannt.4 Diese Klagen können nur vor den Zivilgerichten erhoben werden.5 Die Frage, welche Auswir­ kungen ein rechtshängiger oder rechtskräftig abgeschlossener Strafprozess auf den Zivilprozess hat, stellt sich nur für solche Klagen, die vor den Zivilgerichten er­ hoben werden, also sowohl für die zivilprozessualen „actions civiles“ als auch für die ­„actions à fins civiles“, da über die strafprozessualen „actions civiles“ bereits im Strafprozess selbst entschieden wird. Die in Frankreich sehr häufige6 strafprozessuale „action civile“ ist zwar nicht Ge­ genstand der vorliegenden Untersuchung, jedoch wird an einigen Stellen auf ihre Besonderheiten Bezug genommen werden. Daher soll auch die strafprozessuale „action civile“ zumindest kurz vorgestellt werden: Die strafprozessuale „action civile“ hat eine Art Doppelnatur, die oftmals als „caractère mixte“ oder ­„double visage“ bezeichnet wird.7 Aus der deutschen Perspektive ist diese Doppelnatur schwer zu erfassen. Am ehesten dürfte es sich dabei um eine Mischung aus Privat­ klage, Nebenklage und Adhäsionsverfahren handeln.8 Die Ähnlichkeit zum deut­ schen Adhäsionsverfahren besteht darin, dass im Wege der strafprozessualen „ac­ tion civile“ der Ersatz von Schäden verlangt werden kann, die aus einer strafbaren Handlung herrühren. Macht der Verletzte seine zivilrechtlichen Schadensersatz­ ansprüche im Strafprozess geltend, bedingt die Entscheidung über die Strafbarkeit grundsätzlich die Entscheidung über die „action civile“.9 Dies entspricht der deut­ schen Regelung des § 406 Abs. 1 StPO, wonach der Strafrichter dem Antrag in dem Urteil stattgibt, mit dem der Angeklagte wegen einer Straftat schuldig gesprochen wird, soweit der Antrag wegen dieser Straftat begründet ist. Der Strafrichter darf also bei der Entscheidung über die „action civile“ nicht seiner eigenen Entschei­ dung über die Strafbarkeit widersprechen.10 Jedoch geht die Funktion der „action civile“ im Strafprozess deutlich über die des Adhäsionsverfahrens im deutschen Recht hinaus. Sie stellt gleichzeitig eine Art Privat- oder Nebenklage dar: Ist das Strafverfahren bereits von Seiten der Staatsanwaltschaft eingeleitet, ist ein Beitritt des Verletzten als „partie civile“ gem. Art. 87, 418 CPP sowohl im Untersuchungs­ justice de la République [dazu näher unter 2. Teil, A. III. 2. b) dd)], Unzulässigkeit der „action civile“ vor den Zivilgerichten etwa bei Pressedelikten (Art. 46 des Gesetzes vom 29. Juli 1881). 4 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 3, Fn. 16. 5 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 195, 265. 6 Kaiser, Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren, S. 86, 98; Gewaltig, Die action ci­ vile im französischen Strafverfahren, S. 97 f.; Prinz von Sachsen Gessaphe, ZZP 112, 3, S. 25. 7 Viney, Introduction à la responsabilité, S. 192. 8 In diesem Sinne auch Kaiser, Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren, S. 84. 9 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 475; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S.  294; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S.  722; nur ausnahms­ weise darf der Strafrichter im Falle eines Freispruchs trotzdem Schadensersatz zusprechen, Art. 470–1 Abs. 1, 541 Abs. 2, 372 CPP. 10 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 475; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 722.

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2. Teil: Frankreich

verfahren als auch erst in der Hauptverhandlung vor dem erkennenden Gericht zulässig (sog. „intervention“).11 Aus der Regelung des Art. 418 Abs. 3 CPP wird abgeleitet, dass dieser Beitritt, der als Art „Nebenklage“ bezeichnet werden könnte, unabhängig davon zulässig ist, ob der Verletzte im Strafprozess Schadensersatz­ ansprüche geltend machen will oder nicht, oder ob dies von vorneherein gesetz­ lich ausgeschlossen ist.12 Der Beitritt kann also auch ausschließlichen dazu dienen, am Strafverfahren teilzuhaben und das Ergebnis des Verfahrens zu beeinflussen.13 Hat die Staatsanwaltschaft noch kein Strafverfahren eingeleitet oder wurde die­ ses eingestellt, kann der Verletzte gem. Art. 1 Abs. 2 CPP selbst das Strafverfah­ ren einleiten, indem er die „action civile“ erhebt14, und zwar auch hier unabhängig davon, ob er beabsichtigt, seine Schadensersatzansprüche im Strafprozess durch­ zusetzen.15 In diesem Fall hat die „action civile“ also ähnliche Wirkungen wie eine Privat­klageerhebung gem. §§ 374 ff. StPO im deutschen Strafprozess, mit dem Un­ terschied, dass die Privatklagebefugnis nicht auf bestimmte Tatbestände beschränkt ist.16 Da das französische Recht gem. Art. 40, 40–1 CPP, anders als das deutsche Recht gem. §§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO, nicht vom Legalitäts- sondern vom Opportunitätsprinzip geprägt ist17, sieht es im Gegenzug kein Anklagemonopol der Staatanwaltschaft vor, sondern erlaubt dem Verletzten grundsätzlich, selbst das Strafverfahren einzuleiten. Im deutschen Recht existiert dagegen ein Anklagemono­ pol der Staatanwaltschaft, das nur durch das Institut der Privatklage gem. §§ 374 StPO durchbrochen ist. Die Einleitung des Strafverfahrens durch den Verletzten geschieht entweder im Wege der „plainte avec constitution de partie civile“18 gem. Art. 85 ff. CPP vor dem Untersuchungsrichter oder im Wege der „citation directe“19 gem. Art. 388, 392, 531 CPP vor dem jeweils zuständigen Strafgericht.20 Da die 11 Viney, Introduction à la responsabilité, S.  195; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 722. 12 Crim. 10. Oktober 1968, Bull. crim. n° 248; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 193, 270. 13 Viney, Introduction à la responsabilité, S. 193. 14 Diese Möglichkeit hatte Cour de cassation bereits zuvor seit einem Grundsatzurteil aus dem Jahre 1906 anerkannt, Crim. 8. Dezember 1906, S. 1907.1.377; Viney, Introduction à la responsabilité, S.  193; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S.  256, 275 ff.; Vergès, D. 2007.1441, S. 1442. 15 Viney, Introduction à la responsabilité, S. 193. 16 Wie dies im deutschen Recht gem. § 374 StPO der Fall ist. 17 Kaiser, Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren, S. 84; Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 3; Pfefferkorn, Einführung in das französische Strafverfah­ ren, S. 95. 18 Übersetzung der Verfasserin: „Beschwerde mit Bestellung als Nebenkläger“. 19 Übersetzung der Verfasserin: „Direkte Ladung“; die „citation directe“ ist nur bei leichten Verstößen und Vergehen statthaft; im Wege der „citation directe“ wird unmittelbar das Haupt­ verfahren gegen den Angeklagten eröffnet, Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 259. 20 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 256, 275 ff.; Viney, Introduction à la res­ ponsabilité, S.  195; Vergès, D.  2007.1441, S.  1442; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 722; Prinz von Sachsen Gessaphe, ZZP 112, 3, S. 21.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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vorliegende Untersuchung ausschließlich die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess untersucht, soll der Fokus nachfolgend auf den Klagen liegen, die vor den Zivilgerichten erhobenen werden (zivilprozessuale „actions civiles“ und „actions à fins civiles“).

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess Wie oben bereits kurz dargestellt, genießt das Strafverfahren im französi­ schen Recht Vorrang gegenüber dem Zivilverfahren. Eine Ausprägung dieser Vor­ rangstellung wird in der Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilrichter offenbar.

I. Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilrichter Diese Bindungswirkung wird im französischen Recht mit dem Begriff der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ umschrieben, der daher nachfol­ gend verwendet wird. Die Formulierung wird zwar häufig als Rechtskraftwirkung des Strafurteils ins Deutsche übersetzt.21 Von der Übersetzung des Ausdrucks wird hier aber bewusst Abstand genommen, weil eine Übersetzung die Gefahr birgt, den Grundsatz vorschnell dogmatisch einzuordnen und ihm eine Rechtsnatur zu­ zuschreiben, die ihm aus französischer Perspektive vielleicht gar nicht zukommt.22 Überraschenderweise ist das grundlegende Prinzip der „autorité de la chose ju­ gée au pénal sur le civil“ im französischen Recht nicht gesetzlich geregelt, son­ dern beruht ausschließlich auf Richterrecht.23 Bereits in einem Urteil der Cour de cassation vom 30. April 1807 tauchte dieser Grundsatz zum ersten Mal auf.24

21 Hanel, in: Will, Schadensersatz im Strafverfahren, 40, S. 42: „Der Satz […] bedeutet, daß das Strafurteil Rechtskraftwirkung für den Zivilprozess hat.“; Ferid/Sonnenberger, Das franzö­ sische Zivilrecht, S. 456: „das Strafurteil äußert Rechtskraftwirkung auch für die Zivilklage“; auch Weber, Produkthaftung und strafprozessuales Adhäsionsverfahren, S.  128 spricht von einer „Rechtskrafterstreckung“. 22 Wie in der Einleitung dargestellt, besteht im Rahmen der Rechtsvergleichung die Gefahr, durch eine bloße „Begriffsrechtsvergleichung“ (Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrens­ rechtsvergleichung, S. 9) die Zusammenhänge in der fremden Rechtsordnung zu verkennen. Der Begriff der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ wird deshalb in der vorlie­ genden Untersuchung nicht übersetzt, um den Blick auf die französische Rechtsordnung nicht durch die Verwendung bestimmter nationaler, vom deutschen Rechtsverständnis geprägter Be­ griffe zu verstellen. 23 Pradel, Procédure pénale, S. 921; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 292; Vergès, Procédure pénale, S. 142; Fourment, Procédure pénale, S. 343 f. 24 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter A.

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2. Teil: Frankreich

Mit dem sogenannten „arrêt Quertier“ der Cour de cassation25 vom 7. März 185526 wurde er endgültig etabliert.27 Nach diesem Prinzip entfaltet das Strafurteil „envers et contre tous l’autorité de la chose jugée“28, wobei sich die „autorité“ auf das bezieht, „ce qui a été définitivement, nécessairement et certainement décidé par le juge pénal sur l’existence du fait qui forme la base commune de l’action civile et de l’action pénale, sur sa qualification ainsi que sur la culpabilité de celui à qui le fait est imputé.“29 Der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ verbietet jedwede inhaltliche Abweichung vom Strafurteil.30 Das Zivilgericht ist daher an die tatsächlichen Feststellungen und an die recht­ liche Würdigung des Strafgerichts gebunden. Nachfolgend soll zunächst unter­ sucht werden, unter welchen Voraussetzungen die französische Rechtsprechung eine Bindungswirkung bejaht (II.) bevor anschließend deren Umfang untersucht wird (III.). Sodann soll das Prinzip rechtlich eingeordnet und dessen dogmati­ sche Grundlagen erforscht werden (IV.). Der Grundsatz der „primauté du crimi­ nel sur le civil“ hat seit einigen Jahren einen erheblichen Bedeutungsverlust er­ litten (V.). Wie im deutschen Recht stellt sich neben der Bindungsfrage auch das Problem, wie die „autorité de la chose jugée“ von anderen Urteilswirkungen ab­ zugrenzen ist (VI.) und ob der Zivilrichter anstelle des Strafurteils auch einzelne Erkenntnisse des Strafverfahrens im Zivilverfahren verwerten darf (VII.). Auch die französische Lösung des Konflikts konkurrierender Verfahren ist das Ergeb­ nis einer historischen Entwicklung und beruht auf der Abwägung grundlegender Verfahrensprinzipien (VIII. und IX.).

II. Voraussetzungen der Bindungswirkung Die Bindungswirkung eines formell rechtskräftigen Strafurteils (1.) ist in sämt­ lichen Zivilverfahren zu beachten (2.).

25

Dabei handelt es sich um den obersten französischen Gerichtshof. Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81. 27 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter A. 28 Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81. Übersetzung der Verfasserin: Danach entfaltet das Straf­ urteil „Bindungswirkung gegenüber jedermann“. 29 Civ. 24. Oktober 2012, D. 2013.68; Übersetzung der Verfasserin: Die Bindungswirkung bezieht sich auf das, „was der Strafrichter endgültig, notwendigerweise und hinreichend bestimmt im Hinblick auf den Sachverhalt, der die gemeinsame Grundlage des Zivil- und Strafverfahrens bildet, die rechtliche Würdigung sowie die Schuld dessen, dem die Tat vorgeworfen wird, entschieden hat.“ 30 Civ. 23. März 1953, JCP 1953.II.7637. 26

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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1. Bindungswirkung eines formell rechtskräftigen Strafurteils Nur formell rechtskräftige Strafurteile, die über die Schuld bzw. Unschuld des Angeklagten entscheiden, entfalten „autorité de la chose jugée au pénal sur le ci­ vil“.31 Dazu gehören nur die Urteile der sogenannten „juridictions de jugement“32, also nur solche Urteile, die im eigentlichen Strafprozess ergangen sind. Hiervon abzugrenzen ist das bei Verbrechen obligatorische gerichtliche Ermittlungsverfah­ ren bzw. Untersuchungsverfahren („instruction“)33, das im französischen Straf­ prozessrecht besondere Bedeutung hat, da die Beweise im Untersuchungsverfah­ ren bereits erhoben werden und im eigentlichen Strafprozess nur noch gewürdigt werden.34 Die Entscheidungen der „juridictions d’instruction“35, die im Unter­ suchungsverfahren ergehen, binden den Zivilrichter ebenso wenig wie die Einstel­ lungsbeschlüsse der Staatsanwaltschaft36. Während erstere nicht über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten entscheiden, sondern nur darüber, ob die Beweise ausreichen, um das Hauptverfahren zu eröffnen37, handelt es sich bei letzteren schon nicht um eine gerichtliche Entscheidung.38 Damit die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ greift, muss es sich ferner um ein formell rechtskräftiges39 Strafurteil handeln, das nicht (mehr) mit or­ dentlichen Rechtsmitteln angreifbar ist.40 Schließlich bewirkt nur eine Sachentschei­ 31

Das zur Entscheidung berufene Gericht muss indes kein Strafgericht sein; stattdessen kommt es alleine auf den strafrechtlichen Charakter der richterlichen Entscheidung an, Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 156; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 3. 32 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 962; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 297; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 11. 33 Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 146. 34 Kühne, Strafprozessrecht, S. 699 f. 35 Ch. mixte 10. Oktober 2008, JCP 2008.II.10199; Civ. 18. Juli 2000, Bull. civ. I n° 221; Civ. 19.  November 1998, Bull. civ. II n°  275; Civ. 6.  März 1996, D.  1997.93; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 121 f. m. w. N.; Vergès, Procédure pé­ nale, S. 142; Larguier/Conte, Procédure pénale, S. 424. 36 Soc. 19 Februar 2014, n° 13-14247; Soc. 20. November 2001, n° 99-45756. 37 Ch. mixte, 10. Oktober 2008, JCP 2008.II.10199; in diesem Sinne auch Valticos, L’auto­ rité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 173 m. w. N.; Wittmann, Les interférences en­ tre ­instances civile et pénale parallèles, S. 610. 38 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S.  611; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 163. 39 Ch. mixte 10. Oktober 2008, JCP 2008.II.10199; Civ. 6. Januar 2000, Bull. civ. II n°1; Civ. 5. November 1944, D. 1955, 19; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Ci­ vil, S. 135; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 221; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 485; ausführlich zur Rechtfertigung dieser Einschränkung Botton, Contribu­ tion à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 181 ff. 40 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 221; Wittmann, Les inter­ férences entre instances civile et pénale parallèles, S. 604.

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2. Teil: Frankreich

dung41, die einen Schuld- und Strafausspruch beinhaltet42, eine Bindung des Rich­ ters im nachfolgenden Zivilprozess. Entscheidungen über die Zuständigkeit werden daher beispielsweise von der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht erfasst.43 Eine Bindung an eine „ordonnance pénale“ (vergleichbar mit dem deut­ schen Strafbefehl gem. §§ 407 ff. StPO) schließt das Gesetz ebenfalls aus.44 2. Bindungswirkung im Hinblick auf sämtliche Zivilverfahren Das Strafurteil entfaltet grundsätzlich für alle nachfolgenden Zivilverfahren Bindungswirkung, unabhängig davon, ob diese eine „action civile“, mit der unmit­ telbar durch eine strafbare Handlung verursachte Schäden geltend gemacht wer­ den, oder eine andere Zivilklage („action à fins civiles“) zum Gegenstand haben.45 Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ greift deshalb beispielsweise auch dann ein, wenn es um den Regressanspruch des Dritten geht, der zivilrecht­ lich für den Angeklagten haftet.46 Ferner gilt sie im arbeitsgerichtlichen Verfahren, sodass etwa der Arbeitsrichter bei der Beurteilung der Wirksamkeit einer Kündi­ gung an das Strafurteil gebunden ist, sofern dieses entscheidungserheblich ist.47 Allerdings hat das Gesetz vom 5. März 2007 („Loi n° 2007-291 du 5 mars 2007 tendant à renforcer l’équilibre de la procédure pénale“) die Anwendbarkeit des

41

Civ. 25. Mai 1987, Bull. civ. I n° 165; Civ. 2. Juli 1980, Bull. civ. II n° 165. Ch. mixte, 10. Oktober 2008, JCP 2008.II.10199; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 216; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 485; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 962; Vergès, Procédure pénale, S. 142. 43 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 217. 44 Art.  495–5 Abs.  2, 528–1 Abs.  2 CPP; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 962; Vergès, Procédure pénale, S. 142; zur umstrittenen Rechtfertigung dieser Einschrän­ kung Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 187 ff., v. a. S. 189, der die Einschränkung darauf stützt, dass ein Beitritt der „partie civil“ im Strafbefehlsverfahren unzulässig ist; in diesem Sinne auch Larguier/Conte, Procédure pénale, S. 424; a. A. Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action pu­ blique, S. 152 f., der darauf abstellt, dass der Strafbefehl ohne Gewährung rechtlichen Gehörs erlassen wird; so auch Pradel, Procédure pénale, S. 921, 925. 45 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 146, Fn. 1 m. w. N.; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 302; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 485 f.; Pradel, Procédure pénale, S. 930; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 963; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 8; a. A. Griolet, zitiert nach Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 144 f., der der Ansicht ist, dass die „autorité de la chose jugée au pénal“ nur für „actions civiles“ gelten sollte. 46 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 147; Pradel, Procédure pénale, S.  930; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S.  963; Caron/Douchy-Oudot,­ Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 8. 47 Soc. 25. November 2003, Bull. civ. V n°293; Soc. 18. April 1991, JCP 1991.IV.232; Soc. 10. Dezember 1991, Bull. civ. V n° 562; Pradel, Procédure pénale, S. 930; a.A noch die Recht­ sprechung vor 1980, Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 8. 42

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ für die „actions à fins civiles“ erheblich eingeschränkt.48 Nur ausnahmsweise ist die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ im Zivilprozess nicht zu beachten. Dies ist etwa im einstweiligen Rechtsschutz der Fall, da dieser lediglich vorläufige Entscheidun­ gen hervorbringt.49

III. Umfang der Bindungswirkung Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ genießt in sachlicher (1.) und persönlicher Hinsicht  (2.) einen weiten Anwendungsbereich. Abgemildert wird die enorme Reichweite des Prinzips aber dadurch, dass dieses nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag oder Einrede der Parteien hin zu berücksichtigen ist (3.). 1. Sachlicher Umfang der Bindungswirkung Der Zivilrichter ist nur an die Entscheidung des Strafrichters über die Strafbar­ keit des Angeklagten gebunden  [a)]. Dabei differenziert das französische Recht nicht zwischen Tenor und Entscheidungsgründen [b)]. Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ erfasst jedoch nur die tragenden Elemente des Straf­ urteils, soweit diese auch im Zivilverfahren entscheidungserheblich sind [c)]. Eine Entkräftung der Bindungswirkung durch Gegenbeweis ist unzulässig [d)]. a) Bindungswirkung der Entscheidung über die Strafbarkeit „Autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ entfaltet nur die Entschei­ dung des Strafrichters über die öffentliche Klage einschließlich der hierzu not­ wendigen Feststellungen.50 Werden darüber hinaus zivilrechtliche Schadensersatz­ ansprüche im Rahmen einer strafprozessualen „action civile“ vor dem Strafgericht geltend gemacht, unterliegt die Entscheidung über diese Ansprüche den zivilpro­ zessualen Rechtskraftgrundsätzen.51 Sie ergeht, entgegen der Entscheidung über 48

Vgl. dazu näher unter 2. Teil, A. V. 2. Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 8. 50 Civ. 10.  März 1993, Bull. civ. II n°  89; Civ. 22.  Juli 1952, D.  1952.746, S.  747; Civ. 12.  März 1947, D.  1947.296; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 210; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 964. 51 Civ. 29.  Januar 2004, Bull. civ. II n°  32; Civ. 3.  April 1978, D.  1978, IR 403; Civ. 12. März 1947, D. 1947.296; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 280; Pradel, Procédure pénale, S. 925; Larguier/Conte, Procédure pénale, S. 425; Stefani/ Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S.  964; dasselbe gilt im deutschen Recht, vgl. unter 1. Teil, A. II. 1. 49

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2. Teil: Frankreich

die ­Anklage, nicht im öffentlichen Interesse, sondern ausschließlich im privaten­ Interesse und wirkt daher nur relativ52, d. h. nur zwischen den Parteien. Im Gegen­ satz dazu werden zivilrechtliche Vorfragen von der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ erfasst, sofern diese entscheidungserheblich waren.53 b) Keine Beschränkung der Bindungswirkung auf den Tenor des Strafurteils Die französische Rechtsprechung differenziert im Hinblick auf die Reichweite der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht zwischen Tenor und Ent­ scheidungsgründen. Denn der Zivilrichter ist auch an die Entscheidungsgründe des Strafurteils gebunden, soweit diese zur Entscheidung über die Strafbarkeit not­ wendige Elemente enthalten.54 Diese enorme Reichweite der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ ergibt sich aus dem Zweck, den der Grundsatz verfolgt. Dieser soll nämlich Widersprüche zwischen Zivil- und Strafurteil verhindern.55 Ein Widerspruch im Tenor dürfte kaum denkbar sein56, da der Tenor des Straf­urteils einen Schuld- und Strafausspruch enthält, der des Zivilurteils dagegen eine Ent­ scheidung über den prozessualen Anspruch. Stattdessen besteht die Gefahr, dass sich die Urteile in den Entscheidungsgründen widersprechen57, die daher nach dem französischen Verständnis folgerichtig durch die „autorité de la chose jugée au­ pénal sur le civil“ geschützt werden müssen. c) Bindungswirkung der tragenden Elemente des Strafurteils, soweit diese entscheidungserheblich für das Zivilverfahren sind Der Zivilrichter ist im französischen Recht an die Elemente des Strafurteils­ gebunden, die für sein eigenes Urteil entscheidungserheblich sind  [bb)]. Dabei können jedoch nur die tragenden Urteilselemente, die sogenannten „constatations certaines et nécessaires“58, überhaupt Bindungswirkung im Zivilverfahren entfal­ ten [aa)].59

52

Civ. 22. Juli 1952, D. 1952.746, S. 747. Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 9; Pradel, Procédure pénale, S. 925; kritisch dazu Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 298 f. 54 Civ. 8. Juli 1994, Bull. civ. I n° 239; Civ. 2. Mai 1984, Bull. civ. I n° 144; Soc. 27. Mai 1983, Bull. civ. V n° 287. 55 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. VIII. 3. 56 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 235. 57 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 235. 58 So bezeichnet von Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 965. 59 Soc. 27. September 2006, D. 2006.IR.2416; Civ. 10. März 1993, Bull. civ. II, n° 89; Civ. 6. Juli 1978, JCP 1978.IV.284; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 965. 53

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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aa) Bindung im Hinblick auf die „constatations certaines et nécessaires“ des Strafurteils Nach der französischen Rechtsprechung ist der Zivilrichter nur an die „constata­ tions certaines“60 gebunden61. Daher behält er seine Beurteilungsfreiheit, wenn be­ stimmte Feststellungen des Strafurteils ungenau oder unklar sind62 oder es sich um bloße Mutmaßungen oder Hypothesen handelt63. Denn in diesen Fällen droht kein Widerspruch zum Strafurteil, das im Hinblick auf einen bestimmten Punkt vage ge­ blieben ist.64 Dagegen erstreckt sich die „autorité de la chose jugée au ­pénal sur le civil“ auf die Feststellungen des Strafurteils, die auf der Anwendung des „in dubio pro reo“ Grundsatzes beruhen.65 Dass dies zur Folge haben kann, dass der Zivilrich­ ter an ein Urteil gebunden ist, das die materielle Wahrheit nicht zutreffend wieder­ gibt, da der Freispruch „in dubio pro reo“ nicht zwingend mit der wahren Rechtslage übereinstimmen muss, nimmt die französische Rechtsprechung zugunsten der Wi­ derspruchsfreiheit zwischen straf- und zivilgerichtlicher Entscheidung bewusst hin. Außerdem bezieht sich die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nur auf die „constatations nécessaires“66 des Strafurteils, d. h. nur auf die tragenden Urteilselemente, die notwendig sind, um den Schuldspruch zu begründen.67 Dazu gehören zum einen die tragenden tatsächlichen Feststellungen68 und zum ande­ ren auch die rechtliche Würdigung des Strafrichters, soweit die strafrechtlichen und zivilrechtlichen Konzepte übereinstimmen.69 Der Grund für diese Einschrän­ kung liegt wiederum in der Existenzberechtigung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, nämlich darin zu verhindern, dass der Zivil­ richter das im öffentlichen Interesse ergangene Strafurteil in Frage stellt, indem er abweichend vom Strafrichter entscheidet.70 Daher soll die Bindungswirkung des Strafurteils nur in den Fällen greifen, in denen tatsächlich ein Widerspruch zwi­ schen beiden Urteilen droht. Hierfür muss es sich einerseits um Elemente des 60

Übersetzung der Verfasserin: „bestimmten Elemente“. Civ. 9. Juni 1993, Bull. civ. I n° 209; Civ. 17. Juni 1933, S. 1933.1.381; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 229; Pradel, Procédure pénale, S. 926. 62 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 489; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 965; Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 30. 63 Viney, Introduction à la responsabilité, S. 301; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de pro­ cédure civile, 1, S. 5. 64 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 620. 65 Civ. 6. Dezember 1995, Bull. civ. II. n° 303; Civ. 9. Juni 1993, Bull. civ. I n° 209; Soc. 2. März 1961, D. 1961.371; Pradel, Procédure pénale, S. 926. 66 Übersetzung der Verfasserin: „tragenden Elemente“. 67 Soc. 27. September 2006, D. 2006, IR 2416; Civ. 25. März 1997, Bull. civ. I n° 104; Civ. 18.  Dezember 1978, JCP 1979.IV.70; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S.  966;­ Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 6. 68 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 158 f.; Pradel, Procédure pénale, S. 926. 69 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 159 f. 70 Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 31; Botton, Contribu­ tion à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 193. 61

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2. Teil: Frankreich

Strafurteils handeln, die erforderlich sind, um die Entscheidung über die Strafbar­ keit zu begründen und andererseits müssen diese Elemente auch im Zivilverfahren entscheidungserheblich sein.71 Um an dieser Stelle eine ausufernde Darstellung der Rechtsprechung zu der Frage zu vermeiden, welche Urteilselemente vom Strafrichter notwendigerweise festgestellt werden, ist lediglich zusammenfassend festzuhalten: Wird der Ange­ klagte im Strafverfahren verurteilt, sind alle tragenden tatsächlichen Feststellun­ gen entscheidungserheblich.72 Stimmen die straf- und zivilrechtlichen Begriffe überein, ist der Zivilrichter darüber hinaus auch an die rechtliche Würdigung des Strafrichters gebunden.73 Geht es dagegen um Urteilselemente, die für die Frage der Schuld nicht entscheidungserheblich sind, sodass ein Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil ausscheidet, ist der Zivilrichter nicht gebunden und darf nach seiner freien Überzeugung entscheiden.74 Daher sind beispielsweise Feststellun­ gen zum Strafmaß75, zum Schadensumfang76 (es sei denn, dieser ist strafbegrün­ dend oder strafschärfend)77 und zu Drittursachen (Mitverschulden des Geschädig­ ten78, Verschulden eines Dritten79, höhere Gewalt80)81 nicht bindend. 71

Dazu sogleich unter 2. Teil, A. III. 1. c) bb). Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 159; Pradel, Procédure pénale, S. 926. 73 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 159 f.; Pradel, Procédure pénale, S. 926; daher ist der Zivilrichter beispielsweise an die recht­ liche Qualifikation der Tat durch den Strafrichter gebunden: Civ. 3. Januar 1996, Bull. civ. I. n°5. Er darf deshalb einen Sachverhalt, der vom Strafrichter als Betrug oder Untreue qualifi­ ziert wurde, nicht als Diebstahl würdigen, Civ. 23. Dezember 1863, D. 1865.1.82; Soc. 27. März 2001, Bull. civ. V n° 105 (Strafurteil gegen Gesellschaft wegen illegaler Beschäftigung stellt für Zivilverfahren bindend fest, dass Arbeitsverhältnis zwischen Parteien besteht); Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 297 ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Pro­ cédure pénale, S. 967; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 6. 74 Civ. 15.  November 2001, JCP 2002.II.10130; Civ. 19.  November 1997, Bull. civ. II. n° 279; Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81; Pradel, Procédure pénale, S. 927. 75 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 286 ff.; Caron/DouchyOudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 7; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 968; kritisch hierzu Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 251. 76 Civ. 17. April 2008, Bull. civ. II n° 89; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 263; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 968. 77 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S.  327; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 263; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 299. 78 Civ. 16. Februar 1994, Bull. civ. II. n° 57; Civ. 13. November 1959, D. 1960. somm. 31; CA Grenoble, 22. März 1929, D. 1930.2.39, S. 40. 79 Vgl. beispielsweise Civ. 26. Januar 1932, S. 1933.1.58. 80 Vgl. beispielsweise Civ. 28. Februar 1995, Bull. civ. I n° 103; Civ. 14. Dezember 1977, D. 1978.IR.201; Viney, Introduction à la responsabilité, S.  304 f. und Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 200 f. sehen diese Rechtsprechung kritisch, da der Freispruch in einem solchen Fall streng genommen nicht auf dem fehlenden Verschulden des Angeklagten, sondern auf der Drittursache beruhe. 81 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 275; Stefani/Levasseur/Bou­ loc, Procédure pénale, S. 968; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 7. 72

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Wird der Angeklagte dagegen freigesprochen, ist entscheidend, auf welcher Begründung der Freispruch beruht.82 Verneint der Strafrichter beispielsweise den Vorsatz, nachdem er den objektiven Tatbestand festgestellt hat, ist der Zivilrichter lediglich an die Feststellung, dass der Angeklagte unvorsätzlich gehandelt hat, ge­ bunden, nicht aber an die Feststellung des objektiven Tatbestands, da dieser nicht entscheidungserheblich für den Freispruch war.83 bb) Entscheidungserheblichkeit einzelner Elemente des Strafurteils für die Entscheidung des Zivilrichters Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ kommt schließlich nur inso­ weit zum Tragen, als sich im Zivilprozess dieselbe Frage wie im Strafprozess stellt (auch als „identité de la question“84 oder „domaine d’intersection“85 bezeichnet).86 Da die Bindungswirkung widersprüchliche Entscheidungen zwischen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit verhindern soll, werden von ihr nur die tragenden Elemente des Strafurteils87 erfasst, die nunmehr entscheidungserheblich für das Zivilverfah­ ren sind. Darunter können sowohl die tatsächlichen Feststellungen als auch die rechtliche Würdigung des Strafurteils fallen. Daher ist der Zivilrichter an den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt gebunden, wenn er über die zivilrechtlichen Folgen desselben Sachverhalts zu entscheiden hat, den zuvor der Strafrichter zu würdigen hatte.88 Darüber hinaus erstreckt sich die Bindungswirkung auch auf die rechtliche Würdigung des Strafrichters, soweit der Bedeutungsgehalt der strafund zivilrechtlichen Begriffe kongruent ist.89 Dies setzt voraus, dass die strafrecht­ liche und zivilrechtliche Definition bestimmter Rechtsbegriffe, wie beispielsweise der Fahrlässigkeit90, der Kausalität91, des Vorsatzes92 usw. übereinstimmen. Da eine umfassende Darstellung der zivil- und strafrechtlichen Definitionen den Umfang

82

Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 199. Beispiel bei Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 199. 84 Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 35. 85 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 211. 86 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 300. 87 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). 88 Vgl. beispielsweise Civ. 24. Oktober 2012, D. 2013.68; Soc. 12. März 1991, D. 1991, IR 91; Civ. 11. Mai 1977, Bull. civ. II n° 125. 89 Civ. 24. Oktober 2012, D. 2013.68; Civ. 7. Mai 2003, Bull. civ. II n° 140; Botton, Contri­ bution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 211; Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 35 f. 90 Dazu ausführlich unter 2. Teil, A. V. 1. 91 Hierzu ausführlich Andriot-Leboeuf, RRJ 2000, 1205, S. 1216 f.; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 215 ff. 92 Hierzu ausführlich Andriot-Leboeuf, RRJ 2000, 1205, S. 1217 f.; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 220 ff.; Wittmann, Les interfé­ rences entre instances civile et pénale parallèles, S. 531 ff. 83

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2. Teil: Frankreich

sprengen würde, soll im Rahmen dieser Untersuchung93 lediglich auf die Entwick­ lung des strafrechtlichen und zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriffs eingegangen werden, da diese den Anwendungsbereich des Prinzips der „autorité de la chose­ jugée au pénal sur le civil“ erheblich reduziert hat. d) Keine Möglichkeit des Gegenbeweises Nach der französischen Rechtsprechung bindet das Strafurteil den Zivilrich­ ter selbst dann, wenn es sich um ein Fehlurteil handelt.94 Jeder Beweis, der da­ rauf ­abzielt, das Strafurteil in Frage zu stellen, ist unzulässig.95 Damit kommt dem Strafurteil im französischen Recht eine unwiderlegbare Richtigkeitsvermutung zu.96 2. Persönlicher Umfang der Bindungswirkung Betrachtet man die französische Lösung des Konflikts konkurrierender Ver­ fahren zugunsten einer gerichtszweigübergreifenden Bindungswirkung des Straf­ urteils, interessiert aus der deutschen Perspektive vor allem die Frage nach dem persönlichen Umfang dieser Bindungswirkung. Denn eine Bindung des Zivilrich­ ters an das Strafurteil wird im deutschen Recht insbesondere wegen der drohen­ den Verletzung des rechtlichen Gehörs der am Strafprozess unbeteiligten Drit­ ten abgelehnt.97 Diese Frage lässt sich jedoch für das französische Recht derzeit nicht eindeutig beantworten. Da der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au ­pénal“ von der Rechtsprechung schon Mitte des 19.  Jahrhunderts entwickelt wurde, veränderte sich auch der Blickwinkel der Rechtsprechung im Hinblick auf dessen persönliche Reichweite im Laufe der Zeit. Während ursprünglich die „erga­ omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée“ ausgerufen wurde [a)], tendiert die Rechtsprechung heute dazu, die Wirksamkeit der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gegenüber Dritten, die nicht am Strafverfahren98 beteiligt wa­ ren, einzuschränken [b)].

93

Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. V. 1. Com. 14. November 1989, Bull. civ. n° 289; Dintilhac, La vérité – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S. 62; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 296; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 8 f. 95 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 263. 96 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 263. 97 Vgl. ausführlich unter 1. Teil, A. IV. 2. c). 98 Der Begriff des „Strafverfahrens“ oder „Strafprozesses“ meint in diesem Zusammenhang den Strafprozess im weiteren Sinne, d. h. sowohl die „action publique“ als auch die „action ci­ vile“ vor dem Strafrichter, Definition wie bei Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 32, 267, Fn. 29. 94

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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a) Traditionelle Anerkennung der „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ Die Cour de cassation ging zunächst davon aus, dass die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ „envers et contre tous“99 wirke.100 Diese Auffassung wurde auch von der französischen Literatur geteilt.101 Da das Strafurteil also „erga omnes“-Wirkung zeitigt, ist es auch Dritten gegenüber, ohne Rücksicht auf de­ ren Beteiligung am Strafverfahren, verbindlich.102 Von der Bindungswirkung des Strafurteils wird daher sowohl das Opfer einer Straftat, das dem Strafverfahren nicht als „partie civile“ beigetreten ist103, als auch alle sonstigen Dritten, denen kein rechtliches Gehör im Strafprozess gewährt wurde, erfasst.104 Diese uneinge­ schränkte persönliche Reichweite des Bindungsgrundsatzes beruht nach der fran­ zösischen Doktrin im Wesentlichen auf der Überlegenheit des Strafverfahrens105, die damit begründet wird, dass dieses besser zur Wahrheitsermittlung geeignet sei106 und im Gegensatz zum Zivilprozess dem öffentlichen Interesse diene.107 Da­ her sei es nicht hinnehmbar, dass das Zivilurteil dem Strafurteil widerspreche.108 Auf die Parteiidentität könne es nicht ankommen, da Widersprüchlichkeiten zwi­ schen Zivil- und Strafurteil, die eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und des Vertrauens in die Strafjustiz zur Folge hätten, unter allen Umständen ver­ hindert werden müssten.109 Die Anerkennung einer „erga omnes“-Wirkung des Strafurteils hat zur Folge, dass das Strafurteil nicht nur zugunsten des Verletzten, sondern auch zu dessen Lasten wirken kann. So ist der Zivilrichter im französischen Recht beispielsweise an einen Freispruch im Strafprozess gebunden, selbst wenn dem Geschädigten im

99

Übersetzung der Verfasserin: „gegenüber jedermann“. Civ. 22.  Februar 2005, Bull. civ. II n°37; Soc. 27.  März 2001, Bull. civ. n°  105; Civ. 11. Mai 2000, Bull. civ. III n°108; Civ. 17. Dezember 1998, Bull. civ. II n° 305; Soc. 21. No­ vember 1990, Bull. civ. n°  573; Civ. 29.  April 1985, D.  1985.IR 501; Civ. 22.  Juli 1952, D. 1952.746, S. 747; Civ. 12. März 1947, D. 1947.296; Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81. 101 Dintilhac, La vérité – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S. 62. 102 Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81; Larguier/Conte, Procédure pénale, S. 424; Guinchard/ Buisson, Procédure pénale, Rn. 898; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 959, 961; insoweit ist die Rechtslage bei Prinz von Sachsen Gessaphe, ZZP 112, 3, S. 26 und Spiess, Das Adhäsionsverfahren in der Rechtswirklichkeit, S. 256 unzutreffend wiedergegeben. 103 Civ. 29. April 1985, Bull. civ. I. n° 131; Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81; Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter A. 104 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 165. 105 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 264. 106 Siehe dazu unter 2. Teil, A. VIII. 2. a); kritisch dazu Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 414; aber auch die Vorstellung Valticos, dass der Zivilrichter dem Strafurteil nicht widersprechen dürfe, beruht letztlich auf der Überlegenheit des Strafverfah­ rens, Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 426. 107 Dintilhac, La vérité – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S. 62. 108 Siehe dazu ausführlich unter 2. Teil, A. VIII. 2. 109 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 413, 426. 100

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Strafverfahren kein rechtliches Gehör gewährt wurde.110 Sogar der Freispruch „in dubio pro reo“ entfaltet im französischen Recht Bindungswirkung zulasten des Verletzten.111 Allerdings sind diese Nachteile seit Einführung des Art.  4–1 CPP im Jahr 2000 etwas abgemildert.112 Denn seither steht der Freispruch vom Fahr­ lässigkeitsvorwurf einer Schadensersatzklage wegen desselben Vorwurfs nicht mehr entgegen. Zwar ist der Zivilrichter nicht mehr an die rechtliche Würdigung, jedoch weiterhin an den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt gebunden, so­ dass sich das Strafurteil weiterhin zulasten des Geschädigten auswirken kann. Ohne Rücksicht darauf, ob diese ihre Rechte im Strafverfahren geltend machen konnten, wirkt das Strafurteil auch zulasten außenstehender Dritter, wie beispiels­ weise derjenigen Personen, die für den Angeklagten zivilrechtlich haften, oder Versicherungen des Angeklagten.113 Wie für das deutsche Recht bereits ausführ­ lich dargestellt114, verletzt eine undifferenzierte Bindungswirkung des Strafurteils das rechtliche Gehör.115 Aus diesem Grund wird die „erga omnes“-Wirkung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ seit Ende des 19. Jahrhunderts von einem bedeutenden Teil der französischen Lehre kritisiert.116 b) Entwicklung der Rechtsprechung im Hinblick auf die „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Auch wenn die Cour de cassation bis heute ihre Rechtsprechung zur „erga omnes“-­Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal“ nicht ausdrücklich auf­ gegeben hat, hat sie den Grundsatz in den letzten Jahren in einigen Fällen einge­ schränkt, in denen seine Anwendung gegen das rechtliche Gehör Dritter verstoßen hätte. Jedoch setzen sich die französischen Gerichte nicht immer ausdrücklich mit dieser Problematik auseinander. 110 Soc. 3. November 2005, Bull civ. V n° 307; Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S.  418; Perrot, Institutions judiciaires, S. 493; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 961. 111 Civ. 9. Juni 1993, D. 1993.IR.178; Civ. 3. Februar 1976, D. 1976.441; a. A. noch die frü­ here Rechtsprechung, Req. 26. Oktober 1891, D. 1892.I.564; CA Poitiers 18. März 1903, D. 1903.2.212, 213. 112 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. IX. 3. 113 Civ. 29. April 1985, D. 1985.IR 501 (Schadensersatzklage gegen die am Strafverfahren unbeteiligte Versicherung des verurteilten Angeklagten); Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 418; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 961. 114 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. c). 115 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 121; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 10. 116 Frison-Roche, Généralités sur le principe du contradictoire, S. 169; Rebut, D. 1998.1.575, S. 577; Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter B.; Pradel, Procédure pénale, S. 922; Dintilhac, La vérité – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S. 62; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 10; Ascensi, Du principe de la contradiction, S. 177 f.; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 268.

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aa) Die Entscheidung „Sainglas gegen Sainglas“ Hervorhebung verdient in diesem Zusammenhang insbesondere die bereits im 19. Jahrhundert ergangene Entscheidung „Sainglas gegen Sainglas“ der Cour de cassation, in der sich der oberste Gerichtshof einmalig ausdrücklich gegen die „erga omnes“-Wirkung des Prinzips ausgesprochen hat.117 Damals entschied die Cour de cassation, dass ein Strafurteil gegen den Angeklagten keine Bindungswir­ kung zulasten einer Partei des Zivilprozesses entfalten könne, die sich im Straf­ verfahren nicht beteiligen konnte, da das Verfahren gegen sie eingestellt worden war.118 Denn dem Dritten sei weder rechtliches Gehör gewährt worden noch habe er die Entscheidung des Strafrichters mit Rechtsmitteln angreifen können.119 Indem die Vorinstanz eine Bindungswirkung angenommen habe, habe sie das Recht auf Verteidigung des am Strafverfahren unbeteiligten Dritten verletzt.120 Diesem Ur­ teil wurde allerdings damals keine besondere Bedeutung beigemessen und es blieb über mehrere Jahrzehnte eine Ausnahmeerscheinung.121 Aus heutiger Sicht ist die Entscheidung jedoch sehr interessant, da sie sich ausdrücklich mit der Vereinbar­ keit der „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ mit dem Recht auf Verteidigung und auf rechtliches Gehör auseinandergesetzt hat. bb) Einschränkung der negativen Folgen der „erga omnes“-Wirkung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ durch eine objektive Beschränkung des Prinzips Nachdem die Entscheidung lange Zeit keine Anhänger gefunden hatte, wurde sie Anfang des 20.  Jahrhunderts jedoch von einigen Instanzgerichten wieder aufgegriffen, die eine Bindungswirkung des Strafurteils zulasten am Strafverfah­ ren unbeteiligter Dritter ebenfalls ablehnten.122 Zur damaligen Zeit erkannte die französische Rechtsprechung123 zwar die Problematik, dass die „erga omnes“-Wir­ kung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gegen Rechte Dritter verstoßen könnte, denen kein rechtliches Gehör im Strafprozess gewährt wurde. Jedoch löste man dieses Problem nicht durch eine subjektive Beschränkung des Grundsatzes, sondern durch die oben geschilderten sachlichen Einschränkun­ 117 In diesem Sinne auch Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 421; Pradel, Procédure pénale, S. 923. 118 Civ. 9. Mai 1898, DP 1898.1.505, S. 506. 119 Civ. 9. Mai 1898, DP 1898.1.505, S. 506. 120 Civ. 9. Mai 1898, DP 1898.1.505, S. 506. 121 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 421; Joinet, Bulletin d’in­ formation n° 478 du 15/09/1998, unter B.; Rebut, D. 1998.1.575, S. 576. 122 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter B.; Pradel, Procédure pénale, S. 923 f. 123 Beispielsweise Civ. 4. Februar 1935, D. 1935.225; Civ. 14. November 1934, D. 1935.68; Civ. 10.  Februar 1931, S.  1933.1.57 und Civ. 26.  Januar 1932, S.  1933.58; CA Grenoble, 22. März 1929, D. 1930.2.39, S. 40.

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gen.124 Den Entscheidungen lag jeweils ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde. Das Strafgericht hatte den Angeklagten jeweils aufgrund einer Fahrlässigkeitstat ver­ urteilt, jedoch bei der Strafzumessung zu seinen Gunsten berücksichtigt, dass entweder einen Dritten oder den Geschädigten ein Mitverschulden traf. Das im anschließenden Schadensersatzprozess zur Entscheidung berufene Zivilgericht fühlte sich aufgrund der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ an das im Strafurteil festgestellte Mitverschulden gebunden und folgte dem Strafurteil dies­ bezüglich. Die Rechtsmittelgerichte hoben diese Entscheidungen jeweils mit der Begründung auf, dass nur die „constatations nécessaires“ Bindungswirkung ent­ falteten.125 Daher seien Feststellungen des Strafrichters zum Mitverschulden Drit­ ter, die im Strafverfahren nicht beteiligt waren, nicht bindend.126 Diese Feststellun­ gen seien nicht entscheidungserheblich für die Frage der Schuld oder Unschuld des Angeklagten, sondern nur für die Frage des Strafausspruchs.127 Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ erstrecke sich nur auf die Bestandteile des Strafurteils, die sich mit dem Angeklagten beschäftigten und nicht auf Bestand­ teile, die auf das Verhalten nicht angeklagter Dritter Bezug nähmen, da sich diese im Strafverfahren nicht verteidigen könnten.128 Ähnlich wurde auch im Falle eines Freispruchs des Angeklagten wegen Verschuldens des Geschädigten argumen­ tiert.129 Auch hier dürfe sich der Angeklagte, der in einem späteren Zivilrechtsstreit Gegenansprüche gegen den Geschädigten geltend macht, nicht auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ berufen. Denn die Frage, ob den Geschädig­ ten ein Verschulden treffe, sei im Strafverfahren nicht entscheidungserheblich und dürfe dem Dritten daher nicht entgegengehalten werden. Zwar hat die Rechtsprechung in diesen Entscheidungen ausdrücklich auf die Rechte Dritter Bezug genommen. Allerdings wurde eine Bindungswirkung in al­ len Fällen mit der Begründung abgelehnt, dass die Feststellungen zum Verschulden Dritter keine „constatations nécessaires“ darstellten und daher nicht von der „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal“ erfasst würden. Da man eine Bindungswirkung bereits an den sachlichen Grenzen des Prinzips scheitern ließ, musste in all diesen Fällen nicht darauf eingegangen werden, ob das rechtliche Gehör Dritter einer absoluten Bindungswirkung des Strafurteils entgegensteht.130 124

In diesem Sinne auch Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 422. Civ. 4. Februar 1935, D. 1935.225; Civ. 26. Januar 1932, S. 1933.58, S. 59. 126 Civ. 26. Januar 1932, S. 1933.58, S. 59. 127 Civ. 26.  Januar 1932, S.  1933.58; Civ. 10.  Februar 1931, S.  1933.1.57; CA Grenoble, 22. März 1929, D. 1930.2.39, S. 40. 128 CA Grenoble, 22. März 1929, D. 1930.2.39, S. 40 unter Bezugnahme auf das Urteil der Cour de cassation aus dem Jahr 1898, Civ. 9. Mai 1898, DP 1898.1.505, S. 506; a. A. CA Paris, 24. Januar 1929, D. 1930.2.38, S. 39 (das Zivilgericht ist an das vom Strafgericht festgestellte Mitverschulden sowie die Mitverschuldensquote gebunden). 129 Civ. 14. August 1940, Gaz.Pal. 1940.127, S. 128; Req. 18. Februar 1935, D. 1935.164. 130 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 424; zum Teil wurden diese Urteile zwar dahingehend interpretiert, dass das Strafurteil Dritten gegenüber, die nicht am Strafverfahren beteiligt waren, nicht bindend sei, Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de 125

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Diese Frage stellt sich jedoch weiterhin in den Fällen, in denen die sachlichen Grenzen der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gewahrt sind, etwa dann, wenn ein Freispruch nicht wegen Verschuldens des Geschädigten, sondern wegen erwiesener Unschuld des Angeklagten erfolgt. In dieser Konstellation sind die sach­ lichen Grenzen der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ eingehalten, sodass zumindest die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils131, folgt man der Theorie der „erga omnes“-Wirkung, dem Geschädigten gegenüber gelten müssten. Dessen Klage auf Schadensersatz vor den Zivilgerichten hätte von vorneherein kei­ nen Erfolg, da er an den vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt gebunden wäre. Aber auch eine Verurteilung kann ausnahmsweise für den Angeklagten günstig sein. So kann sich der wegen einer Fahrlässigkeitstat verurteilte Angeklagte gegenüber seiner Versicherung im Deckungsprozess darauf berufen, dass er die Tat fahrlässig begangen habe und daher der versicherungsrechtliche Haftungsausschluss wegen Vorsatzes nicht greife. Die Versicherung muss das Urteil gegen sich gelten lassen, obwohl sie im Strafprozess nicht beteiligt war. Wie die französische Rechtsprechung den Konflikt zwischen „erga omnes“-Wirkung und rechtlichem Gehör heute löst, lässt sich nicht ganz eindeutig beantworten. Denn die persönliche Reichweite des Grundsatzes wurde zwar bis heute nicht explizit eingeschränkt, es scheint sich je­ doch für die Zukunft eine Aufgabe der „erga omnes“-Wirkung abzuzeichnen.132 cc) Die Entscheidung der Cour de cassation vom 3. Juni 1998 Als subjektive Einschränkung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ wird beispielsweise eine Entscheidung der Cour de cassation aus dem Jahr 1998 interpretiert.133 Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt134 zugrunde: Der Kläger hatte ein Strafverfahren wegen Verleumdung gem. Art. 29 des Gesetzes über die Pressefreiheit („Loi du 29 juillet 1881 sur la liberté de la presse“) gegen die Verlegerin eines Presseartikels, nicht aber gegen den Autor des Artikels eingeleitet, der gem. Art. 43 Abs. 1 desselben Gesetzes als Teilnehmer der Pressestraftat behandelt wird. Im Strafverfahren, in dem der Autor also nicht be­ teiligt war, wurde die Verlegerin strafrechtlich verurteilt. Im Zivilverfahren wurde nunmehr jedoch der Autor des Artikels unter Berufung auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf Schadensersatz in Anspruch genommen. procédure civile, 1, S.  11, jedoch folgten weitere Urteile der Cour de cassation, die an der „autorité erga omnes“ festhielten, vgl. etwa Soc. 3. November 2005, Bull. civ. V n° 307. 131 Zur Bindung an die rechtliche Würdigung unter 2. Teil, A. V. 1. 132 In diesem Sinne auch Pradel, Procédure pénale, S. 923 f.; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 282 f.; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 772. 133 Rebut, D. 1998.1.575; Pradel, Procédure pénale, S. 924; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 282 f.; Wittmann, Les interférences entre in­ stances civile et pénale parallèles, S. 669 f. 134 Ch. mixte, 3. Juni 1998, D. 1998, 575.

