Die richterliche Normbildung verkörpert einen immer bedeutsamer werdenden Aspekt der höchstrichterlichen Tätigkeit. Hier
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German Pages 517 [519] Year 2010
Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
§ 1 Einleitung
A. Die Bedeutung der richterlichen Normbildung
B. Die richterliche Normbildung als rechtsmethodisches und verfassungsrechtliches Problem
I. Die Grenzen der richterlichen Normbildung
II. Die Pflicht zur richterlichen Normbildung
III. Divergenzen und Konvergenzen in der Diskussion
1. Divergenzen in der theoretischen Diskussion
2. Konvergenzen in der rechtsvergleichenden Analyse
C. Die richterliche Normbildung als prozessual-institutionelles Problem
D. Das Ziel der Darstellung
E. Eingrenzung des Untersuchungsprogramms
I. Die maßgeblichen normbildenden Instanzen
1. Deutschland
2. Common Law
II. Aussparung der Sachverhaltsermittlung
III. Begrenzung auf den allgemeinen Zivilprozess
F. Der Gang der Darstellung
§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
A. Richterliche Normbildung und Rechtsfortbildung
I. Deutschland
II. Common Law
B. Richterliche Normbildung und Präjudizienbindung
I. Common Law
II. Deutschland
§ 3 Entwicklungsgeschichtlicher Überblick zum Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung
A. Deutschland
I. Die philosophische Schule
II. Die historische Schule
III. Die Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens
IV. Die Interessenjurisprudenz Jherings und die „soziale Aufgabe“
V. Die Entwicklung nach der Reichsgründung
1. Die Sichtweise des zivilprozessualen Schrifttums
2. Die Ausgestaltung des Revisionsrechts in der Zivilprozessordnung
VI. Die Freirechtsschule
VII. Die Urteilspraxis des Reichsgerichts
VIII. Der Ruf nach einer verstärkten richterlichen Normbildung und seine Kritik
IX. Die Entwicklung zur Zeit des Nationalsozialismus
1. Das nationalsozialistische Prozessverständnis
2. Die Prozessreform, insbesondere die Grundsatzvorlage nach § 137 Abs. 1 GVG a.F. (§ 132 Abs. 4 GVG n.F.)
X. Die Hinwendung zu einer verstärkten Normbildung unter der Geltung des Grundgesetzes
1. Die Bedeutung der Grundrechte für die Zivilrechtsprechung
2. Das Rechtsverweigerungsverbot
3. Die Entwicklung im Bereich der Revisionszulassung
XI. Die Urteilspraxis des Bundesgerichtshofs
1. Der Einfluss des Rechtsprechungsstils
2. Beispiele aus der Rechtsprechung
a) Nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch bei faktischen Duldungszwängen
b) Erforderlicher Vertragsinhalt bei Ehegattenbürgschaften
c) Agenturgeschäfte im Gebrauchtwagenhandel
d) Nachlieferung bei mangelhaften Stücksachen
XII. Die Einflüsse der Europäisierung des Rechts
1. Grundlagen
a) Erweiterte Normbildungsspielräume
b) Einflüsse des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV
2. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Nutzungsersatz bei Nachlieferung
XIII. Zusammenfassung
B. England
I. Das traditionelle Common Law
1. Grundlagen
2. Die Ausformung bei Blackstone
II. Das Writ-System
III. Die Auflockerung durch die Equity-Rechtsprechung
IV. Der Zweck des Appellationsprozesses
V. Die Positivierung der Rechtsprechung und das Stare Decisis
VI. Die Urteilspraxis des Court of Appeal und des House of Lords
1. Der Einfluss des Rechtsprechungsstils
2. Beispiele aus der Rechtsprechung
a) Die Haftung für Boykottdrohungen
b) Gefährliche Gegenstände und Strict Liability
c) Die Entwicklung der außervertraglichen Auskunftshaftung
d) Die Haftung für Schockschäden
e) Die Negligence-Haftung unter Hoheitsträgern
f) Zwischenergebnis
VII. Neuere Tendenzen zu einer abstrakt-normbildenden Funktion der Zivilrechtsprechung
1. Wandlungen im Urteilsstil
a) „Bürokratisierte“ Urteile des Court of Appeal zum Prozessrecht
b) „Quasi-legislative“ Urteile des House of Lords zu Ehegattensicherheiten
2. Die Einflüsse der Europäisierung des Rechts
a) Grundlagen
b) Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Diskriminierungsschutz bei Schwangerschaft
3. Die Auswirkungen der Civil Procedure Reform 1998
VIII. Zusammenfassung
C. USA
I. Die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
II. Die Entscheidung Swift v. Tyson
III. Die Entwicklung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
IV. Die „progressive Bewegung“ (Progressive Movement)
1. Die Rechtstheorie Holmes’
2. Die rechtssoziologische Schule
3. Die Rechtstheorie Cardozos
4. Der Legal Realism
V. Die Auswirkungen der Progressive Movement auf den Appellationsprozess
1. Die bundesstaatliche Ebene
2. Die einzelstaatliche Ebene
a) Die Bedeutung gerichtsverfassungsrechtlicher und prozessualer Reformen
b) Der Einfluss des Rechtsprechungsstils
c) Zwei Beispiele aus der Urteilspraxis der State Supreme Courts
aa) Schadensersatz bei misslungener Sterilisation in Minnesota
bb) Die Herausbildung einer strikten Produkthaftung in Kalifornien
VI. Die Einwirkung des Verfassungsrechts auf den Zivilprozess
VII. Zwischenfazit: Das Erbe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
VIII. Die Legal Process-Schule
IX. Die ökonomische Analyse des Rechts und der Rechtspragmatismus
1. Die ökonomische Analyse des Rechts
2. Der Rechtspragmatismus
X. Zusammenfassung
§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks
I. Der Ausgangspunkt des Wissensproblems
II. Die Bedeutung des Wissensproblems für Normbildungen im Recht
B. Das Bild einer fallbezogenen Wissensakkumulation in der zivilprozessualen Literatur
I. Deutschland
II. Common Law
III. Zusammenfassung
C. Mögliche Einwände gegen den Stellenwert des Fallbezugs
I. Fallbezogenes Entscheiden als Quelle möglicher Verzerrungen
1. „Do cases make bad law?“
2. Die positiven Aspekte der Verkoppelung von Fall und Norm
3. Das Gebot gleichheitsgerechten Entscheidens
4. Zwischenergebnis
II. Fallbezogenes Entscheiden als mögliche Vernachlässigung sozialer Partizipation und politischer Integration
1. Das sozial-politische Funktionsverständnis des Zivilprozesses
2. Die Schwächen des sozial-politischen Funktionsverständnisses
a) Die immanenten Wirkungsgrenzen des Zivilprozesses
b) Die Wahrung der Integrität des Rechtsprechungsprozesses
3. Zwischenergebnis
III. Fallbezogenes Entscheiden als mögliche Preisgabevon Rechtssicherheit
1. Rechtssicherheit als Eigenwert
2. Die Schwächen einer rein rechtssicherheitsbezogenen Argumentation
a) Kein notwendiger Zusammenhang zwischen abstrakter Regelbildung und Erhöhung der Rechtssicherheit
b) Das unterschiedliche Gewicht der Rechtssicherheit im formalen Ordnungsrecht und im materialen Regulierungsrecht
c) Die Gefahr einer normativen Versteinerung durch abstrakte Normbildung
D. Der Fallbezug der normbildenden Rechtsprechung und deren Wechselspiel mit äußeren Rahmenbedingungen
I. Die Relevanz der privaten Rechtsmittelinitiative im Zivilprozess
1. Konsequenzen für das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung
2. Die Rolle der privaten Rechtsmittelinitiative bei so genannten Musterprozessen
II. Die Korrekturmechanismen zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung
1. Die mangelnde Kompensation eines Judicial Activism durch den Gesetzgeber
2. Die Kompensation eines Judicial Self-Restraintdurch den Gesetzgeber
a) Deutschland
aa) Die Konkursfestigkeit von Auflassungsvormerkungen bei Bauträgerverträgen
bb) Die Geltendmachung von Mängelrechten durch Stellvertreter im Reisevertragsrecht
cc) Der erforderliche Vollmachtsinhalt bei Verbraucherkrediten
dd) Das intertemporale Kollisionsrecht der Kündigungsfristen bei Mietverträgen
b) England
aa) Die Verkehrssicherungspflichten des Grundstücksbesitzers
bb) Der Verjährungsbeginn bei deliktischen Schädigungen
cc) Der Vertrag zugunsten Dritter
c) USA
aa) Der Schutz des Rechts am eigenen Bild
bb) Die Bedeutung des Mitverschuldens bei deliktischen Schädigungen
cc) Die Korrektur im Bereich der Statutory Interpretation
3. Zwischenergebnis
E. Zusammenfassung
§ 5 Zivilprozessuale Anwendungsbeispiele
A. Der Zugang zu den normbildenden Instanzen
I. Deutschland
1. Die Rechtslage vor der Zivilprozessreform des Jahres 2001
2. Die Dominanz der Grundsatzrevision im geltenden Zivilprozessrecht
a) Die Grundlinien der Neuregelung
aa) Das Gefüge der Zulassungsgründe
bb) Zwei Anwendungsbeispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
(1) Der Maßstab der Verallgemeinerbarkeit einer Rechtsfrage
(2) Die Auswirkungen einer zwischenzeitlichen Rechtsprechungsänderung
b) Die Rückwirkungen des Zulassungsverfahrens auf das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung
aa) Die Verteilung der Entscheidungskompetenz über die Zulassung
bb) Die Revisionszulassung als gebundene Entscheidung
cc) Die Konsequenzen der Aufspaltung von Zulassungsentscheidung und Fallbeurteilung bei § 544 ZPO
c) Zwischenergebnis
II. England
1. Der Zugang zum Court of Appeal
a) Das Erfordernis einer Zulassung und die Zulassungskriterien
b) Die Rückwirkungen des Zulassungsverfahrens auf das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung
2. Der Zugang zum House of Lords/Supreme Court of the United Kingdom
a) Die Zulassungsentscheidung als Akt „freien“ Ermessens
b) Die Konturierung der Zulassungskriterien
aa) Das zentrale Kriterium einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache
bb) Weitere erhebliche Gesichtspunkte
(1) Die Erfolgsaussichten des Appeal
(2) Der Zuschnitt des anhängigen Rechtsstreits
(3) Die Entscheidungserheblichkeit
cc) Zwischenergebnis
c) Die Rückwirkungen des Zulassungsverfahrens auf das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung
III. USA
1. Die grundlegende Struktur des Appellationsprozesses
a) Intermediate Appellate Courts
b) Supreme Courts
aa) Das zentrale Kriterium der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache
bb) Weitere institutionelle Stützen der normbildenden Tendenz
2. Die Verschiebung der Balance zwischen Normbildung und Streitentscheidung bei den Intermediate Appellate Courts
IV. Zusammenfassung und Bewertung
B. Die Berücksichtigung von Normbildungstatsachen
I. Deutschland
1. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Normbildungstatsachen in der Revisionsinstanz
2. Normbildungstatsachen und richterlicher Sachverstand
3. Normbildungstatsachen und externer Sachverstand im Prozess
a) Allgemeines
b) Sachverständige
c) Reformvorschläge
II. England
1. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Normbildungstatsachen in den Appellationsinstanzen
2. Normbildungstatsachen und richterlicher Sachverstand
3. Normbildungstatsachen und externer Sachverstand im Prozess
a) Allgemeines
b) Sachverständige
c) Der Amicus Curiae (Intervener)
III. USA
1. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Normbildungstatsachen in den Appellationsinstanzen
2. Normbildungstatsachen und richterlicher Sachverstand
3. Normbildungstatsachen und externer Sachverstand im Prozess
a) Allgemeines
b) Der Amicus Curiae
IV. Zusammenfassung und Bewertung
§ 6 Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
A. Zusammenfassung
B. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Entscheidungsregister
Deutschland
England
Europäischer Gerichtshof
Frankreich
USA
Personenregister
Sachregister
I
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 155
II
III
Felix Maultzsch
Streitentscheidung und Normbildung durch den Zivilprozess Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum deutschen, englischen und US-amerikanischen Recht
Mohr Siebeck
IV Felix Maultzsch, geboren 1975; Studium der Rechtswissenschaft in Jena, Singapur und an der New York University (LL.M. 2003); 2005 Promotion an der Universität Jena; 2010 Habilitation an der Universität Freiburg und Lehrstuhlvertretung an der Universität Heidelberg; seit Dezember 2010 Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsvergleichung und Internationales Privatrecht an der EBS Law School Wiesbaden.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
e-ISBN PDF 978-3-16-151232-2 ISBN 978-3-16-150538-6 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
V
Vorwort Die vorliegende Arbeit behandelt mit der Normbildung durch die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung eine Frage, die seit Jahrhunderten Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion ist. Gleichwohl soll hier der Versuch unternommen werden, dem alten Thema einen noch nicht erschöpfend diskutierten Aspekt abzugewinnen. Dies geschieht, indem die Arbeit weder die reine Methodenlehre noch verfassungsrechtliche Erwägungen in den Vordergrund stellt, sondern vielmehr eine prozessual-institutionelle Perspektive einnimmt. Die richterliche Normbildung erfolgt im Rahmen eines konkreten Streitverfahrens, was die zentrale Frage aufwirft, in welchem Verhältnis die allgemein wirkende Normbildung zu der auf den besonderen Fall bezogenen Streitentscheidung in dem jeweiligen Zivilprozess steht. Diesem Problem wird sowohl vor dem Hintergrund des deutschen Rechts als auch des englischen und des US-amerikanischen Rechts nachgegangen. Die Arbeit beleuchtet dabei jeweils nicht nur den gegenwärtigen Stand der Entwicklung, sondern nimmt auch eine geschichtliche Perspektive ein. Eine solche rechtsvergleichend-entwicklungsgeschichtliche Betrachtung offenbart, dass das Thema untrennbar mit Fragen der Prozess- und Entscheidungsfindungskultur verknüpft ist. Es rührt somit zugleich an Grundfragen der Rolle und der Gestalt des höchstrichterlichen Zivilprozesses in der Gesellschaft. Die Arbeit wurde im Wintersemester 2009/2010 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Habilitationsschrift angenommen und befindet sich auf dem Stand von August 2010. Mein Dank gilt in erster Linie meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Günter Hager, der die Entstehung der Arbeit auf jede erdenkliche Weise gefördert hat. Die Zeit, die ich an seinem Institut verbringen durfte, hat meine Sichtweise auf das Recht maßgeblich geprägt und wird mir in sehr guter Erinnerung bleiben. Herrn Professor Dr. Rolf Stürner verdanke ich nicht nur die zügige Erstellung des Zweitgutachtens, sondern auch wertvolle inhaltliche Anregungen für die Arbeit. Die studentischen Mitarbeiter des Instituts für Ausländisches und Internationales Privatrecht, Abt. I der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg haben bei der Vorbereitung des Manuskripts für die Drucklegung hilfreich mitgewirkt. Der VG WORT danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuss.
VI
Vorwort
Ein besonderer persönlicher Dank gilt meinen Eltern sowie Frau Dr. Daniela Rothe. Ohne ihre andauernde Unterstützung und ihr großes Verständnis wäre das Entstehen der Arbeit nicht möglich gewesen. Freiburg, im August 2010
Felix Maultzsch
VII
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX
§ 1 Einleitung
........................................................
1
A. Die Bedeutung der richterlichen Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die richterliche Normbildung als rechtsmethodisches und verfassungsrechtliches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die richterliche Normbildung als prozessual-institutionelles Problem . . D. Das Ziel der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Eingrenzung des Untersuchungsprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Der Gang der Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
4 10 12 15 21
. . 23
A. Richterliche Normbildung und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Richterliche Normbildung und Präjudizienbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
§ 3 Entwicklungsgeschichtlicher Überblick zum Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
A. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 B. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 C. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Bild einer fallbezogenen Wissensakkumulation in der zivilprozessualen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Mögliche Einwände gegen den Stellenwert des Fallbezugs . . . . . . . . . . . . D. Der Fallbezug der normbildenden Rechtsprechung und deren Wechselspiel mit äußeren Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252 252 261 271 304
VIII
Inhaltsübersicht
E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
§ 5 Zivilprozessuale Anwendungsbeispiele
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
A. Der Zugang zu den normbildenden Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 B. Die Berücksichtigung von Normbildungstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
§ 6 Zusammenfassung und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
A. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 B. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Entscheidungsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
IX
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX
§ 1 Einleitung
........................................................
1
A. Die Bedeutung der richterlichen Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Die richterliche Normbildung als rechtsmethodisches und verfassungsrechtliches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
I. Die Grenzen der richterlichen Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
II. Die Pflicht zur richterlichen Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
III. Divergenzen und Konvergenzen in der Diskussion . . . . . . . . . . . .
7
1. Divergenzen in der theoretischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konvergenzen in der rechtsvergleichenden Analyse . . . . . . . . .
7 8
C. Die richterliche Normbildung als prozessual-institutionelles Problem . 10 D. Das Ziel der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 E. Eingrenzung des Untersuchungsprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Die maßgeblichen normbildenden Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Aussparung der Sachverhaltsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Begrenzung auf den allgemeinen Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 F. Der Gang der Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
X
Inhaltsverzeichnis
§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
. . 23
A. Richterliche Normbildung und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Richterliche Normbildung und Präjudizienbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 I. Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
§ 3 Entwicklungsgeschichtlicher Überblick zum Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
A. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I. Die philosophische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Die historische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 III. Die Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens . . . . . . . . . . 46 IV. Die Interessenjurisprudenz Jherings und die „soziale Aufgabe“ . . 50 V. Die Entwicklung nach der Reichsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1. Die Sichtweise des zivilprozessualen Schrifttums . . . . . . . . . . . 55 2. Die Ausgestaltung des Revisionsrechts in der Zivilprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 VI. Die Freirechtsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 VII. Die Urteilspraxis des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 VIII. Der Ruf nach einer verstärkten richterlichen Normbildung und seine Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 IX. Die Entwicklung zur Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . 76 1. Das nationalsozialistische Prozessverständnis . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Die Prozessreform, insbesondere die Grundsatzvorlage nach § 137 Abs. 1 GVG a.F. (§ 132 Abs. 4 GVG n.F.) . . . . . . . . 79 X. Die Hinwendung zu einer verstärkten Normbildung unter der Geltung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Die Bedeutung der Grundrechte für die Zivilrechtsprechung 84 2. Das Rechtsverweigerungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Die Entwicklung im Bereich der Revisionszulassung . . . . . . . 92
Inhaltsverzeichnis
XI. Die Urteilspraxis des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI 98
1. Der Einfluss des Rechtsprechungsstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Beispiele aus der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch bei faktischen Duldungszwängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erforderlicher Vertragsinhalt bei Ehegattenbürgschaften . . . . . . c) Agenturgeschäfte im Gebrauchtwagenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . d) Nachlieferung bei mangelhaften Stücksachen . . . . . . . . . . . . . . . .
104 107 109 110
XII. Die Einflüsse der Europäisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Erweiterte Normbildungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Einflüsse des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
2. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Nutzungsersatz bei Nachlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 XIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 B. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 I. Das traditionelle Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Die Ausformung bei Blackstone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II. Das Writ-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 III. Die Auflockerung durch die Equity-Rechtsprechung . . . . . . . . . 133 IV. Der Zweck des Appellationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 V. Die Positivierung der Rechtsprechung und das Stare Decisis . . 144 VI. Die Urteilspraxis des Court of Appeal und des House of Lords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Der Einfluss des Rechtsprechungsstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Beispiele aus der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) b) c) d) e) f)
Die Haftung für Boykottdrohungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährliche Gegenstände und Strict Liability . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der außervertraglichen Auskunftshaftung . . . . Die Haftung für Schockschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Negligence-Haftung unter Hoheitsträgern . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 160 162 166 168 169
VII. Neuere Tendenzen zu einer abstrakt-normbildenden Funktion der Zivilrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
XII
Inhaltsverzeichnis
1. Wandlungen im Urteilsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) „Bürokratisierte“ Urteile des Court of Appeal zum Prozessrecht 171 b) „Quasi-legislative“ Urteile des House of Lords zu Ehegattensicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
2. Die Einflüsse der Europäisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Diskriminierungsschutz bei Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
3. Die Auswirkungen der Civil Procedure Reform 1998 . . . . . . 183 VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 C. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 I. Die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . 190 II. Die Entscheidung Swift v. Tyson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 III. Die Entwicklung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . 199 IV. Die „progressive Bewegung“ (Progressive Movement) . . . . . . . . 203 1. 2. 3. 4.
Die Rechtstheorie Holmes’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die rechtssoziologische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtstheorie Cardozos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Legal Realism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 207 209 211
V. Die Auswirkungen der Progressive Movement auf den Appellationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Die bundesstaatliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Die einzelstaatliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) Die Bedeutung gerichtsverfassungsrechtlicher und prozessualer Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Einfluss des Rechtsprechungsstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwei Beispiele aus der Urteilspraxis der State Supreme Courts . . aa) Schadensersatz bei misslungener Sterilisation in Minnesota bb) Die Herausbildung einer strikten Produkthaftung in Kalifornien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219 223 227 227 228
VI. Die Einwirkung des Verfassungsrechts auf den Zivilprozess . . 232 VII. Zwischenfazit: Das Erbe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 VIII. Die Legal Process-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 IX. Die ökonomische Analyse des Rechts und der Rechtspragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Inhaltsverzeichnis
XIII
1. Die ökonomische Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Der Rechtspragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 X. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252
A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 I. Der Ausgangspunkt des Wissensproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 II. Die Bedeutung des Wissensproblems für Normbildungen im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 B. Das Bild einer fallbezogenen Wissensakkumulation in der zivilprozessualen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 II. Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 C. Mögliche Einwände gegen den Stellenwert des Fallbezugs . . . . . . . . . . . . 271 I. Fallbezogenes Entscheiden als Quelle möglicher Verzerrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. „Do cases make bad law?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die positiven Aspekte der Verkoppelung von Fall und Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Gebot gleichheitsgerechten Entscheidens . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271 274 279 280
II. Fallbezogenes Entscheiden als mögliche Vernachlässigung sozialer Partizipation und politischer Integration . . . . . . . . . . . . . 280 1. Das sozial-politische Funktionsverständnis des Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 2. Die Schwächen des sozial-politischen Funktionsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 a) Die immanenten Wirkungsgrenzen des Zivilprozesses . . . . . . . . 288 b) Die Wahrung der Integrität des Rechtsprechungsprozesses . . . . 291
3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
XIV
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III. Fallbezogenes Entscheiden als mögliche Preisgabe von Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 1. Rechtssicherheit als Eigenwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 2. Die Schwächen einer rein rechtssicherheitsbezogenen Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 a) Kein notwendiger Zusammenhang zwischen abstrakter Regelbildung und Erhöhung der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . 297 b) Das unterschiedliche Gewicht der Rechtssicherheit im formalen Ordnungsrecht und im materialen Regulierungsrecht . . . . . . . . . 298 c) Die Gefahr einer normativen Versteinerung durch abstrakte Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
D. Der Fallbezug der normbildenden Rechtsprechung und deren Wechselspiel mit äußeren Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 I. Die Relevanz der privaten Rechtsmittelinitiative im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Konsequenzen für das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 2. Die Rolle der privaten Rechtsmittelinitiative bei so genannten Musterprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 II. Die Korrekturmechanismen zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 1. Die mangelnde Kompensation eines Judicial Activism durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 2. Die Kompensation eines Judicial Self-Restraint durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Konkursfestigkeit von Auflassungsvormerkungen bei Bauträgerverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Geltendmachung von Mängelrechten durch Stellvertreter im Reisevertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der erforderliche Vollmachtsinhalt bei Verbraucherkrediten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Das intertemporale Kollisionsrecht der Kündigungsfristen bei Mietverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Verkehrssicherungspflichten des Grundstücksbesitzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Verjährungsbeginn bei deliktischen Schädigungen . . . . cc) Der Vertrag zugunsten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319 319 320 321 322 324 324 326 327 328
XV
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aa) Der Schutz des Rechts am eigenen Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 bb) Die Bedeutung des Mitverschuldens bei deliktischen Schädigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 cc) Die Korrektur im Bereich der Statutory Interpretation . . . . 330
3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
§ 5 Zivilprozessuale Anwendungsbeispiele
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
A. Der Zugang zu den normbildenden Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1. Die Rechtslage vor der Zivilprozessreform des Jahres 2001 . 336 2. Die Dominanz der Grundsatzrevision im geltenden Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 a) Die Grundlinien der Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Gefüge der Zulassungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zwei Anwendungsbeispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Maßstab der Verallgemeinerbarkeit einer Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Auswirkungen einer zwischenzeitlichen Rechtsprechungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rückwirkungen des Zulassungsverfahrens auf das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung . . . . . . . . . . aa) Die Verteilung der Entscheidungskompetenz über die Zulassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Revisionszulassung als gebundene Entscheidung . . . . . cc) Die Konsequenzen der Aufspaltung von Zulassungsentscheidung und Fallbeurteilung bei § 544 ZPO . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339 341 345 345 346 349 349 350 351 353
II. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 1. Der Zugang zum Court of Appeal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 a) Das Erfordernis einer Zulassung und die Zulassungskriterien . . 356 b) Die Rückwirkungen des Zulassungsverfahrens auf das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung . . . . . . . . . . 359
2. Der Zugang zum House of Lords/Supreme Court of the United Kingdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 a) Die Zulassungsentscheidung als Akt „freien“ Ermessens . . . . . . . 360 b) Die Konturierung der Zulassungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
XVI
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aa) Das zentrale Kriterium einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Weitere erhebliche Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Erfolgsaussichten des Appeal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Zuschnitt des anhängigen Rechtsstreits . . . . . . . . . . (3) Die Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rückwirkungen des Zulassungsverfahrens auf das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung . . . . . . . . . .
361 362 363 365 366 367 367
III. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 1. Die grundlegende Struktur des Appellationsprozesses . . . . . 370 a) Intermediate Appellate Courts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Supreme Courts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das zentrale Kriterium der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Weitere institutionelle Stützen der normbildenden Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371 371 373 377
2. Die Verschiebung der Balance zwischen Normbildung und Streitentscheidung bei den Intermediate Appellate Courts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 IV. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 B. Die Berücksichtigung von Normbildungstatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 1. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Normbildungstatsachen in der Revisionsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 2. Normbildungstatsachen und richterlicher Sachverstand . . . . 398 3. Normbildungstatsachen und externer Sachverstand im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 b) Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 c) Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
II. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 1. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Normbildungstatsachen in den Appellationsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 2. Normbildungstatsachen und richterlicher Sachverstand . . . . 406 3. Normbildungstatsachen und externer Sachverstand im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 b) Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 c) Der Amicus Curiae (Intervener) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
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XVII
III. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 1. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Normbildungstatsachen in den Appellationsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 2. Normbildungstatsachen und richterlicher Sachverstand . . . . 417 3. Normbildungstatsachen und externer Sachverstand im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 b) Der Amicus Curiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
IV. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
§ 6 Zusammenfassung und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
A. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 B. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Entscheidungsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
XVIII
XIX
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. A.B.A. Rep. A.C. A.E.R. a.F. ABl. EG Abs. Abt. AcP AEUV AG AGB Ala. L. Rev. ALI All E.R. Alt. Am. J. Comp. L. Am. J. Legal Hist. Am. J. Pol. Science Am. J. Sociology Am. J. Trial Advoc. Am. L. Rev. Am. L. Sch. Rev. Am. Pol. Sci. Rev. Anh. AöR App. Cas. Ariz. ARSP Art. Ass. plèn. Aufl.
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B.Y.U. L. Rev. BAnz. BBergG BGB BGBl.
Brigham Young University Law Review Bundesanzeiger Bundesberggesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt
XX BGH BGHZ Blackf. Brooklyn L. Rev. BT-Drucks. Bull. Civ.
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BVerfG BVerfGE
Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Blackford, Indiana (Case Reporter) Brooklyn Law Review Bundestagsdrucksachen Bulletin des Arrêts de la Chambre Civile de la Cour de Cassation Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
c. C.J./Ch.J. C.J.Q. C.L.J. ca. Cal. Cal. L. Rev. Case W. Res. L. Rev. Ch. Ch. D. Chi.-Kent L. Rev Cir. cols. Colum. L. Rev. Cornell L. Rev. Cornell L.Q. CPR CR
Chapter Chief Justice Civil Justice Quarterly Cambridge Law Journal circa California California Law Review Case Western Reserve Law Review Chancery Division, Law Reports Chancery Division Chicago-Kent Law Review Circuit Colums Columbia Law Review Cornell Law Review Cornell Law Quarterly Civil Procedure Rules Computer und Recht
DePaul L. Rev. ders. dies. Diss. DJZ DÖV DRiZ Duke L.J. DVBl.
DePaul Law Review derselbe dieselbe(n) Dissertation Deutsche Juristenzeitung Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Duke Law Journal Deutsche Verwaltungsblätter
e.g. ECA ed. EGBGB EGV EGZPO Einl. EMRK Eng. Rep.
exempli gratia European Communities Act 1972 Edition Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung Einleitung Europäische Menschenrechtskonvention English Reports
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Eq. et. al. et. ux. EuGH EuZW EWCA Civ.
Equity, Law Reports et alii et uxor Europäischer Gerichtshof Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Court of Appeal (Civil Division)
f./ff. F.2d F.3d F.Supp. FAZ Fed. R. App. P. Fed. R. Civ. P. Fed. R. Evid. Fla. Fn.
folgende Federal Reporter, Second Series Federal Reporter, Third Series Federal Supplement Frankfurter Allgemeine Zeitung Federal Rules of Appellate Procedure Federal Rules of Civil Procedure Federal Rules of Evidence Florida Fußnote
Geo. L.J. Geo. Wash. L. Rev. GG GPR GVG
Georgetown Law Journal George Washington Law Review Grundgesetz Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Gerichtsverfassungsgesetz
H.L. H.L. Debs. Harv. J.L. & Pub. Pol’y Harv. L. Rev. Hofstra L. Rev. Hrsg. hrsg.
House of Lords House of Lords Debates (Hansard) Harvard Journal of Law and Public Policy Harvard Law Review Hofstra Law Review Herausgeber herausgegeben
I.C.R. i.e. Ill. L. Rev. Ind. Ind. L. Rev. Ind. L.J. InsO Intl. Rev. L. & Econ. Iowa L. Rev.
Industrial Cases Reports id est Illinois Law Review Indiana Indiana Law Review Indiana Law Journal Insolvenzordnung International Review of Law and Economics Iowa Law Review
J. J. Econ. Lit. J. Empirical Legal Studies J. Legal Educ. J. Legal Stud. J. Pol.
Judge/Justice Journal of Economic Literature Journal of Empirical Legal Studies Journal of Legal Education Journal of Legal Studies Journal of Politics
XXI
XXII J.C.L. J.L. & Econ. J.L. Econ. & Org. JbDtR JCP G
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Johns. Ch. JuS JW JZ
Journal of Comparative Law Journal of Law and Economics Journal of Law, Economics & Organization Jahrbuch des deutschen Rechts La Semaine Juridique: Juris Classeur Periodique. Édition générale. Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts Johnson, New York Chancery (Case Reporter) Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung
K.B. KO
King’s Bench, Law Reports Konkursordnung
L.C. L.J. L.Q.R. L.R. Law & Contemp. Probs. Law & Hist. Rev. Law & Hum. Behav. Law & Soc’y Rev. LG LZ
Lord Chancellor Lord Justice of Appeal Law Quarterly Review Law Reports Law and Contemporary Problems Law and History Review Law and Human Behaviour Law and Society Review Landgericht Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht
M.L.R. M.R. m.w.N. MaBV Mich. L. Rev. Minn. Minn. L. Rev. Mod. Rep.
Modern Law Review Master of the Rolls mit weiteren Nachweisen Makler- und Bauträgerverordnung Michigan Law Review Minnesota Minnesota Law Review Modern Reports, King’s Bench
N.D.Ill. n.F. N.W. N.W.2d N.Y. N.Y. CVP N.Y.C.R.R. NJW NJW-RR No. Notre Dame L. Rev. Nr.
Northern District of Illinois neue Fassung North Western Reporter North Western Reporter, Second Series New York Reports New York Civil Practice Law and Rules Rules and Regulations of the State of New York Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungsreport Number Notre Dame Law Review Nummer
JherJb.
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XXIII
Nw. U. L. Rev. NYU Journal of Law & Liberty NYU L. Rev.
Northwestern University Law Review New York University Journal of Law and Liberty New York University Law Review
OHG Ohio N.U. L. Rev. Ohio St. L.J. ÖJZ OLG OUCLJ Oxford J. Legal Stud.
offene Handelsgesellschaft Ohio Northern University Law Review Ohio State Law Journal Österreichische Juristenzeitung Oberlandesgericht Oxford University Commonwealth Law Journal Oxford Journal of Legal Studies
P.2d para PreußALR
Pacific Reporter, Second Series Paragraph Preußisches Allgemeines Landrecht
Q.B.
Queen’s Bench, Law Reports
RabelsZ
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rechtsberatungsgesetz Randnummer Reports in Chancery Review of Litigation Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft Rechtssache
RBerG Rdnr. Rep. Ch. Rev. Litig. RGBl. RGZ RIW Rs. S. S. Cal. L. Rev. S.C. L. Rev. S.Ct. sch. scil. Sec. sjt. SJZ Slg.
So. Sp. SS St. Louis U.L.J. Stan. L. Rev. Stra.
Seite Southern California Law Review South Carolina Law Review Supreme Court Reporter Schedule scilicet Section Serjeant at law Schweizerische Juristen-Zeitung Amtliche Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Southern Reporter Spalte Simons and Stuart’s Reports, Chancery Saint Louis University Law Journal Stanford Law Review Strange’s Reports, Kings Bench
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Sup. Ct. Econ. Rev. Sup. Ct. R. (UK) Sup. Ct. R. (US) Sup. Ct. Rev. Swans.
Supreme Court Economic Review Supreme Court Rules (United Kingdom) Supreme Court Rules (United States) Supreme Court Review Swanton’s Reports, Chancery
Tex. L. Rev.
Texas Law Review
U. Chi. L. Rev. U. Pa. L. Rev. u.a. U.C. Davis L. Rev. U.S. U.S.C. UCC UK UNIDROIT US USA
University of Chicago Law Review University of Pennsylvania Law Review und andere University of California at Davis Law Review United States Supreme Court Reports United States Code Uniform Commercial Code United Kingdom International Institute for the Unification of Private Law United States United States of America
v. Va. L. Rev. Vand. L. Rev. verb. Rs. VerbrKrG VersR vgl. vol. VVDStRL
versus Virginia Law Review Vanderbilt Law Review verbundene Rechtssachen Verbraucherkreditgesetz Versicherungsrecht vergleiche Volume Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WHG W.L.R. W.S.A. Wis. Wis. L. Rev. WM WuM
Wasserhaushaltsgesetz Weekly Law Reports Wisconsin Statutes Annotated Wisconsin Wisconsin Law Review Wertpapiermitteilungen Wohnungswirtschaft und Mietrecht
Yale L.J.
Yale Law Journal
ZAkDR ZEuP ZGR ZGS ZHR
Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis
ZIP
Abkürzungsverzeichnis
ZNR ZPO ZRP ZRph ZVglRWiss ZZP ZZPInt
Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Rechtsphilosophie Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess Zeitschrift für Zivilprozess International
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§ 1 Einleitung A. Die Bedeutung der richterlichen Normbildung Zivilprozesse dienen in erster Linie der verbindlichen Lösung eines privatrechtlichen Konflikts zwischen den beteiligten Prozessparteien. Dabei erfolgt die Streitentscheidung durch eine staatliche Institution, um einerseits Selbsthilfehandlungen zu vermeiden und um andererseits zu garantieren, dass subjektive Rechte effektiv durchgesetzt und bloß angemaßte Rechtspositionen effektiv abgewehrt werden können.1 In diesem Zusammenhang gelangt neben dem reinen Parteiinteresse bereits auch die Perspektive der Rechtsgemeinschaft in das Blickfeld: Indem der Streit um subjektivrechtliche Positionen vor einem staatlichen Forum und unter Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols ausgetragen wird, bewähren sich zugleich das objektive Recht und der Rechtsfrieden.2 Auch diese Gesichtspunkte beziehen sich aber gleichwohl noch auf die Lösung eines konkreten Konflikts zwischen den Prozessparteien, mag die Lösung auch in der Form eines öffentlichen Verfahrens erfolgen.3 Neben diese streitbezogenen Funktionen des Zivilprozesses tritt jedoch eine weitere Dimension. Vor allem auf der höchstrichterlichen Ebene dient die richterliche Entscheidung auch der Vereinheitlichung und der Fortentwicklung des Rechts. Dies geschieht weniger im Interesse der jeweiligen Parteien und auch nicht zur Befriedigung des öffentlichen Interesses an einer geordneten Lösung bereits aufgetretener Konflikte, sondern vielmehr mit Blick auf das Wohl der Rechtsgemeinschaft in der Zukunft.4 Denn die Vereinheitlichung und die Fortentwicklung des Rechts geben Maßstäbe für die zukünftige Gestaltung und Beurteilung einer unbestimmten Vielzahl von Rechtsbeziehungen vor. Hierdurch 1 Statt aller Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, Band I, 1950, S. 94; Jolowicz, [2008] 67 C.L.J. 508, 509 ff. und R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 5 f. 2 Hierzu Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 71 ff. und R. Stürner, Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 545 ff. jeweils m.w.N. 3 Vgl. R. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, S. 48 ff.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, S. 53 f. jeweils m.w.N. 4 Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 4 ff.; Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 7 f.; Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (332 f.).
2
§ 1 Einleitung
erlangt die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung eine genuin öffentliche Funktion, die den Horizont eines konkreten Streitverfahrens übersteigt.5 Während die rechtsvereinheitlichende Aufgabe historisch gesehen schon immer eine wesentliche Legitimationsgrundlage der höchstrichterlichen Instanzen bildete,6 beruht der Gedanke der Fortentwicklung des Rechts durch die Rechtsprechung auf der erst später akzeptierten Einsicht, dass Gerichte Normen nicht nur schlicht anwenden, sondern zum Teil auch selbst setzen. Aus der Realität moderner Rechtsordnungen ist dieses Phänomen der richterlichen Normbildung jedoch nicht mehr wegzudenken. Sollte die Rechtsprechung nach dem berühmten Diktum Montesquieus noch ein bloßer „Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht“, sein7 und verglich Blackstone die Richter mit „Orakeln des Rechts“,8 die gleichsam als ein Medium der „Gottheit Gesetzgeber“ das Recht verkünden, so wird der dritten Staatsgewalt heute geradezu der Stellenwert eines Ersatzgesetzgebers beigemessen.9 In diesem Sinne ist die Rechtsprechung über das klassische, liberal-rechtsstaatliche Postulat einer unabhängigen Ausführung rechtlicher Vorgaben hinausgegangen und sieht sich selbst in der Pflicht, einen eigenständigen konstitutiven Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft zu leisten.10 Eine reine Rechtsvereinheitlichung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ohne Rechtssetzung erscheint vor diesem Hintergrund unmöglich, da das Einheitliche in vielen Fällen nicht aus dem Gesetz abgelesen werden kann, sondern erst durch die Rechtsprechung selbst geschaffen werden muss. In diesem Sinne kann die Rechtsschöpfung durch die obersten Gerichte aus heutiger Sicht sogar als notwendige Voraussetzung der Rechtsvereinheitlichung bezeichnet werden.11 Obwohl diese Entwicklung teilweise kritisch hinterfragt wird, gilt es doch im Grundsatz als unvermeidlich, dass die Rechtssetzung in komplexen und sich mit zunehmender Beschleunigung wandelnden Gesellschaften nur durch ein arbeitsteiliges Zusammenwirken verschiedener Akteure erfolgen kann. Dass in 5 Siehe Habscheid, ZZP 81 (1968), 175 (189); Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 2 f.; M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 43 f. 6 Siehe F. Baur, JZ 1953, 326; Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 7 ff.; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 6 ff. 7 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, hrsg. von Forsthoff, Band I, 1951, 11. Buch, 6. Kapitel, S. 225. 8 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band I, 1765, S. 69. 9 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 174 ff.; Papier, in: HStR, Band VI, 2. Aufl. 2001, § 153 Rdnr. 17; Säcker, MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2006, Einl. Rdnr. 66 ff.; siehe auch – wenngleich im Ergebnis kritisch – Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rdnr. 117 ff. und Rüthers, JZ 2008, 446 (447). 10 H. Jacob, Conclusion, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 389 f. 11 Siehe Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1993, S. 77 f. sowie Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 76 ff.
A. Die Bedeutung der richterlichen Normbildung
3
diesem Rahmen auch der Rechtsprechung ein breites gestalterisches Mandat zukommt, sah der Bundesgerichtshof bereits in seinem Jahresbericht 1966 als unanfechtbar an: „Darüber ist jedenfalls unter Juristen kein Zweifel möglich, daß in allen Zeiträumen das verwirklichte Recht eine Mischung von Gesetzesrecht und Richterrecht gewesen ist, und daß dasjenige Recht, das sich in den Erkenntnissen der Gerichte verwirklicht hat, sich niemals mit demjenigen Recht gedeckt hat, das der Gesetzgeber gesetzt hatte. Zur Erörterung steht immer nur das Maß, nicht das Ob eines Richterrechts.“12
Ganz ähnlich sah dies im Jahr 1975 der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Zeidler: „Die politische, geistige und fachliche Leistungsfähigkeit der Legislative und der Exekutive reichen nicht mehr aus, um das Netzwerk von Regelungen zustande zu bringen, dessen der Interventionsstaat zu einer sinnvollen Erfüllung seiner Aufgaben bedarf. Hier muß die Judikative einspringen und diejenigen Lücken schließen, die sich aus den Kapazitätsgrenzen der anderen Staatsorgane ergeben.“13
Lenkt man den Blick über die Grenzen der deutschen Rechtsordnung hinaus, so erscheint sogar zweifelhaft, ob der Rechtsprechung im Vergleich mit der Gesetzgebung eine bloß ergänzende Funktion bei der Normbildung zukommt. Denn in den Rechtsordnungen des common law ist es, obwohl auch dort die Bedeutung des Gesetzesrechts stetig wächst, zum großen Teil der Rechtsprechung vorbehalten, das Recht fortzuentwickeln. Zwar geht es hierbei nach dem klassischen Verständnis nur darum, die schon immer geltenden Regelungen des Zivilrechts aus dem Fundus tradierter Verkehrsbräuche herauszufiltern und in rechtlich verbindlicher Form festzustellen.14 Doch ist seit Langem anerkannt, dass es sich hierbei in Wahrheit nicht um einen rein feststellenden, sondern um einen normschöpferischen Prozess handelt.15 Auch im common law nimmt die Rechtsprechung somit einen gefestigten Platz unter den normbildenden Institutionen ein, wie die folgenden Worte Jaffes belegen: „The organs of government are partners in the enterprise of lawmaking. […] I would underline the fact that courts and legislatures are in the law business together and should be continually at work on the legal fabric of our society.“16
Diese Annahme begründet beispielsweise Eisenberg in einer Art und Weise, die bis in die Nuancen der oben zitierten Auffassung Zeidlers zur Notwendigkeit der richterlichen Normbildung in Deutschland gleicht:
12
BGH, NJW 1967, 816. Zeidler, DÖV 1975, 797 (801). 14 Siehe zu dieser Sichtweise unten § 3 B I, S. 123 ff. 15 Zusammenfassend für England Stevens, Law and Politics, 1978, S. 589 ff. und für die Vereinigten Staaten Scalia, A Matter of Interpretation, 1997, S. 3 ff. 16 Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 20. 13
4
§ 1 Einleitung
„Our society has an enormous demand for legal rules that private actors can live, plan, and settle by. The legislature cannot adequately satisfy this demand. The capacity of a legislature to generate legal rules is limited […].“17
In diesem Sinne hat bereits Esser sowohl für das common law als auch für das kontinentale Recht von einer „ursprünglichen Normsetzungsaufgabe“ der Gerichte gesprochen, die nicht von den anderen Staatsgewalten abgeleitet sei.18 Die Tendenz zu einer verstärkten normbildenden Rolle der höchstrichterlichen Rechtsprechung vollzieht sich dabei vor dem Hintergrund, dass in den modernen technisierten und vernetzten Gesellschaften immer häufiger Regelungsprobleme auftreten, die einen umfassenden Problemlösungsansatz erfordern. Dem wird das klassische, streitentscheidende Bild der Zivilrechtsprechung, das an subjektive, individuelle Rechte und Pflichten anknüpft, nur sehr eingeschränkt gerecht.19 Aus diesem Grund scheinen die obersten Gerichte zu einer – teilweisen – Aufgabe ihrer traditionellen Rolle zugunsten einer stärker rechtsgestaltenden Funktion genötigt, sofern sie einer Marginalisierung im Gefüge der Staatsgewalten entgehen wollen. Allerdings droht in diesem Zusammenhang zugleich auch eine Überforderung der Zivilrechtsprechung, die ihre klassischen Konturen verwässern lässt. Deshalb hat Esser die besagte Normsetzungsaufgabe der Gerichte nicht nur als einen begrüßenswerten Bedeutungszuwachs begriffen, sondern zugleich auch als ein „Danaergeschenk“.20
B. Die richterliche Normbildung als rechtsmethodisches und verfassungsrechtliches Problem Somit ruft die Erkenntnis, dass der moderne Rechtsstaat mehr und mehr die Gestalt eines Justizstaates annimmt,21 sogleich auch die Frage nach den legitimen Grenzen der richterlichen Normbildung hervor. Diese Grenzen sind Gegenstand einer bereits lange andauernden und breiten Diskussion.
17
Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 4 f.; ders., The Principles of Legal Reasoning in the Common Law, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 81 (82); ähnlich Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 18. 18 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 148 f. 19 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 14 ff., 235 ff. 20 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 302. 21 Siehe MacCormick/Summers, Further General Reflections and Conclusions, in: dies. (Hrsg.), Interpreting Precedents: A Comparative Study, 1997, S. 531 (549).
B. Die richterliche Normbildung als rechtsmethodisches Problem
5
I. Die Grenzen der richterlichen Normbildung Im Zentrum dieser Diskussion stand bisher sowohl im deutschen wie im angloamerikanischen Rechtskreis die normative Abgrenzung gegenüber dem Aufgabenbereich anderer Rechtssetzungsorgane, insbesondere gegenüber der Gesetzgebung.22 Aus deutscher Sicht wurde dieses Problem ursprünglich vorrangig als eine Frage der Methodenlehre diskutiert. Es ging dabei um die methodengerechte Abgrenzung von zulässiger Rechtsschöpfung einerseits und unzulässiger Rechtssetzung durch die Gerichte andererseits.23 Spätestens seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich die Diskussion aber von einer rein methodischen Legitimationsfrage auf die verfassungsrechtliche Ebene verlagert.24 Dies betrifft die Vereinbarkeit der richterlichen Normsetzung mit der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, die auf dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip beruht. 25 Die richterliche Normbildung berührt dabei neben dem Vorrang des Gesetzes auch den Vorbehalt des Gesetzes, nach dem alle für das Gemeinwesen und die Verwirklichung der Grundrechte wesentlichen Entscheidungen durch das Parlament selbst getroffen werden müssen.26 Aus dieser Perspektive handelt es sich bei den Grenzen der Rechtsschöpfung durch die Gerichte um ein Problem der Rechtsquellenlehre im Stufenbau der Rechtsordnung. 27 Eine vergleichbare Diskussion existiert auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis. Spätestens seit der Erkenntnis, dass common law-Gerichte das Recht nicht lediglich passiv vorfinden, sondern aktiv gestalten, hat spiegelbildlich auch die Begrenzung und Mäßigung dieses Prozesses große Aufmerksamkeit erfahren. Unter den Stichworten des „judicial activism“ und des „judicial restraint“ wird daher in England, 28 vor allem aber in den Vereinigten Staaten diskutiert, wie weit die Gerichte in der Herausbildung bisher nicht anerkannter Normen gehen dürfen.29 Diese Kontroverse betrifft zwar zu einem großen Teil 22 Vgl. Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 40 ff.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 16 ff. m.w.N. 23 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 34 ff. 24 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 48 f. 25 Dazu grundlegend Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 325 ff.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975 sowie Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 82 ff. und aus der jüngeren Literatur Foerste, JZ 2007, 122 ff.; Hillgruber, JZ 2008, 745 (746 f.); J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, S. 85 ff. und 139 ff. 26 Siehe Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 60 ff. 27 So bereit Sauer, Festgabe Reichsgericht, Band I, 1929, S. 122 (125 ff.) sowie Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 458. 28 Hierzu Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 8 und King, [2008] 28 Oxford J. Legal Stud. 409 ff. 29 Dazu, mit jeweils unterschiedlichen Standpunkten, einerseits Lewis, The Context of
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§ 1 Einleitung
die Anwendung der US-amerikanischen Verfassung durch die Gerichte,30 hat aber auch für den Bereich des Zivilrechts als Teil des klassischen, richterrechtlich geprägten common law Bedeutung. Dies gilt beispielsweise für die Fortentwicklung des Deliktsrechts durch die Rechtsprechung, insbesondere für die Ausweitung der Produkthaftung (product liability), der Umwelthaftung (environmental liability) und der Arzthaftung (medical malpractice). 31
II. Die Pflicht zur richterlichen Normbildung Betrifft die vorstehend angedeutete Diskussion quasi die Obergrenze zulässiger richterlicher Normsetzung, wird umgekehrt auch erörtert, ob sogar ein Gebot bestehen kann, eine bestimmte Normbildung in einem Zivilprozess vorzunehmen, ob mit der Obergrenze also auch eine Untergrenze korrespondiert. So wird die Grundlage der richterlichen Normbildung im deutschen Rechtskreis häufig in dem so genannten Rechtsverweigerungsverbot verortet.32 Dieses Verbot, das ebenso wie der Vorrang und der Vorbehalt des Gesetzes aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt, soll dabei besagen, dass eine richterliche Entscheidung sich nicht auf den Rahmen der bereits bestehenden Rechtssätze beschränken dürfe, wenn eine sachgerechte Entscheidung des Rechtsstreits nur durch neu gebildete Normen möglich sei. Ihre Grundlage findet diese Sichtweise in der doppelten Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, die einen Auftrag zur Fortentwicklung des Gesetzesrechts einschließe. 33 Die Pflicht zur Streitentscheidung wird auf diesem Wege unter Umständen zu einer Pflicht zur Normbildung.34 Hiermit vergleichbare Argumentationsmuster finden sich auch in den theoretischen Erörterungen des common law. So besagt beispielsweise Ronald Dworkins „one right answer thesis“, dass die Gesamtheit einer Rechtsordnung Judicial Activism, 1999, S. 55 ff. und andererseits Scalia, A Matter of Interpretation, 1997, S. 9 ff., insbesondere S. 37 ff. 30 Exemplarisch Rubenfeld, Revolution by Judiciary, 2005, S. 20 ff. und Waldron, 115 Yale L.J. 1346 ff. (2006). 31 Hierzu im Überblick Friedman, The Litigation Revolution, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, 2008, Band III, S. 175 (182 ff.); Kagan, Adversarial Legalism, 2003, 126 ff. und Marcus, Malaise of the Litigation Superpower, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 71 (100 f.) m.w.N. 32 Hierzu unten § 3 A X 2, S. 90 ff. 33 BVerfGE 34, 269 (286 ff.); 87, 273 (280); 96, 375 (394); BVerfG, NJW 2000, 3635 (3636); Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 325 ff.; kritisch Hillgruber, JZ 2008, 745 (746 f.). 34 Vgl. R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (23 f.): Die „Legitimation zur Rechtsfortbildung ist […] zugleich eine Verpflichtung zur Rechtsfortbildung“.
B. Die richterliche Normbildung als rechtsmethodisches Problem
7
ein „nahtloses Netz“ (seamless web) aus Rechtsprinzipien bilde, das für die Lösung eines bestimmten Rechtsproblems auch dann eine zwingende Vorgabe bereithalte, wenn dieses Problem bisher keine präjudizielle Behandlung erfahren habe.35 Danach lässt sich aus den Prinzipien, die eine Rechtsordnung tragen, für alle grundlegenderen Streitfragen eine zwingende Vorgabe ableiten, die ein idealer Richter („Judge Hercules“) erkennen würde. 36 Auch eine Spielart der ökonomischen Analyse des Rechts plädiert, allerdings von einem ganz anderen Ausgangspunkt als Dworkin, für eine umfassende Pflicht des Richters, das common law fortzuentwickeln. So haben Richter nach Richard Posner die Aufgabe, die Ergebnisse perfekter Märkte zu imitieren, wenn Transaktionskosten eine rein private Lösung vereiteln. 37
III. Divergenzen und Konvergenzen in der Diskussion Diese methodischen und verfassungsrechtlichen Fragen eines Mandats zur richterlichen Normsetzung im Zivilrecht sind mittlerweile über einen langen Zeitraum und in großer Intensität diskutiert worden. Dabei ist die Debatte zu einem vorläufigen Endpunkt gekommen, weil sich zum Teil unüberbrückbare Divergenzen, zum Teil aber auch allgemein akzeptierte Konvergenzen herauskristallisiert haben.
1. Divergenzen in der theoretischen Diskussion So zeichnet sich in der theoretischen Debatte über die methodischen und verfassungsrechtlichen Grenzen des normschöpferischen Mandats der Rechtsprechung ein allseits eingestandener, aber wohl unüberbrückbarer Gegensatz zwischen verschiedenen Meinungslagern ab. Dies belegt beispielsweise in Deutschland die Diskussion über die zutreffende Balance zwischen Richterbindung und Richterfreiheit, die gerade in jüngster Zeit noch einmal mit großem Engagement, aber ohne eine greifbare Synthese geführt wurde. 38 Ähnliches lässt sich im anglo-amerikanischen Recht über den Streit zwischen den Proponenten eines judicial activism einerseits bzw. eines judicial restraint andererseits sagen, die sich ebenfalls unversöhnlich gegenüberstehen. Vor dem Hintergrund dieser Divergenzen kann nur festgehalten werden, dass aus rein faktischer Sicht das Modell einer ausgedehnten Richtermacht letztlich immer in der Offensive ist, da es die Richter selbst 35
Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 279 ff. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 239 ff. 37 R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 10 ff. im Anschluss an Coase, 3 J.L. & Econ. 1, 17 f. (1960); siehe auch Goetz/Scott, 69 Va. L. Rev. 967, 971 (1983). 38 Vgl. hierzu die als unversöhnlich zu bezeichnenden Positionen von Rüthers (ZRph 2005, 1; JZ 2006, 53; JZ 2007, 556; ZRP 2008, 48; JZ 2008, 446) einerseits und Hirsch (JZ 2007, 853) andererseits. 36
8
§ 1 Einleitung
sind, die im konkreten Fall über die Grenzen ihrer Befugnisse zu entscheiden haben und dabei aufgrund ihrer richterlichen Unabhängigkeit allenfalls von anderen (Verfassungs-)Richtern überwacht werden.39
2. Konvergenzen in der rechtsvergleichenden Analyse Herrscht somit auf der rein theoretischen Ebene sowohl in Deutschland als auch im common law eher eine gefestigte Uneinigkeit, so hat die rechtsvergleichende Analyse des richterlichen Entscheidens hingegen bereits seit geraumer Zeit eine deutliche Annäherung zwischen den beiden Rechtskreisen festgestellt:40 Im anglo-amerikanischen Recht wächst zum einen die Zahl der gesetzlichen Regelungen stetig an, so dass sich case law in diesen Bereichen nicht mehr originär, sondern in Anwendung der Gesetze herausbildet.41 Zum anderen werden Präjudizien im common law heute nicht mehr nur als historisch-autoritative Festlegungen begriffen, die als unverbundene Regeln nebeneinanderstehen, sondern als Ausdruck rationaler Prinzipien.42 Dies manifestiert sich in den Vereinigten Staaten insbesondere an der so genannten Restatement-Bewegung. In den Restatements, die unter der Führung des American Law Institute entstehen, wird das vorhandene amerikanische case law zu den klassischen privatrechtlichen Materien (contracts, torts, agency etc.) in systematischer Weise aufgearbeitet, um seine effektivere Nutzung über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg zu ermöglichen.43 Somit leisten die Restatements, obgleich als solche nicht mit bindender Wirkung ausgestattet, langfristig einen Beitrag zur Rationalisierung des case law.44 Ein im weitesten Sinne vergleichbares Phänomen ist in England in neuerer Zeit ebenfalls zu beobachten, dort aber im Rahmen der Rechtsprechung selbst. Gemeint ist die Tendenz einzelner Richter des House of Lords, wichtige Rechtsfragen im Rahmen grundlegender Urteile zunehmend 39 Siehe Esser, Festschrift von Hippel, 1967, S. 95 (113 f.); Thomas, The Judicial Process, 2005, S. 254 ff. 40 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 161 ff.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 188; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 313 ff.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 262 ff.; scharfe Kritik an diesem Konvergenzdenken allerdings bei Legrand, [2006] 1 J.C.L. 13 ff. 41 Hierzu Calabresi, A Common Law for the Age of Statutes, 1982, S. 5 ff. 42 Grundlegend Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, S. 22 ff.; ders., Law’s Empire, 1986, S. 240 ff.; siehe auch Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 285 ff.; Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 64 ff., 76 ff., 83 ff.; Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 568 ff.; Reid, [1972] 12 Journal of the Society of Public Teachers of Law 22, 26 f. 43 Näher zu den Hintergründen der Restatement-Bewegung White, 15 Law & Hist. Rev. 1 ff. (1997) sowie im Überblick Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 246 f. 44 Vgl. Herget/Wallace, 73 Va. L. Rev. 399, 431 f. (1987).
B. Die richterliche Normbildung als rechtsmethodisches Problem
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nicht mehr rein fallbezogen, sondern in stark systematischer Weise abzuhandeln.45 Greift somit der Prozess der Rechtserkenntnis im anglo-amerikanischen Raum immer stärker auch abstrakt-systematische Momente auf, wie sie traditionellerweise dem kontinentalen Recht zugeschrieben werden, sind umgekehrt aber auch die klassischen Charakteristika des common law nicht ohne Einfluss auf das deutsche Recht geblieben. So berücksichtigt die deutsche Rechtsprechung trotz ihrer Einbindung in den Rahmen des kodifizierten Gesetzesrechts zunehmend auch Präzedenzfälle im Stile eines case law.46 Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass angesichts der Vielgestaltigkeit zu entscheidender Lebenssachverhalte ein ubiquitäres Bedürfnis nach Konkretisierung, Anpassung und Ergänzung der gesetzgeberischen Vorgaben besteht, das am besten durch die Orientierung an und die Fortentwicklung von Präjudizien befriedigt werden kann.47 Schließlich hat insbesondere Vogenauer für die Methoden der Interpretation von Gesetzen eine Konvergenz zwischen England und dem europäischen Kontinent festgestellt. Hierbei weichen die klassischen, auf den textlichen Gehalt und den Willen des Gesetzgebers abstellenden Interpretationsmethoden immer stärker einer zweckorientierten Auslegungspraxis, deren Richtung die Rechtsprechung selbst maßgeblich prägt.48 Auch in den Vereinigten Staaten ist das Konzept einer „dynamic interpretation“, das den Gerichten einen großen Spielraum bei der Anpassung von Gesetzen an sich verändernde gesellschaftliche Umstände gewährt,49 zwar keineswegs unumstritten, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung.50 Vor diesem Hintergrund führt die Ausweitung des Gesetzesrechts, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in nahezu allen Rechtsordnungen stattfand, keineswegs zu einer Zurückdrängung des richterlichen Gestaltungsspielraums. Vielmehr äußert sich dieser nun vermehrt in der Anwendung des Gesetzesrechts.51
45
Hierzu näher unten § 3 B VI 1, S. 158 f. Dawson, The Oracles of the Law, 1968, S. 450 ff.; G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3/79 ff. sowie mit einer umfangreichen Übersicht zu der historischen Entwicklung Müßig, ZNR 2006, 79 ff. 47 G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3/88. 48 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band I und II, 2001, vor allem Band II, S. 1254 ff.; ähnlich G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 2/49 ff. und 2/149 ff. 49 Grundlegend Eskridge, Dynamic Statutory Interpretation, 1994. 50 Zusammenfassend R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 191 ff. m.w.N. 51 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 3 f.; Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 72 ff. 46
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§ 1 Einleitung
C. Die richterliche Normbildung als prozessual-institutionelles Problem Neben den skizzierten methodischen und verfassungsrechtlichen Fragen hat eine andere Dimension der richterlichen Normbildung im Zivilrecht bisher weniger Beachtung erfahren.52 Es handelt sich hierbei um die prozessual-institutionelle Seite der Normbildung. Diese Dimension knüpft daran an, dass es sich bei der normbildenden Rechtsprechung nicht nur um einen Entscheidungsakt handelt, sondern vielmehr um das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, der seine eigenen Regeln aufweist. So besteht nach Esser im case law ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Inhalt und dem Modus der Rechtsfindung.53 Dieser Modus knüpft bei der richterlichen Normbildung im Zivilrecht immer an ein konkretes Streitverfahren zwischen privaten Prozessparteien an und ist folgerichtig mit den Gesetzmäßigkeiten dieses Verfahrens untrennbar verknüpft. Das Interesse der konkreten Prozessparteien besteht dabei nicht notwendig in einer Fortentwicklung des Rechts, sondern diese bezwecken mit dem Prozess zumindest regelmäßig eine Entscheidung ihres jeweiligen Rechtsstreits. Somit stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die streitentscheidende Funktion zu der normbildenden Funktion stehen kann und sollte, wenn man die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung als einen institutionalisierten Entscheidungsprozess betrachtet. Eine maßgebliche Rolle hierfür spielt die Ausgestaltung dieses Prozesses durch das jeweilige Gerichtsverfassungs- und Zivilprozessrecht. So hat Leipold zu Recht davon gesprochen, dass die richterliche Normbildung nicht nur ein Problem der juristischen Methode, sondern auch des Zivilprozessrechts darstellt.54 Folgerichtig stellt sich die Frage, inwieweit Zivilverfahren aus prozessual-institutioneller Sicht zwischen den Aspekten der Streitentscheidung und der Normbildung tatsächlich vermitteln bzw. idealerweise vermitteln sollten. Obwohl diese Frage bisher neben den rein methodischen und verfassungsrechtlichen Fragen der richterlichen Normbildung nicht im Mittelpunkt der Erörterungen stand, existieren hierzu bereits einige Untersuchungen. Beispielsweise haben Hergenröder55 und Lames56 das Wechselspiel zwischen der Prozessstruk52 Zu den unterschiedlichen Facetten des Verhältnisses zwischen der richterlichen Normanwendung und der richterlichen Normbildung im Überblick Flume, Richter und Recht, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages Essen 1966, Band II, 1967, K 5 ff. 53 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 107 ff. 54 Leipold, Ritsumeikan Law Review 4 (1989), 161; ähnlich F. Baur, Richtermacht und Formalismus im Verfahrensrecht, in: Summum Ius. Summa Iniuria, 1963, S. 97 (100): Die richterliche Normbildung sei in einem „Zwischenbereich des materiellen und Verfahrensrechts angesiedelt“. 55 Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995. 56 Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1993.
C. Die richterliche Normbildung als prozessual-institutionelles Problem
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tur und der Fortbildung des Zivilrechts für das deutsche Recht einer eingehenden dogmatischen Untersuchung unterzogen. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis haben unter anderem Horowitz,57 Komesar58 und Vermeule59 die Kompetenz der Gerichte zu einer Normbildung aus institutionentheoretischer Sicht behandelt. Schließlich bestehen auch für eine rechtsvergleichende Betrachtung der prozessual-institutionellen Rahmenbedingungen, die der normbildenden zivilrichterlichen Tätigkeit zugrunde liegen, Ansätze in der Literatur.60 Eine umfangreichere rechtsvergleichende Betrachtung hierzu steht aber noch aus und soll den Gegenstand dieser Arbeit bilden. Wie Vermeule dargelegt hat, erscheint eine prozessual-institutionelle Sicht auf die richterliche Normbildung dabei gerade auch deshalb interessant, weil sie von der Stellungnahme zu methodischen und verfassungstheoretischen Fragen, über deren Lösung tief greifende und kaum überbrückbare Meinungsverschiedenheiten bestehen, weit gehend unabhängig ist. 61 Es handelt sich in diesem Sinne nicht um eine Betrachtung der „ersten Ordnung“, sondern der „zweiten Ordnung“. Die Bedeutung dieser zweiten Ordnung, dass heißt der prozessual-institutionellen Struktur des richterlichen Entscheidungsverfahrens, wächst dabei mit einer zunehmenden Hinterfragung und Wandelbarkeit der Rechtsinhalte, die in den vergangenen Jahrzehnten das Privatrecht immer stärker aus seiner inneren Harmonie gerissen haben. Somit verspricht die prozessual-institutionelle Perspektive einen zwar begrenzten Erkenntnisgewinn, der aber selbst aus Sicht ganz unterschiedlicher methodischer und normativer Positionen von Bedeutung ist. 62 Dabei soll keineswegs übersehen werden, dass auch eine prozessual-institutionelle Analyse selbstverständlich normativen Charakter hat und keine rein deskriptive Übung darstellt. Die institutionellen und verfahrensmäßigen Rahmenbedingungen des Zivilprozesses sind ihrerseits notwendig an die verfassungsrechtlichen und rechtsmethodischen Grundregeln des betreffenden Rechtssystems rückgebunden. Gleichwohl wäre es übertrieben, die Struktur des richterlichen Entscheidungsverfahrens als eine bloße Konkretisierung von Rechtsmethode und Verfassung zu betrachten.63 Allerdings bestehen in57
The Courts and Social Policy, 1977. Imperfect Alternatives, 1994. 59 Judging under Uncertainty, 2006. 60 Genannt seien an dieser Stelle nur Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982; H. Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996 und Jolowicz, On Civil Procedure, 2000. 61 Siehe Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 1 ff. und 63 ff. 62 Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 82 f.; siehe auch Kornhauser, 68 S. Cal. L. Rev. 1605, 1612 f. (1995). 63 Siehe R. Stürner, Festschrift Baur, 1981, S. 647 (648 f.); anders wohl Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 20, nach dem „das Zivilprozeßrecht als angewandtes Verfassungsrecht“ zu begreifen ist. 58
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§ 1 Einleitung
soweit natürlich erhebliche Wechselwirkungen, die auch die nachfolgende Analyse des Verhältnisses von Streitentscheidung und Normbildung im Zivilprozess immer wieder beeinflussen werden.
D. Das Ziel der Darstellung Die vorliegende Arbeit wird das prozessual-institutionelle Spannungsverhältnis zwischen Streitentscheidung und Normbildung im deutschen, englischen und US-amerikanischen Recht untersuchen. Dabei kann Folgendes als Ausgangspunkt festgehalten werden: Auf der höchstrichterlichen Ebene spielen stets beide Aspekte eine gewisse Rolle.64 So erscheint eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die keinerlei normbildende Funktion wahrnimmt, sondern sich ausschließlich auf eine erneute, fehlerkorrigierende Streitentscheidung beschränkt, zumindest aus heutiger Sicht unrealistisch. Umgekehrt kann ihre Aufgabe aber auch nicht in einer reinen Normbildung liegen, da die höchstrichterliche Rechtsprechung zumindest in den hier behandelten Rechtsordnungen zugleich immer Einfluss auf die Bestandskraft der vorinstanzlichen Entscheidung hat und damit ein streitentscheidendes Moment aufweist. Jedoch sind in der Gewichtung der beiden Aspekte zueinander ganz unterschiedliche Modelle denkbar, wie auch die folgende Darstellung belegen wird.65 Trotz aller Nuancierungen, die somit denkbar sind, lassen sich gleichwohl zwei entgegengesetzte Grundkonzepte unterscheiden. Das eine Modell rückt stark die Normbildung in den Vordergrund und erblickt in ihr die „eigentliche“ Aufgabe der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung. Der konkrete Fall bildet in diesem Modell – zugespitzt gesprochen – nur einen mehr oder weniger willkommenen Anlass, um allgemeine, abstrakte Rechtssätze herauszubilden. Das andere Modell bezieht hingegen den Kern der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf den jeweils in Rede stehenden Fall und nimmt an, dass die Normbildung gerade aus einer Entscheidung ebendieses Falls fließen sollte, was zu einer wesensmäßigen Verkoppelung von Streitentscheidung und Normbildung führt. Vor diesem Hintergrund verfolgt die vorliegende Arbeit zwei Hauptziele: Zum einen soll dargelegt werden, dass im Laufe der historischen Entwicklung das erste Modell, das sich stark auf die Normbildung fokussiert, tendenziell an Wirkungsmacht gewonnen hat, wenngleich auch in den einzelnen Rechtsordnungen in unterschiedlicher Intensität. Zum anderen soll in einer Bewertung dieses Befunds der Standpunkt entwickelt werden, dass das zweite Modell, das 64 Zu den Idealtypen der Streitentscheidung und der Rechtsgestaltung als Aufgaben des Rechtsprechungsprozesses und zu ihrer Verbindung eingehend Damaska, The Faces of Justice and State Authority, 1986, S. 88 ff. 65 Hierzu insbesondere der entwicklungsgeschichtliche Überblick in § 3, S. 34 ff.
D. Das Ziel der Darstellung
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den Fallbezug der höchstrichterlichen Tätigkeit unterstreicht, durchaus bisher unterschätzte Vorzüge besitzt. Dabei folgt die hier zu entwickelnde Sichtweise einem Grundgedanken, der am prägnantesten durch Friedrich August von Hayek als so genanntes Wissensproblem beschrieben worden ist. Danach hängt der Erfolg einer Gesellschaft zu einem erheblichen Teil davon ab, ob und inwieweit sie durch ihre Institutionen in der Lage ist, Informationen zu bündeln und nutzbar zu machen, die unter ihren Mitgliedern weit verstreut sind und die daher keine zentrale Instanz in ihrer Gesamtheit überblickt. Für den Bereich des Privatrechts gewinnt dieses Wissensproblem dabei in dem Maße an Bedeutung, in dem durch die zunehmende Materialisierung und Flexibilisierung des Rechts seine inhaltliche Abhängigkeit von außerrechtlichen Strömungen des Zeitgeistes ansteigt.66 Dies führt zugleich zu einer steigenden Ungewissheit darüber, was aus rechtlicher Sicht gültig ist. Kann aber das System des Privatrechts immer weniger eine abstrakte Orientierungsfunktion erfüllen, gewinnt umgekehrt der konkrete Streitfall als maßgebliche Referenz der normbildenden Rechtsprechung eine wachsende Bedeutung. Er stellt für die höchstrichterliche Rechtsprechung eine „Wissensquelle“ dar und bildet damit die maßgebliche Stütze bei der richterlichen Normbildung. Für den Zivilprozess soll hieraus in der vorliegenden Arbeit die These abgeleitet werden, dass die richterliche Normsetzung nicht durch einen planenden Prozess erfolgen sollte, in dem sich die Gerichte von dem konkreten Rechtsstreit als einem historischen Geschehen weit gehend lösen, um einen größtmöglichen Beitrag zur Gestaltung des Zivilrechts zu leisten. Vielmehr setzt die erfolgreiche und mit einer Richtigkeitsvermutung versehene Normbildung im Zivilprozess stets eine Rückkoppelung an die Streitsache und das Prozessziel der Parteien voraus. Eine gesunde höchstrichterliche Rechtsprechung begreift sich in diesem Sinne nicht als ein „legal engineering“, das Normbildung „anlässlich“ einer Streitentscheidung betreibt, sondern wird normsetzend nur soweit tätig, als der konkrete Rechtsstreit dies erfordert und gestattet. Die höchstrichterliche Rechtsprechung im Zivilrecht muss daher neben ihrer unbestreitbar wichtigen Funktion, die Entwicklung der Rechtsordnung voranzutreiben, immer auch dadurch geprägt sein, dass sie eine Korrektur bzw. eine Bestätigung der vorangehenden Entscheidung in einem konkreten Rechtsstreit vornimmt. Nur wenn und soweit der zu entscheidende Fall in der Gestalt, in der er im Prozess vorgetragen und aufbereitet wird, die Informationen offen legt, die für die angemessene Klärung einer bestimmten Rechtsfrage notwendig sind, kann diese Frage sinnvoll durch die Rechtsprechung entschieden werden. Daher ist die Normbildung in Zivilprozessen untrennbar mit der Lösung des konkreten, privaten Konflikts verbunden, das heißt sie erfolgt nicht „anlässlich“, sondern „durch“ 66 Grundlegend hierzu Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 22 ff., 59 ff., 77 ff. und 166 ff.
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§ 1 Einleitung
eine Streitentscheidung. Auf diesem Wege, den vor allem Esser bereits als Idealbild der höchstrichterlichen Tätigkeit beschrieben hat,67 lassen sich die Vorzüge einer Regulierung durch die Rechtsprechung einerseits und eines auf individueller Initiative beruhenden Prozessgeschehens andererseits miteinander verbinden. Gerade aus einer solchen Verbindung ergibt sich die „einzigartige Stärke“ des Rechtsprechungsprozesses.68 Der Gedanke einer Normbildung durch Streitentscheidung impliziert dabei zugleich, dass das Ziel der vorliegenden Arbeit nicht sein kann, ein quantitatives Maß anzugeben, in dem richterliche Normbildung als legitim erscheint. Vielmehr soll ein qualitativer Modus der Rechtsschöpfung dargelegt werden, der allerdings der Normbildung im Einzelfall auch sachliche Grenzen ziehen kann. Dabei verkörpert die Wahrung einer Einheit aus Streitentscheidung und Normbildung nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine legitime richterliche Normbildung. Daneben mögen zahlreiche andere Grenzen treten, wie in Deutschland zum Beispiel der Wesentlichkeitsvorbehalt zugunsten des parlamentarischen Gesetzgebers. Bildet die Verknüpfung von Normbildung und Streitentscheidung somit nur eine Facette des Gesamtproblems, vermag sie aber umgekehrt der richterlichen Regelbildung auch eine kategoriale Grenze zu setzen. Die vorliegende Arbeit wendet sich in diesem Sinne gegen eine Sichtweise, nach der es bei der Auslotung des legitimen Spielraums für richterliche Normbildungen um einen topisch geprägten Abwägungsprozess geht, der keine festen Bezugspunkte wie eben die Zentrierung um die Streitentscheidung kennen würde, sondern nur bloße „Gesichtspunkte“, die je nach den Umständen in größerer oder geringerer Intensität „zu berücksichtigen“ wären. Die hier zu entwickelnde Auffassung plädiert daher durchaus für eine (Selbst-) Beschränkung der höchstrichterlichen Rechtsprechung gegenüber dem denkbaren alternativen Modell, das ihr eine abstrakte Normbildungsbefugnis und damit eine ambitioniertere Rolle zugesteht.
67 Esser, JZ 1962, 513 ff.; ähnlich auch Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 81 ff.; Jagusch, NJW 1953, 161 ff.; Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 12; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 261; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, S. 62 f. 68 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 32.
E. Eingrenzung des Untersuchungsprogramms
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E. Eingrenzung des Untersuchungsprogramms I. Die maßgeblichen normbildenden Instanzen Wie Jolowicz deutlich herausgearbeitet hat, besteht eine besondere Schwierigkeit rechtsvergleichender Erörterungen zu Fragen des Rechtsmittelprozesses darin, dass die Rechtsmittelebenen in den einzelnen Staaten zum Teil sehr unterschiedlich strukturiert sind.69 Dieses Problem stellt sich auch für die vorliegende Untersuchung des Verhältnisses von Streitentscheidung und Normbildung durch den Zivilprozess. Dementsprechend müssen für die betrachteten Rechtsordnungen zunächst die Ebene bzw. die Ebenen im Instanzenzug identifiziert werden, auf denen die normbildende Tätigkeit maßgeblich angesiedelt ist.
1. Deutschland In Deutschland betrifft dies das Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof, das gemäß §§ 545 f. ZPO auf die Korrektur von Rechtsverletzungen begrenzt ist und starke normbildende Züge aufweist. Demgegenüber steht sowohl auf der erstinstanzlichen Ebene als auch auf der Berufungsebene die korrekte Beurteilung des einzelnen Rechtsstreits derart gegenüber einer etwaigen Normbildung im Vordergrund, dass diese Ebenen hier ausgespart bleiben. Diese Einschätzung gilt auch für die Berufung selbst nach der Zivilprozessreform 2001 fort. Der Zweck dieser Reform war es zwar, die Berufung von einer vollwertigen zweiten Beurteilung des Rechtsstreits zu einer bloßen Korrekturinstanz in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umzugestalten. 70 Gleichwohl dominiert der Aspekt einer möglichst zutreffenden Entscheidung des jeweiligen Rechtsstreits hier weiterhin deutlich gegenüber dem Ziel der Normbildung im Interesse der Rechtsgemeinschaft. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Berufung immer noch in relativ weitem Umfang eine Neuerhebung oder Neubewertung der tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung zulässt, obwohl die zweite Instanz gemäß § 529 ZPO nicht mehr zu einer vollständigen Neuverhandlung des Rechtsstreits in tatsächlicher Hinsicht führt. Denn zumindest müssen nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO unvollständige oder unrichtige Tatsachenfeststellungen weiterhin korrigiert werden, sofern für derartige Mängel „konkrete Anhaltspunkte“ bestehen. Dabei werden diese Möglichkeiten zu einer Berichtigung des Tatsachenstoffs, vorgezeichnet durch entsprechende Judikate des Bundesgerichtshofs, 71 69
Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 328 ff. BT-Drucks. 14/4722, S. 61, 64; Rimmelspacher, MünchKomm. ZPO, 3. Aufl. 2007, Vor §§ 511 ff. Rdnr. 4; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 133 Rdnr. 21. 71 Siehe BGHZ 158, 269; 160, 83; 162, 313. 70
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§ 1 Einleitung
in der Praxis tendenziell großzügig gehandhabt.72 Zudem können in der Berufung gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit § 531 Abs. 2 ZPO weiterhin neue Angriffs- und Verteidigungsmittel eingeführt werden, soweit die betreffende Partei sie in der ersten Instanz ohne eigenes Verschulden noch nicht vorgebracht hat und sie damit nicht präkludiert sind. Das Berufungsgericht ist somit in tatsächlicher Hinsicht keineswegs streng auf die Korrektur von Verfahrensfehlern bei der Beweiserhebung oder Beweiswürdigung beschränkt, sondern besitzt relativ weit reichende Möglichkeiten, den Sachverhalt im Sinne einer möglichst befriedigenden Streitentscheidung neu zu konturieren.73 Zum anderen tritt auch im Rahmen der rechtlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht der Aspekt der Normbildung deutlich gegenüber demjenigen einer Fehlerkorrektur im konkreten Einzelfall zurück. Zumindest im Bereich des allgemeinen Zivilrechts, auf den sich die nachfolgende Untersuchung konzentrieren soll,74 werden die maßgeblichen Normbildungen erst durch Revisionsentscheidungen vorgenommen. Die Berufungsebene verbleibt hierbei in der Regel eine reine „Durchlaufstation“. Dass der Kern der richterlichen Normbildung in Deutschland auf der Revisionsebene zentriert ist, wird vor allem durch die im internationalen Vergleich eher überdurchschnittlichen Kapazitäten des Bundesgerichtshofs ermöglicht. So ergingen durch ihn in dem Zeitraum von 2000 bis 2009 jährlich zwischen 657 und 954 Urteile in Zivilsachen.75 Zudem bewirkt der Umstand, dass mit der Zivilprozessreform 2001 die Revision zum Bundesgerichtshof auch für Verfahren eröffnet worden ist, die erstinstanzlich durch die Amtsgerichte entschieden werden, eine weitere Konzentration der Normbildung auf der obersten fachgerichtlichen Ebene. Vor diesem Hintergrund liegt umgekehrt die dominierende Funktion der Berufung auch weiterhin in der Herstellung einer korrekten Entscheidung im Interesse der Prozessparteien.76 Die Normbildung tritt demgegenüber stark in den Hintergrund.77 Dies rechtfertigt es, die Landgerichte bzw. Oberlandesgerichte als Berufungsebenen aus der Untersuchung auszublenden.
72
Überblick hierzu bei Rimmelspacher, MünchKomm. ZPO, 3. Aufl. 2007, § 529 Rdnr.
15 ff. 73
Murray/Stürner, German Civil Justice, 2004, S. 381 ff. m.w.N. Siehe dazu noch § 1 E III, S. 20 f. 75 Übersicht über den Geschäftsgang bei den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofes im Jahre 2009 – Jahresstatistik –, S. 21; abrufbar unter http://www.bundesgerichtshof.de/ cln_134/DE/BGH/Statistik/statistik_node.html (abgerufen am 1. August 2010). 76 Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (335 ff.). 77 BT-Drucks. 14/4722, S. 61. 74
E. Eingrenzung des Untersuchungsprogramms
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2. Common Law Hingegen erfolgt eine Rechtskontrolle, die eine starke normbildende Tendenz aufweist, in den anglo-amerikanischen Rechtsordnungen typischerweise auf zwei Stufen, die unter dem Oberbegriff des appellate process zusammengefasst werden.78 Auf der obersten Stufe stand in England bis zum Oktober 2009 das House of Lords. Dessen rechtsprechender Zweig wurde dann in den Supreme Court of the United Kingdom überführt, allerdings ohne dass hiermit erhebliche sachliche Veränderungen für das rechtsprechende Mandat des höchsten Gerichts verbunden gewesen wären.79 Hauptmotiv der Änderung war vielmehr, das oberste Gericht formal noch stärker von der legislativen Seite des House of Lords abzutrennen und damit auch den Vorgaben über die Unabhängigkeit der Gerichte aus Art. 6 EMRK zu genügen.80 Hinzu tritt der Court of Appeal als Mittelinstanz. Nach dem 1998 reformierten englischen Prozessrecht ist der Court of Appeal jedoch nicht mehr für alle Zivilrechtsstreitigkeiten als erste Appellationsinstanz zuständig.81 Vielmehr werden appeals gegen erstinstanzliche Entscheidungen der county courts oder des High Court bei einfacheren Verfahren nun von speziellen Appellationsabteilungen der county courts oder des High Court selbst entschieden. Der Court of Appeal behält seine Zuständigkeit als erste Appellationsinstanz im Grundsatz nur bei den bedeutenderen Verfahren der county courts oder des High Court, die im so genannten multi-track-Verfahren behandelt werden.82 Dabei setzt ein multi-track-Verfahren gemäß Rule 26.6 CPR in der Regel einen Streitwert von mehr als £ 15.000,– voraus. Wird dieser Streitwert nicht erreicht, so kann sich die Zuständigkeit des Court of Appeal aber gemäß 78 Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 4; näher Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 44 ff.; Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 30 ff.; teilweise wird der Begriff appeal allerdings auch auf das Rechtsmittelverfahren vor den mittleren Instanzgerichten beschränkt; siehe Böhm, Amerikanisches Zivilprozessrecht, 2005, Rdnr. 710. 79 Rechtsgrundlage der Änderung ist der Constitutional Reform Act 2005 (c. 4), Part 3. 80 Siehe Explanatory Memorandum to the Supreme Court Rules 2009, para 7; Andrews, English Civil Procedure, 2003, 38.78; Steyn, [2002] 118 L.Q.R. 382 ff.; ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Supreme Court of the United Kingdom Le Sueur, From Appellate Committee to Supreme Court: A Narrative, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 64 ff. 81 Einschlägige Rechtsgrundlage für die Appellationszuständigkeit ist der Access to Justice Act 1999 (Destination of Appeals) Order 2000, SI 2000/1071 (L 10); dazu Graininger/ Fealy, The Civil Procedure Rules in Action, 2. Aufl. 2000, S. 168 f.; zur früheren Rechtslage siehe Leipold, Die Rechtsmittel des Zivilprozesses im europäischen Vergleich, in: Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Rechtsstaat – Rechtsmittelstaat?, 1999, S. 66 (69 f.). 82 Einen genauen Überblick zu den einschlägigen Appellationsinstanzen gibt die Practice Direction 2A.1. zu Part 52 CPR; siehe auch M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 82 f.
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§ 1 Einleitung
Rule 52.14 (1) (a) CPR daraus ergeben, dass der appeal „an important point of principle or practice“ aufwirft. In den Vereinigten Staaten fächert sich das Gefüge der Appellationsgerichte durch die Parallelität von Bundesgerichten und einzelstaatlichen Gerichten relativ stark auf.83 Auf der Bundesebene existieren als oberstes Gericht der US Supreme Court sowie in der Mittelinstanz die US Courts of Appeals. Dem entsprechen auf der einzelstaatlichen Ebene die state supreme courts bzw. die intermediate appellate courts, die in den meisten Bundesstaaten als Mittelinstanzen bestehen.84 Die geringe personelle Besetzung des House of Lords mit zwölf hauptamtlichen Richtern bzw. der supreme courts in den USA mit jeweils fünf bis neun Richtern85 und die daraus folgende eingeschränkte Kapazität dieser obersten Gerichte erlauben es nicht, auch nur den Kern der richterlichen Normbildung im Zivilrecht auf die höchste Instanz zu konzentrieren. Beispielsweise erließ das House of Lords im Jahr 2008 nur 78 Urteile in Nicht-Strafsachen, das heißt in Zivilsachen und in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten.86 Ein ähnliches Bild ergibt sich für den US Supreme Court, der im Geschäftsjahr 2008 lediglich 83 Urteile in allen Rechtsgebieten fällte.87 Aus diesem Grund werden selbst wichtige Rechtsfragen in England und in den Vereinigten Staaten häufig nicht auf der höchstrichterlichen Ebene im engeren Sinne geklärt, sondern bereits auf dem intermediate appellate level.88 Umgekehrt überprüfen die mittleren Appellationsgerichte im common law Tatsachenfragen nur in einem restriktiveren Maß, als dies beispielsweise in Deutschland auf der Berufungsebene der Fall ist. Dabei gehen die Kompetenzen zu einer Kontrolle der Tatsachen bei den englischen Appellationsgerichten im Vergleich mit den US-amerikanischen Appellationsgerichten tendenziell etwas weiter.89 In der Regel wird die Tatsachenfrage aber in beiden Rechtsordnungen nur dann erneut aufgegriffen, wenn Verfahrensfehler bei der Beweiser83
Im Überblick Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 99 ff. Derzeit bestehen in 39 der 50 Bundesstaaten intermediate appellate courts; siehe Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 101 f. 85 Siehe dazu die Übersicht bei Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 99 f. 86 Siehe Ministry of Jusitice, Judicial and Court Statistics 2008, S. 20; abrufbar unter http://www.justice.gov.uk/publications/judicialandcourtstatistics.htm (abgerufen am 1. August 2010). 87 Supreme Court of the United States, 2008 Term Opinions of the Court; abrufbar unter http://www.supremecourt.gov/opinions/slipopinions.aspx?Term=08 (abgerufen am 1. August 2010). 88 Vgl. Böhm, Amerikanisches Zivilprozessrecht, 2005, Rdnr. 158, 178; Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 74 und 293 f.; Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 85; R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 143 f.; Wilson/Christiansen, England and Wales, in: Platto (Hrsg.), Civil Appeal Procedures Worldwide, 1992, S. 140 (145). 89 Dazu Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 303 ff., 309 f., 315 f. 84
E. Eingrenzung des Untersuchungsprogramms
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hebung oder Beweiswürdigung vorliegen.90 Seine historische Wurzel hat diese anglo-amerikanische Zurückhaltung bei der Neuermittlung von Tatsachen darin, dass die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung ursprünglich immer durch eine Jury erfolgte und deren Urteil durch die Rechtsmittelinstanz nicht übergangen werden durfte.91 Zwar spielt die Jury heute in Zivilprozessen in den Vereinigten Staaten nur noch zum Teil und in England gar keine Rolle mehr.92 Gleichwohl wird die streitbezogene Funktion des Appellationsprozesses in Anknüpfung an die historische Tradition immer noch stärker in einer Korrektur materiellrechtlicher oder verfahrensrechtlicher Fehler der unteren Instanz gesehen, als in einer umfassenden erneuten Entscheidung des gesamten Rechtsstreits.93 Auch auf der mittleren Ebene des Instanzenzugs liegt der Schwerpunkt daher eindeutig auf der Beurteilung von Rechtsfragen.94 Dies rechtfertigt die Einbeziehung dieser mittleren Ebene in die vorliegende Untersuchung. Aus diesem Grund wird der Begriff der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der Folge auch dann verwendet, wenn hierbei für die anglo-amerikanischen Rechtsordnungen nicht nur die oberste, sondern auch die mittlere Instanz gemeint ist.