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2. Teil: Frankreich

Folgt man der Ansicht der französischen Rechtsprechung, wonach die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, gegenüber jedermann wirkt, hätte das Strafurteil auch Bindungswirkung zulasten des Autors im Zivilverfahren ent­ falten müssen, obwohl dieser im Strafverfahren nicht beteiligt war.135 Denn die Be­urteilung, ob eine Äußerung als Verleumdung zu würdigen ist, erfolgt not­ wendigerweise bereits im Strafverfahren und aus der Sicht des Autors, der den Presseartikel verfasst hat.136 Folglich hatte das Strafurteil exakt dasselbe Verhal­ ten zum Gegenstand, auf das der Kläger anschließend seine zivilrechtliche Klage stützte.137 Während die erste Instanz diesen Grundsätzen folgte und eine Bindungs­ wirkung des Strafurteils annahm, wies die Berufungsinstanz die Klage mit der­ Begründung ab, dass die „autorité du pénal sur le civil“ dem Autor nicht entgegen­ gehalten werden könne, da dieser nicht Partei des Strafverfahrens gewesen sei und ihm daher kein rechtliches Gehör gewährt worden sei.138 Wäre die Cour de cas­ sation ihrer eigenen Rechtsprechung zur „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au ­pénal sur le civil“ treu geblieben, hätte sie das Berufungsurteil eigentlich wegen Verletzung dieses Grundsatzes aufheben müssen.139 Überraschenderweise wies die Cour de cassation stattdessen die Revision mit der vom Premier Avocat Général140 Joinet vorgeschlagenen Begründung141 zurück, dass der Geschädigte sein Recht auf zivilgerichtlichen Rechtsschutz gegen den Autor des Artikels „erschöpft“ habe, da er gegen diesen kein Strafverfahren eingeleitet habe. Mit diesem Schachzug konnte die Cour de cassation die Bindungswirkung des Strafurteils umgehen, ob­ wohl die Entscheidung des Strafrichters nach dem Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ eigentlich dem Dritten gegenüber verbindlich gewe­ sen wäre.142 Da die Cour de cassation die Revision mit dem speziell presserechtlichen Ar­ gument des Verlusts des Klagerechts begründete, musste sie keine Stellung zu der Frage nehmen, die der Premier Avocat Général aufgeworfen hatte, näm­ lich, ob dem Prinzip der „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le­ civil“ oder dem rechtlichen Gehör und dem Recht auf effektive Verteidigung Vor­ rang einzuräumen sei.143 Der Premier Avocat Général hatte hierzu ausgeführt, dass die „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le­ civil“ das rechtliche Gehör Dritter verletze, das durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garan­ tiert werde.144 Dieses beinhalte sowohl das Recht, vom Gericht überhaupt gehört zu werden, als auch das Recht, unter Berücksichtigung der prozessualen Waffen­ 135

Rebut, D. 1998.1.575, S. 577. Rebut, D. 1998.1.575, S. 576. 137 Rebut, D. 1998.1.575, S. 576. 138 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998. 139 Rebut, D. 1998.1.575, S. 577. 140 Übersetzung der Verfasserin: Generalstaatsanwalt. 141 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter b). 142 Rebut, D. 1998.1.575, S. 577. 143 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter B. 144 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter B. 136

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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gleichheit der Parteien gehört zu werden.145 Er empfahl daher, die Revision zu­ rückzuweisen, da die Bindungswirkung des Strafurteils nicht zulasten des Autors, der den Ausgang des Strafverfahrens nicht beeinflussen konnte, wirken könne.146 Unter anderem verwies er dabei auf die Rechtslage in anderen europäischen Län­ dern, namentlich in den Rechtsfamilien des angelsächsischen Rechts sowie auf die Rechtslage in Deutschland, Spanien und der Schweiz, die allesamt eine Bindungs­ wirkung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess ablehnten.147 Stattdessen entschied sich der oberste Gerichtshof für eine Kompromisslösung, da man sich der Problematik des rechtlichen Gehörs bewusst war, gleichzeitig aber wohl nicht die jahrzehntelange, gefestigte Rechtsprechung aufgeben wollte.148 Allerdings ist diese Lösung ausschließlich für den Spezialfall der Pressedelikte anwendbar. Der Konflikt zwischen umfassender Bindungswirkung und recht­ lichem Gehör Dritter ist jedoch kein Einzelfall, sondern tritt in vielen Konstel­ lationen auf.149 Schon damals war also absehbar, dass die Cour de cassation mit Fällen konfrontiert sein wird, in denen eine „elegante Umgehung“ der Entschei­ dung des ­Widerstreits zwischen „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pé­ nal sur le c­ ivil“ und rechtlichem Gehör Dritter nicht möglich sein wird, und in­ denen eine eindeutige Stellungnahme im Hinblick auf diese Frage erforderlich sein wird.150 dd) Die Entscheidung der Cour de cassation vom 12. Juli 2000 Eine solche Entscheidung, die sich ausdrücklich mit dem Spannungsverhältnis zwischen der „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ und dem entgegenstehenden rechtlichen Gehör Dritter beschäftigt, ist schließlich im Jahre 2000 ergangen.151 In ihrem Urteil vom 12. Juli 2000 hat die Assemblée plé­ nière152 der Cour de cassation entschieden, dass ein Strafurteil der Cour de justice de la République den Personen gegenüber unanwendbar sei, die sich nicht als „par­ tie civile“ im Strafprozess beteiligen konnten.153 Der Entscheidung lag ein Straf­ verfahren gegen das damalige Regierungsmitglied Ségolène Royal aufgrund des Vorwurfs der Verleumdung gem. Art. 29 des Gesetzes über die Pressefreiheit zu­ grunde. In Frankreich gibt es eine Spezialzuständigkeit der Cour de la justice de la République, die ausschließlich für die Entscheidung über Straftaten von Regie­ 145

Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter B. Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter B. 147 Joinet, Bulletin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter B. 148 In diesem Sinne auch Rebut, D. 1998.1.575, S. 577; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 11. 149 Rebut, D. 1998.1.575, S. 577. 150 In diesem Sinne auch Rebut, D. 1998.1.575, S. 578. 151 Ass. plén. 12. Juli 2000, Bull. civ. 2000, Ass. plén. n° 6. 152 Die Assemblée Plénière entspricht in etwa den Vereinigten Großen Senaten beim BGH. 153 Ass. plén. 12. Juli 2000, Bull. civ. 2000, Ass. plén. n° 6. 146

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2. Teil: Frankreich

rungsmitgliedern zuständig ist.154 Art. 13 Abs. 2 und 3 des Gesetzes „n° 93-1252 du 23 novembre 1993 sur la Cour de justice de la République“, das das Verfahren vor der Cour de la Justice de la République regelt, bestimmt, dass die Beteiligung als „partie civile“ vor der Cour de justice de la République unzulässig ist und Scha­ densersatzansprüche ausnahmsweise nur vor den „juridictions de droit commun“ geltend gemacht werden können. Anders als sonst im französischen Strafverfah­ ren üblich (Art. 3 ff. CPP), konnten sich die mutmaßlichen Opfer der Verleumdung also nicht als Partei im Strafverfahren beteiligen und wurden stattdessen nur als Zeugen gehört. Mit Urteil vom 15. Mai 2000 wies die Cour de justice de la Ré­ publique daher deren Antrag auf „constitution de parties civiles“ zurück.155 Mit Urteil vom 16. Mai 2000 wurde Ségolène Royal vom Vorwurf der Verleumdung­ freigesprochen.156 Die beiden mutmaßlichen Opfer der Verleumdung legten gegen beide Entschei­ dungen der Cour de la justice de la République Revision ein.157 Ihrer Ansicht nach verstoße die Zurückweisung als „partie civile“ gegen Art.  6 Abs.  1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 IPBPR, die den Zugang zu den Gerichten und das Recht auf ein fai­ res Verfahren, sowie das Recht auf effektive Verteidigung, auf rechtliches Gehör und auf prozessuale Waffengleichheit garantierten, da sie sich im Strafverfahren nicht beteiligen hätten können und ihnen kein rechtliches Gehör gewährt worden sei.158 Die Cour de cassation lehnte indes einen Verstoß gegen die genannten Be­ stimmungen ab. Denn, so die Argumentation des obersten Gerichtshofs, das Urteil der Cour de la justice de la République, das in einem Verfahren ergangen sei, in dem die Beschwerdeführer nicht Partei waren, sei ihnen gegenüber nicht wirksam.159 Daher bestehe für die mutmaßlichen Opfer der Verleumdung die Möglichkeit, ihre Argumente und Beweise im Zivilverfahren geltend zu machen, ohne dass ihnen die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ entgegengehalten werden dürfe.160 Über einen ähnlichen Fall hatte die Cour de cassation bereits in einem Urteil aus dem Jahr 1999 zu entscheiden.161 Damals stellte der oberste Gerichtshof zwar fest, dass alleine die Tatsache, dass die „constitution de partie civile“ ausnahmsweise vor der Cour de la justice de la République unzulässig ist, nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoße, da die „action civile“ weiterhin vor den Zivilgerichten erhoben werden könne und dadurch der Zugang zu den Gerichten und das Recht auf effek­ 154 Die Cour de la Justice de la République ist ein Gericht mit Spezialzuständigkeit, das­ ausschließlich für die Entscheidungen über Straftaten von Regierungsmitgliedern in Ausübung ihres Amtes zuständig ist, Art. 13 Abs. 1 Loi organique n° 93-1252 du 23 novembre 1993 sur la Cour de justice de la République. 155 Chemithe, Bulletin d’information n° 524 du 15/11/2000, unter „Résumé de le procédure“. 156 Ass. plén. 12. Juli 2000, Bull. civ. 2000, Ass. plén. n° 6. 157 Chemithe, Bulletin d’information n° 524 du 15/11/2000, unter „Résumé de le procédure“. 158 Ass. plén. 12. Juli 2000, Bull. civ. 2000, Ass. plén. n° 6. 159 Ass. plén. 12. Juli 2000, Bull. civ. 2000, Ass. plén. n° 6. 160 Mazars, Bulletin d’information n° 524 du 15/11/2000, unter II-2-2, 2). 161 Ass. plén. 21. Juni 1999, Bulletin d’information n° 499 du 15/09/1999.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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tive Verteidigung gewahrt sei.162 Auf die eigentliche Problematik des rechtlichen Gehörs, nämlich darauf, dass die Personen, die sich nicht als „partie civile“ im Ver­ fahren vor der Cour de la Justice de la République beteiligen konnten, aufgrund des Prinzips der „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ in einem späteren Schadensersatzprozess gegebenenfalls an den strafgerichtlichen Freispruch gebunden sein könnten163, obwohl ihnen kein rechtliches Gehör im Strafprozess gewährt wurde, ging die Cour de cassation damals jedoch nicht ein. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage wäre jedoch daraus geboten gewesen. Denn die Revisionsführer hatten gerügt, dass aufgrund der „identité de la faute pénale et civile“164 ein Freispruch im Strafprozess ihrer Schadensersatzklage von vorneherein jegliche Erfolgsaussichten geraubt hätte. Daher betonte die Conseiller rapporteur165 im Jahr 2000 zu Recht, dass der Konflikt zwischen der „erga omnes“Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ und den Anforderun­ gen des Art. 6 Abs. 1 EMRK das zentrale Element des Rechtsstreits darstelle.166 Die Ausführungen des obersten Gerichtshofs im Urteil vom 12. Juli 2000 wer­ fen die Frage auf, welche Reichweite dieser Entscheidung beizumessen ist. Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, da der Gerichtshof, soweit ersichtlich, bis heute keine ausdrückliche Stellungnahme mehr zur Frage der Vereinbarkeit der „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ mit den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK abgegeben hat, obwohl dieses Problem interessanterweise sehr wohl erneut vor der Cour de cassation diskutiert wurde.167 ee) Die Entscheidung der Cour de cassation vom 10. Oktober 2008 So hatte sich der oberste Gerichtshof im Jahr 2008 zuletzt mit der Frage aus­ einanderzusetzen.168 Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Rahmen eines Untersuchungsverfahrens gegen den anwaltlich vertretenen Be­ schuldigten wurde dessen Telefon aufgrund richterlicher Anordnung überwacht. Im Rahmen der Telefonüberwachung wurden Telefongespräche des Verteidigers 162

Ass. plén. 21. Juni 1999, Bulletin d’information n° 499 du 15/09/1999; Monnet, Gaz. Pal. 2001, somm. 935, S. 936. 163 Mazars, Bulletin d’information n° 524 du 15/11/2000, unter II-2-2, 2). 164 Vgl. dazu ausführlich unter 2. Teil, A. V. 1. a). 165 Übersetzung der Verfasserin: Berichterstatterin. 166 Mazars, Bulletin d’information n° 524 du 15/11/2000, unter II-2-2, 2). 167 So beispielweise die Ausführungen der Berichterstatterin Radenne und des Premier­ Avocat Général De Gouttes vor der Chambre mixte der Cour de cassation, Radenne, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 11, S. 22 ff.; De Gouttes, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 25, S. 35 ff. Letzterer führt ausdrücklich aus, dass eine Bindungswirkung des Straf­ urteils gegenüber Dritten, die nicht am Strafprozess beteiligt waren, gegen das Recht auf ein faires Verfahren und Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoße, De Gouttes, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 25, S. 37. 168 Ch. mixte 10. Oktober 2008, JCP 2008.II.10199.

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mit seinem Mandanten aufgezeichnet, in denen der Verteidiger seine gesetzliche Schweigepflicht und sein Berufsgeheimnis gegenüber Dritten verletzte. Im Un­ tersuchungsverfahren wandte sich der Mandant gegen die Verwertung der Er­ kenntnisse aus der Telefonüberwachung. Die Chambre de l’instruction hielt die Erkenntnisse jedoch für verwertbar. Der Strafverteidiger war in diesem Verfah­ ren vor der Chambre de l’instruction nicht bzw. nur als Verteidiger des Mandan­ ten beteiligt. Im anschließenden disziplinarrechtlichen Verfahren, das gegen den Verteidiger wegen Verstoßes gegen seine berufsrechtlichen Pflichten geführt wurde, ging das Disziplinargericht davon aus, an die Entscheidung der Chambre de l’instruction gebunden zu sein. Es wies die Rüge des Verteidigers, der die Unverwertbarkeit der Erkenntnisse aus der Telefonüberwachung geltend gemacht hatte, unter Be­ zugnahme auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ der Entschei­ dung der Chambre de l’instruction, die deren Verwertbarkeit festgestellt hatte, ab. Obwohl Conseiller rapporteur und Premier Avocat Général umfassende Ausfüh­ rungen zur Frage der Vereinbarkeit der „erga omnes“-Wirkung des Strafurteils mit dem rechtlichen Gehör des am Untersuchungsverfahren unbeteiligten Verteidigers gemacht hatten169, ging die Cour de cassation nicht auf die Problematik ein, da die Bindungswirkung des Strafurteils schon deshalb nicht zum Tragen kam, weil es sich nicht um ein Urteil einer „juridiction de jugement“, sondern einer „juridiction d’instruction“ handelte.170 Umso erstaunlicher171 ist die in der Bulletin d’information der Cour de cassation vom 1. Februar 2009 zu dieser Entscheidung veröffentlichte Stellungnahme.172 In dieser Mitteilung führt die Cour de cassation aus, dass die Entscheidung größ­ tenteils auf den Erfordernissen des rechtlichen Gehörs beruhe.173 Denn eine Bin­ dungswirkung des Urteils der Chambre de l’instruction gegenüber Dritten, die keine Möglichkeit hatten, sich im Verfahren als Partei zu beteiligen, verletze das rechtliche Gehör.174 Damit sei dieses Urteil in eine Entwicklung einzuordnen, die bereits mit der Entscheidung der Assemblée plénière aus dem Jahre 2000175 begon­ nen habe.176 Diese Ausführungen überraschen doch sehr, wurde doch der Aspekt des rechtlichen Gehörs und der effektiven Verteidigung mit keinem Wort im Ur­ teil des obersten Gerichtshofs erwähnt. Vielmehr heißt es im Urteil ausdrücklich: „Attendu que […] les décisions […] des juridictions pénales statuant au fond sur 169 Radenne, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 11, S. 22 ff.; De Gouttes, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 25, S. 35 ff. 170 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. II. 1. 171 In diesem Sinne auch Perrot, RTD civ. 2009, 168, S. 169; Wittmann, Les interférences en­ tre instances civile et pénale parallèles, S. 674. 172 Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 8, S. 9. 173 Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 8, S. 9. 174 Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 8, S. 9. 175 Dazu unter 2. Teil, A. III. 2. b) dd). 176 Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 8, S. 9.

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l’action publique ont au civil autorité à l’égard de tous [Herv. d. Verf.]“177. Möchte man der Mitteilung allerdings Glauben schenken, scheint es so, als ob sich in der französischen Rechtsprechung ein deutlicher Wandel abzeichnet, der die „erga omnes“-Wirkung der strafgerichtlichen Entscheidung in Frage stellt. c) Erwartete Auswirkungen der Entscheidungen auf die persönliche Reichweite der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Problematisch ist aber, welche Auswirkungen die neueren Entscheidungen der Cour de cassation auf die persönliche Reichweite der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ haben werden. Zum Teil wird vertreten, dass der oberste Ge­ richtshof keine Einschränkung der persönlichen Reichweite beabsichtige, da er, mit Ausnahme der Entscheidung aus dem Jahre 2000, nie ausdrücklich zur Frage der Vereinbarkeit der „erga omnes“-Wirkung des Grundsatzes mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör Stellung genommen habe.178 Stattdessen gehe der Gerichts­ hof auch in neueren Entscheidungen weiterhin von der „erga omnes“-Wirkung des Prinzips aus.179 Dennoch deuten die Entscheidungen aus den letzten Jahren an, dass sich das oberste französische Gericht der Problematik des rechtlichen Ge­ hörs durchaus bewusst ist. Auch die Stellungnahmen der Conseillers rapporteurs und Premiers Avocats Générals sprechen eine deutliche Sprache.180 Daher dürfte langfristig eine Einschränkung der persönlichen Reichweite der Bindungswirkung des Strafurteils in der französischen Rechtsprechung zu erwarten sein. Fraglich ist aber, in welchem Umfang eine solche Einschränkung stattfinden wird. aa) Bindungswirkung des Strafurteils gegenüber denjenigen, die tatsächlich am Strafprozess beteiligt waren Die Entscheidungen der Cour de cassation könnten so zu deuten sein, dass die Bindungswirkung des Strafurteils zukünftig nur noch für die Personen gelten solle, die tatsächlich am Strafverfahren beteiligt waren.181 Dies ist zwar beim Angeklag­ ten immer der Fall.182 Dritten, wie beispielsweise Verletzten oder Versicherungen, 177

Ch. mixte 10. Oktober 2008, JCP 2008.II.10199. Übersetzung der Verfasserin: „Die Urteile der Strafgerichte, die eine Entscheidung über die Schuld des Angeklagten zum Gegenstand haben, entfalten Bindungswirkung gegenüber jedermann“. 178 Tellier, RSC 2009, 797, S. 814. 179 Vgl. beispielsweise Ch. mixte 10.  Oktober 2008, JCP 2008.II.10199; in diesem Sinne auch Tellier, RSC 2009, 797, S. 814. 180 Vgl. beispielsweise Radenne, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 11, S. 22 ff.; De Gouttes, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 25, S. 35 ff. 181 In diesem Sinne wohl Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale paral­ lèles, S. 675. 182 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 277.

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2. Teil: Frankreich

könnte die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ dagegen nur noch in den Fällen entgegengehalten werden, in denen diese Personen tatsächlich dem Straf­ prozess beigetreten waren. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Cour de cas­ sation in ihren Entscheidungen eine solche weitgehende subjektive Beschränkung des Bindungsgrundsatzes andeuten wollte. Denn durch das Erfordernis der tatsäch­ lichen Beteiligung am Strafprozess würde der Anwendungsbereich der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ so stark beschränkt, dass dies „in der Praxis zur Abschaffung des Prinzips führen würde“.183 Dies gilt sowohl für die Klagen, die auf Ersatz des durch die Straftat verursachten Schadens gerichtet sind („actions­ civiles“) als auch für alle anderen Zivilklagen („actions à fins civiles“).184 In den Fällen der „actions à fins civiles“ bliebe die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ zwar grundsätzlich weiterhin anwendbar, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Parteien des Zivilprozesses, zu deren Lasten das Straf­ urteil wirkt, tatsächlich am Strafprozess beteiligt waren. Ergeht die Entscheidung im Zivilrechtsstreit nachdem ein rechtskräftiges Strafurteil existiert, würde dieses also zulasten aller wirken, die ihre Rechte im Strafprozess wahrgenommen haben. Da der Zivilrichter jedoch nach Art. 4 Abs. 3 CPP die Verhandlung nicht mehr aus­ setzen muss, um den Ausgang des Strafprozesses abzuwarten, ist es denkbar, dass er schon vor Rechtskraft des Strafurteils entscheidet, sodass die Bindungswirkung in diesem Fall nicht zum Tragen käme. Der Anwendungsbereich der „autorité de la chose jugée au pénale sur le civil“ für die sonstigen Zivilverfahren könnte sich daher erheblich reduzieren.185 Dies gilt erst recht für die Schadensersatzklagen, die auf einer strafbaren Hand­ lung beruhen. Diese können entweder im Zivilprozess oder im Strafprozess er­ hoben werden. Macht der Verletzte seine Schadensersatzansprüche vor dem Straf­ richter geltend und sind Versicherungen bzw. Dritte dem Strafprozess freiwillig beigetreten oder wurde ihnen der Streit verkündet, entscheidet schon der Straf­ richter über die Schadensersatzklage.186 Zu einem Zivilprozess kommt es in die­ sem Fall nicht mehr, da ja bereits im Strafprozess über alle zivilrechtlichen Folgen aus der Straftat entschieden wurde.187 Erhebt der Verletzte die Schadensersatzklage hingegen vor den Zivilgerichten, müsste er die Bindungswirkung nur noch un­ ter der Voraussetzung gegen sich gelten lassen, dass er als Nebenkläger am Straf­ prozess beteiligt war, ohne seine Ansprüche bereits dort einzuklagen.188 Nur in 183 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 276: „faire dépendre la mise en œuvre de l’autorité du recoupement subjectif des instances pénale et civile induirait, dans les faits, son abandon“; Wittmann, Les interférences entre instances c­ ivile et pénale parallèles, S. 739. 184 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 780. 185 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 277. 186 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 276. 187 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 740. 188 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 276, Fn. 72.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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diesem Spezialfall, der in der Praxis sehr selten vorkommt189, würde das Strafurteil Bindungswirkung zulasten des Verletzten entfalten. Zulasten der übrigen Dritten, wie beispielsweise Versicherungen und Dritthaftenden, würde der Bindungsgrund­ satz in der Praxis nicht mehr greifen. Denn soweit es sich nicht um den Verletz­ ten handelt, können Dritte nur im Rahmen einer Schadensersatzklage in das Straf­ verfahren einbezogen werden.190 In diesem Fall wären sie zwar am Strafprozess beteiligt, die Frage nach der Bindungswirkung des Strafurteils stellt sich dann aber nicht mehr, da es gar nicht mehr zu einem Zivilprozess kommt (es wurde ja bereits im Strafprozess über alle Ansprüche entschieden).191 Treten die sonstigen Dritten dem Strafverfahren nicht bei, muss über die Schadensersatzansprüche zwar im nachfolgenden Zivilprozess entschieden werden, jedoch würde das Straf­ urteil in diesem Verfahren nicht mehr zu ihren Lasten wirken, da sie ihre Rechte im Strafprozess nicht geltend machen konnten. Sofern es sich um Klagen vor den Zivilgerichten handelt, die auf den Ersatz von Schäden gerichtet sind, die durch eine strafbare Handlung verursacht wurden, würde die „autorité de la chose ju­ gée au pénal sur le civil“ also zukünftig de facto nur noch zulasten des Angeklag­ ten wirken.192 Im Hinblick darauf, dass das französische Recht dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ seit Jahrzehnten einen gewichtigen Stellenwert beimisst, dürfte es unwahrscheinlich sein, dass die französische Rechtsprechung das Prinzip tatsächlich derart weitgehend einschränken wird. Außerdem spricht gegen eine solche Rechtsprechungsentwicklung, dass durch die Bindungswirkung des Strafurteils gerade ein Gleichlauf zwischen strafprozessualer und zivilprozes­ sualer „action civile“ hergestellt werden soll.193 Demnach ist nicht anzunehmen, dass die französische Rechtsprechung eine Einschränkung des Prinzips beabsich­ tigt, die dazu führen würde, dass das Prinzip ausgerechnet im Bereich der „action civile“ kaum mehr Anwendung fände. bb) Bindungswirkung des Strafurteils gegenüber denjenigen, die sich am Strafprozess hätten beteiligen können Daher dürfte es näher liegen, die Entscheidungen dahingehend zu deuten, dass die Bindungswirkung des Strafurteils künftig nur noch die Personen erfassen soll, die zwar nicht tatsächlich am Strafverfahren beteiligt waren, aber immerhin die 189

Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 97 f. Wenn ihnen der Streit verkündet wird (zivilrechtlich haftende Dritte, Miniato, Le principe du contradictoire en droit processuel, S. 222, oder Versicherungen, Art. 388–1 Abs. 2 Alt. 2, 388–2 CPP, Viney, Introduction à la responsabilité, S. 264) oder sie sich im Wege der „intervention“ am Strafverfahren beteiligen (Versicherungen, Art. 388–1 Abs. 2 Alt. 1 CPP, Viney, Introduction à la responsabilité, S. 264). 191 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 276. 192 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 277. 193 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. VIII. 5. 190

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Möglichkeit hierzu hatten.194 Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ würde also nur dann nicht eingreifen, wenn der Geschädigte oder der Dritte aus tatsächlichen195 oder aus rechtlichen Gründen196 dem Strafprozess nicht beitreten konnte.197 Aus tatsächlichen Gründen ist ein Beitritt beispielsweise ausgeschlos­ sen, wenn nur ein Mittäter von mehreren im Strafprozess angeklagt war.198 Aus rechtlichen Gründen ist eine Beteiligung des Verletzten am Strafprozess etwa dann nicht möglich, wenn die „action civile“ im Strafprozess ausgeschlossen ist.199 Dies würde bedeuten, dass der Dritte (Geschädigter oder Außenstehender) in allen Fäl­ len, in denen er sich in Kenntnis des Strafprozesses nach eigenem Willen am Straf­ verfahren hätte beteiligen können, dies jedoch unterlassen hat, von der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ erfasst wird.200 Das Urteil aus dem Jahr 2000 sowie die im Jahr 2009 veröffentlichte Stellungnahme der Cour de cassation spre­ chen wohl eher für diese Auslegung.201 Zwar stellt der Wortlaut der Entscheidung aus dem Jahr 2000 darauf ab, dass das Strafurteil in einem Verfahren ergangen ist, in dem die Geschädigten nicht Partei waren.202 Jedoch ist zu beachten, dass die Ge­ schädigten nur deshalb nicht Partei waren, weil die Beteiligung als „partie c­ ivile“ gesetzlich ausgeschlossen war.203 Auch in der am 1. Februar 2009 veröffentlichten Stellungnahme der Cour de cassation heißt es, dass eine Bindung Dritter, die keine Möglichkeit hatten, sich im Strafverfahren als Partei zu beteiligen, deren recht­ liches Gehör verletze.204

194 In diese Richtung wohl Miniato, Le principe du contradictoire en droit processuel, S. 221; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 281 ff.; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 740. 195 Da beispielsweise die zivilrechtlich in Anspruch genommene Person wegen vorangegan­ gener Verfahrenseinstellung nicht angeklagt war, Civ. 9.  Mai 1898, DP 1898.1.505, S.  506, bzw. der zivilrechtlich haftende Mittäter nicht angeklagt war, Ch. mixte 3. Juni 1998, D. 1998, 575 ; vgl. hierzu auch Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 278 f. 196 Da die „action civile“ vor der Cour de la justice de la République unzulässig ist, Art. 13 Abs.  2 und 3 des Gesetzes „n°  93-1252 du 23 novembre 1993 sur la Cour de justice de la­ République“. In diese Richtung wohl Miniato, Le principe du contradictoire en droit proces­ suel, S. 221; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 281 ff. 197 In diesem Sinne auch Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au­ pénal sur le civil, S. 281 ff. 198 So der Sachverhalt, der der Entscheidung der Ch. mixte 3. Juni 1998, D. 1998, 575 zu­ grunde lag. 199 So der Sachverhalt, der der Entscheidung der Ass. plén. 12. Juli 2000, Bull. civ. 2000, Ass. plén. n° 6 zugrunde lag. 200 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 279. 201 In diesem Sinne auch Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au­ pénal sur le civil, S. 283 f. 202 Ass. plén. 12. Juli 2000, Bull. civ. 2000, Ass. plén. n° 6. 203 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. III. 2. b) dd). 204 Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 8, S. 9.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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d) Zusammenfassung Obwohl die Entscheidungen des obersten französischen Gerichtshofs in den letzten Jahren erkennen lassen, dass man sich der Problematik des rechtlichen Ge­ hörs durchaus bewusst ist, wurde der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ im Hinblick auf seine persönliche Reichweite bis heute nicht explizit eingeschränkt. Daher wird im vorletzten Teil der Arbeit noch ausführlich darauf einzugehen sein, wie die aktuelle und mögliche zukünftige Lösungen des französischen Rechts im Hinblick auf die Anforderungen des rechtlichen Gehörs zu beurteilen sind. 3. Keine Berücksichtigung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von Amts wegen Trotz der „erga omnes“-Wirkung misst die Rechtsprechung dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ überraschenderweise keinen „ordre public“ Charakter bei205; im Zivilverfahren darf diese nicht von Amts we­ gen, sondern nur auf Antrag bzw. Einrede der Parteien hin berücksichtigt wer­ den.206 Da sich der Zivilrichter also nicht auf die „autorité de la chose jugée au pé­ nal sur le civil“ stützen darf, wenn diese von keiner Partei geltend gemacht wird, muss er den Sachverhalt nach seiner freien richterlichen Überzeugung würdi­ gen.207 In diesem Fall sind widersprüchliche Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit also grundsätzlich denkbar. Für diese Einschränkung des Prinzips werden unterschiedliche Gründe angeführt. Teilweise wird darauf abgestellt, dass die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ ausschließlich im privaten Interesse bestehe.208 Denn diese werde schließ­ lich im Zivilprozess geltend gemacht209, welcher ausschließlich subjektive Rechte zum Gegenstand habe, auf die die Parteien aufgrund des Dispositionsgrundsatzes

205

Kritisch hierzu Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 140. Civ. 15. Dezember 1980, JCP 1981.IV.85; Civ. 20. Januar 1971, JCP 1971.II.16712; Req. 2. Februar 1910, D. 1910.1.141, S. 142; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 227 m. w. N.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 961; Pradel, Pro­ cédure pénale, S. 923; kritisch dazu Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose ju­ gée au pénal sur le civil, S. 254 ff.; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 642. 207 Civ. 20. Januar 1971, JCP 1971.II.16712; kritisch hierzu Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 254 ff., der deshalb vorschlägt, dass der Zi­ vilrichter die Möglichkeit haben sollte, die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von Amts wegen zu berücksichtigen. 208 Civ. 15. Dezember 1980, JCP 1981.IV.85; Pradel, Procédure pénale, S. 923; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 11. 209 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S.  135, der jedoch selbst einen „ordre public“ Charakter bevorzugen würde, S. 140. 206

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verzichten könnten.210 Daher müsse es auch möglich sein, auf die Berücksichtigung der „autorité de la chose jugée au pénal“ zu verzichten.211 Dies erscheint jedoch im Hinblick auf die traditionelle Begründung des Grundsatzes widersprüchlich.212 Denn die Bindungswirkung des Strafurteils wird darauf gestützt, dass das dem All­ gemein­interesse dienende Strafverfahren dem Zivilverfahren überlegen sei, sodass dem Strafurteil im Interesse der öffentlichen Ordnung nicht widersprochen werden dürfe.213 Andere sehen darin einen Weg des obersten Gerichts, die „erga omnes“Wirkung des Prinzips zumindest indirekt einzuschränken.214

IV. Rechtliche Einordnung und gesetzliche Anknüpfung des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ ist im fran­ zösischen Recht nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, sondern beruht auf einer Schöpfung der französischen Rechtsprechung.215 Dennoch bemühen sich Recht­ sprechung und Literatur um eine gesetzliche Anknüpfung des Prinzips. Nichtsdes­ totrotz scheint der Grundsatz eine Art Sonderstellung zu genießen. Denn weder die französischen Gerichte noch der Großteil der französischen Lehre216 bemühen sich darum, dieses elementare Prinzip des französischen Prozessrechts rechtlich einzuordnen und seine Rechtsnatur zu untersuchen.217 Im Folgenden sollen des­ halb sowohl mögliche gesetzliche Anknüpfungspunkte als auch die Rechtsnatur des Prinzips analysiert werden. 1. Regelungen des Code civil, die auf eine strafrechtliche Verurteilung oder die Begehung einer Straftat abstellen? Im 19. Jahrhundert wurde die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf einzelne Regelungen des Code civil gestützt, die auf die Begehung einer Straf­ tat oder auf eine strafrechtliche Verurteilung abstellen.218 Eine Bindungswirkung des Strafurteils wurde beispielsweise aus Art. 198 C. civ. (Strafurteil als Beweis 210

Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 135. Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 135. 212 Viney, Introduction à la responsabilité, S. 298. 213 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. VIII. 2. b). 214 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 961. 215 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. I. 216 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 18, Fn. 5. 217 Mit Ausnahme einiger Weniger, vgl. etwa Tomasin, Essai sur l’autorité de la chose jugée en matière civile, S. 189; Bouloc/Matsopoulou, Droit pénal général et procédure pénale, S. 490; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 41 ff. 218 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 723 m. w. N.; Pradel, Procédure pénale, S. 921; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 3; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 83 m. w. N. 211

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der Eheschließung)219, Art. 726, 727 C. civ. (Erbunwürdigkeit aufgrund Verurtei­ lung wegen Tötungsversuchs)220, Art. 955 C. civ. (Widerruf der Schenkung wegen Undanks bei Tötungsversuch)221 und Art. 2276 Abs. 2 C. civ. (Herausgabeanspruch gegen den Dieb)  abgeleitet.222 Allerdings behandeln alle Vorschriften einen be­ stimmten Spezialfall, sodass sich aus den Regelungen nicht auf einen allgemeinen Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ schließen lässt. Die einzelnen Vorschriften lassen sowohl eine Analogie als auch einen e contrario Schluss zu.223 Außerdem handelt es sich um Normen des materiellen Rechts; über die prozessuale Frage, ob der Zivilrichter inhaltlich an ein rechtskräftiges Straf­ urteil gebunden ist, sagen sie nichts aus.224 2. Die obligatorische Verfahrensaussetzung gem. Art. 4 Abs. 2 CPP („le criminel tient le civil en l’état“) als Grundlage der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“? Als weiterer Beleg für die Bindungswirkung des Strafurteils wird die obligatori­ sche Unterbrechung des Zivilverfahrens bei Rechtshängigkeit eines Strafverfah­ rens angeführt (sogenanntes Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“).225 Gem. Art. 4 Abs. 2 CPP hat der Zivilrichter die Verhandlung über eine Klage, die auf den Ersatz von Schäden gerichtet ist, die durch eine strafbare Handlung verursacht wurden („action civile“), auszusetzen, wenn vor oder während des Verfahrens ein Strafverfahren eingeleitet wird. Obwohl die Regelung des Art. 4 Abs. 2 CPP eigentlich nur die „action civile“ betrifft, vertrat die Rechtsprechung lange Zeit die Auffassung, dass die Aussetzungspflicht für alle Zivilverfahren gelte226, sofern das Strafurteil geeignet sei, das Zivilurteil zu beeinflussen.227 219

Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960; zur Kritik ausführlich Botton, Con­ tribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 84 f. 220 Zur Kritik ausführlich Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au­ pénal sur le civil, S. 87 ff. 221 Ausführliche Kritik bei Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 84. 222 Beispiele bei Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 31, Fn. 1; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S.  3 und Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 83. 223 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 31, Fn. 1. 224 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 31, Fn. 1; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 723; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 3. 225 Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le ci­ vil, S. 104; Dintilhac, La vérité – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S. 61; Rias, D. 2013.69; Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 27; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 294; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4; Botton, JCP 2010.674, Rn. 3. 226 Civ. 14. Mai 1985, Bull. civ. IV n° 152; Leroy, Procédure pénal, S. 268; Rias, D. 2013.69, S. 70. 227 Civ. 6. Januar 1993, Bull. civ. I n° 1; Leroy, Procédure pénal, S. 268.

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Das Argument der zwingenden Verfahrensaussetzung wird dabei auf unter­ schiedliche Weise verwendet. Die einen argumentieren, die Aussetzungspflicht demonstriere, dass das Strafverfahren notwendigerweise präjudiziell für das Zi­ vilverfahren sei.228 Da der Zivilrichter die Verhandlung bis zum Abschluss des Strafverfahrens aussetzen müsse, müsse folglich auch das im Strafverfahren er­ gangene Urteil bindend sein.229 Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der Präjudi­ zialität im deutschen und französischen Recht nicht übereinstimmt. Im deutschen Recht versteht man unter Präjudizialität, dass die Entscheidung eines Rechtsstreits von einer Rechtsfolge abhängt, die bereits in einem früheren Prozess rechtskräf­ tig festgestellt wurde.230 Im französischen Recht meint der Begriff der „question préjudicielle“ dagegen, dass es sich um eine Frage handelt, über die der angeru­ fene Richter nicht selbst entscheiden darf, da sie in die ausschließliche Zustän­ digkeit eines anderen Gerichts fällt.231 In Anbetracht einer solchen „question pré­ judicielle“ muss der unzuständige Richter sein Verfahren bis zur Entscheidung des zuständigen Richters aussetzen und ist an dessen Entscheidung gebunden.232 Nach dieser begrifflichen Klarstellung geht also die soeben dargestellte Ansicht davon aus, dass der Zivilrichter aufgrund seiner Unzuständigkeit das Verfahren ausset­ zen müsse, da der Strafrichter ausschließlich dafür zuständig sei, über die Frage der Strafbarkeit zu entscheiden.233 Dagegen spricht jedoch, dass die Zivilgerichte sehr wohl die Zuständigkeit besitzen, über einen Sachverhalt zu entscheiden, der gleichzeitig Gegenstand eines Strafprozesses sein kann.234 Von einer Unzuständig­ keit kann also keine Rede sein. Andere Stimmen in der Literatur argumentieren in die umgekehrte Richtung und sind der Ansicht, dass die zwingende Verfahrensaussetzung eine Folge des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ sei235, das sie prozes­ 228 Civ. 7. März 1855, D. 1855.I.81; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 889; Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 27; weitere Nachweise bei Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 90 f. 229 Civ. 7.  März 1855, D.  1855.I.81; Besnard, JCP 1979.1.II.19199; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S.  724 f.; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn.  889; Caron/Douchy-­ Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 230 Reichold, in: Thomas/Putzo, § 322, Rn. 9. 231 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 724; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 91. 232 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 91. 233 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 101; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 92 m. w. N. 234 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 724; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 92. 235 Stefani, RID pén. 1955, 473, S.  478; Pradel, Procédure pénale, S.  922; Dintilhac, La­ vérité  – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S.  61; Robert, Procédures Août-­ Septembre 2007, 42; Rias, D. 2013.69; Fourment, Procédure pénale, S. 344; Radenne, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 11, S. 16; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 93 mit zahlreichen Nachweisen.

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sual absichere.236 Diese Begründung hat jedoch seit Einführung des Art. 4 Abs. 3 CPP durch das Gesetz vom 5. März 2007 an Überzeugungskraft verloren.237 Seit­ her müssen nach Art. 4 Abs. 2 CPP nur noch die sogenannten „actions civiles“ aus­ gesetzt werden, wohingegen Art. 4 Abs. 3 CPP dem Gericht für alle anderen Zi­ vilverfahren diesbezüglich ein Ermessen einräumt. Nach der Gesetzesänderung war zunächst unklar, ob das Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ weiterhin auch für die Zivilverfahren anwendbar ist, die keine „action ci­ vile“ zum Gegenstand haben.238 Dagegen könnte sprechen, dass für diese Verfah­ ren schließlich keine Aussetzungspflicht mehr bestehe. Jedoch hat die Cour de cassation die Geltung des Prinzips auch für die sogenannten „actions à fins ci­ viles“ mittlerweile bestätigt.239 Dies wird auch durch Art. 4 Abs. 3 CPP selbst be­ legt, der klarstellt, dass die Verhandlung im Zivilrechtsstreit selbst dann nicht aus­ gesetzt werden muss, wenn das Strafurteil geeignet ist, „d’exercer, directement ou indirectement, une ­influence sur la solution du procès civil.“240 Allerdings wurde durch die Einführung des Art. 4 Abs. 3 CPP der Anwendungsbereich der „autorité de la chose ­jugée au ­pénal sur le civil“ für die „actions à fins civiles“ erheblich ein­ geschränkt.241 Denn sie findet heute nur noch in den Fällen Anwendung, in denen das Zivilverfahren eingeleitet wird, nachdem der Strafprozess bereits rechtskräftig abgeschlossen ist oder in denen das Gericht die Verhandlung bis zur Beendigung des Strafverfahrens aufgrund seines Ermessens aussetzt.242 Die Gesetzesänderung belegt zumindest implizit, dass sich aus der Regelung über die Verfahrensaussetzung keine zwingenden Rückschlüsse auf die Bindungswirkung des Strafurteils ziehen lassen. Denn obwohl für Zivilverfahren, die keine „action civile“ zum Gegenstand haben, die Aussetzung nunmehr im Ermessen des Richters steht, ist das rechts­ kräftige Strafurteil nach der französischen Rechtsprechung auch für diese Verfah­ ren weiterhin bindend. Ein weiterer Umstand bestätigt diese Feststellung: Für das Verhältnis zwischen Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist nämlich im französi­ schen Recht anerkannt, dass Strafurteile zwar „autorité de la chose jugée au pénal sur l’administratif“ entfalten, jedoch muss das verwaltungsgerichtliche Verfahren nicht ausgesetzt werden, wenn ein Strafverfahren eingeleitet wird.243 Dieses Aus­ einanderfallen von Aussetzungsverpflichtung und Bindungswirkung beweist, dass die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht notwendigerweise mit den Vorschriften über die Verfahrensaussetzung zusammenhängt und daher nicht 236 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 102 m. w. N.; Pradel, Pro­ cédure pénale, S. 931; Rias, D. 2013.69; Vergès, Procédure pénale, S. 143; Radenne, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 11, S. 16. 237 In diesem Sinne auch Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 238 Rias, D. 2013.69, S. 70. 239 Vgl. etwa Civ. 24. Oktober 2012, D. 2013.68; Soc. 9. April 2008, n° 07–40.880. 240 Übersetzung der Verfasserin: „den Ausgang des Zivilprozesses direkt oder indirekt zu­ beeinflussen.“ 241 Rias, D. 2013.69, S. 70. 242 Rias, D. 2013.69, S. 70. 243 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 119; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 97.

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auf die Aussetzungsvorschriften gestützt werden kann.244 Wie ein Blick in das deut­ sche Recht zeigt245, kann die Aussetzung des Zivilverfahrens auch andere Ziele, bei­ spielsweise prozessökonomischer Art, verfolgen.246 3. Bindung des Zivilrichters im Wege der negativen Rechtskraftwirkung des Strafurteils? Schließlich wurde ursprünglich auch Art.  1351 C.  civ., der die Voraussetzun­ gen für die zivilprozessuale negative Rechtskraftwirkung enthält, zur Begründung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ herangezogen.247 Diese An­ sicht wird jedoch heute nicht mehr vertreten.248 Art. 1351 C. civ. kann zutreffen­ der Weise nicht als Begründung für die „autorité de la chose jugée au pénal sur le­ civil“ dienen. Die Vorschrift behandelt die Rechtskraftgrenzen des Zivilurteils und lässt insoweit keine Folgerungen für das Strafurteil zu.249 Außerdem befasst sich Art. 1351 C. civ. ausschließlich mit den negativen Rechtskraftwirkungen des Ur­ teils250, und daher nicht mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen der zweite Richter inhaltlich an ein bereits ergangenes Urteil gebunden ist. Eine solche inhalt­ liche Bindung an das Strafurteil könnte sich einzig aus der positiven Rechtskraft­ wirkung des Strafurteils ergeben. Denn die negative Rechtskraft des Strafurteils bewirkt lediglich den Strafklageverbrauch, der aber im Zivilprozess, welcher der Verwirklichung subjektiver Rechte dient251, keine Rolle spielt.

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Botton, JCP 2010.674, Rn. 3. Vgl. hierzu unter 1. Teil, B. IV. 246 In diesem Sinne Bouloc/Matsopoulou, Droit pénal général et procédure pénale, S. 491, die der Ansicht sind, der Aussetzungspflicht könnten auch prozessökonomische Erwägungen­ zugrunde liegen; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 94 f.; a. A. Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 724 mit der Begründung, dass dann auch der Strafrichter im Hinblick auf ein rechtshängiges Zivilverfahren aussetzen müsse, um von dessen Erkenntnissen zu profitieren. Dagegen spricht aber, dass das Zivilverfahren regel­ mäßig keine umfangreicheren Erkenntnisse zu Tage bringen wird als das Strafverfahren, so auch Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 103. 247 Civ. 3. Februar 1976, D. 1976.441; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 36 ff. mit ausführlicher Darstellung der Theorie Merlins; ebenso ausführliche Dar­ stellung bei Chavanne, RSC 1954, 239, S. 243 f.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 3. 248 Leroy, Procédure pénal, S. 521; Botton, JCP 2010.674, Rn. 2; schon damals war insbeson­ dere Toullier der Auffassung Merlins entgegengetreten, der die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf Art. 1351 C. civ. stützen wollte, Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 38 f. mit ausführlicher Darstellung. 249 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 99; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 244; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 3. 250 Tomasin, Essai sur l’autorité de la chose jugée en matière civile, S. 189. 251 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 38 unter Hinweis auf Toullier; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S.  4; Botton, Contribu­ tion à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 30 f.; a. A. Merlin mit der 245

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Darüber hinaus fehlt es, wie bereits für das deutsche Recht dargestellt252, auch an der Parteiidentität im Straf- und Zivilverfahren, da (wenn man den Strafpro­ zess überhaupt als Parteiprozess bezeichnen möchte)  allenfalls der Staatsanwalt und der Angeklagte Parteien des Strafverfahrens sind.253 Die ehemals vertretene Auffassung Merlins, wonach der Staatsanwalt, der im öffentlichen Interesse der Gesellschaft handle, den Verletzten kraft dieser Funktion im Strafverfahren ver­ trete254, ist abzulehnen, da der Staatsanwalt nicht den Einzelnen, sondern die All­ gemeinheit in Bezug auf den Angriff auf die Unversehrtheit der Rechtsordnung vertritt.255 Das Interesse der Allgemeinheit darf nicht mit der Gesamtheit der Ein­ zelinteressen gleichgestellt werden.256 Schließlich ist das Argument der Interessen­ wahrnehmung durch die Staatsanwaltschaft jedenfalls dann verfehlt, wenn es nicht um den Verletzten, sondern um einen Dritten, wie etwa die Versicherung des Ange­ klagten, geht, dessen Interesse diametral entgegengesetzt zum Interesse der Staats­ anwaltschaft sein kann.257 4. Bindung des Zivilrichters im Wege der positiven Rechtskraftwirkung des Strafurteils? Einem Teil der französischen Lehre zufolge bewirke die positive Rechtskraft­ wirkung des Strafurteils die Bindung des Zivilrichters.258 In diesem Sinne wird der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ häufig auch als Begründung, beide Verfahren hätten als zentralen Gegenstand die Feststellung der Straftat, zi­ tiert nach Chavanne, RSC 1954, 239, S. 243; dagegen spricht aber, dass beiden Verfahren zwar­ gegebenenfalls derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liegt, das Klageziel jedoch völlig ver­ schieden ist, Chavanne, RSC 1954, 239, S. 244 unter Hinweis auf Toullier. 252 Vgl. unter 1. Teil, A. I. 3. a). 253 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 32, der richtigerweise auf den Strafprozess im engeren Sinne abstellt. Denn aufgrund der weitrei­ chenden Bedeutung der strafprozessualen „action civile“ ist es durchaus denkbar, dass eine Par­ tei des Zivilprozesses zwar nicht als Angeklagter, aber als „partie civile“ am Verfahren beteiligt war, Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 32, Fn. 74. 254 Chavanne, RSC 1954, 239, S. 244 mit Darstellung der Auffassung Merlins. 255 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 39 und Botton, Con­ tribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 33 jeweils unter Hin­ weis auf Toullier; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 244; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 724. 256 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 34 f. 257 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 94; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 36. 258 Tomasin, Essai sur l’autorité de la chose jugée en matière civile, S.  189; Pradel, Pro­ cédure pénale, S. 912; Bouloc/Matsopoulou, Droit pénal général et procédure pénale, S. 490;­ Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 888; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 57 ff.; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 290; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 228 f.

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2. Teil: Frankreich

„Rechtskraftwirkung des Strafurteils“ ins Deutsche übersetzt259 ohne freilich näher zu untersuchen, ob diese Übersetzung mit der rechtlichen Einordnung des Grund­ satzes im französischen Recht übereinstimmt. Für diese Ansicht spricht auf den ersten Blick, dass Zivil- und Strafverfahren nicht denselben Streitgegenstand ha­ ben, sodass überhaupt nur die positive Rechtskraftwirkung eine Bindung des Zi­ vilrichters an das Strafurteil zur Folge haben könnte.260 Denn wäre der Streitgegen­ stand in beiden Verfahren identisch, wäre der zweite Prozess bereits insgesamt unzulässig, da über den Streitgegenstand schon rechtskräftig entschieden wäre.261 Dagegen kommt die positive Rechtskraftwirkung ins Spiel, wenn beide Verfahren zwar einen anderen Verfahrensgegenstand haben, sich aber in beiden Prozessen eine identische Frage stellt. Botton bezeichnet diese identische Frage als „intersection“, also als Schnittstelle zwischen beiden Verfahren.262 Nach seiner Ansicht schütze die negative Rechtskraft die richterliche Prüfung vollumfänglich263, während die posi­ tive Rechtskraft nur eine bestimmte Vorfrage der richterlichen Prüfung einer er­ neuten Nachprüfung durch einen zweiten Richter entziehe und den zweiten Rich­ ter ­daher inhaltlich an die Entscheidung des ersten Richters binde.264 Das deutsche und französische Verständnis vom Begriff der Rechtskraft unter­ scheiden sich erheblich. Im deutschen Recht ist wie folgt zu differenzieren: Geht es im zweiten Prozess um denselben Streitgegenstand, verhindert die materielle Rechtskraft eine erneute Verhandlung über denselben Streitgegenstand. Behandelt der zweite Prozess dagegen nicht denselben Streitgegenstand, sondern ist für die Entscheidung im Zweitprozess nur eine bestimmte Frage vorgreiflich, über die im ersten Prozess bereits rechtskräftig entschieden wurde, unterbindet die materielle Rechtskraft, dass über diese eine Frage nochmals verhandelt und entschieden wird. Gegenstand sowohl der negativen als auch der positiven Rechtskraft kann jedoch im­ mer nur das sein, worüber das Gericht rechtskräftig entschieden hat. Nach deutschem Verständnis ist das ausschließlich der Tenor des Urteils.265 Daher wären die Entschei­ dungsgründe des Strafurteils nach deutschem Verständnis, selbst wenn eine positive Rechtskraftwirkung des Strafurteils anerkannt wäre, nicht der Rechtskraft fähig. Das französische Verständnis ist offenbar266 ein anderes. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Untersuchung Bottons, die sich ausführlich mit der Frage der Rechtsnatur der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ be­ 259 Hanel, in: Will, Schadensersatz im Strafverfahren, 40, S. 41, 42; Ferid/Sonnenberger, Das französische Zivilrecht, S. 456; Weber, Produkthaftung und strafprozessuales Adhäsionsverfah­ ren, S. 128. 260 Vgl. dazu bereits unter 2. Teil, A. IV. 3. 261 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 50. 262 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 41. 263 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 51. 264 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 52. 265 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. a). 266 Die positive Rechtskraftwirkung ist im französischen Recht nicht generell anerkannt. Außerdem besteht im Hinblick auf die positive Rechtskraftwirkung des Zivilurteils Streit zwi­ schen den einzelnen Kammern der Cour de cassation, ob diese positive Rechtskraftwirkung nur

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fasst.267 Nach seinem Verständnis schützt die positive Rechtskraft alle tatsächlichen und rechtlichen Elemente, die im Erstprozess entscheidungserheblich waren, vor erneuter richterlicher Nachprüfung, soweit diese Elemente auch im Zweitprozess entscheidungserheblich sind.268 Daher erfasse die positive Rechtskraft die Ent­ scheidungsgründe des ersten Urteils.269 Folgt man diesem Verständnis, schützt die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ als Ausprägung der positiven Rechtskraft des Strafurteils nicht den Tenor, sondern einzelne tragende Urteilsele­ mente des Strafurteils vor einer erneuten Nachprüfung durch den Zivilrichter.270 Aus deutscher Sicht drängt sich jedoch die Frage auf, ob nicht die subjektiven Rechtskraftgrenzen einer Bindung entgegenstehen.271 Auch im französischen Recht ist grundsätzlich anerkannt, dass die Rechtskraftwirkung eines Urteils Parteiidentität voraussetzt. Dies gilt sowohl für das Strafurteil, da die Sperrwirkung der Rechtskraft nur gilt, soweit derselbe Angeklagte wegen derselben Tat erneut verfolgt wird272, als auch für das Zivilurteil, dessen positive Rechtskraftwirkung ebenfalls Parteiidentität voraussetzt.273 Obwohl Botton durchaus zugibt, dass es an den subjektiven Voraus­ setzungen einer positiven Rechtskraftwirkung fehlt274, ordnet er die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ dennoch als positive Rechtskraftwirkung des Straf­ urteils ein.275 Da nämlich eine Parteiidentität zwischen Straf- und Zivilprozess per se ausgeschlossen sei, die Regel der „autorité de la chose jugée au pénal sur le ci­ vil“ im Übrigen aber alle Charakteristika einer positiven Rechtskraftwirkung erfülle, dürfe diese nicht allein wegen der fehlenden Parteiidentität abgelehnt werden.276 den Tenor, so beispielsweise Civ. 22. März 2006, Bulletin d’information n° 642 du 15/6/2006, n° 1256; Soc. 16. Oktober 1991, Bull. civ. V n° 407, oder auch die Entscheidungsgründe des Urteils, in diesem Sinne Civ. 12. Juli 2001, Bull. civ. I n° 216, erfasse. 267 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 41 ff. 268 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 52. Er stützt sich zur Begründung seiner These auf die einzige Norm des CPC, die eine positive Rechtskraftwirkung vorsieht, nämlich Art. 95 CPC, Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 52, 65. Diese Vorschrift bestimmt, dass eine Vorfrage im Rahmen der Entscheidung des Gerichts über seine Zuständigkeit in Rechtskraft erwächst. 269 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 52; Pa­yan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 228 m. w. N. 270 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 63. 271 Vgl. dazu für das deutsche Recht unter 1. Teil, A. I. 3. a). 272 Crim. 19. November 1958, D. 1959, Somm. 67; Crim., 9. Februar 1956, JPC 1956.II.9574; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S.  172; Pradel, Procédure­ pénale, S. 916; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 885. 273 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 75 Fn. 182. 274 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 75; auch Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 225 scheint davon auszugehen, dass die subjektiven Rechtskraftgrenzen nicht gewahrt wer­ den müssen. 275 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 76. 276 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 76.

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2. Teil: Frankreich

5. Bindung des Zivilrichters im Wege einer unwiderlegbaren Beweiswirkung des Strafurteils? Interessanterweise wird die Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ in der französischen Rechtsprechung und Literatur nur sehr selten auf die Beweisfunktion des Strafurteils gestützt. Ausdrücklich greift insbesondere H ­ ébraud dieses Thema auf, der sich in seiner Untersuchung mit dem Mechanismus der „auto­ rité de la chose jugée au pénal sur le civil“ beschäftigt.277 Seiner Ansicht nach be­ ruhe die Bindungswirkung des Strafurteils auf einer unwiderlegbaren Tatsachenver­ mutung, die der Zivilrichter zu beachten habe.278 Das Strafurteil stelle ein besonderes Beweismittel dar, das nicht den allgemeinen zivilprozessualen Beweisregeln unter­ liege und insbesondere nicht dem Gegenbeweis zugänglich sei.279 Denn auch wenn der Zivilrichter zu der Überzeugung gelange, dass das Strafurteil falsch sei280, etwa weil es auf einer falschen Zeugenaussage beruhe, sei er dennoch daran gebunden.281 Auch heute wird teilweise ähnlich argumentiert.282 So wird vertreten, dass die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf einer unwiderlegbaren Rich­ tigkeitsvermutung beruhe und daher unabhängig davon sei, wer Partei und was Ge­ genstand des Strafverfahrens gewesen sei.283 Sofern sich eine Partei des Zivilver­ fahrens auf die „autorité de la chose jugée au pénal“ berufe, stelle das Strafurteil ein Beweismittel dar, das der Zivilrichter weder unbeachtet lassen noch in Frage stellen dürfe.284 Insbesondere die „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal“ und die Tatsache, dass diese nur auf Antrag bzw. Einrede der Par­ teien hin zu berücksichtigen ist, spricht dafür, dass die Bindungswirkung des Zi­ vilrichters auf einer Beweiswirkung des Strafurteils beruht. 6. Gesetzliche Zuständigkeitsverteilung und Gerichtsorganisation als Indizien für eine Bindungswirkung des Strafurteils? Wie in der deutschen Rechtswissenschaft, gab es auch in der französischen Lehre Ansätze, welche die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ mit der gesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und der Gerichtsorganisation zu begründen 277

Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 263 ff. Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 263. 279 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 263. 280 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 275. 281 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 275. 282 Robert, Procédures Août-Septembre 2007, 42; a. A. Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 58 ff. 283 Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 27. 284 Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 27; a. A. Botton, Con­ tribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 58 f., nach seiner An­ sicht verbiete die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gerade eine Verhandlung und­ Beweiserhebung über die vom Strafrichter bereits entschiedene Frage und könne daher keine Beweiswirkung haben. 278

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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versuchten.285 So wurde argumentiert, dass nur die Strafgerichte zur Entscheidung darüber befugt seien, ob eine Straftat begangen worden sei, ob der Angeklagte schuldig sei und wie der festgestellte Sachverhalt strafrechtlich zu würdigen sei.286 Andere Gerichte dürften über diese Fragen nicht abweichend entscheiden, sondern seien an ein strafgerichtliches Urteil gebunden.287 Diese Argumentation wird heute jedoch nicht mehr vertreten. Denn die Zu­ ständigkeitsregeln entscheiden zwar darüber, in welchen Fällen die Strafgerichts­ barkeit bzw. Zivilgerichtsbarkeit zuständig ist. Rückschlüsse auf eine Bindungs­ wirkung des Strafurteils für den Zivilrichter lassen sie indes nicht zu, da sie unmittelbar keine Aussage über das Verhältnis von Zivil- und Strafverfahren tref­ fen.288 Außerdem hat sich der Gesetzgeber durch die Trennung von Zivil- und Strafverfahren dafür entschieden, dass beide Richter denselben Sachverhalt ein­ mal in strafrechtlicher und einmal in zivilrechtlicher Hinsicht zu würdigen ha­ ben.289 Schließlich müsste das Argument streng genommen auch zu einer Bindung des Strafrichters an das Zivilurteil führen, da mit derselben Begründung der Zi­ vilrichter zur Entscheidung über zivilrechtliche Fragen ausschließlich befugt sein müsste.290 Eine Bindungswirkung des Zivilurteils für den nachfolgenden Straf­ prozess wird im französischen Recht aber einhellig abgelehnt.291 7. Regelungen des Code de procédure pénale, die die Existenz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ voraussetzen? Außerdem beruft man sich auf Regelungen des Code de procédure pénale, welche die Existenz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ voraussetzen.292 Dazu gehören insbesondere Art. 495–5 Abs. 2 und 528–1 Abs. 2 CPP, die bestim­ men, dass die ordonnance pénale, die ohne mündliche Verhandlung ergeht und dem deutschen Strafbefehl entspricht, keine „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ besitzt. E contrario wird daraus abgeleitet, dass der Zivilrichter in allen an­ deren Fällen an das Strafurteil gebunden sei.293 Diese Regelungen, die Ausnahmen 285 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 54 und Chavanne, RSC 1954, 239, S. 245 jeweils unter Bezugnahme auf Aubrey und Rau. 286 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 54 und Chavanne, RSC 1954, 239, S. 245 jeweils unter Bezugnahme auf Aubrey und Rau. 287 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 57 unter Bezugnahme auf Ortolan. 288 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 62 unter Hinweis auf Faustin Hélie. 289 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 66; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 245. 290 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 726. 291 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 726. 292 So etwa Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 87 f., der aber in diesen Regelungen keine gesetzliche Verankerung des Prinzips erblickt. 293 Tomasin, Essai sur l’autorité de la chose jugée en matière civile, S. 187.