II. Aussparung der Sachverhaltsermittlung Keine Berücksichtigung erfährt in der vorliegenden Arbeit der Zusammenhang, der zwischen der Normbildung auf den höheren Prozessebenen und der Form der Tatsachenermittlung zu Beginn des jeweiligen Streitverfahrens besteht. Zwar ist nicht zu verkennen, dass auch die Art und Weise der Tatsachenermittlung gerade bei neuartigen Streitgegenständen einen erheblichen Einfluss darauf haben kann, inwieweit durch die Gerichte im weiteren Instanzenzug 90 Siehe im Überblick zu der Rechtslage in England: Part 52.11 CPR sowie Andrews, English Civil Procedure, 2003, 38.27 ff., und zu der Rechtslage in den USA: Friedenthal/Kane/ Miller, Civil Procedure, 4. Aufl. 2005, S. 639 ff. sowie Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 40 ff. 91 Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 94, 99. 92 Siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 265 ff. 93 Glaeser/Shleifer, 117 Quarterly Journal of Economics 1193, 1219 (2002); Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 73; M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 21 ff.; differenzierend für England aber Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 304 f. und 315 f. 94 Zu diesem Funktionsunterschied im Verhältnis zum deutschen Instanzenaufbau bereits Harris/Schwarz, 30 Tex. L. Rev. 462, 476 ff. (1952); Leipold, Die Rechtsmittel des Zivilprozesses im europäischen Vergleich, in: Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Rechtsstaat – Rechtsmittelstaat?, 1999, S. 66 (72 f.) und M. Vollkommer, ZZP 73 (1960), 145 (188).
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§ 1 Einleitung
eine Normbildung erfolgen kann. Von besonderer Bedeutung ist dabei auf einer ersten Stufe, wie die Beweiserhebung strukturiert ist. Dies betrifft beispielsweise die Fragen, ob die Verantwortung für die Beweiserhebung stärker bei dem Gericht oder bei den Parteivertretern liegt95 und in welchem Maße der jeweilige Prozessgegner oder Dritte an der Sachverhaltsaufklärung im Dienste einer materiellen Wahrheit mitwirken müssen.96 Auf einer zweiten Stufe wird dann die Frage relevant, ob die Würdigung der erhobenen Beweise dem Richter oder, wie in Teilbereichen des US-amerikanischen Zivilrechts, der Jury als einem Laiengremium obliegt.97 Die Art und Weise, wie eine Rechtsordnung diese Probleme löst, beeinflusst maßgeblich, in welcher Weise Lebenssachverhalte in den Instanzgerichten juristisch aufbereitet werden und sich später auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Grundlage ihrer Normbildung präsentieren. Jedoch würde die Verfolgung der Wechselwirkung zwischen Tatsachenermittlung und normbildender Rechtskontrolle den Umfang der vorliegenden Betrachtung sprengen, die nur die unmittelbaren prozessual-institutionellen Rahmenbedingungen der höchstrichterlichen Normbildung zum Gegenstand hat. Anders verhält es sich hingegen mit den so genannten Normbildungstatsachen oder legislative facts. Diese betreffen nicht den Sachverhalt des konkret zu entscheidenden Rechtsstreits, sondern allgemeinere ökonomische, soziale oder auch politische Zusammenhänge, die für den Inhalt einer richterlich neu zu bildenden Norm bedeutsam sein können. Die Frage, ob und auf welchem Wege die höchstrichterliche Rechtsprechung derartige Tatsachen berücksichtigt, ist von zentraler Bedeutung für ihre normbildende Tätigkeit. Dementsprechend wird diese Frage auch in dieser Arbeit thematisiert werden.98
III. Begrenzung auf den allgemeinen Zivilprozess Weiterhin beschränkt sich die Darstellung auf den allgemeinen Zivilprozess unter Ausblendung der Sonderprivatrechte und spezieller Verfahrensformen. Diese Ausblendung rechtfertigt sich aus rechtsvergleichender Sicht dadurch, dass für Sondermaterien in den hier behandelten Rechtsordnungen eine zu starke ge95
Hierzu die klassische Kontroverse zwischen Langbein, 52 U. Chi. L. Rev. 823 ff. (1985), der das deutsche Modell mit stärkeren Einflussmöglichkeiten des Richters favorisiert, und Gross, 85 Mich. L. Rev. 734 ff. (1987), der das parteibezogene anglo-amerikanische Modell verteidigt. Die Unterschiede relativierend aber Bernstein, 21 U.C. Davis L. Rev. 587 ff. (1988) und Allen/Köck/Riechenberg/Rosen, 82 Nw. U. L. Rev. 705, 722 ff. (1988). 96 Zu dieser Frage aus jüngerer Zeit R. Stürner, Festgabe Vollkommer, 2006, S. 201 ff. m.w.N. 97 Vgl. zu der Bedeutung dieser Frage Atiyah/Summers, Form and Substance in AngloAmerican Law, 1987, S. 157 ff.; Kagan, Adversarial Legalism, 2003, S. 104 ff. 98 Siehe unten § 5 B, S. 392 ff.
F. Der Gang der Darstellung
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richtsverfassungsrechtliche und prozessuale Divergenz besteht.99 So ist die Untergliederung in verschiedene Gerichtszweige und Verfahrensformen für unterschiedliche Streitmaterien in England und in den Vereinigten Staaten weit weniger ausgeprägt als in Deutschland. Beispielsweise sind die ordentlichen Gerichte in England und in den Vereinigten Staaten regelmäßig auch für öffentlichrechtliche Streitigkeiten zuständig und verhandeln diese zumindest grundsätzlich nach Maßgabe des Prozessrechts, das auch in privatrechtlichen Streitigkeiten gilt. Beide Materien werden dabei unter dem Oberbegriff der „civil cases“ als Gegenstück zu den „criminal cases“ zusammengefasst.100 So bildet in England die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Akten der öffentlichen Gewalt nach Part 54 CPR einen bloßen Unterfall des Zivilprozesses. Hingegen besteht in Deutschland selbst innerhalb des Privatrechts eine Aufgliederung der Gerichtszweige und Verfahrensarten. So werden arbeitsrechtliche Prozesse in einem eigenen Gerichtszweig verhandelt und für Familiensachen bestehen nach dem FamFG101 zahlreiche prozessuale Besonderheiten. Als gemeinsamer, für eine vergleichende Betrachtung besonders geeigneter Kern verbleibt somit sowohl in Deutschland als auch im common law das Verfahren in allgemeinen Zivilsachen, das jeweils vor den ordentlichen Gerichten nach Maßgabe des Zivilprozessrechts ausgetragen wird.
F. Der Gang der Darstellung Die Darstellung beginnt mit einer Präzisierung des hier zugrunde gelegten Begriffs der richterlichen Normbildung (§ 2). Hieran schließt sich in einem ersten Hauptabschnitt ein entwicklungsgeschichtlicher Überblick zu dem Verhältnis an, das zwischen den Momenten der Streitentscheidung und der Normbildung im deutschen, englischen und US-amerikanischen Recht besteht (§ 3). Der darauf folgende zweite Hauptteil hat im Anschluss an Hayek den Gedanken eines organisch-fallbezogenen Normbildungsprozesses durch Zivilverfahren zum Gegenstand und setzt sich mit abweichenden Auffassungen auseinander, die für ein stärkeres Mandat der Zivilrechtsprechung zu einer regulierenden Normbildung eintreten (§ 4). Im letzten Hauptabschnitt werden schließlich zwei Einzelfragen des Zivilprozesses vor dem Hintergrund des Modells einer fallinduzierten Normbildung untersucht (§ 5). Dies betrifft zum einen die Frage, unter welchen Voraussetzungen Rechtsstreitigkeiten überhaupt auf die höchstrichterliche 99
Vgl. hierzu Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 12 ff. m.w.N. Vgl. Carp/Stidham/Manning, Judicial Process in America, 7. Aufl. 2007, S. 263 ff. und Kritzer, Courts, Justice, and Politics in England, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 81 (87 ff.). 101 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) vom 17. Dezember 2008, BGBl. I, S. 2586. 100
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§ 1 Einleitung
Ebene gelangen können, wie also in den einzelnen Rechtsordnungen gegenwärtig der Zugang zu den normbildenden Instanzen ausgestaltet ist. Zum anderen soll analysiert werden, in welchem Maße und auf welche Weise die obersten Gerichte in dem prozessualen Rahmen, der ihnen gegeben ist, so genannte Normbildungstatsachen als Informationsgrundlage für ihre normbildende Tätigkeit nutzbar machen können. Eine Zusammenfassung und Schlussbetrachtung beenden die Darstellung (§ 6).
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§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung Das Phänomen der richterlichen Normbildung bedarf gerade in einer rechtsvergleichenden Darstellung der Präzisierung und Abgrenzung. Insbesondere muss sein Verhältnis zu den Begriffen der Rechtsfortbildung und der Präjudizienbindung geklärt werden. Hierbei wird sich zeigen, dass die Kategorie der richterlichen Normbildung von diesen beiden anderen Kategorien unabhängig ist und deren unterschiedliche Rolle in der deutschen Rechtsordnung einerseits bzw. den anglo-amerikanischen Rechtsordnungen andererseits daher einer vergleichenden Betrachtung nicht entgegensteht.
A. Richterliche Normbildung und Rechtsfortbildung Der Begriff der richterlichen Normbildung legt zunächst Assoziationen zu dem Begriff der richterlichen Rechtsfortbildung nahe. Gleichwohl wäre eine Gleichsetzung von richterlicher Normbildung und richterlicher Rechtsfortbildung verfehlt.
I. Deutschland Die Kategorie der Rechtsfortbildung hat sich in der deutschen Methodenlehre herausgebildet. Dabei gilt als Rechtsfortbildung diejenige Entscheidungstätigkeit der Gerichte, die die Grenzen einer rechtsanwendenden Gesetzesauslegung übersteigt.1 Jedoch ist bereits umstritten, welches Kriterium für die Abgrenzung von Rechtsfortbildung und Auslegung maßgeblich ist. Nach der herrschenden Meinung kommt es darauf an, ob sich eine Entscheidung noch in den Grenzen des Wortlauts der einschlägigen Normen hält (dann Auslegung) oder ob sie darüber hinausgeht (dann Rechtsfortbildung). 2 Allerdings ist bereits diese Anleh1 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366 ff.; Wenzel, NJW 2008, 345 (346). 2 BVerfGE 73, 206 (242); BGHZ 179, 27 (34); Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 319 ff.; Hirsch, JZ 2007, 853 (855 f.); Koch/Rüßmann, Ju-
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§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
nung an den möglichen Wortsinn als Demarkationslinie eng mit der so genannten objektiven Methode der Gesetzesauslegung verbunden, die als maßgeblichen Bezugspunkt der Rechtsanwendung die Teleologie des Gesetzes selbst ansieht.3 Demgegenüber muss eine Gesetzesauslegung nach der so genannten subjektiven oder historischen Methode stets auf den Willen des Gesetzgebers zurückführen.4 Danach verlassen bereits solche richterlichen Entscheidungen den Bereich der Auslegung, die zwar die Grenzen des Wortlauts einer Norm einhalten, aber nicht auf entstehungsgeschichtlich verifizierbare, sondern auf objektiv-teleologische Gesichtspunkte gestützt sind. Unabhängig von diesen Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung der Wortlautgrenze wird diejenige Form der Rechtsfortbildung, die sich zwar außerhalb der Wortlautgrenze, aber noch innerhalb des Planes des Gesetzes (objektive Theorie) bzw. des Gesetzgebers (subjektive Theorie) bewegt und die sich typischerweise in Form einer Analogie oder einer teleologischen Reduktion vollzieht,5 als so genannte gesetzesimmanente Rechtsfortbildung eng an die Seite der Auslegung gestellt.6 Hiervon abzugrenzen ist die so genannte gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung, die den Bereich einer bloßen Lückenfüllung verlässt und gesetzliche Regelungen umbildet oder neue Rechtsinstitute herausbildet.7 Folglich entzieht sich der Begriff der Rechtsfortbildung einer unstrittigen, trennscharfen Abgrenzung von der Gesetzesauslegung. Selbst wenn diese Unklarheiten über den Begriff der Rechtsfortbildung außer Acht gelassen würden, wäre dieser Begriff gleichwohl ungeeignet, das Phänomen der richterlichen Normbildung abschließend zu erfassen.8 Denn auch innerhalb der Grenzen des Wortlauts einer Gesetzesvorschrift oder der Vorgaben des historischen Gesetzgebers besteht reichlich Spielraum für eine normsetzende Tätigkeit der Judikative. Spätestens seit Heck ist in das allgemeine juristische Beristische Begründungslehre, 1982, S. 176 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 47 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320 ff., 343; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 143. 3 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366, wo die Verbindung zwischen Wortlautgrenze und objektiver Teleologie ausdrücklich gezogen wird. 4 Aus jüngerer Zeit vor allem Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 143 ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 28 ff. und Rüthers, Rechtstheorie, 4. Aufl. 2008, Rdnr. 796 ff.; ders., JZ 2002, 365 (368 f.); ders., JZ 2007, 556 (559); wohl auch J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, S. 110 f. 5 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 381 ff. 6 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band I, 2001, S. 142; siehe auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 91 in Fn. 23 und Mayer-Hayoz, JZ 1981, 417 (419), der eine kategorische Unterscheidung zwischen Auslegung und Lückenfüllung kritisiert. 7 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 413 ff. In ähnlicher Weise unterscheidet Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 156 ff. von dem „gebundenen Richterrecht“ das „gesetzesübersteigende Richterrecht“. 8 Siehe bereits Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145.
A. Richterliche Normbildung und Rechtsfortbildung
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wusstsein gelangt, dass die gesetzlichen Begriffe neben einem eindeutigen Begriffskern auch einen mehrdeutigen Begriffshof aufweisen, der sich einer vorgefertigten und unzweifelhaften Anwendung entzieht.9 Es besteht daher selbst im kodifizierten Recht ein ubiquitäres Bedürfnis nach so genannter Normkonkretisierung, die bei den gesetzlichen Generalklauseln und den unbestimmten Rechtsbegriffen die größte Rolle spielt.10 So hat vor allem Esser dargelegt, dass eine prinzipienbezogene Auffüllung der Entscheidungsspielräume, die der Gesetzgeber offen gelassen hat, die kategorische Unterscheidung in eine rein deklaratorische Rechtsanwendung einerseits und eine konstitutiv wirkende Rechtsfortbildung andererseits unmöglich macht.11 Das schöpferische Moment ist der Auslegung genauso eigen wie der Rechtsfortbildung.12 Es steht, mit den Worten Rüthers’, immer dann in Rede, wenn dem Gesetz selbst kein „fertiger, anwendungsbereiter Wertmaßstab“ zu entnehmen ist, der „ohne wertende, gebotsbildende Akte des Richters“ realisierbar wäre.13 So scheint es beispielsweise unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Normbildung weniger weit gehend, die Formvorschrift des § 766 BGB entgegen dem Wortlaut des § 167 Abs. 2 BGB auch auf eine Vollmacht zur Eingehung einer Bürgschaft anzuwenden,14 als Angehörigenbürgschaften unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und in Abkehr von vorangehenden Judikaten gemäß § 138 Abs. 1 BGB als sittenwidrig und somit nichtig einzustufen.15 Gleichwohl handelt es sich im ersten Fall aus methodischer Sicht um eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung in Form einer teleologischen Reduktion des § 167 Abs. 2 BGB, im zweiten Fall aber um eine bloß normkonkretisierende Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB. Aus dem hier angedeuteten Blickwin-
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Heck, AcP 112 (1914), 1 (46). Grundlegend Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, S. 14 ff.; eingehend Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004; weiterhin von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (152 f.) und Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 2. 11 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 119 ff.; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 174 ff.; siehe auch Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 126 ff. 12 F. Baur, JZ 1957, 193 (194) in Fn. 10; Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 253 ff.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 144 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, hrsg. von Christensen, 7. Aufl. 1997, Rdnr. 97; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band I, 2001, S. 142 ff.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 6 f. 13 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 460; ähnlich Prütting, Festschrift Universität Köln, 1988, S. 305 (307 f.). 14 Vgl. BGHZ 132, 119 (122 ff.). 15 Grundlegend BGHZ 125, 206 (209 ff.) im Anschluss an BVerfGE 89, 214 ff.; zusammenfassender Überblick über den Stand und die Entwicklung der Rechtsprechung bei Habersack, MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 765 Rdnr. 15 ff. 10
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§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
kel der Normbildung zeichnen sich aber sowohl die Rechtsfortbildung als auch die Normkonkretisierung durch ein gleichartiges konstitutives Moment aus. Dieses Moment kann nach dem jeweiligen Inhalt der Regelbildung von ganz unterschiedlicher Intensität sein, wobei diese Intensität im Bereich der Auslegung durchaus höher sein mag als im Bereich der Rechtsfortbildung,16 wie die beiden angeführten Beispiele zum Bürgschaftsrecht zeigen. Aus Sicht des Prozessrechts hat der Gesetzgeber der Zivilprozessreform 2001 die erweiterte, über den Begriff der Rechtsfortbildung im engeren Sinne hinausgehende Kategorie der Normbildung zwar nicht terminologisch, so doch aber in der Sache anerkannt. Denn unter einer „Fortbildung des Rechts“, die gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO zu den Aufgaben des Revisionsgerichts gehört, wird nicht nur eine gesetzesimmanente oder gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung in dem oben beschriebenen methodischen Sinne verstanden, sondern auch die „Aufstellung von Leitsätzen für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen“.17 Somit sind auch alle Fälle einer Gesetzesinterpretation erfasst, die normativ-konstitutiv wirken.18 Ein Unterschied zwischen den methodischen und den prozessualen Kategorien besteht aber auch noch in einer anderen Hinsicht. Eine Rechtsfortbildung im methodischen Sinne liegt nicht nur bei ihrem erstmaligen Auftreten vor, sondern behält diesen Charakter auch in jedem weiteren Fall ihrer Anwendung. Umgekehrt kann von einer Normbildung im prozessualen Sinne nur bei ihrer erstmaligen Vornahme gesprochen werden, während es in Fällen der späteren Anwendung der richterlich gebildeten Norm nur noch um einen Akt der Normbestätigung bzw. der Normverfestigung geht.19 Allerdings sind auch mit einer späteren, fortschreibenden Anwendung bereits gebildeter Normen auf einen neuen Fall häufig Modifikationen oder Konkretisierungen verbunden, so dass die Grenzen wiederum fließend verlaufen. 20
II. Common Law Die funktionale Abkoppelung der richterlichen Normbildung von der methodischen Kategorie der Rechtsfortbildung findet ihre Bestätigung in einem rechtsvergleichenden Blick auf den anglo-amerikanischen Rechtskreis. Bezogen auf das dort stilprägende Präjudizienwesen erscheint die Unterscheidung in 16
Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 125 ff. BT-Drucks. 14/4722, S. 104. 18 Hergenröder spricht in diesem Zusammenhang von einem „prozessualen Rechtsfortbildungsbegriff“: Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145 f. 19 Vgl. Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 146. 20 Siehe Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1992, S. 27. 17
A. Richterliche Normbildung und Rechtsfortbildung
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eine bloße Rechtsanwendung einerseits und in eine Rechtsfortbildung andererseits ebenfalls ungeeignet. Die richterliche Normbildung vollzieht sich im common law traditionellerweise durch die Auseinandersetzung mit vorangehenden Urteilen, insbesondere durch die Techniken der extension by analogy (ausdehnende Anwendung eines Präjudizes durch Analogiebildung), des distinguishing (einschränkende Anwendung eines Präjudizes) und des overruling (Aufgabe eines Präjudizes). 21 Zwar können die extension by analogy und das distingushing als Formen der Interpretation von case law angesehen werden und von einem overruling unterschieden werden, das die normative Kraft des Präjudizes unmittelbar beseitigt. 22 Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch die ausdehnende und die einschränkende Anwendung von Präjudizien zu einer schöpferischen Konkretisierung derselben führen und somit über den bloßen Vollzug bereits vorhandener Rechtssätze hinausgehen. 23 Auch im case law lässt sich somit der Vorgang der Interpretation nicht eindeutig von demjenigen der Regelbildung, des so genannten law-making, abtrennen.24 Darüber hinaus besteht im anglo-amerikanischen Recht, ebenso wie in Deutschland, in weiten Bereichen des Gesetzesrechts ein Bedürfnis nach Normkonkretisierung durch die Rechtsprechung. 25 Diese Normkonkretisierung im statutory law wird aufgrund ihres konstitutiven Charakters mit einiger Berechtigung als „quasi common law“ bezeichnet,26 das den Gerichten selbst im Zeitalter zunehmender Gesetzgebung ein breites normbildendes Mandat intra legem bewahrt. Folgerichtig gelten auch für Entscheidungen, die Gesetze interpretieren, im anglo-amerikanischen Recht die allgemeinen Regeln der Präjudizienbindung27 wie insbesondere der Grundsatz des stare decisis. 28 21 Überblick bei Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 70 ff., 104 ff.; Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 1–001 ff.; Murphy/Pritchett/Epstein/ Knight, Courts, Judges, & Politics, 6. Aufl. 2006, S. 443 ff. und Siltala, A Theory of Precedent, 2000, S. 91 ff. 22 Siehe Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 1–001 f. und 1–054. 23 Gardner, Some Types of Law, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 51 (71); Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 74. 24 Siehe auch Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 26 ff. 25 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 4 ff.; Friedmann, 61 Colum. L. Rev. 821, 830 ff. (1961); Gardner, Some Types of Law, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 51 (74); Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1997, S. 147; R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 83; Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 887 (2006). 26 Siehe R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 294 ff. und ähnlich ders., Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 61. 27 Hierzu sogleich unter § 2 B I, S. 28 f. 28 Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, 3. Aufl. 1995, S. 43 ff.; Murphy/Pritchett/ Epstein/Knight, Courts, Judges, & Politics, 6. Aufl. 2006, S. 500. Vgl. auch Barrett, 73 Geo. Wash. L. Rev. 317 ff. (2005), die darlegt, dass der Grundsatz des stare decisis von den amerikanischen Gerichten im Bereich der statutory interpretation sogar besonders streng gehandhabt wird, um ein zu starkes Übergreifen in den Kompetenzbereich der Legislative zu vermeiden.
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§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
Auch aus rechtsvergleichender Sicht erscheint der umfassendere Begriff der Normbildung daher gegenüber dem engeren Begriff der Rechtsfortbildung vorzugswürdig, um das hier behandelte Phänomen zu umschreiben.
B. Richterliche Normbildung und Präjudizienbindung Einer einheitlich verstandenen Kategorie der Normbildung durch höchstrichterliche Judikate steht schließlich auch nicht die unterschiedliche Bindungswirkung entgegen, die diese Judikate im deutschen Recht und im common law entfalten.
I. Common Law Im common law zeitigt eine Entscheidung, die über eine rein deklaratorische Wiederholung bereits bestehender Präjudizien hinausgeht, nach dem Prinzip des stare decisis eine normative Bindungswirkung. 29 Diese Wirkung gilt in England für rangniedere Gerichte uneingeschränkt, während das entscheidende Gericht an eigene Präjudizien grundsätzlich dann gebunden ist, wenn es sich nicht um erstinstanzliche Entscheidungen, sondern um Appellationsentscheidungen handelt.30 Allerdings darf das oberste englische Gericht, das heißt bis zum Oktober 2009 das House of Lords und seitdem der Supreme Court of the United Kingdom, auf der Grundlage des so genannten Practice Statements des House of Lords aus dem Jahr 196631 sowie nach dem 29
Eingehend Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 97 ff. Im Überblick Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 1–019 ff. Der Court of Appeal hat in der Entscheidung Young v. Bristol Aeroplane Co., [1944] K.B. 718 f. die folgenden Grundsätze für eine Bindung an die eigenen Präjudizien aufgestellt: „The Court of Appeal is bound to follow its own decisions and those of courts of co-ordinate jurisdiction, and the ‘full’ court is in the same position in this respect as a division of the court consisting of three members. The only exceptions to this rule are: (1.) The court is entitled and bound to decide which of two conflicting decisions of its own it will follow; (2.) the court is bound to refuse to follow a decision of its own which, though not expressly overruled, cannot, in its opinion, stand with a decision of the House of Lords; (3.) the court is not bound to follow a decision of its own if it is satisfied that the decision was given per incuriam, e.g., where a statute or a rule having statutory effect which would have affected the decision was not brought to the attention of the earlier court.“ 31 Practice Statement, [1966] 3 All E.R. 77, per Lord Gardiner L.C.: „Their Lordships regard the use of precedent as an indispensable foundation upon which to decide what is the law and its application to individual cases. It provides at least some degree of certainty upon which individuals can rely in the conduct of their affairs, as well as a basis for orderly development of legal rules. Their Lordships nevertheless recognise that too rigid adherence to precedent may lead to injustice in a particular case and also unduly restrict the proper development of the law. They propose therefore, to modify their present practice and, while treating formal 30
B. Richterliche Normbildung und Präjudizienbindung
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Administration of Justice Act aus dem Jahr 1969 von eigenen Präjudizien abweichen. Dies setzt allerdings voraus, dass die durchaus restriktiv gehandhabten Voraussetzungen für ein overruling vorliegen. 32 In den Vereinigten Staaten gilt im Grundsatz ebenfalls das Gebot eines stare decisis für ranghöhere oder ranggleiche Präjudizien. Die weite Auffächerung der Judikative in Bundesgerichte und eine Vielzahl von einzelstaatlichen Gerichtszweigen begrenzt hierbei aber den Anwendungsbereich von „binding precedents“, so dass häufig nur „persuasive precedents“ aus einer anderen Jurisdiktion vorliegen, die dem entscheidenden Gericht keine zwingende Bindung, sondern nur eine Argumentationslast für Abweichungen auferlegen.33 Darüber hinaus nimmt insbesondere der US Supreme Court die Kompetenz zu einem overruling eigener Präjudizien großzügiger in Anspruch als dies beispielsweise das britische House of Lords getan hat.34 Auch auf der einzelstaatlichen Ebene weichen die ranghöchsten Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen von eigenen Präjudizien ab. So kommt beispielsweise in New York ein overruling in Betracht, „where it can be shown that the law has been misunderstood or misapplied, or where the former determination is evidently contrary to reason“. 35 Unabhängig von der Zulässigkeit eines direkten Abweichens ermöglichen die erwähnten Techniken der extension by analogy und des distinguishing es einem später entscheidenden Gericht, die ratio decidendi eines Präjudizies zu konkretisieren bzw. zu modifizieren und damit Einfluss auf dessen Bindungswirkung zu nehmen. 36
decisions of this house as normally binding, to depart from a previous decision when it appears to be right to do so. In this connection they will bear in mind the danger of disturbing retrospectively the basis on which contracts, settlement of property, and fiscal arrangements have been entered into and also the especial need for certainty as to the criminal law. This announcement is not intended to affect the use of precedent elsewhere than in this House.“ 32 Zu der Inanspruchnahme des overruling vor dem Practice Statement siehe Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 334 ff.; zur späteren Lage Stevens, Law and Politics, 1978, S. 617 ff. und G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3/49 ff. 33 Überblick zu den präjudiziellen Wirkungen im bundesstaatlichen Gefüge der USA bei Fine, American Legal Systems, 1997, S. 43 ff. 34 Im Einzelnen Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 118 ff. und G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3/53 ff., jeweils m.w.N.; siehe auch die folgende, auf die USA bezogene Feststellung bei Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 135: „It is widely perceived that the pace of overruling has dramatically increased in the last forty years.“ 35 Rumsey v. New York & New England R. R. Co., 133 N.Y. 79, 85 (1892); Matter of Estate Eckard, 39 N.Y.2d 493, 499 (1976). 36 Siehe Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 1–010 und 1–057 sowie Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2004, S. 198.
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§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
II. Deutschland In Deutschland ist die Frage, ob und inwieweit höchstrichterliche Entscheidungen eine Bindungswirkung zeitigen, sehr umstritten. Hierbei müssen jedoch verschiedene Ebenen auseinandergehalten werden: Bereits aus den gesetzlichen Regelungen des Rechtsmittelrechts ergibt sich, dass rangniedere Gerichte in Deutschland nicht im engeren Sinne des stare decisis an höchstrichterliche Präjudizien gebunden sind. Denn nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO ist einem Berufungsgericht die Abweichung von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht schlechthin verwehrt, sondern es muss in diesem Fall lediglich die Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulassen.37 Deshalb kann erst recht auch ein Senat des Bundesgerichtshofs nicht uneingeschränkt an seine eigenen Präjudizien gebunden sein. Dies findet wiederum eine mittelbare Bestätigung in § 132 Abs. 2 GVG. Nach dieser Vorschrift ist nur dann eine Vorlage an den Großen Senat geboten, wenn ein Senat des Bundesgerichtshofs von der Entscheidung eines anderen Einzelsenats oder des Großen Senats selbst abweichen will. Schließen somit die Regelungen des Rechtsmittel- und Vorlagerechts ein strenges Prinzip des stare decisis von vornherein aus, so folgen aus der Existenz eines einschlägigen höchstrichterlichen Präjudizes aber gleichwohl unstrittig normative Vorgaben für spätere Fälle. Diese Vorgaben betreffen die institutionell-prozeduralen Rahmenbedingungen für den Umgang mit dem Präjudiz und legen späteren Rechtsanwendern bestimmte Beschränkungen auf. 38 So hat etwa von Caemmerer in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass eine Beratung von Rechtssuchenden durch Rechtsanwälte auf der Grundlage der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung erfolgen muss, um pflichtgemäß zu sein.39 Weiterhin besteht Einigkeit darüber, dass sich spätere Urteile mit einem höchstrichterlichen Präjudiz auseinandersetzen und eine Abweichung von diesem begründen müssen.40 Schließlich ist, wie bereits angedeutet, gemäß § 543 37 Siehe Brehm, Festschrift Schumann, 2001, S. 57 (64); Wenzel, MünchKomm. ZPO, 3. Aufl. 2007, § 543 Rdnr. 13; Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 3. Aufl. 2005, § 543 Rdnr. 36 ff. jeweils m.w.N. 38 So vor allem von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (156 f.); Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 248 ff. und Leipold, Ritsumeikan Law Review 4 (1989), 161 (172 f.). 39 von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (157); hierzu und m.w.N. auch Schalk, Deutsche Präjudizien und spanische „Jurisprudencia“ des Zivilrechts, 2008, S. 126 ff. 40 Alexy/Dreier, Precedent in the Federal Republic of Germany, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents: A Comparative Study, 1997, S. 17 (26 ff.); Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1992, S. 20; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band I, 2001, S. 225.
B. Richterliche Normbildung und Präjudizienbindung
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Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO die Revision zuzulassen, wenn ein Berufungsgericht von einem Urteil des Bundesgerichtshofs abweicht, bzw. gemäß § 132 Abs. 2 GVG eine Vorlage an den Großen Senat erforderlich, wenn ein Senat des Bundesgerichtshofs in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen will. Diese Rechtsmittelzulassungs- und Vorlagemechanismen belegen die normative Relevanz des Präjudizes41 und sind zudem von der Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst.42 Teilweise wird im deutschen Recht aber auch jenseits dieser institutionellprozeduralen Rahmenbedingungen eine weiter gehende inhaltliche Bindungswirkung von höchstrichterlichen Präjudizien angenommen. Nach dieser Auffassung kann aus den Präjudizien Richterrecht im engeren Sinne entstehen.43 Am weitesten geht dabei die Ansicht, höchstrichterliche Präjudizien würden als Gewohnheitsrecht normative Verbindlichkeit erlangen, wenn sie hinreichend lange faktisch befolgt würden und diese Befolgung von der Überzeugung ihrer Richtigkeit getragen sei.44 Nach der von Fikentscher entwickelten Fallnormtheorie sind Präjudizien hingegen grundsätzlich dann verbindlich, wenn sie auf rechtlichen Annahmen beruhen, die den möglichen Wortsinn der einschlägigen gesetzlichen Regelungen übersteigen und damit eine eigenständige „Fallnorm“ schaffen.45 In eine ähnliche Richtung weist die Annahme, höchstrichterliche Präjudizien seien aus Gründen des Vertrauensschutzes und des Gleichbehandlungsgebots dann normativ verbindlich, wenn sie für ein rechtliches Problem unter mehreren dogmatisch-methodisch denkbaren Lösungen eine Lösung auswählen würden und wenn nicht für eine der anderen möglichen Lösungen eindeutig überwiegende Gründe sprächen.46 41
F. Baur, ZZP 71 (1958), 161 (184); von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (156 f.); Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 46 und Leipold, Ritsumeikan Law Review 4 (1989), 161 (172). 42 Ausführlich und m.w.N. hierzu Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 176 ff. 43 Umfassend zum Diskussionsstand Schalk, Deutsche Präjudizien und spanische „Jurisprudencia“ des Zivilrechts, 2008, S. 197 ff. 44 Vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band I/1, 15. Aufl. 1959, § 39 II 3, S. 267 f.; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 115 f.; einschränkend Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 258 f.; kritisch Esser, Festschrift von Hippel, 1967, S. 95 (113 ff.); Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 432; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, S. 321 ff.; Meyer-Ladewig, AcP 161 (1962), 97 (110 ff.); R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 7 ff. und Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 464 ff. 45 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 317 ff., 336 ff.; ders., Die Bedeutung von Präjudizien im heutigen deutschen Privatrecht, in: Blaurock (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 11 (18 f.). 46 Siehe Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 504 ff.;
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§ 2 Konkretisierung des Begriffs der richterlichen Normbildung
Allerdings lehnt die wohl noch überwiegende Ansicht in Deutschland derartige unmittelbare Bindungswirkungen von höchstrichterlichen Urteilen ab.47 Eine normative Präjudizienbindung entspreche, wie Fritz Baur formuliert hat, „nicht unserer Rechtstradition“, die auf die innere Überzeugungskraft der Urteile oberster Gerichte vertraue, ohne ihnen einen rechtlichen Eigenwert beizumessen.48 Hiervon unberührt bleibt freilich, dass höchstrichterliche Präjudizien auch in Deutschland unstrittig eine erhebliche faktische Bindungswirkung zeitigen. Diese besteht vor allem darin, dass Urteile rangniederer Gerichte, die von einem höchstrichterlichen Präjudiz abweichen, einem hohen Risiko der Aufhebung im Instanzenzug unterliegen.49 So kann das Vorliegen einer Rechtsverletzung als Voraussetzung für eine erfolgreiche Revision (§§ 545, 546 ZPO) nach der überwiegenden Auffassung zwar nicht unmittelbar auf den Gesichtspunkt gestützt werden, dass das angegriffene Urteil von einem höchstrichterlichen Präjudiz abweicht,50 wohl aber auf den Standpunkt, das nicht befolgte Präjudiz spiegele das geltende Recht korrekt wider.51 Diese Kontroverse zwischen einer normativen bzw. einer bloß faktischen Bindungswirkung der höchstrichterlichen Rechtsprechung relativiert sich jedoch zumindest aus praktischer Sicht erheblich. So ging Rabel bereits im Jahr 1951 davon aus, dass der praktische Unterschied zwischen dem englischen System der normativen Präjudizienbindung und dem kontinentaleuropäischen System der faktischen Präjudizienwirkung „mit der Lupe gesucht werden“ Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 160 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 256 ff. Näher zu diesem Ansatz Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1992, S. 21 ff. 47 BVerfGE 18, 224 (240); 38, 386 (396); 84, 212 (227); Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 275 ff.; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 184 ff.; R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (18 ff.); Flume, Richter und Recht, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages Essen 1966, Band II, 1967, K 5 (22 ff.); Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2004, S. 276 ff.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005, S. 55 ff.; Roellecke, Über richterliche Gewalt und höchstrichterliche Entscheidung, in: ders. (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 1 (15 ff.); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 149 Rdnr. 10 ff.; Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 46 ff. 48 F. Baur, JZ 1953, 326; ähnlich Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 275. 49 Brehm, Festschrift Schumann, 2001, S. 57 (60 f.); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 256. 50 So aber Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 351 und Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, S. 518. 51 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 254; Schalk, Deutsche Präjudizien und spanische „Jurisprudencia“ des Zivilrechts, 2008, S. 405; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band I, 2001, S. 225.
B. Richterliche Normbildung und Präjudizienbindung
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müsse.52 Vor allem die Pflicht der Gerichte, sich mit höchstrichterlichen Präjudizien auseinanderzusetzen und eine Abweichung von diesen begründen zu müssen, die wie dargelegt auch im deutschen Recht besteht, lässt die Unterscheidung zwischen normativer und faktischer Bindung nicht mehr als kategorial, sondern nur noch als graduell erscheinen. Ein möglicher Dissens zwischen den Meinungslagern besteht vor diesem Hintergrund nur noch in der Frage, wie gewichtig die Gründe sein müssen, die eine Abweichung von Präjudizien legitimieren.53 Für die vorliegende Arbeit ist darüber hinaus letztendlich maßgeblich, dass sich die jeweilige Bindungswirkung – sei sie normativer oder faktischer Natur – auf alle normbildenden Präjudizien bezieht und nicht nur auf die Rechtsfortbildung im methodischen Sinne.54 Aus diesen Gründen bedarf die Diskussion um die Bindungswirkung höchstrichterlicher Präjudizien in Deutschland an dieser Stelle keiner weiteren Vertiefung. Es erscheint vielmehr gerechtfertigt, nicht nur für das common law, sondern auch für das deutsche Recht von dem Phänomen der Normbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung auszugehen.
52 Rabel, RabelsZ 16 (1951), 340 (345); ähnlich Zweigert, Empfiehlt es sich, die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des überstimmten Richters (Dissenting Opinion) in den deutschen Verfahrensordnungen zuzulassen?, in: Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages Nürnberg 1968, Band I, 1968, D 1 (18 f.). 53 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 346 ff. und Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 243 ff. 54 Siehe oben § 2 A I, S. 23 ff.
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§ 3 Entwicklungsgeschichtlicher Überblick zum Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung Im Folgenden sollen die Grundlinien nachgezeichnet werden, auf denen sich in Deutschland, England und in den Vereinigten Staaten das Verhältnis zwischen Streitentscheidung und Normbildung als Facetten der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung entwickelt hat. Die große Bedeutung, die die geschichtlichen Verläufe dabei für den heutigen Stand der richterlichen Rechtsfindung und Rechtsbildung in den einzelnen Staaten haben, ist bereits durch Zweigert und Kötz nachdrücklich herausgestellt worden.1 Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen in den einzelnen Rechtsordnungen ist es dabei allerdings nicht möglich, jeweils in strenger Parallelität einen identischen Zeitraum zu betrachten. So wurde die Entwicklung des deutschen Zivilrechts und seiner prozessualen Umsetzung maßgeblich durch die zahlreichen Umbrüche geprägt, die das Staats- und Rechtsverständnis in Deutschland in den vergangenen Jahrhunderten erfahren hat. 2 Von besonderem Einfluss war dabei die Entwicklung seit dem beginnenden 19. Jahrhundert, in dem verschiedenste Geistesströmungen aufeinanderstießen und dabei auch als Katalysatoren für das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung fungierten. Aus diesem Grund setzt die folgende Betrachtung für Deutschland an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert ein. Hingegen muss die Betrachtung für England bereits zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt ansetzen. Dies beruht darauf, dass sich das englische Recht und das englische Prozesswesen trotz aller ihrer Entwicklungsstufen über die Jahrhunderte ohne erratische Zäsuren entwickelt haben.3 Den Ausgangspunkt 1 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 250 ff. Siehe auch allgemein zur Verbindung von Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte Gordley, Comparative Law and Legal History, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, S. 753 ff. 2 Siehe Blankenburg, Changes in Political Regimes and Continuity of the Rule of Law in Germany, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 249 (250 ff.). 3 Vgl. H. Jacob, Introduction, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 1 (10); Stein, Die Idee der Evolution im Recht, in: Nachrichten der Akademie
A. Deutschland
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der Erörterung bildet daher bereits die beginnende Entwicklung des common law ab dem 11. Jahrhundert. Das Rechtssystem der USA steht schließlich in einer engen historischen Beziehung zu dem englischen Rechtssystem als seiner Mutterrechtsordnung. Der Überblick zu der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Streitentscheidung und Normbildung in den Vereinigten Staaten kann daher nicht isoliert neben den vorangehenden Ausführungen zu der Entwicklung in England erfolgen, sondern muss auf diesen aufbauen und in erster Linie die entwicklungsgeschichtlichen Abweichungen von der englischen Mutterrechtsordnung thematisieren. Einen geeigneten Einstieg für diese Betrachtung bildet dabei das ausgehende 18. Jahrhundert, da ab diesem Zeitpunkt mit der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassungsbewegung eine deutliche Emanzipation von dem englischen Rechtsdenken zu beobachten war.
A. Deutschland I. Die philosophische Schule Gegen Ende des 18. Jahrhunderts dominierte in der deutschen Rechtswissenschaft die so genannte philosophische Schule. Diese in der Tradition der Aufklärung und des Vernunftrechts stehende Schule plädierte dafür, das Recht an überpositiven Kategorien und Werten auszurichten, deren Gültigkeit als raumund zeitübergreifend verstanden wurde. Ihre maßgeblichen Impulse erhielt sie dabei aus der Rechtsphilosophie Kants, die dieser im Jahr 1797 in der Rechtslehre seiner „Metaphysik der Sitten“ entfaltet hatte. Kants Rechtslehre baute auf dem Gedanken auf, dass jeder Person ein angeborenes Recht auf Freiheit von einem nötigenden Zwang durch andere zusteht: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“4
Dieses angeborene Freiheitsrecht findet seine Fortsetzung in erworbenen Rechten, insbesondere solchen Rechten, die aus freiwillig eingegangenen Verträgen und aus der rechtmäßigen Akquisition von Eigentum resultieren. Alle diese Rechte werden zwar aus der Vernunft selbst abgeleitet und sind an sich unabhängig davon, ob sie durch einen Staat anerkannt und geschützt werden. Jedoch konzedierte Kant, dass die Rechte ohne einen institutionell verankerten Schutz der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1981, 1981, S. 121 (123); Steyn, [2002] 118 L.Q.R. 382, 384. 4 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. von Ludwig, 2. Aufl. 1998, S. 38.
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§ 3 Entwicklungsgeschichtlicher Überblick
bloß „provisorisch“ bleiben und damit ständig in der Gefahr stehen, durch Rechtsbrecher angetastet zu werden. Daher war es für ihn ebenfalls ein Gebot der Vernunft, dass sich die Personen in einen „bürgerlichen“, das heißt staatlichen Zustand begeben. 5 Die Funktion dieses Zustands war für Kant vornehmlich, die subjektiven Rechte der Bürger zu schützen. Für den gerichtlichen Prozess folgte hieraus notwendig die Konsequenz, seinen Zweck auf den Schutz der privaten Rechte des Einzelnen zu reduzieren. Er stellte aus vernunftrechtlicher Sicht einen leistungsfähigeren Ersatz für die Selbsthilfe als einziges Rechtsschutzmittel des Naturzustands dar.6 Diese Gedanken fanden in den zivilistischen Erörterungen der Vertreter der philosophischen Schule ihren Widerhall. Die Vertreter kantischen Gedankenguts konzentrierten sich in erster Linie auf die Ausgestaltung des materiellen Privatrechts und behandelten den Zivilprozess zumeist nur beiläufig als Mittel des Schutzes der subjektiven Privatrechte.7 Für sie bildete der Prozess „die bloße Fortsetzung des Privatrechtsverhältnisses mit anderen Mitteln“. 8 Beispielhaft für diese Konzentration auf das materielle Recht stand das Plädoyer Thibauts für eine Kodifikation des Zivilrechts. In seiner Streitschrift „Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland“ aus dem Jahr 1814 finden sich keine Erwägungen, die die normbildende Kraft der Rechtsprechung einbeziehen würden. Eine mögliche Fortentwicklung des Rechts durch Zivilprozesse lag somit weit gehend außerhalb des Gesichtsfelds dieser Lehre. Neben den philosophischen Vorgaben der „Metaphysik der Sitten“ beruhte dieses Desiderat aber auch auf pragmatischen Gesichtspunkten. So wurde die Verwirklichung vernunftgeleiteter, liberaler Zivilrechtsprinzipien weit eher dem kodifikatorischen Gesetzgeber zugetraut als den Gerichten. Denn gerade von der konservativ-ständisch orientierten Rechtsprechung war an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert keine Revolution im Dienste der bürgerlichen Freiheit zu erwarten, während ein als aufgeklärt gedachter Gesetzgeber hierzu durchaus geeignet erschien.9 In diesem Sinne folgte die philosophische Schule der Montesquieuschen Gewaltenteilungslehre, nach der sich nicht nur die Regierung und die Gesetzgebung einer Einmischung in den Gang der streitentscheidenden Rechtspflege enthalten mussten, sondern umgekehrt auch der Richter als bloßer „Mund des Gesetzgebers“ fungierte, dem eine rechtsgestaltende Tätigkeit fremd war.10 5
Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. von Ludwig, 2. Aufl. 1998, S. 63 ff. 6 Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß, 1976, S. 5 f.; Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, 1985, S. 24 f. 7 Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß, 1976, S. 1 f. 8 Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß, 1976, S. 48; dazu auch Damaska, The Faces of Justice and State Authority, 1986, S. 208. 9 Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2. Aufl. 2008, S. 80 ff. 10 Zu dem Einfluss Montesquieus auf das Justizbild an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 49 f., 56 ff.