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vom Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ statuieren, stel­ len zumindest einen impliziten Beleg dafür dar, dass der französische Gesetzgeber den durch Richterrecht geschaffenen Grundsatz anerkannt hat.294 Obwohl diese Vor­ schriften also die Existenz des Prinzips unterstellen, regeln sie weder dessen Vo­ raussetzungen noch dessen Rechtsfolgen.295 8. Der Grundsatz der „unité des juridictions pénale et civile“296 als Argument für eine Bindungswirkung des Strafurteils? Teilweise wurde die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auch auf die „unité des juridictions pénale et civile“297 gestützt. Da sich die ordentliche Ge­ richtsbarkeit als Einheit darstelle, müsse der Zivilrichter an das Urteil des Straf­ richters gebunden sein.298 Gegen diese Auffassung wird jedoch eingewandt, dass dann folgerichtig auch der Strafrichter an ein vorangegangenes Zivilurteil gebun­ den sein müsse, was das französische Recht indes strikt ablehnt.299 9. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im französischen Recht vereinzelt Regelungen bestehen, die als gesetzgeberische Billigung des auf Richterrecht be­ ruhenden Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ verstanden werden können. Allerdings sind weder das Prinzip selbst noch dessen Inhalt und Rechtsfolgen ausdrücklich gesetzlich geregelt, sondern basieren ausschließlich auf höchstrichterlicher Rechtsprechung.

V. Fortwährender Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Die traditionell strenge Hierarchie zwischen Straf- und Zivilverfahren wurde in den letzten Jahren durch Gesetzesänderungen und Rechtsprechungsentwicklungen jedoch immer mehr in Frage gestellt. Diese Entwicklung hin zu einer Einschränkung der Vorrangstellung des Strafverfahrens soll nachfolgend kurz skizziert werden. 294

Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 87. Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 181. 296 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 494; Übersetzung der Verfasserin: „Einheit der Straf- und Zivilgerichtsbarkeit“. 297 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 494. 298 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 107 m. w. N.; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 494. 299 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 108; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 494. 295

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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1. Entwicklung hin zu einer größeren Freiheit des Zivilrichters bei der rechtlichen Würdigung Wie bereits dargestellt300, ist der Zivilrichter aufgrund der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ grundsätzlich auch an die rechtliche Würdigung im Strafurteil gebunden soweit die straf- und zivilrechtlichen Rechtsbegriffe über­ einstimmen. Fallen die strafrechtlichen und zivilrechtlichen Institute jedoch aus­ einander, ist der Zivilrichter in seiner rechtlichen Würdigung frei. Das französische Recht hat sich in den letzten Jahren materiellrechtlich hin zu einer größeren Un­ abhängigkeit zwischen straf- und zivilrechtlichen Konzepten entwickelt.301 Diese Entwicklungen im materiellen Recht führen zu einem Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ und haben eine größere Freiheit des Zivilrichters bei der rechtlichen Würdigung zur Folge. Den größten Bedeutungsverlust hat der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ durch das Gesetz n° 2000-647 vom 10. Juli 2000 erlitten, das die Definitionen des strafrechtlichen und zivilrechtlichen Fahrlässigkeits­ begriffs erheblich modifiziert hat. Die materiellrechtliche Frage der Bestimmung der straf- und zivilrechtlichen Fahrlässigkeit hängt mit dem Grundsatz der „auto­ rité de la chose jugée au pénal sur le civil“ eng zusammen, da eine Bindung des Zivilrichters an die rechtliche Würdigung des Strafrichters nur bei Kongruenz des zivil- und strafrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriffs möglich ist. Zunächst war die französische Rechtsprechung von einer „dualité des fautes civile et pénale“302 aus­ gegangen.303 Danach bestand zwischen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Fahr­ lässigkeit ein gradueller Unterschied304, sodass die zivilrechtliche Fahrlässigkeit sozusagen als „Minus“ in der strafrechtlichen Fahrlässigkeit mit enthalten war. Anfang des 20. Jahrhunderts wandelte sich die französische Rechtsprechung und ging nunmehr davon aus, dass zivilrechtliche und strafrechtliche Fahrlässigkeit identisch seien („unité“ bzw. „identité des fautes pénale et civile“305).306 Nach dem Grundsatz der „unité des fautes“ bedeutete die Feststellung eines strafrechtlichen Verschuldens gleichzeitig die Bejahung eines zivilrechtlichen Verschuldens und­ 300

Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). Vgl. hierzu umfassend Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale paral­ lèles, S. 451 ff. 302 Übersetzung der Verfasserin: „Dualität der zivilrechtlichen und strafrechtlichen Fahr­ lässigkeit“. 303 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 427 f. m. w. N.; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 357; Viney, Introduction à la responsa­ bilité, S. 316 m. w. N. 304 Civ. 15. April 1889, D 1890.1.136; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 366 m. w. N.; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 14; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 545. 305 Übersetzung der Verfasserin: „Einheit der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Fahrläs­ sigkeit“. 306 Urteil „Brochet et Deschamps“, Civ. 18. Dezember 1912, D. 1915.I.18; Civ. 29. Mai 1996, Bull. civ. II n° 109. 301

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2. Teil: Frankreich

umgekehrt die Ablehnung eines strafrechtlichen Verschuldens auch die Verneinung eines zivilrechtlichen Verschuldens.307 Der Grundsatz der „unité des fautes“ hatte in Frankreich jedoch gravierende Folgen. Er führte einerseits dazu, dass die Straf­ gerichte den Angeklagten schon bei geringster Fahrlässigkeit verurteilten, um dem Opfer im Zivilverfahren die Entschädigung nicht zu versagen.308 Denn wurde der Angeklagte im Strafverfahren freigesprochen, führte dies aufgrund der „unité des­ fautes“ in Verbindung mit dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ dazu, dass auch der zivilprozessualen Schadensersatzklage nicht statt­ gegeben werden durfte.309 Andererseits wurde die Rechtsprechung im Hinblick auf den Opferschutz stark kritisiert, da im Falle eines Freispruchs des Schädigers oft­ mals (mit Ausnahme besonderer Haftungstatbestände wie beispielsweise der Ge­ fährdungshaftung) auch die zivilrechtliche Kompensation der erlittenen Schäden ausgeschlossen war.310 a) Abschaffung der „unité des fautes“ Aufgrund des Gesetzes vom 10. Juli 2000 wurde die Regelung des Art. 4–1 in den Code de procédure pénale eingefügt. Nach Art. 4–1 CPP bleibt eine Klage vor den Zivilgerichten auf Grundlage der deliktischen Generalklausel des Art.  1383 C.  civ. möglich, auch wenn ein Fahrlässigkeitsvorwurf im Strafverfahren nicht festgestellt werden konnte. Diese Norm, die nunmehr eine zivilrechtliche Haf­ tung trotz Freispruchs im Strafverfahren zulässt, hat nach der Rechtsprechung und überwiegenden Ansicht der französischen Lehre zu einer Abschaffung der mate­ riellrechtlichen Regel der „unité des fautes civile et pénale“ geführt.311 307

Bonfils, D.2004.1.721; Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S.  44; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 545. 308 Desnoyer, D. 2002. Chron. 979, S. 980; Bonfils, D.2004.1.721; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 247; Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S. 44; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 15. 309 Civ.16. April 1996, Bull. civ. II n° 89; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 971. 310 Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 247. 311 Civ. 16.  September 2003, D.  2004.1.721; Bonfils, D.2004.1.721, S.  723; Desnoyer, D.  2002. Chron. 979; Rias, D.  2012.1316, S.  1317; Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S.  45 f.; Viney, Introduction à la responsabilité, S.  328 f.; Vergès, Procédure pénale, S.  145; Flour/Aubert/Savaux, Les obligations, S.  465; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S.  971; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S.  301;­ Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 18; Ascensi, Du principe de la contradiction, S.  178; kritisch hierzu Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 123; a. A. Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 225 ff., nach seiner Ansicht stellt Art. 4–1 CPP für Fälle der einfachen Fahrlässigkeit eine echte Ausnahme zum Grundsatz der „autorité de la chose ju­ gée au pénal sur le civil“ dar, S. 235; Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 135, die davon ausgehen, dass Art. 4–1 CPP nunmehr die Zivilklage zulasse und da­ her davon auszugehen sei, dass die Rechtsprechung auch die Theorie der „unité des fautes“ auf­ geben werde.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Diese Auffassung erscheint auf den ersten Blick überraschend. Denn Art. 4–1 CPP ist eigentlich eine strafprozessuale Norm, die sich nach ihrem Wortlaut nur mit der Zulässigkeit der Zivilklage nach einem Freispruch im Strafverfahren aus­ einandersetzt. Zum Teil wird daher vertreten, dass es sich bei der Regelung des Art. 4–1 CPP nicht um eine strafprozessuale, sondern um eine materiellrechtliche Norm handele.312 Hiergegen spricht jedoch, dass die Norm als materiellrechtliche Regelung systematisch nicht in die Strafprozessordnung, sondern in den Code­ civil gehört hätte.313 Die herrschende Meinung in der französischen Lehre ist sich dieser Problematik bewusst und geht daher davon aus, dass Art. 4–1 CPP als pro­ zessuale Regelung das materiellrechtliche Konzept der „dualité des fautes pénale et civile“ voraussetze.314 Beachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Cour de cassation in ihren Urteilen vom 30. Januar 2001315 und vom 12. Juli 2001316 ihre Rechtsprechung zur „unité des fautes pénale et civile“ bereits zu einem Zeitpunkt aufgegeben hatte, zu dem die Regelung des Art. 4–1 CPP noch gar nicht in Kraft getreten war.317 Nach dem nunmehr geltenden Grundsatz der „dualité des fautes“ stimmen der zivil- und strafrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff nicht mehr überein.318 Immer noch umstritten ist aber, wie sich die beiden Begriffe nach der neuen Gesetzeslage zu­ einander verhalten.319 Denkbar wäre zunächst, dass zwischen zivilrechtlicher und strafrechtlicher Fahrlässigkeit nur ein gradueller Unterschied besteht, sodass die zivilrechtliche Fahrlässigkeit sozusagen als „Minus“ in der strafrechtlichen Fahr­ lässigkeit enthalten ist.320 Folgt man dieser Ansicht, dürfte der Zivilrichter die zi­ vilrechtliche Fahrlässigkeit bejahen, obwohl der Strafrichter eine Fahrlässigkeit abgelehnt hat.321 Ist dagegen die strafrechtliche Fahrlässigkeit bejaht worden, 312

Bonfils, D.2004.1.721, S. 722, Fn. 15. In diesem Sinne auch Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au­ pénal sur le civil, S. 232. 314 Viney, Introduction à la responsabilité, S.  329, die davon ausgeht, dass der prozessua­ len Regel des Art.  4–1 CPP die materielle Regel der „dualité des fautes“ zugrunde liege; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 579; a. A. Hübner/­ Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 135, wonach Art. 4–1 CPP den Zivil­ richter ausnahmsweise zu einer abweichenden Entscheidung berechtige; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 235. 315 Civ. 30. Januar 2001, JCP 2001.IV.1528. 316 Soc. 12. Juli 2001, Bull. civ. V n° 267. 317 Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S.  47; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 18. 318 Civ. 16. September 2003, D. 2004.1.721; Bonfils, D.2004.1.721, S. 723. 319 Hierzu anschaulich Rias, D. 2012.1316, S. 1317 f. und Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 128 ff. 320 Rias, D. 2012.1316, S. 1317 f.; Pradel, Procédure pénale, S. 928; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 330 f.; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 582 f.; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 12. 321 So beispielsweise Civ. 16. September 2003, D. 2004.1.721; Soc. 12. Juli 2001, Bull. civ. V n° 267; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 583; Rias, D. 2012.1316, S. 1317. 313

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2. Teil: Frankreich

müsste auch die zivilrechtliche Fahrlässigkeit als „Minus“ zur strafrechtlichen Fahrlässigkeit angenommen werden.322 Für diese Auslegung spricht der Wortlaut des Art. 4–1 CPP, der ausdrücklich nur auf ein freisprechendes Urteil Bezug nimmt und in diesem Fall die Zivilklage zulässt323; e contrario könnte man daraus folgern, dass die strafrechtliche Verurteilung für den Zivilrichter weiterhin bindend sein solle.324 Außerdem spricht für dieses Ergebnis die historische Auslegung. Denn be­ vor der oberste Gerichtshof in seinem Grundsatzurteil „Brochet et Deschamps“325 das Prinzip der „unité des fautes pénale et civile“ entwickelte, war im französischen Recht, wie soeben dargestellt, anerkannt, dass zwischen „faute ­pénale“ und „faute civile“ ein gradueller Unterschied besteht. Andererseits ließe sich aus Art. 4–1 CPP auch ein weitergehender Schluss dahingehend ziehen, dass strafrechtlicher und zi­ vilrechtlicher Fahrlässigkeitsbegriff „ihrer Natur nach“326 unterschiedlich zu de­ finieren sind, sodass der zivilrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff kein „Minus“ zum strafrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriff, sondern ein „Aliud“ darstellen würde.327 Da der Gesetzgeber die „dualité des fautes civile et pénale“ nicht selbst präzi­ siert hat, bleibt es letztlich der Rechtsprechung überlassen, welcher These zu fol­ gen sein wird.328

322

In diesem Sinne etwa Civ. 15. Juni 2004, n° 02–31.118; Soc. 6. März 2003, n° 01–16.565; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S.  583; Pradel, Pro­ cédure pénale, S. 928; Rias, D. 2012.1316, S. 1317; Larguier/Conte, Procédure pénale, S. 425; so auch im Ergebnis Flour/Aubert/Savaux, Les obligations, S. 466. 323 Rias, D.  2012.1316, S.  1318; Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S.  48; Caron/ Douchy-­Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 18. 324 Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S. 48. 325 Civ. 18. Dezember 1912, D. 1915.I.17. 326 Rias, D. 2012.1316, S. 1318. 327 In diesem Sinne Soc. 15. März 2012, D. 2012.1316; Rias, D. 2012.1316, S. 1317 f., der diese Ansicht i.E. jedoch ablehnt; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouve­ ment de l’action publique, S. 129. 328 Eine eindeutige Tendenz lässt sich bis dato nicht feststellen. Zwar war die Cour de cassa­ tion zunächst der ersten These gefolgt, da sie zwar die zivilrechtliche Fahrlässigkeit bejahte, obwohl eine strafrechtliche Fahrlässigkeit abgelehnt wurde, Soc. 12.  Juli 2001, Bull. civ. V n° 267, jedoch davon ausging, dass die Feststellung einer „faute pénale“ zwingend auch zur Be­ jahung einer „faute civile“ führen müsse, Civ. 15. Juni 2004, n° 02–31.118; Soc. 6. März 2003, n° 01–16.565. Ein Urteil der Cour de cassation vom 15. März 2012 könnte diese Rechtspre­ chung jedoch in Frage stellen, Soc. 15. März 2012, D. 2012.1316. In dieser Entscheidung wies die Cour de cassation einen Antrag auf Aussetzung des Zivilverfahrens im Hinblick auf ein lau­ fendes Strafverfahren zurück. Der oberste Gerichtshof begründete seine Entscheidung damit, dass die „faute pénale“ (Übersetzung der Verfasserin: „strafrechtliche Fahrlässigkeit“) und die „faute inexcusable“ (Übersetzung der Verfasserin: „grobe Fahrlässigkeit“) des Arbeitgebers, deren Bestehen im Zivilverfahren zu prüfen sei, unterschiedlich zu behandeln sei. Da folglich das Strafurteil die zivilrichterliche Entscheidung nicht beeinflussen könne, sei auch eine Ver­ fahrensaussetzung nicht geboten. Diese Entscheidung könnte für eine nicht nur graduelle Un­ terscheidung, sondern völlige Unabhängigkeit zwischen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Fahrlässigkeit sprechen, Rias, D. 2012.1316, S. 1318.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

161

b) Erheblicher Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Die Einführung des Art. 4–1 CPP lässt zwar das prozessuale Prinzip der „auto­ rité de la chose jugée au pénal sur le civil“ unberührt.329 Denn die Tatsache, dass der Zivilrichter nicht länger an ein freisprechendes Urteil gebunden ist, beruht einzig und allein darauf, dass strafrechtlicher und zivilrechtlicher Fahrlässig­ keitsbegriff nicht mehr übereinstimmen, sodass der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ keine Anwendung mehr findet.330 Allerdings hat die Gesetzesänderung zu einem erheblichen Bedeutungsverlust des Grundsat­ zes331 und zu einer größeren Freiheit des Zivilrichters bei der rechtlichen Würdi­ gung geführt. Da bereits nach der früheren Rechtslage die „autorité de la chose ju­ gée au pénal sur le civil“ nicht von Amts wegen und somit nur auf Antrag einer Partei zu beachten war und die zivilrechtliche Haftung häufig auf Gefährdungs­ haftungstatbestände gestützt wurde, hatte die Regel der „autorité de la chose ju­ gée au pénal sur le civil“ ihren Hauptanwendungsbereich in Fällen der Fahrläs­ sigkeitshaftung.332 Nach der neuen Rechtslage ist der Zivilrichter jedenfalls nicht mehr gehalten, eine zivilrechtliche Fahrlässigkeitshaftung abzulehnen, wenn der Angeklagte im Strafprozess vom Vorwurf einer Fahrlässigkeitstat freigesprochen wurde. Er hat den Sachverhalt daher selbst rechtlich zu würdigen und darf ein zi­ vilrechtliches Verschulden trotz Freispruchs des Angeklagten annehmen.333 Dabei bleibt er allerdings an den vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt gebunden334; lediglich in der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts ist er nunmehr frei.335 Für den Fall der strafrechtlichen Verurteilung ist die Rechtslage noch nicht abschlie­ ßend geklärt, da noch unklar ist, ob die zivilrechtliche Fahrlässigkeit ein „Minus“ oder ein „Aliud“ zur strafrechtlichen Fahrlässigkeit darstellt. Jedoch scheint die

329 So auch Desnoyer, D. 2002. Chron. 979, S. 980; Pradel, Procédure pénale, S. 929; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 295; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 332; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 18; a. A. Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 135 wonach es sich bei Art. 4–1 CPP um eine rein prozessuale Regelung handle. 330 Civ. 16. September 2003, D. 2004.1.721; Pradel, Procédure pénale, S. 929; a. A. Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 235 nach dessen Ansicht Art. 4–1 CPP im Hinblick auf die einfache Fahrlässigkeit eine Ausnahme zum Grund­ satz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ darstelle. 331 So auch Larguier/Conte, Procédure pénale, S. 424; Rias, D. 2012.1316, S. 1319. 332 Bonfils, D. 2004.1.721, S. 724. 333 Civ. 16. September 2003, D. 2004.1.721; Civ. 28. März 2002, Bull. civ. V n° 110; Civ., 30. Januar 2001, JCP 2001.IV.1528. 334 Larguier/Conte, Procédure pénale, S. 425; Pradel, Procédure pénale, S. 928 f.; Viney, JCP 2004.I.101, Rn. 3. 335 Civ. 5. Juni 2008, n° 07-13256; so bereits Valticos, L’autorité de la chose jugée au crimi­ nel sur le civil, S. 345 f.; Bonfils, in: Malabat/De Lamy/Giacopelli, La réforme du Code pénal et du Code de procédure pénale, 257, S. 262; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 18; a. A. zumindest implizit Civ. 15. März 2012, D. 2012.1316.

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2. Teil: Frankreich

Rechtsprechung und der überwiegende Teil  der französischen Literatur eher zu einem rein graduellen Unterschied zu tendieren, was dazu führen würde, dass der Zivilrichter weiterhin an die Feststellung der Fahrlässigkeit im verurteilenden Er­ kenntnis gebunden bliebe.336 Zusammenfassend ist festzuhalten: Je größer die Übereinstimmung zwischen zivil- und strafrechtlichen Rechtsinstituten ist, desto größer ist der Anwendungs­ bereich der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“. Je mehr sich aber das französische Recht, wie in den letzten Jahren, materiellrechtlich hin zu einer grö­ ßeren Unabhängigkeit zwischen straf- und zivilrechtlichen Konzepten entwickelt, desto mehr verliert der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le­ civil“ an Bedeutung und desto größer ist die Freiheit des Zivilrichters bei der recht­ lichen Würdigung. Dabei darf man indes nicht vergessen, dass der Zivilrichter in jedem Fall zumindest an die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils gebun­ den ist. 2. Reduzierung des Anwendungsbereichs der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ durch die Einschränkung des Grundsatzes „le criminel tient le civil en l’état“ Der Anwendungsbereich der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ wurde außerdem durch die Einführung des Art.  4 Abs.  3 CPP im Hinblick auf solche Zivilverfahren, die keine Schadensersatzansprüche aus der Straftat zum­ Gegenstand haben, erheblich eingeschränkt.337 Denn wie bereits dargestellt338, hat der Gesetzgeber durch die Neuregelung der ursprünglich weiten Auslegung des Art. 4 Abs. 2 CPP durch die Rechtsprechung ein Ende gesetzt. Seither muss das Gericht nur noch die Verhandlung über eine Schadensersatzklage des Verletzten aussetzen, wohingegen dem Richter für alle anderen Zivilverfahren, ähnlich wie im deutschen Recht, ein Ermessen eingeräumt ist. Art. 4 Abs. 3 CPP dient nun­ mehr der „bonne administration de la justice“339. Wie im deutschen Recht soll sich der Zivilrichter auf diesem Weg die besseren Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens zu Nutze machen können. Setzt das Gericht die Verhandlung je­ doch nicht aus und wartet die Erledigung des Strafverfahrens nicht ab, kann es

336

Civ. 15. Juni 2004, n° 02–31.118; Soc. 6. März 2003, n° 01–16.565; Wittmann, Les inter­ férences entre instances civile et pénale parallèles, S. 585; Rias, D. 2012.1316, S. 1317; so auch im Ergebnis Flour/Aubert/Savaux, Les obligations, S. 466. 337 Rias, D. 2013.69, S. 70; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale paral­ lèles, S. 726 ; vgl. hierzu bereits unter 2. Teil, A. IV. 2. 338 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IV. 2. 339 In diesem Sinne Soc. 17.  September 2008, Bull. civ. V n°  164; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S.  9; Übersetzung der Verfasserin: „geordneten Rechts­ pflege“.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

163

seither die Bindungswirkung des Strafurteils umgehen, da diese nur dann ein­ greift, wenn zum Zeitpunkt der zivilrichterlichen Entscheidung ein rechtskräfti­ ges Strafurteil bereits existiert. In dieser Konstellation besteht die Gefahr, dass die im Zivilrechtsstreit getroffene Entscheidung dem Strafurteil widerspricht. Denn die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ wirkt nicht zurück und kann ein bereits rechtskräftiges Zivilurteil nachträglich nicht mehr beeinflussen.340 Diese Gefahr wird offensichtlich bewusst in Kauf genommen. Denn nachdem der ursprüngliche Gesetzesentwurf in Anlehnung an den Vorschlag im Rapport­ Magendie341 einen Rechtsbehelf gegen das Zivilurteil im Fall widersprüchlicher Entscheidungen vorgesehen hatte342, wurde dieser im Gesetz vom 5. März 2007 nicht umgesetzt. Zum Teil wird jedoch die Ansicht vertreten, dass das Zivilurteil, das einem späteren Strafurteil widerspricht, bereits nach der aktuellen Rechts­ lage mit dem außerordentlichen Rechtsbehelf des Art. 618 CPC angefochten wer­ den könne.343 Mit diesem speziellen Rechtsbehelf können zwei miteinander un­ vereinbare Entscheidungen angegriffen werden. Nach der Rechtsprechung des obersten Gerichtshofs sind zwei Entscheidungen allerdings grundsätzlich nur dann unvereinbar, wenn ihre gleichzeitige Vollstreckung aufgrund widersprüch­ licher Handlungsanweisungen unmöglich ist.344 Die Unvereinbarkeit muss sich also erstens immer auf den Tenor, d. h. den vollstreckbaren Inhalt der Entschei­ dung beziehen; es genügt nicht, dass sich nur die Entscheidungsgründe wider­ sprechen.345 Eine Unvereinbarkeit liegt zweitens nur dann vor, wenn die gleich­ zeitige Vollstreckung beider Entscheidungen unmöglich ist, und nicht schon dann, wenn sich beide Entscheidungen im Tenor widersprechen.346 Nach diesen Grund­ sätzen wäre eine Unvereinbarkeit zwischen Zivil- und Strafurteil im Sinne des Art. 618 CPC nie denkbar. Denn während der Tenor des Strafurteils einen Schuldund Strafausspruch enthält, wird im Tenor des Zivilurteils über den jeweiligen Klage­anspruch entschieden.347 Der drohende Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil besteht darin, dass der Zivilrichter den streitgegenständlichen Sachver­ halt tatsächlich oder rechtlich anders als der Strafrichter würdigt348 und nicht darin, dass Zivil- und Strafurteil in ihrem Tenor unterschiedliche Handlungsanweisun­ gen vorgeben.

340

Ch. mixte 19.  März 1982, Bull. civ. n°  1; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au­ Criminel sur le Civil, S. 217; Tellier, RSC 2009, 797, S. 803. 341 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 121. 342 Assemblée Nationale, Projet de loi tendant à renforcer l’équilibre de la procédure pénale n° 3393, Art. 11. 343 In diesem Sinne Tellier, RSC 2009, 797, S. 805; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 407. 344 Com. 7.  Februar 2006, n°  05-11078  ; Civ. 14.  Oktober 2004, Bull. civ. II n°  456; Civ. 30. Juni 1992, Bull. civ. I n° 202. 345 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 110. 346 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 109. 347 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 110. 348 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 115.

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2. Teil: Frankreich

Allerdings scheint die Cour de cassation davon auszugehen, dass das Zivilurteil ausnahmsweise im Wege des außerordentlichen Rechtsbehelfs des Art. 618 CPC aufgehoben werden kann, selbst wenn es einem späteren Strafurteil nur in den Ent­ scheidungsgründen widerspricht und die gleichzeitige Vollstreckung nicht unmög­ lich ist.349 Denn in einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 wurde die Aufhebung des Zivilurteils nicht auf die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Vollstreckung ge­ stützt, sondern darauf, dass der Widerspruch zwischen den Entscheidungen zu einer Rechtsverweigerung führe.350 Fraglich ist jedoch, ob man die Entscheidung der Cour de cassation tatsächlich dahingehend verstehen darf, dass nach dem obersten Gerichtshof ein Zivilurteil, das dem später ergehenden Strafurteil wider­ spricht, grundsätzlich nach Art. 618 CPC anfechtbar ist.351 Dies erscheint zweifel­ haft. Vielmehr belegt die Entscheidung, dass ein Widerspruch in der tatsächlichen oder rechtlichen Würdigung zwischen einem Zivilurteil und einem erst nach dem rechtskräftigen Zivilurteil ergehenden Strafurteil nur ausnahmsweise zu einer Auf­ hebung des Zivilurteils führen kann. Denn nur wenn der Widerspruch eine Rechts­ verweigerung im Sinne des Art. 4 C. civ.352 darstellt, ist das Zivilurteil ausnahms­ weise aufzuheben.353 3. Arbeitsentwurf zur Beschränkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf „actions civiles“ In Übereinstimmung mit den bisherigen Gesetzesänderungen wurde in einem Arbeitsentwurf zur Zukunft des Code de procédure pénale im Jahr 2010 eine­ erneute Einschränkung des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ vorgeschlagen354, die jedoch nicht umgesetzt wurde. Der Arbeitsentwurf sah einen neuen Art. 122–12 mit folgendem Inhalt vor355: 349 Civ. 1. April 2003, n° 01-18040, während das Zivilgericht die Klage des Vermieters auf Feststellung der Wirksamkeit einer Kündigung wegen Nichtleistung der vertraglich vereinbar­ ten Mietkaution mit der Begründung abgewiesen hatte, dass dieser nicht nachweisen konnte, dass die Parteien die Zahlung der Kaution im Mietvertrag tatsächlich vereinbart hatten, ver­ urteilte das Strafgericht die Mieter wegen Urkundenfälschung unter Berufung darauf, dass sie die Vereinbarung bzgl. der Kaution aus dem Mietvertrag entfernt und die gefälschte Urkunde gegen den Vermieter verwendet hätten; in diesem Sinne auch Wittmann, Les interférences ­entre instances civile et pénale parallèles, S. 111 f. 350 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 112. 351 In diesem Sinne Tellier, RSC 2009, 797, S. 805; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 407. 352 Art. 4 C. civ.: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.“ Übersetzung der Verfasserin: „Der Richter, der sich unter Berufung auf das Schweigen, die Unbestimmtheit oder die Unzulänglichkeit einer gesetzlichen Regelung weigert, über die Sache zu entscheiden, kann wegen Rechtsverweigerung verfolgt werden.“ 353 Civ. 1. April 2003, n° 01-18040. 354 Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 355 Avant-projet du futur Code de procédure pénale du 1er mars 2010, S. 20.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

165

„Art. 122–12 (Principe de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil) La décision de la juridiction pénale sur l’action pénale a autorité de la chose jugée devant la juridiction civile statuant sur l’action civile.“356

Nach Art. 122–12 des Arbeitsentwurfs für einen neuen CPP wäre die auf Rich­ terrecht beruhende Regel der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ zwar endlich ausdrücklich gesetzlich geregelt worden.357 Indes wäre ihr Anwendungs­ bereich auf die „actions civiles“ beschränkt worden, d. h. auf die Klagen, mit de­ nen der Geschädigte die durch die Straftat verursachten Schäden geltend macht. Für alle anderen Zivilverfahren wäre der Grundsatz, anders als bisher, nicht mehr anwendbar gewesen. Die Neuregelung hätte den Anwendungsbereich der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ empfindlich beschränkt. Sie hatte wohl zum Ziel, einen Gleichlauf mit den Vorschriften über die Verfahrensaussetzung herzu­ stellen.358 Denn aufgrund der Gesetzesänderung im Jahre 2007 muss das Zivil­ verfahren im Hinblick auf ein rechtshängiges Strafverfahren nur noch ausgesetzt werden, wenn es sich um eine „action civile“ handelt, Art. 4 Abs. 2 und 3 CPP.359 Dem Entwurf könnte ferner das Bedürfnis zugrunde gelegen haben, den Gleich­ lauf der „action civile“ vor den Straf- und Zivilgerichten zu gewährleisten.360 Denn der Strafrichter, der über eine im Strafprozess erhobene „action civile“ zu ent­ scheiden hat, darf sich im Rahmen seiner zivilrechtlichen Entscheidung nicht in Widerspruch zur strafrechtlichen Entscheidung setzen.361 Indem sich die „autorité de la chose jugée au pénal“ auch auf die „action civile“ vor dem Zivilrichter er­ streckt, ist ein Gleichlauf beider Verfahren hergestellt, unabhängig davon, vor wel­ chem Gericht die Klage rechtshängig gemacht wird. Obwohl vor allem die „erga­ omnes“-­Wirkung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von der französischen Literatur kritisiert wird362, setzte sich der Arbeitsent­ wurf mit dieser Problematik erstaunlicherweise nicht auseinander. 4. Einschränkung der „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Nur der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auch im Hinblick auf seine persönliche Reichweite in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat.363 356 Übersetzung der Verfasserin: „Die Entscheidung des Strafgerichts über die Strafklage bindet das Zivilgericht, das über die Schadensersatzklage des unmittelbar durch die Straftat Verletzten zu entscheiden hat.“ 357 Botton, JCP 2010.674, Rn. 1. 358 Botton, JCP 2010.674, Rn. 6. 359 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. V. 2. 360 Botton, JCP 2010.674, Rn. 9. 361 Botton, JCP 2010.674, Rn. 9. 362 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 2. a). 363 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. III. 2. b).

166

2. Teil: Frankreich

Zwar hat der oberste Gerichtshof seine Rechtsprechung zur „erga omnes“-Wirkung bisher nicht ausdrücklich aufgegeben. Jedoch scheint sich eine Einschränkung der Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht abzuzeichnen. Denn es häufen sich Ent­ scheidungen der Cour de cassation, die eine Bindungswirkung des Strafurteils zu­ lasten von Personen ablehnen, die nicht am Strafprozess beteiligt waren.364

VI. Abgrenzung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von anderen Urteilswirkungen Auch das französische Recht unterscheidet, genauso wie das deutsche Recht, die Bindungswirkung des Strafurteils aufgrund der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ von der Gestaltungs- und Tatbestandswirkung des Straf­ urteils. Denn diese beiden Urteilswirkungen führen, anders als die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, nicht zu einer inhaltlichen Bindung des Zivil­ richters an das Strafurteil.365 Auch im französischen Recht ist anerkannt, dass das Strafurteil in bestimmten Fällen Gestaltungswirkung entfaltet. Wie bereits für das deutsche Recht dargestellt366, handelt es sich dabei jedoch nicht um eine inhalt­ liche Bindung an das Strafurteil.367 Vielmehr führt die jeweilige Strafe oder Ne­ benstrafe selbst unmittelbar die Änderung der materiellen Rechtslage herbei, so­ dass der Zivilrichter bereits aufgrund seiner Gesetzesbindung an die geänderte Rechtslage gebunden ist.368 Auch die Tatbestandswirkung ist von der Bindungs­ wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ abzugrenzen. So fällt beispielsweise die Regelung des Art.  727 C.  civ., der die Erbunwürdigkeit zum Gegenstand hat und hierfür auf die strafrechtliche Verurteilung des Erben we­ gen bestimmter Delikte abstellt, nicht in den Anwendungsbereich der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“.369 Vielmehr handelt es sich hier um einen Fall der Tatbestandswirkung des Strafurteils, da die strafrechtliche Verurteilung ausdrückliche Tatbestandsvoraussetzung für die zivilrechtliche Rechtsfolge der Erbunwürdigkeit ist.370 Um eine inhaltliche Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil geht es dagegen nicht, da alleine die Existenz des Strafurteils zur Erb­ unwürdigkeit führt.

364

Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. III. 2. b). Vgl. zum deutschen Recht oben unter 1. Teil, A. II. 2. 366 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. II. 2. 367 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 255. 368 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 253 f. 369 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S.  258; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 85. 370 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 258 f.; a. A. Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 87, der eher von einer Gestaltungswirkung auszugehen scheint. 365

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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VII. Verwertung einzelner Erkenntnisse des Strafverfahrens im Zivilverfahren Soweit das Strafurteil ausnahmsweise keine Bindungswirkung im nachfol­ genden Zivilprozess entfaltet, darf der Zivilrichter wie im deutschen Recht ein­ zelne Erkenntnisse aus den Strafakten verwerten, um sich seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Behauptung zu bilden.371 Dies setzt vor­ aus, dass eine der Parteien das Beweismittel aus dem Strafverfahren im Zivilver­ fahren vorlegt oder dessen Beiziehung beantragt.372 Sodann unterliegen die im Strafverfahren gewonnenen Beweisergebnisse der freien richterlichen Beweiswür­ digung.373 Ein Geständnis im Strafprozess darf daher, wie im deutschen Recht, nicht wie ein zivilprozessuales Geständnis behandelt werden.374 Ausnahmsweise kann auch das Strafurteil, etwa wenn es noch nicht rechtskräftig ist, als gewöhn­ liches Beweismittel im Zivilprozess verwertet werden, wobei es in diesem Fall der freien richterlichen Beweiswürdigung unterliegt und den Zivilrichter nicht­ bindet.375

VIII. Rechtfertigung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Da die französische Rechtsprechung trotz vielfacher Kritik bis heute an dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ festhält, obwohl dieser nicht explizit gesetzlich geregelt ist376, lohnt es sich, die Argumente zu un­ tersuchen, die im französischen Recht für eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil angeführt werden. 1. Historische Entwicklung Der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ geht auch im französischen Recht auf eine historische Entwicklung zurück. Im römischen Recht waren Zivil- und Strafprozess noch nicht strikt voneinander getrennt.377 Zwar bestand seit dem 17. Jahrhundert zwischen Straf- und Zivilverfahren zumin­ 371 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 264, Rn. 2 m. w. N.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S.  990 f. m. w. N.; Karila de Van, in: Raynaud/­ Aubert, Répertoire de droit civil, 1, S. 27. 372 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 265. 373 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 266. 374 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 268. 375 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 269 f. 376 Vgl. dazu unter 2. Teil, A. IV. 9. 377 Viney, Introduction à la responsabilité, S.  162; Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S. 38.

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2. Teil: Frankreich

dest formale Unabhängigkeit. Dennoch gab es zwischen beiden Verfahren auf­ grund der besonderen Rolle des Verletzten im Strafverfahren weiterhin eine enge Verbindung.378 So ging man im „ancien droit“ des 16. und 17. Jahrhunderts noch davon aus, dass das Strafverfahren primär vom Verletzten eingeleitet werde.379 Die Schadensersatzklage des Verletzten wurde als akzessorisch zum Strafverfah­ ren betrachtet.380 Nach der damals vorherrschenden Auffassung wurde daher im Strafurteil immer, zumindest implizit, über die Schadensersatzansprüche des Ver­ letzten mitentschieden381, sodass auch der Zivilrichter an diese implizite Entschei­ dung des Strafrichters über die Schadensersatzansprüche des Verletzten gebunden war.382 Eines Rückgriffs auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ be­ durfte es nicht, da nach der damaligen Auffassung über die Schadensersatzansprü­ che des Verletzten praktisch schon mit dem Strafurteil entschieden worden war.383 Diese Begründung ließ sich jedoch nicht mehr halten, als sich der französische Gesetzgeber im 18.  Jahrhundert für eine völlige Unabhängigkeit von Zivil- und Strafverfahren entschieden hatte, da die öffentliche Klage aufgrund der Unabhän­ gigkeit beider Verfahren nun keinen Einfluss mehr auf die Schadensersatzklage des Verletzten haben konnte.384 Sie war im Übrigen auch nicht geeignet, die Bin­ dungswirkung des Strafurteils für die sogenannten „actions à fins civiles“ zu­ rechtfertigen, für die die Strafgerichte ja gerade nicht zuständig sind.385 Nachdem nunmehr die Unabhängigkeit der beiden Verfahren gesetzlich vorgesehen war, fehlte im französischen Recht, ebenso wie im deutschen Recht, eine ausdrück­ liche Regelung, die sich mit den Auswirkungen des Strafurteils auf das Zivilver­ fahren beschäftigt hätte. Daher waren Rechtsprechung und Literatur, wie bereits dargestellt386, zunächst bemüht, den vorhandenden gesetzlichen Regelungen eine Aussage in Bezug auf die Lösung des Konflikts konkurrierender Zivil- und Straf­ verfahren zu entnehmen. Da deren Aussagegehalt jedoch begrenzt ist, wurden andere Begründungsansätze für die Rechtfertigung der Bindungswirkung des Strafurteils entwickelt, die nachfolgend untersucht werden.

378

Viney, Introduction à la responsabilité, S. 163. Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 21; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 163. 380 Chavanne, RSC 1954, 239, S. 243; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 163. 381 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 105; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 243. 382 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 26. 383 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 26; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 243. 384 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 28. 385 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 106; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 725. 386 Vgl. unter 2. Teil, A. IV. 379

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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2. Überlegenheit des Strafverfahrens a) Bessere Wahrheitsermittlung im Strafverfahren Nach Auffassung von Teilen der französischen Literatur müsse der Zivilrichter das Strafurteil beachten, da das Strafverfahren besser zur Wahrheitsermittlung ge­ eignet sei.387 Der Strafrichter verfüge dank des Amtsermittlungsgrundsatzes und der besonderen strafprozessualen Eingriffsbefugnisse über weitergehende Erkenntnis­ möglichkeiten als der Zivilrichter.388 Plakativ werden auch im französischen Recht die Begriffe der „vérité formelle“389, die den im Zivilverfahren geltenden Beibrin­ gungsgrundsatz beschreibt, und der „vérité matérielle“390, die im Strafverfahren mit Hilfe des Untersuchungsgrundsatzes ermittelt werden soll, gegenübergestellt. Auch wenn man zugestehen muss, dass die Möglichkeiten der Sachverhalts­ aufklärung des Strafprozesses denen des Zivilprozesses zumindest insoweit über­ legen sind, als es um spezifische strafprozessuale Eingriffsbefugnisse geht391, bietet das Strafurteil keine Gewähr für seine Richtigkeit. Daher wird gegen das Ar­ gument der besseren Wahrheitsermittlung im Strafprozess, wie in der deutschen Diskussion, zu Recht vorgebracht, dass auch der Strafrichter nicht unfehlbar sei und auch das Strafurteil, obwohl der Strafprozess die Ermittlung der materiellen Wahrheit anstrebe, nicht immer mit dieser Wahrheit übereinstimme.392 Außerdem wird, wie im deutschen Recht393, betont, dass auch im Zivilverfahren die Wahrheit ermittelt werden soll und zu diesem Zweck nur andere, nicht zwingend schlech­ tere Methoden als im Strafverfahren angewandt würden.394 Überdies sei die Rolle des Richters im französischen Zivilprozess in den letzten Jahren erheblich ge­ stärkt worden.395 So sei dieser beispielsweise befugt, die Erhebung sämtlicher 387

Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 80 f. m. w. N.; Pradel, Procédure pénale, S. 922; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au p­ énal sur le civil, S. 125, Fn. 252 m. w. N. 388 Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 890; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pé­ nale, S. 960; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 294; Vergès, D. 2007.1441, S. 1447; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 389 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 728; Übersetzung der Verfasserin: „formelle Wahr­ heit“. 390 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 728; Übersetzung der Verfasserin: „materielle Wahr­ heit“. 391 In diesem Sinne Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’ac­ tion publique, S. 219, der darin eine mögliche Grundlage für die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ sieht, S. 222. 392 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 495; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 729; Pradel, Procédure pénale, S. 922; Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 118; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960; Leroy, Procédure pénal, S. 521; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 393 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. a). 394 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 127. 395 Pradel, Procédure pénale, S. 922; Vergès, D. 2007.1441, S. 1443, der vor allem auf den „juge de mise en état“ (Übersetzung der Verfasserin: „mit der Vorbereitung der mündlichen­

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2. Teil: Frankreich

Beweismittel von Amts wegen anzuordnen.396 Zuletzt lässt sich dem Argument richtigerweise entgegenhalten, dass die Verwertung der strafprozessualen Er­ kenntnisse im Zivilverfahren auch ohne eine strikte Bindung des Zivilgerichts an das Strafurteil möglich wäre, sodass kein Bedürfnis nach einer Bindungswirkung besteht.397 b) „Prééminence du pénal sur le civil“398 Da der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht ex­ plizit gesetzlich geregelt ist399, greift die französische Doktrin zur Untermaue­ rung desselben vor allem auf allgemeine Prinzipien zurück.400 Seit jeher wird ins­ besondere mit der Überlegenheit des Strafverfahrens argumentiert.401 Für diese Überlegenheit wird angeführt, dass das Strafverfahren der Aufrechterhaltung des „ordre public“ diene, da in diesem Verfahren im öffentlichen Interesse über den staatlichen Strafanspruch entschieden werde, während das Zivilverfahren ledig­ lich Individualinteressen zum Gegenstand habe.402 Darüber hinaus seien auch die Rechte des Einzelnen, die im Strafverfahren auf dem Spiel stünden, wie beispiels­ weise die Freiheit des Angeklagten, bedeutender als die lediglich untergeordneten Interessen im Zivilprozess.403 Aufgrund dieser Überlegenheit des Strafprozesses dürfe der Zivilrichter dem Strafurteil nicht widersprechen.404 Verhandlung befassten Richter“) hinweist, dem eine ähnliche Funktion wie dem Untersuchungs­ richter im Strafverfahren zukomme. 396 Art.  10, 143 CPC, Vergès, D.  2007.1441, S.  1444; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 127. 397 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 121; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 496; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 294; Caron/Douchy-Oudot, Ju­ risclasseur de procédure civile, 1, S. 4; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose­ jugée au pénal sur le civil, S. 131. 398 So bezeichnet von Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 109; Übersetzung der Verfasserin: „Überlegenheit des Strafprozesses gegenüber dem Zivilprozess“. 399 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IV. 9. 400 Pradel, Procédure pénale, S. 922; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 401 Nachweise bei: Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 79 und Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 727 f.; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 109, Fn. 172; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 294; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960. 402 Civ. 7.  März 1855, D.  1855.1.81; Nachweise bei: Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960; Pradel, Procédure pénale, S. 922; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de pro­ cédure civile, 1, S. 4; Vergès, D. 2007.1441; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 111, Fn. 179. 403 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 727 f.; Pralus, RSC 1972, 31, S. 33; Botton, Con­ tribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 112 m. w. N. 404 Civ. 7. März 1855, D. 1855.1.81; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 113 m. w. N.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Auch diese Argumentation wird heute in Frage gestellt.405 Insbesondere406 wird ihr vorgeworfen, es sei verfehlt anzunehmen, dass das Zivilverfahren ledig­ lich privaten Interessen diene.407 Denn vor allem in Abstammungs- und Fami­lien­ sachen408 sowie in Insolvenzsachen409 und Staatsangehörigkeitsfragen410 verfolge das Zivilverfahren über reine Privatinteressen hinausgehende Zwecke. Andere wenden gegen die Überlegenheit des Strafprozesses ein, dass das Zivilverfahren zwar primär dem subjektiven Rechtsschutz diene411, jedoch gleichzeitig im öf­ fentlichen Interesse zur Herstellung des Rechtsfriedens beitrage, da es den Streit zwischen zwei Privaten über ihre Rechte endgültig beilege.412 Schließlich wird bezweifelt, ob die im Strafverfahren in Rede stehenden Rechte des Einzelnen tatsächlich gewichtiger sind als die Interessen der Parteien im Zivilverfahren.413 Denn zum einen könne sich auch der Ausgang des Zivilverfahrens erheblich auf das Leben des Einzelnen auswirken.414 So dürfe beispielsweise in Familien­ sachen415, oder wenn es um die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Ver­ mögen einer Gesellschaft geht416, nicht ernsthaft davon ausgegangen werden, dass nur untergeordnete Interessen der Parteien auf dem Spiel stünden. Zum an­ deren müsse der Angeklagte im Strafprozess nur selten tatsächlich um seine Frei­ heit bangen.417

405 Umfassend dazu Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 113 ff. und Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’ac­ tion publique, S. 190 ff. 406 Zu weiteren Einwendungen, vgl. die umfassende Darstellung bei Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 113 ff. 407 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 194 m. w. N. 408 Botton, JCP 2010.674, Rn. 4; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouve­ ment de l’action publique, S. 192. 409 Botton, JCP 2010.674, Rn. 4; Vergès, D. 2007.1441, S. 1442 allgemein zu den Gemein­ samkeiten von Zivil- und Strafverfahren. 410 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 119. 411 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 120. 412 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 120; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 194. 413 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 118 f.; Bonfils, in: Malabat/ De Lamy/Giacopelli, La réforme du Code pénal et du Code de procédure pénale, 257, S. 259; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 121. 414 Bonfils, in: Malabat/De Lamy/Giacopelli, La réforme du Code pénal et du Code de pro­ cédure pénale, 257, S. 259. 415 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 118. 416 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 121; Bonfils, in: Malabat/De Lamy/Giacopelli, La réforme du Code pénal et du Code de procédure pénale, 257, S. 259. 417 In Frankreich wurden im Jahr 2006 Freiheitsstrafen nur in 18,3 % der Verfahren verhängt, Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 121; in die­ sem Sinn bereits Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 119.

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2. Teil: Frankreich

3. Rechtssicherheit, Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit gerichtlicher Entscheidungen Die Bindungswirkung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess wird außerdem mit dem Streben nach Rechtssicherheit und dem Bedürfnis nach Wi­ derspruchsfreiheit und Kohärenz gerichtlicher Entscheidungen begründet.418 Die Rechtssicherheit gebiete die Beständigkeit der strafgerichtlichen Entscheidung und verbiete, dass der Strafprozess wiederholt bzw. neu aufgerollt werde.419 Außer­ dem sei ein Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil um jeden Preis zu ver­ hindern.420 Denn dieser erschüttere die öffentliche Ordnung.421 Außerdem beein­ trächtige er das Ansehen und die Autorität der Justiz.422. So wird auch heute noch vertreten, qu’il „serait absurde que [la juridiction civile] dispose de la faculté de contester les faits eux-mêmes, dès lors qu’ils ont fait l’objet d’une précédente­ décision définitive.“423 Der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ soll daher in erster Linie dazu dienen, derartige, als unerträglich angese­ hene, Widersprüche zu verhindern.424 Auch eine neuere Untersuchung, die sich mit der Funktion der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ beschäftigt, sieht diese in der Herstellung einer „harmonie décisionnelle indispensable“425. Teile der französischen Doktrin halten dieses Argument indes für verfehlt. Sie sehen keinen Wertungswiderspruch zwischen Zivil- und Strafurteil, da beide Ver­ fahren ganz unterschiedliche Ziele verfolgten.426 Zwar hätten Zivil- und Straf­ 418 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 42; Pradel, Procédure pénale, S. 921; Bonfils, D. 2004.1.721, S. 724; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 66, 133; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 730. 419 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 730; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 66, 136. 420 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 81; Botton, Contribu­ tion à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 135. 421 Civ. 7. März 1855, D. 1855.1.81; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S. 81 m. w. N.; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 135. 422 Civ. 7. März 1855, D. 1855.1.81; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 729; Joinet, Bul­ letin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter A.; Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Réper­ toire de droit civil, 1, S. 27; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au­ pénal sur le civil, S. 135. 423 Bonfils, D. 2004.1.721, S. 724; Übersetzung der Verfasserin: So wird auch heute noch ver­ treten, „dass es absurd wäre, wenn [das Zivilgericht] die Möglichkeit besäße, die Tatsachen anzuzweifeln, die bereits Gegenstand einer vorangegangenen, endgültigen Entscheidung waren“; in diesem Sinne auch Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 135. 424 Rebut, D. 1998.1.575, S. 576; Rias, D. 2013.69; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 294. 425 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 136; Übersetzung der Verfasserin: „unverzichtbaren Entscheidungsharmonie“. 426 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 115; Bouloc/Matsopoulou, Droit pénal général et procédure pénale, S. 491; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de pro­

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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gerichtsbarkeit denselben Sachverhalt zu würdigen. Jedoch gehe es im Strafverfah­ ren um die Wiederherstellung der Rechtsordnung durch eine gerechte Bestrafung des Täters, wohingegen beispielsweise der Schadensersatzprozess dem Ersatz der erlit­tenen Schäden diene.427 Darüber hinaus wird angezweifelt, ob sich widerspre­ chende Urteile überhaupt geeignet seien, die öffentliche Ordnung zu erschüttern, da schließlich auch in zahlreichen anderen Fällen428 ein Widerspruch zwischen Zivilund Strafurteil ohne Weiteres akzeptiert werde.429 Außerdem sei eine Beeinträchti­ gung des Ansehens der Strafjustiz nicht zu befürchten, da sich die Gesellschaft im Klaren darüber sei, dass die richterliche Entscheidung als Ergebnis einer mensch­ lichen Überzeugungsbildung nicht frei von Fehlern sein könne.430 Schließlich wird in Parallele zum deutschen Recht argumentiert, dass das unbedingte Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Kohärenz gerichtlicher Entscheidungen dem Streben nach einer sachlich richtigen, der materiellen Wahrheit entsprechenden Entschei­ dung zuwider laufe.431 Es sei unerträglich, dass sich ein unschuldig Verurteilter vor den Zivilgerichten nicht gegen die unberechtigten Vorwürfe verteidigen dürfe.432 4. Prozessökonomie Erstaunlicherweise spielt in der französischen Diskussion um die Begründung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ das pragmatische Argument der Prozessökonomie, das in der deutschen Diskussion nahezu das Hauptargument für eine Bindungswirkung darstellt und grundlegende Erwägung für den Entwurf einer gesetzlichen Bindungsvorschrift war, bisher kaum eine Rolle. Nur wenige Stimmen in der Literatur gehen überhaupt darauf ein, dass eine Bindung des Zivil­ richters an das Strafurteil den Zivilprozess beschleunigt und daher möglicherweise durch prozessökonomische Erwägungen gerechtfertigt sein könnte.433 ­Botton bei­ spielsweise führt aus, dass die Bindungswirkung des Strafurteils zu einer Be­ schleunigung des Zivilprozesses in Übereinstimmung mit den Anforderungen des cédure civile, 1, S. 4; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 247; 256; Viney, Introduction à la respon­ sabilité, S. 295; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 890. 427 Chavanne, RSC 1954, 239, S. 248; Bouloc/Matsopoulou, Droit pénal général et procédure pénale, S. 491; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 890; Caron/Douchy-Oudot, Juris­ classeur de procédure civile, 1, S. 4. 428 Siehe dazu sogleich näher unter 2. Teil, A. IX. 1. 429 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 433; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 246; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 498 f.; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 294. 430 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 420. 431 In diesem Sinne etwa Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 119 f.; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 423; Tellier, RSC 2009, 797, S. 811. 432 So bereits Toullier, zitiert in Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le­ Civil, S. 42; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 119; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 500. 433 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 66 f., 139; Tomasin, Essai sur l’autorité de la chose jugée en matière civile, S. 189.