A. Deutschland
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Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung der richterlichen Normbildung beruhte auf einem genuin institutionellen Problem. Das Zivilprozess- und Gerichtsverfassungsrecht in Deutschland zeichnete sich eingangs des 19. Jahrhunderts durch eine starke territoriale Zersplitterung aus.11 Spätestens mit den Napoleonischen Eroberungen in Deutschland und der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 fehlte es an einer zentralen höchstrichterlichen Instanz, die sinnvoll Normbildung hätte betreiben können. Bereits die Fähigkeit des Reichskammergerichts und des Reichshofrats, die bis in das Jahr 1806 als oberste Gerichte des Reiches fungierten, für eine einheitliche Rechtsanwendung und Rechtsentwicklung zu sorgen, wird aus heutiger Sicht eher skeptisch beurteilt.12 Mit dem Wegfall dieser Gerichte zersplitterte der Instanzenzug im Zivilprozess dann jedoch endgültig in den verschiedenen Territorien.13 Zwar bestanden in den Partikularstaaten jeweils oberste Gerichte, denen aber nicht in systematischer Weise die Normbildung durch Richterspruch übertragen wurde.14 Vielmehr blieb der Zweck der höchsten Instanz im Wesentlichen auf die erneute Entscheidung des jeweils geführten Rechtsstreits im Interesse der Parteien begrenzt. Folgerichtig nahm auch die höchstrichterliche Ebene eine umfassende Würdigung des jeweiligen Rechtsstreits ohne Beschränkung auf Rechtsfragen wahr.15 Diese Tendenz zu einer rein streitentscheidenden Funktion wurde zusätzlich dadurch befördert, dass Friedrich II. in den preußischen Gebieten eine ordentliche Gerichtsbarkeit geschaffen hatte, deren einzige Aufgabe darin bestand, die „Privatglückseligkeit“ in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten ohne Rücksicht auf öffentliche Interessen zu verwirklichen.16 Die Eröffnung des Zivilrechtswegs sowie der Rechtsmittelinstanzen wurde im Zuge aufkeimender Rechtsstaatlichkeit fortan nicht mehr primär als ein Gebot der Staatsraison, sondern 11 Eingehend hierzu und zu dem langen Prozess der Vereinheitlichung des Zivilprozesses im 19. Jahrhundert Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess, 2007, S. 44 ff. 12 Siehe E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 31; Meyer-Mickeleit, Revision, Kassation und Final Appeal, Diss. Tübingen 1996, S. 24; Roellecke, Über richterliche Gewalt und höchstrichterliche Entscheidung, in: ders. (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 1 ff.; positiver hingegen Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 176 f. 13 Näher Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 19 ff.; siehe auch von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (138). 14 Dazu R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 ff.; Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 23; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 6 f. 15 Siehe Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 1975, S. 58 f.; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 6. 16 E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 47; Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2. Aufl. 2008, S. 35 ff.
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§ 3 Entwicklungsgeschichtlicher Überblick
als ein Bürgerrecht begriffen, das genuin dem Schutz subjektiver Rechte diente.17 So wurde zwar die Zulässigkeit der Revision sowie der ergänzenden Nichtigkeitsbeschwerde zum Preußischen Obertribunal nach und nach von einschränkenden Voraussetzungen abhängig gemacht. Doch betraf dies nur die Festlegung bestimmter Mindeststreitwerte und nicht die Beschränkung auf ein besonderes öffentliches Interesse an der jeweiligen Streitsache.18 Vielmehr versuchte die Exekutive die schöpferische Tätigkeit der Gerichte auf verschiedene Weise zu begrenzen, wobei die Übertragung der Gesetzesauslegung an eine gesonderte Gesetzkommission durch die Königlich-Preußische Cabinetts-Ordre vom 14. April 1780 das berühmteste Beispiel darstellt.19 Auch nach Maßgabe des Preußischen Allgemeinen Landrechts aus dem Jahr 1794 wurden Unklarheiten bei der Anwendung des Gesetzes zunächst nicht durch die Rechtsprechung geklärt, sondern durch die preußische Gesetzkommission, der die Gerichte auftretende Zweifel bei der Auslegung und erkannte Gesetzeslücken gemäß den §§ 46 ff. Einl. PreußALR vorzulegen hatten. 20 In dieses Bild einer Unterdrückung der normbildenden Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung fügt sich schließlich bruchlos der Umstand ein, dass Revisionsurteile bis in die 1830er Jahre in vielen deutschen Staaten nicht mit Entscheidungsgründen versehen wurden. 21 Eine Leitschnur für die zukünftige Rechtsentwicklung vermochten sie daher nicht zu bilden. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich die prozessrechtlich orientierte Literatur der philosophischen Schule nicht mit dem Gedanken einer richterlichen Normbildung durch Prozesse befasste, sondern den Prozesszweck einzig in dem Schutz subjektiver Rechte der beteiligten Parteien erblickte. So formulierte etwa Grolman in seiner einflussreichen Abhandlung über die „Theorie des gerichtlichen Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten“: „Der Endzweck eines jeden gerichtlichen Verfahrens ist: daß jeder bey seinem, ihm von dem Staate garantierten Rechte, durch die richterliche Hülfe geschützt werde.“22
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Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2. Aufl. 2008, S. 151. Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 23 f.; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 7. 19 Siehe E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 46. 20 Hierzu auch Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 8 und Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 18 f. 21 Siehe von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 f.; Dawson, The Oracles of the Law, 1968, S. 433 ff. sowie Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 10 f., 20. 22 Grolman, Theorie des gerichtlichen Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach den gemeinen deutschen Gesetzen, 1800, S. 98. Zur Bedeutung der Grolmanschen Prozesslehre siehe Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, 1985, S. 25 ff. 18
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Speziell für die Rechtsmittel zu den höheren Instanzen führte Linde diese rein parteibezogene Sichtweise des Zivilprozesses konsequent fort, indem er die Aufgabe der höheren Gerichte in einer bloßen Fehlerkorrektur erblickte: „Unter Rechtsmittel überhaupt versteht man jedes zur Wahrung der Rechte dienliche Mittel. Im Civilprozesse werden diejenigen Mittel, welche gegeben sind, um Rechtsverletzungen, welche ein Richter als solcher zugefügt hat, abzuwenden, vorzugsweise Rechtsmittel genannt.“23
Ähnlich fand sich in den von Danz begründeten und von Gönner als einem der Hauptvertreter der philosophischen Schule fortgeführten „Grundsätze[n] des ordentlichen Prozesses“ zu den Prozesszwecken lediglich die Aussage, der Zivilprozess sei ein Substitut für unerwünschte Selbsthilfe.24 Folgerichtig konnte es in diesem Prozess nur um den Schutz der privaten Rechte, nicht aber um öffentliche Belange gehen. Das Fehlen einer zentralen höchstrichterlichen Instanz erschien daher bei Danz und Gönner auch nicht als gravierendes Problem, sondern wurde lediglich mit der Feststellung quittiert, dass sich das Revisionsverfahren als einheitliche Spitze der Zivilrechtsprechung mit der politischen Neuordnung des Jahres 1806 erledigt habe.25 Die Skepsis gegenüber einer Justiz, die nicht nur Privatrechte durchsetzen, sondern auch Gemeinschaftsinteressen verfolgen könnte, artikulierten schließlich auch von Almendingen, Mittermaier und Burkhard Wilhelm Pfeiffer. Zwar schütze, so von Almendingen, die richterliche Gewalt einerseits die Privatrechte, sie könne aber andererseits auch die „gefährlichste im Staat werden“, nämlich wenn sie um staatlicher Zwecke willen die Privatrechtsverhältnisse korrumpiere.26 Deshalb müsse die richterliche Gestaltungsmacht durch eine strenge Kontrolle begrenzt werden, zu deren Kernpunkten von Almendingen insbesondere die Parteihoheit über den Prozess zählte. 27 In diesem Zusammenhang formulierte er: „Daß die Rechte des einzelnen Bürgers, nach der Willkühr des Berechtigten selbst, doch ohne Spielraum für die Willkühr des Richters, mit Umsicht und Sicherheit realisirt würden – das war das in unseren Staaten, für unsere Bürger, durch das gerichtliche Verfahren aufzulösende Problem.“28
In gleicher Richtung verkörperte es für Mittermaier geradezu das Wesen der Justiz, „daß sie ohne eine Nebenrücksicht, ohne den einzelnen Fall im Zusam23
Linde, Handbuch des deutschen gemeinen bürgerlichen Prozesses, IV. Band, 1831,
S. 1 f. 24 Danz/Gönner, Grundsätze des ordentlichen Prozesses, 5. Aufl. 1821, S. 1 ff.; hierzu auch Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, 1985, S. 32. 25 Danz/Gönner, Grundsätze des ordentlichen Prozesses, 5. Aufl. 1821, S. 648. 26 von Almendingen, Metaphysik des Civil-Processes, 1821, S. 12. 27 von Almendingen, Metaphysik des Civil-Processes, 1821, S. 13 ff.; dazu auch Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 35. 28 von Almendingen, Metaphysik des Civil-Processes, 1821, S. 7 f.
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menhange mit dem Wohl des Ganzen zu würdigen, nur den einzelnen Fall für sich betrachtet, und, indem sie bloß das, was schon Gesetz ist, berücksichtigt, das Gesetz selbst handhabt“.29 Aus diesem Grund sprach sich Mittermaier in der nachfolgenden Diskussion über die Kontrolle des Verwaltungshandelns auch dagegen aus, diese Kontrolle den ordentlichen Gerichten zu übertragen, sondern plädierte für separate Verwaltungsgerichte: „Sobald die Gerichte wissen, daß ihnen ein politischer Charakter verliehen ist, können sie leicht auch in den privatrechtlichen Verhältnissen, die sie zu entscheiden haben, die politischen und Verwaltungsrücksichten hereinziehen; sie gewöhnen sich unvermerkt daran, bei ihren Entscheidungen auf die Folgen ihrer Urtheile für die öffentlichen Interessen Rücksicht zu nehmen.“30
Dieser Sichtweise lag ein Verständnis der ordentlichen Gerichtsbarkeit als eine reine Rechtsschutzanstalt zugrunde. In diesem Sinne sollte der Zivilprozess schließlich auch nach Burkhard Wilhelm Pfeiffer streng auf die Geltendmachung verletzter Individualrechte anhand eines zu entscheidenden Einzelfalls ausgerichtet sein, während die Gemeinwohlbezüge eines Rechtsstreits und deren zweckmäßige Regelung hiervon streng zu scheiden und der Ebene des Verwaltungshandelns zuzuorden seien.31
II. Die historische Schule Mit der Überwindung der Napoleonischen Okkupation und der damit verbundenen Zurückdrängung vernunftrechtlicher Konzepte geriet jedoch zugleich auch die philosophische Schule unter Druck. Ebenso wie im Staatsrecht gewannen auch im Zivilrecht nun konservative Auffassungen die Oberhand.32 Unter diesen gab es zunächst Strömungen, die die Justiz und insbesondere den Zivilprozess von den Individualinteressen der Parteien lösen und auf einen stärkeren Gemeinschaftsbezug verpflichten wollten. 33 Diese Ansätze waren dem Bestreben nach einer Restauration der alten kollektivistischen Feudalordnung geschuldet. So vertrat etwa Adam Heinrich Müller die Auffassung, die Rechte der Einzelnen seien nicht um ihrer selbst willen, sondern nur als Teil der Rechtsgemeinschaft schützenswert.34 Daher sei auch die Ziviljustiz nicht dazu bestimmt, 29
Mittermaier, AcP 4 (1821), 305 (314). Mittermaier, AcP 21 (1838), 254 (276). 31 B.W. Pfeiffer, Practische Ausführungen aus allen Theilen der Rechtswissenschaft, Band 3, 1831, S. 186 ff. 32 Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders. u.a. (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, 1965, S. 9 (13). 33 Vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2. Aufl. 2008, S. 74. 34 A.H. Müller, Elemente der Staatskunst, 1809, S. 77 ff. 30
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den Parteien ihr „armseliges Bündel Eigenthum zu konserviren“, sondern müsse bei ihren Entscheidungen stets in erster Linie die sozialen Bedürfnisse berücksichtigen.35 Dies könne ohne Weiteres dazu zwingen, ein nach dem Gesetz gegebenes, aber „gemeinschaftsschädliches“ subjektives Privatrecht als das „eigentliche Unrecht“ zu verwerfen.36 In der Folge erwies sich jedoch nicht diese feudalistisch-restaurative Auffassung, sondern vielmehr die historische Schule als wirkungsmächtig. Deren Programm wurde durch Savigny zunächst prägnant im Jahr 1814 in seiner Erwiderung auf Thibaut – „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ – und später erneut in seinem Hauptwerk – dem „System des heutigen römischen Rechts“ – dargelegt. Zu den Grundaussagen dieser Werke zählt es, dass sich das Recht nicht geplant durch zentralisierte Institutionen entwickelt, sondern im Volk anhand konkreter Anschauungen entsteht und davon ausgehend tradiert und sukzessive fortentwickelt wird.37 Einem aus abstrakten Prinzipien deduzierten Vernunftrecht setzte die historische Rechtsschule somit ein „geschichtliches Werden“ des Rechts entgegen.38 Savigny verglich dieses Werden aus der Quelle des Volksgeistes mit der organischen Entwicklung einer Sprache, die sich im täglichen Gebrauch ohne eine bewusste Lenkung fortbildet.39 Mit der steigenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft trete zu dem ursprünglich gewachsenen Recht zwar ein stärker formalisiertes Recht hinzu, das durch gelehrte Juristen in der Rechtswissenschaft und durch den Gesetzgeber ausgearbeitet werde.40 Aber hierbei handele es sich nicht um eine vollständige Verdrängung der organischen Rechtsentwicklung, sondern der Gesetzgeber und die Rechtswissenschaft sollten mit den tradierten Rechtsüberzeugungen harmonisch zusammenwirken.41 Folgerichtig bestehe die Aufgabe der Rechtswissenschaft nicht darin, ein vollständig neues dogmatisches System zu entwerfen, sondern darin, das überlieferte Recht durch einen „Stand der Rechtskundigen“, der sich aber zugleich als Bestandteil des Volkes begreifen müsse, aufzuarbeiten und zu ordnen.42 Savigny votierte somit für eine wechselseitige Ergänzung von Geschichte und wis35
A.H. Müller, Elemente der Staatskunst, 1809, S. 98. A.H. Müller, Elemente der Staatskunst, 1809, S. 78. 37 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 13 ff., 18 ff.; hierzu Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 137 ff. 38 Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders. u.a. (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, 1965, S. 9. 39 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 11; ders., System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 17. 40 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 12; ders., System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 17 f., 38 ff., 45 ff. 41 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 50 f. 42 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 45 ff. 36
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senschaftlicher Systematisierung, die eine einheitliche zentrale Steuerung aufgrund abstrakter Prinzipien, wie sie der philosophischen Schule vorschwebte, ausschließt: „Die Summe dieser Ansicht also ist, daß alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d.h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkühr eines Gesetzgebers.“43
Der Gesetzgebung komme vor diesem Hintergrund historisch nicht die Aufgabe zu, an die Stelle des organischen Rechts zu treten, sondern sie dürfe nur Unklarheiten desselben beseitigen und es im Übrigen formell feststellen.44 Die abstrakte Normsetzung habe daher eine rein ergänzende Funktion gegenüber dem tradierten und wissenschaftlich systematisierten Recht. Mehr könne die Gesetzgebung ohnehin nicht leisten, da die Mannigfaltigkeit der auftretenden Fallgestaltungen für sie unvorhersehbar sei.45 Ihr Vorbild finde diese Sichtweise im römischen Recht: „Aber gerade von dieser Seite erscheint die Methode der Römischen Juristen am vortrefflichsten. Haben Sie einen Rechtsfall zu beurtheilen, so gehen sie von der lebendigsten Anschauung desselben aus, und wir sehen vor unsern Augen das ganze Verhältniß Schritt vor Schritt entstehen und sich verändern. […] In jedem Grundsatz sehen sie zugleich den einen Fall der Anwendung, in jedem Rechtsfall zugleich die Regel, wodurch er bestimmt wird, und in der Leichtigkeit, womit sie vom allgemeinen zum besondern und vom besondern zum allgemeinen übergehen, ist ihre Meisterschaft unverkennbar.“ 46
Dabei beschränkte Savigny seine Ausführungen nicht auf diese allgemeinen Gedanken zur Rechtsentstehung, sondern zog zugleich, wenn auch nur in knapper Form, Konsequenzen für die Bedeutung des Zivilprozesses. Da das Recht nicht autoritativ durch einen zentral lenkenden Gesetzgeber, sondern organisch unter Zuhilfenahme der Rechtswissenschaft entwickelt werden solle, müsse die Rechtsprechung bei seiner Bildung und Anwendung eine vermittelnde Rolle zwischen dem geschichtlichen Werden und der wissenschaftlichen Rationalisierung einnehmen. So verfolge das Privatrecht keinen öffentlichen Zweck, sondern sei das Gebiet, „in dem der einzelne Mensch für sich Zweck ist und jedes Rechtsverhältnis sich nur als Mittel auf sein Daseyn oder seine besonderen Zustände bezieht“.47 43 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 13 f. 44 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 16 f.; ders., System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 38 ff. 45 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 21 f. 46 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 30 f.; hierzu auch Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 72 f. 47 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 23.
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Vor diesem Hintergrund mahnte Savigny an, die Zivilrechtsprechung auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren, nämlich „dem Einzelnen, der in seinem Recht verletzt wird, Schutz zu gewähren gegen diese Verletzung; die Regeln, unter welchen diese Thätigkeit steht, nennen wir den Civilprozeß“.48 Hierzu kontrastierte Savigny das Rechtsgebiet, durch das Rechtsverletzungen „ohne Rücksicht auf das individuelle Interesse“ zu korrigieren seien, nämlich das Criminalrecht und den Criminalprozeß.49 Die private Seite und die öffentliche Seite des Rechts sowie seiner Verwirklichung blieben insoweit streng geschieden. Folgerichtig ist Savignys Bild des Zivilprozesses nicht selten dahingehend interpretiert worden, dass dieser Prozess eine reine Schutzfunktion für bestehende private Rechte habe, das heißt die Auffassung Savignys wurde als Replikation des kantischen Gedankenguts interpretiert.50 Hiermit würde die Auffassung Savignys zur Funktion der Rechtsprechung im Zivilrecht aber nicht vollständig erfasst. Denn wie bereits dargelegt, war das Privatrecht für Savigny – anders als bei Kant – eben kein Ausdruck unveränderlicher Vernunftgebote, sondern das Ergebnis einer historisch-organischen Entwicklung. In diesem Zusammenhang betonte er, dass auch das Zivilrecht sich nicht in abstrakten Rechtsverhältnissen erschöpfe, sondern erst „im Staat, durch Aufstellung des Richteramtes, Leben und Wirklichkeit“ erhalte.51 Somit erkannte Savigny eine enge Verbindung zwischen dem Institut des Zivilprozesses und dem Zweck des Staates als eine Verwirklichung der Volksgemeinschaft, weshalb er das Zivilprozessrecht auch dem Gebiet des öffentlichen Rechts zuordnete.52 Diese Einbettung der Rechtsprechung in den Staat und seine Aufgabe, das organisch-tradierte Recht einerseits zu realisieren, andererseits aber auch den Bedürfnissen einer differenzierten Gesellschaft anzupassen, setzte sich schließlich in Savignys Ausführungen zur Interpretation von Gesetzen fort. Nach seiner Auffassung war es zumindest bei so genannten mangelhaften Gesetzen, deren Formulierung entweder unklar ist oder den eigentlichen Regelungsgedanken nicht zutreffend widerspiegelt, unmöglich, ein konstitutives Moment der Rechtsprechung zu verneinen. Die Grenzen zwischen interpretierender Rechtsanwendung und fortbildender Rechtsschöpfung waren für ihn hier vielmehr fließend.53 Um ein zu starkes Ausgreifen einfacher Gerichte zu verhindern, schlug Savigny in diesem Zusammenhang sogar vor, einen obersten 48
Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 26. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 26. 50 So Kiefner, Der Einfluß Kants auf die Rechts- und Staatslehre des 19. Jahrhunderts, in: Blühdorn u.a. (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft: Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, 1969, S. 3 ff.; ähnlich auch Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders. u.a. (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, 1965, S. 9 (18 f.). 51 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 23. 52 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 27. 53 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 240. 49
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Gerichtshof sowohl mit der verbindlichen Auslegung als auch der möglichen Fortbildung von Gesetzen zu betrauen.54 Die Aufgabe der Gerichte, dem Privatrecht „Leben und Wirklichkeit“ zu geben, bedingte für ihn somit durchaus eine aktive Rolle der obersten Gerichte bei der kontinuierlichen Fortentwicklung des Rechts. Wie lassen sich nun diese beiden Argumentationslinien, die einerseits auf einer bloßen Rechtsschutzfunktion des Zivilprozesses und andererseits auf einer konstitutiven Aufgabe der Gerichte beruhen, miteinander in Einklang bringen? Die Antwort fand Savigny darin, dass sich die Zivilrechtsprechung den Zügeln einer streng wissenschaftlichen Methode unterwerfen müsse. Nur durch eine Anwendung dieser Methode, nicht aber nach Art eines autonomen Regelgebers, dürfe sie zu ihren Urteilen gelangen.55 Nur soweit die Rechtsprechung durch „Gelehrte“ vollzogen werde, komme ihr eine herausgehobene Rolle zu, die nicht auf ihrer Eigenschaft als eine autoritativ urteilende Instanz beruhe, sondern eben auf ihrer Wissenschaftlichkeit.56 Anders als der Gesetzgebung räumte Savigny der Rechtsprechung daher auch nicht die Stellung einer eigenständigen Rechtsquelle ein. In diesem Zusammenhang lehnte er ausdrücklich die These ab, dass durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung ein Gewohnheitsrecht entstehen könne, das auch die Rechtsprechung selbst binde.57 Zwar spreche der Gedanke der Kontinuität für die Beibehaltung einer einmal eingeschlagenen Entscheidungslinie, aber dies dürfe einer Neuorientierung aufgrund besserer Rechtseinsicht niemals entgegenstehen. Die maßgebliche Quelle der Fortbildung des Rechts, selbst soweit sie sich in dem äußeren Rahmen der Rechtsprechung vollzog, sollte somit die Wissenschaft bleiben.58 Eine erfolgreiche Synthese aus der wissenschaftlichen Behandlung des Rechtsstoffs durch die Gerichte einerseits und aus ihrer autoritativ-urteilenden Tätigkeit andererseits hing dabei nach Savigny auch von der Ausgestaltung des Zivilprozesses ab, ohne dass er hierzu allerdings nähere Ausführungen angeschlossen hätte: „Ich bin oben von einem dreyfachen Bedürfniß ausgegangen: Rechtsquelle, Personal und Prozeßform, alle in löblichem Zustande. Wie die Rechtsquelle auf gründlicher und verbreiterter Wissenschaft beruhen solle, ist gezeigt worden: desgleichen wie eben dadurch das Personal der Rechtspflege für diesen Beruf wahrhaft gewonnen werden könne. Allein beides wird allerdings nicht zureichen, wenn die Form des Prozesses schlecht ist.“59
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Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 329 f. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 130. 56 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 89, 90 f. 57 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 95 f. 58 von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (138). 59 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 130. 55
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Somit lässt sich die Aufgabe des Zivilprozesses nach Savigny wohl am besten dahingehend charakterisieren, dass der Richter den konkreten Rechtsstreit als Medium benutzt, um den organisch gewachsenen und wissenschaftlich aufgearbeiteten Geist des Rechts zu entfalten und zu verfeinern. Als gelehrter Entscheidungsträger setzt er nicht durch einzelne Urteile abstrakt Recht, sondern wirkt an dessen Fortentwicklung nur insoweit mit, als sich in der Gesamtheit seiner Urteilstätigkeit ein wissenschaftlicher Ansatz immer wieder an konkreten Fallkonstellationen bewährt. Auf diesem Wege bilden die theoretische Wissenschaftlichkeit und der anwendungsorientierte Fallbezug in der historischen Schule eine organische Synthese.60 Dieses Wechselverhältnis von Wissenschaftlichkeit und Fallbezug fand seinen Ausdruck auch bei dem Savigny-Schüler Bethmann-Hollweg,61 dessen einleitenden Ausführungen zur zivilprozessualen Praxis in der Tradition der historischen Rechtsschule stehen: „Wissenschaftlich betrachtet endlich, wird durch nichts die Entwicklung des Rechts so sehr gefördert, als durch die Entscheidungen einzelner Rechtssachen. Denn während die Theorie nur zu leicht sich vom Leben entfernt, so treten uns hier die Lebensverhältnisse, die den Stoff des Rechts bilden, in ihrer vollen Frische entgegen, und ihre rechtliche Natur wird eben durch den Streit von den verschiedensten Seiten in das hellste Licht gesetzt. Wahre Bereicherung der Theorie ist vorzüglich von dieser Seite zu erwarten. Der wissenschaftlich gebildete Praktiker, der das theoretische Interesse festhält, findet daher reichen Stoff zu lehrreichen Beobachtungen, wenn nur das Auge ihm dafür geöffnet ist.“62
Die historische Rechtsschule schenkte somit der Rolle der Rechtsprechung bei der Normbildung einerseits größere Aufmerksamkeit als die vernunftrechtlichphilosophische Sichtweise. Andererseits stand sie einer rein rationalistischen Normbildung durch die obersten Gerichte skeptisch gegenüber und legte, getreu ihrem Grundverständnis der Rechtsentwicklung als ein wissenschaftlich begleiteter organischer Prozess, Wert auf einen starken Fallbezug. Mit diesem Programm der historischen Schule, das insbesondere über die Person Savignys stark auf die preußische Gesetzgebung einwirkte, lässt sich auch die Reformdebatte über das Revisionswesen in Preußen in den 1820er und 1830er Jahren in Einklang bringen. Hier hatte zunächst eine im Jahr 1826 eingesetzte Revisionsdeputation eine grundlegende Umgestaltung des Revisionswesens nach dem Vorbild des rheinisch-französischen Kassationsverfahrens vorgeschlagen.63 Danach sollte das Preußische Obertribunal als Revisionsgericht nur noch der Einheit der Rechtspflege verpflichtet sein und dementsprechend ausschließlich über allgemeine Rechtsfragen befinden und keine Entscheidung 60
Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 69 ff. Zu der Verbindung zwischen Savigny und Bethmann-Hollweg näher Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, 1985, S. 51 ff. 62 Bethmann-Hollweg, Grundriß zu Vorlesungen über den gemeinen und Preußischen Civilprozeß, Dritte vermehrte Ausgabe, 1832, Vorrede, S. XXVII. 63 Eingehend hierzu Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 8 ff. 61
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in der Streitsache selbst treffen.64 Dieser Vorschlag vermochte sich jedoch nicht durchzusetzen. Vielmehr ging die „Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde“ vom 14. Dezember 1833 einen Mittelweg, indem sie die Revision als volle Überprüfung der Tat- und Rechtsfragen im Interesse der Parteien erhielt, daneben aber die so genannte Nichtigkeitsbeschwerde mit einer reinen Überprüfung von Rechtsverletzungen als außerordentliches Rechtsmittel zum Preußischen Obertribunal stellte.65 Zwar lag auch dieses Rechtsmittel in der Hand der Parteien und erstreckte sich insbesondere nur auf die konkret gerügten Gesetzesverletzungen, hatte nach der Regierungsbegründung „aber den Zweck zu verhindern, daß ein unrichtiges Rechtsprinzip aufkomme“.66 Mit den Worten Schwinges nahm die prozessuale Ausgestaltung der höchstrichterlichen Rechtsprechung daher fortan die Natur eines „Zwitterdings“ an, in dem sich sowohl der Gedanke eines Rechtsmittels im Dienste der Parteien als auch der Gedanke einer normbildenden Institution im Dienste der Rechtsgemeinschaft widerspiegelten.67
III. Die Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens Auf den Fundamenten der historischen Rechtsschule entstand in der Folge eine weitere Diskussion, die für die Aspekte der Streitentscheidung und der Normbildung als Zwecke des Zivilprozesses bedeutsam wurde. Gemeint ist hiermit die Frage, in welchem Verhältnis die subjektiven Rechte, die durch den Kläger geltend gemacht werden, zu dem prozessualen „Anspruch“ auf Durchsetzung ebendieser Rechte stehen. Die gemeinrechtliche Praxis wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts dabei noch durch das aktionenrechtliche Denken des römischen Rechts beherrscht. Dieses kannte keine Trennung zwischen dem materiellen subjektiven Recht und seiner prozessualen Durchsetzung. Das gesamte zivilistische Denken war prozessrechtlich orientiert. In diesem Rahmen bestand kein Raum für materiellrechtlich verstandene Ansprüche, die von den prozessualen Rechtsschutzmöglichkeiten des Klägers – den actiones – zu unterscheiden gewesen wären. Maßgeblich war allein die Frage, ob der Prätor dem Kläger auf der Grundlage eines behaupteten Sachverhalts unter Ernennung eines iudex einen prozessualen Schutz gegen den Beklagten gewährte.68 Folgerichtig musste sich der Kläger, wenn aus einem Sachverhalt mehrere actiones erwuchsen, auch für ein bestimmtes Klage64
Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 9 f. Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 12. 66 Rescript des Preußischen Justizministers v. 28. Juli 1835, Juristische Zeitung für die Königlich-Preußischen Staaten, 1835, S. 847. 67 Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 14. 68 H. Kaufmann, JZ 1964, 482 (483). 65
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recht entscheiden, wenn er vor Gericht erfolgreich sein wollte.69 Bestand somit nur ein punktueller prozessualer Schutz der materiellen Interessen, erschöpfte sich umgekehrt der Zweck des Prozesses aber auch in der Durchsetzung der aktionenrechtlichen Positionen. Zwar gewährte der Prätor rechtssuchenden Parteien auf der Grundlage des vorgetragenen Sachverhalts häufig auch neue, bisher nicht anerkannte actiones, deren Summe das so genannte ius honorarium bildete.70 Dies geschah jedoch stets nur mit Blick auf die Anforderungen des vorgetragenen Falls und nicht in Form einer abstrakten Regelbildung. Hatte sich dieses aktionenrechtliche Denken über das Mittelalter in der gemeinrechtlichen Praxis weit gehend erhalten, 71 war es insbesondere seit der einsetzenden Kodifikationsbewegung einem erheblichen Wandel ausgesetzt. Das Prozessrecht wurde zusehends von dem materiellen Recht geschieden, was seinen Ausdruck zum Beispiel darin fand, dass dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 eine separate Preußische Allgemeine Gerichtsordnung von 1793 zur Seite gestellt wurde. Die strenge Verpflichtung des Klägers, eine bestimmte actio geltend machen zu müssen, wurde bereits durch den usus modernus pandectarum zugunsten einer freieren Stellung des Gerichts abgelöst, das seinem Urteil nun diejenige actio zugrunde legen konnte, die für den Kläger jeweils am günstigsten war.72 Dies bedeutete einen Zuwachs an richterlicher Entscheidungsmacht. Savigny versuchte zunächst noch, einen Kompromiss zwischen dem römischrechtlichen Aktionendenken und der aufgekommenen Trennung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht herbeizuführen. So erkannte er zwar den Primat der materiellen subjektiven Rechte gegenüber den Klagepositionen an, die zum Schutz der ersteren bestimmt seien.73 Gleichwohl versuchte er, die Einheit von subjektivem Recht und actio dadurch zu erhalten, dass er ein „materielles Aktionenrecht“ konstruierte: Ausgangspunkt sei das materielle Recht, dieses wandele sich jedoch aufgrund seiner Verletzung bzw. Nichtbefolgung durch den späteren Beklagten in eine als actio begriffene Befugnis um, gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.74 Zwischen dem materiellen subjektiven Recht und der späteren actio besteht danach eine kausale Beziehung, die Savigny als eine Form der Metamorphose begriff.75 69
H. Kaufmann, JZ 1964, 482 (483 f.). Hierzu Liebs, Römisches Recht, 6. Aufl. 2004, S. 37 ff. und Meyer-Pritzl, Der Urteilsspruch in der europäischen Rechtsgeschichte, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, 2003, S. 41 (44 ff.) m.w.N. 71 Siehe H. Kaufmann, JZ 1964, 482 (484 ff.). 72 H. Kaufmann, JZ 1964, 482 (487 f.). 73 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 5, 1841, S. 1 f. 74 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 5, 1841, S. 5 f. 75 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 5, 1841, S. 3; ausführlich hierzu Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, 1985, S. 42 ff. und 54 ff. 70
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Eine grundlegende Kritik erfuhr diese Sichtweise durch Windscheid in dessen Schrift „Die Actio des römischen Civilrechts – vom Standpunkte des heutigen Rechts“ aus dem Jahr 1856. Windscheid legte dar, dass der Savignysche Metamorphosegedanke nicht dem römischen Rechtsdenken entsprach, das vielmehr keine von den actiones geschiedenen materiellen Rechtspositionen gekannt hatte. 76 Da die materiellrechtlich orientierte Sichtweise im Laufe der Zeit aber die prozessuale Fokussierung des Zivilrechts verdrängt habe, sei der Begriff der actio gänzlich aufzugeben und durch denjenigen des materiellen Anspruchs zu ersetzen.77 Dieser Siegeszug des materiellen Anspruchsdenkens und die daraus folgende Trennung zwischen Zivilrecht und Zivilprozess78 ließ nun jedoch in aller Schärfe das Problem hervortreten, in welchem Verhältnis die Anspruchspositionen der Parteien zu dem Gegenstand und dem Zweck des Zivilprozesses stehen.79 Insoweit bildeten sich in der Folge zwei konkurrierende Positionen heraus: Nach einer Sichtweise folgte aus dem materiellen subjektiven Recht zugleich ein akzessorischer Anspruch gegen den Staat auf dessen prozessualen Schutz.80 Diese so genannte Lehre vom Rechtsschutzanspruch steht dem römischen Erbe durchaus nahe. Zwar werden Anspruch und Klagerecht geschieden, doch dient der Prozess akzessorisch und ausschließlich der Durchsetzung individueller Rechtspositionen. Die Gewährung eines solchen Rechtsschutzes erscheint notwendig, weil die Bürger anderenfalls zur Durchsetzung ihrer Rechte auf eine friedensgefährdende Selbsthilfe angewiesen wären.81 Abgesehen von diesem friedenswahrenden Moment sollte der Zivilprozess nach dieser Auffassung aber keinem anderen öffentlichen Zweck dienen, sondern nur der Durchsetzung bereits bestehender Privatrechte. 82 Von diesem Standpunkt aus bildete der Zivilprozess weiterhin einen Teil des klassischen liberalen, individualbezogenen Privatrechts.83 Er blieb vor allem von der sonstigen hoheitlichen Tätigkeit des Staates in Form des Verwaltungshandelns und der Gesetzgebung strikt getrennt. Mittels des Prozesses erfüllte der Staat in Gestalt des Rechtsschutzanspruchs 76
Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, 1856, S. 1 ff. Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, 1856, S. 228 ff.; relativierend zu dem „Bruch“ zwischen den Sichtweisen Savignys und Windscheids aber Vossius, Zu den dogmengeschichtlichen Grundlagen der Rechtsschutzlehre, 1985, S. 104 ff. 78 Siehe Herbst, Die Bedeutung des Rechtsschutzanspruchs für die moderne Zivilprozessrechtslehre, 1973, S. 81 ff.; Konzen, Rechtsverhältnisse zwischen Prozeßparteien, 1976, S. 105 f. 79 Dies wird bereits klar erkannt von R. Neuner, Privatrecht und Prozeßrecht, 1925, S. 15. 80 Zuerst Muther, Zur Lehre von der römischen Actio, 1857, S. 35 ff.; in der Folge Hellwig, Anspruch und Klagrecht, 1900, S. 145 ff.; R. Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 1898, S. 16 ff.; Wach, Handbuch des deutschen Civilprozessrechts, Band 1, 1885, S. 19 ff. 81 R. Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 1898, S. 1. 82 R. Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 1898, S. 8 ff. 83 Vgl. R. Neuner, Privatrecht und Prozeßrecht, 1925, S. 11 f. 77
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somit eine dienende Funktion gegenüber dem Bürger, der seine Rechte als freies Privatrechtssubjekt autonom verfolgte.84 Dem stellte sich jedoch eine andere, im Laufe der Zeit wirkungsmächtigere Sichtweise entgegen, die annahm, dass materielle subjektive Rechte nur insoweit bestehen könnten, als sie auch durch ein prozessuales Klagerecht geschützt seien.85 Ziel dieser Position war es, eine Art „Kopernikanische Wende“ im Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht zu bewirken. Nicht das Prozessrecht sollte sich nach dem materiellen Recht richten, sondern dieses nach dem Prozessrecht. Danach kann es von vornherein nicht Aufgabe des Zivilprozesses sein, feststehende subjektive Rechte nur akzessorisch zu verwirklichen. Anstelle dessen erscheint der Prozess als eine Form der rechtlichen Ordnung, die das bloß relative Interesse der Parteien an ihren jeweiligen subjektiven Rechten übersteigt und deren Aufmerksamkeit dem objektiven Recht „an sich“ gilt.86 Nach Kohler fehlt dem Staat sogar jedes genuine Interesse an dem Ausgang des konkreten Rechtsstreits, denn „der einzelne Prozeß und seine Erledigung würde das Glück und Unglück des Staates nicht berühren“.87 Vielmehr liege das Interesse des Staates auch im Zivilprozess nur in der Verwirklichung des objektiven Rechts. Dies könne es beispielsweise rechtfertigen, den Prozessstoff unabhängig von den Dispositionen der Parteien von Amts wegen zu ermitteln, sofern das öffentliche Interesse ein solches Vorgehen gebiete.88 Anders als nach der Lehre vom Rechtsschutzanspruch nahm der Prozess danach keine dienende Stellung gegenüber dem materiellen subjektiven Recht ein, sondern bildete eine eigenständige Institution mit gesellschaftsordnenden Aufgaben. In diesem Sinne wurde unter Ablehnung der wissenschaftlichen Normbildungstheorie Savignys der staatliche Richterspruch zum Kernpunkt des Privatrechts.89 Erst auf der prozessualen Ebene sollte sich entscheiden, welche Interessen staatlichen Schutz verdienen und dementsprechend den Status eines subjektiven Privatrechts erlangen.90 Einen besonders pointierten Ausdruck erfuhr diese Sichtweise bei Laband, der den Richterspruch mit dem Gesetz verglich: Während Letzteres das Recht „in abstracto“ enthalte, konstituiere Ersterer das Recht „in concreto“.91 Somit gehe es nicht primär um die Verwirk84 Gaul, AcP 168 (1968), 28 (45); Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, 1966, S. 12 f. 85 Insbesondere Binder, Prozeß und Recht, 1927, S. 103 ff.; ähnlich auch R. Neuner, Privatrecht und Prozeßrecht, 1925, S. 5 f. 86 Siehe Degenkolb, Einlassungszwang und Urteilsnorm, 1877, S. 29 ff. 87 Kohler, Der Prozeß als Rechtsverhältnis, 1888, S. 7. 88 Kohler, Der Prozeß als Rechtsverhältnis, 1888, S. 17 ff. 89 Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, 1843, S. 299 ff.; Kierulff, Theorie des gemeinen Civil-Rechts, Band I, 1839, S. 1 ff. und hierzu Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2. Aufl. 2008, S. 232 ff. 90 Binder, Prozeß und Recht, 1927, S. 380 ff. 91 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band III, Abt. 2, 1882, S. 24 f.
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lichung eines behaupteten Privatrechts, sondern um den Erlass von Befehlen an den (erfolgreich) Verklagten, die eine eigenständige normative Kraft entfalten würden.92 Damit galt die liberal fundierte Sonderstellung des Zivilprozesses als überholt. Der Prozess hatte sich vielmehr in das hoheitliche Gefüge der staatlichen Aufgabenwahrnehmung einzugliedern.93 Die Überwindung des aktionrechtlichen Denkens ermöglichte es in diesem Sinne, die Parteibezogenheit des Zivilverfahrens einzuschränken, um den „besonderen Bedürfnissen des Prozesses“ Rechnung zu tragen.94 Diese besonderen Bedürfnisse hat de Boor später zu der Aussage verdichtet, „dass wir den Prozeß nicht mehr als Einzelerscheinung, vom Standpunkt der Parteien her sehen, sondern mindestens ebenso sehr an seiner sozialen Bedeutung als Gesamterscheinung interessiert sind, also auch an seiner Funktion, die objektive Rechtsordnung zur Geltung zu bringen und fortzuentwickeln.“95 Somit bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens und einer verstärkten Objektivierung des Privatrechts.96 Diese Entwicklung stellte einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu der prozessualen Anerkennung eines normbildenden Mandats der Rechtsprechung dar.
IV. Die Interessenjurisprudenz Jherings und die „soziale Aufgabe“ Weitere Impulse erhielt die Diskussion um den Prozesszweck der Normbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das Werk Jherings, insbesondere nach seiner Abkehr von der Begriffsjurisprudenz und seiner Hinwendung zur Interessenjurisprudenz.97 Nach Jherings interessenjuristischer Sichtweise folgt die Entwicklung des Rechts aus einer Angleichung des überkommenen „Rechtsstoffs“ an die sozialen Probleme der jeweiligen Zeit.98 Diese Auffassung entwickelte Jhering maßgeblich in Auseinandersetzung mit der historischen Rechtsschule. Dabei hatte er ursprünglich noch in deutlicher Anlehnung an Savigny den Grundgedanken einer rein organischen, nicht planvoll-gestaltenden Rechtsentwicklung vertreten: 92
Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band III, Abt. 2, 1882, S. 25 f. Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, 1966, S. 14 ff. 94 de Boor, Gerichtsschutz und Rechtssystem, 1941, S. 33 f. 95 de Boor, Festschrift Boehmer, 1954, S. 99 (104 f.). 96 Bucher, AcP 186 (1986), 1 (7 ff.). 97 Zu den Umbrüchen in Jherings Werk näher Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 450 ff. 98 Behrends, Jhering und die Evolutionstheorie des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 7 (15 f.). 93
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„In steter Abhängigkeit verläuft die Bildungsgeschichte des Rechts, und neben den gewaltigen historischen Mächten, welche dieselbe bestimmen, schrumpft die Mitwirkung des menschlichen Verstandes, wenn er statt Werkzeug Schöpfer sein will, in Nichts zusammen.“99
Aber bereits in seinem Nachruf auf Savigny kritisierte er den geringen Raum, den dieser der bewussten, planvollen Rechtsgestaltung gewährt hatte und unterstellte der historischen Rechtsschule einen „romantischen Conser vativismus“.100 Fortan erblickte Jhering das Wesen der Rechtsentwicklung nicht mehr in einer Bewahrung, Systematisierung und fallweisen Veränderung des Rechtsstoffs, sondern als Teil eines Prozesses der gesamtgesellschaftlichen Fortentwicklung.101 Die historische Schule setze zu Unrecht auf eine rein organische, den status quo weit gehend konservierende Fortentwicklung des Rechts, wo es doch oft darum gehen müsse, „die Dämme“ einzureißen, „die dem Strome wehren, eine neue Richtung einzuschlagen“.102 Dies sei nur möglich, wenn gegenüber der „individualistischen Rechtsauffassung“ der „gesellschaftliche Charakter des Privatrechts“ stärker betont werde.103 Folglich symbolisierte für Jhering der Tod Savignys nicht nur denjenigen einer Person, sondern einer ganzen Rechtslehre. Dabei könnte die durch Jhering geforderte Neuausrichtung mit keiner Formulierung besser umschrieben werden als mit dem durch ihn ausgerufenen „Kampf ums Recht“: „Aber das Recht als Zweckbegriff, mitten hineingestellt in das chaotische Getriebe menschlicher Zwecke, Bestrebungen, Interessen muß unausgesetzt tasten und suchen, um den richtigen Weg zu finden, und, wenn es ihn entdeckt hat, den Widerstand zu Boden werfen, welcher ihm denselben versperrt. […] Es ist eine wahrhaft romantische, d.h. auf einer falschen Idealisierung vergangener Zustände beruhende Vorstellung, daß das Recht sich schmerzlos, mühelos, tatenlos bilde gleich der Pflanze des Feldes; die raue Wirklichkeit lehrt uns das Gegenteil.“104
Eine derart gesellschaftsgestaltende Funktion des Rechts erforderte neben umfangreicher gesetzgeberischer Tätigkeit auch eine aktive Mitwirkung der Rechtsprechung an der Fortentwicklung des Rechts.105 Jedoch nicht nur die Richter, sondern auch die streitenden Parteien sollten sich in den Dienst der Rechtsgemeinschaft stellen. Sie dürften die gerichtliche Durchsetzung privater Rechte nicht nur als eine Frage ihres privaten Interessenkalküls oder ihrer subjektiven 99
Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Band 1, 1852, S. 26. 100 Jhering, JherJb. 5 (1861), 354 (368). 101 Schelsky, Die Soziologen und das Recht, 1980, S. 165. 102 Jhering, Der Kampf ums Recht, 7. Aufl. 1989, S. 8. 103 Jhering, Der Zweck im Recht, Band I, 2. Aufl. 1886, S. 532. 104 Jhering, Der Kampf ums Recht, 7. Aufl. 1989, S. 10 f. 105 K. Schmidt, Jherings Geist in der heutigen Rechtsfortbildung. Ein Streifzug durch den „Geist des römischen Rechts“ aus heutiger Sicht, in: Behrends (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 77 (83 f.).