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2. Teil: Frankreich

Art. 6 Abs. 1 EMRK führe434 und sieht den Zweck der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ heute namentlich darin.435 Problematisch ist jedoch, ob die beiden Zwecke, die der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ verfolgt (Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen und Prozessöko­ nomie) den Grundsatz selbst rechtfertigen können.436 Denn es erscheint zweifel­ haft, ob die angestrebten Auswirkungen eines Prinzips, im vorliegenden Fall also einheitliche Entscheidungen und Beschleunigung, gleichzeitig als Grundlage des Prinzips angesehen werden können. Vielmehr liegt ein Zirkelschluss nahe. Aus diesem Grund wird die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ neuerdings mit dem Bedürfnis nach einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt.437 5. Verflechtung zwischen „action civile“ und „action publique“ Ein weiteres Argument, das für eine Bindungswirkung des Strafurteils vor­ gebracht wird, liegt in den Besonderheiten des französischen Strafprozessrechts.438 Wie bereits dargestellt439, hat der Geschädigte einer Straftat im französischen Recht grundsätzlich ein Wahlrecht dahingehend, ob er seine Schadensersatzansprüche vor dem Zivilrichter oder vor dem Strafrichter geltend machen möchte.440 Ist der Strafrichter zur Entscheidung über die „action civile“ berufen, bedingt seine Ent­ scheidung über die Strafbarkeit die Entscheidung über die „action civile“.441 Da die Entscheidung über diese besondere Art von Klagen nicht davon abhängen soll, ob sie vor den Strafgerichten oder vor den Zivilgerichten erhoben werden, soll das Strafurteil für den Zivilrichter genauso verbindlich sein, wie wenn der Strafrichter selbst über die „action civile“ entschieden hätte.442 Diese Begründung greift allerdings nur, soweit es sich um eine „action civile“ handelt, also um eine Klage, mit der die aus der Straftat herrührenden Schadens­ ersatzansprüche geltend gemacht werden, da nur solche Ansprüche auch im Straf­ verfahren durchgesetzt werden können. Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gilt indes nicht nur für solche Verfahren, sondern auch für alle anderen 434

Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 138 f. Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 134. 436 Kritisch hierzu auch Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 233. 437 Vgl. etwa Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action­ publique, S. 235 f. 438 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 435; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 294. 439 Vgl. hierzu die Einleitung zum 2. Teil. 440 Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 251. 441 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 435; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 294. 442 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 731; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la res­ ponsabilité et des contrats, 231, S. 294. 435

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Zivilverfahren, die keine solchen Schadensersatzansprüche zum Gegenstand ha­ ben und die in die ausschließliche Zuständigkeit der Zivilgerichte fallen („actions à fins civiles“). Für diese Klagen, für die der Strafrichter nicht zuständig ist, lässt sich nicht auf die angestrebte Konformität der straf- und zivilgerichtlichen Ent­ scheidung über dieselbe Klage abstellen.

IX. Nachteile der französischen Lösung Der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ wird von der französischen Lehre seit jeher stark kritisiert. 1. Inkohärenz der französischen Lösung In erster Linie wird dem Grundsatz Inkohärenz vorgeworfen. Denn in zahlrei­ chen anderen Fällen nehme die Rechtsordnung widersprüchliche Entscheidungen in Kauf.443 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Zivilverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist, bevor ein Strafverfahren eingeleitet wird.444 Denn die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ setzt voraus, dass das Strafurteil zeitlich vor dem Zivilurteil ergangen ist.445 Allerdings wird gegen dieses Argument vorgebracht, dass der Zivilrichter in dem Fall, in dem das Strafurteil zeitlich erst nach seiner eige­ nen Entscheidung ergeht, dem Urteil nicht bewusst widersprochen und die Autorität des Strafgerichts nicht verletzt habe, da er dieses ja gar nicht habe berücksichtigen können.446 Überdies sei es unzumutbar, den Parteien die durch das rechtskräftige Zivilurteil einmal erlangten Rechte nachträglich wieder zu entziehen.447 Aufgrund des neu eingeführten Art. 4 Abs. 3 CPP muss die Verhandlung über eine „action à fins civiles“ nicht mehr ausgesetzt werden, um die Erledigung des Strafverfahrens abzuwarten. Daher ist es auch in diesen Fällen denkbar, dass das Zivilgericht zu einer anderen Entscheidung als das Strafgericht kommt, das zeit­ lich später entscheidet. Außerdem ist im Rahmen der „action civile“ vor dem Strafrichter anerkannt, dass „action civile“ und „action publique“ im Hinblick auf die Rechtsmitteleinlegung 443 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 118 f.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960 f. 444 CA Paris 30. Mai 1979, JCP 1979.1.II.19199, und Revision: Ch. mixte 19. März 1982, D.  1982, 478 f.; Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S.  209;­ Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 118; Stefani/ Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 445 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 305. 446 Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Criminel sur le Civil, S.  218; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 305. 447 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 306.

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2. Teil: Frankreich

strikt voneinander getrennt zu betrachten sind.448 Wird bei einer „action civile“ vor dem Strafrichter nur gegen die Entscheidung über die „action publique“ Berufung eingelegt, erwächst die Entscheidung über die „action civile“ in Rechtskraft und ist auch dann keiner Änderung mehr zugänglich, wenn der Angeklagte in der Be­ rufungsinstanz freigesprochen wird, da die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht zurück wirkt.449 Gleiches gilt, wenn nach einem Freispruch des An­ geklagten nur die „partie civile“ Berufung gegen die Entscheidung über die „ac­ tion civile“ einlegt. Auch hier kann das Gericht trotz rechtskräftigen Freispruchs weiterhin Schadensersatz zusprechen.450 Dies verstößt zwar gegen das Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, da das Berufungsgericht eigentlich an den rechtskräftigen Freispruch gebunden wäre.451 Allerdings wird zur Begrün­ dung dieser Ausnahme angeführt, dass nur dadurch das prozessuale Recht auf eine zweite Tatsacheninstanz gewahrt werden könne.452 Denn wäre das Berufungsgericht an den rechtskräftigen Freispruch gebunden, hätte die Berufung im Hinblick auf die Haftung dem Grunde nach von vorneherein keine Erfolgsaussichten.453 Überdies ist der Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil für die Fälle an­ erkannt, in denen sich der freigesprochene Angeklagte im Zivilverfahren im Wege der Säumnis verurteilen lässt454 oder in denen sich keine Partei auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, beruft.455 Schließlich ist auch der Strafrichter nicht an ein rechtskräftiges Zivilurteil gebunden, wenn er über eine Frage zu ent­ scheiden hat, die bereits im Zivilprozess rechtskräftig entschieden wurde.456 2. Verstoß der „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gegen das rechtliche Gehör unbeteiligter Dritter Gegen den Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ wird heute vor allem vorgebracht, dass die undifferenzierte Bindungswirkung das Recht auf effektive Verteidigung und rechtliches Gehör verletze.457 Insbesondere die Vor­ 448

Ch. mixte 19.  März 1982, Bull. civ. n°  1; Besnard, JCP 1979.1.II.19199; Cabannes, D. 1982.1.473, S. 476; Cartier, JCP 1986.I.3227 n° 53. 449 Ch. mixte 19. März 1982, Bull. civ. n° 1. 450 Crim. 13. April 1992, Bull. crim. n° 158; Crim. 14. April 1860, D. 1860.1.373; Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 118; Pradel, Droit ­pénal comparé, S. 479. 451 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 663. 452 Crim. 14. April 1860, D. 1860.1.373; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 310. 453 Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 310. 454 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 960 f. 455 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 3. 456 Tomasin, Essai sur l’autorité de la chose jugée en matière civile, S. 187. 457 So bereits Chavanne, RSC 1954, 239, S. 248; Pradel, Procédure pénale, S. 922; Viney, In­ troduction à la responsabilité, S. 295; vgl. hierzu ausführlich unter 4. Teil, A. II. 5.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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gaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK, auf die später noch näher einzugehen sein wird458, stellen das traditionelle Prinzip heute in Frage.459 3. Nachteile für Opfer und Angeklagte Seit jeher wurde die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ insbeson­ dere im Hinblick auf ihre nachteiligen Folgen sowohl für das Opfer als auch für den Angeklagten kritisiert.460 In Verbindung mit dem Grundsatz der „identité des fautes civile et pénale“ führte sie dazu, dass die Zivilklage des Geschädigten von vorneherein keine Erfolgsaussichten hatte, wenn der Angeklagte im Strafverfah­ ren freigesprochen wurde.461 Daher sah sich das Strafgericht häufig nur deshalb zu einer Verurteilung des Angeklagten veranlasst, um die Schadensersatzklage des Opfers nicht zu vereiteln462, sodass die gewünschten zivilrechtlichen Folgen letzt­ lich die Entscheidung des Strafrichters bestimmten.463 Diese gravierenden Nach­ teile wurden jedoch durch das Gesetz vom 10. Juli 2000, durch das der Gleich­ lauf von strafrechtlicher und zivilrechtlicher Fahrlässigkeit aufgegeben wurde, ­abgemildert.464 4. Geltung unterschiedlicher Verfahrensgrundsätze im Zivil- und Strafverfahren Überdies wird gegen die Bindungswirkung des Strafurteils wie im deutschen Recht vorgebracht, dass diese den unterschiedlichen Verfahrensgrundsätzen im Zi­ vil- und Strafverfahren nicht hinreichend Rechnung trage.465 Durch den Grund­ satz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ werden vor allem die zivilprozessualen Beweislastregeln nivelliert. So kann sich beispielsweise eine Partei im Zivilprozess zum Nachweis, dass sie kein Verschulden trifft, auf einen 458

Vgl. hierzu unter 4. Teil, A. II. 5. Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure civile, 1, S. 4. 460 Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S. 295. 461 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. V. 1. 462 Chavanne, RSC 1954, 239, S. 248; Pradel, Procédure pénale, S. 922; Giudicelli, in: Le Tourneau, Droit de la responsabilité et des contrats, 231, S.  295; Caron/Douchy-Oudot, Ju­ risclasseur de procédure civile, 1, S. 4; Leroy, Procédure pénal, S. 521; Fourment, Procédure­ pénale, S. 344. 463 Chavanne, RSC 1954, 239, S. 248; Pradel, Procédure pénale, S. 922. 464 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 585; Mayaud, D. 2000. Chron. 603, S. 606; Salvage, JCP 2000.I.281, Rn. 19. 465 So vertritt beispielsweise Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 378, die Ansicht, dass der Freispruch „in dubio pro reo“ nicht geeignet sein dürfe, im Falle einer Haftung für vermutetes Verschulden den Beweis für ein fehlendes Verschulden zu erbrin­ gen; nach der Rechtsprechung der Cour de cassation entfaltet das Strafurteil jedoch Bindungs­ wirkung im Zivilprozess unabhängig davon, ob im Zivil- und Strafprozess dieselben Beweis­ regeln gelten, Soc. 28. Februar 2012, n° 10-18283. 459

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2. Teil: Frankreich

Freispruch „in dubio pro reo“ berufen466, mit der Folge, dass die Klage abgewie­ sen wird, obwohl das Zivilgericht der Klage nach den zivilprozessualen Beweis­ lastregeln eigentlich stattzugeben hätte. Auch werden die Parteien weitgehend ih­ rer Parteiherrschaft im Zivilprozess beraubt. Nachdem die Bindungswirkung des Strafurteils nicht von Amts wegen zu beachten ist467, kann zwar die Partei, für die das Strafurteil günstig ist, immerhin entscheiden, ob sie sich auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ beruft. Greift der Grundsatz jedoch ein, haben die Parteien keinen Einfluss mehr auf den Tatsachenstoff, der dem Urteil zugrunde gelegt wird, da der Zivilrichter aufgrund der Bindungswirkung des Strafurteils die vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel nicht berücksichtigen darf. 5. Nichtbeachtung des Grundsatzes der materiellen Wahrheit und Verdrängung der freien richterlichen Beweiswürdigung Erstaunlicherweise wird in der französischen Debatte um die Entscheidungs­ harmonie und Überlegenheit des Strafverfahrens kaum jemals die Frage eines feh­lerhaften Strafurteils diskutiert.468 Dies ist aus der deutschen Perspektive über­ raschend, da der Problematik, ob auch ein Fehlurteil Bindungswirkung im Zivil­ prozess entfalten dürfe, also dem Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und dem Streben nach einer materiell richtigen, auf der Ermittlung des wahren Sachver­ halts beruhenden Entscheidung in der deutschen Diskussion über die Bindungs­ frage eine zentrale Bedeutung zukommt.469 Die ausnahmslose Bindungswirkung des Strafurteils im französischen Recht verhindert zwar widersprüchliche Ent­ scheidungen zwischen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit, nimmt jedoch zulasten der materiellen Richtigkeit des Zivilurteils in Kauf, dass der Richter die von den Parteien gegen die Unrichtigkeit des Strafurteils vorgebrachten Tatsachen und Beweise unbeachtet lassen muss und auch an ein erkannt falsches Strafurteil ge­ bunden ist. Lediglich Wittmann stellt klar, dass das Streben nach Entscheidungs­ harmonie und Prozessökonomie nicht rechtfertigen könne, sichere Erkenntnisse über die Unrichtigkeit des Strafurteils zu ignorieren.470 Denn um eine Bindungs­ wirkung des Strafurteils im nachfolgenden Zivilprozess zu legitimieren, müsse das Bedürfnis nach Rechtssicherheit gegenüber dem Streben nach materieller Wahr­ heit als elementare Voraussetzung einer gerechten Entscheidung überwiegen.471 466

Civ. 3. Februar 1976, D. 1976.441; Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 378. 467 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 3. 468 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 500; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 423 und Tellier, RSC 2009, 797, S. 804, 811 gehen dagegen auf diesen Punkt ein. 469 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 3. e). 470 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 423. 471 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 423.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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Dies ist jedoch nach ihrer Ansicht nicht der Fall.472 Daher schlägt sie die Abschaf­ fung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ vor und regt stattdessen die Einführung einer einfachen Richtigkeitsvermutung an, die je­ doch dem Gegenbeweis zugänglich sein solle.473 Schließlich werden auch die Auswirkungen des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf die Beweiswürdigungsfreiheit im Zivilprozess kaum thematisiert.474 Dies ist aus der deutschen Sicht ebenfalls bemerkenswert, wird doch im deutschen Recht gegen eine Bindungswirkung vor allem die Beweiswür­ digungsfreiheit des Zivilrichters eingewandt.475

X. Zusammenfassung Im französischen Recht hat das Strafverfahren nach wie vor Vorrang gegen­ über dem Zivilverfahren. Eine zentrale Ausprägung dieser Vorrangstellung stellt das Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ dar. Die strenge Hierarchie zwischen Straf- und Zivilverfahren wurde jedoch in den letzten Jah­ ren durch einige Gesetzesänderungen und Rechtsprechungsentwicklungen immer mehr in Frage gestellt. Insbesondere die Abschaffung des einheitlichen Fahrläs­ sigkeitsbegriffs und die Einführung eines Aussetzungsermessens für die „actions à fins civiles“ haben zu einem erheblichen Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ geführt. Auch in persönlicher Hin­ sicht scheint sich eine Einschränkung des Prinzips abzuzeichnen.

B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess Wie bereits dargestellt476, besteht zwischen dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ und dem Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“ ein enger Zusammenhang. Beide sind Ausprägungen der Vorrangstellung des Strafverfahrens.

472

Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 423. Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 434; in diesem Sinne bereits Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 501. 474 Nur Viney, Introduction à la responsabilité, S. 295 kritisiert, dass die Bindungswirkung des Strafurteils die richterliche Entscheidungsfreiheit gravierend einschränke; ausführlich hierzu noch unter 4. Teil, A. II. 8. 475 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. b). 476 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IV. 2. 473

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2. Teil: Frankreich

I. Traditionelles Prinzip: „le criminel tient le civil en l’état“ Im französischen Recht hatte der Strafprozess traditionell zeitlichen Vorrang vor dem Zivilprozess. Entgegen des ausdrücklichen Wortlauts des Art. 4 Abs. 2 CPP, der nur auf die „action civile“ nach Abs. 1 Bezug nimmt, hatte das Zivil­gericht nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz „le criminel tient le civil en l’état“ die Verhandlung über jedwede Klage auszusetzen, wenn vor oder während des Verfahrens ein Strafverfahren eingeleitet wurde, sofern dieses ge­ eignet war, die Entscheidung im Zivilrechtsstreit zu beeinflussen.477 Da die Verfah­ rensaussetzung einheitliche Entscheidungen zwischen Straf- und Zivilgerichtsbar­ keit ermöglichen soll, hielt es die französische Rechtsprechung für geboten, nicht nur die Verfahren, die eine Schadensersatzklage des durch die Straftat Verletzten zum Gegenstand haben, sondern darüber hinaus auch alle anderen Zivilverfahren im Hinblick auf ein rechtshängiges Strafverfahren auszusetzen.478 Das Ziel, gegensätzliche Entscheidungen zu unterbinden, war jedoch nicht nur Grund, sondern auch Grenze der Aussetzungspflicht. Denn nur wenn ein Wider­ spruch zwischen Straf- und Zivilurteil tatsächlich drohte, war die Verhandlung im Zivilrechtsstreit auszusetzen.479 War das Strafverfahren dagegen nicht geeignet, den Ausgang des Zivilprozesses zu beeinflussen, durfte die Aussetzung abgelehnt werden.480 Ein Widerspruch war insbesondere dann anzunehmen, wenn die streit­ gegenständlichen Tatsachen in beiden Verfahren übereinstimmten.481 Da die Un­ terbrechung des Zivilverfahrens darüber hinaus die Berücksichtigung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ sicherstellen sollte482, genügte jedoch die­ Tatsachenidentität alleine nicht, um eine Aussetzungspflicht auszulösen.483 Viel­ mehr sollte eine solche nur dann bestehen, wenn das Strafurteil aufgrund seiner 477 Civ. 7. Mai 2008, Bull. civ. II n° 106; Com. 20. Februar 2007, Bull. civ. IV n° 47; Civ. 1. Februar 2006, Bull. civ. II n° 34; Soc. 22. Mai 1970, Bull. civ. V n° 355; Ass. plén. 13. Mai 1966, D. 1966.689. 478 Pralus, RSC 1972, 31, S. 34; nur so könne auch ein weiterer Zweck der Verfahrensausset­ zung, nämlich die prozessuale Absicherung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, garantiert werden, Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 11. 479 Pralus, RSC 1972, 31, S. 34; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 413. 480 Civ. 24. Juni 1998, Bull. civ. II, n° 220; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 747; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 286 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. 481 Civ. 22. November 1967, Bull. civ. II n° 335; Com. 6. Januar 1965, Bull. civ. III n° 13; Civ. 26. Oktober 1961, JCP 1962.II.12566; Pralus, RSC 1972, 31, S. 46 stellt klar, dass eine Aussetzungspflicht nicht nur dann besteht, wenn Zivil- und Strafrichter denselben Sachverhalt in seiner Gesamtheit zu würdigen haben, sondern schon dann, wenn eine einzelne Tatsache so­ wohl im Zivil- als auch im Strafverfahren entscheidungserheblich ist; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 308. 482 Dazu sogleich unter 2. Teil, A. IV. 2. 483 Pralus, RSC 1972, 31, S. 49.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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„autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ geeignet war, die Entscheidung des Zivilrichters zu beeinflussen.484 Seit der Gesetzesänderung im Jahre 2007 existiert im französischen Recht, wie bereits gesehen485, nunmehr eine differenzierte Lösung. Nach Art. 4 Abs. 2 CPP ist die Aussetzung der Verhandlung über eine „action civile“ immer noch obliga­ torisch, wohingegen für alle anderen Arten von Zivilverfahren seither ein Ermes­ sen des Richters besteht.

II. Gemeinsame Voraussetzungen einer Verfahrensaussetzung Bevor auf die Unterschiede zwischen obligatorischer und fakultativer Verfah­ rensaussetzung genauer eingegangen wird, soll vorab untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen eine Aussetzung überhaupt zulässig ist. Diese ist zu­ nächst nur dann statthaft, wenn vor oder während des Verfahrens ein Strafverfah­ ren eingeleitet wird.486 Das Strafverfahren kann gem. Art.  1 CPP entweder von der Staatsanwaltschaft (Art. 1 Abs. 1 CPP)487 oder vom Verletzten (Art. 1 Abs. 2 CPP)488 im Wege der „citation directe“489 oder durch Anrufung des Untersuchungs­ richters in Gang gesetzt werden.490 Die Aussetzung ist daher nicht wie im deut­ schen Recht schon dann zulässig, wenn bloß der Verdacht einer Straftat besteht, und auch dann nicht, wenn eine Straftat lediglich angezeigt oder Strafantrag ge­ stellt wurde.491 484 Civ. 11. Februar 1970, Bull. civ. II n° 49; Civ. 28. Mai 1965, Bull. civ. II n° 454; Civ. 21. Juni 1957, JCP 1958.II.10598; Pralus, RSC 1972, 31, S. 49 f. 485 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IV. 2. 486 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 480; Pradel, Procédure pénale, S. 934; Viney, Introduction à la responsabilité, S.  291; dabei reicht es, wenn das Verfahren gegen Unbekannt eingelei­ tet wird, vgl. nur Civ. 22. Juni 1988, Bull. civ. III n° 117; Civ. 26. Oktober 1961, JCP 1962. II.12566; a. A. noch Soc. 27. April 1945, RTD civ. 1945.207. 487 Die Einleitung des Strafverfahrens liegt aufgrund des Opportunitätsprinzips der Art. 40, 40–1 CPP im Ermessen der Staatsanwaltschaft. 488 Hierzu ausführlich Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 257 ff. 489 Übersetzung der Verfasserin: „Direkte Ladung“; Auf diesem Wege wird unmittelbar das Hauptverfahren gegen den Angeklagten eröffnet, Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 259. 490 Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 20; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S.  258. Dies geschieht durch die Staatsanwaltschaft mit­ tels „réquisitoire introductif“ gem. Art. 80 Abs. 1 CPP (Übersetzung der Verfasserin: „Ankla­ geschrift“), und durch den Verletzten mittels „plainte avec constitution de partie civile“ gem. Art.  85 Abs.  1 CPP (Übersetzung der Verfasserin: „Beschwerde mit Bestellung als Neben­ kläger“). 491 Civ. 7. Mai 2008, Bull. civ. II n° 106; Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 20; Pralus, RSC 1972, 31, S. 36; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action pu­ blique, S. 268 m. w. N.; Pradel, Procédure pénale, S. 934.

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2. Teil: Frankreich

Ist die Verhandlung im Zivilrechtsstreit im Hinblick auf ein rechtshängiges Straf­ verfahren ausgesetzt, darf kein Urteil ergehen.492 Allerdings hindert ein rechtshän­ giges Strafverfahren die Parteien nicht daran, Klage vor den Zivilgerichten zu erhe­ ben, da zwar kein Urteil erlassen werden darf, das Verfahren aber nicht insgesamt unzulässig ist.493 Das Verfahren darf erst wieder aufgenommen werden, sobald das Strafverfahren endgültig beendet ist, wobei es keine Rolle spielt, auf welche Weise der Strafprozess endet494, also beispielsweise durch formell rechtskräftiges Urteil, Verfahrenseinstellung oder Versäumnisurteil495. Die Fortsetzung der Verhandlung setzt also, anders als die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, nicht vor­ aus, dass das Strafverfahren durch ein rechtskräftiges Urteil endet, sondern es ge­ nügt, dass dieses, aus welchem Grund auch immer, abgeschlossen ist.496 Eine Parteiidentität wird für die Aussetzung, ebenso wie für die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, nicht vorausgesetzt.497 Geht man davon aus, dass die Aussetzung die Beachtung der gegen jedermann wirkenden „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ sicherstellen soll, kann sie folgerichtig nicht von der Parteiidentität abhängen.498 In bestimmten Sonderfällen, die sich durch eine besondere Eilbedürftigkeit auszeichnen oder in denen ein besonderes Bedürfnis nach einer schnellen Ent­ schädigung des Verletzten besteht, existieren Ausnahmen vom Prinzip „le crimi­ nel tient le civil en l’état“. So ist beispielsweise die Verhandlung im einstwei­ligen Rechtsschutz gem. Art. 5–1 CPP nicht auszusetzen, da in diesem Fall eine beson­ dere Eilbedürftigkeit besteht und der Zivilrichter nur vorläufig entscheidet.499 Der durch die Straftat Verletzte soll nicht erst den Ausgang des Strafverfahrens abwar­ 492 Pralus, RSC 1972, 31, S. 65; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mou­ vement de l’action publique, S. 362. 493 Civ. 9. Februar 1999, Bull. civ. I n° 49; Soc. 22. Mai 1970, Bull. civ. V n° 355; zur Frage, welche Maßnahmen der Zivilrichter während der Aussetzung des Verfahrens treffen darf­ Pralus, RSC 1972, 31, S. 66; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 285; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 366 ff. 494 Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 479; Fourment, Procédure pénale, S. 269; Viney, Intro­ duction à la responsabilité, S. 291, Fn. 593; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 371 f. 495 Im französischen Strafprozess kann der Angeklagte im Wege eines Versäumnisurteils gem. Art. 379–2 ff. CPP verurteilt werden. 496 Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 28 f.; Pralus, RSC 1972, 31, S. 36. 497 Com. 18. Dezember 1990, Bull. civ. IV n° 334; Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 17; Pralus, RSC 1972, 31, S. 39; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’ac­ tion publique, S. 273 f.; Pradel, Procédure pénale, S. 933; a. A. noch Com. 14. November 1956, Bull. civ. III n° 288. 498 Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 17; Pralus, RSC 1972, 31, S. 40; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 273. 499 Civ. 24. Juni 2004, Bull. civ. II n° 320; Civ. 12. Februar 1992, Bull. civ. II n° 48; Civ. 4. Dezember 1985, Bull. civ. II n° 189; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 289 f.; wei­ tere Sonderfällen bei Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 650 ff.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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ten müssen, um seine gefährdeten Ansprüche abzusichern.500 Auch im Zwangsvoll­ streckungsverfahren ist die Aussetzung, wie im deutschen Recht501, unzulässig.502

III. Obligatorische Aussetzung der „action civile“ Art.  4 Abs.  2 CPP sieht vor, dass der Zivilrichter die Verhandlung über eine Klage, die Schadensersatzansprüche des Verletzten aus der Straftat zum Gegen­ stand hat, bis zur Beendigung des Strafprozesses auszusetzen hat. Insoweit besteht also kein Ermessen. Indes muss der Zivilrichter nach der neueren Rechtsprechung der Cour de cassation die „action civile“ nicht von Amts wegen aussetzen.503 Da­ her ist die Verfahrensaussetzung nur insoweit obligatorisch, als sie von einer Par­ tei beantragt wurde.504 Stellt indes keine der Parteien einen Aussetzungsantrag, ist umstritten, ob das Gericht die Verhandlung zumindest von Amts wegen aussetzen darf. Dies wird von der überwiegenden Ansicht abgelehnt.505 Die Gesetzesänderung im Jahr 2007 wirft die Frage auf, ob die Aussetzung auf Antrag einer Partei auch dann zu erfolgen hat, wenn das Strafurteil gar nicht ge­ eignet ist, die zivilrichterliche Entscheidung zu beeinflussen. Dafür könnte spre­ chen, dass der Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 CPP nicht auf den Einfluss des Straf­ urteils abstellt. Richtigerweise dürfte jedoch davon auszugehen sein, dass der Zivilrichter den Antrag auch nach der neuen Rechtslage, entsprechend der frühe­ ren Rechtsprechung506, ablehnen darf, wenn das Strafurteil nicht geeignet ist, die Entscheidung über die Schadensersatzklage des Verletzten zu beeinflussen. Da­ für spricht, dass die Aussetzungspflicht zum einen im Interesse der geordneten Rechtspflege besteht und zum anderen widersprüchliche Entscheidungen verhin­ dern soll, indem sie die Beachtung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ absichert.507 500

Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 650. Reichold, in: Thomas/Putzo, § 148, Rn. 6. 502 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 651 f. 503 Soc. 4. Oktober 1989, Bull. civ. V n° 565; Civ. 28. April 1982, Bull. civ. I n° 152; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 287; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 642 f.; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 347; a. A. Civ. 20. Juni 1968, Bull. civ. II n° 185; Cachia, JCP 1958. II.10598; Pralus, RSC 1972, 31, S. 62. 504 Soc. 4. Oktober 1989, Bull. civ. V n° 565; Civ. 28. April 1982, Bull. civ. I n° 152. 505 Bonfils, in: Malabat/De Lamy/Giacopelli, La réforme du Code pénal et du Code de pro­ cédure pénale, 257, S. 258; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 357; Pradel, Procédure pénale, S. 936, Fn. 10; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 287; a. A. Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale paral­ lèles, S. 643. 506 Com. 20. Februar 2007, Bull. civ. IV n° 47; Civ. 1. Februar 2006, Bull. civ. II n° 34; Ass. plén. 13. Mai 1966, D. 1966.689. 507 Auch die Entscheidung der Cour de cassation vom 15. März 2012, Civ. 15. März 2012, D. 2012.1316, belegt diese Ansicht. In dieser Entscheidung geht die Cour de cassation davon aus, 501

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2. Teil: Frankreich

1. Begründung der obligatorischen Verfahrensaussetzung Da sich die Gesetzesmotive nicht damit auseinandersetzen, warum der Gesetz­ geber die Unterbrechung der Verhandlung über eine Klage, die auf den Ersatz von Schäden gerichtet ist, die durch eine strafbare Handlung verursacht wurden, für er­ forderlich gehalten hat, war und ist die Grundlage der Aussetzungspflicht bis heute umstritten.508 a) Verhinderung des Einflusses des Zivilurteils auf die strafrichterliche Entscheidung Ursprünglich wurde die Aussetzungspflicht mit der Gefahr begründet, dass ein zeitlich vor dem Strafurteil ergangenes Zivilurteil geeignet sein könnte, den Straf­ prozess irgendwie zu beeinflussen.509 Dies solle durch die Aussetzungspflicht verhindert werden.510 b) Überlegenheit des Strafverfahrens Später wurde das Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“ genauso wie der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf die Überlegen­ heit des Strafverfahrens gestützt.511 So ging man zunächst davon aus, dass der Zi­ vilrichter das Verfahren aufgrund seiner Unzuständigkeit auszusetzen habe.512 Hiergegen wird jedoch zu Recht eingewandt, dass dieser sehr wohl die Zustän­ digkeit besitzt, über die zivilrechtlichen Rechtsfolgen eines Sachverhalts zu ent­ scheiden, der zugleich eine Straftat darstellt.513 Nachdem sich also die These von

dass bei fehlender „identité des fautes“ keine Aussetzungspflicht bestehe, da das Strafurteil die zivilrichterliche Entscheidung nicht beeinflussen könne; so auch Rias, D. 2012.1316, S. 1319; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 351 scheint indes davon auszugehen, dass die Aussetzung der „action civile“ nicht mehr mit der­ Begründung abgelehnt werden dürfe, dass das Strafurteil keinen Einfluss auf das Zivilverfah­ ren habe. 508 Pralus, RSC 1972, 31, S. 32. 509 Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 3; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 480; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 285 m. w. N. 510 Cachia, JCP 1958.II.10598, unter A.; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 241; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 47 f. m. w. N. 511 Bonfils, in: Malabat/De Lamy/Giacopelli, La réforme du Code pénal et du Code de procé­ dure pénale, 257; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 31 f. 512 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 92 m. w. N.; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 39 m. w. N. 513 Vgl. hierzu bereits unter 2. Teil, A. IV. 2.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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der Präjudizialität des Strafverfahrens als nicht haltbar herausgestellt hatte, wurde die Aussetzungspflicht auf die allgemeine Überlegenheit des Strafverfahrens ge­ stützt514, die heute zu Recht bezweifelt wird.515 c) Prozessuale Absicherung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ Die Aussetzungspflicht soll nach heute überwiegender Ansicht Ausdruck des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ sein516, deren Beach­ tung sie prozessual absichere.517 Da die Bindungswirkung des Strafurteils nicht zurückwirke, müsse der Zivilrichter die Erledigung des Strafverfahrens abwarten und dürfe nicht zeitlich vor dem Strafrichter entscheiden, da er ansonsten auf die­ sem Wege die Bindung an das Strafurteil umgehen könnte.518 Diese Begründung hat jedoch seit Einführung des Art. 4 Abs. 3 CPP an Überzeu­ gungskraft verloren.519 Denn nach dieser Regelung liegt die Aussetzung der Zivil­ verfahren, die keine Schadensersatzansprüche des Verletzten aus einer straf­baren Handlung zum Gegenstand haben, ähnlich wie im deutschen Recht, nunmehr im Ermessen des Richters, obwohl das Strafurteil auch für diese Art von Zivilverfah­ ren bindend ist. Darüber hinaus beruht die Begründung auf einem Zirkelschluss.520 Denn zu dem Zeitpunkt, als die Rechtsprechung das Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ entwickelte, existierte die Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 CPP bereits.521

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Pralus, RSC 1972, 31, S. 33; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouve­ ment de l’action publique, S. 49 ff. 515 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. VIII. 2. 516 Civ. 24. April 1958, Gaz. Pal. 1958.1.417; Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 480; Din­tilhac, La vérité – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S. 61; Pradel, Procédure pénale, S.  931; Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S.  51; Rias, D.  2013.69; Radenne, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 11, S. 16. 517 Pralus, RSC 1972, 31, S.  32; Larroumet/Bacache-Gibeili, Droit civil, S.  51 f.; Pradel, Procédure pénale, S. 931; Robert, Procédures Août-Septembre 2007, 42; Flour/Aubert/Savaux, Les obligations, S.  463; Rias, D.  2013.69; Radenne, Bulletin d’information n°  695 du 01/02/2009, 11, S. 16; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 722; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 236, der darin jedoch nicht die einzige Grundlage sieht. 518 Leroy, Procédure pénal, S. 267. 519 Vgl. hierzu bereits unter 2. Teil, A. IV. 2. 520 In diesem Sinne bereits Cachia, JCP 1955.I.1245, Fn. 9; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 94. 521 Cachia, JCP 1955.I.1245, Fn. 9; Pralus, RSC 1972, 31, S. 32.

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2. Teil: Frankreich

d) Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit Ebenso wie die Bindungswirkung des Strafurteils soll auch die obligatorische Verfahrensaussetzung widersprüchliche Entscheidungen der Zivil- und Strafgerichts­ barkeit verhindern.522 e) Prozessökonomie, geordnete Rechtspflege Neuere Stimmen in der französischen Literatur stellen nicht mehr (nur) auf die Absicherung des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ ab, sondern sehen eine eigene Rechtfertigung und Existenzberechtigung für die Ver­ fahrensaussetzung.523 Diese sei im Interesse der geordneten Rechtspflege gerecht­ fertigt.524 Denn sie stelle ein Mittel dar, um einen sinnvollen und sachgerechten Ablauf des Verfahrens sicherzustellen525, indem sie dem Zivilrichter zum einen ermögliche, von den Erkenntnissen des Strafverfahrens zu profitieren526 und zum anderen, wie soeben gesehen, seine Entscheidung in Übereinstimmung mit dem Strafurteil zu treffen. 2. Kritik an der obligatorischen Verfahrensaussetzung a) Missbrauchsgefahr Die Aussetzungspflicht wird jedoch von zahlreichen Stimmen in der französi­ schen Literatur kritisiert. Insbesondere lässt sie kombiniert mit der großzügigen Möglichkeit, selbst das Strafverfahren einzuleiten, Missbrauch befürchten.527 Denn mit der Einleitung eines Strafverfahrens, welches die Unterbrechung der Verhand­ lung im Zivilrechtsstreit zur Folge hat, kann zumindest vorübergehend eine zivil­ 522 Pralus, RSC 1972, 31, S. 34; Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 117; Flour/Aubert/Savaux, Les obligations, S. 463; Vergès, Procédure pénale, S. 143; Leroy, Procédure pénal, S. 267. 523 Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn.  889; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 285 f. 524 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 242 ff. 525 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 243. 526 Cachia, JCP 1958.II.10598, unter A.; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 889; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 285 f. 527 In diesem Sinn bereits Cachia, JCP 1955.I.1245, Rn. 4; Pralus, RSC 1972, 31, S. 63; Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 115; Pradel, Procédure pénale, S. 931; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale paral­ lèles, S. 746; Tellier, RSC 2009, 797, S. 800.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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prozessuale Verurteilung verhindert werden.528 So wird der Kläger des Zivilprozes­ ses vom Beklagten nicht selten einer Straftat bezichtigt, um durch die Aussetzung des Zivilverfahrens einer Verurteilung einstweilen zu entgehen.529 Zumindest als Indiz530 für den Missbrauch können die Zahlen des Rapport Magendie herangezo­ gen werden, wonach im Jahr 2000 ca. 80 % der Strafverfahren, die auf Initiative der „partie civile“ eingeleitet worden waren, eingestellt wurden.531 Da der Zivilrichter nach der damals geltenden Rechtslage gehalten war, jedes Zivilverfahren im Hin­ blick auf ein rechtshängiges Strafverfahren auszusetzen, wenn dieses geeignet war, den Zivilprozess zu beeinflussen, durfte der Aussetzungsantrag selbst dann nicht abgelehnt werden, wenn dieser aus reiner Verzögerungsabsicht gestellt wurde.532 Anders als im deutschen Recht ist das Missbrauchsrisiko im französischen Recht nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, da im französischen Recht kein Ankla­ gemonopol der Staatsanwaltschaft besteht. Im deutschen Recht obliegt es aufgrund des Offizialprinzips gem. § 152 Abs. 1 StPO grundsätzlich der Staatsanwaltschaft, bei einem hinreichenden Tatverdacht Anklage zu erheben. Nur vereinzelt besteht eine Privatklagebefugnis gem. § 374 StPO. Im französischen Recht kann dagegen jeder durch eine Straftat Verletzte das Strafverfahren gegen den Beschuldigten ein­ leiten.533 Zwar bestehen durchaus Möglichkeiten, dieser Missbrauchsgefahr zu be­ gegnen. Neben dem strafrechtlichen Instrument der falschen Verdächtigung534 ste­ hen sowohl im Strafprozess als auch im Zivilprozess535 Mittel zur Verfügung, um eine missbräuchliche Einleitung des Strafverfahrens und damit verbundene Ausset­ zung des Zivilverfahrens zu sanktionieren. So macht sich beispielsweise derjenige, der missbräuchlich ein Strafverfahren gegen jemanden einleitet, schadensersatz­ pflichtig.536 Darüber hinaus kann die missbräuchliche Einleitung des Strafverfah­ 528 Vergès, Procédure pénale, S. 143; Pradel, Procédure pénale, S. 931; Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 174. 529 Pradel, Procédure pénale, S. 931; Robert, Procédures Août-Septembre 2007, 42, S. 43. 530 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 713 führt richti­ gerweise aus, dass alleine aus dem Anteil der Verfahrenseinstellungen keine Rückschlüsse auf die Anzahl der missbräuchlich eingeleiteten Verfahren gezogen werden können. 531 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 115. 532 Soc. 6. Juni 2007, n° 05-43638. 533 Art. 1 Abs. 2 CPP. 534 Art. 226–10 Code pénal (CP), Tellier, RSC 2009, 797, S. 800, Fn. 13; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 384. 535 So macht sich zwar derjenige, der missbräuchlich die Aussetzung des Zivilverfahrens beantragt, im Zivilprozess schadensersatzpflichtig, allerdings dürfte es in der Praxis häufig schwierig sein, das missbräuchlichen Verhalten und den Schaden nachzuweisen, Payan, Le sur­ sis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 391 f.; ferner kann gegen den Antragsteller gem. Art. 32–1 CPC auch ein Bußgeld verhängt werden, was jedoch in der Praxis auch nur selten geschieht, Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 75; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 393. 536 Vgl. z. B. Art. 91, 472 CPP, Viney, Introduction à la responsabilité, S. 194, 268; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 715.

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2. Teil: Frankreich

rens auch durch ein Bußgeld geahndet werden.537 Zur Sicherung der Durchsetzung dieses Bußgeldes muss die „partie civile“ nach Art. 88–1 Abs. 1, 88 CPP sogar vor der Einleitung des Verfahrens einen bestimmten Betrag hinterlegen.538 Dies ist grundsätzlich notwendige Voraussetzung für die Einleitung des Strafverfahrens durch den Verletzten539 und damit auch für die Aussetzung des Zivilverfahrens.540 Dennoch wurde die Missbrauchsgefahr weiterhin als zentrales Problem gese­ hen, das es einzudämmen galt.541 Als erster Schritt in diese Richtung wurde durch die Reform im Jahr 2007 die Möglichkeit des Verletzten, das Strafverfahren bei Vergehen542 in Gang zu setzen, eingeschränkt, indem der Untersuchungsrichter nicht mehr unmittelbar durch den Verletzten angerufen werden kann.543 Dieser muss sich seither zunächst an die Polizei oder Staatsanwaltschaft wenden, Art. 85 CPP. Als weiterer Schritt544 wurde die Aussetzungspflicht durch das Gesetz vom 5. März 2007 auf die Verfahren beschränkt, welche Schadensersatzansprüche des Verletzten aus der Straftat zum Gegenstand haben, während im Übrigen ein Er­ messen des Gerichts besteht. Nicht zu Unrecht wird die Gesetzesänderung dafür kritisiert, dass sie das Übel nicht an der Wurzel gepackt habe.545 Denn die Ursache des Missbrauchs liegt nicht in der obligatorischen Verfahrensaussetzung selbst, sondern darin, dass im französischen Recht kein Anklagemonopol der Staats­ anwaltschaft besteht und das Verfahren ohne besondere Hürden von jedem mut­ maßlich durch eine Straftat Verletzten eingeleitet werden kann.546 b) Verzögerung des Zivilverfahrens Gleichzeitig wurde und wird die Regelung des Art. 4 Abs. 2 CPP als Ursache für Verfahrensverzögerungen gesehen.547 Dies könnte im Hinblick auf den Beschleu­ nigungsgrundsatz, der durch Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrech­ 537

Vgl. Art. 177–2 Abs. 1, 392–1 Abs. 3 CPP, Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 388 f. 538 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 266. 539 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 266. 540 Civ. 20. März 2003, Bull. civ. II n° 70. 541 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 115; Vergès, Procédure pénale, S. 143. 542 Für Verbrechen und andere Sonderdelikte gilt diese Einschränkung dagegen nicht, vgl. Art. 85 Abs. 2 S. 2 CPP. 543 Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science­ Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 178. 544 Pradel, Procédure pénale, S. 932; Leroy, Procédure pénal, S. 268. 545 In diesem Sinne Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 705 ff. 546 In eine ähnliche Richtung argumentiert Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 714 mit der Begründung, dass die vorhandenen Mittel zur Abwehr und Sanktionierung missbräuchlicher Verfahren nicht ausreichend genutzt worden seien. 547 Pralus, RSC 1972, 31, S. 34; Vergès, Procédure pénale, S. 143; Wittmann, Les interféren­ ces entre instances civile et pénale parallèles, S. 696.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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techarta und Art. L. 111–3 des Code de l’organisation judiciaire gewährleistet ist, problematisch sein.548 Art. 6 Abs. 1 EMRK bestimmt, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Die Frage, ob infolge der obligatorischen Verfahrensaussetzung die zivilrechtliche Streitigkeit noch in angemessener Frist verhandelt werden kann, wird später noch ausführlich zu behandeln sein.549 Die mit der Aussetzung einhergehende Verzögerung des Zi­ vilprozesses dürfte einer der ausschlaggebenden Gründe dafür sein, dass sich der Verletzte im französischen Recht häufig dazu entscheidet, seine Schadensersatz­ ansprüche im Strafprozess geltend zu machen, da er auf diesem Weg schneller als im Zivilprozess einen vollstreckbaren Titel erlangt.550

IV. Gesetzesänderung 2007: Aussetzungsermessen für „actions à fins civiles“ Aufgrund der berechtigten Kritik an der Aussetzungspflicht wurde diese durch das Gesetz vom 5.  März 2007 teilweise in Frage gestellt.551 Der neu eingefügte Art. 4 Abs. 3 CPP verpflichtet den Zivilrichter bei Einleitung eines Strafverfah­ rens nicht mehr zur Aussetzung der sogenannten „actions à fins civiles“, selbst wenn das Strafurteil geeignet ist, die zivilrichterliche Entscheidung zu beeinflus­ sen. Für diese Verfahren steht die Aussetzung seither, ähnlich wie im deutschen Recht, gem. Art. 4 Abs. 3 CPP i. V. m. 378 CPC im Ermessen des Zivilrichters.552 1. Grund für die Einschränkung der Aussetzungspflicht Fraglich ist, warum die Aussetzungspflicht nur für die „actions à fins civiles“ und nicht generell abgeschafft wurde. Dies dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass die missbräuchliche Möglichkeit, die Entscheidung im Zivilrechtsstreit durch die Einleitung des Strafverfahrens zu verzögern, insbesondere bei den „actions à fins civiles“ genutzt wurde.553 Vor allem im arbeitsgerichtlichen Verfahren war die Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Arbeitnehmer ein probates Mittel, 548

Tellier, RSC 2009, 797, S. 798, 804; ausführlich hierzu unter 4. Teil, B. II. 2. Vgl. hierzu ausführlich unter 4. Teil, B. II. 2. 550 Spiess, Das Adhäsionsverfahren in der Rechtswirklichkeit, S. 256; Hanel, in: Will, Scha­ densersatz im Strafverfahren, 40, S. 42. 551 Bonfils, in: Malabat/De Lamy/Giacopelli, La réforme du Code pénal et du Code de pro­ cédure pénale, 257, S. 258; Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand B ­ oulan, Institut de Science Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science­ Criminelle, 172. 552 Civ. 17. Juni 2010, Bull. civ. II n° 116; Soc. 17. September 2008, Bull. civ. V n° 164. 553 Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science ­Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 174; vgl. zu den Missbrauchsgefahren ausführlich unter 2. Teil, B. III. 2. a). 549

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2. Teil: Frankreich

den Streit um die Wirksamkeit der Kündigung in die Länge zu ziehen.554 Dagegen dürfte der Verletzte, der selbst ein Strafverfahren gegen den Schädiger eingeleitet hat und im Zivilprozess die aus der Straftat herrührenden Schadensersatzansprü­ che einklagt, in der Regel ein berechtigtes Interesse an der Verfahrensaussetzung haben, um das Ergebnis des Strafverfahrens abzuwarten.555 Allerdings scheint auch für diese Verfahren ein Missbrauch nicht völlig ausgeschlossen. Denn für den Be­ klagten besteht weiterhin die Möglichkeit, das Zivilverfahren durch einen Aus­ setzungsantrag bewusst zu verzögern, auch wenn die Klage des Geschädigten of­ fensichtlich begründet ist. Ein zweiter Grund ist sicherlich in der engen Verbindung zwischen Zivil- und Strafverfahren in Bezug auf Schadensersatzansprüche, die unmittelbar aus einer Straftat resultieren, zu sehen.556 Da diese sowohl im Strafverfahren (Art. 3 Abs. 1 CPP) als auch im Zivilverfahren (Art. 4 Abs. 1 CPP) geltend gemacht werden kön­ nen, soll die Entscheidung nicht davon abhängen, ob man die Ansprüche vor dem Strafrichter oder vor dem Zivilrichter einklagt.557 2. Reichweite des Aussetzungsermessens Nach Art. 4 Abs. 3 CPP liegt die Aussetzung einer „action à fins civiles“ nun­ mehr im Ermessen des Zivilrichters.558 Unklar ist aber die Reichweite dieses Er­ messens. Hierzu hat Wittmann eine interessante Untersuchung durchgeführt. Sie hat die Entscheidungen französischer Gerichte von 2007 bis 2010 untersucht, um festzustellen, wie die neue Aussetzungsbefugnis in der Praxis gehandhabt wird. Ihrer Untersuchung zufolge lehnen einige Instanzgerichte die Anträge auf Aus­ setzung des Verfahrens mit der schlichten Begründung ab, dass nach Art. 4 Abs. 3 CPP keine Aussetzungspflicht mehr bestehe, auch wenn das Strafurteil Einfluss auf den Ausgang des Zivilverfahrens habe.559 Diesen Entscheidungen wird vor­ geworfen, dass der Zivilrichter sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausübe.560 554

Vgl. beispielsweise Soc. 6. Juni 2007, n° 05-43638. Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science ­Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 174; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 713. 556 Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science ­Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 181. 557 Vgl. hierzu bereits unter 2. Teil, A. VIII. 5. 558 Civ. 17. Juni 2010, Bull. civ. II n° 116; Civ. 15. Oktober 2009, n° 08-14380. 559 Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science ­Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 186 mit Rechtsprechungsnachweisen; eine solche Auslegung des Art. 4 Abs. 3 CPP scheint auch Robert, Procédures Août-Septembre 2007, 42, S. 43 zu vertreten. 560 Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science ­Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 186 f. 555

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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Die meisten Gerichte führen allerdings die Rechtsprechung der Cour de cas­ sation vor Einführung des Art.  4 Abs.  3 CPP fort und stellen darauf ab, ob ein Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil droht.561 Diese Rechtsprechung überrascht. Denn Art.  4 Abs.  3 CPP stellt ausdrücklich klar, dass eine Ausset­ zungspflicht selbst dann nicht besteht, wenn das Strafurteil geeignet ist, die Ent­ scheidung im Zivilrechtsstreit zu beeinflussen. Es ist daher bemerkenswert, dass die französischen Gerichte weiterhin auf dieses Kriterium abstellen, obwohl das Gesetz ausdrücklich festlegt, dass es darauf nicht ankommt. Nur etwa 10 Pro­ zent der von Wittmann untersuchten Entscheidungen gehen auf den Gesichts­ punkt der Verzögerung des Zivilverfahrens ein.562 Dies ist aus deutscher Sicht un­ gewöhnlich. Denn nach § 149 Abs. 1 ZPO steht die Aussetzung der Verhandlung im pflichtgemäßen Ermessen des Richters563, wenn sich im Laufe eines Rechts­ streits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist. Tatbestandsvoraussetzung für die Anwendung des § 149 Abs. 1 ZPO ist demnach, dass das Strafverfahren Einfluss auf die zivil­gerichtliche Ent­ scheidung haben kann. Nur wenn ein Einfluss überhaupt denkbar ist, besteht ein Aussetzungsermessen als Rechtsfolge. Im Rahmen seiner Abwägungsentschei­ dung hat der Zivilrichter sodann die potenziellen Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens und die durch eine Verzögerung des Zivilverfahrens drohenden Nachteile gegeneinander abzuwägen.564 Nach der französischen Auslegung des Art. 4 Abs. 3 CPP soll der Einfluss des Strafurteils auf das Zivilverfahren nicht wie im deutschen Recht Voraussetzung für die Eröffnung des Aussetzungsermes­ sens sein, sondern stattdessen auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen des Ermes­ sens zu berücksichtigen sein. Dabei geht die überwiegende Rechtsprechungs­ praxis in Frankreich allerdings davon aus, dass sich das Aussetzungsermessen reduziert, wenn das Strafurteil geeignet ist, die Entscheidung im Zivilprozess zu beeinflussen, sodass die Verhandlung im Zivilrechtsstreit in diesem Fall in der Regel ausgesetzt wird. Überraschenderweise gehen die französischen Ge­ richte jedoch kaum auf die mit der Verfahrensaussetzung einhergehende Ver­ zögerung des Zivilverfahrens ein, obwohl zumindest in der Literatur durchaus erörtert wird, ob die Aussetzungsregelungen mit dem Beschleunigungsgrundsatz vereinbar sind.565

561 Vgl. hierzu Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 750, 775 f., nach der über Dreiviertel der untersuchten Urteile das Kriterium eines möglichen Wider­ spruchs zwischen Zivil- und Strafurteil anwenden; in diesem Sinne auch Payan, Le sursis à sta­ tuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 332. 562 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 751, 777. 563 Vgl. hierzu unter 1. Teil, B. III. 564 Vgl. hierzu unter 1. Teil, B. III. 565 Payan, in: Centre de Recherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science ­Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 175.

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2. Teil: Frankreich

3. Begründung des Aussetzungsermessens Die Gesetzesreform im Jahr 2007 wirft die Frage auf, warum der Zivilrichter auch die Aussetzung von Verfahren, die keine Schadensersatzansprüche des Ver­ letzten aus der Straftat zum Gegenstand haben, nach seinem Ermessen anordnen können soll. Nach teilweiser Ansicht soll die Regelung des Art. 4 Abs. 3 CPP wi­ dersprüchliche Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit verhin­ dern, da sie es dem Zivilrichter ermögliche, das Verfahren auszusetzen, wenn die ernsthafte Gefahr eines Widerspruchs zwischen Zivil- und Strafurteil bestehe.566 Dabei ist allerdings zu beachten, dass das Aussetzungsermessen zumindest theo­ retisch widersprüchliche Entscheidungen überhaupt erst ermöglicht, da der Zivil­ richter das Strafurteil nicht mehr abwarten muss.567 Diese Gefahr besteht umso mehr, als der vom Rapport Magendie vorgeschlagene außerordentliche Rechts­ behelf gegen das widersprechende Zivilurteil568 durch das Gesetz nicht einge­ führt wurde, sodass dieses grundsätzlich nicht angegriffen werden kann.569 Al­ lerdings stellen die Gerichte nach der Gesetzesreform 2007 im Rahmen ihres Aussetzungsermessens weiterhin überwiegend darauf ab, ob die Entscheidung des Strafrichters geeignet ist, den Zivilprozess zu beeinflussen und ob die Gefahr wi­ dersprüchlicher Entscheidungen droht.570 Daher hat sich diese theoretische Be­ fürchtung in der Praxis nicht bestätigt.571 Nur ausnahmsweise wartet der Zivilrich­ ter trotz eines drohenden Widerspruchs die Erledigung des Strafverfahrens nicht ab, nämlich entweder dann, wenn der Aussetzungsantrag missbräuchlich gestellt wurde oder wenn ausnahmsweise ein besonderes Beschleunigungsinteresse im Zi­ vilprozess besteht.572 Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Vorschrift des Art. 4 Abs. 3 CPP der geordneten Rechtspflege dienen.573 Das Gericht soll die Er­ kenntnisse des Strafverfahrens im Interesse einheitlicher Entscheidungen berück­ sichtigen können.574 Schließlich kann der Zivilrichter nunmehr Aussetzungsanträge, die erkannter­ maßen nur dazu dienen, das Verfahren zu verzögern, ablehnen.575 Diese Möglich­ keit des Richters, gegen missbräuchliche Aussetzungsanträge vorzugehen, denen er 566

Pradel, Procédure pénale, S. 935; Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 328. 567 Vergès, Procédure pénale, S. 144. 568 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 121. 569 Vergès, Procédure pénale, S. 144; ausführlicher hierzu unter 2. Teil, A. V. 2. 570 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IV. 2. 571 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 752. 572 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 752. 573 Vergès, Procédure pénale, S. 144; Botton, JCP 2010.674, Rn. 8; Payan, in: Centre de Re­ cherche en Matière Pénale Fernand Boulan, Institut de Science Pénale et de Criminologie, Les nouveaux Problèmes Actuels de Science Criminelle, 172, S. 180. 574 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 243. 575 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 746.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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nach der früheren Rechtslage stattgeben musste, war der ausschlaggebende Punkt für die teilweise Abschaffung der Aussetzungspflicht.576 4. Kritik an der fakultativen Verfahrensaussetzung Bemerkenswert ist, dass diese Lockerung im Hinblick auf „actions à fins ci­ viles“ im französischen Recht die Frage aufgeworfen hat, ob Art. 4 Abs. 3 CPP mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung vereinbar ist, das sowohl im nationalen Recht durch Art. 9–1 C. civ. als auch auf europäischer Ebene durch Art. 6 Abs. 2 der EMRK geschützt ist. So wurde gegen die Regelung tatsächlich vorgebracht, dass eine Verletzung der Unschuldsvermutung drohe, wenn eine Person vor der strafrechtlichen Verurteilung im Zivilverfahren verurteilt werde.577 Zu ­dieser Frage hat die Cour de cassation in einem Urteil vom 31. Oktober 2012 Stellung genom­ men und einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung zu Recht abgelehnt.578 Bereits der Rapport Magendie hatte im Jahr 2004 klargestellt, dass die Abschaf­ fung der obligatorischen Verfahrensaussetzung keine Verletzung der Unschulds­ vermutung darstelle, da das Zivilurteil keinerlei Bindungswirkung für das Straf­ urteil entfalte.579 Gegen eine in das Ermessen des Zivilrichters gestellte Aussetzungsbefugnis wird außerdem eingewandt, dass diese zu divergierenden Entscheidungen zwi­ schen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit und damit zu Rechtsunsicherheit führen könne.580 Diese Gefahr bestehe insbesondere für Verfahren, in denen es nicht um Schadensersatzansprüche des Verletzten aus der Straftat gehe581 und habe die Rechtsprechung jahrzehntelang dazu veranlasst, die Aussetzungspflicht ent­ sprechend auf alle Zivilverfahren anzuwenden.582 Allerdings hat die Rechtspre­ chung der Instanzgerichte nach der Gesetzesreform im Jahr 2007 gezeigt, dass die Verhandlung im Interesse einheitlicher Entscheidungen regelmäßig ausgesetzt wird.583 Schließlich wird der gesetzgeberischen Differenzierung in Art.  4 Abs.  2 und 3 CPP Inkohärenz vorgeworfen.584 Denn die Verfahrensaussetzung werde in ers­ ter Linie mit der Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen begründet.585 576

Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. III. 2. a). Civ. 31. Oktober 2012, Bull. civ. I n° 226. 578 Civ. 31. Oktober 2012, Bull. civ. I n° 226. 579 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 118. 580 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 746. 581 Tellier, RSC 2009, 797, S. 802. 582 Payan, Le sursis à statuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 327. 583 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IV. 2. 584 Tellier, RSC 2009, 797, S. 802. 585 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. III. 1. d) und IV. 3. 577

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2. Teil: Frankreich

Nehme man dieses Ziel aber ernst, dürfte die Aussetzung der „action à fins ci­viles“ nicht im Ermessen des Zivilrichters stehen, da die Eröffnung des Ermessens diver­ gierende Entscheidungen befürchten ließe.586

V. Vorschlag einer weitergehenden Abschaffung des Prinzips „le criminel tient le civil en l’état“ Fraglich ist, welche Zukunft das Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“ im französischen Recht haben wird. Bereits im Rapport Magendie wurde vorgeschla­ gen, den Grundsatz vollständig abzuschaffen und die Verfahrensaussetzung statt­ dessen in das Ermessen des Zivilrichters zu stellen.587 Diesem Vorschlag fol­ gend, gab es Mitte 2005 eine Gesetzesinitiative des Abgeordneten Warsmann, der die Abschaffung des Prinzips mit der Begründung anregte, dieses stelle eine der Hauptursachen für die missbräuchliche Einleitung des Strafverfahrens durch den Verletzten dar.588 Auch Tellier spricht sich gegen die Beibehaltung der bisherigen Regelung aus und schlägt vor, dass die Aussetzung zukünftig im Interesse einer ge­ ordneten Rechtspflege im Ermessen des Zivilrichters stehen solle.589 Überraschen­ derweise ist aber auch für Tellier ein Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil nicht hinnehmbar. Sie hält daher einen Rechtsbehelf gegen das Zivilurteil für er­ forderlich, wenn das zeitlich nach dem Zivilurteil ergangene Strafurteil diesem wi­ derspreche.590 Allerdings erscheint eine Abschaffung der Aussetzungspflicht auch für die „actions civiles“ eher unwahrscheinlich. Erstens ist in diesen Fällen kein nennenswertes Missbrauchsrisiko zu befürchten.591 Zweitens besteht ein beson­ deres Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit zwischen strafgerichtlicher und zivil­ gerichtlicher Entscheidung, da es keinen Unterschied machen soll, ob die „action civile“ vor den Strafgerichten oder den Zivilgerichten erhoben wird.592

VI. Zusammenfassung Das französische Recht hat sich zwar formal in Richtung einer größeren Un­ abhängigkeit des Zivilverfahrens im Hinblick auf ein rechtshängiges Strafverfah­ ren entwickelt. Denn vor der Gesetzesreform im Jahr 2007 war in diesem Fall die 586

Tellier, RSC 2009, 797, S. 802. Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 121; in diesem Sinne bereits Pralus, RSC 1972, 31, S. 68. 588 Warsmann, Proposition de loi visant à abroger le principe selon lequel „le pénal tient le­ civil en l’état“ n° 2496. 589 Tellier, RSC 2009, 797, S. 802 ff., 804; die Abschaffung der Regelung des Art. 4 Abs. 2 CPP fordert auch Pradel, Procédure pénale, S. 932. 590 Tellier, RSC 2009, 797, S. 805. 591 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 754. 592 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. VIII. 5. 587

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

195

Verhandlung im Zivilrechtsstreit zwingend auszusetzen, sofern das Strafurteil ge­ eignet war, die zivilrichterliche Entscheidung zu beeinflussen. Seit der Reform liegt die Aussetzung von Verfahren, die keine Schadensersatzansprüche des Ver­ letzten aus einer Straftat zum Gegenstand haben, zwar im Ermessen des Richters. Da die Gerichte in der Praxis ihr Ermessen jedoch weiterhin dahingehend ausüben, dass das Verfahren immer dann auszusetzen ist, wenn ein Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil zu befürchten ist, hat die Reform gegenüber der bisherigen, vor allem durch die Rechtsprechung geprägten, Rechtslage keine elementaren Neuerungen gebracht.

3. Teil

Zusammenfassung der Ergebnisse Nachdem in den ersten beiden Teilen der Untersuchung analysiert wurde, wel­ che Auswirkungen ein abgeschlossener oder rechtshängiger Strafprozess jeweils auf den Zivilprozess im deutschen und französischen Recht hat, sollen nunmehr die Ergebnisse überblicksartig dargestellt werden, um eine Bewertung der jeweili­ gen nationalen Lösungen im vierten Teil der Untersuchung zu erleichtern.

A. Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess Zu diesem Zweck soll zunächst nochmals zusammengefasst werden, inwieweit die Ergebnisse des Strafprozesses im Zivilprozess bei der Sachverhaltsermittlung (I.) und rechtlichen Würdigung (II.) Berücksichtigung finden.

I. Berücksichtigung der Ergebnisse des Strafprozesses bei der Sachverhaltsermittlung Die im Strafverfahren gewonnenen Erkenntnisse sind in beiden Rechtsordnun­ gen bei der späteren Sachverhaltsermittlung im Zivilrechtsstreit relevant. Zwar messen die untersuchten Rechtsordnungen dem Strafurteil im Rahmen dieser Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich eine unterschiedliche Bedeutung bei. Den­ noch bestehen auch einige Gemeinsamkeiten. 1. Allgemeine Bedeutung der Ergebnisse des Strafprozesses bei der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozess a) Unterschiede Macht eine der Parteien im Zivilprozess das rechtskräftige Strafurteil geltend, hat dies in beiden Rechtsordnungen grundsätzlich völlig verschiedene Auswirkun­ gen auf die Sachverhaltsaufklärung. Nimmt der Kläger oder Beklagte im französi­ schen Zivilverfahren Bezug auf ein rechtskräftiges Strafurteil, ist das Gericht an die tragenden Feststellungen dieses Urteils gebunden, wenn es über denselben Sach­

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

197

verhalt wie der Strafrichter zu entscheiden hat.1 Daher ist der Zivilrichter nicht nur im Schadensersatzprozess des Verletzten gegen den Schädiger, sondern beispiels­ weise auch im Rahmen einer Klage des Verletzten gegen die für den minderjäh­ rigen Straftäter haftenden Eltern oder im Rechtsstreit um die Wirksamkeit einer Kündigung des Arbeitsnehmers wegen einer angeblich begangenen Straftat an die tatsächlichen Feststellungen des Strafrichters gebunden. Beruft sich eine der Par­ teien im Zivilprozess auf das Strafurteil, steht der darin festgestellte Sachverhalt auch für die zivilgerichtliche Auseinandersetzung fest und eine erneute Aufklärung desselben Geschehens ist ausgeschlossen. Daher darf das Zivilgericht die von den Parteien gegen die Richtigkeit des Strafurteils vorgebrachten Tatsachen und Be­ weismittel nicht berücksichtigen. Dies kann dazu führen, dass der festgestellte Sachverhalt der Entscheidung selbst dann zugrunde zu legen ist, wenn Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen bestehen. Zur Verdeutlichung soll hier folgen­ der Beispielsfall aus der Einleitung dienen: B wird in einem Indizienprozess wegen Totschlags durch rechtskräftiges Strafurteil zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jah­ ren verurteilt, da er den Ehemann von X getötet habe. K gewährt der X eine Wit­ wenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz2 und verlangt im Zivilprozess auf­ grund übergegangenen Rechts Schadensersatz von B. B bestreitet, den Ehemann von X getötet zu haben. Er behauptet stattdessen, er sei zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen und bietet hierfür Zeugenbeweis an.3 Beruft sich K im Zivilprozess auf das Strafurteil, ist der Richter im französischen Recht aufgrund der Bindungswir­ kung des Strafurteils an die tatsächlichen Feststellungen gebunden. Er hat der Re­ gressklage daher stattzugeben, auch wenn sich nach Rechtskraft des Strafurteils he­ rausstellen sollte, dass B die Tat nicht begangen hat. Bietet B, wie im Beispielsfall, Beweis dafür an, dass er zur Tatzeit nicht am Tatort war, darf dieser Beweis auf­ grund der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht erhoben werden. Auch im deutschen Recht können die im Strafverfahren gewonnenen Erkennt­ nisse bei der Sachverhaltsaufklärung im nachfolgenden Zivilrechtsstreit berück­ sichtigt werden.4 Dabei kommt dem Strafurteil jedoch nicht dieselbe Bedeutung wie im französischen Recht zu. Denn zwar kann eine Partei zur Erfüllung ihrer Darlegungslast auf die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils Bezug nehmen. Dies führt aber nicht dazu, dass der Zivilrichter an den vom Strafgericht festgestell­ ten Sachverhalt gebunden wäre.5 Ferner sind sowohl das Strafurteil, als auch ein­ zelne Urkunden aus den Strafakten, wie beispielsweise Vernehmungsprotokolle, auf Antrag einer Partei als Beweismittel im Zivilprozess verwertbar, unterliegen jedoch der Beweiswürdigungsfreiheit des Richters, der nach seiner eigenen freien Überzeugung zu entscheiden hat, wie sich der streitgegenständliche Sachverhalt 1

Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). § 1 Abs. 8 OEG, eine ähnliche Regelung trifft Art. 706–3 CPP. 3 Sachverhalt nach OLG Koblenz Urteil vom 28.  November 2000, 3 U 804/00, BeckRS 2013, 21354. 4 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. 5 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 2. a) cc). 2

198

3. Teil: Zusammenfassung der Ergebnisse

zugetragen hat.6 Auch soweit das Strafurteil also als Beweismittel in den Rechts­ streit eingeführt wird, entfaltet es keine Bindungswirkung. Im Gegensatz zum französischen Recht darf der Zivilrichter im deutschen Recht den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt seiner Entscheidung nicht zugrunde legen, wenn er an dessen Richtigkeit zweifelt. Kann sich das Gericht im Beispielsfall etwa nicht da­ von überzeugen, dass B den Ehemann der X tatsächlich getötet hat, wäre die Klage im deutschen Recht nach den Regeln über die Darlegungs- und Beweislast ab­ zuweisen, da der Kläger die Darlegungs- und Beweislast für alle anspruchsbegrün­ denden Umstände trägt. Beruft sich eine Partei im Zivilprozess auf die Strafakten und beantragt die Gegenpartei wie im Beispielsfall die Vernehmung eines Zeugen, muss der Zeugenbeweis im deutschen Recht, anders als im französischen Recht, er­ hoben werden.7 So hätte das erstinstanzliche Gericht im Beispielsfall den von B an­ gebotenen Zeugen für seine Behauptung, er sei zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen, vernehmen müssen und hätte die Vernehmung nicht unter Verweis auf die Aussage des Zeugen im Strafverfahren oder die strafrichterlichen Feststellungen verweigern dürfen.8 Stellt sich nach der Vernehmung des Zeugen beispielsweise heraus, dass B tatsächlich zur Tatzeit nicht am Tatort war oder verbleiben nach der Beweisauf­ nahme Zweifel bezüglich seiner Täterschaft, wäre die Klage im deutschen Recht im Gegensatz zum französischen Recht, das der Klage stattgeben würde, abzuweisen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass im französischen Recht eine erneute Aufklärung des Geschehens, das bereits Gegenstand des durch rechtskräf­ tiges Strafurteil beendeten Strafprozesses war, im Zivilprozess unzulässig ist, so­ fern sich eine Partei auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ beruft. In diesem Fall ist der Zivilrichter an die tatsächlichen Feststellungen des Straf­ urteils gebunden. Im deutschen Recht können die Parteien im Rahmen ihrer Aus­ einandersetzung vor den Zivilgerichten zwar auf Darlegungs- und Beweisebene auf das Strafurteil Bezug nehmen und auch einzelne im Strafverfahren gewonnene Ermittlungsergebnisse als Beweis anbieten. Dies bewirkt jedoch keine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil. b) Gemeinsamkeiten Trotz dieser gewichtigen Unterschiede bestehen auch Gemeinsamkeiten zwi­ schen beiden Rechtsordnungen. Erstens entfaltet das Strafurteil auch im franzö­ sischen Recht keine Bindungswirkung für den nachfolgenden Zivilprozess, wenn keine der Parteien die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ geltend macht.9 In diesem Fall hat das Zivilgericht den streitgegenständlichen Sachverhalt also nach seiner freien richterlichen Überzeugung zu würdigen. Allerdings dürfte 6

Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a) und c). Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. c). 8 OLG Koblenz Urteil vom 28. November 2000, 3 U 804/00, BeckRS 2013, 21354, unter II. 9 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. III. 3. 7

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

199

es in der Praxis nicht allzu häufig vorkommen, dass sich niemand auf das Straf­ urteil bezieht. Denn dieses wird in der Regel entweder für den Kläger oder für den Beklagten günstig sein, sodass entweder die eine oder die andere Partei regelmäßig ein Interesse daran haben dürfte, die strafrichterliche Entscheidung zur Begründung ihrer Position heranzuziehen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht von Amts wegen berücksichtigt werden darf. Schließlich besteht hier die Gefahr, dass der Zivilrichter zu einer Entschei­ dung kommt, die dem rechtskräftigen Strafurteil widerspricht – ein Widerspruch, der im französischen Recht eigentlich mit allen Mitteln verhindert werden soll. Zweitens können im französischen Recht unter denselben Voraussetzungen wie im deutschen Recht auch einzelne Erkenntnisse des Strafverfahrens, wie etwa Ver­ nehmungsprotokolle, im Zivilprozess verwertet werden, wenn die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ ausnahmsweise nicht zum Tragen kommt.10 Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Strafverfahren nicht durch rechtskräftiges Strafurteil endet, sondern eingestellt wird.11 Diese Beweismittel unterliegen jedoch anders als das rechtskräftige Strafurteil der freien richterlichen Beweiswürdigung. Drittens kann auch das Strafurteil im französischen Recht ausnahmsweise als bloßes Beweismittel verwertet werden, wobei es vom Gericht frei zu würdigen ist.12 Dies ist aber nur möglich, wenn der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht anwendbar ist, etwa weil die Rechtsmittelfristen zum Zeitpunkt der zivilrichterlichen Entscheidung noch nicht abgelaufen sind. Auch die Verwertung des Strafurteils als Beweismittel handhaben beide Rechtsordnun­ gen also ähnlich. Schließlich könnte man auf den Gedanken kommen, eine weitere Annäherung der beiden Rechtsordnungen festzustellen. Hat doch die Rechtspraxis einiger deutscher Gerichte, die dem Strafurteil auf Darlegungs- oder Beweiswürdigungs­ ebene einen unberechtigten Stellenwert beimisst, zur Folge, dass der Zivilrich­ ter die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils möglicherweise genauso unre­ flektiert und ungeprüft übernimmt wie sein französischer Kollege. Dennoch kann man in diesem Zusammenhang nicht von einer Annäherung sprechen. Denn wäh­ rend die Bindungswirkung des Strafurteils im französischen Recht historisch ge­ wachsen ist und seit Jahrzehnten einen anerkannten richterrechtlichen Rechts­ grundsatz darstellt, der auch vom Gesetzgeber zumindest implizit13 anerkannt ist, überschreiten die Entscheidungen einzelner deutscher Gerichte, die im Hinblick auf ein rechtskräftiges Strafurteil erhöhte Substantiierungserfordernisse aufstel­ len oder abstrakte Beweiswürdigungsregeln schaffen, die Grenzen der zulässigen Rechtsfortbildung.14 10

Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. VII. Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. II. 1. 12 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. VII. 13 Vgl. Art. 495–5 Abs. 2 und 528–1 Abs. 2 CPP. 14 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 2. b) aa) und bb). 11

200

3. Teil: Zusammenfassung der Ergebnisse

2. Im Besonderen: Persönliche Reichweite der Ergebnisse des Strafprozesses bei der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozess a) Unterschiede In beiden Rechtsordnungen können sich sowohl der ehemalige Angeklagte als auch der Verletzte vor den Zivilgerichten auf das Strafurteil berufen. Dieses kann aber nicht nur im Verhältnis des ehemaligen Angeklagten zu dem Verletzten, son­ dern auch im Verhältnis zu einem Dritten, der in keiner Weise am Strafprozess be­ teiligt war, von Bedeutung sein. Insoweit bestehen zwischen beiden Rechtsordnun­ gen also keine Unterschiede. Denn sowohl im deutschen als auch im französischen Recht kann sich eine Partei des Zivilprozesses unabhängig davon, ob sie am Straf­ prozess beteiligt war, auf das Strafurteil stützen. Auch kann ihr ein solches Urteil jederzeit entgegengehalten werden. Jedoch unterscheiden sich die Wirkungen des Strafurteils gegenüber Dritten gravierend. Als Beispiel soll hier der folgende Ein­ leitungsfall dienen: Der 15-jährige K zündet auf einem Ausstellungsgelände un­ mittelbar neben einem Zelt einen Papierhaufen an. Das Zelt gerät in Brand. K wird im Strafprozess aufgrund des genannten Vorfalls wegen fahrlässiger Brandstiftung verurteilt. Im Zivilprozess begehrt K von B als Versicherung Deckung für die An­ sprüche, die gegen ihn wegen des Brandschadens geltend gemacht werden. B lehnt die Zahlung mit der Begründung ab, K habe den Brand vorsätzlich herbeigeführt.15 Im französischen Recht entfaltet das Strafurteil Bindungswirkung „erga omnes“, sofern sich eine Partei im Zivilprozess auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ beruft.16 Das bedeutet, dass nicht nur der ehemalige Angeklagte, son­ dern auch der Verletzte und sogar gänzlich unbeteiligte Dritte an die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils gebunden sind. Selbst wenn diese am Strafprozess nicht beteiligt waren und dessen Ausgang in keinster Weise beeinflussen konnten, ist eine erneute Beweisaufnahme im Zivilprozess unzulässig. Das Strafurteil ent­ faltet sogar dann Bindungswirkung im Zivilprozess, wenn der Zivilrichter von des­ sen Unrichtigkeit überzeugt ist. Auch wenn K also im Beispielsfall die Tat vorsätz­ lich begangen hat und B einen Zeugen dafür benennt, dass K beabsichtigt hatte, das Zelt samt Inhalt abzubrennen, darf das Zivilgericht den Zeugen nicht hören und muss der Klage des K stattgeben. Auch im deutschen Recht kann sich K gegenüber B, die am Strafprozess nicht beteiligt war, auf das Strafurteil berufen. Jedoch ist der Zivilrichter nicht an den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt gebunden17, da dieses nicht beweist, dass K fahrlässig gehandelt hat, sondern nur, dass K wegen fahrlässiger Brandstiftung ver­ urteilt wurde. Daher dürfen die tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung im Zivilrechtsstreit nicht ungeprüft zugrunde gelegt werden. B, der in diesem Fall das 15

Sachverhalt nach BGH NJW 1983, 1739. Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. III. 2. a). 17 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a). 16

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Strafurteil als Beweismittel entgegengehalten wird, kann jederzeit gegenbeweis­ lich die Vernehmung eines Zeugen beantragen und so eine Wiederholung der Be­ weisaufnahme herbeiführen. Dasselbe gilt entsprechend, wenn nicht das Strafurteil, sondern einzelne Erkenntnisse des Strafverfahrens im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden. Geht der Zivilrichter, wie im Beispielsfall das Berufungsgericht, davon aus, dass der Angeklagte vorsätzlich gehandelt hat, ist die Klage aufgrund des versicherungsvertraglichen Haftungsausschlusses abzuweisen.18 b) Gemeinsamkeiten Dennoch bestehen auch im Hinblick auf die persönliche Reichweite Gemein­ samkeiten zwischen beiden Rechtsordnungen. Zum einen sind, wie soeben bereits dargestellt19, auch im französischen Recht Dritte dann nicht an die Feststellungen des Strafurteils gebunden, wenn ausnahmsweise keine Partei auf das Strafurteil Bezug nimmt oder die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ aus ande­ ren Gründen nicht anwendbar ist. In diesem Fall bleibt es bei der Lösung, die auch das deutsche Recht vorsieht: Die Erkenntnisse des Strafverfahrens können im Zi­ vilprozess auch Dritten gegenüber als Beweismittel verwendet werden, wobei sie in diesem Fall der freien richterlichen Beweiswürdigung unterliegen. Außerdem ist ein Gegenbeweis jederzeit zulässig. Zum anderen scheint sich im französischen Recht eine Einschränkung der persönlichen Reichweite des Prinzips auf die Per­ sonen abzuzeichnen, die sich am Strafverfahren beteiligen konnten. Dabei soll an dieser Stelle vor allem an die Entscheidungen der Cour de cassation aus den Jahren 1998 und 2000 erinnert werden.20 Sollte die französische Rechtsprechung diese­ Linie weiterverfolgen, könnte dies zu einer Annäherung an das deutsche Recht führen, das keine Bindungswirkung des Strafurteils zulasten am Strafprozess un­ beteiligter Dritter vorsieht. 18

Die dem Beispielsfall zugrunde liegende Entscheidung des BGH (BGH NJW 1983, 1739) wird teilweise dafür kritisiert, dass sie ein erhöhtes Begründungserfordernis für das Abweichen vom Strafurteil statuiere, so etwa Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nach­ folgende Zivilverfahren, S. 21. Indes ging es in der Entscheidung nicht darum, unter welchen Voraussetzungen im Zivilprozess von einem Strafurteil abgewichen werden darf, sondern um die Begründungspflicht gem. § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO für die Annahme des Vorsatzes aufgrund von In­ dizien. § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO verlangt, dass im Urteil die Gründe angegeben werden, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Gegen diese Begründungspflicht hatte die Vor­ instanz nach Ansicht des BGH verstoßen, da sie keine Begründung dafür angegeben hatte, wie sie zu ihrer Überzeugung gekommen war, dass der Kläger vorsätzlich gehandelt habe. Ledig­ lich ergänzend fügte der BGH hinzu, dass das „Berufungsgericht […] im Rahmen der vom Gesetz vorgeschriebenen Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO) umso mehr Anlaß zu einer eingehenden und auch für den Kläger verständlichen Begründung seiner Überzeugung gehabt [hätte], als der Kläger vom Strafgericht ausdrücklich nicht wegen vorsätzlicher, sondern nur wegen fahrlässiger Brandstiftung verurteilt worden war.“ 19 Vgl. hierzu ausführlich unter 3. Teil, A. I. 1. b). 20 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. III. 2. b) cc) und dd).

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3. Teil: Zusammenfassung der Ergebnisse

II. Berücksichtigung des Strafurteils bei der rechtlichen Würdigung Die Frage, inwieweit das Strafurteil bei der rechtlichen Würdigung Berücksich­ tigung findet, beantworten das deutsche und das französische Recht zwar grund­ sätzlich unterschiedlich. Dennoch nähern sich beide Rechtsordnungen nach der oben dargestellten Entwicklung21 im Ergebnis an, da das französische Recht dem Zivilrichter immer mehr Freiheit im Hinblick auf die rechtliche Würdigung des Sachverhalts einräumt. 1. Unterschiede Im Gegensatz zum deutschen Recht darf der Zivilrichter im französischen Recht nicht von der rechtlichen Würdigung des Strafrichters abweichen, wenn eine der Parteien die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ geltend macht.22 In diesem Fall ist er nicht nur an die tragenden Feststellungen des Strafurteils, son­ dern auch an die rechtliche Qualifikation gebunden. Dagegen ist das Gericht im französischen Recht, genauso wie im deutschen Recht, in seiner rechtlichen Wür­ digung frei, wenn sich ausnahmsweise keine der Parteien auf das Strafurteil beruft. 2. Annäherung der Rechtsordnungen Trotz dieses grundlegenden Unterschieds ist doch eine gewisse Annäherung beider Rechtsordnungen auszumachen. Da eine Übertragung der strafrechtlichen Würdigung auf die im Zivilprozess zu treffende rechtliche Würdigung voraussetzt, dass die zivilrechtlichen und strafrechtlichen Konzepte des materiellen Rechts übereinstimmen, sich diese aber im französischen Recht in den letzten Jahren im­ mer weiter voneinander entfernt haben, gewann der französische Zivilrichter da­ mit stetig mehr Freiheit im Hinblick auf die rechtliche Würdigung. So wurde bei­ spielsweise die verschuldensunabhängige Haftung im Zivilrecht immer weiter ausgebaut.23 Stützt der Kläger im Zivilprozess seinen Anspruch auf einen solchen Gefährdungshaftungstatbestand, ist das Gericht nicht an die rechtliche Würdigung des Strafrichters gebunden, der hierzu keine Aussage trifft.24 Als weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Aufgabe des einheitlichen Fahrlässigkeitsbegriffs 21

Vgl. unter 2. Teil, A. V. 1. Vgl. unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). 23 Vgl. hierzu umfassend Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale paral­ lèles, S. 455 ff. 24 Aus diesem Grund besteht im französischen Recht keine Bindungswirkung in Straßen­ verkehrssachen, die auf das Gesetz vom 5. Juli 1985 „sur les accidents de la circulation“ ge­ stützt werden, da die Haftung in diesen Fällen auf einer eigenständigen Grundlage beruht, Civ. 7. Oktober 2004, Bull. civ. II n° 436; Civ. 21. Juli 1992, Bull. civ. II n° 219; Stefani/Levasseur/ 22

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

203

im Jahr 2000 zu sehen.25 Obwohl in der französischen Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt ist, in welchem Verhältnis der strafrechtliche zum zivilrecht­ lichen Vorsatzbegriff steht, scheinen sich auch hier beide Begriffe auseinander zu entwickeln.26

B. Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess Auch hinsichtlich des Verhältnisses paralleler Zivil- und Strafverfahren beste­ hen zwischen dem deutschen und dem französischen Recht Unterschiede und­ Gemeinsamkeiten.

I. Unterschiede Während die Aussetzung des Zivilverfahrens im deutschen Recht grundsätz­ lich im Ermessen des Richters liegt, besteht im französischen Recht die Besonder­ heit, dass ein Antrag auf Aussetzung der Verhandlung einer Schadensersatzklage, mit der der Verletzte Ersatz der durch die Straftat verursachten Schäden begehrt, nicht abgelehnt werden kann. Auch der Zeitpunkt der Verfahrensaussetzung ist nicht identisch. Denn während der Zivilrichter im deutschen Recht das Verfahren schon aussetzen kann, wenn nur der Verdacht einer Straftat besteht, selbst wenn ein Strafverfahren noch gar nicht eingeleitet ist, muss dieses im französischen Recht bereits rechtshängig sein. Die Aussetzung ist im französischen Recht also erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich. An das im Rahmen der Aussetzung des Zivilrechtsstreits ergangene rechtskräftige Strafurteil ist der Zivilrichter im fran­ zösischen Recht gebunden, wohingegen im deutschen Recht auch in diesem Fall keine Bindung besteht.

II. Formale Annäherung der Rechtsordnungen Da durch die französische Gesetzesreform im Jahr 2007 die Unabhängigkeit des Zivilverfahrens im Hinblick auf ein rechtshängiges Strafverfahren deutlich gestärkt wurde, kann zumindest von einer formalen Annäherung der Rechtsordnungen ge­ sprochen werden. Wie bereits dargestellt27, ist die Verfahrensaussetzung selbst für Bouloc, Procédure pénale, S. 972. Dasselbe gilt, wenn die zivilprozessuale Klage auf eine ver­ tragliche statt deliktische Haftung gestützt wird, Hébraud, L’Autorité de la Chose Jugée au Cri­ minel sur le Civil, S. 456. 25 Vgl. hierzu ausführlich unter 2. Teil, A. V. 1. a). 26 Vgl. etwa Civ. 27. Mai 2003, Bull. civ. I n° 125. 27 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. Einleitung zu III.

204

3. Teil: Zusammenfassung der Ergebnisse

Schadensersatzklagen des Verletzten („actions civiles“) gem. Art.  4 Abs.  2 CPP nur insoweit obligatorisch, als eine Partei einen Aussetzungsantrag stellt. Für alle anderen Zivilverfahren („actions à fins civiles“) liegt die Aussetzung seit Einfüh­ rung des Art. 4 Abs. 3 CPP im Jahr 2007 im Ermessen des Richters. Damit hat es der ­Zivilrichter in der Hand, im Wege seines Aussetzungsermessens über eine Bin­ dungswirkung des Strafurteils zu entscheiden: Ordnet er die Aussetzung des Ver­ fahrens nicht an und entscheidet bevor das Strafurteil rechtskräftig wird, ist er an dieses nicht gebunden. Setzt er dagegen das Verfahren aus und wartet den Aus­ gang des Strafprozesses ab, kommt der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ zum Tragen. Auch wenn die Aussetzung von Zivilverfahren, die keine Schadensersatzansprüche des Verletzten zum Gegenstand haben, in bei­ den Rechtsordnungen im Ermessen des Zivilrichters steht, scheint diese im fran­ zösischen und deutschen Recht doch unterschiedlichen Zwecken zu dienen. Im deutschen Recht wird sie in erster Linie durch prozessökonomische Erwägungen gerechtfertigt.28 Der Zivilrichter soll von den gegebenenfalls weitergehenden Er­ kenntnis- und Aufklärungsmöglichkeiten im Ermittlungs- und Strafverfahren pro­ fitieren können. Aus diesem Grund ist die Aussetzung im deutschen Recht auch schon bei einem hinreichenden Tatverdacht möglich. Im französischen Recht soll die Aussetzungsbefugnis nach überwiegender Ansicht widersprüchliche Entschei­ dungen der Straf- und Zivilgerichtsbarkeit vermeiden. Daher geht die französi­ sche Rechtsprechung in der Praxis ungeachtet der Gesetzesänderung weiterhin davon aus, dass die Verhandlung über eine „action à fins civiles“ grundsätzlich be­ reits dann auszusetzen ist, wenn das Strafurteil geeignet ist, die Entscheidung im Zivilrechtsstreit zu beeinflussen oder wenn ein Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil zu befürchten ist. Zwar ist auch im deutschen Recht anerkannt, dass die Verfahrensaussetzung widersprüchliche Entscheidungen verhindern soll.29 Dies ist jedoch kein Selbstzweck. Denn die Regelung des § 149 Abs. 1 ZPO soll nicht etwa dazu dienen, eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil herbeizufüh­ ren. Stattdessen sollen widersprüchliche Entscheidungen dadurch verhindert wer­ den, dass der Zivilrichter auf denselben Kenntnisstand wie der Strafrichter ge­ bracht wird, indem er von den Erkenntnissen des Strafprozesses erfährt und diese auch im Zivilprozess verwerten kann. Seit der französischen Gesetzesreform im Jahr 2007 existieren zwar mit Art. 4 Abs. 3 CPP und § 149 Abs. 1 ZPO in beiden Rechtsordnungen Vorschriften, welche die Aussetzung des Verfahrens in das Er­ messen des Zivilrichters stellen. Jedoch wird dieses Ermessen in der Praxis, wie soeben gesehen30, von den deutschen und französischen Gerichten doch sehr un­ terschiedlich gehandhabt.

28

Vgl. hierzu unter 1. Teil, B. IV. Vgl. hierzu unter 1. Teil, B. IV. 30 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IV. 2. 29

4. Teil

Bewertung der nationalen Konzepte im Hinblick auf die Einhaltung bestimmter Verfahrensprinzipien Nachdem der Strafprozess, wie soeben erörtert, in beiden Rechtsordnungen grundsätzlich ganz unterschiedliche Auswirkungen auf den Zivilprozess hat, stellt sich als nächstes die naheliegende Frage, wie die unterschiedlichen nationalen Konzepte zu bewerten sind. Sowohl im französischen als auch im deutschen Recht ist die Frage, wie das Verhältnis zwischen aufeinanderfolgenden und parallelen Straf- und Zivilprozessen sachgerecht zu lösen ist, seit Jahrzehnten immer wieder Gegenstand lebhafter Kontroversen. Die Lösungsansätze der beiden Rechtsord­ nungen beruhen jeweils auf der Abwägung widerstreitender Interessen, wobei das Ergebnis dieser Abwägung in beiden Rechtsordnungen unterschiedlich ausfällt. Interessanterweise werden jedoch im Rahmen der jeweils nationalen Debatte die­ selben Rechte, Interessen und allgemeinen Rechtsgrundsätze diskutiert. Vor diesem Hintergrund ist eine in der Literatur nicht gänzlich unumstrittene1 Bewertung von Rechtsordnungen im konkreten Fall möglich. So wird hiergegen zwar teilweise vorgebracht, dass die Bewertung der Lösung, die eine fremde Rechtsordnung für ein bestimmtes Problem vorsieht, für den Juristen das Risiko birgt, die Lösung vornehmlich aus der Sicht der eigenen Rechtsordnung und da­ mit unter Umständen voreingenommen zu beurteilen.2 Diesen Bedenken muss und kann im Folgenden jedoch Rechnung getragen werden. Denn die Lösungsmecha­ nismen, die beide Rechtsordnungen für die Problematik paralleler oder aufeinan­ derfolgender Straf- und Zivilprozesse vorsehen, beruhen auf der Abwägung be­ stimmter Kriterien, die in beiden Rechtsordnungen anerkannt sind und zentrale Elemente des jeweiligen Rechtsschutzsystems darstellen. Eine Bewertung ist des­ halb möglich, da untersucht und verglichen werden kann, inwieweit der jeweilige nationale Lösungsansatz diese Gesichtspunkte, die in beiden Rechtsordnungen Bedeutung haben, verwirklicht. Schließlich ist eine Bewertung der unterschied­ lichen Lösungen auch erforderlich, um die im 5. Teil unter anderem zu klärende Frage, ob in Anbetracht der französischen Lösung Reformbedarf für das deutsche System besteht, beantworten zu können. 1

Vgl. Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265, Fn. 8 mit weiteren Nachweisen und Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privat­ rechts, S. 52 f. Für die Notwendigkeit einer Bewertung: Zweigert, Einführung in die Rechtsver­ gleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 52; Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrens­ rechtsvergleichung, S. 26; Stürner/Stadler, in: Gilles, Transnationales Prozessrecht, 263, S. 265. 2 Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 53.

206

4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

A. Bewertung der Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess I. Bewertungskriterien Es ist anerkannt, dass als Anforderungen und Zielvorgaben, anhand derer ver­ schiedene nationale Lösungen bewertet werden können, all diejenigen Gesichts­ punkte in Betracht kommen, die in wenigstens einer der beiden Rechtsordnungen von Bedeutung sind.3 Im vorliegenden Fall besteht, wie soeben festgestellt, die Besonderheit, dass sogar sämtliche diskutierten Gesichtspunkte in beiden Rechts­ ordnungen von Bedeutung sind. Dabei spielen vor allem folgende Kriterien eine Rolle: 1. Die Widerspruchsfreiheit gerichtlicher Entscheidungen, 2. der Grundsatz der Rechtssicherheit, 3. die bestmögliche Wahrheitsermittlung im Zivilprozess, 4. der Opferschutz, 5. das Recht auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör, 6. die Wahrung der Rechte des Angeklagten im Strafprozess, 7. effizienz- und prozessökonomische Gesichtspunkte, 8. die freie richterliche Beweiswürdigung. Anhand dieser Gesichtspunkte sollen im nun folgenden Teil der Untersuchung die unterschiedlichen nationalen Lösungskonzepte für die Problematik der Aus­ wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess bewertet werden. Dabei wird jeweils untersucht, inwieweit das französische und das deut­ sche Recht das entsprechende Bewertungskriterium erfüllt. Des Weiteren wer­ den gegebenenfalls auftretende Wechselwirkungen mit anderen Zielvorgaben oder schutzwürdigen Interessen beleuchtet.

II. Bewertung 1. Die Widerspruchsfreiheit gerichtlicher Entscheidungen Sowohl im deutschen als auch im französischen Recht wird das Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit bzw. Einheitlichkeit gerichtlicher Entscheidungen von den Befürwortern einer Bindungswirkung des Strafurteils betont. Sie berufen sich dar­ auf, dass sich widersprechende Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichts­ 3

Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 26.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

207

barkeit unerwünscht und daher zu verhindern seien.4 Ein solcher Widerspruch erschüttere nämlich die öffentliche Ordnung, da der Bürger regelmäßig nicht nach­ vollziehen könne, warum Straf- und Zivilrichter zu unterschiedlichen Entschei­ dungen gelangen könnten.5 Die Tatsache, dass der Zivilrichter einem rechtskräf­ tigen Strafurteil widersprechen könne, beeinträchtige außerdem das Ansehen der Justiz6 und die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen7. Fraglich ist, inwieweit die beiden untersuchten Rechtsordnungen dieses Ziel der Widerspruchsfreiheit von Zivil- und Strafurteil erreichen. Obwohl das Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ eigent­ lich dazu dient, einheitliche Entscheidungen der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit herbeizuführen, wird das Ziel auch im französischen Recht nur zum Teil  ver­ wirklicht. Denn eine einheitliche Entscheidung ist überhaupt nur dann gewähr­ leistet, wenn sich im Zivilprozess eine der Parteien auf das Strafurteil beruft. In diesem Fall ist der Zivilrichter zwar an die tragenden tatsächlichen Feststellun­ gen und an die rechtliche Würdigung des Strafgerichts gebunden. Dennoch sind aufgrund der oben geschilderten sachlichen Einschränkungen der Bindungswir­ kung durch den obersten Gerichtshof8 auch hier gewisse Widersprüchlichkeiten zwischen Straf- und Zivilurteil denkbar. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es um gegenseitige Schadensersatzansprüche geht. So ist es möglich, dass der Angeklagte, der im Rahmen eines Unfalls selbst Verletzungen erlitten hat, im Strafprozess mit der Begründung freigesprochen wird, dass den anderen Unfall­ beteiligten das alleinige Verschulden treffe. Macht der ehemalige Angeklagte im anschließenden Zivilrechtsstreit seine Ansprüche gegen den anderen Beteiligten geltend, ist der zur Entscheidung berufene Richter nicht an das im freisprechen­ den Urteil festgestellte Verschulden des anderen Unfallbeteiligten gebunden, da es sich nach Auffassung der Cour de cassation bei Feststellungen zum Verschul­ den Dritter nicht um notwendige Feststellungen handle.9 Von der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ werde nämlich nur die Feststellung erfasst, dass den Angeklagten kein Verschulden treffe, nicht aber die Begründung, warum es an einem solchen Verschulden fehle.10 Diese, oft als Kunstgriff kritisierte, 4

Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 87; für das französische Recht vgl. unter 2. Teil, A. VIII. 3. 5 Vgl. beispielsweise für das deutsche Recht Völzmann, Die Bindungswirkung von Straf­ urteilen im Zivilprozess, S. 150; für das französische Recht unter 2. Teil, A. VIII. 3. 6 Civ. 7. März 1855, D. 1855.1.81; Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 729; Joinet, Bul­ letin d’information n° 478 du 15/09/1998, unter A.; Karila de Van, in: Raynaud/Aubert, Réper­ toire de droit civil, 1, S. 27; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 135; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 87. 7 Oehlerking, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 30. 8 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). 9 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 199; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 304. 10 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 199 f.

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Rechtsprechung11 kann dazu führen, dass die Schadensersatzklage des im Straf­ prozess freigesprochenen Klägers mit der Begründung abgewiesen wird, dass den Beklagten kein Verschulden treffe, obwohl der Kläger gerade aufgrund dieses Ver­ schuldens des Beklagten im Strafprozess freigesprochen wurde.12 Obwohl die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ grundsätzlich widersprüchliche Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit verhindern soll, kann die enge Auslegung des Grundsatzes durch die Rechtsprechung also zur Folge haben, dass der Zivilrichter dem Strafurteil im Ergebnis doch widersprechen kann. Zu ab­ weichenden Entscheidungen kann es ferner auch dann kommen, wenn keine der Parteien die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ im Zivilprozess gel­ tend macht, da diese nicht von Amts wegen berücksichtigt werden darf. Aber auch wenn die Entscheidung im Zivilrechtsstreit zeitlich vor Rechtskraft des Straf­urteils ergeht, etwa wenn eine sonstige Zivilklage, die keine Schadensersatzansprüche des Verletzten aus einer strafbaren Handlung zum Gegenstand hat, im Hinblick auf ein rechtshängiges Strafverfahren nicht ausgesetzt wird, sind widersprüchliche Entscheidungen möglich. Nachdem also auch im französischen Recht trotz um­ fassender Bindungswirkung des Strafurteils in zahlreichen Fällen doch ein Wider­ spruch zwischen Straf- und Zivilurteil denkbar ist, wird dem Grundsatz des Vor­ rangs der Strafgerichtsbarkeit Inkohärenz vorgeworfen.13 Das deutsche Recht, das keine Bindungswirkung des strafgerichtlichen Urteils für den Zivilrichter vorsieht, nimmt es hin, dass derselbe Lebenssachverhalt und dieselben Rechtsfragen von Straf- und Zivilgerichten womöglich unterschiedlich beurteilt werden und nimmt damit auch widersprüchliche Entscheidungen bewusst in Kauf. In der unterschiedlichen Ausgestaltung des jeweiligen Verfahrens ist die Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung angelegt. Denn die gegebenenfalls ab­ weichende Sachverhaltsfeststellung beruht auf den unterschiedlichen Verfahrens­ grundsätzen und den unterschiedlichen Methoden der Entscheidungsfindung im Straf- und Zivilprozess.14 So besteht im deutschen Recht die Möglichkeit, dass sowohl der Strafrichter als auch der Zivilrichter eine gesetzmäßige Entscheidung treffen und dennoch zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Ein solcher Wi­ derspruch kann beispielsweise auf den unterschiedlichen objektiven Beweislast­ regeln beruhen. Während etwa der Angeklagte im Strafprozess bei Unaufklärbar­ keit eines bestimmten Umstands aufgrund des Zweifelsgrundsatzes freizusprechen ist, kann die Beweislastverteilung im Zivilprozess dazu führen, dass der Klage stattzugeben ist. Es ist aber nicht nur die unterschiedliche verfahrensrechtliche Ausgestaltung von Zivil- und Strafprozess, die divergierende Ergebnisse in beiden 11 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 200 spricht von einer „solution totalement fictive“; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 304 bezeichnet die Rechtsprechung als „fort artificielle“. 12 Zu dieser objektiven Beschränkung der Bindungswirkung des Strafurteil durch die Recht­ sprechung bereits unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). 13 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IX. 1. 14 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. IV. 2. b).

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Gerichtszweigen von vorneherein heraufbeschwört.15 Auch die gesetzgeberische Entscheidung für eine uneingeschränkte Beweiswürdigungsfreiheit des Richters sowohl im Straf- als auch im Zivilprozess (§ 261 StPO, § 286 Abs. 1 ZPO) lässt es zu, dass der Zivilrichter eine andere Überzeugung als der Strafrichter gewinnt. Al­ lerdings wird die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen im deutschen Recht dadurch abgemildert, dass das Strafurteil und einzelne im Ermittlungs- und Straf­ verfahren gewonnene Erkenntnisse, wie Zeugenaussagen oder Sachverständigen­ gutachten, im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung im Zivilpro­ zess berücksichtigt werden können, sodass sich das Gericht diese Erkenntnisse zu Nutze machen kann.16 Die Lösungen beider Rechtsordnungen wirken sich zugleich auf andere Ziel­ vorgaben und Rechtsgrundsätze aus. Soweit das französische Recht dem Bedürf­ nis nach Entscheidungsharmonie uneingeschränkten Vorrang einräumt, trägt es den unterschiedlichen Verfahrensgrundsätzen im Zivil- und Strafverfahren nicht hinreichend Rechnung. Denn durch das Prinzip der „autorité de la chose jugée au­ pénal sur le civil“ werden sowohl die zivilprozessualen Beweislastregeln17 als auch der Beibringungsgrundsatz ausgehebelt: Sofern das Prinzip zum Tragen kommt, dürfen Tatsachen und Beweismittel, die das Strafurteil in Frage stellen, nicht be­ rücksichtigt werden. Da der Richter an die tragenden tatsächlichen Feststellungen gebunden ist, wird auch seine Beweiswürdigungsfreiheit vollständig verdrängt. Schließlich kann sich das Streben nach einer möglichst einheitlichen Rechtspre­ chung im französischen Recht zulasten der Verwirklichung einer materiell rich­ tigen, auf der Ermittlung des wahren Sachverhalts beruhenden Entscheidung im Zivilprozess auswirken. Denn im Interesse der Einheitlichkeit wird zulasten der materiellen Richtigkeit des Zivilurteils in Kauf genommen, dass das Gericht die von den Parteien gegen die Unrichtigkeit des Strafurteils vorgebrachten Tatsachen und Beweise unbeachtet lassen muss und auch an ein offensichtliches Fehlurteil gebunden ist. Im deutschen Recht bleiben die freie richterliche Beweiswürdigung und die Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses auch im Hinblick auf ein rechtskräftiges Strafurteil uneingeschränkt erhalten. Im Gegensatz zum französischen Recht be­ tont das deutsche Recht außerdem das Streben nach materieller Wahrheit als ele­ mentare Voraussetzung einer gerechten Entscheidung stärker. Denn die Bindung des Zivilrichters an ein unrichtiges Strafurteil wird im deutschen Recht für in­ akzeptabel gehalten.

15 So Groß in einem Diskussionsbeitrag, Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhandlungen des 57. deutschen Juristentages, L 126; Ossenbühl hält dies dagegen für einen „Mißstand in unserer Rechtsordnung“, a. a. O., L 133; Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 175; Haaf, Die Fern­ wirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 45; Völzmann, Die Bindungswir­ kung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 59. 16 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a) und c). 17 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IX. 4.

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

2. Der Grundsatz der Rechtssicherheit Auch der Grundsatz der Rechtssicherheit spielt in beiden Rechtsordnungen eine zentrale Rolle in der Diskussion um die Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilprozess.18 So wird in der französischen Doktrin beispielsweise argumentiert, das Prinzip der Rechtssicherheit erfordere die Beständigkeit der strafgerichtlichen Entscheidung und verbiete, dass der Strafprozess neu aufgerollt werde.19 Auch in der deutschen Literatur wird unter Berufung auf die Rechtssicherheit gefordert, dass ein erneuter Streit „über dieselbe bereits rechtskräftig entschiedene Sache“ verhindert werden müsse und es daher vorzugswürdig sei, dass „ein bestimmter historischer Lebenssachverhalt grundsätzlich nur einer rechtlichen Kognition unterzogen wird“.20 In ihrer Ausprägung als Vorhersehbarkeit bzw. Berechenbarkeit verlange die Rechtssicherheit außerdem, dass der Bürger künftige Entscheidungen prognostizieren könne.21 Daher müsse für den Bürger nach rechtskräftigem Ab­ schluss des Strafprozesses vorhersehbar sein, wie der Zivilprozess ausgehe.22 Dem Grundsatz der Rechtssicherheit wird in den beiden untersuchten Rechtsordnungen unterschiedliches Gewicht beigemessen. Die französische Rechtsordnung kommt dem Ziel Rechtssicherheit sehr viel nä­ her als die deutsche Rechtsordnung. Denn der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ schließt eine erneute Verhandlung und Entscheidung über das im Strafurteil festgestellte tatsächliche Geschehen und die dort entschie­ denen Rechtsfragen aus und macht damit die Entscheidung des Zivilrichters nach rechtskräftigem Abschluss des Strafprozesses vorhersehbar. Diese absolute Bin­ dungswirkung wird im französischen Recht für unabdingbar zur Sicherung der Beständigkeit des Strafurteils erachtet, da andernfalls der Strafprozess wiederholt und das Strafurteil nachträglich in Frage gestellt würde.23 Dennoch wird der Be­ stand der strafgerichtlichen Entscheidung nicht um jeden Preis geschützt. Denn dieser ist nur insoweit gewährleistet, als sich im Zivilprozess eine der Parteien auf das Strafurteil beruft. Obwohl die Bindungswirkung teilweise als Folge einer positiven Rechtskraftwirkung des Strafurteils gesehen wird, welche die Entschei­ dungsgründe des Urteils erfasse, darf der Zivilrichter das Strafurteil nicht von Amts wegen berücksichtigen, wenn sich keine der Parteien hierauf beruft. In die­ sem Fall hat das Zivilgericht den streitgegenständlichen Sachverhalt abermals zu würdigen, obwohl eine erneute Verhandlung und Entscheidung über dieselben tat­ sächlichen Umstände, die bereits Gegenstand des Strafprozesses waren und im Strafurteil rechtskräftig festgestellt wurden, nach dem französischen Rechtskraft­ 18 Vgl. für das deutsche Recht unter 1. Teil, A. I. 3. h) cc) und IV. 3. e); für das französische Recht unter 2. Teil, A. VIII. 3. 19 Vitu, RD pén. crim. 1966–1967, 720, S. 730; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 66, 136. 20 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 87. 21 BVerfGE 25, 269, 290; von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 391. 22 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 150. 23 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. VIII. 3.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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verständnis eigentlich ausgeschlossen sein müsste. Der privatrechtliche Charak­ ter des Prinzips der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ stellt jedoch nicht nur die Beständigkeit des Strafurteils, sondern auch die Vorhersehbarkeit der Entscheidung im Zivilrechtsstreit teilweise in Frage. Nachdem die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht von Amts wegen berücksichtigt werden darf, hängt es letztlich vom Parteiwillen ab, ob der Zivilrichter inhaltlich an das Strafurteil gebunden ist. Darüber hinaus kann auch die enge Auslegung des Grund­ satzes durch die französische Rechtsprechung, wie soeben gesehen24, zur Folge ha­ ben, dass der Zivilrichter in vielen Fällen dem Strafurteil doch widersprechen darf, sodass auch insoweit nach Erledigung des Strafverfahrens der Ausgang des Zivil­ rechtsstreits nicht berechenbar ist. Durch die Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten der Bindungsfreiheit und Unabhängigkeit des Zivilrichters wird im deutschen Recht bewusst in Kauf ge­ nommen, dass im Zivilprozess erneut derselbe Sachverhalt aufgeklärt wird, der bereits Gegenstand des Strafprozesses war. Nach Beendigung des Strafverfah­ rens ist nichts darüber gesagt, ob der dort festgestellte Geschehensablauf auch der Entscheidung im Zivilprozess zugrunde gelegt wird, was dazu führt, dass die Ent­ scheidung des Zivilrichters kaum vorhersehbar ist. Die unterschiedliche Bedeutung, die der Rechtssicherheit in beiden Rechtsord­ nungen beigemessen wird, hat zugleich Auswirkungen auf andere Zielvorgaben. Wie bereits dargestellt25, führt die absolute Bindungswirkung des Strafurteils im französischen Recht dazu, dass die zivilprozessualen Beweislastregeln leer laufen und die Parteien ihrer Parteiherrschaft im Zivilprozess weitgehend beraubt wer­ den. Sie können zwar darüber entscheiden, ob sie sich auf das Strafurteil berufen. Ist die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ aber einschlägig, können die tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen des Strafurteils nicht mehr in Frage gestellt werden. Insoweit ist auch die Beweiswürdigungsfreiheit des Zivilrichters ausgeschlossen. Dies gilt selbst dann, wenn aufgrund neuer Anhaltspunkte erheb­ liche Zweifel an der Richtigkeit das Strafurteils bestehen. Interessanterweise wird den Aspekten der materiellen Wahrheit und Richtigkeit der Entscheidung in der französischen Diskussion um die Bindungsfrage kaum Bedeutung beigemessen, während diesen im deutschen Recht eine zentrale Rolle zukommt. Denn im deutschen Recht fällt die Abwägung zwischen dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Streben nach einer sachlich richtigen, der materiellen Wahrheit entsprechenden Entscheidung zugunsten der materiellen Richtigkeit aus. Der Umstand, dass im deutschen Recht ein und derselbe Sachverhalt zweimal ge­ richtlich aufgeklärt werden kann und damit auch nach dem rechtskräftigen Ab­ schluss des ersten Verfahrens nicht feststeht, wie das zweite Verfahren ausgehen wird, ermöglicht auf der anderen Seite die Verwirklichung einer sachlich richtigen Entscheidung im Zivilprozess. Denn es wird für unerträglich erachtet, dass sich ein 24

Vgl. hierzu unter 4. Teil, A. II. 1. Vgl. hierzu unter 4. Teil, A. II. 1.

25

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

unschuldig Verurteilter vor dem Zivilrichter nicht gegen die unberechtigten Vor­ würfe verteidigen können soll und sich so das Unrecht im Zivilprozess perpetu­ ieren würde. Dieses uneingeschränkte Streben nach einer materiell richtigen Ent­ scheidung wird im deutschen Recht teilweise kritisch gesehen, da es das Interesse an Rechtssicherheit gänzlich unberücksichtigt lasse.26 Dennoch erkennen auch die Kritiker an, dass sich das Bedürfnis nach materieller Richtigkeit gegenüber dem Streben nach Rechtssicherheit im Einzelfall durchsetzen müsse.27 Die Bindungs­ freiheit lässt, wie soeben gesehen, die uneingeschränkte richterliche Beweiswür­ digung, die im Zivilprozess geltenden Beiweislastregeln sowie den auf der Privat­ autonomie der Parteien beruhenden Beibringungsgrundsatz unberührt. 3. Die bestmögliche Wahrheitsermittlung im Zivilprozess Beide Rechtsordnungen streben auf unterschiedlichem Wege eine bestmögliche Wahrheitsermittlung im Zivilprozess an. In beiden Ländern unterscheiden sich Straf- und Zivilverfahren aufgrund der sie bestimmenden Verfahrensgrundsätze. Im Gegensatz zum strafprozessualen Untersuchungsgrundsatz ist der Zivilprozess in beiden Rechtsordnungen vom Beibringungsgrundsatz geprägt.28 Während der Beibringungsgrundsatz den Parteien auferlegt, den Streitstoff, also Tatsachen und Beweismittel, beizubringen, ist es im Strafprozess die Aufgabe des Staates, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Hierzu stehen insbesondere im Ermitt­ lungsverfahren besondere Eingriffsbefugnisse und Zwangsmaßnahmen zur Ver­ fügung, über die der Zivilprozess nicht verfügt. Daher, so heißt es, könne das Straf­ verfahren die wahre Tatsachenlage besser ermitteln.29 Im Wege der Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil, das sich durch eine besondere Richtigkeitsgewähr auszeichne, soll im französischen Recht gewähr­ leistet werden, dass der Zivilrichter von der vorgeblich besseren Sachverhaltsauf­ klärung im Strafverfahren profitieren kann.30 Obwohl der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ die gründlichere Wahrheitsermittlung des Strafprozesses auch im Zivilprozess fruchtbar machen soll, läuft er genau die­ ser Wahrheitsermittlung gleichzeitig zuwider. Der Gedanke der besseren Sach­ verhaltsaufklärung und der weitergehenden Erkenntnisgewinne im Strafprozess

26 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  150; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 85 f. 27 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 85 f. und Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 185 f. for­ dern daher beide, dass die Rechtssicherheit im Einzelfall zurücktreten müsse. 28 Vgl. für das deutsche Recht unter 1. Teil, A. IV. 2. b) aa); für das französische Recht unter 2. Teil, A. VIII. 2. a). 29 Vgl. für das deutsche Recht unter 1. Teil, A. IV. 3. b); für das französische Recht unter 2. Teil, A. VIII. 2. a). 30 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. VIII. 2. a).