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Rechtspositionen begreifen, sondern zumindest auch als eine moralische Pflicht gegenüber der Gemeinschaft.106 Der Gedanke, dass sich der juristische Fortschritt nicht aus historischer Notwendigkeit oder gelehrter Betrachtung, sondern nur aus gesellschaftlicher Aktivität ergebe, wird somit zu der Annahme verdichtet, dass die Allgemeinheit gegenüber dem Einzelnen einen Anspruch auf die tätige Mitwirkung an der Bewährung und Fortentwicklung des Rechts habe. Der Zivilprozess dient in diesem Bild weder ausschließlich oder auch nur vorrangig dazu, die Rechte der Parteien zu vindizieren, sondern er bildet gleichsam eine Lebensader des objektiven Rechts, in die die Rechtsprechung „frisches Blut“ pumpt. Somit stand für den späten Jhering die soziale, gemeinschaftsbezogene Dimension des Zivilrechts gegenüber der privaten Dimension im Vordergrund.107 Aufgegriffen wurde dieser Gedanke in der Folge vor allem durch Otto von Gierke und Anton Menger in ihren Erwägungen zur sozialen Aufgabe des Privatrechts. Gemeinsamer Ausgangspunkt Gierkes und Mengers war dabei die Kritik an dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden klassisch-liberalen Privatrechtsmodell, das als Katalysator einer sich immer weiter entfaltenden kapitalistischen Verkehrswirtschaft diente.108 Entgegen einer häufig anzutreffenden Lesart erschöpfte sich die soziale Aufgabe für Gierke allerdings nicht in einem Schutz des Schwächeren bei der Strukturierung von Privatrechtsverhältnissen, sondern diente auch und vor allem der Verwirklichung eines konservativ begründeten Gemeinschaftsgedankens.109 Sein Ziel war die Überwindung der Dichotomie zwischen einem etatistisch geprägten öffentlichen Recht einerseits und einem rein romanistisch orientierten Privatrecht andererseits.110 Ersteres sollte zugleich dem Schutz des Einzelnen und Letzteres zugleich dem Gemeinwohl dienen: „So kann auch die Rechtsordnung, wenn sie sich in Privatrecht und öffentliches Recht spaltet, wohl eine Weile davon absehen, daß der Einzelne für das Ganze und das Ganze für die Einzelnen da ist. Allein zuletzt darf sie die Einheit des Zieles nicht vergessen und muß auch im Privatrecht, wo sie zuvörderst für Einzelinteressen sorgt, das Gemeinwohl erstreben, und im öffentlichen Recht, wo sie zunächst auf das Ganze blickt, den Einzelnen gerecht werden.“111
106
Jhering, Der Kampf ums Recht, 7. Aufl. 1989, S. 24 ff. Luig, Jherings Evolutionstheorie des Werdens des Rechts durch Tun und der gesellschaftliche Charakter des Privatrechts, in: Behrends (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 161 (172 ff.); Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 453. 108 Zu dem Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Privatrechtsbild siehe Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 462 109 Ausführlich Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 51 ff. 110 Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 4 ff. 111 Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, hrsg. von Wolf, 1943, S. 5. 107
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Gierke stellte sich folgerichtig gegen die zu seiner Zeit noch vorherrschende Sichtweise, dass die Person des Privatrechts im Ausgangspunkt als ein ungebundenes Individuum zu begreifen sei, dem gemeinwohlbezogene Schranken erst durch einen von außen hinzutretenden, publizistischen Gesetzesbefehl gezogen würden, der nicht nur das freie Individuum, sondern zugleich auch das Privatrecht als solches beschneide.112 Indem Gierke dieser Sichtweise das berühmte Erfordernis eines „Tropfens sozialistischen Öles“113 im Privatrecht entgegenstellte, wollte er vor allem die historisch-gewachsenen Strukturen zu neuem Leben erwecken und gegen das drohende Monopol des Staats- und Verwaltungsrechts bei der Gesellschaftsgestaltung schützen. Paradigmatisch hierfür stand im Werk Gierkes die Betonung gemeinschaftlicher Strukturen wie der Familie, der Gesellschaften und der Körperschaften.114 Demgegenüber zielte Anton Menger mit seiner Kritik an dem klassisch-liberalen Modell des Privatrechts weniger auf die Stärkung historisch-gewachsener Gemeinschaften als vielmehr auf eine verbesserte Einbindung der „besitzlosen Volksklassen“ in das bürgerliche Recht und seine Verwirklichung im Zivilprozess.115 Die Vorarbeiten zum Bürgerlichen Gesetzbuch und die daraus resultierenden Entwürfe sah er als den Versuch an, ein liberales, auf der Fiktion personaler Gleichheit aller Rechtssubjekte beruhendes Bild des Privatrechts aufrechtzuerhalten, obwohl sich dessen Grundlagen mit der enormen sozialen Ausdifferenzierung längst verflüchtigt hätten.116 Auch die Umsetzung des materiellen Privatrechts im Zivilprozess habe die Interessen der „ungeheuren Mehrheit der Nation“ aus dem Auge verloren.117 Das Prozessrecht bedürfe vor diesem Hintergrund einer grundlegenden Revision, wozu unter anderem die Stärkung der richterlichen Macht bei der Rechtsgewinnung gehöre.118 Konkrete Folgerungen aus der sozialen Aufgabe des Privatrechts für das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung im Zivilprozess finden sich schließlich bei dem Österreicher Franz Klein. Dieser wurde durch Gierke und Menger beeinflusst und gilt als Vater der Österreichischen Zivilprozessordnung aus dem Jahr 1898, die auch in Deutschland große Beachtung fand.119 Bezogen 112 113 114 115 116
Siehe Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band II, 1873, S. 130. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, hrsg. von Wolf, 1943, S. 10. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, hrsg. von Wolf, 1943, S. 30 ff. Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 52 f. Grundlegend A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen,
1890. 117
A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Aufl. 1908,
S. 31. 118
A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Aufl. 1908,
S. 34 f. 119 Gottwald, Civil Justice Reform: Access, Cost, and Expedition. The German Perspective, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 207 (227); Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 53 ff.
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auf den Zweck des Zivilprozesses nahm Klein an, dass dieser Zweck keinesfalls auf den Schutz privater Rechte reduzierbar sei. Denn wenn dem so wäre, ließen sich die einschneidenden Veränderungen des Prozessrechts im Laufe der Zeiten nicht erklären, da doch der Privatrechtsschutz eine unveränderte Konstante sei und daher diese Veränderungen nicht erklären könne: „Es müssen daher für den Prozeß neben dem durch alle geschichtlichen Phasen hindurch gleichen Zwecke: Wahren der Rechtsordnung, Finden des Urteils und Vollstrecken auch Aufgaben in Betracht kommen, die geschichtlich veränderlich sind und deshalb von Zeit zu Zeit Veränderungen in dem Gefüge von Handlungen veranlassen, das in seiner realen Erscheinung Prozeß heißt.“120
Den österreichischen Zivilprozess an der Wende zum 19. Jahrhundert sah Klein dabei maßgeblich durch den Gedanken „einer Einordnung der persönlichen Interessen in die Interessen des Gemeinwohles und die Erklärung der individuellen Vorgänge aus dem gesellschaftlichen Untergrunde“ beeinflusst.121 Dem lag die Einsicht zugrunde, dass die Beurteilung privatrechtlicher Verhältnisse nicht nur für die konkreten Prozessparteien Bedeutung habe, sondern auf die gesamte Gesellschaft ausstrahle. Vor diesem Hintergrund deutete Klein den Zivilprozess weniger als ein individuelles, fallbezogenes Geschehen, sondern vielmehr als eine „Massenerscheinung“, derer sich der Staat im Sinne einer wohlfahrtstaatlichen Regulierung anzunehmen habe.122 Daher genössen die Rechte der Einzelnen auch im Zivilprozess ihren Schutz immer nur als Teile des Staatsganzen.123 Der Prozess sei folglich „ein Institut des öffentlichen Rechts, und darin ist die Verpflichtung begründet, neben den Privatinteressen auch den höheren Gesellschaftswerten Genüge zu tun. Die Akte, aus welchen das Verfahren sich zusammensetzt, sind ebenso Maßnahmen für die Parteien wie für das Gemeinwohl. Ist die Verwaltung Sorge für Volks- und Staatsinteressen, dann ist auch im Prozesse ein Verwaltungselement enthalten, so wie er vom Staatlichen und Sozialen einigermaßen mehr durchtränkt ist.“124 Dabei verstärkte Klein diese Analogie zum Verwaltungsgedanken in seinen weiteren Ausführungen noch: „Der Prozeß kann ausschließlich juristisch oder literarisch genommen werden und das mag vielleicht heute noch überwiegen. Zum mindesten ebenso berechtigt ist es aber, ihn in eine Reihe mit den großen regulierenden staatlichen Anstalten zu stellen, die von der Volksschule bis zur Verfassung reichen und die insgesamt gesellschaftliche oder gesellschaftspolitische Tendenzen nicht verleugnen.“125 120
Klein/Engel, Der Zivilprozess Österreichs, 1927, S. 186. Klein/Engel, Der Zivilprozess Österreichs, 1927, S. 187. 122 Gaul, Der Zweck des Zivilprozesses, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 2001, S. 68 (77). 123 Klein/Engel, Der Zivilprozess Österreichs, 1927, S. 188. 124 Klein/Engel, Der Zivilprozess Österreichs, 1927, S. 190. 125 Klein/Engel, Der Zivilprozess Österreichs, 1927, S. 202. 121
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Klein deutete den Zivilprozess daher als „eine unentbehrliche staatliche Wohlfahrtseinrichtung“, in der der Rechtsgenuss „eines jeden“ mit dem Gesamtinteresse der Gesellschaft verschmelze.126 Die folgerichtige Konsequenz dieses Ansatzes war die emphatische Bejahung eines sozialen Prozessrechts, das die traditionelle Funktion der Streitentscheidung zugunsten einer administrativ orientierten Regulierung der Gesellschaft in den Hintergrund treten ließ.127
V. Die Entwicklung nach der Reichsgründung Mit der Reichsgründung im Jahr 1871 wuchs der Bedarf nach einer vereinheitlichenden Normbildung in allen Rechtsgebieten stark an, so auch auf dem Gebiet des Zivilrechts.128 Wurde dieser Bedarf nach Auffassung der Pandektistik noch durch einen wissenschaftlichen Positivismus gedeckt, rückte nun der Gesetzgeber in das Zentrum der Betrachtungen. Vor allem die Kodifikationsarbeiten am Bürgerlichen Gesetzbuch und dessen Inkrafttreten im Jahr 1900 gaben einem Gesetzespositivismus Vorschub, der die Aufgabe der Normbildung in der Institution der Legislative zentrierte.129 Aber auch der institutionelle Rahmen der Rechtsprechung änderte sich durch das Inkrafttreten des Gerichtsverfassungsgesetzes130 und der Zivilprozessordnung131 im Jahr 1879 erheblich. Von Bedeutung für den hier diskutierten Zusammenhang waren dabei vor allem die Einführung eines einheitlichen Revisionsrechts und die Schaffung des Reichsgerichts als höchstrichterliche Instanz. Diese beiden Umstände boten trotz des gesetzespositivistischen Umfelds durchaus Anknüpfungspunkte für eine Aufwertung der Rolle der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei der Gestaltung des Zivilrechts.
1. Die Sichtweise des zivilprozessualen Schrifttums Einen frühen und bis heute wirkungsmächtigen Ausdruck dieser geänderten Rahmenbedingungen der richterlichen Normbildung stellte Bülows Schrift „Gesetz und Richteramt“ aus dem Jahr 1885 dar. Bülow war dabei wie Savigny132 der Auffassung, dass das Gesetzesrecht aus historischer Sicht nur eine untergeordnete Bedeutung habe. Anders als der Begründer der histori126
Klein, Zeit- und Geistesströmungen im Prozesse, 2. Aufl. 1958, S. 25. Klein/Engel, Der Zivilprozess Österreichs, 1927, S. 202 ff. 128 Exemplarisch Seitz, Zur Kritik der heutigen Negatorien- und Konfessorienklage, 1873, Vorwort, S. V ff. 129 Siehe G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 2/35 m.w.N.; Hillgruber, JZ 2008, 745 (747); R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 11. 130 Gesetz vom 27. Januar 1877, RGBl. S. 41. 131 Gesetz vom 30. Januar 1877, RGBl. S. 83. 132 Siehe oben § 3 A II, S. 40 ff. 127
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schen Rechtsschule postulierte er als maßgebliche Rechtsquelle jedoch nicht die wissenschaftliche Systematisierung des tradierten Rechts. Vielmehr kam für Bülow der Normbildung durch Richter die größte Bedeutung zu.133 Seine Ausführungen beruhten dabei auf der These, dass einem richterlichen Urteil stets ein konstitutives Moment innewohne, da es die aus einem Gesetz oder anderen Rechtsquellen resultierenden Vorgaben in einem konkreten Fall fortschreibe und rechtskräftig werden lasse.134 Er sah daher das Zivilurteil als eine „Rechtswillenserklärung“ an. Hierin erblickte er keine kritikwürdige Kompetenzüberschreitung der Gerichte, sondern die Lebensader des Rechts einer jeden Verkehrsgesellschaft: „Das abstrakte stumme Gebot des Gesetzes vermag der vielgestaltigen stürmischen Bewegung des menschlichen Gemeinlebens nicht völlig Herr zu werden. Das vermag es nur im Bunde mit der lebendigen Macht eines unmittelbar ins Leben eingreifenden Willens. Die Gesetzgebung denkt den Rechtsgedanken noch nicht fertig. Erst die rechtsbetheiligten Personen und, wenn diese nicht einmüthig werden, erst die Richter denken ihn zu Ende.“135
Mit Rücksicht auf die zum Zeitpunkt seiner Schrift bereits weit vorangeschrittenen Arbeiten am Bürgerlichen Gesetzbuch fügte Bülow hinzu, dass auch innerhalb eines Kodifikationssystems ein legitimer Spielraum für die richterliche Rechtsfindung praeter und contra legem bestehen bleibe.136 Untersucht man Bülows Text genauer, kann jedoch die teilweise vertretene Auffassung, dieser habe die Rechtsfortbildung als einen selbständigen gesellschaftsbezogenen, von der konkreten Streitentscheidung unabhängigen Prozesszweck etabliert,137 nicht geteilt werden.138 Vielmehr betonte Bülow, dass das Gericht seine „Rechtswillenserklärung“ an den individuellen Umständen und Ereignissen auszurichten habe, die seiner Aburteilung unterstünden, das heißt an dem konkreten Rechtsstreit: „Noch immer wird als ausgemacht, ja als selbstverständlich angenommen, daß auch die nichtgesetzliche Rechtsbildung ähnlich wie die gesetzliche nur durch Schaffung abstrak133
Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 16 ff. Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 2 ff. 135 Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 46. 136 Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 28 ff. 137 In dieser Richtung Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2. Aufl. 2008, S. 259 ff., insbesondere S. 264, wo unter Bezug auf Bülow ausgeführt wird: „Denn nachdem der Richterspruch seine historische Rolle als Eingriffsschranke gegenüber einer feindlich verstandenen Staatsgewalt jedenfalls im Bereich der Privatrechte ausgespielt hatte, konnten mit der Deutung der Justiz als Rechtsproduzenten nicht nur neue Kapazitäten erschlossen, sondern auch Möglichkeiten eröffnet werden, gesellschaftliche Interessen jenseits der parlamentarischen Gesetzgebung rechtlich zu sanktionieren.“ 138 Die untrennbare Verbindung von richterlicher Rechtsgestaltung und Streitentscheidung bei Bülow stellt bereits Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1992, S. 1 ff., klar heraus. 134
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ter, allgemeingiltiger Rechtsbestimmungen vor sich gehen könne. Solche gesetzesartigen Rechtsbestimmungen vermag allerdings der Richter nicht zu erlassen: seine Rechtsbestimmungs- und Rechtsordnungsmacht reicht nicht über das einzelne abzuurtheilende Rechtsverhältnis hinaus.“139
Für Bülow war die richterliche Normbildung somit zwar unvermeidlich, aber zugleich auch zwingend an die Umstände und Erfordernisse des zu entscheidenden Rechtsstreits angebunden, dessen zutreffende Beurteilung der eigentliche Zweck des Zivilprozesses bleiben sollte.140 Der Richter hatte seine Normen daher aus dem konkreten Fallmaterial zu schöpfen und nicht als ein Ersatzgesetzgeber zu agieren. Noch stärker als Bülow betonte Wach in seinem einflussreichen „Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts“141 die private Rechtsschutzfunktion der Zivilgerichte. Für ihn war der Zivilprozess zwar ein Schutz durch den Staat, aber keine Institution zum Schutz allgemeiner Interessen. Vor diesem Hintergrund lehnte Wach dezidiert die Labandsche Auffassung ab, dem Zivilurteil komme als staatlichem Ausspruch eine gesetzesgleiche Wirkung zu.142 Vielmehr schied er streng die legislative Funktion der Normsetzung von der richterlichen Funktion der Normanwendung,143 die auch eine gesetzesähnliche Normbildung durch die Gerichte ausschließe: „Der Civilprozess ist sonach die Form der gerichtlichen Verwirklichung des objektiven Privatrechts mit Beziehung auf ein ihm unterstelltes Lebensverhältnis zum Zwecke des Schutzes privatrechtlicher Interessen.“144
Wach ging daher von dem Prozess als einer Rechtsschutzordnung aus, die „nicht objektiv Recht schaffen, sondern Recht bewähren“ soll.145 Eine solche Bewährung sei nicht in abstracto möglich, sondern „nur denkbar in Anwendung auf ein konkretes Lebensverhältnis“.146 Diese Sichtweise spiegelte deutlich die Grundanliegen des liberalen, individualbezogenen Prozessverständnisses wider.147 Zwar leugnete Wach nicht, dass zumindest in der höchsten Instanz neben den Parteiinteressen auch Gemeinwohlinteressen eine Rolle spielen, wies jedoch zugleich auf die notwendige Verquickung dieser beiden Interessen hin, die einer Fortentwicklung des Rechts durch die Rechtsprechung Grenzen ziehe: 139
Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 42. Siehe Bülow, AcP 62 (1879), 1 (64). 141 Hierzu D. Unger, Adolf Wach (1843–1926) und das liberale Zivilprozeßrecht, 2005, S. 190 ff. 142 Siehe oben § 3 A III, S. 49 f. 143 Wach, Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts, Band 1, 1885, S. 4 ff. 144 Wach, Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts, Band 1, 1885, S. 3; ähnlich ders., ZZP 32 (1904), 1 (29 f.). 145 Wach, Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts, Band 1, 1885, S. 6. 146 Wach, Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts, Band 1, 1885, S. 8. 147 Siehe Gaul, Der Zweck des Zivilprozesses, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 2001, S. 68 (76 f.). 140
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„Das Rechtsmittel [der Revision] bezweckt nicht Aufstellungen von Rechtsanschauungen, abstrakten Rechtssetzen, sondern die Nachprüfung und eventuell Änderung in der Sache selbst. Daher dient es nicht nur der Rechtseinheit, sondern zugleich der konkreten gerechten Rechtsprechung.“148
In ähnlicher Weise ging schließlich auch Richard Schmidt in seinem „Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts“ von einer doppelten Funktion der Revision aus.149 Auf dieser Prozessebene verbanden sich für ihn die Verwirklichung des Parteiinteresses an einer erneuten, abschließenden Entscheidung des Einzelfalls und das öffentliche Interesse an einer einheitlichen Normanwendung und Normbildung: „[D]ie Revision ist nur gegen solche Entscheidungen zulässig, welche gleichzeitig das Interesse der Partei an einem gerechten Rechtsschutz im Einzelfall, wie das Interesse der Gesamtheit an einer einheitlichen Rechtsprechung der Gerichte in allen Fällen gefährdet.“150
2. Die Ausgestaltung des Revisionsrechts in der Zivilprozessordnung Die Orientierung der höchstrichterlichen Rechtsprechung an der doppelten Aufgabe der Entscheidung des anhängigen Rechtsstreits einerseits und der normbildenden Vereinheitlichung des Rechts andererseits, die durch die Literatur vorgezeichnet war, spiegelte sich auch in der Zivilprozessordnung von 1877 wider. Das Gesetz atmete weit gehend den liberalen Geist eines Rechtsschutzverfahrens, das den Parteien ein öffentliches Forum für ihre Rechtsstreitigkeiten zur Verfügung stellt, diese Streitigkeiten aber im Ausgangspunkt als eine Privatangelegenheit der Parteien betrachtet.151 Dieses Leitbild spiegelte sich insbesondere in der Verankerung der Dispositionsmaxime als Grundprinzip des Zivilprozessrechts wider.152 Auch für die höchstrichterliche Rechtsprechung folgte der Gesetzgeber dabei dem Grundsatz, das öffentliche Interesse an der Klärung und Fortentwicklung des Rechts nicht über das private Interesse an einer Streitentscheidung zu stellen. Von Gneist hatte die große Bedeutung der streitentscheidenden Funktion dabei auf dem 2. Deutschen Juristentag im Jahr 1861 zu der plakativen Formel verdichtet, dass der „gemeine Mann“ vom höchsten Gericht 148
Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, 2. Aufl. 1896, S. 285. R. Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 1898, S. 561 f. 150 R. Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 1898, S. 562. 151 Gaul, AcP 168 (1968), 28 (47); Gottwald, Civil Justice Reform: Access, Cost, and Expedition. The German Perspective, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 207; E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 106; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 32 ff. 152 Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, Band I, 1950, S. 109 ff.; E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 106 f.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 465. 149
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„sein Recht“ entschieden haben wolle, „nicht das Recht überhaupt“.153 Die Materialien zur Zivilprozessordnung relativierten diese Sichtweise allerdings, da sie auch dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsentwicklung eine grundlegende Bedeutung für das Institut der Revision beimaßen. So hieß es im allgemeinen Teil der Begründung: „Den Anforderungen, welche die Prozeßparteien an den Staat stellen können, dürfte völlig genügt sein, wenn der Staat den Prozeßparteien die Möglichkeit gewährt, ihren Rechtsstreit in einem wohlgeordneten Verfahren zweimal zu verhandeln und die Entscheidung zweier wohlbesetzter Gerichte zu erwirken […]. Dennoch kann ein Staat, dessen Gebiet ein zu umfangreiches ist, als daß die Einsetzung eines einzigen Oberlandesgerichts zulässig wäre, für geboten oder doch für wünschenswert erachten, im Interesse der freilich nie vollständig zu erreichenden, aber doch thunlichst zu erstrebenden Einheit des Rechts und der Rechtsprechung eine dritte Instanz vor einem obersten Gerichtshofe zu gestatten.“154
Den Gedanken der Rechtseinheit als Ausgangspunkt des Revisionsrechts zu begreifen, war vor allem aufgrund des Umstands plausibel, dass nach der Gründung des Reichs nicht nur eine Vereinheitlichung des materiellen Privatrechts durch eine Kodifikation notwendig erschien, sondern dass die zum Teil sehr unterschiedlich operierenden Zivilrechte der Gliedstaaten auch auf der Ebene der praktischen Rechtsanwendung zusammengeführt werden mussten.155 In folgerichtiger Durchführung dieses Ansatzes hatte sich der Gesetzgeber im Anschluss an Vorarbeiten, die bereits mit den Verhandlungen des 1. und 2. Deutschen Juristentags 1860 und 1861 begonnen hatten, für eine Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen unter Ausschluss einer erneuten Tatsachenprüfung entschieden.156 Obgleich somit nur das Bedürfnis nach einer einheitlichen Rechtsprechung im Reich den Legitimationsgrund dafür bildete, dass überhaupt eine Revisionsebene eingeführt wurde, bedeutete dies aber keineswegs, dass das Revisionsverfahren auch in seiner konkreten Durchführung nur einem öffentlichen, nicht aber einem Parteiinteresse dienen sollte. Dies verdeutlichten die Materialien insbesondere in einer Gegenüberstellung der Revision mit der Kassation französischer Prägung: „Der Kassationshof […] ist ein Organ der oberaufsehenden Gewalt des Staats, welches im öffentlichen Interesse Urtheile wegen der darin enthaltenen Gesetzesverletzung vernichtet. – Der Revisionshof ist ein Gericht, welches den Parteien Recht spricht und ein Privatinteresse schützt, indem es ein Urtheil aufhebt, wenn und soweit es auf einer Gesetzesverletzung beruht, folgeweise Parteirechte schädigt. Ihrem Charakter entsprechend ist die 153 Zitiert nach R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (11). 154 Begründung des Entwurfs einer ZPO, in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 1881, S. 141. 155 R. Bruns, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1979, Rdnr. 273c. 156 Siehe näher zu den Vorarbeiten und Vorentwürfen Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 18 ff.
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Revision von den Parteien zur Hand zu nehmen, während der Kassationsrekurs auch von einer Staatsbehörde erhoben werden kann; die Rücksicht auf die Beförderung der Einheit des Rechts und der Rechtsprechung giebt nur den allgemeinen rechtfertigenden Grund für die Zulassung der Revision als einer prozessualen Institution ab.“157
Dementsprechend wurde die Revision im Einzelfall auch nicht von einer besonderen Zulassung durch den iudex a quo oder den iudex ad quem abhängig gemacht. Aus diesem Umstand folgte ein Streit zu der Frage, auf welchem Weg das Reichsgericht vor einer Überlastung mit zu vielen Revisionsverfahren geschützt werden könne. Der erste Entwurf der Zivilprozessordnung stützte sich hierbei in § 485 ZPO E I noch auf das so genannte Difformitätsprinzip, nach dem eine Revision nur dann zulässig sein sollte, wenn der Urteilstenor der Berufungsentscheidung von dem Urteilstenor der erstinstanzlichen Entscheidung abwich.158 Vor allem auf Betreiben der einflussreichen Abgeordneten Struckmann, Bähr und Miquel wurde dieser Regelungsmodus jedoch letztlich zugunsten eines Modells fallen gelassen, nach dem die Zulässigkeit der Revision lediglich von dem Erreichen einer Revisionssumme in Höhe von 1500,– RM abhängig war.159 Dabei begründete die Mehrheitsauffassung der Ausschussmitglieder diese Änderung damit, dass das Streitwertmodell sowohl dem Interesse der Parteien an einer ordnungsgemäßen Entscheidung ihres Rechtsstreits als auch der Erhaltung der Rechtseinheit besser entspreche als das Difformitätsmodell.160 Denn die bloße Übereinstimmung des Urteilstenors der beiden unterinstanzlichen Urteile, die keineswegs zugleich auch eine einheitliche Urteilsbegründung, geschweige denn eine inhaltliche Korrektheit impliziere, bilde keinen sachlichen Grund dafür, die Überprüfungsbefugnis des höchsten Gerichts auszuschließen. Zwar erhob sich gegen das Streitwertmodell in den Ausschusssitzungen der Einwand, man schaffe damit „ein Privilegium der Reichen“.161 Dem widersprach jedoch die Mehrheit der Mitglieder mit der Erwägung, es „sei ein vollbe157 Begründung des Entwurfs einer ZPO, in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 1881, S. 142; zu entsprechenden Vorüberlegungen im nordeutschen Entwurf von 1870 siehe Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (110 f.). 158 Siehe den Entwurf einer ZPO, in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 1881, S. 62 und Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (117 f.). 159 §§ 507, 508 ZPO, in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozessordnung, Band 2, 2. Aufl. 1881, S. 1688. Auch einen erneuten Versuch der Reichsregierung aus dem Jahr 1910, den Zugang zur Revision durch das Difformitätsprinzip einzuschränken, lehnte der Reichstag letztlich ab; hierzu E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 142. 160 Siehe die Ausführungen des Abgeordneten Struckmann in der Begründung des Entwurfs einer ZPO, in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 1881, S. 722 f. 161 So der Geheime Justizrat Kurlbaum in der Begründung des Entwurfs einer ZPO, in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 1881, S. 730.
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rechtigter Gedanke, daß der Einzelne für die Entscheidung seiner Streitsache nur ein gewisses Maß von Geld- und Menschenkraft seitens des Staates in Anspruch nehmen könne, welches mit dem Werthe des Prozeßgegenstandes nicht außer allem Verhältnis stehen dürfe“.162 Der Gedanke der Streitwertrevision wurde somit aus damaliger Sicht als weit gehend neutrales Kriterium aufgefasst, das die Grundstruktur der Revision als ein privates Rechtsmittel mit dem Bedürfnis nach einer Entlastung des Reichsgerichts bestmöglich in Einklang bringen sollte. Eine mögliche Begrenzung der höchstrichterlichen Tätigkeit durch den Gedanken eines besonderen öffentlichen Interesses an dem jeweiligen Prozessverfahren lehnte der Gesetzgeber somit im Ergebnis ab.163 Im Geist der immer noch wirkungsmächtigen Pandektenwissenschaft sollte das Reichsgericht vielmehr keine umfassende rechtsgestaltende Aufgabe wahrnehmen, sondern einen „denkenden Gehorsam“ gegenüber der Gesetzgebung und Wissenschaft zeigen.164 Folgerichtig wurden die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft an dem Ausgang bestimmter Rechtsstreitigkeiten aus dem Raum der Rechtspflege nahezu ausgeblendet.165 Vor allem blieben dem Reichsgericht im Rahmen der reinen Streitwertrevision alle diejenigen Rechtsmaterien entzogen, die trotz geringer Streitwerte in ihrer kumulativen Breite durchaus von gesellschaftlicher Wichtigkeit waren.166 Verschärft wurde dieser Gesichtspunkt durch die kontinuierliche Steigerung der Revisionssumme auf 4000,– RM bis zum Jahr 1910, die der zunehmenden Überlastung des Reichsgerichts geschuldet war.167 Allerdings besaß das damit gewählte Modell durchaus eine innere Logik, weil aufgrund des klassisch-liberalen, am Gedanken der formalen Privatautonomie ausgerichteten Rechtsverständnisses noch gar kein Grund zu der Annahme bestand, es gäbe besondere Typen regelungsbedürftiger Sachverhalte, die durch das Streitwertkriterium systematisch ausgefiltert werden könnten. Die geringe Beachtung, die Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung in der institutionellen Struktur des Reichsgerichts im 19. Jahrhundert fanden, spiegelte sich schließlich auch darin wider, dass solche Rechtsfragen, selbst wenn sie den Filter der Streitwertrevision passiert hatten, nicht den Vereinigten Zivilsenaten des Reichsgerichts vorgelegt werden konnten, sondern stets von den jeweiligen Einzelsenaten entschieden wurden. Eine Vorlagepflicht war in der ursprüng162
Abgeordneter von Puttkammer in der Begründung des Entwurfs einer ZPO, in: Hahn/Stegemann (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Civilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 1881, S. 731. 163 Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 24 f. 164 Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (189 f.). 165 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 440. 166 Vgl. Schafft, Selektion von Rechtsmittelverfahren durch gesetzliche Zugangsbeschränkungen, 2005, S. 177 f. 167 Huch, Die Versuche zur Entlastung des Reichsgerichts, Diss. Tübingen 1938, S. 17 ff.; Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 3. Aufl. 2005, § 542 Rdnr. 20.
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lichen Fassung des § 137 GVG vielmehr nur vorgesehen, wenn ein Senat von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen wollte.168 Der Gesetzgeber ging dabei davon aus, dass sich das System der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Entscheidung eines Querschnitts an Revisionsfällen unter besonderer Berücksichtigung divergierender Gesetzesanwendungen hinreichend selbst regulieren werde.169 Diese wiederum einem formalen und kodifikationszentrierten Bild des Zivilrechts geschuldete Sichtweise änderte sich erst im Jahr 1935 mit der Einführung der so genannten Grundsatzvorlage.170 Zusammenfassend betrachtet, spielten somit bei der Ausgestaltung des Revisionsrechts in der Zivilprozessordnung von 1877 sowohl der Gesichtspunkt einer abschließenden Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits als auch das öffentliche Interesse an einer obersten Instanz, die im Dienste der Rechtsgemeinschaft das Zivilrecht konkretisiert und vereinheitlicht, eine Rolle. Die öffentliche Dimension bildete den Rechtfertigungsgrund dafür, dass überhaupt eine Revisionsebene errichtet wurde. Bei der konkreten Ausgestaltung der Revision in Zivilsachen stand hingegen die Idee einer abschließenden Streitentscheidung im Mittelpunkt. Vor allem verzichtete man darauf, einen steuernden Einfluss auf die Art der zu entscheidenden Rechtsfragen zu nehmen oder Verfahren mit grundsätzlicher Bedeutung für die Rechtsgemeinschaft zu privilegieren. Der Zustrom an Fallmaterial wurde vielmehr ganz in die Hände der Rechtsmittelinitiative der Prozessparteien gelegt und lediglich durch das rein formale Kriterium der Streitwerthürde begrenzt. In diesem Sinne lag der Schwerpunkt auf einer abschließenden Streitentscheidung, die mittelbar zu einer Konkretisierung und Vereinheitlichung des Zivilrechts führen sollte.
VI. Die Freirechtsschule In besonderer Intensität beschäftigte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die so genannte Freirechtsschule mit der konstitutiven Seite der rechtsprechenden Tätigkeit. Sie wandte sich dabei gegen die wirkungsmächtige positivistische Sicht, dass das neu geschaffene Bürgerliche Gesetzbuch für alle auftretenden Rechtsprobleme eine zwingende Lösungsvorgabe enthalte. Vor allem die mit der Kodifikation erfolgte Isolierung des geltenden Rechts von der genetischen Entwicklung der Rechtsinstitute, mithin der Übergang von einem wissenschaftlichen Positivismus der historischen Rechtsschule zu einem rein begrifflichen Gesetzespositivismus, bot der Freirechtsschule dabei reichen Nährboden für 168 Siehe Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 24 ff. 169 Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 55 f.; Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (190). 170 Hierzu unten § 3 A IX 2, S. 79 ff.
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ihre Kritik.171 Dem reinen Subsumtionsmodell der richterlichen Tätigkeit setzte sie die radikale These entgegen, dass nicht das Gesetz und seine Anwendung, sondern nur die freie, wertende Betrachtung des jeweils zu entscheidenden Einzelfalls und die zweckmäßige Auflösung des konkreten Interessenkonflikts Grundlage des richterlichen Urteils sein dürften.172 Dies wurde mit dem Begriff des „freien Rechts“ als Gegensatz zu einem staatlichen Gesetzesrecht umschrieben. Daraus folgte aber zugleich eine strenge Verpflichtung der Rechtsprechung auf einen engen Bezug zu dem jeweils anhängigen Streitverfahren und dessen Lösung, während der Gesichtspunkt der Herausbildung normativer Vorgaben für zukünftige Fälle aus Sicht der Freirechtsschule auch auf der judikativen Ebene keinen maßgeblichen Stellenwert einnahm. Dementsprechend galt für Isay als einen der Hauptvertreter dieser Schule der Satz: „Das Recht wird nicht durch die Gesamtheit der Normen, sondern durch die Gesamtheit der Entscheidungen dargestellt.“173
Die Freirechtsschule sah diese Entscheidungen somit nicht als normative Schablonen für vergleichbare zukünftige Fälle an, sondern als „nachträgliche Regelung des individuellen (historischen) Falles“.174 Eine normbildende Funktion richterlicher Urteile kam dabei für Isay aus denselben Gründen nicht in Betracht, aus denen er auch eine zwingende Wirkung gesetzgeberischer Vorgaben für die Lösung konkreter Rechtsstreite ausschloss, nämlich aufgrund der begrenzten Fähigkeit, angemessene Problemlösungen für zukünftige individuelle Fälle antizipieren zu können. Dies verdeutlichen die folgenden Ausführungen exemplarisch für den Bereich des Wirtschaftsrechts: „Je komplizierter das Wirtschaftsleben wird, je differenzierter seine Tätigkeiten, je feiner seine Verästelungen und je kunstvoller seine Verflechtungen – um so schwieriger wird es, deren Kenntnis zu erwerben, um so schwieriger, die Auswirkungen einer Regelung auf die benachbarten oder durch irgend eine Verflechtung verbundenen Wirtschaftsgebiete zu übersehen, um so unsicherer erscheint das Werturteil über die in Betracht kommenden Interessen und ihre Abwägung gegeneinander – um so schwieriger also die Regelung zu finden, deren Nützlichkeitswert evident einsichtig ist.“175
Somit bestand die Aufgabe der Rechtsprechung für die Freirechtsschule letztlich in einer angemessenen Streitentscheidung, wobei die Frage der Angemessenheit dem Einflussbereich des Gesetzgebers entzogen und ausschließlich dem 171 Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 7 ff.; siehe auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 579 f. und dens., Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 3. 172 Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 18 ff.; Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1909, S. 27 ff.; Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 10 ff. 173 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 29. 174 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 16. 175 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 123.
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Rechtsgefühl und den Zweckmäßigkeitserwägungen des Richters anheimgestellt wurde. Während mit dem Rechtsgefühl dabei eine Quelle „intuitiver Rechtsschöpfung“ gemeint war, die mit der Person des Entscheidungsträgers auf das Engste verknüpft ist,176 blieb im Rahmen der gebotenen Zweckmäßigkeitserwägungen auch ein verstandesmäßiges Moment der Urteilsfindung erhalten.177 Jedoch fungierte das rationale Moment der Entscheidungsfindung für die Freirechtsschule nur als Kontrollmechanismus für ein spontanes Urteil.178 Konkrete Konsequenzen für die Verfassung des Zivilprozesses zog aus diesen Grundannahmen insbesondere Fuchs. Von ihm stammt ein leidenschaftliches und zum Teil sicher als radikal zu bezeichnendes Plädoyer dafür, die Gerichte sowohl in personaler als auch verfahrensmäßiger Hinsicht weniger auf eine gelehrte Regelfindung als vielmehr auf eine enge und sachnahe Beziehung zu den entscheidungsbedürftigen Rechtsstreiten auszurichten.179 Ein Vorbild war ihm hierbei die englische Rechtsprechung, als deren Charakteristika er einen hohen Fallbezug und die Beteiligung gestandener, lebensnaher Richterpersönlichkeiten ansah: „Der englische Rechtsspruch verhält sich zum deutschen wie ein von einem feinen Maßschneider nach allen Eigenschaften der individuellen Körperform angemessenen Schneiderkleid zu der im Laden fertig gekauften sog. Konfektion. Daß auch am Konfektionskleid meist nach der Körperform da und dort etwas geändert, erweitert oder verengt wird, macht es nicht zum Schneiderkleid. Zu diesem bedarf es der Gabe der Gestaltung. Die Konfektion fertigt die Fabrik oder der bessere Arbeiter im Vorrat, das Schneiderkleid formt der Kleiderkünstler immer nur für diese besondre Statur. Es liegt in ihm Persönliches.“180
Unabhängig von dem Problem, dass diese Ausführungen Fuchs’ nicht auf die Rolle der Präjudizienbindung im englischen Recht eingehen, ist das Credo individueller Fallbetrachtung als eine unzulässige Ausweitung richterlicher Macht kritisiert worden, die die Gerichte zu einem „social engineering“ ermächtige.181 Diese Einschätzung erscheint jedoch nur zum Teil berechtigt. Denn wie dargelegt, vollzieht sich die Rechtsfindung nach Auffassung der Freirechtsschule nicht im Wege einer technokratischen Zukunftsplanung, sondern durch eine großenteils affektive Fallbeurteilung. Das erhebliche Maß an Freiheit, das dem Richter gewährt werden sollte, war somit eine Freiheit zur individualisierten Streitentscheidung und gerade nicht zur abstrakten Gesellschaftsgestaltung. In 176 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 85 ff. und Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 21 f., 29 ff. 177 Siehe Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 121 ff. 178 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 94 f., 161 ff. und ähnlich Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 1. 179 Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1909, S. 149 ff. 180 Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1909, S. 188. 181 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 581.
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diesem Sinne beruhte die richterliche Macht aus Sicht der Freirechtsschule immer auf einer personalen Beziehung des Richters zu dem unmittelbaren Entscheidungsgegenstand, so dass sie nur den jeweiligen Streitfall betraf und keinen normbildenden Charakter aufwies. Diese begrenzte Bedeutung der Rechtsprechung für die zukünftige Entwicklung des Rechts fand sich bereits in Ehrlichs Vorrede zu seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ klar zusammengefasst: „Es wird oft behauptet, ein Buch müsse so sein, daß man seinen Sinn in einem einzigen Satze zusammenfassen könne. Wenn die vorliegende Schrift einer solchen Probe unterworfen werden sollte, so würde der Satz etwa lauten: der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.“182
Eine weit gehende Befugnis der Rechtsprechung, prospektive Festlegungen zu treffen, kam für die Vertreter der Freirechtsschule daher nicht in Betracht. So betonte Isay, dass eine Normbildung des Richters mit Wirkung für andere Fälle, mögen sie auch dem anhängigen Rechtsstreit ähnlich sein, deshalb gefährlich sei, weil nur ein aktuelles Erleben das zur Entscheidungsfindung erforderliche Rechtsgefühl in voller Stärke auslöse.183 Ähnlich sprach Kantorowicz von „der gefühlsmäßigen Deutlichkeit […] angesichts des einzelnen Rechtsfalles“.184 Somit „ginge es über die Aufgaben des Richters hinaus, wenn er eine allgemeinere Norm formulieren wollte, also eine solche, die für die Begründung des entschiedenen Falles nicht erforderlich ist und welche Fälle umfassen würde, deren Entscheidung noch gar nicht in Frage stand. […] Das Gericht ist in der für die Abfassung der Entscheidungsgründe zur Verfügung stehenden Zeit nicht in der Lage, zu übersehen, ob eine allgemein gefaßte Norm wirklich für alle darunter fallenden Tatbestände die gerechte und zweckmäßige Regelung gibt.“185 Für den Gesetzgeber stellte sich dieses Problem aus Sicht der Freirechtsschule hingegen in weit geringerer Schärfe, da die Legitimation des Gesetzes für sie nicht auf der Angemessenheit der abstrakten Regelung für alle Anwendungsfälle als vielmehr auf der Autorität des Souveräns beruhte. Mit den Worten Ehrlichs: „Das Juristenrecht schöpft seine Kraft aus der Tatsache, dass es auf einer richtigen Beurteilung der Verhältnisse beruht, das Gesetz aus der staatlichen Herrschaft.“186
Eine Bestätigung erfährt die hier zugrunde gelegte Sichtweise, nach der die Freirechtsschule weniger die Bildung allgemeiner Normen als die angemessene 182
Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, hrsg. von Rehbinder, 4. Aufl. 1989,
S. 12. 183 184 185 186
Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 204 f. Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 15. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 244. Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, S. 15.
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Lösung von Einzelfällen als richterliche Aufgabe ansah, schließlich in den Erwägungen Goldschmidts über die Freirechtsschule. Dieser unternahm in seinem grundlegenden Werk „Der Prozess als Rechtslage“ den Versuch, als einzigen Zweck des (Zivil-)Prozesses die Herbeiführung einer rechtskräftigen Entscheidung in der anhängigen Streitsache zu etablieren.187 Mit dieser Auffassung sah Goldschmidt es insbesondere als unvereinbar an, die Gestaltung der materiellen Rechtslage188 oder gar die Schaffung von Richterrecht189 als mögliche Prozessziele anzuerkennen. Dabei hielt er die These von der Rechtskraft als einzigem Prozessziel mit dem Grundanliegen der Freirechtsschule für durchaus vereinbar. Er nahm sogar an, dass „die praktischen Ziele der Freirechtsbewegung“ eine theoretische Grundlage nur in seinem Prozessverständnis finden könnten.190 Denn, so Goldschmidt, das Ziel einer angemessenen Lösung konkreter Streitfälle sei mit dem Mittel des Zivilprozesses nur dann zu erreichen, wenn dieser weder auf eine mechanische Anwendung des Gesetzesrechts gerichtet sei noch auf eine Umgestaltung oder Fortentwicklung des materiellen Rechts mit Blick über den konkreten Rechtsstreit hinaus. Wie in der Freirechtsbewegung verband sich daher auch bei Goldschmidt der Gedanke einer relativ freien, nicht streng gesetzesgebundenen Stellung des Richters im Prozess einerseits mit einer strengen Konzentration des Prozessziels auf die Lösung des jeweils anhängigen Konflikts andererseits.191 Das Interesse der Rechtsgemeinschaft an richterlicher Normbildung blieb somit auch hier ausgeblendet. Der freirechtliche Gedanke einer radikalen Einzelfallbezogenheit aller richterlichen Urteilsfindung, nach der jeder Fall sein eigenes Gesetz als „sua lex“ in sich trägt, vermochte sich in der darauf folgenden Diskussion allerdings nicht nachhaltig durchzusetzen. Ihm trat dabei insbesondere Heck im Rahmen seiner Interessenjurisprudenz entgegen. Anders als die Freirechtsschule befürwortete er keine absolute Einzelfallbezogenheit der richterlichen Entscheidung, sondern deren Einbindung in allgemeingültige Interessenbewertungen, die in erster Linie der Gesetzgeber vorzunehmen habe.192 Der Richter schulde dem Gesetz zwar keinen „blinden“, wohl aber einen „denkenden Gehorsam“. Dies sollte nicht nur für den Bereich der Gesetzesauslegung, sondern auch für die Rechtsfortbildung gelten, bei der zu fragen sei, wie der Gesetzgeber ähnliche Interessenkonflikte in anderen Fällen entschieden habe.193 Wenngleich Heck somit auf eine stärkere Verallgemeinerbarkeit der Rechtsschöpfung durch die Gerichte Wert legte, 187
Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, 1925, S. 151 ff. Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, 1925, S. 164 ff. 189 Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, 1925, S. 151 ff. 190 Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, 1925, S. 163 f. 191 Gaul, Der Zweck des Zivilprozesses, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 2001, S. 68 (69). 192 Heck, AcP 112 (1914), 1 (13 ff.). 193 Siehe Heck, Interessenjurisprudenz, 1933, S. 20. 188
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verband er hiermit keineswegs die Forderung, dass die obersten Gerichte zur Schließung von Regelungslücken und zur Herstellung von Rechtssicherheit auch in einer abstrakten Weise Rechtsfragen entscheiden sollten, deren Beantwortung in der Entscheidung des jeweiligen Einzelfalls keine hinreichende Stütze findet. Heck vertrat insoweit vielmehr eine restriktive Linie und suchte für die Konstellationen, in denen der Gesetzgeber mit dem Wandel der Zeit nicht schritthält, nach alternativen Lösungsmöglichkeiten. So sollte das normative Vakuum, das durch eine mögliche Untätigkeit des Gesetzgebers entsteht, nach Heck vorrangig durch exekutivische Rechtsverordnungen und nicht durch gesetzesähnliche Judikate beseitigt werden.194 Auch er stand somit – trotz aller Kritik an dem pointillistischen Ansatz der Freirechtsschule – einer fallenthobenen Normbildung durch die Rechtsprechung skeptisch gegenüber.
VII. Die Urteilspraxis des Reichsgerichts Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Rechtswissenschaft vorherrschende Sichtweise, die eine richterliche Normbildung für zukünftige Fälle entweder gänzlich ablehnte oder doch zumindest eng an die Erfordernisse des jeweils zu entscheidenden Rechtsstreits band, spiegelte sich dabei auch in der Urteilspraxis wider, die das Reichsgericht in der ersten Phase nach seiner Entstehung pflegte und die als eine eher zurückhaltende, gesetzestreue Linie der Rechtsanwendung charakterisiert wird.195 Gerade mit der Vorbereitung und der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs rückte die Fallentscheidung und nicht die Normschöpfung in den Mittelpunkt des höchstrichterlichen Zivilprozesses.196 Einen symbolischen Ausdruck fand dieses Selbstverständnis des Reichsgerichts in der Praxis, den Entscheidungen keine abstrakten Leitsätze mit einem normgleichen Regelungsgehalt voranzustellen, sondern lediglich eine Beschreibung der behandelten Rechtsprobleme, die häufig in Form eines Fragesatzes gehalten wurde.197 Die Lösung dieser Rechtsprobleme ergab sich hingegen immer erst aus einer Lektüre des Tatbestands und der Entscheidungsgründe. Dieses verhältnismäßig ruhige Fahrwasser wurde jedoch aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die in Gestalt des Ersten Weltkriegs, der Republikgründung und der wirtschaftlichen Depression Deutschland na194
Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 38 ff. Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 33 f. 196 Siehe etwa Dernburg, Lehrbuch des preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, Band 1, 2. Aufl. 1879, S. 41. 197 Dazu R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (15 f.) in Fn. 25 und Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 182 ff. 195
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hezu wellenförmig überzogen, bald empfindlich gestört. Das hiermit verbundene Ende einer juristischen „Schönwetterzeit“ verlangte auch von der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Neuorientierung und bewirkte bald ein beherzteres Eingreifen im normbildenden Sinne.198 So konstatierte der ehemalige Senatspräsident Lobe anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Reichsgerichts, dass die Rechtsprechung des Gerichts „in ihrer Entwicklung stetig in der Richtung fortschreitet, die guten Sitten und Treu und Glauben zum Maßstab der Fallentscheidung zu machen“.199 Gemeint war damit nicht nur eine auf materiale Gerechtigkeit ausgerichtete Interessenabwägung im Einzelfall, sondern auch die zunehmende Berücksichtigung des „Gemeinschaftsgedankens“ in der Privatrechtsprechung, der insbesondere im Zuge der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs die Scheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht durchlässiger gemacht hatte. 200 Hiermit knüpfte Lobe in zustimmender Weise an den Gierkeschen Gedanken der sozialen Aufgabe des Privatrechts an. 201 Das Hauptbeispiel für eine normbildende Rechtsgestaltung durch das Reichsgericht, die weit über eine Lösung der jeweils anhängigen Fälle hinausging, stellt die Aufwertungsrechtsprechung im Zuge der dramatischen Inflation der 1920er Jahre dar.202 Diese Rechtsprechung wird als ein maßgeblicher Katalysator der „sozialen Ausgleichsfunktion“ höchstrichterlicher Rechtsprechung203 bzw. als eine „historische Wurzel“ der „Hinwendung zur Bejahung einer politischen Funktion der Rechtsprechung“204 angesehen. Rüthers hat sie sogar „als das dramatische Ereignis der jüngeren deutschen Rechtsprechungsgeschichte“ bezeichnet.205 Obwohl die Inflation in Deutschland in den 1920er Jahren ein immer größeres Ausmaß annahm und die Werthaltigkeit von Geldforderungen damit wirtschaftlich immer stärker erodierte, sah sich der Gesetzgeber lange Zeit nicht zu einem korrigierenden Eingriff veranlasst. Politisch hing dies vor allem damit zusammen, dass die Geldentwertung als probates Mittel erschien, um die Kriegsschuldenlast sowohl des Deutschen Reichs als auch der deutschen Industrie faktisch zu nivellieren. 206 Das Reichsgericht hatte zwar für gegenseitige Verträge, zum Beispiel für Mietverträge, eine richterliche Anpassung der Geldzahlungspflicht bereits seit 1920 unter dem Gesichtspunkt der Veränderung der 198 Siehe R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 12 ff.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 4. 199 Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, S. 244. 200 Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht am 1. Oktober 1929, 1929, S. 240 f. 201 Siehe dazu oben § 3 A IV, S. 52 f. 202 Vgl. Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 62 ff. 203 F. Baur, JZ 1957, 193 (194). 204 Mayer-Maly, DRiZ 1971, 325 (326). 205 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 87. 206 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 65 m.w.N.
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Geschäftsgrundlage anerkannt, wenn anderenfalls aufgrund der Geldentwertung ein unerträgliches Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung drohte. 207 Für reine Schuldtilgungspflichten, insbesondere Darlehens- und Hypothekenrückzahlungspflichten, hatte es aber zunächst eine inflationsbedingte Vertragsanpassung abgelehnt, sondern an dem Grundsatz „Mark gleich Mark“ festgehalten.208 Gleichwohl war aus Sicht der obersten Richter hier ein korrigierendes Eingreifen des Gesetzgebers dringend geboten. Dieser Standpunkt wurde jedoch zunächst nicht in einem Urteil artikuliert, sondern der Richterverein am Reichsgericht arbeitete im Sommer 1923 einen eigenen Gesetzesentwurf zur Lösung des Aufwertungsproblems aus.209 Da dieser Entwurf nicht den erhofften Widerhall in der Legislative fand, sah sich das Reichsgericht zu seinem berühmten Aufwertungsurteil vom 28. November 1923 genötigt. 210 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Kläger zugunsten des Beklagten ein ihm gehörendes, in Deutsch-Südwestafrika gelegenes Grundstück im Jahr 1913 mit einer Hypothek in Höhe von 13.000,– Mark belastet. Zum Fälligkeitszeitpunkt am 1. April 1920 überwies der Kläger dem Beklagten den Betrag von 18.980,– Mark in Papiermark als Tilgung für den Grundbetrag der Hypothek und für rückständige Zinsen. Mit der Klage verlangte er die Herausgabe des Hypothekenbriefs und die Erteilung einer Löschungsbewilligung. Der Beklagte verweigerte dies mit dem Argument, dass Erfüllungsort für die Rückzahlung der Hypothekenschuld Deutsch-Südwestafrika gewesen sei. Daher habe der Kläger seine Schuld nicht mit – im Fälligkeitszeitpunkt bereits erheblich entwerteter – Papiermark tilgen können, da diese in Deutsch-Südwestafrika nicht als gesetzliches Zahlungsmittel zugelassen sei. Das Kammergericht als Berufungsgericht gab der Klage statt. Es nahm an, dass für den Erfüllungsort der Hypothekenschuld nicht die Belegenheit des belasteten Grundstücks maßgeblich sei, sondern dass sich dieser Erfüllungsort nach demjenigen der persönlichen Forderung richte. Da beide Parteien zur Zeit der Schuldbegründung ihren Wohnsitz in Deutschland hatten, sei eine Zahlung in Papiermark zum Nennwert damit jedenfalls erfüllungstauglich. 211 Die Frage einer Hypothekenaufwertung, die auch der Beklagte nicht explizit aufgeworfen habe, stelle sich nicht.212 Das Reichsgericht folgte dieser Auffassung nicht. Es löste sich hierbei jedoch von dem konkreten Rechtsstreit, um grundsätzlich zur Aufwertungsproblematik Stellung nehmen zu können. So ließ es offen, wo der Erfüllungsort gelegen 207
RGZ 99, 259 (260); 100, 129 (131 f.); hierzu G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009,
2/119. 208 209 210 211 212
RGZ 101, 141 (145). DJZ 1923, 441. RGZ 107, 78. Siehe RGZ 107, 78 (79). Siehe RGZ 107, 78 (86).
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habe. Wenn dies Deutsch-Südwestafrika gewesen sei, so treffe die Auffassung des Beklagten zu, dass der Kläger seine Schuld nicht in Papiermark habe begleichen können.213 Eine wirksame Erfüllung liege aber auch dann nicht vor, wenn der Erfüllungsort in Deutschland gelegen habe: „In diesem Falle, wenn also lediglich das im eigentlichen Reichsgebiete geltende Recht der Entscheidung zugrunde zu legen ist, war eine Stellungnahme zu der Frage geboten, ob nach diesem Rechte der Beklagte als Hypothekengläubiger mit Rücksicht auf die starke Entwertung des deutschen Papiergeldes eine Aufwertung seiner hypothekarisch gesicherten Forderung beanspruchen kann.“214
Der rechtliche Anknüpfungspunkt für die Aufwertung der Hypothekenforderung folgte nach der Auffassung des Reichsgerichts dabei aus § 242 BGB. Dass die Zulässigkeit einer richterlichen Aufwertung im Zahlungszeitpunkt des Jahres 1920 noch nicht anerkannt gewesen sei, spiele keine Rolle, da „unrichtige Rechtsauffassungen“ nun „nicht mehr ausschlaggebend“ sein könnten. 215 Das deutsche Währungsrecht stehe einer richterlichen Aufwertung nicht entgegen. Zwar lege es die Erfüllungstauglichkeit von Papiermark fest, doch habe der Gesetzgeber bei Schaffung der maßgeblichen Vorschriften im Jahr 1914 den drastischen Geldverfall nicht vorhergesehen, so dass der gesetzgeberische Wille keine Sperrwirkung für eine auf § 242 BGB gestützte Vertragsanpassung bilde. 216 Treu und Glauben würden danach verlangen, eine wirtschaftliche Bereicherung der Hypothekenschuldner zu Lasten der Hypothekengläubiger aufgrund der Inflation zu verhindern. Dasselbe Ergebnis folge schließlich auch aus einer ergänzenden Vertragsauslegung.217 Vor allem Rüthers hat an dem Urteil des Reichsgerichts kritisiert, dass es die Normbildung, zu der sich das Gericht aufgrund der drohenden Ungerechtigkeiten veranlasst sah, nicht auf das behutsamste Mittel beschränkt habe. 218 Denn ein hinreichender Schutz der Gläubiger sei auch im Wege einer vorübergehenden Erfüllungssperre für entwertete Hypothekenschulden erreichbar gewesen, die die Einzelheiten der gebotenen Aufwertung dem Gesetz- oder Verordnungsgeber überlassen hätte. Indem das Gericht aber der Rechtsprechung selbst eine „freie“ Aufwertung erlaubt habe, habe es in währungspolitische Interessen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite eingegriffen, die im Rahmen von Zivilprozessen nicht seriös beurteilt werden könnten. Diese Kritik Rüthers’ findet darin eine Bestätigung, dass das Reichsgericht in seinem Urteil vom 28. November 1923 die Einzelheiten der konkret vorzunehmenden Aufwertung 213
RGZ 107, 78 (81 ff.). RGZ 107, 78 (85). 215 RGZ 107, 78 (87). 216 RGZ 107, 78 (87 ff.); kritisch hierzu Heck, AcP 122 (1924), 203 (210 ff.); Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 70 ff. 217 RGZ 107, 78 (92). 218 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 77 ff. 214
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nicht weiter ausarbeitete und auch nicht sinnvoll ausarbeiten konnte, da es sich eben nicht um eine Zahlungsklage des Hypothekengläubigers handelte, sondern nur um eine Klage des Hypothekenschuldners auf Herausgabe des Hypothekenbriefs und die Erteilung der Löschungsbewilligung nach erfolgter Zahlung. Diese Ansprüche waren auf der Grundlage einer gebotenen Aufwertung nach § 242 BGB ohne Weiteres unbegründet. 219 Den Kulminationspunkt der Intervention des Reichsgerichts im Rahmen des Aufwertungsproblems bildete schließlich eine Stellungnahme des Richtervereins beim Reichsgericht aus dem Jahr 1924.220 Hierdurch trugen die Richter ihre Rechtsauffassung gleichsam „aus der Zitadelle des Sitzungszimmers in die offene Feldschlacht der politischen Auseinandersetzung“.221 Die Stellungnahme bezog sich auf damalige Planungen der Reichsregierung, die soeben geschilderte Aufwertungsrechtsprechung im Verordnungswege wieder rückgängig zu machen. 222 Dabei war das Verordnungsvorhaben insbesondere durch das anhaltende fiskalische Interesse an einer Nivellierung der Staatsschulden motiviert. In der Stellungnahme legten die Richter ohne jeden Bezug zu einem konkreten Rechtsstreit dar, dass sie es für ihre richterliche Pflicht hielten, eine solche gesetzliche Regelung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen: „Wenn der höchste Gerichtshof des Reiches nach sorgfältiger Erwägung des Für und Wider zu einer solchen Entscheidung gelangt ist, so glaubt er von der Reichsregierung erwarten zu dürfen, daß die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen wird.“
Dabei bringt der Begriff „Machtspruch“ zum Ausdruck, dass die Richter die geplante Verordnung einer schieren, nicht durch staatliche Souveränität legitimierten Gewaltausübung gleichsetzten. Sie selbst beriefen sich umgekehrt für ihre Position wie in der zuvor ergangenen Aufwertungsrechtsprechung auf das fundamentale Rechtsprinzip von Treu und Glauben. Nunmehr wurde dieser Grundsatz von Treu und Glauben jedoch eindeutig nicht mehr als fallbezogenes Korrektiv herangezogen, sondern die Richter nutzten ihn als rechtspolitisches Druckmittel, um eine ihnen unerwünschte Gesetzesregelung von vornherein zu verhindern: „Aber ein schwerer Stoß nicht nur für das Ansehen der Regierung, sondern für das Rechtsgefühl im Volke und für den Glauben an das Recht wäre es, wenn es dazu kommen müßte, daß jemand, der sich im Rechtsstreit auf die neue gesetzliche Vorschrift beriefe, damit von
219
Siehe RGZ 107, 78 (92 ff.). JW 1924, 90. 221 Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 46. 222 Vgl. das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923, RGBl. I, S. 1179. 220
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den Gerichten mit der Begründung abgewiesen würde, seine Berufung auf die Vorschrift verstoße gegen Treu und Glauben.“
Nach den Bekundungen des Reichsgerichtsrats Zeiler, aus dessen Feder die Stellungnahme stammt, war dieses Vorgehen weniger von der Motivation getrieben, die Rechte individueller Betroffener der Hyperinflation zu schützen, sondern einem sozial- bzw. wirtschaftspolitischen Mandat des Reichsgerichts geschuldet, das aus Sicht der Richter bestand: Ziel war der Schutz des Mittelstands als einer „Volksschicht, die die beste Gewähr für eine ruhige Weiterentwicklung bot und ohne deren Bestehen auch die Wirtschaft empfindlichen Erschütterungen unterliegen mußte“.223 Hiermit nahm das Reichsgericht eine Befugnis für sich in Anspruch, das Zivilrecht unabhängig von den gesetzgeberischen Vorgaben mit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Zeit in Einklang bringen zu dürfen. 224 Aus verfahrensmäßiger Sicht spiegelte sich dies gerade darin wider, dass die Richter nicht nur die tatsächlich durchgeführten Revisionsverfahren zu einer weit gehenden Neuordnung dieser Rechtsfrage nutzten, sondern einen abstrakten Aufruf an die Rechtsgemeinschaft richteten. Dieser hielt die Bürger geradezu an, eine etwaige gesetzliche Neuregelung gerichtlich anzufechten, also mit den Mitteln des Zivilprozesses eine allgemeine Rechtsgestaltung zu betreiben.225 Hierdurch wurde der Gesetzgeber zugleich unter Druck gesetzt, eine solche Neuregelung erst gar nicht vorzunehmen, sondern das Feld der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu überlassen. Somit reklamierte die Rechtsprechung in der Aufwertungsfrage die Kompetenz zu einer abschließenden Problemlösung für sich, die nicht unter dem Vorbehalt einer gesetzgeberischen Prärogative stehen sollte. In diesem Sinne deutete Goldschmidt den Richteraufruf als eine Inanspruchnahme des Widerstandsrechts durch das höchste Zivilgericht. 226 Ähnlich bezeichnete später Kübler227 die Stellungnahme des Richtervereins als „den Höhepunkt des offenen richterlichen Strebens nach Emanzipation vom Gesetz während der Weimarer Zeit“. Der Protest der Richter des Reichsgerichts verfehlte seinen Zweck insoweit nicht, als sich der Gesetzgeber ab dem Jahr 1924 zu einer sukzessiven Regelung der Aufwertungsfrage durchrang, die überwiegend auf festen Aufwertungsquoten beruhte, zum Teil aber auch die Gerichte zu einer freien Aufwertung ermächtigte. Das Reichsgericht folgte diesem neuen Regelungssystem und kehrte somit zu einer strengeren Gesetzestreue in der Aufwertungsproblematik zurück.228
223 224 225 226 227 228
Zeiler, Meine Mitarbeit, 1938, S. 159. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 89. Deutliche Kritik hieran in der Erwiderung des Reichsjustizministers, DRiZ 1924, 40 f. Goldschmidt, JW 1924, 245 ff. AcP 162 (1963), 104 (115). Näher Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 81 ff.
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VIII. Der Ruf nach einer verstärkten richterlichen Normbildung und seine Kritik Es kann kaum als Zufall gelten, dass mit einer zunehmend freieren Rechtsprechung des Reichsgerichts, die weit über eine Entscheidung des jeweiligen Falls hinaus ging, auch der Ruf nach flankierenden Reformen des Prozess- und Gerichtsverfassungsrechts laut wurde. So unterbreitete beispielsweise Karl Schulz bereits im Jahr 1913 in der viel beachteten Festschrift für Wach den Vorschlag, die Revision von dem damals geltenden reinen Streitwertsystem 229 auf ein Zulassungssystem umzustellen. Eine Zulassung sollte dabei nur in Betracht kommen, wenn das öffentliche Interesse an der „richtigen und einheitlichen Anwendung und Fortbildung des Rechts“ berührt sei. 230 Noch einen Schritt weiter ging die Forderung Hellwigs, nach französischem Vorbild eine Form der „Amtsrevision“ (Kassationsrekurs) einzuführen. 231 Diese sollte dem Missstand abhelfen, dass die Klärung wichtiger und offener Rechtsfragen durch das Reichsgericht von einer Initiative der jeweils beschwerten Prozesspartei abhing. Deshalb müsse es auch einer Behörde, vorzugsweise dem Justizministerium, möglich sein, die in einem instanzgerichtlichen Streitverfahren enthaltenen Rechtsfragen auf die Revisionsebene zu heben. In diesem Fall solle freilich die Rechtskraft des vorangehenden Urteils inter partes unberührt bleiben.232 Folglich ging es Hellwig um eine rein abstrakte, gesetzgebungsähnliche Form der Rechtsprechung. Ihre Kulmination fanden die Bestrebungen zu einer verstärkten normbildenden Funktion der Judikative schließlich in dem Gedanken so genannter allgemeinverbindlicher Richtersprüche. Die Befürworter dieser Auffassung traten, mit Unterschieden im Einzelnen, dafür ein, entweder dem Reichsgericht oder einem neu zu schaffenden obersten Gerichtshof die Befugnis zu übertragen, anlässlich konkreter Streitverfahren allgemeinverbindliche Präjudizien für Rechtsfragen zu erlassen, die in dem Verfahren thematisiert werden.233 Diese sollten in leitsatzartiger Form veröffentlicht werden und in allen späteren Streitverfahren mit gesetzesgleicher Kraft gelten. Der gemeinsame Grundtenor dieser Bestrebungen war die Annahme, dass die normale Revisionstätigkeit des Reichsgerichts nicht ausreiche, um das Recht in der notwendigen Breite und mit der notwendigen Klarheit und Autorität fortzuentwickeln. 234 229
Siehe oben § 3 A V 2, S. 60 ff. K. Schulz, Festschrift Wach, 1. Band, 1913, S. 383 ff. 231 Hellwig, JW 1910, 305 (306). 232 Hellwig, JW 1910, 305 (306). 233 Siehe Gerland, Probleme des englischen Rechtslebens, 1929, S. 21 ff.; Schiffer, Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des deutschen Rechtswesens nebst Begründung, 1928, S. 10 f.; Zeiler, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung, 1911. 234 Vgl. Zeiler, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung, 1911, S. 9 ff. 230
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Vor allem Stein 235 und Grünhut236 unterzogen diese Vorschläge jedoch einer grundlegenden Kritik, die in allgemeinverbindlichen Richtersprüchen eine Gefahr für die gesunde Fortentwicklung des Rechts sah. Dabei wies zunächst Stein auf die durchaus fruchtbringende Kraft hin, die Kontroversen zwischen einzelnen Gerichten für die Fortentwicklung des Rechts hätten und die im Wege des Instanzenzugs immer wieder einem neuen organischen Ausgleich zugeführt werden könnten. 237 In ganz ähnlicher Weise kritisierte später auch Grünhut den Ausschluss der Untergerichte von der Weiterbildung des Rechts, der mit verbindlichen Präjudizien verbunden sei.238 Gerade ein oberstes Gericht sei auf Anfechtungen durch „frondierende Untergerichte“ angewiesen, um die fortdauernde Berechtigung der eigenen Judikate wirkungsvoll überprüfen zu können: „Man erweist dem Reichsgericht einen schlechten Dienst, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, dissentierende Stimmen der Untergerichte durch den Bannstrahl allgemeinverbindlicher Präjudizien zum Schweigen zu bringen.“239
Dabei illustrierte Grünhut die Gefahr einer Versteinerung höchstrichterlicher Präjudizien maßgeblich an der Aufwertungsrechtsprechung des Reichsgerichts und gab zu bedenken, welche negativen Konsequenzen eine gesetzesgleiche Kraft der frühen Judikate zu diesem Problemkreis gehabt hätte, die eine Anpassung des Schuldinhalts an die veränderten inflationären Umstände noch rigoros abgelehnt hatten. 240 Darüber hinaus würden leitsatzartige, verbindliche Präjudizien zu einer Ablösung der neugeschaffenen Regel von dem jeweiligen Rechtsstreit führen, aus dem sie hervorgegangen sei. Jedoch ermögliche erst die Kenntnis des konkreten Sachverhalts die Beurteilung, ob ein späterer Fall hinreichend ähnlich und das Präjudiz damit übertragbar sei. Grünhut betrachtete diesen Vergleich als eine „subtile juristische Kunst […], die in schärfstem Gegensatz zu der oberflächlichen Übernahme von einzelnen, aus einem unbekannten Zusammenhang gerissenen Sätzen höchstrichterlicher Urteilsbegründungen steht“.241 An diesem Argument wird deutlich, dass der Gedanke allgemeinver235
LZ 1921, Sp. 260 ff. Allgemeinverbindliche Richtersprüche, 1929, abgedruckt in: Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 143 ff. 237 Stein, LZ 1921, Sp. 260 f. 238 Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, 1929, abgedruckt in: Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 143 (145 ff.). 239 Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, 1929, abgedruckt in: Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 143 (148) unter Bezugnahme auf von Weber, Rechtseinheit und Rechtsprechung, 1929, S. 16 f. 240 Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, 1929, abgedruckt in: Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 143 (148). 241 Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, 1929, abgedruckt in: Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 143 (149); ähnlich auch Sauer, Festgabe Reichsgericht, Band I, 1929, S. 122 (140 f.). 236
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bindlicher Richtersprüche, obgleich zu seiner Begründung teilweise auf die Präjudizienbindung im common law verwiesen wurde, 242 von dem Prinzip des case law letztendlich gravierend abwich. Denn die vorgesehene Trennung von Rechtssatz und Fall hätte gerade den Zusammenhang zwischen dem Rechtlichen und dem Faktischen zerrissen, der die Techniken des distingushing und der extension by analogy erst ermöglicht243 und der somit im common law der Gefahr einer Versteinerung der Rechtsprechung durch die Präjudizienbindung entgegenwirkt. Die Kritik an allgemeinverbindlichen Richtersprüchen ruhte somit auf zwei Fundamenten: Erstens hänge die Qualität der höchstrichterlichen Rechtsprechung zwar nicht von einer permanenten Änderung, wohl aber von einer permanenten Änderbarkeit ab, die sich in der Möglichkeit stetiger Kritik widerspiegele. Zweitens bedürfe eine überzeugende höchstrichterliche Rechtsprechung immer eines hinreichenden Fallbezugs, der durch die gesetzesgleiche Regelbildung verloren gehe. Zumindest im Ergebnis setzten sich diese Bedenken in der Folge auch durch. Allgemeinverbindliche Richtersprüche wurden für den Bereich des Zivilrechts nicht eingeführt. Dabei griff der Gesetzgeber im Rahmen des Entwurfs einer Zivilprozessordnung aus dem Jahr 1931, der allerdings nicht verwirklicht wurde, die Diskussion über die Aufgabe und die Struktur des Revisionsverfahrens noch einmal auf. Hierbei zog er auch die Umgestaltung des Rechtsmittels zu einer Kassation französischer Prägung in Betracht, die nur dem öffentlichen Interesse an der Fortentwicklung und Vereinheitlichung des Rechts dient und in der Streitsache selbst nicht entscheidet.244 Trotz der möglichen Entlastungseffekte, die für das Reichsgericht mit einer solchen Änderung verbunden gewesen wären, entschied sich der Entwurf jedoch letztlich dezidiert für eine Beibehaltung des damaligen Systems, nach dem die Revision ein klassisches Rechtsmittel bildete, dessen Einlegung einzig von einer gewissen monetären Beschwer durch das angegriffene Urteil abhing und das daher nicht nur öffentlichen Zwecken, sondern auch dem Gedanken einer abschließenden Entscheidung des privaten Rechtsstreits verpflichtet war: „Bei uns hat die Entwicklung nun einmal eine ganz andere Richtung [als in Frankreich] genommen, und man wird sich der Erkenntnis nicht verschließen dürfen, daß bei uns das Ansehen des Reichsgerichts letzten Endes gerade darauf beruht, daß die Parteien das Bewußtsein haben, es würde nicht nur die abstrakte Frage der Rechtsverletzung unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses geprüft, sondern auch wohlmeinend untersucht, ob im vorliegenden Einzelfall die Partei ihr Recht gefunden hat oder nicht. Wollte man hieran etwas gesetzlich ändern, wollte man das Reichsgericht zwingen, sich des 242 Vor allem Gerland, Probleme des englischen Rechtslebens, 1929, S. 12 ff.; kritisch aber bereits Riezler, AcP 139 (1934), 161 (197). 243 Siehe oben § 2 A II, S. 27. 244 Entwurf einer Zivilprozeßordnung. Veröffentlicht durch das Reichsjustizministerium, 1931, S. 361 ff.
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Rechts der Parteien nicht mehr in dem bisherigen Umfange anzunehmen, so würde man Gefahr laufen, dem hohen Ansehen unseres höchsten Gerichts und dem Vertrauen, das es in der Bevölkerung genießt, Abbruch zu tun, und um einen solchen Preis wäre selbst eine wesentliche Beschleunigung des Revisionsverfahrens zu teuer erkauft.“245
Im Verlauf des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts setzte sich somit im Ergebnis noch die Auffassung durch, dass die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung kein Mittel der abstrakten Rechtsgestaltung darstellen solle, sondern ein fallbezogenes Rechtsmittelverfahren, das seine Rechtserkenntnisse aus einem privaten Rechtsstreit und seiner Entscheidung speisen müsse.
IX. Die Entwicklung zur Zeit des Nationalsozialismus 1. Das nationalsozialistische Prozessverständnis Ab dem Jahr 1933 fand anhand der nationalsozialistischen Rechtsideologie jedoch eine grundsätzliche Umwertung des Zwecks des Zivilprozesses und dabei insbesondere auch der Funktion der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung statt. Soweit das NS-Regime in seiner Rechtsfeindlichkeit überhaupt am Recht als einer relevanten Größe interessiert war, 246 zielte es darauf ab, die traditionelle Ausrichtung des Privatrechts auf individuelle Rechtspositionen zugunsten einer streng gemeinschaftsorientierten, völkischen Rechtsstruktur abzuändern. Diese totale Unterwerfung des Rechts des Einzelnen unter politische Zwecke formulierte der Reichsminister ohne Geschäftsbereich, Hans Frank, im Jahr 1934 wie folgt: „Im nationalsozialistischen Staate kann das Recht immer nur ein Mittel sein zur Erhaltung, Sicherstellung und Förderung der rassisch-völkischen Gemeinschaft. Die Einzelpersönlichkeit kann vom Recht nur noch unter dem Gesichtspunkt seines Wertes für die völkische Gemeinschaft gewertet werden.“247
Die Konsequenzen dieses Ansatzes für das materielle Privatrecht und die richterliche Methode der Rechtsfindung hat Rüthers eindringlich beschrieben. 248 Aber auch die Funktion des Zivilprozesses und das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung konnten durch das Rechtsverständnis des Nationalsozialismus nicht unberührt bleiben. Einen paradigmatischen Ausdruck fand dies beispielsweise in den Schriften de Boors. Nach dessen Auffassung existierte in der neuen Gesellschaftsordnung auch das bürgerliche Recht nicht mehr um der Einzelnen Willen, 245 Entwurf einer Zivilprozeßordnung. Veröffentlicht durch das Reichsjustizministerium, 1931, S. 364 f. 246 Hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 104 ff. 247 H. Frank, ZAkDR 1934, 8. 248 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, insbesondere S. 136–430.
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sondern nur als eine Lebensordnung des gesamten Volkes.249 Daher sei auch der Zivilprozess, anders als nach der klassischen liberalen Auffassung, nicht mehr die Privatsache der Parteien, sondern dazu bestimmt, „durch Behandlung des Einzelfalles der Volksgemeinschaft zu dienen“.250 Zwar sah de Boor ein Spannungsverhältnis zwischen der umfassenden Normierung des Prozessgeschehens und der Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse, die es durch Zivilprozesse zu bewältigen gelte. 251 Folgerichtig plädierte er auch für eine „Auflockerung“ des Prozessablaufs. Letztlich ging es ihm hierbei aber nicht darum, dem jeweiligen Streitverhältnis als einem historischen Geschehen möglichst gerecht zu werden. Denn wie de Boor selbst festhielt, schützt regelmäßig gerade eine feste Bindung des Gerichts die Rechtssuchenden, die das Verfahren auf dieser Grundlage autonom betreiben können. Hingegen könne der Staat den Prozess bei einer flexiblen Auflockerung „aus eigenem Bedürfnis heraus“ gestalten.252 Dieses Bedürfnis bestand im nationalsozialistischen Staat nicht im Schutz individueller Rechte, sondern im Wohl der Volksgemeinschaft: „[W]ir sehen den Prozeß als Dienst an der Volksgemeinschaft, als Rechtspflege im Sinne von: Pflege der Rechtsordnung. Wir sehen ihn als Rechtsschutzeinrichtung für den einzelnen nicht primär, sondern nur sekundär, soweit nämlich dieser Rechtsschutz für die Volksgemeinschaft nötig ist.“253
Somit kehrte die Prozesstheorie des Nationalsozialismus das liberale Prozessverständnis geradezu um. Während nach diesem das Parteiinteresse im Mittelpunkt stand und öffentliche Interessen nur derivativ und mittelbar befördert wurden, erlangte der Rechtsschutz der Parteien nun allenfalls noch als Reflex des Volkswohls Bedeutung. Folglich nahm de Boor einen dreifachen Zweck des Zivilverfahrens an: erstens die Einübung von Rechtsgehorsam im Volk durch das Vorbild staatlicher Rechtspflege, zweitens die Fortentwicklung der abstrakten Gesetzesordnung zu einer „konkreten Lebensordnung“ und drittens die fortwährende Anpassung und Erneuerung des Rechts. 254 Grundtenor dieser Sichtweise war damit, dass es der Zivilrechtsprechung weniger um die Beurteilung von Lebenssachverhalten an rechtlichen Maßstäben gehen müsse als vielmehr um die tätige Mitgestaltung der Lebensverhältnisse. Gerade im Hinblick auf die Zwecke der Konkretisierung und der Erneuerung des Rechts
249
de Boor, Zur Reform des Zivilprozesses, 1938, S. 3. de Boor, Gerichtsschutz und Rechtssystem, 1941, S. 57; ähnlich ders., Die Auflockerung des Zivilprozesses, 1939, S. 29 ff. 251 de Boor, Die Auflockerung des Zivilprozesses, 1939, S. 7 ff. 252 de Boor, Die Auflockerung des Zivilprozesses, 1939, S. 25. 253 de Boor, Die Auflockerung des Zivilprozesses, 1939, S. 35. 254 de Boor, Zur Reform des Zivilprozesses, 1938, S. 4 f.; ders., Die Auflockerung des Zivilprozesses, 1939, S. 35 ff. 250
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hob de Boor dabei die besondere Bedeutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts hervor.255 In ähnlicher, wenn auch moderaterer Weise vertrat Schwinge in seiner Schrift zu den „Grundlagen des Revisionsrechts“ aus dem Jahr 1935 die These, die Revision müsse im Sinne einer stärkeren Betonung der Interessen der Rechtsgemeinschaft interpretiert und umgebildet werden: „Für die Konstruktion des Rechtsmittels ist somit der Rechtseinheitszweck von maßgebender Bedeutung. Nach ihm bestimmen sich insbesondere Umfang und Grenzen der Revisibilität. Es ist wichtig, sich die Hauptaufgabe des Rechtsmittels dauernd vor Augen zu halten, weil übertriebene Rücksichtnahme auf die Interessen der einzelnen Partei zu Unzuträglichkeiten führt, unter deren Erfüllung jene Funktion notwendig leiden muß. Dehnt man die Grenzen der Nachprüfung übermäßig weit aus, so wird man zu einem höchsten Gerichtshof von so unförmlicher Gestalt geführt, daß innerhalb desselben die Einheit der Rechtsprechung nicht mehr erreichbar ist. Alle zur Wahrung der Rechtseinheit nicht unbedingt erforderlichen Geschäfte müssen eben dem Reichsgericht aufs strengste ferngehalten werden.“256
Allerdings lehnte es Schwinge ab, die Dispositionsbefugnis der Parteien bei der Einlegung der Revision zurückzudrängen oder sogar ganz auszuschalten, da dies einer „jahrhundertealten deutschen Tradition“ widersprechen würde. 257 So sprach er sich insbesondere gegen den Hellwigschen Vorschlag einer Amtsrevision aus, die ohne Auswirkungen auf die Rechtskraft des vorangehenden instanzgerichtlichen Urteils bleiben würde. 258 Schließlich befasste sich auch Wieacker im Jahr 1938 mit der Aufgabe der Zivilrechtsprechung in der damaligen Gesellschaftsordnung. 259 Nach seiner Auffassung fand die richterliche Rechtsanwendung ihre Grundlage in der Funktion einer Streitentscheidung, während die richterliche Rechtsschöpfung der „vorausschauende[n] Lebensgestaltung durch den Richter“ diene. 260 Hierbei sah er es als eine notwendige Folge der gesellschaftlichen Umwälzungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, insbesondere aber seit 1933 an, dass die Gerichte eine immer souveränere Rechtsschöpfung betreiben müssten. 261 Dabei solle „nicht die ‚freie‘, d.h. wirtschaftlich souveräne Privatautonomie der Beteiligten […], sondern die soziale Struktur der Lebensgemeinschaft“ maßgeblich sein. 262 Folglich habe der Gedanke der Streitentscheidung gegenüber der Lösung von Sachgestaltungsaufgaben zurückzustehen.263 Ein maßgebliches Hindernis für 255 256 257 258 259 260 261 262 263
de Boor, Zur Reform des Zivilprozesses, 1938, S. 5. Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 1935, S. 36 f. Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 1935, S. 202 ff. Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 1935, S. 209 ff. Wieacker, AöR 29 (1938), 1 ff. Wieacker, AöR 29 (1938), 1. Wieacker, AöR 29 (1938), 1 (2 f.). Wieacker, AöR 29 (1938), 1 (7). Wieacker, AöR 29 (1938), 1 (4).
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den Erfolg dieser Neuausrichtung erblickte Wieacker dabei in der Parteibezogenheit des Zivilverfahrens, insbesondere in der Dispositionsmaxime. Diese versage es den Richtern allzu häufig, anstelle einer bloß formalen Entscheidung auf den Grund der Regelungsprobleme vorzudringen und damit „einen in Unordnung geratenen Sachverhalt wieder gerade“ zu richten. 264 Als Ausweg schlug er eine Stärkung der richterlichen Gestaltungsmacht vor, die dem Zivilprozess ein regulierend-bürokratisches Gepräge geben sollte, wobei Wieacker die Grundstrukturen des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit als vorbildhaft für alle Bereiche erachtete. 265
2. Die Prozessreform, insbesondere die Grundsatzvorlage nach § 137 Abs. 1 GVG a.F. (§ 132 Abs. 4 GVG n.F.) Die skizzierte Neuausrichtung schlug sich auch in konkreten prozessualen Reformen nieder, die der nationalsozialistische Staat durchführte. Ein erster Anklang hierzu fand sich bereits in dem Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933.266 Die wesentlichen Änderungen durch diese Novelle, wie etwa die Wahrheitspflicht der Parteien und Maßnahmen gegen Prozessverschleppungen, gelten zwar nicht als typisch nationalsozialistisch und werden auch heute noch positiv beurteilt.267 Gleichwohl lag der Reform eine Zielrichtung zugrunde, die die liberale Seite des Zivilprozesses nicht nur in einen Ausgleich mit dem öffentlichen Interesse an der Rechtspflege brachte, sondern die das Parteiinteresse an einer Streitentscheidung gezielt den gesellschaftlichen Interessen unterordnete. Die Präambel der Novelle fasste dies wie folgt zusammen: „Die Parteien und ihre Vertreter müssen sich bewußt sein, daß die Rechtspflege nicht nur ihnen, sondern zugleich und vornehmlich der Rechtssicherheit des Volksganzen dient.“
Durch Gesetz vom 28. Juni 1935268 wurden dann die §§ 136 bis 138 GVG neu gefasst. Hierdurch erhielten die Senate des Reichsgerichts gemäß § 137 Abs. 1 GVG a.F. die Befugnis, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, die im Rahmen der bei ihnen anhängigen Verfahren auftrat, dem neu geschaffenen Großen Senat zur Entscheidung vorzulegen, wenn dies zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich war. Ob diese Regelung als typisch nationalsozialistisches Recht anzusehen ist, wird im Schrifttum uneinheitlich beurteilt. 269 Jedenfalls gilt sie auch heute 264
Wieacker, AöR 29 (1938), 1 (9). Wieacker, AöR 29 (1938), 1 (9 f.). 266 RGBl. I, S. 780. 267 Siehe Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 5 Rdnr. 8. 268 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935, RGBl. I, S. 844. 269 Dafür Bettermann, DVBl. 1956, 11 (12); Hillgruber, JZ 2008, 745 (751 f.) und wohl auch 265
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noch für den Bundesgerichtshof gemäß § 132 Abs. 4 GVG sachlich unverändert fort. 270 Die Vorschrift ließ sich jedoch zumindest insoweit mit dem damaligen Zeitgeist vereinbaren, als sie der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine „gewisse Bewegungsfreiheit zur Rechtsfortbildung“ verschaffte.271 Auf diesem Wege konnte das Reichsgericht das Recht mit „den zum Durchbruch strebenden neuen Grundanschauungen in Einklang […] halten“ oder – wie es Art. 2 des Gesetzes vom 28. Juni 1935 formulierte – „darauf [hinwirken], daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauungen Rechnung getragen wird“. Zugleich stellte das Reformgesetz das Reichsgericht ausdrücklich von jeglicher Bindung an seine bisherigen Entscheidungen frei, um alle Hemmnisse für die aktive Beteiligung der höchstrichterlichen Rechtsprechung an der Erneuerung zu beseitigen.272 Damit konnte ein Senat des Reichsgerichts von der Entscheidung eines anderen Senats, die vor dem 28. Juni 1935 ergangen war, noch abweichen, ohne eine Divergenzvorlage an den Großen Senat einreichen zu müssen. 273 Durch die Grundsatzvorlage im Sinne des § 137 Abs. 1 GVG a.F. wurde zugleich erstmals positivrechtlich eine Pflicht der Zivilgerichte zur Rechtsfortbildung anerkannt. Denn nur bei Zugrundelegung einer solchen Pflicht konnte eine unterlassene Rechtsfortbildung in den unteren Instanzen einen revisiblen Rechtsverstoß begründen und damit überhaupt erst den Anwendungsbereich der Revision und in der Folge auch denjenigen des § 137 Abs. 1 GVG a.F. eröffnen. 274 Ihrer Struktur nach war die Grundsatzvorlage im Sinne des § 137 Abs. 1 GVG a.F. geeignet, die Normbildung von dem konkreten Streitverfahren weit gehend zu entkoppeln. So stellte Freisler in einer Erläuterung der Neuregelung fest, „daß das Gesetz die Großen Senate berufen hat, […] eine der Gesetzgebungsarbeit außerordentlich ähnliche Arbeit zu leisten, und auch dieser Arbeit gesetzliche Autorität verliehen hat“. 275 Als Vorlagegegenstand wurde folgerichtig eine durch den vorlegenden Senat formulierte Rechtsfrage und nicht das jeweilige Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 31 ff.; dagegen Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 74 ff. und Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 35 mit Fn. 103; differenzierend jüngst Jungmann, JZ 2009, 380 (381). 270 Dezidiert kritisch hierzu und zur Art der Rezeption aber Hillgruber, JZ 2008, 745 (753 f.). 271 Vgl. Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 79. 272 Siehe Art. 2 des Gesetzes vom 28. Juni 1935, RGBl. I, S. 844. 273 Hillgruber, JZ 2008, 745 (750). 274 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 76. 275 Freisler, JbDtR 2 (1935), 520 (539).