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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führt im französischen Recht zu einem Unfehlbarkeitsdogma.31 Denn das Straf­ urteil entfaltet auch dann Bindungswirkung, wenn es den Sachverhalt nicht zu­ treffend wiedergibt. So ist im französischen Recht beispielsweise anerkannt, dass auch ein Freispruch „in dubio pro reo“ den Zivilrichter bindet, obwohl ein sol­ cher Freispruch nicht bedeutet, dass der Angeklagte die Tat tatsächlich nicht be­ gangen hat. Damit wird der Freispruch „in dubio pro reo“ also einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld gleichgestellt.32 Außerdem können die Feststellungen des Strafurteils im Zivilprozess selbst dann nicht durch Parteivortrag oder Beweis­ mittel angegriffen werden, wenn sich nach Beendigung des Strafprozesses heraus­ stellt, dass das Strafurteil falsch ist. Daher wird der französischen Lösung, die eine Beachtung der strafprozessualen Erkenntnisse im Zivilprozess mittels Bindungs­ wirkung des Strafurteils erzwingt, zu Recht vorgeworfen, dass sie die materielle Wahrheit außer Acht lasse.33 Soweit die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ ausnahmsweise nicht eingreift, können stattdessen wie im deutschen Recht einzelne strafprozessuale Er­ kenntnisse in den Zivilprozess eingeführt werden.34 Auf Antrag einer Partei kann das Zivilgericht im deutschen Recht sowohl das Strafurteil als auch einzelne im Strafverfahren gewonnene Beweisergebnisse im Rahmen seiner freien Beweiswür­ digung verwerten. Daher bedarf es keiner Bindungswirkung des Strafurteils, um von den in Einzelfällen besseren Methoden der Wahrheitsermittlung im Strafpro­ zess zu profitieren. Anders als im französischen Recht wird im deutschen Recht eine solche Bindungswirkung gerade deshalb abgelehnt, um eine bestmögliche Wahrheitsermittlung im Zivilverfahren nicht zu gefährden.35 Da auch im Strafpro­ zess Fehlurteile nicht auszuschließen sind, muss es nach der im deutschen Recht vorherrschenden Überzeugung dem Angeklagten selbst nach einer rechtskräftigen Verurteilung möglich sein, die Tatbegehung im Zivilprozess zu bestreiten. 4. Der Opferschutz Auch dem Gesichtspunkt des Opferschutzes kommt eine zentrale Bedeutung in der Diskussion um die Bindungsfrage zu.36 Bevor darauf einzugehen ist, inwie­weit die französische und deutsche Rechtsordnung diese Zielvorgaben erreichen, stellt sich vorab die Frage, ob das Opfer überhaupt schutzbedürftig ist. Denn in bei­ den Rechtsordnungen kann der unmittelbar durch eine Straftat Geschädigte seine Ansprüche bereits im Strafprozess geltend machen. Dies geschieht im deutschen 31

In diesem Sinne etwa Pradel, Procédure pénale, S. 923. Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 378. 33 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IX. 5. 34 Siehe hierzu sogleich unter 2. Teil, A. VII. 35 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 3. e). 36 Vgl. für das deutsche Recht unter 1. Teil, A. IV. 3. d); für das französische Recht unter 2. Teil, A. IX. 3. 32

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Recht im Adhäsionsverfahren, im französischen Recht im Rahmen einer „action civile“ vor dem Strafrichter. Durch die Geltendmachung der Ansprüche bereits im Strafprozess kann das Opfer eine Wiederholung der Beweisaufnahme im Zivil­ prozess verhindern und seine Ansprüche schnell und effizient durchsetzen. Trotz dieser Möglichkeit, Ansprüche bereits im Strafprozess anzumelden, gehen beide Rechtsordnungen von einem freien Wahlrecht des Geschädigten aus. Daher kann die Schutzbedürftigkeit des Opfers nicht schon mit dem Hinweis auf die strafpro­ zessuale Rechtsschutzmöglichkeit abgelehnt werden. Das französische Recht trägt dem Opferschutz nur unvollkommen Rechnung. Zwar verhindert der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ eine Wiederholung der Beweisaufnahme im Zivilprozess und ermöglicht dem Op­ fer einer Straftat auf diesem Wege eine zügige und mühelose Durchsetzung seiner Schadensersatzansprüche aus einer Straftat, da sich der im Strafprozess rechtskräf­ tig verurteilte Beklagte nicht auf die Unrichtigkeit des Strafurteils berufen kann. Allerdings kann sich das Prinzip auch zulasten des Geschädigten auswirken. Denn nicht nur das verurteilende Erkenntnis, sondern auch der Freispruch binden den Zivilrichter. Diese gravierenden Nachteile für den Opferschutz wurden durch das Gesetz vom 10. Juli 2000, durch das der Grundsatz der „unité des ­fautes ­pénale et civile“ aufgegeben wurde, erheblich abgemildert. Seither darf der Zivilrich­ ter nämlich Schadensersatz zusprechen, obwohl der wegen einer Fahrlässigkeits­ tat Angeklagte freigesprochen wurde. Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ kann aber weiterhin zulasten des Geschädigten wirken. Denn die Auf­ gabe des einheitlichen Fahrlässigkeitsbegriffs führt lediglich dazu, dass die recht­ liche Würdigung des Strafrichters die Beurteilung der zivilrechtlichen Fahrlässig­ keit unberührt lässt. An die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils bleibt das Zivilgericht aber weiterhin gebunden.37 Aber auch die deutsche Lösung zugunsten der Unabhängigkeit des Zivilrich­ ters wird aus Opferschutzgründen kritisiert. Denn die doppelte Beweisaufnahme belaste den Geschädigten.38 Außerdem sei die Durchsetzung von Schadensersatz­ ansprüchen gegen den Beklagten selbst dann nicht problemlos möglich, wenn die­ ser im Strafprozess rechtskräftig verurteilt wurde, da er im Zivilprozess die Tat weiterhin bestreiten könne.39 Dieser Kritik ist zuzugeben, dass der Zivilrichter die bereits im Strafprozess erhobenen Beweise im Einzelfall erneut zu erheben hat. Dies betrifft insbesondere den Zeugenbeweis. Denn der Antrag auf Vernehmung eines neuen oder bereits im Strafprozess gehörten Zeugen darf nicht mit dem Hin­ weis auf das Strafurteil oder eine protokollierte Zeugenvernehmung abgelehnt wer­ den.40 Auch der Sachverständigenbeweis ist unter Umständen erneut zu erheben.41 37

Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. V. 1. b). Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 3. d). 39 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 151; Trousil, Die Bindung des Zivilrichters an strafgerichtliche Erkenntnisse, S. 84. 40 Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a) und c). 41 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. c). 38

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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Allerdings zeigt ein Blick in die Praxis, dass es im Zivilprozess nicht automa­ tisch zu einer doppelten Beweiserhebung kommt. Denn nicht selten scheitert der Beklagte bereits an der zivilprozessualen Darlegungslast.42 Der Geschädigte nimmt nämlich in der Regel bereits auf der Darlegungsebene auf die Feststellungen des Strafurteils Bezug und macht diese so zum Gegenstand seines Sachvortrags. Hat der Kläger unter Berufung auf die ausführlichen Feststellungen des Strafurteils schlüssig vorgetragen, muss der Beklagte den Vortrag entsprechend substantiiert bestreiten, indem er sich zu den vom Kläger vorgetragenen Tatsachen ausführlich erklärt. Da sich die Darlegungslast des Beklagten nach Umfang und Tiefe der Ein­ lassung des Klägers richtet, kann sich dieser, wenn der Kläger substantiiert vor­ getragen hat, nicht darauf zurückziehen, die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen pauschal oder mit Nichtwissen zu bestreiten. Ein solch ungenügendes oder un­ zulässiges Bestreiten führt dazu, dass die vom Kläger behaupteten Tatsachen als zugestanden gelten, § 138 Abs. 3, 4 ZPO. In diesem Fall darf der Zivilrichter die Wahrheit der zugestandenen Tatsachen nicht überprüfen und keinen Beweis erhe­ ben, da die Tatsachen nicht streitig sind. Hat der Kläger schlüssig vorgetragen und der Beklagte die Behauptungen des Klägers in erheblicher Weise bestritten, ist der von den Parteien angebotene Be­ weis zu erheben, sofern dieser zulässig ist. Auch diese Hürde muss der Beklagte in der Praxis erst einmal überwinden. Denn das Gericht darf den angebotenen Beweis in entsprechender Anwendung des § 244 Abs. 3 und Abs. 4 StPO ablehnen.43 Daher kann das Zivilgericht einen Beweisantrag etwa mit der Begründung zurückweisen, dass die behauptete Tatsache als wahr unterstellt wird und die Wahrheit der Tatsa­ che nicht entscheidungserheblich ist.44 Dies ist häufig der Fall, wenn der Beklagte bloße Indiztatsachen vorträgt und Beweis für seine Behauptungen anbietet. Hier kann das Zivilgericht die Beweiserhebung ablehnen, wenn die Indiztatsache, deren Richtigkeit unterstellt, nicht geeignet ist, die zivilrichterliche Entscheidung zu be­ einflussen.45 Auch ungeeignete Beweismittel kann der Zivilrichter zurückweisen.46 Selbst wenn der Beklagte seiner Darlegungslast genügt hat, wird der angebotene Beweis also nur dann erhoben, wenn dieser nicht aus beweisrechtlichen oder ver­ fahrensrechtlichen Gründen, beispielsweise als verspätet, zurückgewiesen wird. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass das Opfer einer Straftat nicht zwin­ gend in seiner Stellung als Zeuge von der erneuten Beweisaufnahme im Zivilpro­ zess betroffen ist. Denn wenn es um Schadensersatzansprüche aus einer Straftat geht, wird das Opfer häufig zumindest neben anderen Klägern (wie beispielsweise Versicherungen) selbst klägerische Partei im Zivilrechtsstreit sein. In diesem Fall 42

Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. d). BGH NJW-RR 2013, 9, 10; BGH NJW 1993, 1391; OLG Zweibrücken NJW-RR 2011, 496, 498. 44 BGH Beschluss vom 24. Januar 2012, VI ZR 132/10, BeckRS 2012, 04956, Rn. 7; OLG Zweibrücken NJW-RR 2011, 496, 498. 45 Vgl. hierzu ausführlich OLG Zweibrücken NJW-RR 2011, 496, 498. 46 OLG Hamm NJW-RR 2013, 221, 222 (polygraphische Untersuchung). 43

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

hat es der Beklagte nicht ohne Weiteres in der Hand, eine Wiederholung der Be­ weisaufnahme herbeizuführen.47 Insbesondere kann er nicht die Vernehmung der klägerischen Partei beantragen, denn die Vernehmung des Gegners kann gem. § 445 Abs. 1 ZPO nur die beweisbelastete Partei, also der Kläger, und nicht der Beklagte verlangen.48 Einem Antrag des Beklagten auf Vernehmung der klägeri­ schen Partei nach § 447 ZPO wird diese in der Regel nicht zustimmen.49 Zwar kann das Gericht gem. § 448 ZPO auch von Amts wegen die Vernehmung einer Partei oder beider Parteien anordnen, wenn das Ergebnis der Verhandlungen und einer et­ waigen Beweisaufnahme nicht ausreicht, um seine Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer zu erweisenden Tatsache zu begründen. Von dieser Mög­ lichkeit „darf das Gericht […] nur dann Gebrauch machen, wenn es aufgrund der Gesamtwürdigung von bisheriger Verhandlung und Beweisaufnahme weder von der Wahrheit noch von der Unwahrheit der zu beweisenden Behauptung überzeugt ist, also eine echte non-liquet-Situation besteht.“50 Wenn das Gericht also schon aufgrund der Verwertung des Strafurteils und einzelner im Strafprozess gewonne­ ner Beweis­ergeb­nisse von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Tatsache über­ zeugt ist, kommt eine Parteivernehmung von Amts wegen nicht in Betracht.51 Als Kläger muss das Opfer einer Straftat, zumindest im Anwaltsprozess, in der Regel auch nicht persönlich erscheinen, es sei denn, das Gericht ordnet das persönliche Erscheinen gem. § 141 ZPO an. Wie ein Blick in das französische Recht zeigt, kann die Bindungswirkung des Strafurteils für den Geschädigten auch nachteilig sein. Durch die Bindungsfreiheit des Zivilrichters stellt das deutsche Recht gerade sicher, dass sich der rechtskräf­ tige Freispruch des Angeklagten nicht zulasten des Opfers auswirkt. Dass dieses Ergebnis auch durch eine lediglich asymmetrische Bindungswirkung, d. h. durch eine Bindungswirkung nur zulasten des Verurteilten und jetzigen Beklagten im Zi­ vilprozess zu erreichen wäre52, ist zutreffend. Dennoch soll die Zweckmäßigkeit einer asymmetrischen Bindungswirkung an dieser Stelle nicht weiter vertieft wer­ den, da es in diesem Teil der Untersuchung ausschließlich um die Bewertung der derzeitigen Rechtslage gehen soll.53 Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die im deutschen Recht unter Um­ ständen erforderliche erneute Beweisaufnahme im Zivilprozess eine möglichst­ zügige Entschädigung des Opfers verzögert. Allerdings kommt es im Zivilprozess nicht automatisch zu einer doppelten Beweiserhebung. Außerdem muss der ge­ 47

Hinz, JR 2003, 356, S. 357. Reichold, in: Thomas/Putzo, § 445, Rn. 2; Hinz, JR 2003, 356, S. 357. 49 Hinz, JR 2003, 356, S. 357. 50 BGH Urteil vom 19. April 2002, V ZR 90/01, juris, Rn. 27. 51 Hinz, JR 2003, 356, S. 357. 52 Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2062; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurtei­ len im Zivilprozess, S. 174 ff.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 27 ff. 53 Zu aktuellen Reformbestrebungen vgl. unter 5. Teil, A. I. 3. 48

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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schädigte Kläger einen rechtskräftigen Freispruch des Beklagten nicht gegen sich gelten lassen. Daher führt die deutsche Lösung zugunsten der Bindungsfreiheit des Zivilrichters nicht generell zu einer unzumutbaren Belastung des Opfers. Auch das französische Recht trägt dem Opferschutz nur unvollkommen Rechnung. Zwar er­ leichtert die Bindungswirkung des Strafurteils die Durchsetzung von Schadens­ ersatzansprüchen im Zivilprozess. Sie kann jedoch auch den gegenteiligen Effekt haben und zulasten des Geschädigten wirken, wenn sich die rechtskräftig frei­ gesprochene Partei im Zivilprozess auf das Strafurteil beruft. 5. Das Recht auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör Der wohl wichtigste Gesichtspunkt in der Diskussion um die Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess ist in beiden Rechtsordnungen der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie auf ein fai­ res Verfahren. Der Anspruch auf rechtliches Gehör als elementarer Grundsatz eines rechtsstaatlichen Verfahrens gilt in beiden Rechtsordnungen gleichermaßen. Denn er ist als Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren54 unter anderem durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert, der sowohl im deutschen als auch im französi­ schen Recht unmittelbar anwendbar ist.55 Er gewährt „Anspruch darauf, sich in gerichtlichen Verfahren zu allen erheblichen Tatsachen und rechtlichen Fragen aus­reichend zu äußern und Beweise anzubieten [Herv. im Original].“56 Hierzu ge­ hört auch die Möglichkeit der Parteien, sich zur verfahrensrechtlichen Zulässigkeit und zur Entscheidungsrelevanz eines Beweismittels zu äußern.57 Fraglich ist da­ her, ob und inwieweit die französische und deutsche Lösung mit den Anforderun­ gen des rechtlichen Gehörs als Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren ver­ einbar sind. Sofern sich im Zivilprozess eine der Parteien auf das Strafurteil beruft, entfal­ tet dieses im französischen Recht Bindungswirkung „erga omnes“. Das bedeu­ tet, dass das Strafurteil nicht nur zulasten des rechtskräftig Verurteilten, sondern auch zulasten des Verletzten oder sonstiger Dritter wirken kann, selbst wenn sie am Strafprozess nicht beteiligt waren und dessen Ausgang in keinster Weise beein­ flussen konnten. Macht eine der Parteien die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ geltend, können die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils von der Gegenpartei weder durch Sachvortrag noch durch Beweisangebote angegrif­ fen werden. Als Beispiel soll folgender Fall dienen: Gesellschaft B2 führt Arbeiten 54

Meyer-Ladewig, Art. 6, Rn. 101. Für die nachfolgende Bewertung kann daher dahinstehen, wie der Anspruch auf recht­ liches Gehör in der französischen und deutschen Rechtsordnung im Einzelnen jeweils verfas­ sungsrechtlich und einfachgesetzlich gesichert ist. 56 Meyer-Ladewig, Art. 6, Rn. 101. 57 Meyer-Ladewig, Art. 6, Rn. 103. 55

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

auf einer Baustelle aus. Der Spaziergänger K wird durch einen herunterfallenden Dachziegel am Kopf getroffen und verletzt. Der Ziegel hatte sich gelöst, ­nachdem Mitarbeiter B1 den Ziegel angebracht hatte. Im Strafprozess wird B1 wegen fahr­ lässiger Körperverletzung mit der Begründung verurteilt, er habe den Ziegel nicht ordnungsgemäß fixiert. Im nachfolgenden Zivilprozess gegen B2 beruft sich K auf das gegen B1 ergangene Strafurteil. Nimmt eine Partei des Zivilprozesses, hier K, auf das rechtskräftige Strafurteil Bezug, führt die „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ im vorliegenden Beispielsfall dazu, dass das Strafurteil auch zulasten von B2 als Geschäftsherrin wirkt, obgleich diese nicht am Strafprozess beteiligt war und keine Beweise dafür vorbringen konnte, dass B1 den Ziegel ordnungsgemäß fixiert hatte. Die „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ verstößt gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör.58 Dieser ist nicht nur dann ver­ letzt, wenn für die Partei keinerlei Möglichkeit bestand, sich im Verfahren zu er­ klären, sondern auch dann, wenn die Partei die im Strafurteil enthaltenen tatsäch­ lichen Feststellungen und Beweisergebnisse „im zivilgerichtlichen Verfahren nicht in Frage stellen kann, weil das Gericht an die Entscheidung in einem anderen (strafgerichtlichen) Verfahren gebunden ist, zu welchem [sie] aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keinen Zugang hatte“59. Die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ kann dazu führen, dass der Entscheidung des Zivilgerichts Tat­ sachen zugrundegelegt werden, die von einer Partei weder im Straf- noch im Zi­ vilprozess durch Sachvortrag oder Beweisangebote angegriffen werden konnten. Die umfassende Bindungswirkung des Strafurteils schließt eine effektive Vertei­ digung der eigenen Rechte im Zivilprozess aus und verletzt daher den Anspruch auf rechtliches Gehör. Dies zeigt auch ein Blick in die höchstrichterliche Recht­ sprechung anderer europäischer Länder. Wie bereits dargestellt60, hob der österrei­ chische Verfassungsgerichtshof bereits im Jahr 1991 die österreichische Bindungs­ vorschrift des § 268 öZPO wegen Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK auf, da die Bindungswirkung des Strafurteils auch Par­ teien des Zivilverfahrens erfasse, denen kein rechtliches Gehör im Strafverfah­ ren gewährt worden sei.61 Im selben Jahr entschied die Cour de cassation in Bel­ gien, dass die „erga omnes“-Wirkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur 58 So bereits Chavanne, RSC 1954, 239, S. 248 und Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 487; Frison-Roche, Généralités sur le principe du contradictoire, S. 169; Pradel, Procédure pénale, S.  922; Rebut, D.  1998.1.575, S.  577; Joinet, Bulletin d’information n°  478 du 15/09/1998, unter B.; Andriot-Leboeuf, RRJ 2000, 1205, S. 1232; Dintilhac, La vérité – Rapport annuel 2004 de la Cour de cassation, 57, S. 62; Caron/Douchy-Oudot, Jurisclasseur de procédure ci­ vile, 1, S. 10; Radenne, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 11, S. 22 ff.; De ­Gouttes, Bulletin d’information n° 695 du 01/02/2009, 25, S. 35 ff.; Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S.  268; Wittmann, Les interférences entre­ instances civile et pénale parallèles, S. 421 f.; Tellier, RSC 2009, 797, S. 798. 59 VfGH, JBl. 1991, 104, 107. 60 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. c). 61 Vgl. unter 1. Teil, A. IV. 2. c).

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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le ­civil“ gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK und den allgemeinen Grundsatz des Rechts auf effektive Verteidigung verstoße.62 Gerade letzteres Urteil ist bemerkenswert. Denn im belgischen Recht war dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ bis zu dieser Entscheidung wie im französischen Recht „erga omnes“Wirkung beigemessen worden.63 Dritte waren also, obwohl sie nicht am Straf­ verfahren beteiligt waren, an das im Strafprozess ergangene Urteil gebunden und konnten die Feststellungen des Strafurteils nicht im Wege des Gegenbeweises wi­ derlegen.64 In ihrem Urteil aus dem Jahr 1991 gab die belgische Cour de cassation ihre bisherige Rechtsprechung auf, da diese gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoße. Der Anspruch auf rechtliches Gehör beinhaltet nach Ansicht des bel­gischen obers­ ten Gerichtshofs das Recht, sich im Hinblick auf den vorgeworfenen Sachverhalt zu verteidigen und die Beweise des Gegners zu widerlegen.65 Da die im Strafver­ fahren unbeteiligte Partei im Zivilverfahren jedoch keine Möglichkeit habe, das Vorbringen der Gegenpartei, die sich auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ des Strafurteils beruft, zu widerlegen und Gegenbeweis zu ­erbringen, sei das rechtliche Gehör des Dritten und dessen Recht auf effektive Verteidigung verletzt.66 Dennoch kann man sich an dieser Stelle nicht auf den Standpunkt zurückziehen, die französische Lösung schenke den Anforderungen des rechtlichen Gehörs kei­ nerlei Beachtung. Denn die von der Rechtsprechung entwickelten engen Voraus­ setzungen des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ zie­ len nicht selten darauf ab, eine Bindungswirkung des Strafurteils zulasten Dritter zu verhindern. So wird beispielsweise der fehlende „ordre public“ Charakter des Prin­ zips als Weg der französischen Rechtsprechung verstanden, die gegen das recht­ liche Gehör verstoßende „erga omnes“-Wirkung des Grundsatzes zumindest indi­ rekt einzuschränken.67 Auch durch die oben geschilderte restriktive Auslegung des Prinzips68 soll eine Bindungswirkung zulasten Dritter, die nicht am Strafverfahren

62 Pas. 1991.I.572; a. A. Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 270, Fn. 49, der davon ausgeht, dass die „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ nur deshalb nicht gegriffen habe, weil es sich um eine Feststellung des Straf­ urteils gehandelt habe, die sich auf das Verhalten eines Dritten bezogen habe. Eine solche Fest­ stellung würde auch im französischen Recht nicht von der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ erfasst, da sie nicht entscheidungserheblich sei. Dagegen spricht jedoch, dass es sich im belgischen Urteil um eine Feststellung handelte, die entscheidungserheblich für die Frage der Strafbarkeit war (nämlich der Ort des gegnerischen Unfallfahrzeugs), sodass die belgische Cour de cassation, die ebenfalls verlangt, dass es sich um tragende Feststellungen handeln muss, die Anwendbarkeit der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht daran scheitern lassen konnte, dass der Umstand nicht entscheidungserheblich war. 63 Pas. 1991.I.572. 64 Pas. 1991.I.572. 65 Pas. 1991.I.572. 66 Pas. 1991.I.572. 67 Vgl. unter 2. Teil, A. III. 3. 68 Vgl. unter 2. Teil, A III. 1. c) aa).

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

beteiligt waren, verhindert werden.69 So gelten beispielsweise Feststellungen im Strafurteil zum Mitverschulden des Verletzten nicht als „­ constatations nécessaires“ und dürfen diesem daher im nachfolgenden Zivilprozess nicht entgegengehalten werden.70 Die von der Rechtsprechung entwickelten Einschränkungen des Prinzips können jedoch nicht sicherstellen, dass das rechtliche Gehör unbeteiligter Dritter grundsätzlich gewahrt wird. Denn soweit die sachlichen Anwendungsvorausset­ zungen der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, wie etwa im oben ge­ nannten Beispielsfall, erfüllt sind, wirkt diese weiterhin zulasten Dritter, denen kein rechtliches Gehör im Strafprozess gewährt wurde. Auch auf einen weiteren Punkt ist an dieser Stelle hinzuweisen: Die durch eine strafbare Handlung verursachten Schadensersatzansprüche können, wie bereits dargestellt71, im französischen Recht nicht nur im Zivilprozess, sondern – wie in der Praxis sehr häufig – auch im Strafprozess geltend gemacht werden. Dabei kön­ nen sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagtenseite Dritte in den Strafprozess ein­ bezogen werden.72 Diese besondere Bedeutung der strafprozessualen „action ci­ vile“ hat ihre Ursache nicht zuletzt darin, dass der Verletzte, der in einem späteren Zivilprozess auch dann an das Strafurteil gebunden ist, wenn er im Strafprozess nicht beteiligt war, stattdessen seine Ansprüche lieber gleich im Strafprozess gel­ tend macht, da er auf diese Weise Einfluss auf das Zustandekommen des Strafur­ teils nehmen kann.73 Angesichts der weitreichenden Beteiligungsmöglichkeiten Dritter im Strafprozess könnte man sich fragen, ob auf diesem Weg dem recht­ lichen Gehör bereits im Strafprozess Rechnung getragen wird. Allerdings kommt es nach der aktuellen französischen Rechtslage nicht darauf an, ob die von der Bin­ dungswirkung betroffenen Parteien des Zivilrechtsstreits zumindest die Möglich­ keit hatten, sich am Strafprozess zu beteiligen. Eine solche Einschränkung der per­ sönlichen Reichweite des Prinzips dahingehend, dass die Bindungswirkung des Strafurteils künftig nur noch die Personen erfassen soll, die zwar nicht tatsächlich am Strafverfahren beteiligt waren, aber immerhin die Möglichkeit hierzu hatten, scheint sich nach neueren Entscheidungen des obersten französischen Gerichts­ hofs aber abzuzeichnen.74 Fraglich ist indes, wie soeben bereits angedeutet wurde, ob eine solche Beteiligungsmöglichkeit im Strafprozess dem Anspruch auf recht­ liches Gehör ausreichend Rechnung tragen würde. Dagegen spricht, dass den Parteien weder im Strafprozess noch im Zivilprozess tatsächlich rechtliches Gehör gewährt wird. Auch die Entscheidung der belgischen Cour de cassation aus dem Jahr 1991 lässt sich in diesem Sinne interpretieren. Im

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In diesem Sinne etwa auch Viney, Introduction à la responsabilité, S. 305. Hierzu ausführlich unter 2. Teil, A III. 1. c) aa). 71 Vgl. hierzu unter Einleitung zum 2. Teil. 72 Vgl. hierzu ausführlich Viney, Introduction à la responsabilité, S. 211 ff. 73 Hanel, in: Will, Schadensersatz im Strafverfahren, 40, S. 42; Spiess, Das Adhäsionsver­ fahren in der Rechtswirklichkeit, S. 257. 74 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 2. c) bb). 70

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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zugrunde liegenden Fall waren beide Parteien in einen Verkehrsunfall verwickelt und erlitten durch den Unfall Schäden. Unklar war, wer den Unfall verschul­ det hatte. Im Strafprozess gegen eine der Parteien beteiligte sich die andere Par­ tei nicht im Wege einer „action civile“, obwohl dies möglich gewesen wäre. Nach seinem Freispruch im Strafverfahren nahm der rechtskräftig Freigesprochene den anderen Unfallbeteiligten auf Schadensersatz in Anspruch. Er berief sich darauf, dass sein Freispruch Bindungswirkung gegenüber jedermann entfalte, sodass das Verschulden der Gegenseite feststehe. Die Vorinstanz gab der Klage infolge der „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ statt, obwohl die Gegenpartei die Unrichtigkeit des Strafurteils geltend gemacht hatte. Die belgi­ sche Cour de cassation stellte fest, dass die Vorinstanz das Recht auf rechtliches Gehör und prozessuale Waffengleichheit verletzt habe, indem sie einen Beweis­ antrag, der darauf gerichtet war, die strafgerichtlichen Feststellungen anzugreifen, ablehnte. Dabei ging der oberste belgische Gerichtshof nicht darauf ein, dass das rechtliche Gehör möglicherweise dadurch gewahrt worden sein könnte, dass sich der Betroffene bereits im Strafprozess hätte beteiligen und so seine Position hätte darlegen können. Nach Ansicht eines Teils der französischen75 und deutschen Literatur76 genügt dagegen die abstrakte Möglichkeit, seine Rechte im Strafprozess geltend zu ma­ chen, um das rechtliche Gehör zu wahren. Die Partei, die das Strafurteil im Zivil­ prozess gegen sich gelten lassen müsse, habe schließlich die Möglichkeit gehabt, auf das Zustandekommen des Strafurteils im Strafprozess Einfluss zu nehmen.77 Dieser Ansicht ist zuzugeben, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann gewahrt ist, wenn sich die von der Bindungswirkung eines Urteils betroffene Partei tatsächlich im Verfahren geäußert hat. Vielmehr kann bereits die Möglich­ keit, seine Position im Prozess effektiv und in prozessualer Waffengleichheit dar­ zulegen, eine spätere Gebundenheit rechtfertigen. Dass zur Wahrung des recht­ lichen Gehörs nicht zwingend eine tatsächliche Verfahrensbeteiligung erforderlich ist, zeigt ein Blick auf das Institut der Streitverkündung. Im deutschen Zivilpro­ zess kann eine Prozesspartei einem Dritten gem. § 72 ZPO den Streit verkünden, wenn sie für den Fall des ihr ungünstigen Ausgangs des Rechtsstreits einen An­ spruch auf Gewährleistung oder Schadloshaltung gegen einen Dritten erheben zu können glaubt oder den Anspruch eines Dritten besorgt. War die Streitverkün­ dung zulässig, ist der Dritte im Folgeprozess gem. §§ 74 Abs. 3, 68 ZPO gegen­ über dem Streitverkünder an die tatsächlichen Feststellungen und an die recht­ liche Würdigung des Urteils aus dem ersten Prozess gebunden, selbst wenn er den Beitritt abgelehnt und seine Position im Erstprozess nicht dargelegt hat. An­ ders als im deutschen Recht, ist im französischen Recht sogar im Strafprozess die

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Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 280; Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 740. 76 Wigginghaus, Synergieeffekte zwischen Straf- und Zivilprozess, S. 239. 77 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 740.

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Streitverkündung möglich. Gem. Art. 388–1 Abs. 2 CPP können sowohl der Ver­ letzte als auch der Angeklagte den potenziell haftenden Versicherungen im Falle der fahrlässigen Körperverletzung oder fahrlässigen Tötung den Streit verkünden. Die Entscheidung über die „action civile“ ist den Versicherungen gegenüber nach Art. 388–3 CPP auch dann wirksam, wenn sie dem Strafprozess nicht beigetreten sind. Art. 385–1 Abs. 2 CPP bestimmt außerdem, dass sich der Versicherer, dem der Streit wirksam verkündet wurde, so behandeln lassen muss, als habe er auf sämtliche Einreden aus dem Versicherungsvertrag verzichtet. Die Institute der zi­ vilprozessualen und strafprozessualen Streitverkündung zeigen also, dass es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nicht zwingend erforderlich ist, dass sich die von einer Bindungswirkung betroffene Partei im Erstprozess tatsächlich geäußert hat. Stattdessen genügt es, dass im Erstprozess die Möglichkeit bestand, zu bestimm­ ten Tatsachen und Beweismitteln Stellung zu nehmen.78 Die Einschränkung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf die Personen, die dem Straf­ verfahren beitreten hätten können und so Einfluss auf das Strafurteil hätten neh­ men können, verstößt also nicht per se gegen das rechtliche Gehör. Inwieweit die einzelnen Beteiligungsmöglichkeiten von Dritten den Anfor­ derungen des rechtlichen Gehörs genügen würden, kann angesichts der vielfäl­ tigen Beteiligungsrechte Dritter im französischen Strafprozess im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht dargestellt werden. Zur Wahrung des recht­ lichen Gehörs müsste auf jeden Fall sichergestellt sein, dass die Partei, der ein Beteiligungsrecht im Strafprozess zusteht, vom Strafverfahren zu einem Zeit­ punkt erfährt, zu dem der Beitritt zum Strafverfahren möglich ist.79 Die Rechts­ stellung des Beitretenden im Strafprozess müsste außerdem so ausgestaltet sein, dass dem rechtlichen Gehör bereits im Strafprozess zumindest theoretisch voll­ umfänglich entsprochen werden kann. Hierfür müssten dem Beitretenden diesel­ ben Rechte zustehen wie der Staatsanwaltschaft oder dem Angeklagten, damit dieser den Ausgang des Strafverfahrens effektiv beeinflussen kann und nicht nur formal am Strafprozess beteiligt ist. Hierzu dürften insbesondere ein eigenes An­ tragsrecht, Fragerecht, Akteneinsichtsrecht, Beweisantragsrecht sowie eine eigene Rechtsmittelbefugnis gehören. Eine bloße Äußerungsmöglichkeit dürfte dagegen nicht genügen. Denn wie wiederum der Vergleich zur zivilprozessualen Streitver­ kündung zeigt, greift die Bindungswirkung nur insoweit ein, als dem Betroffenen im Vorprozess rechtliches Gehör gewährt worden wäre.80 Um dem rechtlichen Ge­ hör des von der Bindungswirkung Betroffenen Rechnung zu tragen, müsste die­ 78 So auch Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 36; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 129. 79 Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 279, Fn. 88. 80 § 68 ZPO bindet den Streitverkündungsempfänger daher nur insoweit an die Entscheidung des Erstprozesses als dieser nicht gehindert war, Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten gel­ tend zu machen; in diesem Sinne auch Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 36.

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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ser also im Strafprozess die Stellung einer echten Prozesspartei mit umfassenden Rechten inne haben.81 Abschließend bleibt zu betonen, dass dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ aktuell weiterhin „erga omnes“-Wirkung beigemes­ sen wird, obwohl dies gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör verstößt. Das Strafurteil wirkt derzeit auch zulasten einer Partei des Zivilprozesses, die sich am Strafprozess nicht beteiligen konnte und auf das Zustandekommen des Strafur­ teils keinen Einfluss hatte. Nur soweit sich keine der Parteien auf das Strafurteil beruft, kommt die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht zum Tra­ gen und das Strafurteil entfaltet keine Bindungswirkung zulasten der am Strafpro­ zess unbeteiligten Dritten. Sofern sich die Rechtsprechung des obersten französi­ schen Gerichtshofs in Zukunft wirklich dahingehend verfestigen sollte, dass die Bindungswirkung des Strafurteils auf die Personen beschränkt wird, welche die Möglichkeit hatten, sich am Strafprozess zu beteiligen, erscheint es möglich, dass dadurch der Anspruch auf rechtliches Gehör erfüllt wird. Ob jedoch den Erforder­ nissen des rechtlichen Gehörs und des Rechts auf ein faires Verfahren durch eine solche Einschränkung tatsächlich umfassend Rechnung getragen werden könnte, hängt letztlich davon ab, wie die verfahrensrechtliche Stellung der Dritten im Strafprozess im Einzelnen ausgestaltet ist. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers zugunsten der Unabhängigkeit und Bindungsfreiheit des Zivilrichters im Hinblick auf ein rechtskräftiges Strafur­ teil genügt dagegen den Anforderungen des rechtlichen Gehörs. Da der Zivilrich­ ter im deutschen Recht weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht an das rechtskräftige Strafurteil gebunden ist, besteht für die Personen, die nicht am Straf­ verfahren beteiligt waren, die Möglichkeit, sich im Zivilprozess gegen die erhobe­ nen Vorwürfe durch Sachvortrag und Beweisangebote zu verteidigen. Zwar kann dem Strafurteil auch im deutschen Recht Bedeutung im Zivilprozess zukommen. Denn der Angeklagte kann sich gegenüber dem Verletzten (beispielsweise im Fall des Freispruchs) oder gegenüber Dritten, wie etwa seiner Versicherung (im Rah­ men eines Deckungsprozesses) oder der Versicherung des Verletzten (im Rahmen eines Regressprozesses), auf das Strafurteil berufen. Dasselbe gilt für den Verletz­ ten, der sich ebenfalls gegenüber Dritten, wie beispielsweise Mittätern oder Mit­ haftenden auf das nur gegen den Angeklagten ergangene Strafurteil stützen kann. Daher steht es auch im deutschen Recht einer Partei des Zivilprozesses frei, das Strafurteil als Beweismittel gegenüber Dritten, die am Strafprozess nicht betei­ ligt waren, anzubieten. So kann sich der Verletzte im Beispielsfall gegenüber der Gesellschaft B2, die auf Schadensersatz gem. § 831 BGB in Anspruch genom­ men wird, auf das Strafurteil gegen den Mitarbeiter B1 berufen. Dies stellt jedoch keinen Verstoß gegen das rechtliche Gehör dar. Denn anders als im französischen 81 In diesem Sinne auch Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 129; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 60 zur Frage, ob der Nebenkläger im deutschen Strafprozess eine solche Stellung inne hat.

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Recht ist der Zivilrichter im deutschen Recht nicht an die Entscheidung im Straf­ prozess gebunden. Als öffentliche Urkunde beweist das Strafurteil nur, dass es mit dem jeweiligen Inhalt ergangen ist. Die Partei des Zivilprozesses, der das Straf­ urteil als Beweismittel entgegengehalten wird, kann das Vorbringen der Gegenpar­ tei widerlegen und Gegenbeweis erbringen. So kann sie beispielsweise jederzeit gegenbeweislich die Vernehmung eines Zeugen beantragen und so eine Wieder­ holung der Beweisaufnahme herbeiführen. Dasselbe gilt entsprechend, wenn nicht das Strafurteil, sondern einzelne Erkenntnisse des Strafverfahrens im Zivilprozess verwertet werden. Daher kann B2 als Geschäftsherrin im Beispielsfall Beweis da­ für anbieten, dass B1 den Ziegel ordnungsgemäß fixiert hatte. Diesen Beweis muss das Zivilgericht auch erheben. Der zivilgerichtlichen Entscheidung werden also nur Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt, zu denen sich die Beteilig­ ten im Zivilprozess äußern konnten. Folglich wird dem Anspruch auf rechtliches Gehör Rechnung getragen. 6. Die Wahrung der Rechte des Angeklagten im Strafprozess Schließlich werden in der Diskussion um die Auswirkungen des abgeschlosse­ nen Strafprozesses auf den Zivilprozess auch die Rechte des Angeklagten im Straf­ prozess angeführt. Im französischen Recht befürchtet man dabei insbesondere, dass der Strafrichter gegebenenfalls die zivilrechtlichen Folgen seiner Entschei­ dung berücksichtigt, obwohl diese zivilrechtlichen Erwägungen im Strafprozess keine Rolle spielen dürfen.82 Vor allem im deutschen Recht fragt man sich außer­ dem, ob die Bedeutung, die dem Strafurteil im nachfolgenden Zivilprozess bei­ gemessen wird, auch zu Rückbelastungen im Strafprozess führen könnte.83 Solche Rückbelastungen wären im Hinblick auf den im Strafprozess besonders bedeut­ samen Beschleunigungsgrundsatz, der ebenfalls durch Art.  6 Abs.  1 EMRK ge­ währleistet ist, problematisch. Vor allem fürchtet man, dass eine allzu große Be­ deutung des Strafurteils im Zivilprozess die Verteidigung des Angeklagten im Strafprozess erschweren könnte, da dieser sich möglicherweise zusätzlich im Hin­ blick auf eventuelle zivilrechtliche Folgen seiner Tat verteidigen müsse.84 Außer­ dem vermutet man, dass sich eine wie auch immer geartete Bindungswirkung des Strafurteils negativ auf verfahrensbeschleunigende Elemente des Strafprozesses, wie Verständigungen und Rechtsmittelverzichte auswirken könnte, da der Ange­ klagte in diesem Fall ein besonderes Interesse daran habe, seine Verurteilung im Strafprozess abzuwenden bzw. freigesprochen zu werden.85 Beeinflusst der Aus­ gang des Strafprozesses die Entscheidung des Zivilrichters, stellt sich schließ­ lich die Frage, ob dies nicht dazu einlädt, den Strafprozess zur Vorbereitung eines 82

Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IX. 3. Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. d). 84 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. d). 85 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. d). 83

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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­ ivilprozesses zu missbrauchen. Fraglich ist, inwieweit die französische und deut­ Z sche Rechtsordnung diesen Bedenken Rechnung tragen. Eine Bindungswirkung des Strafurteils im Zivilprozess erhöht das Risiko, dass der Strafrichter bei seiner Entscheidung über die Strafbarkeit sein Augenmerk auch auf die zivilrechtlichen Folgen seiner Entscheidung richtet. Dies kann dazu führen, dass die zivilrechtliche Haftung zu einem entscheidungserheblichen Kri­ terium im Strafprozess wird. So wurde das Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ vor allem in seiner Verbindung mit dem Grundsatz der „unité des fautes pénale et civile“ von der französischen Literatur im Hinblick auf die Benachteiligung des Angeklagten im Strafverfahren stark kritisiert.86 Diese Nach­ teile wurden jedoch durch das Gesetz vom 10. Juli 2000, durch das der einheit­ liche Fahrlässigkeitsbegriff aufgegeben wurde, erheblich abgemildert. Seither darf der Zivilrichter gem. Art. 4–1 CPP Schadensersatz zusprechen, obwohl der wegen einer Fahrlässigkeitstat Angeklagte im Strafprozess freigesprochen wurde. Da­ mit dürfte auch der Einfluss der zivilrechtlichen Konsequenzen auf die Entschei­ dung des Strafrichters deutlich abgenommen haben.87 Dennoch kann auch nach der neuen Rechtslage nicht völlig ausgeschlossen werden, dass der Strafrichter bei seiner Entscheidung weiterhin die zivilrechtlichen Folgen der Straftat berücksich­ tigt. Denn gem. Art. 4–1 CPP ist der Zivilrichter zwar nicht mehr an die rechtliche Beurteilung des Strafrichters, jedoch weiterhin an die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils gebunden.88 Weiter ist fraglich ist, ob die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ im französischen Recht Rückbelastungen im Strafprozess bewirkt. Dies wird im deut­ schen Recht gegen eine Bindungswirkung des Strafurteils vorgebracht.89 Da das Zivilgericht im französischen Recht an ein rechtskräftiges Strafurteil gebunden ist, wird der Angeklagte bereits im Strafprozess mögliche zivilrechtliche Folgen seiner Tat im Blick haben. Allerdings wird die Verteidigung des Angeklagten im Straf­ prozess nicht dadurch erschwert, dass er sich zusätzlich gegen eine mögliche zivil­ rechtliche Haftung verteidigen müsste. Denn durch die enge Auslegung des Grund­ satzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ wird verhindert, dass im Strafprozess zusätzlicher Streit über mögliche zivilrechtliche Folgeansprüche ent­ steht. So entfalten im französischen Recht nur die tragenden Urteilselemente Bin­ dungswirkung im Zivilprozess.90 Darunter fallen nur diejenigen Elemente, die zur Entscheidung über die Strafbarkeit des Angeklagten unerlässlich sind. Daher muss sich der Angeklagte beispielsweise nicht im Hinblick auf die mögliche Schadens­ höhe verteidigen, da Feststellungen hierzu, soweit diese nicht strafbegründend sind, den Zivilrichter im nachfolgenden Schadensersatzprozess nicht binden.91 86

Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. IX. 3. Viney, Introduction à la responsabilité, S. 295. 88 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. V. 1. b). 89 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. d). 90 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). 91 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. III. 1. c) aa). 87

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Die Frage, ob die Bindungswirkung des Strafurteils im französischen Recht zu einer Verzögerung des Strafprozesses führt, indem sie sich negativ auf verfahrens­ beschleunigende Elemente, wie etwa Verfahrenseinstellungen und Rechtsmittel­ verzichte auswirkt, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht endgültig beant­ wortet werden. Vorab ist zunächst festzustellen, dass Verfahrenseinstellungen im französischen Recht keine „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ ent­ falten.92 Jedoch scheint es realistisch, dass eine umfassende Bindungswirkung des Strafurteils verfahrensbeschleunigende Elemente des Strafprozesses eher behin­ dert.93 Denn während der Angeklagte von einem Freispruch auch im Zivilprozess profitiert, wirkt sich eine Verurteilung im nachfolgenden Prozess in jedem Fall zu seinen Lasten aus. Daher dürfte es naheliegen, dass der Angeklagte die zivilrecht­ lichen Folgen seines strafprozessualen Verhaltens sehr genau überprüfen wird, da das Strafurteil unabhängig davon, ob es für den Angeklagten günstig oder ungüns­ tig ist, den Zivilrechtsstreit präjudiziert. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Verzögerung des Strafverfahrens in diesem Fall nicht durch die Untätigkeit der Justiz oder durch die Organisation der französischen Gerichtsbarkeit verursacht wird, sondern durch ein zulässiges prozessuales Verhalten des Angeklagten. In­ soweit dürfte ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausscheiden. Die Bindungswirkung des Strafurteils dürfte jedoch dazu führen, dass das Straf­ verfahren im französischen Recht in der Regel zumindest auch dazu dienen wird, den Zivilprozess vorzubereiten.94 Aufgrund der Bindungswirkung der rechtskräf­ tigen Verurteilung besteht ein besonderes Interesse des Verletzten, gerade kom­ plexe Sachverhalte im Strafverfahren aufklären zu lassen. Hierin liegt jedoch auch ein Missbrauchspotenzial. Diese Missbrauchsgefahr ist im französischen Recht besonders begründet, da es der Verletzte als Kompensation für das fehlende Lega­ litätsprinzip grundsätzlich selbst in der Hand hat, das Strafverfahren einzuleiten. Zwar entfaltet auch der rechtskräftige Freispruch des Angeklagten Bindungswir­ kung zulasten des Verletzten. Allerdings ist dieses Risiko für den Verletzten seit der Reform im Jahr 2000 deutlich geringer, da die Ablehnung der strafrechtlichen Fahrlässigkeit den Zivilrichter seither nicht mehr daran hindert, eine zivilrecht­ liche Haftung anzunehmen. Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass die Bindungswirkung des Strafurteils im französischen Recht nicht nur Auswirkungen auf den Zivilprozess, sondern auch Auswirkungen auf den Strafprozess zeitigt. Zwar wird die Vertei­ digung des Angeklagten im Strafprozess durch die Bindungswirkung des Straf­ urteils, die sich nur auf tragende Feststellungen bezieht, nicht erschwert. Auch die Gefahr, dass sich der Strafrichter von zivilrechtlichen Erwägungen leiten lässt und 92

Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. II. 1. Empirische Untersuchungen hierzu sind jedoch leider nicht vorhanden. 94 Auch wenn der Verletzte im Strafprozess keinen Schadensersatz fordert, Viney, Intro­ duction à la responsabilité, S. 277. 93

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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den Angeklagten nur deshalb verurteilt, um dem Verletzten den zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch nicht abzuschneiden, wurde durch die Reform im Jahr 2000 deutlich abgemildert. Indes dürfte sich die umfassende Bindungswirkung ne­ gativ auf verfahrensbeschleunigende Elemente im Strafprozess auswirken. Außer­ dem besteht ein erhöhtes Risiko, dass der Strafprozess zur Vorbereitung des Zi­ vilprozesses missbraucht wird, da der Verletzte das Strafverfahren grundsätzlich selbst einleiten kann und der Zivilrichter an den Ausgang des Strafprozesses ge­ bunden ist. Das deutsche Recht begründet dagegen nicht die Gefahr, dass der Strafrichter seine Entscheidung an den zivilrechtlichen Folgen einer Verurteilung bzw. eines Freispruchs misst. Da die Zivilgerichte nicht an ein rechtskräftiges Strafurteil ge­ bunden sind, spielt es grundsätzlich für die Entschädigung des Verletzten keine Rolle, wie der Strafprozess ausgegangen ist. Insofern steht der Freispruch des Angeklagten einer zivilrechtlichen Schadensersatzklage nicht entgegen. Nimmt man an, dass die Bindungswirkung des Strafurteils aufgrund ihres nachteiligen Einflusses auf verfahrensbeschleunigende Elemente im französischen Recht zu einer Verzögerung des Strafprozesses führt, stellt sich die naheliegende Frage, ob denn die Bindungsfreiheit des Zivilrichters im deutschen Recht eine zügigere Er­ ledigung des Strafprozesses garantiert. Dafür könnte sprechen, dass sich die Bin­ dungsfreiheit eventuell positiv auf die strafprozessualen Institute, die zu einer schnelleren Beendigung des Strafverfahrens und damit zur effizienteren Ver­ fahrensgestaltung führen, auswirkt. Denn da der Zivilrichter im deutschen Recht nicht an den Freispruch im Strafverfahren gebunden ist, wird der Angeklagte nicht um jeden Preis ein freisprechendes Urteil anstreben, sondern vielleicht eher einer Verfahrenseinstellung zustimmen. Außerdem entfaltet ein Geständnis des An­ geklagten (beispielsweise im Rahmen einer Verständigung) und die darauf be­ ruhende Verurteilung keine Bindungswirkung für den nachfolgenden Zivilpro­ zess, sodass sich der Angeklagte unter Umständen eher geständig zeigen dürfte. Dies lässt sich jedoch nicht verallgemeinern. Denn der Angeklagte wird auch im deutschen Recht bei seiner Entscheidung für ein Geständnis oder einen Rechts­ mittelverzicht durchaus erwägen, welche Folgen dieses strafprozessuale Verhal­ ten für den Zivilprozess haben könnte.95 Immerhin können sowohl das Strafurteil als auch ein Geständnis im Zivilprozess im Rahmen der freien Beweiswürdi­ gung berücksichtigt werden. Daher kann nicht pauschal davon ausgegangen wer­ den, dass die deutsche Lösung zugunsten der Bindungsfreiheit des Zivilrichters zu einer Beschleunigung des Strafprozesses beiträgt. Zumindest dürfte aber da­ von auszugehen sein, dass eine Bindungswirkung des Strafurteils die verfahrens­ beschleunigenden Elemente des Strafprozesses deutlich mehr behindert als die bloße Möglichkeit, strafprozessuale Erkenntnisse bei der Sachverhaltsaufklärung im ­Zivilrechtsstreit zu verwerten. 95 In diesem Sinne auch Hiebl/Becker, in: Münchener Anwalts-Handbuch Strafverteidigung, § 32, Rn. 4, 8.

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Schließlich besteht auch im deutschen Recht die Gefahr, dass der Strafprozess zur Vorbereitung des Zivilprozesses missbraucht wird.96 Allerdings kann der Ver­ letzte im deutschen Recht grundsätzlich nicht selbst Anklage erheben. Anders als im französischen Recht gilt im deutschen Recht ein Anklagemonopol der Staats­ anwaltschaft (§ 152 Abs. 1 StPO), das durch das Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs.  1 StPO) flankiert wird und nur durch die sehr eingeschränkte Privat­ klagemöglichkeit (§§ 374 ff. StPO) durchbrochen ist. Da das Strafurteil außer­ dem keine bindende Wirkung im Zivilprozess hat, ist davon auszugehen, dass das Missbrauchsrisiko im deutschen Recht wesentlich geringer ist als im französi­ schen Recht. 7. Effizienz- und prozessökonomische Gesichtspunkte Im nächsten Abschnitt stellt sich die Frage, wie die deutsche und französische Lösung im Hinblick auf effizienz- und prozessökonomische Erwägungen zu be­ werten sind. Zuvor bedarf es jedoch einer Klarstellung. Im Verfahrensrecht dürfen prozessökonomische Erwägungen keinen Selbstzweck darstellen.97 Denn zwin­ gende verfahrensrechtliche Vorgaben, insbesondere das rechtliche Gehör, sind in jedem Fall gegenüber Effizienzgesichtspunkten vorrangig.98 Ohne dass den Ef­ fizienzgesichtspunkten im Rahmen der vorliegenden Bewertung entscheidungs­ erhebliche Bedeutung zukommen soll, erscheint es dennoch von Interesse, die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess auch unter prozessökono­ mischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Denn der Aspekt der Prozessökonomie spielt in beiden Rechtsordnungen eine Rolle, wenn es um die Diskussion der Be­ deutung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess geht. Die Gesichtspunkte der Prozessökonomie und Effizienz haben unterschiedliche Facetten. Darunter lassen sich beispielsweise Aspekte wie Kosten- und Zeiterspar­ nis sowie Ersparnis von Arbeitskraft fassen. Zentraler Aspekt der Prozessöko­ nomie ist jedoch der Beschleunigungsgrundsatz. Dieser gilt in beiden Rechtsord­ nungen sowohl für den Straf- als auch für den Zivilprozess und ist durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet. Fraglich ist daher, wie die Auswirkungen des abge­ schlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess im Hinblick auf die Beschleuni­ gung des Zivilprozesses in den beiden Rechtsordnungen zu bewerten sind. Obwohl der Zivilrichter im französischen Recht an die tatsächlichen Feststel­ lungen und an die rechtliche Würdigung eines rechtskräftigen Strafurteils gebun­ 96

Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. IV. 2. d). Nach Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 65 dürfen prozess­ ökonomische Wirkungen nur „Folge von Rechtsregeln, aber nicht ihre Existenzberechtigung [sein]“. 98 Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 55; Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 28 f., der deshalb Effizienzkriterien als Be­ wertungsmaßstab gänzlich ausklammern will. 97

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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den ist, wird das Ziel der Beschleunigung des Zivilprozesses auch im französischen Recht nicht vollständig verwirklicht. Denn die Bindungswirkung des Strafurteils ist im französischen Recht nicht von Amts wegen zu berücksichtigen, sondern kommt nur dann zum Tragen, wenn sich eine der Parteien im Zivilprozess auf die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ beruft. In diesem Fall, der in der Praxis die Regel darstellen dürfte, sichert dieser Grundsatz jedoch eine zügigere Durchfüh­ rung des Zivilverfahrens, da keine der Parteien das Strafurteil durch abweichen­ den Sachvortrag oder Beweisangebote angreifen kann. Diese prozessökonomisch begrüßenswerte Lösung verstößt indes gegen die zwingende verfahrensrechtliche Vorgabe des Anspruchs auf rechtliches Gehör, da sie auch zulasten Dritter wirkt, die sich am Strafprozess nicht beteiligen konnten und auf den Inhalt des Straf­urteils keinen Einfluss hatten. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers zugunsten der Unabhängigkeit des Zivilrichters wird in erster Linie aus prozessökonomischen Erwägungen kri­ tisiert.99 Denn die Wiederholung der Beweisaufnahme im Zivilprozess führe zu einer unnötigen Verzögerung des Zivilrechtsstreits. Diese Kritik ist berechtigt. Da das Zivilgericht an den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt nicht gebunden ist, muss es diesen erneut aufklären. So sind beispielsweise auf Antrag einer Partei die bereits im Strafprozess vernommenen Zeugen erneut zu hören.100 Auch kann ein im Ermittlungs- oder Strafverfahren angefertigtes Sachverständigengutachten eine erneute Begutachtung im Zivilverfahren nicht automatisch ersetzen.101 Damit ist die Gefahr einer Verzögerung des Zivilprozesses im deutschen Recht deutlich grö­ ßer als im französischen Recht. Diese prozessökonomischen Nachteile federt das deutsche Recht allerdings dadurch ab, dass das Strafurteil und einzelne Beweis­ ergebnisse aus den Strafakten im Zivilprozess verwertet werden können, sodass nicht automatisch von einer Verzögerung des Zivilprozesses ausgegangen werden kann. Schließlich muss es, wie bereits geschildert102, vor den Zivilgerichten nicht zwingend zu einer doppelten Beweiserhebung kommen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sich der Grundsatz der „auto­ rité de la chose jugée au pénal sur le civil“, der in der Praxis sehr häufig zur An­ wendung kommen dürfte, positiv auf die Beschleunigung des Zivilprozesses auswirkt, da eine erneute Beweisaufnahme in Bezug auf die im Strafurteil fest­ gestellten Umstände unzulässig ist. Im deutschen Recht wird durch die gesetz­ geberische Entscheidung zugunsten der Bindungsfreiheit eine Verzögerung des Zivilprozesses dagegen hingenommen. Da die Beschleunigung des Zivilverfah­ rens jedoch mit einer Verzögerung des Strafverfahrens verbunden sein kann103, ist auch zu berücksichtigen, dass die Lösungen beider Rechtsordnungen nicht nur 99

Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 3. a). Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 1. a) und c). 101 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. III. 1. c). 102 Vgl. hierzu unter 4. Teil, A II. 4. 103 Vgl. hierzu unter 4. Teil, A. II. 6. 100

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Einfluss auf den Zivilprozess, sondern auch Rückwirkungen auf den Strafprozess haben. Zwar wird der Angeklagte, wie bereits dargestellt104, sowohl im deutschen als auch im französischen Strafprozess jeweils die zivilrechtlichen Folgen seines strafprozessualen Verhaltens erwägen. Im französischen Recht liegt dies aufgrund der Bindungswirkung des Strafurteils besonders nahe. Daher dürfte davon aus­ zugehen sein, dass die Rückwirkungen auf den Strafprozess bei einer unwiderleg­ baren Bindungswirkung des Strafurteils, wie sie das französische Recht vorsieht, größer sind als bei der im deutschen Recht bestehenden Möglichkeit, die im Straf­ verfahren gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen der freien richterlichen Beweis­ würdigung zu verwerten. 8. Die freie richterliche Beweiswürdigung Zum Schluss sollen die Auswirkungen des abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess in beiden Rechtsordnungen im Hinblick auf die Beweiswürdi­ gungsfreiheit des Zivilrichters bewertet werden. Der Grundsatz der freien richter­ lichen Beweiswürdigung gilt im französischen und deutschen Zivilprozess glei­ chermaßen. Im deutschen Recht bestimmt § 286 Abs.  1 S.  1 ZPO ausdrücklich, dass das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden hat, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. Im französischen Recht ist der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung zwar nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, aber dennoch an­ erkannt.105 Da in keinem gerichtlichen Verfahren jemals die objektive Wahrheit er­ mittelt werden kann, lassen beide Rechtsordnungen sowohl im Zivil- als auch im Strafprozess (§ 261 StPO, 427 Abs. 1 CPP) die persönliche Überzeugung des Rich­ ters von der Wahrheit einer Tatsache ausreichen.106 Sofern die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ im Zivilprozess An­ wendung findet, schließt sie die freie richterliche Beweiswürdigung aus.107 Denn sie verbietet, dass die bereits im Strafprozess entschiedenen Fragen nochmals Gegen­ stand einer Beweisaufnahme und damit auch Gegenstand einer erneuten Beweis­ würdigung sein können. Das Zivilgericht hat die tragenden Urteilselemente ohne erneute Verhandlung und Entscheidung ungeprüft zu übernehmen, selbst wenn es diese für unzutreffend hält. Die Übernahme der Beweiswürdigung des Strafrich­ 104

Vgl. hierzu unter 4. Teil, A. II. 6. Viney, Introduction à la responsabilité, S. 295; Brinkmann, Das Beweismaß im Zivilpro­ zess aus rechtsvergleichender Sicht, S. 58. 106 Brinkmann, Das Beweismaß im Zivilprozess aus rechtsvergleichender Sicht, S. 59 f. 107 Viney, Introduction à la responsabilité, S. 295; in diesem Sinne auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 330; Haaf, Die Fernwirkung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 151 für eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil im Wege der Rechtskraft. 105

A. Wirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess

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ters in das Zivilverfahren verhindert im Gegenzug widersprüchliche Entscheidun­ gen. Nur wenn sich keine der Parteien des Zivilprozesses auf das Strafurteil beruft, bleibt die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung im französischen Recht un­ berührt, mit der Folge, dass es zu abweichenden Entscheidungen kommen kann. Im deutschen Recht besteht die Beweiswürdigungsfreiheit des Zivilrichters auch im Hinblick auf ein rechtskräftiges Strafurteil fort. Unabhängig vom Aus­ gang des Strafprozesses müssen die Parteien ihre Position im Zivilprozess er­ neut darlegen und gegebenenfalls erneut Beweis anbieten. Der gesamte Streitstoff, einschließlich das im Wege des Urkundenbeweises verwertbare Strafurteil und sonstige Beweisergebnisse des Strafverfahrens, unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung. Der Richter ist daher im deutschen Recht berechtigt und ver­ pflichtet, nach seiner eigenen freien Überzeugung zu entscheiden, ob die von den Parteien behaupteten Tatsachen der Wahrheit entsprechen. Er darf sich dieser Frei­ heit auch nicht selbst durch Schaffung ungeschriebener Beweiswürdigungsregeln begeben.108 Da der Zivilrichter aufgrund seiner freien Überzeugung zu einer an­ deren Entscheidung als der Strafrichter gelangen kann, werden widersprüchliche Entscheidungen in Kauf genommen.