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Revisionsverfahren in seiner Gesamtheit vorgesehen. Dementsprechend bestand auch kein Raum für eine mündliche Verhandlung vor dem Großen Senat. Diese Umstände förderten eine abstrakte Behandlung der jeweiligen Rechtsprobleme im Rahmen der Grundsatzvorlage. Zudem überlagerte die wechselseitige Rücksichtnahme bzw. Rivalität unter den Senaten den konkreten Fallbezug. 276 In den sieben Vorlageverfahren, die am Reichsgericht gemäß § 137 Abs. 1 GVG a.F. durchgeführt wurden, standen dabei unter anderem Rechtsfragen im Vordergrund, die nach dem damaligen Verständnis einer Neujustierung bedurften. 277 Dies galt zum Beispiel für die haftungsrechtliche Stellung des Bürgers gegenüber der Gemeinschaft oder Fragen der Sittenwidrigkeit von Rechtsgeschäften. So wurde im Wege des Vorlageverfahrens durch den Großen Zivilsenat entschieden, dass kein allgemeiner Aufopferungsanspruch für Impfschäden bestehe278 und welche Konsequenzen § 817 Satz 2 BGB bei der Rückabwicklung von wucherischen Darlehen zeitigt. 279 Am instruktivsten für den vorliegenden Zusammenhang erscheint jedoch eine Entscheidung vom 13. März 1936. Hier ging es um die Frage, ob sich die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB allein aus einem groben Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung ergeben kann oder ob es hierfür in Gesamtschau mit § 138 Abs. 2 BGB immer auch eines verwerflichen subjektiven Moments auf der Seite des Bevorteilten bedarf. 280 Entsprechend der Struktur des Vorlageverfahrens konnte der Große Senat sich dieser Rechtsfrage nicht anhand eines konkreten Revisionsfalls nähern. Er umschrieb die tatsächliche Situation, um deren rechtliche Beurteilung es ging, nur ganz abstrakt: „Die dem Großen Senat vorgelegte Frage setzt einen Fall voraus, wo bei einem durch Rechtsgeschäft begründeten Schuldverhältnis, als einem Vertrage, sich der eine Teil als Entgelt für seine Leistungen Vermögensvorteile hat versprechen lassen, deren Wert den Umständen nach in auffälligem Mißverhältnis zum Werte seiner Leistung steht; aus diesem Grunde macht der andere Teil Nichtigkeit des Geschäfts geltend.“281
Das Reichsgericht lehnte es aus Gründen einer systematischen Gesamtschau mit § 138 Abs. 2 BGB und der Verkehrssicherheit ab, die Sittenwidrigkeit allein aus einem groben Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung zu folgern, sondern entschied, dass immer auch ein verwerflicher Beweggrund oder Zweck
276 Vgl. Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 34 sowie Jungmann, JZ 2009, 380 (382). 277 Zu dem Druck, der auf die Richter des Reichsgerichts mit der „Befugnis“ aus § 137 Abs. 1 GVG a.F. ausgeübt wurde, siehe Hillgruber, JZ 2008, 745 (752). 278 RGZ 156, 305. 279 RGZ 161, 52. 280 RGZ 150, 1. 281 RGZ 150, 1 (2).
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auf Seiten des Bevorteilten hinzukommen müsse. 282 Zugleich nahm es aber an, dass der Bevorteilte eine schwächere Lage seines Vertragspartners nicht bewusst ausnutzen müsse, um dem Verdikt des § 138 Abs. 1 BGB zu unterfallen. Vielmehr reiche es aus, wenn er sich „in grobfahrlässiger Leichtfertigkeit der Erkenntnis verschließt, daß sich der andere nur aus den Nachteilen seiner Lage heraus auf ihn beschwerende Bedingungen einläßt“. 283 Zudem führte der Große Zivilsenat aus, das Maß des Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung könne im Einzelfall „so groß sein, daß es den Schluß auf bewußte oder doch grobfährlässige Ausnutzung irgendeines den Vertragsgegner hemmenden Tatumstandes zwingend nahelegt“.284 Die Ausführungen des Reichsgerichts ließen dabei zwar das Bemühen erkennen, die klassische vertragsrechtliche Dogmatik nicht gänzlich dem politischen Diktat der Zeit zu opfern und eine pauschal am „gesunden Volksempfinden“ orientierte Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB zu vermeiden. Aber das Fehlen eines konkreten Anschauungsfalls beeinträchtigte doch stark die Aussagekraft der aufgestellten Kriterien der Sittenwidrigkeit. Insbesondere vermochte die Entscheidung den Gesichtspunkt des „grobfahrlässigen Verschließens“ und die mögliche Indizfunktion des objektiven Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung für ein missbilligenswertes subjektives Moment aufgrund der abstrakten Natur des Vorlageverfahrens nicht mit Leben zu füllen.
X. Die Hinwendung zu einer verstärkten Normbildung unter der Geltung des Grundgesetzes Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 beeinflussen vor allem auch verfassungsrechtliche Grundentscheidungen die Rolle, die die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland wahrnimmt. Das Grundgesetz hat die Judikative im Sinne der Art. 20 Abs. 2 Satz 2, 92 ff. GG zu einer der Legislative und der Exekutive ebenbürtigen dritten Gewalt aufgewertet und ihr daher eine maßgebliche Rolle bei der Verwirklichung zentraler Rechtswerte zugewiesen. 285 Zu diesen Werten zählen in erster Linie das Rechtsstaatsprinzip, das Sozialstaatsprinzip und die Grundrechte. 286 Während der Schutz subjektiver Rechte als Ausfluss rechtsstaatlichen Gedankenguts das deutsche Prozessverständnis bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat, haben das Sozialstaatsprinzip und die damit 282 283 284 285 286
RGZ 150, 1 (4 f., 6 f.). RGZ 150, 1 (5). RGZ 150, 1 (6). Siehe E. Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 293. R. Stürner, Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 545 ff.
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verknüpfte Wandlung der Grundrechte zu sozialen Teilhaberechten dem Zivilprozess in der Bundesrepublik Deutschland eine durchaus neue Stoßrichtung gegeben. 287 Vor diesem Hintergrund hat Wieacker bereits frühzeitig konstatiert, der Bundesgerichtshof neige zu einer Fortbildung des Rechts aufgrund moralischer Wertungen und sozialer Bedürfnisse.288 Während andere dieses Phänomen maßgeblich mit einer sich beschleunigenden gesellschaftlichen Entwicklung289 und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust außerjuristischer Normen290 erklärt haben, führt Wieacker diese Tendenz auch maßgeblich auf die grundgesetzliche Wertentscheidung für den Sozialstaat selbst zurück. Im Zuge dieser Entwicklung löst sich das klassische Bild einer weit gehenden Autonomie des Zivilrechts gegenüber staatlichen Regelungs- und Lenkungszwecken endgültig zugunsten eines wertbezogen-regulierenden Privatrechtsverständnisses auf. In diesem Rahmen fungiert die Verfassung nicht nur als ein Kontrollmaßstab für die Zulässigkeit einfachrechtlicher Regelungen, sondern gibt ein umfassendes Leitbild für die Gestaltung des Privatrechts vor. Hierbei zeigt sich eine Parallele zwischen der Neuausrichtung im materiellen Recht und im Prozessrecht: Auf der materiellrechtlichen Ebene relativiert eine an der vorherrschenden Sozialethik ausgerichtete Wertungsjurisprudenz zunehmend die bürgerlich-liberalen Privatrechte.291 Rechtstechnisch geschieht dies vor allem über die Generalklauseln von „Treu und Glauben“ und der „guten Sitten“, die rechtsethische Grundwertungen in das Privatrecht transportieren. 292 Dabei geht es einerseits darum, im Einzelfall angemessene Ergebnisse zu erzielen, andererseits aber auch darum, durch privatrechtliche Steuerungsmittel gesamtgesellschaftlich erstrebenswerte Ziele zu befördern. Das System des Bürgerlichen Rechts erscheint vor diesem Hintergrund somit nicht mehr als eine formal-logische, sondern vielmehr als eine axiologisch-teleologische Ordnung. 293 Auf prozessualer Ebene wird dementsprechend der Zivilprozess verstärkt als ein Kanal der sozial geprägten Gestaltung des Zivilrechts in die Pflicht genommen. 294 287
Hierzu R. Stürner, Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 545 (547 ff.). Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 4 f.; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 530 f. 289 So der Ansatz des zweiten Präsidenten des Bundesgerichtshofs Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 68 f. 290 Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 7 f. 291 Siehe Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 51 ff.; zur Bedeutung der Wertordnung des Grundgesetzes für die Wertungsjurisprudenz auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 122. 292 Hierzu Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 42 ff., 61 ff., 95 ff. und 102 ff. 293 Eingehend Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 40 ff. 294 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 4 f.; ders., Privatrechtsgeschichte der 288
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Somit betrifft der Prozess neben den privaten Belangen der Beteiligten nun in mindestens ebenso großem Maße eine soziale Pflicht des Staates gegenüber der Rechtsgemeinschaft. Wie sich diese Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Einzelnen niedergeschlagen hat, soll im Folgenden skizziert werden.
1. Die Bedeutung der Grundrechte für die Zivilrechtsprechung Ein seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vieldiskutiertes Thema bildet die Frage, welche Bedeutung die Grundrechte für die richterliche Entscheidung von Zivilrechtsstreitigkeiten haben. Da auch der Privatrechtsgesetzgeber und die Zivilgerichte der staatlichen Gewalt im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG zuzurechnen sind, 295 kann es dabei nicht um das „Ob“, sondern nur um das „Wie“ der Grundrechtsbindung gehen. Hierzu sind in der Literatur verschiedene Ansätze entwickelt worden. So sieht beispielsweise eine Auffassung jede zivilgerichtliche Entscheidung als Eingriff in die Grundrechte der belasteten Partei an.296 Demgegenüber hat sich im Schrifttum mittlerweile eine differenzierende Auffassung zu der Wirkungsweise der Grundrechte im Privatrecht durchgesetzt. 297 Danach stellen richterliche Entscheidungen, die eine Partei mit einer Rechtspflicht auf gesetzlicher Grundlage belasten (z.B. mit einer deliktischen Schadensersatzpflicht), Eingriffe im Sinne der Grundrechtsdogmatik dar, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in Gestalt des Übermaßverbots genügen müssen. Hingegen soll bei einer Verurteilung auf vertraglicher Grundlage oder bei der Versagung eines begehrten Anspruchs kein staatlicher Eingriff in die Grundrechte der unterlegenen Partei in Rede stehen, sondern nur die Schutzfunktion der Grundrechte, so dass dann das so genannte Untermaßverbot als einschlägiger grundrechtlicher Prüfungsmaßstab fungiert. Die Rechtsprechungspraxis geht über diese Ansätze in der Literatur, die sich ganz auf die Eingriffs- und Schutzdimension zivilgerichtlicher Urteile konzentrieren, jedoch hinaus.298 Denn nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts entfalten die Grundrechte unabhängig von den Kategorien des Eingriffs-
Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 541 sowie – mit durchaus kritischen Konnotationen – R. Stürner, Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 545 (547 ff.). 295 BVerfGE 7, 198 (203, 206); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 23 ff.; Sachs/ Höfling, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 1 Rdnr. 105 ff. 296 Insbesondere J. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971. 297 Grundlegend Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 37 ff.; zustimmend und m.w.N. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, S. 69 ff.; Ruffert, JZ 2009, 389 f.; kritisch zum Erkenntniswert dieser Unterscheidung jedoch G. Hager, JuS 2006, 769 (770 f.). 298 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, S. 76 ff.
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verbots und des Schutzgebots eine so genannte Ausstrahlungswirkung, 299 die ihre Wurzel in der Verfassung als eine objektive Wertordnung findet und die in der Lüth-Entscheidung entwickelt wurde. In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte wie folgt erläutert: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. […] Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt […]. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden. […] Ein Streit zwischen Privaten über Rechte und Pflichten aus solchen grundrechtlich beeinflußten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibt materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit. Ausgelegt und angewendet wird bürgerliches Recht, wenn auch seine Auslegung dem öffentlichen Recht, der Verfassung, zu folgen hat.“300
Bedeutsam erscheint dabei, dass die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, die die Zivilgerichte bei der Urteilsfindung zu beachten haben, weniger auf subjektivrechtlichen Positionen klassischer Prägung beruht, sondern auf der objektivrechtlichen Dimension der Grundrechte. Zwar kann sich die unterlegene Partei auf eine Verkennung der Ausstrahlungswirkung berufen und erhält die Ausstrahlungslehre auf diesem Wege durchaus auch eine subjektivrechtliche Komponente.301 Doch liegt das Gravitationszentrum der Ausstrahlungslehre gleichwohl in einer objektiv verstandenen Wertordnung des Grundgesetzes. Sie trägt somit dazu bei, den Fokus der betreffenden Zivilverfahren von einem Urteil über die individuellen Rechtspositionen der Beteiligten wegzulenken und auf eine stärker gesellschaftsbezogene Normbildung unter Zuhilfenahme der objektiven Grundrechtswertungen zu verschieben.302 Nicht von ungefähr zieht das Bundesverfassungsgericht in seinen jüngeren Entscheidungen zur 299
Alexy, VVDStRL 61 (2002), 7 (9); Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 53 ff.; Hoffmann-Riem, AöR 128 (2003), 173 (190 f.); kritisch zu dieser „Grundrechtsdimension“ aber z.B. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 54 ff. und Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (230 ff.). 300 BVerfGE 7, 198 (204 ff.). 301 Vgl. BVerfGE 7, 198 (206 f.). Kritisch hierzu jedoch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 67: „Wie es zur Rückumwandlung der objektivrechtlichen Ausstrahlungswirkung in ein subjektives, verfassungsbeschwerdefähiges Grundrecht, zur Re-Subjektivierung des objektiven Grundrechtsgehalts kommt, bleibt im Dunkeln.“ 302 Siehe Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (214 ff.).
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Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht häufig das Sozialstaatsprinzip als entscheidungsleitenden Maßstab heran.303 Es geht daher aus dieser Perspektive weniger um die Durchsetzung subjektiver Abwehrrechte oder Schutzansprüche, als vielmehr um eine objektive „Optimierung kollidierender Grundrechtsbereiche“, 304 die mit dem durch Hesse305 geprägten Begriff einer praktischen Konkordanz umschrieben wird. In eine ähnliche Richtung weist die Einschätzung Böckenfördes, die grundrechtliche Überformung des Zivilrechts erfolge anhand einer „Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit“, die von dem Zivilrechtsgesetzgeber und der Zivilrechtsprechung fordere, bei der Ausgestaltung der Privatrechtsordnung das rechte Maß zu wahren.306 Als Ergebnis dieser Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das Privatrecht konstatiert beispielsweise Alexy307 eine „Expansion materieller Verfassungsgehalte“, was angesichts der Anknüpfung an die Wertordnung des Grundgesetzes nur folgerichtig erscheint. Dasselbe Phänomen wird durch Diederichsen, 308 allerdings mit ersichtlich weniger Sympathie, als „zersetzender Eingriff in die Zivilrechtsdogmatik“ umschrieben. Unabhängig von der normativen Bewertung dieses Phänomens kann festgehalten werden, dass durch die Einwirkungen der verfassungsrechtlichen Vorgaben das zivilrechtstypische Denken in subjektiven Rechten und Pflichten zugunsten einer Bewertung und Lösung gesamtgesellschaftlicher Interessenund Wertkonflikte eingeschränkt wird. 309 Das bürgerliche Recht wandelt sich hierdurch von einem System individueller Rechte zu einer „sozialen Lebensordnung“.310 Eine solche Ordnung ist auf die Regelung allgemeiner Wirkungszusammenhänge zwischen Bevölkerungsgruppen ausgerichtet. Auch in der prozessualen Umsetzung dieses Programms wird dementsprechend über die konkreten Rechtspositionen der jeweiligen Prozessparteien gleichsam eine abstraktere Folie gelegt. Ein anschauliches Beispiel für dieses Phänomen bildet die Entwicklung des Rechts der Angehörigenbürgschaften, die mit der maßgeblichen Leitentschei303
BVerfGE 81, 242 (255); 89, 214 (232). Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, S. 159 ff. 305 Die Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdnr. 72. 306 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, S. 159 (183 f.); zustimmend Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 101 f. 307 VVDStRL 61 (2002), 7 (8). 308 Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (247 f.). 309 Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 197 ff.; ders., JZ 2009, 389 (390 f.). 310 So R. Stürner, Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 545 (547) in Anknüpfung an L. Raiser, JZ 1961, 465 ff. 304
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dung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993 angestoßen wurde. 311 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die 21-jährige, geschäftlich unerfahrene und vermögenslose Tochter des Hauptschuldners für dessen Geschäftskredite eine Bürgschaft in Höhe von 100.000,– DM übernommen. Ihr pfändbares Einkommen hätte nicht einmal dazu ausgereicht, die Zinsen der verbürgten Hauptschuld zu bedienen. Bei der Übernahme der Bürgschaft hatte der Vertreter der Gläubigerbank das Risiko der Bürgschaftsübernahme nivelliert, indem er sinngemäß äußerte, die Bürgin „gehe dabei keine große Verpflichtung ein, er brauche das für seine Akten“. 312 Das Berufungsgericht hatte hierin mit guten Gründen ein Verschulden der Gläubigerbank bei den Vertragsverhandlungen erblickt und die Bürgin daher von ihrer Bürgschaftsverpflichtung freigestellt.313 Der Bundesgerichtshof sah dies in seiner Revisionsentscheidung jedoch anders. Er stützte sich hierbei auf den Gedanken einer streng formalen Vertragstreue im Bürgschaftsrecht, bei der den Gläubiger gegenüber dem Bürgen jenseits der Schwelle einer arglistigen Täuschung keine vorvertragliche Pflicht treffe, das Bürgschaftsrisiko korrekt darzustellen, um einem geschäftlich unerfahrenen Bürgen eine objektive Risikoeinschätzung zu ermöglichen.314 Dem im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde angerufenen Bundesverfassungsgericht war es nun nicht möglich, die rein zivilrechtliche Pflichtenlage zwischen den Parteien abweichend zu beurteilen. Denn eine Urteilsverfassungsbeschwerde gegen eine fachgerichtliche Entscheidung hat nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts zum Gegenstand,315 will sich das Bundesverfassungsgericht nicht dem vielbeschworenen Vorwurf aussetzen, durch eine Beurteilung des Rechtsstreits in seiner gesamten Breite als „Superrevisionsinstanz“316 bzw. als „oberstes Zivilgericht“317 zu agieren. Daher sah sich das Bundesverfassungsgericht gehalten, die Unwirksamkeit der Bürgschaft aus abstrakteren verfassungsrechtlichen Erwägungen abzuleiten. Es argumentierte nicht mit dem konkreten Ungleichgewicht zwischen der Bürgin und der Gläubigerbank aufgrund des Ablaufs des Vertragsschlusses, sondern stützte sich auf eine „strukturelle“ Störung der Vertragsparität, die bestehe, wenn der Gläubiger einer Hauptschuld von den vermögenslosen, geschäftlich unerfahrenen Angehörigen des Hauptschuldners eine Bürgschaft einfordere, und die somit zu einer generellen „Fremdbestimmung“ durch entsprechende Bürgschaftsverträge führe. 318 Mit diesem rechtlichen Maßstab wandte sich der Blick weg von der Beurteilung der kon311
BVerfGE 89, 214. Siehe die Darstellung des Sachverhalts in BGH, NJW 1989, 1605. 313 OLG Celle, WM 1988, 1436 (1437 f.). 314 BGH, NJW 1989, 1605 (1606). 315 Siehe BVerfGE 18, 85 (92); Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 33 f.; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (198). 316 Sonnenschein, NJW 1993, 161. 317 Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 ff. 318 BVerfGE 89, 214 (232 ff.). 312
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kreten Fallkonstellation und hin zu einer judiziellen Aufarbeitung abstrakter wirtschaftlicher Ungleichgewichtslagen in der Gesellschaft. Diese Perspektive wurde nachfolgend auch für die Judikatur des Bundesgerichtshofs maßgebend, die die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Wege der verfassungskonformen Auslegung umsetzte. Danach sind Bürgschaften durch vermögenslose Angehörige des Hauptschuldners aufgrund der Figur der strukturell gestörten Vertragsparität nahezu generell sittenwidrig im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB und damit unwirksam.319 Ein weiteres Beispiel für die Überformung privatrechtlicher Positionen durch abstrakte verfassungsrechtliche Kategorien bildet es, dass der Bundesgerichtshof dem Verhältnismäßigkeitsprinzip im Zivilrecht einen immer breiteren Anwendungsraum eröffnet.320 Hiermit bewegt er sich auf einer Linie, die wiederum die jüngere Judikatur des Bundesverfassungsgerichts vorgezeichnet hat.321 Die Entwicklung tendiert dabei dazu, die Ausübung privater Rechte nicht nur dem Vorbehalt des klassischen Schikaneverbots aus § 226 BGB zu unterstellen, sondern zu fordern, dass die Ausübung generell keine „unverhältnismäßigen“ oder „unzumutbaren“ Konsequenzen zeitigen darf. Besondere Relevanz hat dies im Sachenrecht erlangt, wo die Schneidigkeit absolut wirkender Ausschlussrechte durch den Verhältnismäßigkeitsgedanken relativiert wird. Ein Beispiel hierfür bildet die Figur des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses, nach der sich die wechselseitigen Eingriffsbefugnisse und Entschädigungspflichten in Nachbarrechtsverhältnissen immer weniger aus klaren, festumrissenen Regelungen ergeben, sondern aus nachbarlichen Rücksichtnahmepflichten, die anhand des Kriteriums der Zumutbarkeit konkretisiert werden.322 Schließlich hat der Bundesgerichtshof in einem neueren Urteil zu dem Ersatz von Abschleppkosten, die dem Besitzer eines Grundstücks aufgrund des unbefugten Parkens eines Drittens entstehen, die Auffassung vertreten, dass auch das Selbsthilferecht gegen eine Besitzstörung nur in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
319 Zusammenfassender Überblick über den Stand und die Entwicklung der Rechtsprechung bei Habersack, MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 765 Rdnr. 15 ff. 320 Zur Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Privatrecht eingehend H. Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, 2004. 321 Siehe etwa BVerfGE 72, 155 (173); 81, 242 (260 ff.); 84, 197 (202 f.); zurückhaltender zur Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Vorgabe für das Privatrecht noch BVerfGE 30, 173 (199 f.). 322 BGHZ 28, 225 (229 ff.); 48, 98 (100 f.); 58, 149 (158 ff.); 72, 289 (291); BGH, NJW 1990, 2555 (2556); BGHZ 157, 33 (40); BGH, NJW 2004, 3701 (3702); weiterführend Bälz, Zum Strukturwandel des Systems zivilrechtlicher Haftung, 1991, S. 38 ff.; Deneke, Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, 1987; Mühl, Festschrift Raiser, 1974, S. 159 ff.; kritisch zu dem weit gehenden Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsgedanken im Bereich des (Grundstücks-)Eigentums aber Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 25 Rdnr. 38; Maultzsch, Zivilrechtliche Aufopferungsansprüche und faktische Duldungszwänge, 2006, S. 81 ff. und Medicus, JZ 1986, 778 (784).
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eingreife.323 Dabei sieht er die Verhältnismäßigkeit bereits als ein allgemeines, aus § 242 BGB fließendes Prinzip der Ausübung privater Rechte an. Hiermit unterwirft die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung die klassischen privatrechtlichen Rechtspositionen einem zusätzlichen Filter, der zwar einerseits auf eine einzelfallbezogene Anwendung hinauszulaufen scheint. Andererseits bildet das Verhältnismäßigkeitsprinzip als solches aber wiederum einen abstrakten Standard, der eigentlich nicht für das privatrechtliche Verhältnis unter Bürgern, sondern für das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Staat und Bürger bei Eingriffen in Freiheitsrechte konzipiert ist.324 Im Privatrecht entfaltet das Verhältnismäßigkeitsprinzip hingegen vornehmlich die Wirkung, klassische individualbezogene Rechtspositionen zu relativieren und auf diesem Wege zu einer „Umverteilung“ von Rechten und Pflichten zu gelangen.325 Dies gilt insbesondere für den Bereich des privatrechtlichen Eigentums. Hier steht der Verhältnismäßigkeitsgedanke in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu dem klassischen Bild des Eigentums als ein Ausschlussrecht, das die Handlungsspielräume des Eigentümers von denen der Nicht-Eigentümer nach einem formalen Prinzip abgrenzt.326 Mittels des Verhältnismäßigkeitsgedankens werden hingegen die Handlungsspielräume anhand bestimmter gesamtgesellschaftlicher Zwecke neu gezogen und damit material aufgeladen, was nahezu zwangsläufig zu einer Perspektive führt, die über den konkreten Einzelfall hinausreicht. Somit befördert die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht tendenziell eine Überformung der richterlichen Rechtsfindung durch die Verwirklichung abstrakter, gesamtgesellschaftlicher Rechtswerte. Das konkrete Streitverfahren tritt auf diesem Wege zugunsten einer publizistisch orientierten Neujustierung des Zivilrechts zurück.
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BGH, NJW 2009, 2530 (2531) in Rdnr. 16. Vgl. hierzu BVerfGE 30, 173 (199 f.); Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, S. 159 (183 f.); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 33; Medicus, AcP 192 (1992), 35 (50 f.); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 99 ff. sowie, im europarechtlichen Kontext, G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 6/69. 325 Zu diesem Effekt der Wirkung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Privatrecht H. Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, 2004, S. 102 f. 326 Siehe Maultzsch, Zivilrechtliche Aufopferungsansprüche und faktische Duldungszwänge, 2006, S. 132 f.; ders., Grundlagen der privatrechtlichen Eigentumsaufopferung, in: Halfmeier u.a. (Hrsg.), Zugang und Ausschluss als Gegenstand des Privatrechts, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2005, 2006, S. 57 (59 f.) jeweils m.w.N. 324
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2. Das Rechtsverweigerungsverbot Bedeutung für die verfassungsrechtliche Einbettung der normbildenden Rechtsprechung hat neben der Einwirkung der Grundrechte auch die Diskussion über das Rechtsverweigerungsverbot erlangt. Hierbei hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG in Verbindung mit den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalten bereits frühzeitig gefolgert, dass den Bürgern auch bei privatrechtlichen Streitigkeiten ein so genannter Justizgewährungsanspruch zusteht. Dieser verpflichtet das zuständige Gericht, den jeweiligen Rechtsstreit umfassend zu prüfen und einer Entscheidung zuzuführen.327 Der Entscheidungszwang sagt als solcher allerdings über das Verhältnis des Urteilsinhalts zu den bereits bestehenden rechtlichen Vorgaben und damit über das Potential zu einer richterlichen Normbildung noch wenig aus.328 So folgt aus dem Justizgewährungsanspruch beispielsweise dann kein umfassendes normbildendes Mandat der Rechtsprechung, wenn hieraus lediglich eine formale Pflicht abgeleitet wird, den Rechtsstreit auf der Grundlage bereits bestehender Rechtssätze zu beurteilen.329 Nach dieser Position, die in der Literatur zum Teil vertreten wird, gebietet das Rechtsverweigerungsverbot eine schöpferische Tätigkeit der Gerichte daher nur dann, wenn anderenfalls eine gesetzliche Norm aufgrund ihrer Unvollständigkeit nicht anwendbar wäre.330 Hingegen soll der bloße Umstand, dass eine Entscheidung auf der Grundlage des geschriebenen Rechts wertungsmäßig nicht zu überzeugen vermag, nach dieser Sichtweise kein Problem des Rechtsverweigerungsverbots darstellen.331 Überwiegend hat sich unter Berufung auf Art. 20 Abs. 3 GG und die in dieser Vorschrift enthaltene Bindung des Richters an Gesetz und Recht allerdings eine weiter gehende, quasi materiale Deutung des Rechtsverweigerungsverbots durchgesetzt, die nicht nur das Recht zu einer Fortbildung lückenhaften Rechts einschließt, sondern sogar eine richterliche Pflicht zur Normbildung. 332 Der
327 BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345); 88, 118 (123); 93, 99 (107); 107, 395 (406 f.); siehe auch F. Baur, AcP 153 (1954), 393 (396 f.); Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 117 ff.; Papier, in: HStR, Band VI, 2. Aufl. 2001, § 153 Rdnr. 16. 328 Prütting, Festschrift Universität Köln, 1988, S. 305 (310). 329 Vgl. Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 171; Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1992, S. 4; Schumann, ZZP 81 (1968), 79 (93 ff.). 330 So insbesondere Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 55 f., 59 ff. 331 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 56 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 193. 332 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, 1977, S. 325 ff.; Gielen, Die normsetzende Funktion der Rechtsprechung, Diss. Berlin 1972, S. 55 ff.; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 172 ff.;
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rechtssuchende Bürger habe nicht nur auf eine formaljuristisch korrekte Entscheidung einen Anspruch, sondern auf eine sachgerechte Entscheidung, die sich unter Umständen nicht auf einen bloßen Vollzug des Gesetzesrechts beschränken dürfe.333 Dies gelte vor allem dann, wenn es der Gesetzgeber versäumt habe, „in gehörigem Maße die normativen Kontrollmaßstäbe mitzuliefern“, wenn also das Gesetzesrecht nicht mit der Entwicklung der grundlegenden Rechtswerte Schritt halte.334 In diesem Sinne hat auch der Bundesgerichtshof eine mögliche Pflicht zur Rechtsfortbildung bereits frühzeitig anerkannt: „Die richtige, dh dem Rechte gemäße Anwendung des positiven Rechts, gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert.“335 „Ein pflichtbewußter Richter kann sich der Aufgabe, das Recht notfalls fortzuent wickeln, nicht entziehen.“336
Darüber hinaus ist auch die Schutzrichtung des so verstandenen Rechtsverweigerungsverbots nicht auf die Parteien des jeweils anhängigen Rechtsstreits begrenzt geblieben. Zwar verkörpert der verfassungsrechtliche Justizgewährungsanspruch in seiner historischen Genese eine Reaktion auf die Missachtung bürgerlicher Rechte zur Zeit des Nationalsozialismus und fußt insoweit auf dem Gedanken des Individualrechtsschutzes. 337 In der weiteren Entwicklung hat sich der Schutzzweck des Rechtsverweigerungsverbots aber auch auf die Rechtsgemeinschaft als solche und ihr Interesse an einer richterlichen Normbildung ausgedehnt.338 Wurde ursprünglich noch die Auffassung vertreten, die aus dem Rechtsverweigerungsverbot folgende richterliche Normbildung weise eine „Gültigkeitsbeschränkung auf den konkreten Fall“ auf,339 hat das Bundesverfassungsgericht später aus den Geboten der Gleichbehandlung aller Bürger (Art. 3 Abs. 1 GG)340 und der Vorhersehbarkeit des gerichtlichen Verfahrens341 eine auf die Rechtsgemeinschaft bezogene Pflicht zur NormbilLooschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 286 ff.; Schumann, ZZP 81 (1968), 79 (100 f.); kritisch Hillgruber, JZ 2008, 745 (746 f.). 333 BVerfGE 84, 212 (226 f.); Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 253 f., 287. 334 Papier, in: HStR, Band VI, 2. Aufl. 2001, § 153 Rdnr. 17. 335 BGHZ 3, 308 (315). 336 BGHZ 9, 157 (164). 337 Gaul, Der Zweck des Zivilprozesses, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 2001, S. 68 (78). 338 Siehe Gaul, Der Zweck des Zivilprozesses, in: Yildirim (Hrsg.), Zivilprozessrecht im Lichte der Maximen, 2001, S. 68 (78 f.). 339 So H. Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 31. 340 Siehe BVerfGE 49, 148 (165 f.); 50, 115 (121 ff.). 341 Siehe BVerfGE 49, 148 (163 ff.).
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dung abgeleitet.342 Der Gedanke der Normsetzung durch die Justiz hat somit neben der subjektivrechtlichen auch eine objektivrechtliche Dimension erlangt.343 Dabei ist die normative Relevanz des höchstrichterlichen Urteils für die Allgemeinheit nicht mehr an eine bestimmte inhaltliche Qualität gebunden – wie sie beispielsweise noch Savigny in der Wissenschaftlichkeit des betreffenden Richterspruchs erblickte344 –, sondern folgt automatisch aus der staatlich verliehenen Rechtsprechungsbefugnis des Gerichts.345 Diese Entwicklung ist dabei auch in die Judikatur des Bundesgerichtshofs eingegangen, nach der die richterliche Normbildung „allgemeinverbindliches Recht“ betrifft. 346 Allerdings folgt selbst aus dem derart erweiterten Gedanken des Rechtsverweigerungsverbots nur selten ein zwingender Maßstab für den genauen Inhalt einer gebotenen Normbildung347 und auch kein Dispens von den anerkannten Methoden der Rechtsfindung.348 Gleichwohl hat die stufenweise Ausformung des verfassungsrechtlichen Rechtsverweigerungsverbots tendenziell eine aktivere Rechtsschöpfung durch die Zivilgerichte befördert. Denn die richterliche Bindung an Gesetz und Recht in Art. 20 Abs. 3 GG, aus der das Rechtsverweigerungsverbot folgt, findet aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ihre „Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen“, das gegenüber der geschriebenen Privatrechtsordnung durchaus „als Korrektiv zu wirken vermag“.349 Folglich verweist das Rechtsverweigerungsverbot auch auf die grundrechtlichen Wertentscheidungen und das Sozialstaatsprinzip als Leitlinien für eine „schöpferische Rechtsfindung“350 durch den Richter. Es verleiht einer stärker gesellschaftsbezogen argumentierenden und in diesem Sinne abstraktnormbildenden höchstrichterlichen Rechtsprechung somit ein weiteres Fundament.
3. Die Entwicklung im Bereich der Revisionszulassung Die zunehmende Bedeutung einer wertorientierten, gestaltenden Rechtsprechung spiegelte sich nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland auch recht bald im prozessualen Schrifttum und insbesondere in den Erörterungen 342 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 175 m.w.N. 343 Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 104. 344 Dazu oben § 3 A II, S. 44 f. 345 Vgl. hierzu auch die Erwägungen von Leipold, Ritsumeikan Law Review 4 (1989), 161 (170 ff.), zu einer „abstrakten Urteilskraft“. 346 BGHZ 11, Anhang 34 (51) (Gutachten zur Anwendung von Art. 3 Abs. 2 GG im Familienrecht). 347 Gielen, Die normsetzende Funktion der Rechtsprechung, Diss. Berlin 1972, S. 57 f.; Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1992, S. 4. 348 BVerfGE 84, 212 (226). 349 BVerfGE 34, 269 (287). 350 BVerfGE 3, 225 (243); 34, 269 (287); 49, 304 (318).
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zum Zweck der Zivilrechtspflege wider. Deutlich wurde dies beispielsweise in Sauers vielbeachteter „Allgemeiner Prozessrechtslehre“ aus dem Jahr 1951. An deren Beginn formulierte Sauer die Aufgabe des Prozesses wie folgt: „Jeder Prozeß ist die richterliche Gestaltung eines Einzelfalls des Rechtslebens […] zu einem Gemeinschaftswert gemäß der Gerechtigkeit […].“351 „Ein Prozeß sollte nicht nur vorübergehende Lösungen bieten; der Richter darf nicht jenem Arzt gleichen, der nur ein Beruhigungspulver verschreibt, er muß den Keim des Übels anpacken und zu beseitigen trachten. Das geschieht wirksam aber nur im Rechtsganzen.“352
Mit diesen Einschätzungen maß Sauer dem Richter eine bedeutende Aufgabe bei der Fortentwicklung des Rechts im Dienste des Allgemeinwohls bei: „Er hat das Recht nicht als etwas Bestehendes und allenfalls Verborgenes zu ‚finden‘, indem er den Fall an einem Gesetz als Schema mißt; er hat es vielmehr zu gestalten, zu schaffen, zu ‚schöpfen‘, gleichwie der Forscher schöpferisch die neue Erkenntnis, der Künstler schöpferisch das Werk hervorbringen. Auch im Prozeßrecht ist eine Kreationstheorie aufzustellen und streng durchzuführen. Keine hohe Meinung vom Richterberuf hat, wer ihm nur die Aufgabe zuschreibt, darüber zu entscheiden, welcher der gestellten Anträge mehr dem Gesetze entspricht. Freilich soll der Richter ‚Kritik‘ üben, indem er das Rechte von dem Falschen sondert. Aber eine fruchtbare Kritik baut zugleich auf. Neue Werte, die bisher nicht vorhanden waren, sind zu schaffen; das ist eben gestaltende Tätigkeit. Insoweit unterscheidet sich der Richter nicht vom Verwaltungsbeamten […].“353
Folglich sah Sauer auch den Zivilprozess als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen an, in dessen Rahmen der Parteischutz nur eine Facette darstelle, die neben der Verwirklichung und der Fortentwicklung des objektiven Rechts und der Erziehung der Rechtsgemeinschaft im Sinne des Gerechtigkeitsgedankens keinen Vorrang beanspruchen könne. 354 Er votierte für eine ausgeprägte richterliche Gestaltungsfreiheit, bei der die Verwirklichung des Gemeinwohls einen höheren Stellenwert besitze als die Anwendung einzelner Sachnormen.355 Ganz ähnlich verhielt sich auch die Einschätzung Döhrings über die gewandelte Aufgabe der Zivilrechtsprechung: „Der Richter kann jetzt als Ausgleicher sozialer Nöte, als Arzt des Gemeinwesens, als Erhalter wertvoller Volkskräfte wirken, wenn man seine Stellung entsprechend gestaltet. Er vermag, wenn die nötigen Vorkehrungen getroffen werden, die Unzufriedenen zu beschwichtigen, die Irregeführten aufzuklären und kann die Volksstimmung segensreich beeinflussen. Er ist in der Lage, Zersetzungserscheinungen im Keim zu ersticken und Schäden für die Allgemeinheit abzuwenden.“356 351 352 353 354 355 356
Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre, 1951, S. 1. Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre, 1951, S. 4. Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre, 1951, S. 2. Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre, 1951, S. 7, 19. Sauer, Allgemeine Prozessrechtslehre, 1951, S. 22 f. Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 42.
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Im Rahmen der Prozessgesetzgebung manifestierte sich diese stärkere Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen vor allem in der Reform des Revisionsrechts, die zugleich mit der Schaffung des Bundesgerichtshofs als höchstes Zivilgericht im Jahr 1950 erfolgte. Das Rechtsvereinheitlichungsgesetz357 fasste den § 546 ZPO a.F. neu im Sinne eines Mischsystems aus Streitwert- und Zulassungsrevision. Ein Vorbild fand diese Regelung dabei in der Rechtslage, die bereits seit 1926 für das arbeitsgerichtliche Verfahren galt. 358 Nach § 546 ZPO a.F. in der Fassung aus dem Jahr 1950 fand die Revision zum Bundesgerichtshof in Verfahren mit einem Wert der Beschwer von nicht mehr als 6000,– DM statt, wenn sie durch das Oberlandesgericht als Berufungsgericht zugelassen worden war. Eine solche Zulassung kam gemäß § 546 Abs. 2 ZPO a.F. in Betracht, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hatte oder wenn das Berufungsurteil von einer vorangehenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs abgewichen war. Dabei sah der Bundesgerichtshof von dem Begriff der grundsätzlichen Bedeutung auch die Aufgabe umfasst, „das Recht in der Weise fortzubilden, daß Gesetzeslücken geschlossen und die positiven Rechtsnormen von ihrem Grundgedanken her i.S. einer Anpassung an die berechtigten Bedürfnisse einer sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgelegt werden“. 359 Die Zulassungsgründe spiegelten somit die Tendenz wider, die höchstrichterliche Ebene nunmehr weniger als kontinuierliche Fortsetzung eines Zivilrechtsstreits im privaten Interesse zu betrachten, sondern vielmehr als eine vorrangig öffentliche Angelegenheit im Interesse der Rechtsgemeinschaft.360 Es ging somit nicht nur darum, durch die Voraussetzungen der Revisionszulassung ein weiteres Rechtsmittel der Parteien bloß einzuschränken, sondern vielmehr darum, der obersten Instanz in Gestalt der Grundsatzrevision einen ganz eigenen Charakter zu verleihen.361 So betonte etwa Fasching eine wesensmäßige 357 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950, BGBl. 1950, S. 455. 358 Auch in Ehesachen galt in den Jahren 1925 und 1926 sowie wiederum ab 1932 ein Zulassungssystem für die Revision; zum Ganzen Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 30 ff. m.w.N. 359 BGH, NJW 1959, 2262. 360 Exemplarisch F. Baur, ZZP 71 (1958), 161 (175); A. Blomeyer, Zivilprozessrecht, 1963, § 104 I, S. 560; Duske, Die Aufgaben der Revision, Diss. Marburg 1960, S. 118 ff.; Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 85 f.; Kissel, Der dreistufige Aufbau in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, 1972, S. 85 ff.; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 26 ff.; Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, Rdnr. 1 ff.; in der Tendenz auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 134 II 2, S. 803 f.; umfangreiche weitere Nachweise bei Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 87. 361 Siehe A. Bülow, SJZ 1950, Sp. 715 (726); Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 48.
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Distanz der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem jeweiligen Lebenssachverhalt, der das Revisionsgericht nicht nur durch den Filter der Tatsacheninstanzen, sondern auch erst mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung erreiche. Hieraus folgerte er: „Damit aber die Entscheidung des Revisionsgerichtes überhaupt gerechtfertigt bleibt, muß sie in Blickrichtung auf zukünftige Fälle getroffen werden, um für diese bereits eine bindende und allenfalls präventive Richtlinie zu geben.“362
In eine ähnliche Richtung deuteten die Motive des Gesetzgebers, dem es mit der Reform der Revisionszulassung darum ging, „das abstrakte Interesse der Gesamtheit an der Einheit und Entwicklung des Rechts dem Interesse des Einzelnen“ voranzustellen.363 Eine Filterung der revisiblen Streitigkeiten durch ein reines Streitwertsystem sei hingegen „wegen seiner kapitalistischen Einseitigkeit nicht mehr tragbar“.364 Diesen gesetzgeberischen Willen bewehrte der Bundesgerichtshof bereits in einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1951365 gegen Versuche aus der Berufungsebene, eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und damit eine Zulassung der Revision auch durch die mittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen einer Entscheidung auf die konkreten Prozessparteien zu rechtfertigen. In dem konkreten Fall hatte das Oberlandesgericht dabei eine grundsätzliche Bedeutung aus dem Umstand abgeleitet, dass lediglich eine Teilsumme des behaupteten Anspruchs eingeklagt war, dessen Gesamthöhe über dem damals geltenden Grenzwert der Streitwertrevision lag. Eine derart begründete Revisionszulassung hielt der Bundesgerichtshof nicht nur für fehlerhaft, sondern sogar für unverbindlich,366 da hierdurch „der Bundesgerichtshof außer Stand gesetzt [werde], sich seiner vornehmlichsten Aufgabe als Wahrer der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung zu widmen“.367 Der Bundesgerichtshof sah somit eine besondere wirtschaftliche Bedeutung des Rechtsstreits für die Parteien als untaugliches Kriterium für die Eröffnung der Revisionsebene an, sofern nicht die formalen Voraussetzungen der Streitwertrevision gegeben waren. Hierdurch negierte er eine immanente Verknüpfung des Zwecks der Normbildung mit dem Zweck der Befriedigung eines besonderen Parteiinteresses. Die Streitwertrevision und die Grundsatzrevision wurden vielmehr als zwei vollkommen getrennte Bereiche betrachtet, wobei man die Grundsatzrevision durchaus als die legitimere und angemessenere Form ansah.