III. Zusammenfassung Nachdem die Lösungsmechanismen, die beide Rechtsordnungen für die Pro­ blematik aufeinanderfolgender Straf- und Zivilprozesse vorsehen, soeben anhand einzelner verfahrensrechtlicher Gesichtspunkte bewertet wurden, lässt sich an die­ ser Stelle folgendes Fazit ziehen: Die im französischen Recht mit einer uneinge­ schränkten Bindungswirkung des Strafurteils für den nachfolgenden Zivilprozess verbundenen Vorteile werden entweder durch die enge Auslegung des Prinzips oder durch die damit verbundenen Nachteile gleichzeitig wieder relativiert. So ist das Prinzip der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ zwar grundsätzlich geeignet, widersprüchliche Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbar­ keit zu verhindern und den Zivilrechtsstreit zu beschleunigen. Dieser Vorteil wird aber durch die enge Auslegung des Prinzips zugleich in Frage gestellt. Vor allem der sachliche Anwendungsbereich der Regel wird vom obersten französischen Ge­ richtshof stetig weiter eingeschränkt, sodass der Zivilrichter in zahlreichen Fällen dem Strafurteil im Ergebnis doch widersprechen kann. Aber auch die Tatsache, dass die Bindungswirkung nicht von Amts wegen berücksichtigt werden darf, son­ dern von einer Partei geltend gemacht werden muss, kann zu einer erneuten Be­ weisaufnahme im Zivilrechtsstreit und widersprüchlichen Entscheidungen führen. Andere Vorteile der Bindungswirkung werden durch ihre erheblichen Nachteile ni­ velliert. So soll die Bindungswirkung des Strafurteils im französischen Recht eine möglichst umfassende Wahrheitsermittlung im Zivilprozess gewährleisten, indem 108

Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. III. 2 b) bb).

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

sie die im Einzelfall weitergehenden Erkenntnisse des Strafprozesses im Zivil­ prozess fruchtbar macht. Dadurch konterkariert der Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ jedoch gleichzeitig die Verwirklichung der ma­ teriellen Wahrheit im Zivilprozess, da auch ein Fehlurteil oder das auf Grundlage des Zweifelssatzes ergangene Strafurteil den Zivilrichter binden. Ähnliches gilt auch für den Opferschutz. Denn der Verletzte kann zwar nach einer rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten seine Schadensersatzansprüche gegen diesen unter Berufung auf das Strafurteil im nachfolgenden Zivilverfahren zügig durchsetzen, gleichzeitig kann sich das Prinzip aber auch zulasten des Geschädigten auswirken. Unabhängig davon verstößt die französische Lösung aber vor allem gegen den fun­ damentalen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsatz des rechtlichen Gehörs. Die deutsche Lösung wahrt zwar die prozessualen Rechte Dritter und lässt die zivilprozessualen Verfahrensgrundsätze unberührt, trägt aber dem Opferschutz ebenfalls nur unzureichend Rechnung. Auch aus prozessökonomischen Gesichts­ punkten und Aspekten der Rechtssicherheit ist die Bindungsfreiheit des Zivilrich­ ters kritikwürdig.

B. Bewertung der Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess Nachdem soeben die Auswirkungen des abgeschlossenen Strafprozesses auf den Zivilprozess bewertet wurden, sollen nachfolgend auch die Auswirkungen eines rechtshängigen Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess im französi­ schen und deutschen Recht beurteilt werden.

I. Bewertungskriterien Dieses Konkurrenzproblem ist in beiden Rechtsordnungen unterschiedlich gere­ gelt, wobei die gesetzgeberische Entscheidung ebenfalls auf einer Abwägung ge­ gensätzlicher Interessen beruht. Auch hier lässt sich feststellen, dass im französi­ schen und deutschen Recht dieselben Gesichtspunkte von Bedeutung sind, nämlich: 1. Die Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen zwischen Zivil- und Straf­ gerichtsbarkeit und 2. die Prozesswirtschaftlichkeit. Im Rahmen der nachfolgenden Bewertung der nationalen Lösungen ist eben­ falls zu untersuchen, inwieweit die jeweilige Zielvorgabe erfüllt wird, wobei auch hier gegebenenfalls auftretende Wechselwirkungen mit anderen schutzwürdigen Interessen zu erörtern sind.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

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II. Bewertung 1. Die Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit Ein wichtiger Aspekt, der in beiden Rechtsordnungen als Regelungszweck der Aussetzungsvorschriften diskutiert wird, ist die Verhinderung widersprüchlicher Beurteilungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit.109 Fraglich ist, inwieweit die Vorschriften über die Verfahrensaussetzung in beiden Rechtsordnungen geeig­ net sind, diesen Zweck zu erreichen. Im französischen Recht verpflichtet die Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 CPP den Zi­ vilrichter auf Antrag einer Partei, die Verhandlung des Rechtsstreits über Schadens­ ersatzansprüche, die durch eine strafbare Handlung verursacht wurden („action civile“), auszusetzen, wenn vor oder während des Verfahrens ein Strafverfahren eingeleitet wird. Dadurch gewährleistet sie, dass es nicht zu widersprüchlichen Entscheidungen zwischen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit kommt. Denn der Zivil­ richter muss die Entscheidung des Strafrichters abwarten, an die er sodann – sofern der Strafprozess durch rechtskräftiges Urteil beendet wird – aufgrund der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ gebunden ist. Jedoch sind selbst im Rahmen dieser gesetzlich vorgesehenen Aussetzungspflicht widersprüchliche Entscheidun­ gen nicht ganz ausgeschlossen. Denn nach der neueren Rechtsprechung der Cour de cassation muss der Zivilrichter die Verhandlung über die „action civile“ nicht von Amts wegen aussetzen.110 Daher ist die Aussetzung nur insoweit obligatorisch, als diese von einer der Parteien beantragt wird. Soweit die Aussetzung für alle anderen Zivilverfahren („actions à fins civiles“) gem. Art. 4 Abs. 3 CPP im Ermessen des Richters steht, soll nach überwiegender Ansicht auch diese Regelung widersprüchliche Entscheidungen der Straf- und Zi­ vilgerichtsbarkeit vermeiden. Fraglich ist jedoch, ob eine Vorschrift, die die Aus­ setzung des Verfahrens in das Ermessen des Richters stellt, tatsächlich geeignet ist, widersprüchliche Entscheidungen zu verhindern. Dagegen spricht, dass eine sol­ che Regelung widersprüchliche Entscheidungen überhaupt erst ermöglicht. Denn der Zivilrichter muss den Ausgang des Strafprozesses nicht mehr zwingend ab­ warten. Entscheidet er, bevor das Strafurteil rechtskräftig ist, kommt die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ nicht zum Tragen. Widerspricht das Zivil­ urteil in diesem Fall dem später ergangenen Strafurteil, kann es grundsätzlich nicht angefochten werden.111 Trotzdem scheint die Gefahr widersprüchlicher Entschei­ dungen eher gering zu sein. Denn wie ein Blick in die Praxis zeigt, stellt die über­ wiegende Mehrheit der französischen Instanzgerichte nach der Gesetzesreform im 109

Vgl. hierzu für das deutsche Recht unter 1. Teil, B. IV.; für das französische Recht unter 2. Teil, B. III. 1. d) und IV. 3. 110 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. Einleitung zu III. 111 Vgl. hierzu unter 2. Teil, A. V. 2.

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

Jahr 2007 im Rahmen ihres Aussetzungsermessens gem. Art. 4 Abs. 3 CPP weiter­ hin darauf ab, ob die Entscheidung des Strafrichters geeignet ist, den Zivilprozess zu beeinflussen und ob die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen droht.112 Ist dies der Fall, wird die Verhandlung in aller Regel ausgesetzt und die Erledigung des Strafverfahrens abgewartet.113 Daher begründet die Regelung des Art. 4 Abs. 3 CPP, welche ein Ermessen des Richters vorsieht, zwar theoretisch die Gefahr ab­ weichender Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit. In der Pra­ xis sind die französischen Gerichte jedoch darum bemüht, eine solche Diskrepanz zu vermeiden, indem sie im Rahmen ihres Aussetzungsermessens insbesondere berücksichtigen, ob ein Widerspruch zwischen zivil- und strafrichterlicher Ent­ scheidung droht. Zwar ist auch im deutschen Recht anerkannt, dass die Aussetzungsbefugnis des § 149 Abs.  1 ZPO widersprüchliche Entscheidungen verhindern soll.114 Fraglich ist jedoch, ob diese Regelung hierzu tatsächlich geeignet ist. Dagegen spricht zu­ nächst, dass es sich, wie bei der Vorschrift des Art. 4 Abs. 3 CPP, um eine Ermes­ sensvorschrift handelt, sodass die Erledigung des Strafverfahrens nicht abgewartet werden muss. Im Gegensatz zum französischen Recht ist das Ermessen des Rich­ ters auch nicht dahingehend reduziert, dass eine Aussetzung grundsätzlich zu erfol­ gen hat, wenn widersprüchliche Entscheidungen drohen. Selbst wenn die Verhand­ lung im Zivilrechtsstreit ausgesetzt wird, dient dies nicht etwa dazu, eine Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil herbeizuführen. Zumindest kann widersprüch­ lichen Entscheidungen aber dadurch entgegengewirkt werden, dass der Zivilrich­ ter auf denselben Kenntnisstand wie der Strafrichter gebracht wird, indem er von den gegebenenfalls weitergehenden Erkenntnissen des Strafprozesses erfährt und diese auch für seine eigene Entscheidung verwerten kann. Da das Gericht jedoch weder an das abgewartete Strafurteil noch an die im Strafverfahren gewonnenen Beweisergebnisse gebunden ist, ermöglicht die Regelung des § 149 Abs.  1 ZPO zwar den Parteien und damit auch dem Gericht, von den Resultaten des Strafverfah­ rens zu profitieren und mindert so die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Dennoch stellt sie weder sicher, dass das Zivilgericht die Erledigung des Strafver­ fahrens abwartet, noch garantiert sie, dass der Zivilrichter zur gleichen Entschei­ dung wie der Strafrichter kommt. Damit sind die französischen Aussetzungsvor­ schriften in Verbindung mit der französischen Gerichtspraxis im Gegensatz zur deutschen Aussetzungsregelung grundsätzlich besser geeignet, widersprüchliche Entscheidungen zwischen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit zu vermeiden und so eine einheitliche Beurteilung des tatsächlichen Geschehens zu gewährleisten. Die Zielsetzung, widersprüchliche Entscheidungen durch die Unterbrechung der Verhandlung im Zivilverfahren weitestgehend zu vermeiden, kann jedoch zu einer Verzögerung desselben führen. Insbesondere die Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 CPP, 112

Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IV. 2. Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. IV. 2. 114 Vgl. hierzu unter 1. Teil, B. IV. 113

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

235

die das Zivilgericht zur Aussetzung von Schadensersatzklagen des Verletzten („ac­ tions civiles“) verpflichtet, verursacht eine solche Verzögerung. Soweit es sich nicht um eine Schadensersatzklage des Verletzten gem. Art. 4 Abs.  2 CPP, son­ dern um eine sonstige Zivilklage gem. Art. 4 Abs. 3 CPP handelt, für die ein Aus­ setzungsermessen besteht, könnte das Beschleunigungsinteresse der Parteien zwar grundsätzlich berücksichtigt werden. Allerdings zeigt ein Blick in die Praxis, dass von der Aussetzungsbefugnis exzessiv Gebrauch gemacht macht wird und nur sel­ ten auf die mit der Verfahrensaussetzung einhergehende Verzögerung des Zivilver­ fahrens eingegangen wird.115 Die Ermessensvorschrift des § 149 Abs. 1 ZPO und ihre Handhabung durch die Gerichte trägt dem Interesse der Parteien an einer zü­ gigen Erledigung des Zivilverfahrens dagegen angemessen Rechnung, da die Ver­ handlung nicht schon deshalb ausgesetzt wird, weil widersprüchliche Entscheidun­ gen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zu befürchten sind. Vielmehr haben die Gerichte im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung die erwarteten Erkenntnis­ gewinne und die mit der Verzögerung einhergehenden Nachteile gegeneinander ab­ zuwägen.116 Ist zu erwarten, dass das Strafverfahren länger als ein Jahr dauern wird, hat die Aussetzung grundsätzlich zu unterbleiben.117 Darüber hinaus trägt vor allem die Regelung des § 149 Abs. 2 ZPO dem Beschleunigungsinteresse ausdrücklich Rechnung. Denn das Gericht hat die Verhandlung im Zivilrechtsstreit auf ­Antrag einer Partei fortzusetzen, wenn seit der Aussetzung ein Jahr vergangen ist und das Strafverfahren immer noch nicht erledigt ist, § 149 Abs. 2 S. 1 ZPO. Dem Antrag muss gem. § 149 Abs. 2 S. 2 ZPO nur dann nicht stattgegeben werden, wenn ge­ wichtige Gründe für die Aufrechterhaltung der Aussetzung sprechen. Die französischen Aussetzungsvorschriften bergen außerdem gewisse Miss­ brauchsgefahren, die jedoch seit der Gesetzesreform im Jahr 2007 deutlich gerin­ ger sein dürften. Denn seitdem die Aussetzung der „actions à fins civiles“ gem. Art. 4 Abs. 3 CPP im Ermessen des Zivilrichters liegt, kann dieser einen Ausset­ zungsantrag, der in reiner Verzögerungsabsicht gestellt wurde, ablehnen. Dies setzt freilich voraus, dass die Verzögerungsabsicht offen zu Tage tritt. Da das Zivilver­ fahren in der Praxis allerdings weiterhin immer schon dann ausgesetzt wird, wenn das Strafurteil geeignet ist, die zivilrichterliche Entscheidung zu beeinflussen, ist nicht ausgeschlossen, dass die Vorschriften über die Verfahrensaussetzung weiter­ hin dazu missbraucht werden, das Zivilverfahren zu verzögern. Soweit es sich um eine Schadensersatzklage des Verletzten („action civile“) handelt, ist der Zivilrich­ ter auf Antrag einer Partei nach Art. 4 Abs. 2 CPP weiterhin verpflichtet, die Ver­ handlung über die Klage bis zur Beendigung des Strafprozesses auszusetzen. Inso­ weit geht man offenbar davon aus, dass hier kein erwägenswertes Missbrauchsrisiko besteht. Dafür spricht, dass der durch eine Straftat verletzte Kläger des Zivilpro­ zesses regelmäßig ein berechtigtes Interesse haben dürfte, das Ergebnis des Straf­

115

Vgl. unter 2. Teil, B. IV. 2. Vgl. unter 1. Teil, B. III. 117 Vgl. unter 1. Teil, B. III. 116

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

verfahrens abzuwarten, um seine zivilrechtlichen Schadenersatzansprüche unter­ Berufung auf die Erkenntnisse des Strafprozesses durchzusetzen. Dennoch ist auch hier ein Missbrauch nicht völlig auszuschließen. Denn nicht nur der Kläger, son­ dern auch der Beklagte kann einen Antrag auf Verfahrensaussetzung stellen. Auf diese Weise kann er die Entscheidung im Zivilrechtsstreit verzögern und so einst­ weilen verhindern, dass der Geschädigte einen vollstreckbaren Titel erlangt, selbst wenn die Klage offensichtlich begründet ist. Die Vorschrift des § 149 Abs. 1 ZPO, welche die Aussetzung der Verhandlung im Zivilverfahren in das Ermessen des Gerichts stellt, begründet dagegen keine Missbrauchsgefahren. Denn der Zivilrichter ist nicht von vorneherein verpflich­ tet, einem Aussetzungsantrag stattzugeben, sondern hat nach pflichtgemäßem Er­ messen über die Aussetzung zu entscheiden, wobei im Rahmen der zu treffenden ­Abwägung insbesondere das Beschleunigungsinteresse der Parteien zu berück­ sichtigen ist. 2. Die Prozesswirtschaftlichkeit Die Aussetzung des Zivilverfahrens soll außerdem in beiden Rechtsordnungen der Prozesswirtschaftlichkeit dienen. Sie soll insbesondere doppelte Beweisauf­ nahmen und eine doppelte Arbeitsbelastung der Gerichte vermeiden. Die Aussetzungsvorschriften des französischen Rechts fördern die Prozesswirt­ schaftlichkeit, indem sie garantieren (Art. 4 Abs. 2 CPP, „action civile“) bzw. er­ möglichen (Art. 4 Abs. 3 CPP, „action à fins civiles“), dass die Erkenntnisse des Strafverfahrens im Zivilprozess berücksichtigt werden. In Verbindung mit dem Grundsatz der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ verhindern die Aussetzungsvorschriften, dass es zu einer doppelten Beweisaufnahme in paralle­ len Prozessen kommt. Dies gilt aber nur dann, wenn das Strafverfahren durch ein rechtskräftiges Strafurteil abgeschlossen wird, das den Zivilrichter bindet. Endet es dagegen mit einer Verfahrenseinstellung oder greift die Bindungswirkung aus anderen Gründen nicht ein, kann es, wie im deutschen Recht, zu einer Wieder­ holung der Beweisaufnahme kommen. Auch im deutschen Recht verfolgt die Regelung des § 149 Abs. 1 ZPO prozess­ ökonomische Zwecke. Sie soll die Voraussetzung dafür schaffen, dass die gegebe­ nenfalls besseren und weitergehenden Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfah­ rens auch im Zivilprozess nutzbar gemacht werden können und soll gleichzeitig doppelte Beweisaufnahmen verhindern. Allerdings ist die Aussetzung des Zivil­ verfahrens im deutschen Recht nur dann ermessensfehlerfrei, wenn im Strafpro­ zess tatsächlich eine gründlichere und bessere Sachverhaltsaufklärung zu erwarten ist und der Aufschub der zivilrichterlichen Entscheidung unter Berücksichtigung des Beschleunigungsinteresses der Parteien hingenommen werden kann. Außer­ dem verhindert die Verfahrensaussetzung im deutschen Recht nicht zwingend eine doppelte Beweisaufnahme. Denn auch nach Abschluss des Strafprozesses ist eine

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

237

solche nur dann entbehrlich, wenn keine der Parteien erneut Zeugenbeweis anbie­ tet und die im Straf- oder Ermittlungsverfahren eingeholten Gutachten auch im Zi­ vilprozess verwertbar sind. Aus diesem Grund wird zum Teil vertreten, dass der prozessökonomische Zweck, den die Verfahrensaussetzung im deutschen Recht verfolgt, aufgrund der Bindungsfreiheit des Zivilrichters und der lediglich unter­ geordneten Bedeutung des Strafurteils im Zivilprozess nicht gewährleistet werden könne.118 Die Aussetzungsvorschriften beider Rechtsordnungen ermöglichen also grundsätzlich, dass die im Strafverfahren gewonnenen Beweisergebnisse im Zi­ vilprozess berücksichtigt werden können. Inwieweit sie auch geeignet sind, dop­ pelte Beweisaufnahmen zu verhindern, hängt dagegen nicht primär von der Aus­ gestaltung der Aussetzungsvorschriften ab, sondern davon, ob die Erkenntnisse des Strafprozesses den Zivilrichter binden. Wie soeben dargestellt119, können die französischen Aussetzungsregelungen in ihrer Anwendung durch die Rechtsprechung eine erhebliche Verzögerung des Zi­ vilprozesses bewirken. Die Verzögerung könnte jedoch durch die spätere Bin­ dungswirkung des Strafurteils im Zivilprozess kompensiert werden. Denn die „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ bewirkt eine inhaltliche Bindung des Zivilgerichts an das Strafurteil und schließt eine wiederholte Beweisaufnahme aus. Dieser Einwand überzeugt jedoch nicht. Denn die Verfahrensaussetzung hat unabhängig vom Ausgang des Strafverfahrens zu erfolgen. Endet dieses beispiels­ weise durch eine Verfahrenseinstellung, ist der Zivilrichter hieran nicht gebunden und es kommt zu einer erneuten Verhandlung und Beweisaufnahme. Daher wird die Verzögerung des Zivilverfahrens nicht automatisch durch eine spätere Be­ schleunigung kompensiert. Die durch die Aussetzungsvorschriften und ihre Auslegung in der Praxis verur­ sachte Verzögerung des Zivilverfahrens könnte im Hinblick auf den auch im Zivil­ prozess geltenden Beschleunigungsgrundsatz problematisch sein.120 Vorab ist fest­ zuhalten, dass das französische Recht das Beschleunigungsinteresse der Parteien des Zivilprozesses in bestimmten Sonderfällen durchaus berücksichtigt.121 Obwohl die Aussetzungsvorschriften und ihre Anwendung durch die Gerichte zu einer Ver­ zögerung des Zivilverfahrens führen, verstoßen diese nicht per se gegen den Be­ schleunigungsgrundsatz. Denn die durch die Verfahrensaussetzung verursachte Verzögerung des Zivilverfahrens stellt keinen Selbstzweck dar, sondern soll wider­ sprüchliche Beurteilungen verhindern und sicherstellen, dass der Zivilprozess von der gründlicheren Wahrheitsermittlung im Strafprozess profitiert.122 Da der Be­ ­ echtsgrundsätze, schleunigungsgrundsatz nicht per se gewichtiger ist als andere R

118

Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 421. Vgl. unter 4. Teil, B II. 1. 120 Vgl. hierzu bereits unter 2. Teil, B. III. 2. b). 121 Vgl. hierzu Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 646 ff. 122 Vgl. hierzu unter 2. Teil, B. III. 1. d) und e) und IV. 3.; in diesem Sinne auch Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 697 f. 119

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4. Teil: Bewertung der nationalen Konzepte

ist er einer Abwägung zugänglich.123 Daher verstößt die durch die französischen Aussetzungsvorschriften verursachte Verzögerung des Zivilverfahrens nicht ge­ nerell gegen den durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Beschleunigungsgrund­ satz. Dieser kann aber im Einzelfall verletzt sein. So könnte beispielsweise das Recht des Klägers auf eine Entscheidung des Gerichts in angemessener Frist ver­ letzt sein, wenn der Fall keine spezielle Schwierigkeit aufweist, ein besonde­ res Beschleunigungsinteresse besteht, wie beispielsweise im arbeitsgerichtlichen Streit um die Wirksamkeit einer Kündigung124, und die Klage offensichtlich be­ gründet ist. Die obligatorische Verfahrensaussetzung gem. Art.  4 Abs.  2 CPP, aber auch die Rechtsprechungspraxis der französischen Gerichte, die im Rahmen des durch Art.  4 Abs.  3 CPP eröffneten Aussetzungsermessens in erster Linie darauf ab­ stellen, ob das Strafverfahren geeignet ist, den Zivilprozess zu beeinflussen, kann sich außerdem negativ auf den Opferschutz auswirken. Denn wie bereits dar­ gestellt125, hat der Zivilrichter beispielsweise die Schadensersatzklage des Op­ fers einer Straftat auf Antrag des Beklagten auszusetzen, wenn vor oder während des Zivilverfahrens das Strafverfahren eingeleitet wird. Selbst wenn die Klage of­ fensichtlich begründet ist und daher mit einer Verurteilung des Beklagten sicher zu rechnen ist, ist das Zivilverfahren gem. Art.  4 Abs.  2 CPP zwingend zu un­ terbrechen. Damit erhält das Opfer erst nach Abschluss des Strafverfahrens und endgültiger Entscheidung im Zivilprozess einen vollstreckbaren Titel. Wird der Schuldner beispielsweise in der Zwischenzeit insolvent, geht dies zulasten des Geschädigten. Nicht zuletzt aufgrund der mit der Aussetzung verbundenen Ver­ zögerung des Zivilprozesses entscheidet sich der Verletzte im französischen Recht­ häufig dazu, seine Schadensersatzansprüche im Straf- statt im Zivilprozess gel­ tend zu machen.126 Die Vorschrift des § 149 ZPO trägt dem Interesse der Parteien an einer zügigen Erledigung des Zivilverfahrens und dem Opferschutz dagegen angemessen Rech­ nung. Im Rahmen seiner Ermessensentscheidung nach § 149 Abs. 1 ZPO hat der Zivilrichter die möglicherweise zu erwartenden Erkenntnisgewinne des Strafpro­ zesses und die mit der Verzögerung verbundenen Nachteile gegeneinander ab­ zuwägen. In Verfahren, in denen eine zügige Entscheidung und eine schnelle Ent­ schädigung des Opfers besonders von Bedeutung sind, wird die Aussetzung daher nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Außerdem hat das Gericht auf Antrag einer Partei nach § 149 Abs. 2 ZPO die Verhandlung fortzusetzen, wenn seit der Aussetzung ein Jahr vergangen ist, sofern nicht gewichtige Gründe für die Auf­ rechterhaltung der Aussetzung sprechen. 123

In diesem Sinne auch Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 698. 124 Vgl. hierzu Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 700 f. 125 Vgl. 2. Teil, B. IV. 1. 126 Spiess, Das Adhäsionsverfahren in der Rechtswirklichkeit, S. 256; Hanel, in: Will, Scha­ densersatz im Strafverfahren, 40, S. 42.

B. Wirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess

239

III. Zusammenfassung Die Aussetzungsvorschriften beider Rechtsordnungen bestehen im Interesse der Prozesswirtschaftlichkeit und ermöglichen dem Gericht, die im Strafprozess ge­ wonnenen Erkenntnisse zu berücksichtigen. Soweit sich die beiden Rechtsord­ nungen dagegen unterscheiden, lässt sich keine der beiden Lösungen als richtig oder falsch bewerten. Denn sofern eine Rechtsordnung ein bestimmtes Anliegen vollständig verwirklicht, wirkt sich dies zulasten anderer schutzwürdiger Interes­ sen aus. So verhindern die französischen Aussetzungsvorschriften und ihre An­ wendung durch die Gerichte zwar widersprüchliche Entscheidungen, wirken sich aber negativ auf die Beschleunigung des Zivilprozesses und den Opferschutz aus. Das deutsche Recht misst im Gegenzug dem Beschleunigungsinteresse der Par­ teien im Zivilprozess erhebliche Bedeutung bei, lässt dabei jedoch voneinander abweichende Entscheidungen befürchten. Da es jeweils um die Abwägung wider­ streitender und gleich gewichtiger Gesichtspunkte geht, ist weder die Entschei­ dung für den einen noch für den anderen Gesichtspunkt von vorneherein richtig oder falsch.

5. Teil

Reformbedarf? Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die Frage nach den Auswir­ kungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess die französische und deutsche Rechtsordnung seit Jahrzehnten beschäftigt und kontrovers diskutiert wird. Beide Lösungen, die die Rechtsordnungen aktuell für das Verhältnis von Straf- und Zi­ vilprozess vorsehen und die sich ungeachtet einiger Gemeinsamkeiten und An­ näherungen doch erheblich unterscheiden, werden aus verschiedenen Gründen kritisiert. Diese Beobachtungen werfen die Frage auf, ob und inwieweit Reform­ bedarf für das deutsche und das französische Recht besteht.

A. Reformbedarf im deutschen Recht? I. Reformbedarf im Hinblick auf die Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zivilprozess? Zunächst stellt sich die Frage, ob das deutsche Recht auch in Zukunft an der Un­ abhängigkeit des Zivilverfahrens im Hinblick auf ein abgeschlossenes Strafverfah­ ren festhalten sollte. Denn wie ein Blick in das französische Recht zeigt, kann die entgegengesetzte Lösung, nämlich die uneingeschränkte Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil, erhebliche Vorteile mit sich bringen. 1. Vorteile einer uneingeschränkten Bindungswirkung des Strafurteils Eine uneingeschränkte Bindungswirkung des Strafurteils im nachfolgenden Zi­ vilprozess könnte widersprüchliche Beurteilungen desselben Sachverhalts durch die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit verhindern und so zur Rechtssicherheit bei­ tragen. Eine erneute Verhandlung und Beweisaufnahme über den im Strafurteil festgestellten Sachverhalt wäre entbehrlich, da dieser bereits im Strafprozess ab­ schließend geklärt wäre. Damit wäre für den Bürger nach Erledigung des Strafver­ fahrens vorhersehbar, wie der Zivilprozess ausgehen wird. Eine Bindungswirkung wäre also geeignet, die durch die Unabhängigkeit des Zivilrichters im deutschen Recht drohenden Widersprüche zwischen Zivil- und Strafurteil, die von einigen

A. Reformbedarf im deutschen Recht?

241

Stimmen in der Literatur für untragbar gehalten werden1, zu vermeiden. Der Bür­ ger könnte sich darauf verlassen, dass der Zivilprozess denselben Ausgang wie der Strafprozess nimmt. Auch aus Opferschutzgesichtspunkten wäre die Einführung einer Bindungswir­ kung des Strafurteils begrüßenswert.2 Sie könnte dem Opfer einer Straftat die Durchsetzung der Ansprüche im Zivilrechtsstreit erleichtern und die durch eine Wiederholung der Beweisaufnahme verursachte, stark kritisierte doppelte Belas­ tung des Opfers vermeiden. Der rechtskräftig verurteilte Beklagte könnte die Rich­ tigkeit des Strafurteils im Zivilprozess nicht mehr in Frage stellen. Schließlich würde eine uneingeschränkte Bindungswirkung auch den Zivilpro­ zess beschleunigen, da das Verbot einer erneuten Sachverhaltsaufklärung eine zü­ gigere Entscheidung des Gerichts zur Folge hätte. Keine der Parteien könnte das Strafurteil durch abweichenden Sachvortrag oder erneute Beweisangebote angrei­ fen. Damit könnte einer doppelten Arbeitsbelastung der Justiz vorgebeugt und dem Bedürfnis nach Einsparungen im Justizhaushalt Rechnung getragen werden. 2. Ablehnung einer uneingeschränkten Bindungswirkung aufgrund nicht hinnehmbarer Nachteile Eine uneingeschränkte Bindungswirkung des Strafurteils wie sie das franzö­ sische Recht kennt, ist jedoch aufgrund ihrer nicht hinnehmbaren Nachteile für das deutsche Recht abzulehnen. Insbesondere verletzt eine Bindungswirkung, die nicht danach unterscheidet, ob die von ihr nachteilig Betroffenen die Möglich­ keit hatten, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern und Beweis anzubieten, den Anspruch auf rechtliches Gehör als elemen­ taren Grundsatz eines rechtsstaatlichen und fairen Verfahrens. Sie hindert die Par­ teien des Zivilrechtsstreits daran, einzelne Elemente des Strafurteils im Zivilpro­ zess in Frage zu stellen, ohne Rücksicht darauf, ob diejenigen, zulasten derer das Strafurteil wirkt, am Strafprozess beteiligt waren und auf das Zustandekommen des Strafurteils Einfluss hatten. Der Entscheidung des Zivilgerichts werden damit unter Umständen Tatsachen zugrundegelegt, zu denen sich die Partei, die sich das Strafurteil entgegenhalten lassen muss, weder im Straf- noch im Zivilverfahren äußern konnte. Da eine undifferenzierte Bindungswirkung des Strafurteils eine ef­ fektive Verteidigung der eigenen Rechte im Zivilprozess ausschließt und den An­ spruch auf rechtliches Gehör verletzt, ist sie in aller Entschiedenheit abzulehnen. Auch eine im französischen Recht diskutierte eingeschränkte Bindungswirkung des Strafurteils, die außer den rechtskräftig Verurteilten auch die Personen erfas­ sen würde, die tatsächlich am Strafprozess beteiligt waren oder diesem jedenfalls hätten beitreten können, wäre im deutschen Recht nicht durchführbar. Denn im 1

Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 3. c) und e). Zu den Nachteilen für den Opferschutz sogleich.

2

242

5. Teil: Reformbedarf?

französischen Strafprozess bestehen sehr viel umfassendere Beteiligungsmöglich­ keiten als im deutschen Strafprozess.3 Daher wäre selbst eine Bindung des Neben­ klägers an das Strafurteil im deutschen Recht nicht möglich, da der Nebenkläger im deutschen Strafprozess4 im Gegensatz zum Verletzten im französischen Straf­ prozess5 keine echte Parteistellung inne hat. Eine derart weitgehende Bindungs­ wirkung des Strafurteils würde darüber hinaus der Verwirklichung der materiellen Wahrheit als elementare Grundlage einer richtigen Entscheidung im Zivilprozess entgegenstehen. Denn nach der französischen Rechtslage hat der Zivilrichter dem Strafurteil auch dann zu folgen, wenn das Strafurteil nachweislich falsch ist oder sich seit Abschluss des Strafverfahrens neue Anhaltspunkte ergeben haben. Auch die Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses, insbesondere der zivilprozessuale Beibringungsgrundsatz sowie die zivilrechtlichen Beweislastregeln, würden durch eine umfassende Bindungswirkung ausgehebelt. Schließlich könnte sich das Straf­ urteil im Falle einer umfassenden Bindungswirkung auch zulasten des Geschädig­ ten auswirken, da der Zivilrichter auch an die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Freispruchs gebunden wäre und die für den Verletzten unter Um­ ständen positiven zivilrechtlichen Beweislastregeln leer liefen. Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass die Nachteile einer umfassenden Bindungswirkung des Strafurteils die Vorteile einer solchen Regelung deutlich überwiegen. Eine um­ fassende Bindungswirkung verstößt gegen elementare Grundsätze des rechtsstaat­ lichen Verfahrens und lässt rechtlich schützenswerte Interessen völlig unberück­ sichtigt. Daher ist die Einführung einer uneingeschränkten Bindungsregel, wie sie das französische Recht vorsieht, entschieden abzulehnen. 3. Asymmetrische Bindungswirkung als alternative Lösung? Da also eine uneingeschränkte Bindungsregel insbesondere wegen des Versto­ ßes gegen das rechtliche Gehör zu Recht abzulehnen ist, die derzeitige Gesetzes­ lage aber gleichzeitig teilweise für unzulänglich erachtet wird, erwägen einige Stimmen in der Literatur neuerdings die Einführung einer sogenannten asymme­ trischen Bindungswirkung des Strafurteils6 als möglichen Kompromiss zwischen 3

Vgl. zu den umfassenden Beteiligungsmöglichkeiten im französischen Strafprozess­ Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 8 ff.; eine Ausweitung der Be­ teiligungsmöglichkeiten Dritter im deutschen Strafprozess ist nicht wünschenswert, da dies gravierende Auswirkungen auf den gesamten Strafprozess hätte, so auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 62; Wigginghaus, Sy­ nergieeffekte zwischen Straf- und Zivilprozess, S. 238, der jedoch eine gemäßigte Erweite­ rung der Beteiligungsmöglichkeiten Dritter am Strafverfahren vorschlägt. 4 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 60; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 161 f. 5 Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 59, 75. 6 Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2062; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurtei­ len im Zivilprozess, S. 174 ff.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 27 ff.

A. Reformbedarf im deutschen Recht?

243

den Vorteilen einer Bindungswirkung und den gleichzeitig zu wahrenden zwingen­ den verfahrensrechtlichen Vorgaben.7 Eine solche asymmetrische Bindungswir­ kung hätte zu Folge, dass nur der rechtskräftig verurteilte Beklagte im Zivilprozess an das Strafurteil gebunden wäre. Die von Vollkommer vorgeschlagene Regelung eines neuen § 406 d StPO sieht beispielsweise vor, dass der Angeklagte im nachfolgenden Zivilverfahren „im Verhältnis zum Verletzten mit der Behauptung nicht gehört [werden solle], dass das Strafverfahren, wie es dem Richter vorgelegen hat, unrichtig entschieden sei. Neue Tatsachen oder Beweismittel [könne] er […] nur vorbringen, soweit sie ihm im Strafverfahren unbekannt waren oder dort nicht eingeführt oder verwertet werden konnten.“8 Eine solche Regelung würde dazu führen, dass nur das verurtei­ lende, nicht aber das freisprechende Erkenntnis Bindungswirkung für den Zivil­ richter entfaltet.9 Auch Völzmann regt die Einführung einer asymmetrischen Bindungswirkung im Wege einer Bindungsnorm sui generis an. Ein neuer § 286 a ZPO soll das Zivil­ gericht an die tragenden tatsächlichen Feststellungen eines den Beklagten verurtei­ lenden rechtskräftigen Strafurteils binden, sofern das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen hat.10 Damit wäre das Straf­urteil nur im Zivilprozess gegen den Beklagten bindend und nur für den Fall, dass dieser im Strafprozess rechtskräftig verurteilt wurde. Schließlich sieht auch Foerster Bedarf für eine asymmetrische Bindungswir­ kung des Strafurteils, die über eine Rechtskrafterstreckung zulasten des Verurteil­ ten und jetzigen Beklagten im Zivilverfahren hergestellt werden soll.11 Nach einem neuen § 260 Abs.  6 StPO soll das rechtskräftige verurteilende Erkenntnis gegen den strafrechtlich Verurteilten im Zivilprozess und im arbeitsgerichtlichen Verfah­ ren gelten, wobei die Bindungswirkung entfallen soll, „wenn das Zivilgericht die Behauptung, ein Wiederaufnahmeantrag gegen das rechtskräftige Strafurteil gemäß § 359 [StPO] sei zulässig und begründet, für zutreffend erachte[t].“12 Auch nach Foersters Idee soll also nur ein verurteilendes Strafurteil Bindungswirkung entfalten und dies nur für den Fall, dass der Verurteilte die beklagte Partei im Zi­ vilprozess ist. Allerdings sollen nach der von ihm vertretenen Rechtskraftwirkung nicht die tragenden tatsächlichen Feststellungen, sondern der Subsumtionsschluss des Strafurteils den Zivilrichter binden.13

7

Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2062; Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  174 ff.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 27 ff. 8 Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2063. 9 Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2062. 10 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 187. 11 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 27 ff. 12 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 456. 13 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 28.

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5. Teil: Reformbedarf?

Durch die Beschränkung der Bindungswirkung auf das verurteilende Erkennt­ nis, die allen Vorschlägen gemein ist, soll dem rechtlichen Gehör und dem Opfer­ schutz entsprochen werden, da sich der Beklagte nicht zulasten des Klägers, dem im Strafprozess selbst als Nebenkläger nicht umfassend rechtliches Gehör gewährt wurde14, auf das freisprechende Strafurteil berufen können soll.15 Außerdem soll die strafrechtliche Verurteilung nur dann Bindungswirkung entfalten, wenn der Verurteilte als beklagte Partei im Zivilprozess auftritt. Dies soll verhindern, dass sich der Verletzte16 oder der Verurteilte17 gegenüber einem Dritten auf ein für ihn günstiges Strafurteil stützen kann. Die vorliegende Untersuchung, die sich mit den Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess aus einer rechts­ vergleichenden Perspektive beschäftigt, hat nicht zum Ziel, die einzelnen Reform­ ansätze zu analysieren und abschließend zu bewerten. Jedoch soll an dieser Stelle zumindest kurz auf die Reformvorschläge eingegangen werden, um beurteilen zu können, ob im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile verglichen mit der derzeitigen Rechtslage tatsächlich Handlungsbedarf besteht. Die vorgeschlagene asymmetrische Bindungswirkung könnte durchaus Vorteile mit sich bringen. Allerdings hat bereits die Untersuchung des Grundsatzes der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“ im französischen Recht gezeigt, dass die mit einer Bindungswirkung verbundenen Vorteile durch eine enge Aus­ legung oder Einschränkung der Regelung gleichzeitig wieder relativiert werden können. Ähnliches könnte für die vorgeschlagenen asymmetrischen Bindungsvor­ schriften gelten. Denn um den Anforderungen des rechtlichen Gehörs Rechnung zu tragen, käme die Bindungswirkung nach diesen Vorschriften nur in bestimm­ ten, eng begrenzten Konstellationen zu Anwendung. Selbst in den Fällen, in de­ nen der Zivilrichter grundsätzlich an das Strafurteil gebunden wäre, sehen sämt­ liche Vorschläge Rückausnahmen vor, in denen die Bindung doch nicht greifen solle. So könnte eine asymmetrische Bindungswirkung zwar widersprüchliche Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit besser als bisher vermei­ den.18 Jedoch wären solche Widersprüche nicht völlig ausgeschlossen, da aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur der Verurteilte an die strafrechtliche Ver­ urteilung gebunden wäre, der Verletzte oder Dritte jedoch nicht. Ein am Strafver­ fahren unbeteiligter Dritter, wie beispielsweise die Versicherung des Verurteil­ 14 Wie oben im 1. Teil unter A. III. 3. bereits ausgeführt, würde auch eine Stellung des Ver­ letzten als Nebenkläger den Anforderungen des rechtlichen Gehörs nicht Rechnung tragen. 15 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  180; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 29; Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2062. 16 Beispielsweise gegenüber der Versicherung des Verurteilten, Völzmann, Die Bindungswir­ kung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 181. 17 Beispielsweise gegenüber seiner eigenen Versicherung, Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 494. 18 In diesem Sinne auch Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 149 f.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 83.

A. Reformbedarf im deutschen Recht?

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ten, könnte weiterhin abweichend vom Strafurteil vortragen und Beweis anbieten. Auch der Freispruch wäre für den Zivilrichter nicht bindend, sodass der Geschä­ digte das Strafurteil im Zivilprozess jederzeit in Frage stellen könnte. Selbst wenn die Bindungswirkung des Strafurteils grundsätzlich anwendbar wäre, soll diese in bestimmten Ausnahmefällen doch nicht gelten. Insoweit wären also widersprüch­ liche Entscheidungen ebenfalls weiterhin möglich. Auch unter prozessökonomi­ schen Gesichtspunkten ist eine asymmetrische Bindungswirkung nicht ausschließ­ lich vorteilhaft. Denn die am Strafprozess unbeteiligten Dritten wären nicht an das Strafurteil gebunden und könnten ihre Position im Zivilprozess durch neuen Sachvortrag und Beweisangebote darlegen. Aber auch in den Fällen, in denen das Strafurteil grundsätzlich zulasten des Verurteilten im nachfolgenden Zivilprozess wirken würde, bergen die vorgesehenen Ausnahmeregelungen ein erhebliches Konfliktpotenzial, sodass zu befürchten ist, dass im Zivilprozess zukünftig nicht mehr darum gestritten würde, wie sich der streitgegenständliche Sachverhalt zu­ getragen hat, sondern darum, ob die Bindungswirkung nun greift oder nicht. Auch für den Opferschutz gilt, dass eine asymmetrische Bindungswirkung dem Verletz­ ten zwar ermöglichen würde, sich im Zivilprozess auf das rechtskräftige Straf­urteil zulasten des Beklagten zu berufen, der dieses grundsätzlich gegen sich gelten las­ sen müsste.19 Jedoch sehen alle Vorschläge bestimmte Ausnahmen vor, in denen die Bindungswirkung doch nicht zum Tragen kommen soll, sodass eine erneute Beweisaufnahme im Zivilprozess nicht von vorneherein ausgeschlossen ist. Da­ rüber hinaus drohen Streitigkeiten über die Anwendbarkeit der Bindungswirkung im konkreten Fall das Zivilverfahren zu verzögern. Dies wäre nicht nur aus Effi­ zienz- sondern auch aus Opferschutzgesichtspunkten problematisch. Da nur die strafprozessuale Verurteilung den Zivilrichter binden würde, wäre aber immerhin sichergestellt, dass sich das Strafurteil nicht zulasten des Geschädigten auswirken könnte. Denn das Gericht wäre, im Gegensatz zum französischen Recht, nicht an den rechtskräftigen Freispruch im Strafprozess gebunden. Die erwogenen Regelungen würden aber jedenfalls den zwingenden verfahrens­ rechtlichen Anforderungen Rechnung tragen und die im französischen Recht auf­ tretenden Nachteile einer umfassenden Bindungswirkung vermeiden. Da sich die Bindungswirkung nur auf ein verurteilendes Erkenntnis beziehen und ausschließ­ lich den im Strafprozess rechtskräftig verurteilten Beklagten erfassen soll, würde dem Anspruch auf rechtliches Gehör der am Strafprozess unbeteiligten Dritten entsprochen.20 Denn durch die Konstruktion einer asymmetrischen Bindungs­ wirkung wäre sichergestellt, dass sich der Verurteilte nicht zulasten des Verletz­ ten oder Dritter, denen im Strafprozess kein rechtliches Gehör gewährt wurde, auf das Strafurteil berufen könnte. Ebenso wenig könnte sich der Geschädigte zulas­ ten anderer Dritter, wie beispielsweise zulasten der Versicherung des Verurteilten, 19

So auch Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 151; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 29. 20 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  180 f.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 258 f.

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5. Teil: Reformbedarf?

auf die Bindungswirkung des Strafurteils berufen. Schließlich würde eine asym­ me­trische Bindungswirkung im Gegensatz zu einer undifferenzierten Bindungs­ wirkung die unterschiedlichen Verfahrensgrundsätze des Zivil- und Strafprozes­ ses nicht völlig unberücksichtigt lassen.21 So würden beispielsweise Diskrepanzen zwischen dem strafprozessualen Zweifelsgrundsatz und zivilprozessualen Be­ weislastregeln dadurch vermieden, dass der rechtskräftige Freispruch gerade keine Bindungswirkung im Zivilprozess entfalten würde.22 Insbesondere die mit den vorgeschlagenen Neuregelungen verbundenen Aus­ wirkungen auf den Strafprozess und auf die Wahrheitssuche im Zivilprozess lassen jedoch erkennen, dass auch die Einführung einer asymmetrischen Bindungswir­ kung kein Allheilmittel darstellt: Eine solche Regelung könnte zu Rückbelastun­ gen im Strafprozess führen. Zwar wird sich der Angeklagte auch nach der aktu­ ellen Rechtslage regelmäßig Gedanken machen, welche Folgen sein Verhalten im Strafverfahren für den nachfolgenden Zivilprozess haben könnte.23 Eine gesetz­ lich normierte Bindungswirkung des Strafurteils zulasten des Verurteilten dürfte aber erst recht Auswirkungen auf das prozessuale Verhalten des Angeklagten, aber auch auf das anderer Verfahrensbeteiligter, wie beispielsweise des Nebenklä­ gers, haben.24 Insbesondere die Institute, die zu einer schnelleren Beendigung des Strafverfahrens und damit zur effizienteren Verfahrensgestaltung führen, könn­ ten durch eine Bindungswirkung beeinträchtigt werden.25 So dürfte das Interesse des Angeklagten an einer Verständigung gem. § 257 c StPO26, die regelmäßig mit einem Geständnis (§ 257 Abs. 2 S. 2 StPO) oder einem Verzicht auf weitere Be­ weisanträge27 einhergeht, sowie an einem Rechtsmittelverzicht28 deutlich zurück­ gehen, wenn sich eine Verurteilung im nachfolgenden Zivilverfahren zu seinen Lasten auswirkt. Auch der Nebenkläger wird im Hinblick auf die mögliche Bin­ dungswirkung des Strafurteils im nachfolgenden Zivilrechtsstreit alle Rechtsmit­ 21 Im Rahmen dieser Untersuchung kann und soll nicht darauf eingegangen werden, wie sich eine asymmetrische Bindungswirkung im Einzelnen auf die verschiedenen Verfahrensgrund­ sätze im Straf- und Zivilprozess auswirken würde, vgl. hierzu ausführlich Völzmann, Die Bin­ dungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 131 ff.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 121 ff. 22 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  134; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 293. 23 Vgl. hierzu unter 4. Teil, A. II. 6. 24 Vgl. hierzu bereits unter 1. Teil, A. IV. 2. d). 25 Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 668; a. A. Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivil­ prozess, S. 143 ff., der diese Befürchtungen für unbegründet hält. 26 Deutscher Anwaltsverein, Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch den Zi­ vilverfahrensrechtsausschuss unter Beteiligung des Verkehrsrechtsausschusses zum JuMoG, S. 25; Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 39 f.; Rönnau, StV 2004, 455, S. 460 f.; Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme der BRAK zu JuMoG und JBeschlG, S. 24. 27 Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257 c, Rn. 14. 28 Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 39; Rönnau, StV 2004, 455, S. 461.

A. Reformbedarf im deutschen Recht?

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tel ausschöpfen, um eine Verurteilung des Angeklagten zu erreichen.29 Der gegen diese Befürchtungen vorgebrachte Einwand, dass es „spekulativ“ sei, dass der An­ geklagte aufgrund der drohenden Bindungswirkung des Strafurteils alle Rechts­ mittel im Strafverfahren ausschöpfen werde30, überzeugt nicht. Ein Angeklagter, der im nachfolgenden Zivilverfahren an das Strafurteil gebunden ist, wird sicher­ lich alles versuchen, um das Urteil und die damit automatisch verbundenen zivil­ rechtlichen Folgen zu beseitigen. Auch der Hinweis darauf, dass der Rückgang von Rechtsmittelverzichten allenfalls die Berufungsinstanz betreffe, da nur dort Tatsachenfeststellungen getroffen würden31, ist verfehlt. Zwar ist Revisionsinstanz keine Tatsacheninstanz. Soweit jedoch Verfahrensfehler geltend gemacht werden, können diese zur Aufhebung der tatsächlichen Feststellungen führen, sofern sie auf dem Verfahrensfehler beruhen, § 353 Abs. 2 StPO. Auch der Einwand, dass die negativen Auswirkungen einer einseitigen Bindungswirkung des Strafurteils auf die Verständigungspraxis nicht vorhersehbar seien32, ist wenig einleuchtend. Sollte sich der Gesetzgeber tatsächlich für die Einführung einer asymmetrischen Bin­ dungswirkung entscheiden, wird der Angeklagte zukünftig noch sehr viel genauer abwägen, ob er die zivilrechtlichen Folgen eines Geständnisses in Kauf nehmen möchte. Eine geständige Einlassung würde sich zwar einerseits strafmildernd aus­ wirken, andererseits wäre damit die Verurteilung im Zivilprozess bereits besiegelt. Auch die Behauptung, dass die asymmetrische Bindungswirkung den Angeklag­ ten von einem falschen Geständnis im Rahmen einer Verständigung bewahre33, wohingegen die aktuelle Rechtslage „durch die Loslösung von Strafverfahren von zivilrechtlichen Konsequenzen“ solche unrichtigen Geständnisse begünstige34, be­ darf der Klarstellung. Wie der Hinweis auf den strafprozessualen Amtsermitt­ lungsgrundsatz in § 257 c Abs. 1 S. 2 StPO verdeutlicht, darf das Gericht die straf­ rechtliche Verurteilung nicht auf ein bloßes „Formalgeständnis“ des Angeklagten stützen35, da die Ermittlung der materiellen Wahrheit ein zentrales Ziel des Straf­ prozesses darstellt.36 Das Gericht darf das Geständnis des Angeklagten seiner Ent­ scheidung nur dann zugrunde legen, wenn es nach Prüfung der Glaubhaftigkeit von seiner Richtigkeit überzeugt ist.37 Allerdings ist die Rechts- und Tatsachenlage im Strafprozess nicht immer eindeutig. Insofern ist das Bild vom Angeklagten, der im Rahmen einer Verständigung bewusst ein falsches Geständnis ablegt, um von einem Strafrabatt zu profitieren, dieses Geständnis im nachfolgenden Zivilprozess 29

Knauer/Wolf, NJW Sonderheft zum 2. Hannoveraner ZPO-Symposium 2003, 33, S. 39. Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 143 mit Fn. 626. 31 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 143. 32 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 145. 33 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 436 geht davon aus, dass sich eine Bindungswirkung positiv auf die zu kritisierende Verstän­ digungspraxis auswirken würde, da eine Bindungswirkung den Untersuchungsgrundsatz stärke und den Angeklagten an falschen Geständnissen hindere. 34 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 436. 35 BGH 3. März 2005, GSSt 1/04, BeckRS 2005, 04409, unter B. I.3.b). 36 Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. IV. 2. a). 37 BGH 3. März 2005, GSSt 1/04, BeckRS 2005, 04409, unter B. I.3.b). 30

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5. Teil: Reformbedarf?

aber dann doch nicht gegen sich gelten lassen will, überzeichnet.38 Dasselbe gilt für das Bild vom Gericht, das ungeachtet seiner eigenen Zweifel die Verurteilung alleine auf das Geständnis stützt, um sich eine weitere Beweisaufnahme zu erspa­ ren.39 Vor allem im Rahmen von komplexen Wirtschaftsstrafsachen, etwa bei In­ solvenzstrafsachen, wird sich der Angeklagte oftmals selbst nicht sicher sein, ob und wenn ja welche Straftaten tatsächlich verwirklicht wurden. In diesem Fall ist es durchaus denkbar, dass er nicht bewusst ein falsches Geständnis ablegt, sondern möglicherweise sogar davon ausgeht, er habe sich strafbar gemacht. Nicht selten lässt sich der Angeklagte außerdem auf eine im Rahmen einer Verständigung ver­ einbarte Gesamtlösung ein, um die beruflichen Folgen einer strafrechtlichen Ver­ urteilung möglichst gering zu halten. So wird zu Recht darauf hingewiesen, dass „ein beschuldigter Geschäftsführer einer GmbH geneigt sein [kann], eine Bestrafung wegen Diebstahls oder Steuerhinterziehung zu akzeptieren, wenn gleichzeitig das Verfahren wegen des Verdachts einer Straftat nach den §§ 283–283 d StGB bzw. Untreue § 266 StGB gem. § 154 bzw. § 154 a StPO eingestellt und damit eine fünfjährige Amtsunfähigkeit nach § 6 Abs. 2 [S. 2 Nr. 3 b, e] GmbHG verhindert wird.“40 Durch die Beschränkung der Verfolgung nach §§ 154, 154  a StPO be­ steht die Gefahr, dass „eine Quelle für Zweifel an der Richtigkeit der übrigen Vorwürfe“41 erlischt. Die asymmetrische Bindungswirkung hätte zur Folge, dass der Verurteilte das Strafurteil im späteren Zivilrechtsstreit, der möglicherweise sehr hohe Schadensersatzansprüche zum Gegenstand hat, gegen sich gelten lassen müsste. In der beschriebenen Konstellation kann der rechtskräftig verurteilte Be­ klagte im Zivilprozess, im Gegensatz zum Strafprozess, aber sehr wohl ein Inter­ esse daran haben, dass Anspruchsgrund- und höhe im Einzelnen von der klägeri­ schen Partei dargetan werden müssen und er sich trotz strafrechtlicher Verurteilung gegen die zivilrechtlichen Ansprüche im Einzelnen verteidigen kann. Es erscheint doch zweifelhaft, ob sich der Kläger im späteren Schadensersatzprozess in dieser Situation auf das Strafurteil berufen und die Verteidigung des Beklagten auf diese Weise erheblich erschweren können soll. Schließlich dient eine Verständigung nicht ausschließlich dem Interesse des Angeklagten, der aufgrund seines Geständ­ nisses von einer milderen Strafe profitieren kann, sondern auch dem Interesse des Opfers, da diesem in der Regel eine weitere Beweisaufnahme erspart bleibt.42 Da­ her ist zu befürchten, dass die strafprozessualen Institute, die zu einer effiziente­ ren Verfahrensgestaltung führen, durch eine asymmetrische Bindungswirkung des Strafurteils beeinträchtigt würden. 38

So aber Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfah­ ren, S. 436 f., 438. 39 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 435. 40 Hiebl/Becker, in: Münchener Anwalts-Handbuch Strafverteidigung, § 32, Rn.  1. Auch eine Verurteilung wegen unterlassener Insolvenzantragstellung nach § 15 a Abs. 4 InsO führt zur Amtsunfähigkeit, § 6 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 a GmbHG. Eine entsprechende Regelung sieht § 76 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AktG vor. 41 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 331. 42 Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 257 c, Rn. 17.

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Darüber hinaus könnte sich eine asymmetrische Bindungswirkung des Straf­ urteils auch zulasten der Verwirklichung der materiellen Richtigkeit im Zivilpro­ zess sowie zulasten der freien Überzeugung des Zivilrichters43 auswirken. Auch wenn die Ermittlung der materiellen Wahrheit ein zentrales Ziel des Strafprozes­ ses darstellt, stimmt der im Strafurteil festgestellte Sachverhalt nicht zwingend mit der objektiven Wahrheit überein. Hinzu kommt, dass gerade für Fälle besonders schwerwiegender Straftaten gem. § 333 StPO, §§ 74, 120, 135 Abs.  1 GVG nur eine Tatsacheninstanz im Strafprozess vorgesehen ist. Die darauffolgende Revi­ sions­instanz zielt weder darauf ab, noch ist sie dazu im Stande, die Tatsachenfest­ stellung zu überprüfen.44 Denn die Revisionsinstanz ist keine Tatsacheninstanz, sondern prüft das Urteil gem. § 337 Abs.  1 und Abs.  2 StPO ausschließlich auf Rechtsfehler. Daher unterliegen die tatsächlichen Feststellungen nur insoweit der Kontrolle durch das Revisionsgericht, als dieses prüft, ob die Feststellungen ord­ nungsgemäß und verfahrensfehlerfrei gewonnen wurden45 und ob die Beweiswür­ digung des Tatrichters Rechtsfehler aufweist.46 Eine unwiderlegbare Bindungswir­ kung des Strafurteils würde dazu führen, dass der Zivilrichter, obwohl er Zweifel an der Richtigkeit des Strafurteils hätte oder nachträglich neue Umstände bekannt würden, an das Strafurteil gebunden wäre. Dies erkennen auch Völzmann, Foerster und Vollkommer und sehen daher Ausnahmen von der asymmetrischen Bindungs­ wirkung des Strafurteils vor. Diese vorgeschlagenen Ausnahmefälle, in denen die Bindungswirkung nicht gelten solle, hängen von der rechtlichen Einordnung der Bindungsvorschrift ab. Vollkommer etwa, der anregt, dass der Angeklagte „im Verhältnis zum Verletzten mit der Behauptung nicht gehört [werden solle], dass das Strafverfahren, wie es dem Richter vorgelegen hat, unrichtig entschieden sei“47, will dem Verurteilten die Möglichkeit eröffnen, neue Tatsachen und Beweismittel vorzubringen, „soweit sie ihm im Strafverfahren unbekannt waren oder dort nicht eingeführt oder verwertet werden konnten.“48 Völzmann, der eine Bindungsnorm sui generis vorschlägt, ist der Ansicht, dass das Zivilgericht dann nicht an die tra­ genden Feststellungen eines den Beklagten verurteilenden rechtskräftigen Straf­ urteils gebunden sein solle, wenn das Gericht Zweifel an der Richtigkeit der Fest­ 43 Foerster ist der Ansicht, dass seine aus der Rechtskraft des Strafurteils begründete Bin­ dungswirkung nicht an der freien richterlichen Beweiswürdigung zu messen sei, Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 333; Völzmann meint zwar, dass eine Bindungswirkung sui generis nicht dem Grundsatz der freien Beweis­ würdigung genügen müsse, jedoch dürfe eine Bindungswirkung des Strafurteils den Zivilrich­ ter trotzdem nicht dazu verpflichten, entgegen seiner persönlichen Überzeugung zu handeln, Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 185. 44 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 329; Geipel, ZAP Fach 13, 1777, S. 1792 unter Hinweis auf ein Zitat Jaguschs. Allerdings können festgestellte Verfahrensfehler zur Auf­ hebung der Feststellungen führen, § 353 Abs. 2 StPO. 45 Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor §§ 333 ff., Rn. 1. 46 BGH Urteil vom 6. Dezember 2007, 3 StR 342/07, juris, Rn. 6; Meyer-Goßner, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 337, Rn. 26, 26 a. 47 Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2063. 48 Vollkommer, ZIP 2003, 2061, S. 2063.

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stellungen habe, wobei eine Beweisaufnahme hierüber unzulässig sei.49 Die von Foerster vertretene, auf einer Rechtskrafterstreckung des Strafurteils beruhende, Bindungswirkung des Strafurteils solle nach seiner Ansicht nicht zum Tragen kommen, „wenn das Zivilgericht die Behauptung, ein Wiederaufnahmeantrag gegen das rechtskräftige Strafurteil gemäß § 359 [StPO] sei zulässig und begründet, für zutreffend erachtet.“50 Mit diesen Ausnahmeregelungen versuchen alle drei Autoren einen angemes­ senen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Einheitlichkeit der Entscheidun­ gen auf der einen Seite und dem Streben nach materieller Wahrheit und Rich­ tigkeit der zivilrichterlichen Entscheidung auf der anderen Seite. Nach der von Völzmann vorgesehenen Ausnahmeregelung soll der Zivilrichter außerdem nicht gegen seine Überzeugung entscheiden müssen. Eine solche Einschränkung sehen die Bindungsvorschriften Foersters und Vollkommers nicht vor. Nach Foerster be­ darf es einer solchen Einschränkung zugunsten der persönlichen Überzeugung des Zivilrichters nicht, da aus seiner Sicht die Rechtskraft des Strafurteils eine erneute Beweiswürdigung durch den Zivilrichter von vorneherein ausschließe, sodass die Beweiswürdigungsfreiheit des Zivilrichters auch nicht verletzt sein könne.51 Den­ noch stellt auch seine vorgeschlagene Ausnahme letztlich auf die Überzeugung des Zivilrichters ab, der zu entscheiden habe, ob er die Behauptung, ein Wieder­ aufnahmeantrag gegen das Strafurteil sei zulässig und begründet, für zutreffend erachte. In Anbetracht der von den Bindungsvorschriften vorgesehenen Ausnah­ men lässt sich eine interessante Beobachtung machen. Die Einführung einer a­ sym­ metrischen Bindungswirkung soll widersprüchliche Beurteilungen desselben Le­ benssachverhalts durch die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit vermeiden und durch die Bindung des Zivilrichters an das Strafurteil zu mehr Rechtssicherheit beitra­ gen. Die Befürworter einer Bindungswirkung erkennen jedoch gleichzeitig, dass sich eine uneingeschränkte Bindungswirkung zulasten der Verwirklichung der ma­ teriellen Richtigkeit auswirken könnte, da der Zivilrichter unter Umständen auch an ein Fehlurteil gebunden wäre. Daher sehen sie Ausnahmen vor, in denen die Bindungswirkung nicht eingreifen soll. Diese Ausnahmeregelungen, die den Zivil­ richter dazu berechtigen, in bestimmten Fällen doch vom Strafurteil abzuweichen, laufen aber wiederum der Verwirklichung der eigentlich angestrebten Ziele, näm­ lich der Einheitlichkeit gerichtlicher Entscheidungen und der Rechtssicherheit zu­ wider. Der Blick auf die jeweils vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen zeigt, wie schwierig der Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und materieller Richtigkeit der Entscheidung ist. Beiden Grundsätzen kann nicht gleichzeitig vollumfänglich Rechnung getragen werden. Denn je mehr das Ziel der Beständigkeit und Vorher­ sehbarkeit staatlicher Entscheidungen betont wird, desto weiter rückt das Streben nach Verwirklichung der materiellen Wahrheit im Zivilprozess in den Hintergrund. Dasselbe gilt für den umgekehrten Fall. 49

Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S. 194. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 505. 51 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 333. 50

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Sofern nach Völzmann Zweifel des Gerichts an der Richtigkeit der strafgericht­ lichen Feststellungen genügen sollen, um eine Bindungswirkung zulasten des Angeklagten entfallen zu lassen, fragt man sich zunächst, in welchen Fällen das Gericht solche Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen haben soll. Hier­ für besteht kein Maßstab52, da das Strafurteil ja nicht der freien richterlichen Be­ weiswürdigung unterliegen soll. Indem auf die Zweifel des Gerichts abgestellt wird, obliegt es außerdem letztlich dem Zivilgericht, darüber zu entscheiden, ob die Bindungswirkung des Strafurteils greifen soll oder nicht.53 Diese Ausnahme­ regelung hätte zur Folge, dass für den Bürger trotz Bindungswirkung des Strafur­ teils nicht vorhersehbar wäre, ob der Zivilrichter tatsächlich zur selben Entschei­ dung wie der Strafrichter kommt.54 Eine solche Ausnahmeregelung würde also trotz Bindungswirkung des Strafurteils die Entscheidung des Zivilrichters nicht unbedingt ­prognos­tizier­barer machen. Dabei soll die Einführung einer Bindungs­ vorschrift doch gerade die nach der aktuellen Rechtslage drohenden widersprüch­ lichen Entscheidungen zwischen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit verhindern und für mehr Vorhersehbarkeit sorgen. Hinzu kommt, dass nach der vorgeschlagenen Neuregelung eine Beweisaufnahme, die darauf gerichtet ist, Zweifel des Gerichts an der Richtigkeit der Feststellungen überhaupt erst zu wecken, unzulässig sein soll. Damit wäre eine neue Beweisaufnahme im Zivilprozess also grundsätzlich ausgeschlossen. Nur wenn das Gericht in Anbetracht des Strafurteils selbst an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen zweifeln würde, käme die Bindungs­ wirkung nicht zum Tragen und eine erneute Beweisaufnahme wäre möglich. Eine Ausnahme, die darin besteht, das Strafurteil selbst ohne weitere Beweismittel auf seine Überzeugungskraft zu prüfen, stellt jedoch keinen optimalen Maßstab dar, um Fehlurteile zu erkennen. Foerster und Vollkommer legen dagegen einen Maßstab fest, anhand dessen der Zivilrichter zu beurteilen hat, wann der Wahrheit als notwendiges Element der ma­ teriellen Richtigkeit im Einzelfall Vorrang vor der Rechtssicherheit gebühren soll. Vollkommer lässt eine Durchbrechung der Bindungswirkung nur zu, wenn der rechtskräftig Verurteilte nach Abschluss des Strafverfahrens neue Tatsachen oder Beweismittel vorbringen kann. Foerster schließt die asymmetrische Bindungs­ wirkung in den Fällen aus, in denen aus der Sicht des Zivilrichters ein Wieder­ aufnahmeantrag gegen das Strafurteil zulässig und begründet wäre. Wie bereits dargestellt, lassen beide Ausnahmeregelungen neuen Streit um die Einschlägig­ keit der Bindungswirkung im Zivilprozess befürchten und laufen damit gleichzei­ tig den durch die Bindungswirkung erstrebten verfahrensökonomischen Vorteilen zuwider. Insbesondere eine Regelung, die darauf abstellt, ob das Zivilgericht die 52 So auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfah­ ren, S. 397, der den Begriff der Zweifel als Quelle von Rechtsunsicherheit sieht. 53 In diesem Sinne auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfol­ gende Zivilverfahren, S. 397. 54 Vgl. auch Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilver­ fahren, S. 397.

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5. Teil: Reformbedarf?

Behauptung für zutreffend hält, dass ein strafprozessualer Wiederaufnahmeantrag zulässig und begründet sei, dürfte zur Folge haben, dass der im Strafprozess noch ausstehende oder bereits erfolgte Streit um die Wiederaufnahme des Verfahrens in den Zivilprozess verlagert würde. Trotz der vorgeschlagenen Ausnahmeregelun­ gen könnten beide Vorschläge gegenüber der derzeitigen Rechtslage zumindest zu mehr Rechtssicherheit führen. Die Ausnahmeregelungen lassen zwar auch wei­ terhin widersprüchliche Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zu, geben dem Zivilrichter aber immerhin konkret vor, in welchen Fällen er nicht an das Strafurteil gebunden ist. Gleichzeitig räumen sie der materiellen Wahrheit in bestimmten, genau festgelegten Fällen ausnahmsweise einen Vorzug gegenüber der Rechtssicherheit ein. Es erscheint jedoch nicht überzeugend, dass die Ver­ wirklichung der materiellen Wahrheit auf diese eng begrenzten Ausnahmefälle be­ schränkt sein soll. Das Abstellen auf die Wiederaufnahmegründe würde dazu führen, dass die Bin­ dungswirkung immer nur dann nicht greifen würde, wenn sich das Strafurteil aus einem außerhalb der Person des Richters liegenden Umstand nachträglich als un­ richtig herausstellt. Der Irrtum des Strafrichters würde die Bindungswirkung da­ gegen unberührt lassen, es sei denn, dieser wäre explizit durch neue Tatsachen oder durch eine rechtskräftige Verurteilung des Zeugen oder Sachverständigen, der falsch ausgesagt hat, belegt. So müsste der Beklagte etwa ein Fehlurteil, das auf einer Falschaussage oder auf einem fehlerhaften Gutachten beruht, auch im Zivilprozess gegen sich gelten lassen, solange der Zeuge nicht wegen eines Aus­ sagedelikts rechtskräftig verurteilt wurde, §§ 359 Nr. 2, 364 S. 1 StPO, oder neue Tatsachen bzw. Beweismittel für die Unglaubwürdigkeit des Zeugen bzw. für die Fehlerhaftigkeit des Gutachtens zur Verfügung stehen, §§ 359 Nr. 5, 364 S. 2 StPO. Ferner müsste der Zivilrichter dem Strafurteil auch dann folgen, wenn dieses auf einem evidenten Rechtsfehler beruht.55 Vor allem aber in Fällen, in denen die Be­ weiswürdigung des Tatrichters fehlerhaft ist, bestünde die Gefahr, dass sich die­ ser Fehler im Zivilprozess fortsetzt56, da die Kontrolle des Revisionsgerichts, die sich auf echte Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung beschränkt57, häufig nicht in der Lage ist, diese „Sachverhaltsverfälschung“58 aufzudecken.59 Auch im Wieder­ aufnahmeverfahren können solche Beweiswürdigungsfehler – solange keine neuen Tatsachen oder Beweismittel zur Verfügung stehen – nicht angegriffen werden.60 Die vorgeschlagenen Ausnahmen von der Bindungswirkung, die auf der einen Seite zu einem höheren Maße an Rechtssicherheit beitragen, indem sie festlegen, in 55

Gössel, in: Löwe-Rosenberg, § 359, Rn. 75; Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 344. 56 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 338 f. 57 BGH Urteil vom 6. Dezember 2007, 3 StR 342/07, juris, Rn. 6; Meyer-Goßner, in: MeyerGoßner/Schmitt, § 337, Rn. 26. 58 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 339. 59 In diesem Sinne auch Geipel, ZAP Fach 13, 1897, S. 1900. 60 Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 359, Rn. 25; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, § 359, Rn. 98.

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welchen Fällen der Zivilrichter vom Strafurteil abweichen darf, tragen auf der an­ deren Seite der materiellen Wahrheit nur in sehr engem Rahmen Rechnung. Hier­ gegen lässt sich auch nicht einwenden, dass „es insoweit – neben den Wideraufnahmegründen [sic] – an einem Maßstab zur Beurteilung der Frage richtig oder falsch fehl[e]“61. Denn die Wiederaufnahmegründe zählen lediglich bestimmte Fallkonstellationen auf, in denen ein Fehlurteil hinlänglich wahrscheinlich ist.62 In solchen Fällen soll ausnahmsweise die Rechtskraft des Urteils durchbrochen wer­ den. Die Wiederaufnahmegründe sagen nichts darüber aus, ob das Urteil im Ergeb­ nis tatsächlich falsch oder richtig ist, sondern legen lediglich Fälle fest, in denen besonders gewichtige Anhaltspunkte für ein Fehlurteil bestehen. Diese Frage klärt letztlich erst das nachfolgende Gericht, das über dieselbe Sache nochmals neu ver­ handelt.63 Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Zwar ist im deutschen Recht durchaus anerkannt, dass die Rechtskraft von Urteilen und damit der in Rechtskraft erwach­ sene Urteilsinhalt nur beim Vorliegen der abschließend aufgezählten Wiederauf­ nahmegründe der jeweiligen Prozessordnung beseitigt werden kann. In Rechtskraft erwächst jedoch, völlig unabhängig von der jeweiligen Gerichtsbarkeit, immer nur der Tenor und nie die Entscheidungsgründe. Insbesondere der Sachverhalt, den das erste Gericht seiner Entscheidung nach eigener Überzeugung zugrunde legt, ist von der Rechtskraft des Urteils gerade nicht erfasst und daher für den zweiten Richter nicht bindend.64 Dies gilt sowohl für den Straf-65 als auch für den Zivilpro­ zess.66 Nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung hat das zur Entscheidung berufene Gericht den tatsächlichen Geschehensablauf jeweils nach seiner eigenen freien Überzeugung zu beurteilen (§§ 261 StPO, 286 Abs. 1 ZPO). Um von der Einschätzung des Vorrichters abzuweichen, müssen keine besondere Gründe und schon gar keine Wiederaufnahmegründe vorliegen. Daher ist es zwar sachgerecht, eine Durchbrechung der Rechtskraft nur in außerordentlichen Fällen zuzulassen. Soweit es aber um die tatsächliche Würdigung eines Sachverhalts geht, muss diese generell dem jeweiligen Richter vorbehalten bleiben. Eine Bindung an tatsächliche Feststellungen eines Urteils ist im deutschen Recht systemwidrig.67 Soweit Vor­ fragen ausnahmsweise in Rechtskraft erwachsen können, wie beispielsweise im­ 61

Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 231 f., Fn. 89. 62 Schmidt, in: Karlsruher Kommentar, Vor § 359, Rn. 7. 63 Schmidt, in: Karlsruher Kommentar, Vor § 359, Rn. 7. 64 Foerster, der die Bindungswirkung des Strafurteils für den Zivilprozess als Rechtskraft­ wirkung einordnet, muss freilich folgerichtig auf die Wiederaufnahmegründe abstellen. 65 1. Teil, A. I. 3. a). 66 Vgl. hierzu in der Einleitung. 67 Völzmann, Die Bindungswirkung von Strafurteilen im Zivilprozess, S.  111 f.; Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S.  251, ist zwar der Ansicht, dass die Vorschriften des § 118 Abs. 3 BRAO und § 57 Abs. 1 BDG einen „Fremd­ körper“ im deutschen Verfahrensrecht darstellen, vertritt aber gleichzeitig die Auffassung, dass die Rechtskraft des Strafurteils auch den „zugrundeliegenden Lebenssachverhalt“ erfasse und im Strafurteil „festgestellt [werde], daß der Verurteilte die Tat, wegen der er bestraft wird, begangen hat“.

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5. Teil: Reformbedarf?

Zivilprozess das im Rahmen einer Zwischenfeststellungsklage gem. § 256 Abs. 2 ZPO rechtskräftig festgestellte Rechtsverhältnis, handelt es sich dabei immer um Rechtsverhältnisse und nie um einzelne Tatsachen. Diese kurze Darstellung der Reformvorschläge, die allesamt eine asymmetrische Bindungswirkung des Strafurteils erwägen, lässt erkennen, wie schwierig der Ausgleich zwischen angestrebter Rechtssicherheit und materieller Wahrheit ist. Sie zeigt auch, dass die asymmetrische Bindungswirkung zwar in einigen Punk­ ten durchaus vorteilhaft wäre, gleichzeitig jedoch negative Auswirkungen auf den Straf- und Zivilprozess befürchten lässt. Diese Schwierigkeiten werfen die Frage auf, ob die Reformansätze gegenüber der derzeitigen Rechtslage tatsächlich vor­ zugswürdig sind. 4. Kein Reformbedarf im deutschen Recht Die derzeitige Rechtslage wird vor allem dafür kritisiert, dass sie widersprüch­ liche Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zulässt und effi­ zienz- und prozessökonomische Erwägungen sowie Opferschutzgesichtspunkte nicht hinreichend berücksichtigt. Die beiden letzten Punkte hängen insoweit zu­ sammen, als vor allem die Belastung des Opfers durch eine wiederholte Beweis­ aufnahme im Zivilprozess kritisch gesehen wird. Die aktuelle Rechtslage wäre jedenfalls dann reformbedürftig, wenn sie elemen­ tare rechtsstaatliche Grundsätze, deren Verwirklichung zur Sicherung eines fairen Verfahrens unerlässlich ist, verletzen würde. Wie oben bereits dargestellt, verstößt die derzeitige Lösung aber nicht gegen solche zwingenden Verfahrensrechte, da sie den Anforderungen des rechtlichen Gehörs genügt.68 Die mit einer erneuten Sach­ verhaltsaufklärung im Zivilprozess einhergehenden Doppelbelastungen für Justiz und Opfer mögen zwar zu kritisieren sein, verletzen jedoch keine zentralen rechts­ staatlichen Verfahrensrechte. Auch der Grundsatz der Rechtssicherheit gilt nicht absolut, sondern ist gegen den ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grund­ satz der materiellen Gerechtigkeit abzuwägen.69 Des Weiteren bestünde in jedem Fall Reformbedarf, wenn eine Lösung denkbar wäre, die ausschließlich Vorteile hätte und gegenüber der derzeitigen Rechtslage keine Nachteile befürchten ließe. Wie ein Blick auf die diskutierten Reformbestre­ bungen zeigt, hätte eine asymmetrische Bindungswirkung durchaus Vorteile, da sie die Anzahl widersprüchlicher Entscheidungen zwischen Zivil- und Strafgerichts­ barkeit zumindest verringern würde und zu einer gewissen Beschleunigung des Zivilprozesses beitragen könnte, freilich vorbehaltlich des Konfliktpotenzials, das vor allem mit den Ausnahmeregelungen einhergeht. Die vorgeschlagenen Regelun­ 68

Vgl. hierzu unter 4. Teil, A. II. 5. Vgl. hierzu ausführlich unter 1. Teil, A. I. 3. h) cc).

69

A. Reformbedarf im deutschen Recht?

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gen einer asymmetrischen Bindungswirkung mit Rückausnahmen würden jedoch nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile gegenüber der aktuellen Rechtslage mit sich bringen. Indem sie vorab festlegen, in welchen Fällen das Bedürfnis nach ein­ heitlicher Rechtsprechung gegenüber dem Streben nach materieller Wahrheit im Zivilprozess zurücktreten muss, nehmen sie in Kauf, dass in allen anderen Fällen, in denen das Strafurteil falsch ist, diese Fehlerhaftigkeit auch in den ­Zivilprozess hineinwirkt. Je mehr sich das Pendel also Richtung Einheitlichkeit und Rechts­ sicherheit bewegt, umso mehr entfernt es sich von der materiellen Richtigkeit. Die derzeitige Rechtslage betont stattdessen das Bedürfnis nach einer sachlich richti­ gen, der materiellen Wahrheit entsprechenden Entscheidung im Einzelfall und lässt es in diesem Interesse zu, dass derselbe Sachverhalt, der bereits Gegenstand des Strafprozesses war, im nachfolgenden Zivilprozess vollumfänglich neu aufgeklärt wird. Denn es wird für nicht hinnehmbar erachtet, dass sich ein unschuldig Ver­ urteilter vor dem Zivilrichter nicht gegen die unberechtigten Vorwürfe verteidi­ gen können soll und so das Unrecht im Zivilprozess fortleben würde. Da sich jede, selbst durch Ausnahmen durchbrochene, Bindungsvorschrift im Einzelfall zulas­ ten der materiellen Richtigkeit auswirken könnte, ist keine Lösung ersichtlich, die gegenüber der derzeitigen Rechtslage ausschließlich Vorteile hätte. Nachdem die derzeitige Rechtslage also weder gegen zwingende rechtsstaat­ liche Verfahrensrechte verstößt noch eine Lösung erkennbar ist, die gegenüber der aktuellen Lösung keine Nachteile hätte, stellt sich die Frage, ob dennoch Re­ formbedarf besteht. Diese Frage lässt sich jedoch nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten. Denn die Antwort hängt davon ab, wie die Abwägung zwischen Einheitlichkeit und Rechtssicherheit auf der einen Seite und materieller Richtig­ keit auf der anderen Seite ausfällt. Die Entscheidung ist aber nicht von vornehe­ rein vorgegeben, da beide Prinzipien als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzis Verfas­ sungsrang haben.70 Stattdessen handelt es sich um einen unauflösbaren Konflikt, da dem einen Grundsatz immer nur zulasten des anderen Grundsatzes Rechnung getragen werden kann. Daher ist es durchaus nachvollziehbar, dass einige Stim­ men in der Literatur der Rechtssicherheit mehr Bedeutung beimessen wollen. Dennoch erscheint es vorzugswürdig, im Einklang mit der derzeitigen Rechts­ lage dem Streben nach einer materiell richtigen Entscheidung im Zivilprozess un­ eingeschränkten Vorrang einzuräumen. Aktuell können sowohl das Strafurteil, als auch einzelne Beweisergebnisse des Strafprozesses, wie beispielsweise Zeugen­ aussagen und Sachverständigengutachten, im Zivilprozess verwertet werden. Auf Antrag einer Partei sind auch die bereits im Strafprozess gehörten Zeugen erneut einzuvernehmen. Damit verfügt der Zivilrichter grundsätzlich über dieselben Er­ kenntnisse wie der Strafrichter, die nun seiner freien Beweiswürdigung gem. § 286 Abs. 1 ZPO unterliegen. Auf diese Weise kann das Zivilgericht einerseits von den in Einzelfällen besseren Methoden der Wahrheitsermittlung im Strafprozess pro­ fitieren. Hat es jedoch aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme Zweifel an 70

Vgl. hierzu unter 1. Teil, A. I. 3. h) cc).

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5. Teil: Reformbedarf?

der ­Richtigkeit der Entscheidung, soll es andererseits von dieser Entscheidung ab­ weichen können und zwar unabhängig davon, ob sich neue Erkenntnisse ergeben haben oder ob neue Beweismittel vorliegen.71 Die vorbehaltslose erneute Sach­ verhaltsaufklärung im Zivilprozess, die nicht davon abhängt, ob das Gericht be­ reits vor der Beweisaufnahme Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der strafrichterlichen Feststellungen hat oder ob Wiederaufnahmegründe vorlie­ gen, schafft dabei überhaupt erst die Voraussetzungen dafür, eventuelle Fehler auf­ zudecken. Nicht selten dürften solche Fehler im Zivilprozess tatsächlich offen ge­ legt werden.72 Die im Wege der erneuten Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozess gewonnenen Erkenntnisse können wiederum im Strafprozess genutzt werden, um der materiellen Wahrheit ein Stück weit näher zu kommen, denn „das Anliegen, die Wahrheit zu erfassen, schläft nicht an der fiktiven Zäsurgrenze der Rechtskraft ein.“73 Die Abschaffung der Vorschriften über die bindende Kraft strafgericht­ licher Urteile vor knapp 140 Jahren wurde als Triumph der zivilrichterlichen Be­ weiswürdigungsfreiheit gefeiert.74 Für eine Rückkehr „zurück zu längst überwundenen Rechtsregeln“75 bestehen daher zur Zeit keine durchschlagenden Gründe.

II. Reformbedarf im Hinblick auf die Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess? Auch im Hinblick auf die gegenwärtige Regelung der Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess besteht kein Reformbedarf. Wie ein Blick in das französische Recht zeigt, ist die Vorschrift des § 149 Abs. 1 ZPO, wel­ che die Aussetzung des Verfahrens in das Ermessen des Zivilrichters stellt, sach­ gerecht. Eine durch die Einleitung des Strafverfahrens bedingte Aussetzungs­ pflicht, wie sie etwa Art. 4 Abs. 2 CPP vorsieht, stellt hierzu keine erwägenswerte Alternative dar. Denn eine solche Pflicht trägt zwar zur Verhinderung wider­ 71 Dass freilich auch die Beurteilung des Zivilrichters falsch sein kann, sodass also im Ergeb­ nis das Strafurteil richtig und das Zivilurteil falsch ist, steht einer erneuten Sachverhaltsaufklä­ rung im Zivilprozess nicht von vorneherein entgegen (a. A. Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 232 f.). Denn erstens ist die Frage, ob das Zivilurteil falsch ist, im Wege der zivilprozessualen Rechtsmittel zu klären. Zweitens be­ seitigt die abweichende Beurteilung desselben Sachverhalts im Zivilprozess weder die Rechts­ kraft des Strafurteils noch hebt es die Entscheidung des Strafrichters auf oder ändert diese ab. Sie ist als Folge der freien richterlichen Beweiswürdigung hinzunehmen. 72 Geipel, ZAP Fach 13, 1777 etwa ist der Auffassung, dass der Zivilprozess dem Strafpro­ zess bei der Sachverhaltsaufklärung sogar überlegen sei. 73 Bock/Eschelbach/Geipel u. a., GA 2013, 328, S. 330; auch Geipel, ZAP Fach 13, 1897 weist darauf hin, dass die im Zivilprozess gewonnene Erkenntnisse im strafprozessualen Wie­ deraufnahmeverfahren nutzbar gemacht werden können. 74 Vollkommer, ZIP 2003, 2061; Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-­ Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 665. 75 Beulke, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, 663, S. 665.

B. Reformbedarf im französischen Recht?

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sprüchlicher Entscheidungen zwischen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit bei.76 Sie birgt jedoch Missbrauchsgefahren und berücksichtigt weder das Interesse an der Beschleunigung des Zivilprozesses noch den Opferschutz ausreichend.77 Denn selbst wenn die Klage offensichtlich begründet ist, erhält der Verletzte erst nach Beendigung des Strafverfahrens einen vollstreckbaren Titel im Zivilprozess. Die Regelungen des § 149 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO beachten hingegen das Interesse der Parteien an einer zügigen Erledigung des Zivilverfahrens und den Opferschutz in angemessener Weise. Im Rahmen seiner Ermessensentscheidung hat der Zivil­ richter zwischen den Vorteilen durch die Erkenntnisgewinne des Strafprozesses und den mit der Verzögerung der Entscheidung im Zivilprozess einhergehenden Nachteilen abzuwägen. Ist absehbar, dass das Strafverfahren keine sinnvollen Be­ weisergebnisse für den Zivilrechtsstreit liefern wird, etwa weil diese aufgrund der Beweislastverteilung im Zivilprozess unerheblich sind, darf das Verfahren nicht ausgesetzt werden.78 Sogar die Vertreter einer asymmetrischen Bindungswirkung wollen mit Rücksicht auf das Beschleunigungsinteresse und die abweichenden Beweislastregelungen im Zivilprozess an der fakultativen Verfahrensaussetzung­ festhalten.79 Da die Ermessensvorschrift des § 149 Abs. 1 ZPO einen sachgerech­ ten Ausgleich zwischen Prozesswirtschaftlichkeit und Beschleunigung vorsieht, ist insoweit ebenfalls keine Neuregelung angezeigt.

B. Reformbedarf im französischen Recht? Dagegen besteht im Hinblick auf die zu Recht stark kritisierte Vorrangstellung des Strafprozesses gegenüber dem Zivilprozess im französischen Recht auch wei­ terhin Reformbedarf. Vor allem aufgrund der Unvereinbarkeit des Prinzips der „autorité ‚erga omnes‘ de la chose jugée au pénal sur le civil“ mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör wird sich das französische Recht in Zukunft mit der Legi­ timität der „erga omnes“-Wirkung und des Grundsatzes an sich auseinanderzuset­ zen haben. Allerdings ist dabei noch offen, ob es zu einer völligen Aufgabe des Grundsatzes, wie von manchen Stimmen gefordert80, oder lediglich zu einer Mo­ difikation kommen wird. Denn die Unvereinbarkeit der „erga omnes“-Wirkung des Strafurteils mit dem rechtlichen Gehör Dritter muss nicht zwingend zu einer 76

Vgl. hierzu unter 4. Teil, B. II. 1. Vgl. hierzu unter 4. Teil, B. II. 1. und 2. 78 Vgl. hierzu unter 1. Teil, B. III. 79 Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren, S. 425, jedoch soll der Antrag auf Fortsetzung des Zivilverfahrens gem. § 149 Abs. 2 ZPO nur von der Person gestellt werden können, zu deren Gunsten die Bindungswirkung des Strafurteils eingreifen würde; Völzmann, der ebenfalls eine asymmetrische Bindungswirkung vorschlägt, geht auf § 149 ZPO nicht ausdrücklich ein. 80 So bereits Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 434; Chavanne, RSC 1954, 239, S. 256, der sich für eine vollkommene Unabhängigkeit beider Verfahren aus­ spricht; Viney, Introduction à la responsabilité, S. 351 f. 77

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5. Teil: Reformbedarf?

vollständigen Abschaffung des Grundsatzes führen. Vielmehr könnten die Rechte Dritter auch dadurch abgesichert werden, dass das Prinzip um eine subjektive Komponente ergänzt würde81, wie es die Cour de cassation in ihren neueren Ent­ scheidungen bereits angedeutet hat. Nach anderen Stimmen in der Literatur soll dem Strafurteil dagegen zukünftig eine dem Gegenbeweis zugängliche Richtigkeitsvermutung zukommen.82 Diese vermittelnde Lösung soll dafür sorgen, dass der Zivilrichter im Einzelfall der­ materiellen Wahrheit Vorrang vor der Rechtssicherheit und Widerspruchsfreiheit einräumen kann.83 Dies wirft jedoch die Frage auf, was passieren soll, wenn der Zivilrichter tatsächlich anders entscheiden und so das Strafurteil indirekt in Frage stellen sollte. Ein solcher Widerspruch könnte wie im deutschen Recht hingenom­ men werden. Einige Stimmen in der französischen Literatur halten eine Diskre­ panz zwischen Straf- und Zivilurteil jedoch weiterhin für inakzeptabel und schla­ gen deshalb einen Rechtsbehelf gegen das Zivilurteil84 oder das Strafurteil85 vor. Aber auch die Verpflichtung des Zivilrichters zur Aussetzung von Zivilverfah­ ren, die durch eine strafbare Handlung ausgelöste Schadensersatzansprüche des Verletzten zum Gegenstand haben, stößt aufgrund der damit einhergehenden Ver­ zögerung des Zivilverfahrens und der nachteiligen Auswirkungen auf den Op­ ferschutz auf Kritik. Daher wird von einem Teil der Literatur vorgeschlagen, das Prinzip „le criminel tient le civil en l’état“ vollständig abzuschaffen und die Ver­ fahrensaussetzung stattdessen in das Ermessen des Zivilrichters zu stellen.86 Es darf damit gespannt darauf gewartet werden, ob und wenn ja wie sich das französische Recht diesem Reformbedarf stellen wird.

81

Botton, Contribution à l’étude de l’autorité de la chose jugée au pénal sur le civil, S. 275 ff. Stefani, RID pén. 1955, 473, S. 501; Andriot-Leboeuf, RRJ 2000, 1205, S. 1234; Viney, In­ troduction à la responsabilité, S. 297 und Valticos, L’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, S. 434 halten eine solche Lösung für möglich; Tellier, RSC 2009, 797, S. 815; ­Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 741 ff.; Payan, Le sursis à s­ tatuer du juge civil après mise en mouvement de l’action publique, S. 173 f., der jedoch den Gegen­ beweis nur zulassen will, wenn dieser ohne Verschulden der Partei erst im Zivilprozess erhoben wird. 83 Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 742. 84 Tellier, RSC 2009, 797, S. 805. 85 In diesem Sinne Wittmann, Les interférences entre instances civile et pénale parallèles, S. 756. 86 Magendie, Célérité et qualité de la justice – La gestion du temps dans le procès, S. 121; Tellier, RSC 2009, 797, S. 802 ff. 82

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Sachverzeichnis Abschaffung –– der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“  179, 258 –– der „unité des fautes“  158 –– des Prinzips „le criminel tient le civil en l’état“  194, 258 Absicherung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“  186 absolute Bindungswirkung  92, 130, 134, 210, 211 Abwägungsentscheidung  116–117, 191 action à fins civiles  118–119, 124, 142, 149, 175, 189–194, 204, 233, 236 action civile 118–121, 124, 125, 142–143, 147, 164, 174, 175, 176, 181, 183–189, 220, 221, 222, 233, 236 –– strafprozessuale action civile  118–120 –– zivilprozessuale action civile  118–119 action publique  174, 175, 176 Adhäsionsverfahren  26, 59, 60, 111, 112, 119, 214 Akteneinsichtsrecht  26, 106, 222 Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen  207 Amtsermittlungsgrundsatz siehe  Untersu­ chungsgrundsatz ancien droit  168 angemessene Frist  25, 189, 238 Anklagemonopol  120, 187, 188, 228 Ansehen der Justiz  29, 110–111, 172, 207 Antragsrecht 222 Arbeitsbelastung der Justiz  236, 241 Arbeitsentwurf zur Beschränkung der „auto­ rité de la chose jugée au pénal sur le civil“ auf „actions civiles“  164 Arbeitsersparnis  108, 228 arbeitsgerichtliches Verfahren  124, 189, 238, 243 Arzthaftung  99, 116 asymmetrische Bindungswirkung 103, 111, 216, 242–254 Aufhebung der Aussetzung  115

Aussetzung des Verfahrens siehe Verfahrens­ aussetzung Aussetzungsantrag  183, 187, 190, 192, 204, 235, 236 Aussetzungsbefugnis siehe Aussetzungsermes­ sen Aussetzungsermessen  113–117, 162–164, 189–194 (siehe auch Verfahrensausset­ zung) Aussetzungspflicht  147–150, 183–189, 233 (siehe auch Verfahrensaussetzung) Autorität der Gerichte  110, 172, 175 autorité de la chose jugée au civil sur le civil  30 autorité de la chose jugée au criminel sur le criminel 32 autorité de la chose jugée au pénal sur l’ad­ ministratif 149 autorité de la chose jugée au pénal sur le civil  118, 121–179 Bedeutungsverlust des Grundsatzes der „auto­ rité de la chose jugée au pénal sur le civil“  156–166 Beibringungsgrundsatz  57, 78, 97–98 Berechenbarkeit 210 berechtigtes Interesse  190, 235 Berufungsinstanz  176, 247 Beschleunigungsgrundsatz  25, 105, 188, 191, 226, 228, 237 Beständigkeit  51–52, 172, 210–211, 250 Beweisantrag  65, 215, 221 Beweisantragsrecht 222 Beweiskraft  47, 87, 154 –– formelle Beweiskraft  82 Beweislast 69 –– Beweisführungslast siehe  subjektive Be­ weislast –– Feststellungslast 69 –– objektive Beweislast  69 –– subjektive Beweislast  69

Sachverzeichnis Beweislastregeln 98–100 Beweisregeln  47, 61 Beweisverbote 100–101 Beweiswirkung siehe Beweiskraft Beweiswürdigungsfehler 252 Beweiswürdigungsregel  62, 81–85 Bewertung –– Bewertungskriterien  206, 232 –– der Auswirkungen eines abgeschlossenen Strafprozesses auf den nachfolgenden Zi­ vilprozess 206–232 –– der Auswirkungen eines Strafprozesses auf den parallelen Zivilprozess  232–239 –– Zulässigkeit der Bewertung  34 Bezugnahme auf die Feststellungen des Straf­ urteils 70–72 Bindung –– Bedeutung der Bindungsfreiheit  38 –– Begriff der Bindung  37–38 Bindungsnorm sui generis  243, 249 Bindungswirkung  59–62, 121–179 Brochet et Deschamps –– Urteil  157, 160 Bußgeld 188 citation directe  120, 181 constatations certaines et nécessaires  126–129 –– constatations certaines  127 –– constatations nécessaires  127, 134, 220 Darlegungslast 69–72 –– abstrakte 69 –– konkrete 69 –– Substantiierungslast siehe  konkrete Dar­ legungslast deliktische Generalklausel  158 Dispositionsgrundsatz 145 Doppelbelastung 254 Doppelnatur 119 Doppelzuständigkeit 28 Drittwirkung 37 dualité des fautes pénale et civile  157, 159 effektive Verteidigung 105, 133, 136, 138, 139, 176, 218, 219, 241 Effizienz  107–108, 228–230 Eilbedürftigkeit 182 Einheit der mündlichen Verhandlung  71

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Einheit der Rechtsordnung  56–58 Einheitlichkeit der Rechtsprechung 56–58, 206–209 Einstellung siehe Verfahrenseinstellung einstweiliger Rechtsschutz  117, 125, 182 Entschädigung siehe Schadensersatz Entscheidungserheblichkeit 129–130, 134, 153 Entscheidungsgründe  42, 126, 152–153, 163, 164, 210, 253 Erbunwürdigkeit  27, 147, 166 Erfüllungsgehilfe 114 erga omnes Wirkung  130–132 Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens  108–110, 115, 116, 162, 169–170, 191, 236 Ermessenskriterien 116–117 Ermessensreduzierung  191, 234 Fahrlässigkeitsbegriff  157–160, 177, 225 faires Verfahren  102, 138, 217–224 Falschaussage 252 Fehlurteil  55, 112, 130, 178, 209, 213, 232, 250, 251, 252, 253 Feststellungswirkung 37 force de la chose jugée  30 formelle Wahrheit siehe Beibringungsgrund­ satz Fortsetzungsantrag  115, 235 Fragerecht 222 freie Beweiswürdigung  43–44, 47, 178–179, 230–231 Gefährdungshaftung  158, 161, 202 Gegenbeweis 63, 76, 130, 154, 179, 219, 224, 258 geordnete Rechtspflege  110–111, 186 Gerichtsorganisation 154–155 Gesetzesbindung der Rechtsprechung  37, 50, 61, 83, 84, 166 Gestaltungswirkung  37, 60–61, 166 Geständnis –– des Angeklagten  66–67, 167 –– zivilprozessuales  66, 167 Geständnisfiktion  71, 78, 86 Gewaltenteilungsgrundsatz 51 Gleichwertigkeit der Gerichtszweige 40, 58–59

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Sachverzeichnis

Grundsatz der freien Beweiswürdigung siehe  freie Beweiswürdigung Grundurteil 60 Hauptverhandlungsprotokoll 64 Hinterlegung siehe Sicherheitsleistung historische Entwicklung  90–92, 167–168 höhere Gewalt  128 identité de la faute pénale et civile siehe unité des fautes Indiztatsachen 215 in dubio pro reo  88, 98, 127, 132, 178, 213 Inkohärenz  175–176, 193, 208 instruction siehe Untersuchungsverfahren intervention 120

öffentliche Klage  125, 168 öffentliche Ordnung  131, 146, 172, 173, 207 öffentliche Urkunde  47 öffentliches Interesse  96, 98, 126, 127, 131, 151, 170, 171 Offizialprinzip 187 Opferschutz  111–112, 213–217, 241 Opportunitätsprinzip  120, 181 ordonnance pénale  124, 155 ordre public  145, 170, 219

Parteiherrschaft  97, 178, 211 Parteiidentität  42–43, 131, 151, 153, 182 Parteistellung  43, 242 Parteivernehmung 216 partie civile 119, 120, 131, 137, 138, 139, 144, 176, 187, 188 juge de mise en état  169 plainte avec constitution de partie civile  120, juridictions de droit commun  138 181 juridictions de jugement  123, 140 Präjudizialität  148, 185 juridictions d’instruction  123, 140 prééminence du pénal sur le civil  170–171 Justizhaushalt  108, 241 primauté du criminel sur le civil  118 Privatklage  42, 119, 120, 187, 228 Kohärenz gerichtlicher Entscheidungen  privatrechtlicher Charakter des Prinzips der 172–173 „autorité de la chose jugée au pénal sur Konfliktpotenzial  245, 254 le civil“  211 Konkurrenzverhältnis 28 Prozesshindernis siehe Verfahrenshindernis kontradiktorisches Gegenteil  29 Prozessökonomie 107–108, 117, 173–174, Kostenersparnis  108, 228 186, 228–230, 236–238 Kündigung  27, 124, 190, 197, 238 prozessuale Absicherung der „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“  185 le criminel tient le civil en l’état  118, 147, 162, prozessuale Waffengleichheit  137, 138, 221 180–181, 194 prozessuale Wahrheit  94 Legalitätsprinzip  105, 120, 226, 228 Prozesswirtschaftlichkeit siehe  Prozessöko­ nomie materielle Gerechtigkeit  53–56 materielle Wahrheit siehe Wahrheit Quertier Missbrauchsgefahr  106, 186–188, 226, 228, –– Urteil 122 235–236 question préjudicielle siehe Präjudizialität Mitverschulden  128, 134, 220 Rapport Magendie  163, 187, 192, 193, 194 Nebenklage  43, 105, 119, 120 Rechte des Angeklagten 104–107, 177, Nebenkläger  43, 89, 103, 106, 112, 142, 223, 224–228 242, 244, 246 rechtliches Gehör 80, 88–89, 102–104, ne bis in idem siehe Strafklageverbrauch 131–133, 136, 138, 139, 141, 144, nemo tenetur-Grundsatz siehe  Selbstbelas­ 176–177, 217–224, 229, 241 tungsfreiheit Rechtsbehelf  163, 194, 258 Neubegutachtung 68 –– außerordentlicher  163–164, 192

Sachverzeichnis Rechtsfehler  249, 252 Rechtsfolge  166, 191 Rechtsfrage  58, 95, 115, 208, 210, 241 Rechtsfrieden  29, 40, 93, 112, 171 Rechtsgewissheit  29, 40 Rechtshängigkeit 29–32 –– entgegenstehende  29, 30, 31 Rechtskraft  29–32, 39–43, 150–153 –– formelle Rechtskraft des Strafurteils  123 –– materielle Rechtskraft des Strafurteils  32, 41–43 –– materielle Rechtskraft des Zivilurteils  29–30 –– negative Rechtskraftwirkung  29, 31, 32, 41, 150–151 –– objektive Grenzen der Rechtskraft 31, 41–42, 152–153 –– positive Rechtskraftwirkung  29, 31, 39–43, 151–153 –– Rechtskrafterstreckung 243 –– subjektive Grenzen der Rechtskraft 31, 42–43, 153 –– verfahrensübergreifende Rechtskraft  40 Rechtsmittelbefugnis 222 Rechtsmittelverzicht  106, 226, 227, 246, 247 Rechtsprechungspraxis  45, 76, 191, 238 Rechtssicherheit  51–54, 112, 172–173, 210–212, 240 Rechtsstaatsprinzip 51–56, 101, 102, 105, 112 Rechtsunsicherheit  53, 193 Rechtsvergleichung  33–34, 121 –– funktionale Vergleichung  33–34 –– Verfahrensrechtsvergleichung 33 Rechtsverweigerung 164 Reformbedarf 240–258 –– im deutschen Recht  240–257 –– im französischen Recht  257–258 Reformvorschläge  86–89, 242–254 Regress  124, 197, 223 réquisitoire introductif  181 Revisionsinstanz  247, 249, 252 richterliche Rechtsfortbildung  83–85 Richterrecht  121, 156, 165, 199 Richtigkeitsgewähr  82, 85, 90, 108, 110, 212 Richtigkeitsvermutung  72, 130, 154, 179, 258 Rückbelastung  224, 225, 230, 246 Rückwirkung siehe Rückbelastung

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Sachverständigenbeweis 67–68 Sachverständigengutachten siehe Sachverstän­ digenbeweis Sainglas gegen Sainglas –– Urteil 133 Säumnis siehe Versäuminsurteil Schadensersatz –– im Strafprozess 26, 119, 125, 142–143, 168, 176, 189, 213, 220 –– im Zivilprozess 27, 132, 142–143, 158, 162, 174, 177, 183–189, 203, 204, 207–208, 214–217, 225–227, 233, 235, 238, 258 schlüssiger Sachvortrag  69 Schweigerecht  100, 102 sekundäre Darlegungslast  79 Selbstbelastungsfreiheit  100, 101–102 Sicherheitsleistung 188 Sperrwirkung –– der Rechtshängigkeit  32 –– der Rechtskraft  32, 153 staatlicher Strafanspruch  41, 96, 100, 170 Strafbefehl  124, 155 Strafklageverbrauch  32, 41, 150 strafprozessuale Eingriffsbefugnisse  109, 110, 116, 169, 212 Strafrabatt 247 Streitgegenstand  29, 41, 52, 152 Streithelfer 114 Streitverkündung –– im Strafprozess  222 –– im Zivilprozess  221, 222 subjektiver Rechtsschutz  171 subjektives Recht  94, 96, 112, 145, 150 symmetrische Bindungswirkung  103 Tatbestandsvoraussetzung  166, 191 Tatbestandswirkung  37, 60–61, 166 Tatsacheninstanz  176, 247, 249 Tatsachenvermutung 154 Tatverdacht  187, 204 Tenor  152, 163, 253 –– des Strafurteils  42, 126, 153 Überlegenheit –– des Strafverfahrens 108–110, 169–171, 184–185 –– des Zivilverfahrens  109

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Sachverzeichnis

Unabhängigkeit des Richters  50 Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung  208 Unfehlbarkeitsdogma 213 unité des fautes  139, 157–158, 177, 214, 225 unité des juridictions pénale et civile  156 Unmittelbarkeitsgrundsatz  63, 76 Unrecht  212, 255 Unschuldsvermutung 193 Untersuchungsgrundsatz 97–98 Untersuchungsrichter  120, 169, 181, 188 Untersuchungsverfahren  120, 123, 139 Unzuständigkeit  30, 32, 148, 184 Urkundenbeweis 47 –– Verwertung des strafgerichtlichen Haupt­ verhandlungsprotokolls im Wege des Ur­ kundenbeweises 64 –– Verwertung des Strafurteils im Wege des Urkundenbeweises  63–64, 167 –– Verwertung einzelner Erkenntnisse aus dem Strafverfahren im Wege des Urkun­ denbeweises  65–67, 167

Vernehmungsprotokoll 65–66 Verrichtungsgehilfe 114 Versäumnisurteil –– im Strafprozess  182 –– im Zivilprozess  176 Verschuldensmaßstab 116 Verständigung  79, 106, 227, 246, 247–248 verwaltungsgerichtliches Verfahren  149 Verzögerung –– des Strafverfahrens  105–106, 226, 229–230 –– des Zivilverfahrens 116, 117, 188–189, 191, 229, 234–235, 237–238 –– Verzögerungsabsicht  187, 235 Vorfragenkompetenz 48 Vorfragenzuständigkeit siehe Vorfragenkom­ petenz Vorgreiflichkeit  31, 114, 152 Vorhersehbarkeit  51–53, 210–211, 250, 251 Vorrangstellung  90, 118, 121, 156, 179, 208, 257

Verbot der Selbsthilfe  96 Verbrechen  118, 123, 188 Verfahrensaussetzung  48, 113–117, 179–195 –– fakultative  48, 113–117, 189–194 –– obligatorische  147–150, 183–189 –– zwingende siehe obligatorische Verfahrens­ aussetzung Verfahrenseinstellung 123, 182, 226, 227, 236, 237 Verfahrensfehler  247, 249 Verfahrensgegenstand siehe Streitgegenstand Verfahrensgrundsätze  97–102, 177–178 Verfahrenshindernis  29, 31, 32 Vergehen  118, 120, 188 Verhandlungsgrundsatz siehe  Beibringungs­ grundsatz vérité formelle  169 vérité matérielle  169

Wahlrecht des Geschädigten  174, 214 Wahrheit 55, 94–95, 108–110, 169–170, 178–179, 213 Wahrheitsermittlung  93–95, 108–110, ­169–170, 212–213 Wahrheitspflicht  95, 101–102 Widerspruchsfreiheit 56–58, 172–173, 186, 206–209 Widerspruchsverbot 38 Wiederaufnahme  243, 250, 251–253, 256 Zeitersparnis  108, 228 Zeugnisverweigerungsrecht 100–101 zivilrechtliche Vorfrage  126 Zugang zu den Gerichten  138 Zuständigkeitsverteilung  49, 154–155 Zwangsvollstreckungsverfahren 183 Zweifelssatz siehe in dubio pro reo