362
Fasching, Probleme des Revisionsverfahrens, 1971, S. 25. BT-Drucks. 1/530, S. 26. 364 BT-Drucks. 1/530, S. 26. 365 BGHZ 2, 396. 366 Eine rechtliche Bindung an die Zulassungsentscheidung des Berufungsgerichts wurde erst mit Gesetz vom 8. Juli 1975, BGBl. I, S. 1863, in § 546 Abs. 1 S. 3 ZPO a.F. eingeführt. 367 BGHZ 2, 396 (400); kritisch hierzu unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmittelklarheit Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (206 ff.). 363
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Eine weitere Verfestigung erlebte die öffentliche Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Einführung des Instituts der Revisionsannahme in § 554b ZPO a.F. im Jahr 1975.368 Hierdurch wurde die Zulässigkeit der Streitwertrevision insoweit beschränkt, als der Bundesgerichtshof die Annahme der Revision auch bei einem Überschreiten der Revisionssumme ablehnen konnte, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hatte (§ 554b Abs. 1 ZPO a.F.). Allerdings war die Gemeinwichtigkeit der Rechtssache in diesem Rahmen noch keine positive Voraussetzung der Revisibilität, sondern das Fehlen der grundsätzlichen Bedeutung eröffnete nach dem Wortlaut der Gesetzesfassung und dem gesetzgeberischen Willen369 lediglich einen Ermessenspielraum zur Ablehnung einer Streitwertrevision. Zudem schränkte das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsbereich des § 554b Abs. 1 ZPO a.F. erheblich ein.370 Es nahm an, dass die Vorschrift verfassungskonform dahin auszulegen sei, dass eine Ablehnung nur für solche Streitwertrevisionen in Betracht komme, die im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg hätten. Denn eine ermessensabhängige Ablehnung erfolgversprechender Revisionen zur Steuerung der Arbeitsbelastung des Bundesgerichtshofs verstoße sowohl gegen das Erfordernis der Rechtssicherheit als auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz.371 Vor diesem Hintergrund erlaube das Grundgesetz zwar, die Revision generell auf Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung zu beschränken, nicht aber erlaube es, das Institut der Streitwertrevision einerseits aufrechtzuerhalten und andererseits dem Revisionsgericht auch für erfolgversprechende Streitwertrevisionen ein Auswahlermessen zuzugestehen, das je nach dem konkreten Anfall der Arbeitslast ausgeübt werden könne.372 Diese Vorgaben schränkten die Möglichkeit zur Ablehnung von Streitwertrevisionen erheblich ein. Aber in der Tendenz wurde die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung nun immer stärker in dem „übergeordneten Gesichtspunkt“373 einer Normbildung gesehen, die die Legislative ergänzen sollte. Dem einzelfallbezogenen Blick des Tatrichters in die Vergangenheit wurde somit der allgemeinheitsbezogene Blick des Revisionsrichters in die Zukunft entgegengesetzt. 374 Dabei hatte der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Robert Fischer, im Reformjahr 1975 auf die Wirkungsgrenzen hingewiesen, die für die höchstrich368 Gesetz vom 8. Juli 1975, BGBl. I, S. 1863. Näher zur Entstehungsgeschichte des § 554b ZPO a.F. Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1993, S. 79 f. m.w.N. 369 Siehe BT-Drucks. 7/3596, S. 4 f. 370 BVerfGE 49, 148 – Zweiter Senat; 54, 277 – Plenarbeschluss. 371 BVerfGE 49, 148 (163 ff.); 54, 277 (293 ff.). 372 BVerfGE 49, 148 (166). 373 BT-Drucks. 7/3596, S. 4. 374 Fasching, Probleme des Revisionsverfahrens, 1971, S. 24 f.; R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (10 ff.); Thiere, Die Wahrung überindividueller Interessen im Zivilprozeß, 1980, S. 11.
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terliche Rechtsprechung daraus resultieren würden, dass sie ihr Entscheidungsmaterial nicht selbst selektieren könne, sondern im Hinblick auf eingelegte Revisionen einem Entscheidungszwang unterliege.375 Durch die Aufwertung des Gesichtspunkts der grundsätzlichen Bedeutung für die Revisibilität eines Urteils wurde diese Problematik zumindest teilweise abgemildert. Denn soweit dem Bundesgerichtshof von nun an im Rahmen des Annahmeverfahrens die Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung selbst oblag, ging das Heft des Handelns auf ihn über. Die Bedeutung dieser neuen Kompetenz verdeutlicht dabei der Umstand, dass Fischer ca. 60 % aller Streitwertrevisionen unter dem Gesichtspunkt der grundsätzlichen Bedeutung für unergiebig hielt. 376 In ähnlicher Weise sah Wassermann in dem schrittweisen Übergang des Revisionsrechts zum Zulassungsmodell einen wichtigen „Ausbau des Sozialprinzips“ im Zivilprozessrecht, der das Wohl der Rechtsgemeinschaft im Blick habe.377 Die geschilderte Abwendung von dem formal-evolutiven Modell einer Streitwertrevision ohne inhaltliche Steuerung der Revisibilität und die Hinwendung zu dem material-planerischen Modell der Grundsatzrevision geschah, obwohl im Rahmen der Reformdebatte darauf hingewiesen worden war, dass ein hoher Streitwert vorbehaltlich aller Besonderheiten der Einzelfälle einen durchaus nicht unzuverlässigen Indikator für die Komplexität einer Rechtssache und damit mittelbar auch für ihre Gemeinwichtigkeit darstelle.378 Deshalb gab es auch zahlreiche Stimmen, die davon ausgingen, dass der höchstrichterlichen Rechtsprechung mittels der Streitwertrevision einerseits in der Summe aller Fälle ein gutes Anschauungsmaterial für eine sinnvolle Fortentwicklung des Rechts bereitgestellt werde und dass andererseits auf diesem Wege zugleich auch die berechtigten Parteiinteressen an einer erneuten Beurteilung wirtschaftlich bedeutsamer Rechtsstreitigkeiten befriedigt werden könnten. 379 Aufgrund des 375
R. Fischer, Das Entscheidungsmaterial in seiner Bedeutung für die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: Fischer/Adams/Sperl/Cornish, Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1975, S. 11; ähnlich ders., Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (15 ff.). 376 Kohl, Diskussionsbericht, in: Fischer/Adams/Sperl/Cornish, Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1975, S. 45 (47). 377 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 63. 378 Vgl. Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (218) mit Fn. 75. 379 Siehe Arndt, NJW 1963, 1273 (1282); Bettermann, ZZP 88 (1975), 365 (402); Jagusch, NJW 1953, 161 (162); Kaempfe, NJW 1979, 1134 (1138); Möhring, NJW 1962, 1 (3 f.); Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (220 f.); Pohle, Empfiehlt es sich, die Revision (Rechtsbeschwerde) zu den oberen Bundesgerichten (außer in Strafsachen) einzuschränken und ihre Zulässigkeit in den einzelnen Gerichtsbarkeiten einheitlich zu regeln, in: Verhandlungen des 44. Deutschen Juristentages Hannover 1962, Band I, 1962, 3. Teil, Heft B, S. 17 f. Kritisch zu dieser Verbindung von Parteiinteresse und Streitwertrevision aber Prütting, Die Zulassung der Revision, 1977, S. 88 und Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 32. Diese Kritik erledigt sich jedoch, wenn man nicht annimmt, dass gerade die Statuierung einer Revisionssumme dem Parteiinteresse dient, sondern davon ausgeht, dass das Streitwert-
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eingeschlagenen Wegs wurde die Streitwertrevision jedoch mehr und mehr zu einem Fremdkörper, was sich auch durch die kontinuierliche Anhebung der Revisionssumme auf mehr als 40.000,– DM im Jahr 1975380 und mehr als 60.000,– DM im Jahr 1990381 manifestierte. Ihren vorläufigen Schlusspunkt hat diese Entwicklung mit der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2001 gefunden.382 Diese schaffte nicht nur die Streitwertrevision gänzlich ab, sondern fächerte auch die Zulassungsgründe weiter auf. Hierbei steht neben dem Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 546 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO eine Zulassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 546 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO. Hinzu tritt das Institut der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO, das dem Bundesgerichtshof nun auch ein aktives Mittel an die Hand gibt, um Streitverfahren aufgrund ihrer Bedeutung für die Rechtsgemeinschaft an sich zu ziehen.
XI. Die Urteilspraxis des Bundesgerichtshofs Die vorstehend geschilderte Entwicklung belegt, dass der Gesichtspunkt der Normbildung gegenüber dem Gedanken der Streitentscheidung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einen immer größeren Stellenwert gewonnen hat. Dies soll im Folgenden unter Einbeziehung konkreter Rechtsprechungsbeispiele näher erläutert werden. Dabei geht es um zwei parallele Erscheinungsformen einer verstärkten Normbildung: Zum einen bewirkt der eher abstrakte Entscheidungsstil des Bundesgerichtshofs in manchen Fällen auch dort normbildende Effekte, wo diese durch das Gericht nicht intendiert waren (1.). Zum anderen sollen einige Beispiele aus der Rechtsprechung zum Haftungs- und Vertragsrecht belegen, dass der Bundesgerichtshof aber auch ganz bewusst zu einer weit ausgreifenden Normbildung neigt, die sich nicht auf das Maß begrenzt, das zu einer sachgerechten Lösung des jeweils anhängigen Verfahrens erforderlich ist (2.).
1. Der Einfluss des Rechtsprechungsstils Im Zuge der Einführung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache hatte Paulus bereits darauf hingewiesen, dass eine verantwortungsvolle Normbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung eine modell die Parteiinteressen relativ stärker berücksichtigt als das Modell der Grundsatzrevision. 380 Gesetz vom 8. Juli 1975, BGBl. I, S. 1863. 381 Gesetz vom 17. Dezember 1990, BGBl. I, S. 2847. 382 Näher dazu unten § 5 A I 2, S. 339 ff.
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klare Unterscheidung zwischen den tragenden Gründen eines Urteils, der ratio decidendi, und sonstigen Rechtsausführungen, den obiter dicta, voraussetze.383 Später kritisierte dann insbesondere Schlüter eindringlich, dass die obersten Bundesgerichte ihre Entscheidungsbegründungen häufig zu weit über die Ableitungszusammenhänge hinaus ausdehnen würden, die zu einer Fallentscheidung erforderlich seien, und plädierte für eine weit gehende Ächtung solcher obiter dicta.384 Trotz dieser mahnenden Stimmen ist die Tradition, den normativ verbindlichen Kern von Präjudizien in einem Wechselspiel aus Entscheidungssachverhalt und Rechtsausführungen zu konturieren, in Deutschland jedoch weitaus geringer ausgeprägt als im common law. Dies wurzelt darin, dass selbst höchstrichterlichen Urteilen in Deutschland zumindest keine formale Bindungswirkung nach Art des stare decisis zukommt.385 Da aber unter den heutigen Bedingungen nicht mehr geleugnet werden kann, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zumindest faktisch eine erhebliche Rolle bei der Fortentwicklung des Rechts spielt, führt die mangelnde Ausprägung von case lawTechniken dazu, dass der richterlichen Normbildung in Deutschland nur wenig strukturierende Grenzen im Sinne einer inneren Verbindung der zu bildenden Normen mit dem zu entscheidenden Fall gezogen sind. So attestierte Fasching der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bereits im Jahr 1971 einen Rechtsprechungsstil, der die Revision immer weniger als abschließendes richterliches Urteil in einem Rechtsstreit erscheinen lasse.386 Vielmehr habe die höchstrichterliche Rechtsprechung durch Urteile mit „lehrbuchartigem Charakter“ sowie durch eine Vielzahl von rechtlichen „Hilfs- und Eventualbegründungen“ zusehends eine gesetzgebungsähnliche Rolle angenommen.387 Der Bundesgerichtshof pflegt in diesem Sinne einen eher technischen Entscheidungsstil. In seinen Urteilen erfolgt typischerweise keine ausführliche Analyse des zugrunde liegenden Sachverhalts und seiner Besonderheiten. 388 Vielmehr stehen ganz die als klärungsbedürftig identifizierten Rechtsprobleme im Vordergrund. Der Sachverhalt wird dementsprechend regelmäßig stark komprimiert und abstrahiert dargestellt, um ihn als Grundlage für eine möglichst weit gehend verallgemeinerbare Rechtsfrage zu verwenden. Der Fallbezug tritt zugunsten einer systematisch-dogmatischen Perspektive zurück. 389 Dies findet seine Wurzel 383
Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (211 ff.). Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, insbesondere S. 28 ff.; kritisch hierzu aber Köbl, JZ 1976, 752 ff. und Kötz, AcP 175 (1975), 361 (363 ff.). 385 Siehe oben § 2 B II, S. 30 ff. 386 Fasching, Probleme des Revisionsverfahrens, 1971, S. 22 f. 387 Fasching, Probleme des Revisionsverfahrens, 1971, S. 22. 388 Dazu Diedrich, Präjudizien im Zivilrecht, 2004, S. 262; Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 86 und Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, 1973, S. 22. 389 G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 4/185. 384
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bereits in der schriftlichen Vorbereitung der Urteilsfindung. So muss sich der Prozessvertreter des Revisionsführers in seiner Revisionsbegründung bereits erschöpfend mit den anstehenden Rechtsfragen auseinandersetzen, 390 was in der Regel zu einer umfassenden Analyse des wissenschaftlichen Diskussionsstands im Vorfeld der mündlichen Verhandlung führt. Dementsprechend zentrieren sich dann auch die Urteilsgründe des Bundesgerichtshofs häufig um eine Auseinandersetzung mit dogmatischen Beiträgen der Rechtswissenschaft.391 Bereits hierdurch wird der Bezug auf den konkreten Fall ausgedünnt. Darüber hinaus finden im Rahmen dieses Stils Erwägungen, die sich nicht in den tradierten methodischen Kanon der Rechtsschöpfung einfügen, selbst dann kaum einen Raum, wenn sie die Entscheidung faktisch maßgeblich beeinflusst haben.392 Der historisch tief verwurzelte Gedanke einer Autonomie der Zivilrechtsprechung gegenüber politischen Entscheidungszwängen, der seinen Ursprung in dem Savignyschen Ideal einer streng wissenschaftlichen Einbindung der Rechtsprechung hat, wird somit in ein Zeitalter übertragen, in dem die bereits geschilderten sozialethisch-materialisierenden Einflüsse auf die Rechtsprechung393 diese Autonomie unterminiert haben. Da nun aber entscheidungsleitende Gesichtspunkte, die im weitesten Sinn als rechtspolitisch zu bezeichnen sind, in den Urteilsgründen des Bundesgerichtshofs in aller Regel nicht ausgewiesen werden, erfolgt auch keine offene höchstrichterliche Auseinandersetzung mit der Relevanz und den Grenzen derartiger Gesichtspunkte. Dies schränkt zugleich die Reflexion und damit auch ein mögliches Kontrollmoment gegenüber diesen Einflüssen ein. Eine solche Begrenzung sucht die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland weniger in der offenen Auseinandersetzung mit nicht-dogmatischen Einflüssen, sondern darin, dass ein Urteil, selbst wenn es möglicherweise rechtspolitisch motiviert ist, immer auch wissenschaftlich-dogmatisch begründbar sein muss. Insoweit ist im Urteilsstil des Bundesgerichtshofs eine mögliche Divergenz zwischen der Entscheidungsfindung und der Entscheidungsbegründung durchaus angelegt. In diesem Zusammenhang hat beispielsweise Christian Fischer die Auffassung vertreten, dass sich der Bundesgerichtshof häufig „Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen“ bediene, um seinen Normbildungen den Anschein bloßer Rechtsanwendungen zu geben.394 Ob dieses Vorgehen, wie Fischer meint, methodisch und verfassungsrechtlich unzulässig ist,395 bedarf an dieser Stelle keiner Erörterung. Seine Analyse bestätigt jedoch die hier hervorgehobene Möglichkeit einer 390 Siehe BGH, NJW 2003, 2532 (2533); Wenzel, MünchKomm. ZPO, 3. Aufl. 2007, § 551 Rdnr. 20; Wieczorek/Schütze/Prütting, ZPO, 3. Aufl. 2005, § 551 Rdnr. 20. 391 Vogenauer, [2006] 26 Oxford J. Legal Stud. 627, 641 ff. m.w.N. 392 Siehe Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 51 sowie Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981, S. 155 f. 393 Siehe § 3 A X, S. 82 ff. 394 C. Fischer, Topoi verdeckter richterlicher Rechtsfortbildungen, 2007, S. 227 ff. 395 C. Fischer, Topoi verdeckter richterlicher Rechtsfortbildungen, 2007, S. 510 ff.
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Divergenz von Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung. Verstärkt wird dieser Aspekt im Fall des Bundesgerichtshofs schließlich durch die Praxis eines einheitlichen, quasi unpersönlichen Urteils, das – anders als im englischen und amerikanischen Recht396 – keine dissenting oder concurring opinions zulässt, die den breiteren Hintergrund einer Entscheidung aufhellen könnten.397 Der soeben skizzierte Rechtsprechungsstil des Bundesgerichtshofs manifestiert sich paradigmatisch darin, dass das Gericht seinen wichtigeren Entscheidungen Leitsätze in Form von „Rechtssätzen“ beifügt.398 Hatte noch das Reichsgericht seinen Urteilen bloße Umschreibungen der erörterten Rechtsfrage(n) vorangestellt,399 verfolgen die Leitsätze des Bundesgerichtshofs das Ziel, einen möglichst eindeutigen komprimierten Überblick über die rechtlichen Aussagen der Entscheidung zu geben. Durch die Leitsätze wird die ratio decidendi des Urteils somit zumindest formell von dem zugrunde liegenden Sachverhalt abgetrennt.400 Die Rezeption der höchstrichterlichen Entscheidungen durch die Instanzgerichte und die Rechtswissenschaft greift diesen Stil nur zu gerne auf und misst den Leitsätzen einen abstrakten Eigenwert ohne Rückkoppelung an die Besonderheiten der entschiedenen Fallkonstellation bei. Dabei bleibt vor allem das Ventil eines distinguishing weit gehend ungenutzt, das im common law als Gegengewicht zum Prinzip des stare decisis wirkt und die notwendige Flexibilität und Responsivität bei der Anwendung von Präjudizien sicherstellt.401 Hierdurch erklärt sich auch die auf den ersten Blick paradox anmutende Feststellung, dass höchstrichterliche Vorgaben in Deutschland tendenziell schematischer und rigider befolgt werden als im common law.402 Selbst wenn man die stark abstrahierende Rezeption höchstrichterlicher Entscheidungen dabei als einen Kunstfehler der Instanzgerichte ansieht, der nicht ohne Weiteres der höchstrichterlichen Rechtsprechung selbst angelastet werden könne,403 ist 396
Dazu unten § 3 B VI 1, S. 154 ff. und § 3 C V 2 b, S. 224 ff. Zu den historischen Hintergründen dieses Desiderats Zweigert, Empfiehlt es sich, die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des überstimmten Richters (Dissenting Opinion) in den deutschen Verfahrensordnungen zuzulassen?, in: Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages Nürnberg 1968, Band I, 1968, D 1 (45 ff.). 398 § 18 Abs. 2 Satz 2 der Geschäftsordnung des Bundesgerichtshofs vom 3. März 1952, BAnz. Nr. 83, S. 9. 399 Siehe oben § 3 A VII, S. 67 f. 400 Hierzu kritisch Brehm, Festschrift Schumann, 2001, S. 57 (68); Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, 1973, S. 21 ff.; Prütting, Festschrift Universität Köln, 1988, S. 305 (321); Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 31; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 259. 401 Vgl. oben § 2 A II, S. 27 und § 2 B I, S. 29. 402 So Allen/Köck/Riechenberg/Rosen, 82 Nw. U. L. Rev. 705, 755 (1988); Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 282 sowie allgemein für Kontinentaleuropa Damaska, The Faces of Justice and State Authority, 1987, S. 33 f. 403 So von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (157 f.). 397
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doch in der Leitsatz-Praxis des Bundesgerichtshofs die unmittelbare Gefahr solcher Fehler durchaus angelegt.404 Folglich erscheint auch die Einschätzung Vogenauers durchaus berechtigt, der von einer „Armut der Präjudizienlehre“ in Deutschland spricht, die in einem deutlichen Kontrast zu dem methodischen Aufwand stehe, der im Bereich der Gesetzesauslegung betrieben werde.405 Dies zeitigt insbesondere dann problematische Konsequenzen, wenn die jeweilige Entscheidung des Bundesgerichtshofs bei näherer Betrachtung nicht der abschließenden Klärung einer Rechtsfrage dienen sollte, sondern vielmehr vornehmlich dem Impetus folgte, eine angemessene Lösung für den konkreten Fall zu bewirken, der dem Streitverfahren zugrunde lag. Denn ein solches Interesse an einer gerechten (Einzel-)Falllösung ist, trotz des Siegeszugs der normbildenden Funktion des Bundesgerichtshofs, durchaus auch in der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung tief verwurzelt.406 Ein Beispiel mag diese Problematik verdeutlichen: In einer Entscheidung aus dem Jahr 1956 befasste sich der Bundesgerichtshof mit der erbrechtlichen Nachfolge in eine OHG.407 Unter anderem ging es um die Frage, welche Rechtsfolgen eine so genannte qualifizierte Nachfolgeklausel in dem Gesellschaftsvertrag zeitigt, das heißt eine Regelung, nach der die OHG nicht mit allen Erben fortgesetzt wird, sondern nur mit einem bestimmten Erben, zum Beispiel mit der Ehefrau des Erblassers oder mit dessen ältestem Abkömmling, nach der ein gesellschaftsrechtlicher Abfindungsanspruch der übrigen Erben in dem Gesellschaftsvertrag aber gleichwohl nicht vorgesehen ist. Der Bundesgerichtshof entschied, dass der nach dem Gesellschaftsvertrag eligible Erbe in einem solchen Fall nicht in den gesamten Gesellschaftsanteil des Erblassers nach § 1922 BGB nachfolge, sondern nur in eine solche Quote, die seinem Erbteil entspreche.408 Der infolgedessen vakante Restanteil des Erblassers wachse zunächst wiederum quotal den übrigen Gesellschaftern an, die aber aufgrund einer entsprechenden Auslegung des Gesellschaftsvertrags verpflichtet seien, den Gesellschaftsanteil des eingetretenen Erben-Gesellschafters durch Rechtsgeschäft unter Lebenden auf die Höhe aufzustocken, die dem Anteil des Erblassers entsprach. Um schließlich eine ungerechtfertigte Bereicherung des Erben-Gesellschafters gegenüber seinen Miterben auszuschließen, sei jener für die Erlangung der Anteilsquote durch Rechtsgeschäft unter Lebenden, die seine Erb404
Vgl. Gottwald, ZZP 99 (1986), 333 (334); Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 359; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 180; Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 30 f. 405 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band I, 2001, S. 226 f.; ähnlich Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, 1973, S. 21 ff.; positiver aber ders., AcP 175 (1975), 361 (365 f.). 406 Dazu etwa Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 105 sowie Rüthers, JZ 2008, 446 (447). 407 BGHZ 22, 186 ff. 408 BGHZ 22, 186 (194 ff.).
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quote übersteigt, ausgleichspflichtig. Hingegen erteilte der Bundesgerichtshof der alternativen Lösungsmöglichkeit, nach der der eligible Erbe schon kraft Erbrechts in den vollen Gesellschaftsanteil des Erblassers eintreten würde, eine ausdrückliche Absage.409 Wie sich aus einer fast zwanzig Jahre später erfolgten Äußerung des Berichterstatters in dem geschilderten Verfahren und späteren Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Robert Fischer, ergab, verfolgte diese Lösung allerdings keineswegs den Zweck, die Konstruktion der Rechtsnachfolge für das Verhältnis zwischen dem eintretenden Erben und den Mitgesellschaftern abschließend zu regeln. Vielmehr bestand die Motivation des Urteils nur darin, die Abfindungsrechte der von der Gesellschaftsnachfolge ausgeschlossenen Miterben zu stärken, was man bei der gewählten Kombination aus partieller Erbnachfolge in Kombination mit einer Aufstockung durch Rechtsgeschäft unter Lebenden damals besser gewahrt sah als bei einer voll-erbrechtlichen Nachfolge in den Gesellschaftsanteil des Erblassers.410 Zugleich zeigte sich Fischer „überrascht“, dass in den folgenden zwanzig Jahren zu den besagten Rechtsfragen kein Revisionsverfahren mehr geführt worden sei, das dem Bundesgerichtshof die Gelegenheit gegeben hätte, seine Auffassung zugunsten einer rein erbrechtlichen Lösung zu ändern. Dieses Ausbleiben weiterer Verfahren erscheint jedoch weniger verwunderlich, wenn man sich den Stil der Entscheidung und insbesondere ihrer Leitsätze verdeutlicht, die das Ziel einer bloßen Sicherung von Abfindungsansprüchen nicht erkennen lassen, sondern vielmehr den Eindruck vermitteln, es solle der Streit um die Nachfolgeproblematik generell und endgültig entschieden werden. So wurde das Urteil in der Praxis auch im Sinne eines „Roma locuta, causa finita“ aufgenommen. Erst nach der besagten Klarstellung Fischers bot sich für den Bundesgerichtshof im Jahr 1977 die Gelegenheit, seine Rechtsprechung im Einklang mit der überwiegenden Lehre zugunsten einer rein erbrechtlichen Nachfolge des eligiblen Erben zu korrigieren.411 Vor diesem Hintergrund ist die Auffassung des zweiten Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Heusinger, verständlich, nach der die umfangreiche Verwendung von Leitsätzen im Ergebnis unweigerlich zu „einer Art von judicial legislation“ führt, selbst wenn die Leitsätze im Ausgangspunkt nur als ein „Rechtsnorm-Vorschlag“ unter dem Vorbehalt besserer Einsicht gemeint seien.412 Auch sein Nachfolger Robert Fischer wies später in einem Festvortrag vor dem 52. Deutschen Juristentag im Jahr 1978 deutlich auf die Nachteile hin, die sich 409
BGHZ 22, 186 (196 f.). R. Fischer, Das Entscheidungsmaterial in seiner Bedeutung für die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: Fischer/Adams/Sperl/Cornish, Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1975, S. 11 (12). 411 BGHZ 68, 225 (236 ff.). 412 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 188 ff. 410
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für die Rechtsentwicklung ergäben, wenn sich das Revisionsgericht „vorschnell anhand eines […] Einzelfalls zu einer allgemeinen Regelbildung hinreißen“ lasse und hierbei Wege gehe, „die der Gesetzgeber beim Erlaß von Gesetzen zu beschreiten hat“.413 In dieses caveat bezog er nun die Leitsatzpraxis des Bundesgerichtshofs ausdrücklich kritisch ein.414
2. Beispiele aus der Rechtsprechung Die Neigung zu einer normbildenden Rechtsprechung, die von den Erfordernissen der konkreten Streitentscheidung abstrahiert, findet sich unter anderem in Urteilen des Bundesgerichtshofs zum Haftungs- und Vertragsrecht bestätigt. Das angenommene Bedürfnis, aufgetretene Rechtsfragen hier im Dienste der Rechtssicherheit möglichst schnell entscheiden zu müssen, führt dabei zu einer überschießenden Normbildung. Diese kann sich entweder darin ausdrücken, dass die Normbildung entweder im engeren Sinne obiter dictum erfolgt, das heißt für die Lösung des jeweiligen Verfahrens in keiner Weise erforderlich ist, oder dass sie jedenfalls wesentlich breiter ausfällt, als für die Entscheidung des Streitverfahrens nötig ist. Im letzteren Fall kann von einem obiter dictum im weiteren Sinne gesprochen werden.415 Zu derartigen Konstellationen seien nachfolgend exemplarisch einige Judikate angeführt. Der entscheidende Grund, warum diese Urteile aufgegriffen werden, ist nicht, dass sie umfangreiche rechtspolitische Festlegungen enthalten würden. Vielmehr geht es in ihnen zumindest zum Teil um begrenzte Fragen, die keiner gesetzgeberischen Prärogative unterfallen, sondern einer Klärung durch die Judikative durchaus zugänglich sein sollten. Interessant erscheinen die Urteile aber aufgrund ihrer Entkoppelung von Streitentscheidung und Normbildung, die darin besteht, dass sie entweder Rechtsfragen thematisieren, die von vornherein nicht entscheidungserheblich sind, oder aber Rechtsfragen in einer Breite entscheiden, die der jeweilige Fall nicht gebietet.
a) Nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch bei faktischen Duldungszwängen Zu den dynamischsten Entwicklungen des Haftungsrechts in den letzten Jahrzehnten gehört die durch den Bundesgerichtshof vorgenommene Erweiterung des Ausgleichsanspruchs aus § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB zu einer umfassenden 413 R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (15 f.). 414 Siehe R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (15 f.) in Fn. 25. 415 Eingehend zu verschiedenen Spielarten von obiter dicta und zu ihrem rechtlichen Status Schlüter, Das Obiter dictum, 1973.
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Haftungsnorm für so genannte faktische Duldungszwänge. Nach seinem Wortlaut sieht § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB eine Kompensation für Immissionen vor, die der Betroffene nach den Maßstäben des § 906 Abs. 2 Satz 1 BGB dulden muss. Im Laufe der Zeit stellte sich jedoch die Frage, ob ein Ersatz für Einwirkungen verschiedenster Art, welche die in § 906 Abs. 2 Satz 1 BGB festgelegten Rechtmäßigkeitsgrenzen überschreiten, nur nach deliktischen Vorschriften erfolgen kann und somit in aller Regel ein Verschulden des Schädigers voraussetzt oder ob in diesen Fällen nicht a fortiori ein verschuldensunabhängiger Ausgleichsanspruch analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB eingreifen muss. Nachdem die Rechtsprechung eine solche Erstreckung des § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB zunächst noch abgelehnt hatte,416 wurde mit der Entscheidung BGHZ 72, 289 aus dem Jahr 1978 eine Wende eingeleitet. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um Gebäudeschäden, die durch Straßenbauarbeiten entstanden waren. Diese Arbeiten gingen auf die beklagte Stadt zurück, wurden aber zumindest zum Teil durch selbstständige Bauunternehmer ausgeführt, für die die Beklagte nicht nach § 831 BGB haftete. Der Bundesgerichtshof entschied jedoch, dass ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch in Erweiterung des § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB immer dann gegeben sei, wenn von der privatwirtschaftlichen Nutzung eines Grundstücks schädigende Einwirkungen auf ein anderes Grundstück ausgehen, die den betroffenen Eigentümer unzumutbar belasten, die er aber aus besonderen Gründen nicht abzuwehren vermag.417 Als derartige „besondere Gründe“ wurden in der betreffenden Entscheidung angesehen, dass der geschädigte Eigentümer auf eine sachgerechte Ausführung der Bauarbeiten habe vertrauen dürfen und dass für ihn unklar gewesen sei, ob er gegen drohende Beeinträchtigungen auf dem Zivil- oder Verwaltungsrechtsweg habe vorgehen müssen.418 Diese Entscheidung erging vor dem Hintergrund, dass für rechtswidrige hoheitliche Eingriffe in Eigentumspositionen, die dem Betroffenen in ihrer tatsächlichen Wirkung ein besonderes Opfer auferlegen, seit der Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahr 1952 ein verschuldensunabhängiger Ausgleichsanspruch anerkannt war.419 Gerade in Konstellationen, in denen sich eine staatliche Tätigkeit – wie die Straßenbauarbeiten in der Entscheidung BGHZ 72, 289 – im Grenzbereich von öffentlichem Recht und Privatrecht bewegt, erschien somit eine Synchronisierung der Haftungsmaßstäbe wünschenswert.420 416 Siehe hierzu die Nachweise bei Maultzsch, Zivilrechtliche Aufopferungsansprüche und faktische Duldungszwänge, 2006, S. 27. 417 BGHZ 72, 289 (291 f.). 418 BGHZ 72, 289 (294 f.). 419 BGHZ (GS) 6, 270. 420 Vgl. Deneke, Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, 1987, S. 168 f.; Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989, S. 222; Hagen, Festschrift Lange, 1992, S. 483 (505 f.).
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Da der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1978 die Erweiterung des § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB aber nicht auf diesen spezifischen Kontext beschränkt hatte, war es zwei Folgeentscheidungen aus dem Jahr 1982421 und dem Jahr 1984422 möglich, bereits von einem allgemeinen Rechtssatz auszugehen, nach dem in Nachbarrechtsverhältnissen nicht nur für duldungspflichtige Einwirkungen ein verschuldensunabhängiger Ausgleichsanspruch besteht, sondern auch für solche rechtswidrigen Einwirkungen, die rein faktisch nicht abgewehrt werden konnten und die den Betroffenen über das zumutbare Maß hinaus belasten. In der Folge wurde dieser Entschädigungsanspruch für „faktische Duldungszwänge“ auf eine Vielzahl von Schadensverläufen angewandt, die von Bauschäden über grobkörperliche Immissionen bis hin zu Wasser- und Brandschäden reichen, ohne dass hierbei jeweils noch eine Auseinandersetzung damit erfolgt wäre, ob der jeweilige Fall im Sinne einer Analogie hinreichend mit der von § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB geregelten Konstellation vergleichbar ist.423 Diese umfassende Anwendung einer verschuldensunabhängigen Haftung in Nachbarrechtsverhältnissen drohte jedoch bald, die Strukturen des Haftungsrechts aufzuweichen, so dass die Rechtsprechung zu einem einschränkenden Gegensteuern gezwungen war. So wurde ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB unter dem Aspekt der Subsidiarität dieses Haftunginstituts nachfolgend in Konstellationen versagt, in denen seine Anwendung die spezifischen Grenzen der Gefährdungshaftungen aus § 22 Abs. 2 WHG a.F. (§ 89 Abs. 2 WHG n.F.)424 und aus § 114 BBergG425 zu nivellieren drohte. Auch für Wasserrohrbruchschäden, die zwischen zwei Mietern auf demselben Grundstück eintreten, nimmt der Bundesgerichtshof nun einen Vorrang des Deliktsrechts und damit einer verschuldensabhängigen Haftung an.426 In einer neuen Entscheidung wurde schließlich eine verschuldensunabhängige nachbarrechtliche Ausgleichspflicht des Bewohners eines Hausgrundstücks für das Abschießen einer Feuerwerksrakete, die auf einem Nachbargrundstück einen Brand auslöst, mit dem Argument verneint, dass die Zündung der Rakete keinen spezifischen Zusammenhang zu der Nutzung des betreffenden Grundstücks aufweise, sondern auch aus dem öffentlichen Raum hätte erfolgen können.427 Der ursprünglich rein abstrakt entwickelte Haftungsansatz des Bundesgerichtshofs ist folglich mittlerweile wieder eine differenzierteren, fallnäheren 421
BGHZ 85, 375. BGHZ 90, 255. 423 Überblick zur Entwicklung der Rechtsprechung bei Maultzsch, Zivilrechtliche Aufopferungsansprüche und faktische Duldungszwänge, 2006, S. 30 ff. 424 BGHZ 142, 227. 425 BGHZ 148, 39. 426 BGH, NJW 2004, 775. 427 BGH, NJW 2009, 3787. 422
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Betrachtung gewichen, die zugleich die Untauglichkeit des ursprünglichen Ansatzes einer abstrakten Normbildung belegt.
b) Erforderlicher Vertragsinhalt bei Ehegattenbürgschaften Infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlich gebotenen Inhaltskontrolle von Ehegattenbürgschaften aus dem Jahr 1993428 hatte der Bundesgerichtshof eine Vielzahl von Folgefragen zu klären. Hierzu zählte unter anderem das Problem, inwieweit eine Bürgschaft, die den bürgenden Ehegatten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses finanziell krass überfordert, unter Umständen deshalb für wirksam erachtet werden kann, weil die Gefahr einer Vermögensverlagerung von dem hauptschuldnerischen Ehegatten auf den bürgenden Ehegatten besteht oder weil eine Aussicht des bürgenden Ehegatten auf einen erheblichen Vermögenserwerb besteht. Hierzu hatte der Bundesgerichtshof im Jahr 1997 die folgenden Grundsätze herausgearbeitet:429 Eine Ehegattenbürgschaft sei unter den genannten Umständen möglicherweise nicht eo ipso unwirksam, weil ein legitimes Interesse des Gläubigers an dem Schutz vor Vermögensverlagerungen oder an der Verwertung neu erworbenen Vermögens bestehen könne. Jedoch begründe die Gefahr von Vermögensverlagerungen zumindest so lange keinen fälligen Bürgschaftsanspruch gegen den Ehegatten, wie eine solche Verlagerung nicht stattgefunden habe. Die Aussicht auf einen erheblichen Vermögenserwerb des bürgenden Ehegatten könne die Nichtigkeit nur ausschließen, soweit sie bei Abschluss des Bürgschaftsvertrags hinreichend konkret und nicht lediglich spekulativ sei. Zudem sei die Bürgschaft auch in einem solchen Fall wiederum erst fällig, wenn der Vermögenserwerb tatsächlich stattgefunden habe. Vor dem Hintergrund dieser Maßstäbe gelangte im Jahr 1998 dann das folgende Revisionsverfahren vor den Bundesgerichtshof:430 Die Beklagte hatte zugunsten der klagenden Sparkasse und zur Absicherung aller Verbindlichkeiten ihres Ehemannes aus der Geschäftsbeziehung zu der Klägerin im Jahr 1991 eine selbstschuldnerische Bürgschaft in Höhe von 1.000.000,– DM übernommen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt über kein eigenes Einkommen oder Vermögen verfügte. Jedoch besaß die Mutter der Beklagten Immobilieneigentum, aus dem sie der Beklagten im Jahr 1993 im Wege der vorweggenommenen Erbfolge je einen hälftigen Anteil an zwei Eigentumswohnungen übertrug. Eine der beiden Wohnungen wurde veräußert, woraus der Beklagten ein Erlös von 168.000,– DM zufloss. Hiervon überwies sie 150.000,– DM auf das Kontokorrentkonto ihres Ehemanns bei der Klägerin. Im Jahr 1994 kündigte die Klägerin die Geschäfts-
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BVerfGE 89, 214; dazu bereits oben § 3 X 1, S. 87 f. Siehe BGHZ 134, 325 (328 ff.). BGH, NJW 1999, 58.
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verbindung zu dem Hauptschuldner und nahm die Beklagte aus der Bürgschaft in Höhe von 1.000.000,– DM in Anspruch. Der Bundesgerichtshof hielt dieses Begehren jedoch für unbegründet, da die Übernahme der Bürgschaft die Beklagte finanziell krass überfordert habe und auch nicht durch das Ziel der Vermeidung von Vermögensverlagerungen oder die Einbeziehung eines künftigen Vermögenserwerbs in die Haftungsmasse gerechtfertigt sei.431 Für die Klägerin habe zum Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme im Rahmen der Geschäftsbeziehung mit dem Ehemann aufgrund anderweitiger Sicherheiten nur ein ungesichertes Kreditrisiko in Höhe von 150.000,– DM bestanden. Deshalb habe für eine Bürgschaft über 1.000.000,– DM zum Schutz vor Vermögensverlagerungen damals kein legitimes Interesse bestanden. Schließlich habe bei Abschluss des Bürgschaftsvertrags auch für einen Vermögenserwerb der Beklagten von ihrer Mutter in der Größenordnung von 1.000.000,– DM kein hinreichend konkreter Anhaltspunkt bestanden, so dass die Bürgschaft auch unter diesem Aspekt nicht aufrechterhalten werden könne. Somit war die Klage bereits nach Maßgabe der im Jahr 1997 durch den Bundesgerichtshof entwickelten Maßstäbe abzuweisen. Jedoch führte der Bundesgerichtshof in seinem neuen Urteil weiterhin aus, dass er für ab dem 1. Januar 1999 abgeschlossene Verträge das Risiko von Vermögensverlagerungen bzw. die Möglichkeit eines nachträglichen Vermögenserwerbs des bürgenden Ehegatten nicht mehr automatisch als mögliche Gründe für die Wirksamkeit der Bürgschaft berücksichtigen werde. Vielmehr seien diese Umstände im Rahmen des Sittenwidrigkeitsurteils nur noch relevant, sofern der Haftungszweck in dem Bürgschaftsvertrag ausdrücklich auf diese Konstellationen beschränkt werde.432 Für diese Sichtweise mögen vor allem angesichts des Formerfordernisses des § 766 BGB, das den gesamten Inhalt des Vertrags erfasst,433 sachlich gute Gründe sprechen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die damit verbundene Abweichung von der Entscheidung aus dem Jahr 1997 zur Entscheidung des anhängigen Verfahrens nicht geboten war und somit obiter dictum erfolgte. In dem hier behandelten Urteil des Bundesgerichtshofs zeigt sich somit deutlich der Impetus, eine wichtige Rechtsfrage für die Zukunft abstrakt zu klären. Die daraus folgende Diskrepanz zwischen dem streitentscheidenden und dem normbildenden Inhalt des Urteils wird auch äußerlich deutlich sichtbar, da die Ausführungen zu dem Erfordernis einer vertraglichen Fixierung des beschränkten Haftungszwecks erst in einem gesonderten „Hinweis“ erfolgten. Dieser wurde durch das Gericht nach dem Abschluss der Entscheidungsbegründung für das konkrete Verfahren am Ende des Urteils angefügt, entspre431
BGH, NJW 1999, 58 (59 f.). BGH, NJW 1999, 58 (60) – IX. Zivilsenat. Die zeitliche Beschränkung auf ab dem 1. Januar 1999 abgeschlossene Bürgschaftsverträge wurde später durch den XI. Zivilsenat aufgegeben: BGHZ 151, 34 (40 f.). 433 Statt aller Habersack, MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2009, § 766 Rdnr. 13 m.w.N. 432
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chend der normbildenden Zielrichtung aber mit einem eigenen Leitsatz bedacht.
c) Agenturgeschäfte im Gebrauchtwagenhandel Zu den bereits frühzeitig ergangenen Urteilen zum neuen Kaufrecht zählt die Entscheidung BGH, NJW 2005, 1039, die sich mit so genannten Agenturgeschäften im Gebrauchtwagenhandel beschäftigt. Bei derartigen Agenturgeschäften verkauft ein Kraftfahrzeughändler einen Gebrauchtwagen, den er von einem Privaten in Zahlung genommen hat, nicht im eigenen Namen an einen dritten Verbraucher weiter, sondern tritt bei dem Weiterverkauf lediglich als Vertreter des andienenden Privaten auf und bewirkt auf diesem Wege einen Verkauf des Fahrzeugs von privat an privat. Dieser Vertrag unterfällt daher an sich nicht dem Anwendungsbereich der Schutzvorschriften über den Verbrauchsgüterkauf aus den §§ 474 ff. BGB. Es stellt sich jedoch das Problem, ob und gegebenenfalls mit welchen Konsequenzen die Konstruktion des Agenturgeschäfts eine Umgehung der Schutzvorschriften des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne des § 475 Abs. 1 Satz 2 BGB darstellt, da die Voraussetzungen des § 474 Abs. 1 Satz 1 BGB erfüllt gewesen wären, wenn der Händler das Fahrzeug nicht als Stellvertreter, sondern im eigenen Namen weiterverkauft hätte. In dem Sachverhalt, welcher der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zugrunde lag, erwarb der Kläger als Verbraucher auf dem Geschäftsgelände des Beklagten ein gebrauchtes Coupé. Der Kaufvertrag wies nicht den Beklagten als Verkäufer aus, sondern einen privaten Dritten, der das Fahrzeug über den Beklagten verkaufen lassen wollte. Die Sachmängelrechte des Klägers waren in dem Vertrag weit gehend ausgeschlossen, im Gegenzug wurde dem Kläger eine separate Garantie für die wesentlichen Fahrzeugkomponenten durch eine M-GmbH gewährt. Der Kläger finanzierte den Kaufpreis zum überwiegenden Teil durch ein Bankdarlehen, das der Beklagte ihm vermittelte und das direkt an den Beklagten ausgezahlt wurde. Nach einigen Wochen erklärte der Kläger gegenüber dem Beklagten wegen Mängeln in der Fahrzeugelektronik, deren Beseitigung der Beklagte abgelehnt hatte, den Rücktritt von dem Kaufvertrag. Der Kläger begehrte nun von dem Beklagten die Rückerstattung eines bereits entrichteten Kaufpreisanteils sowie die Freistellung von den Darlehensverbindlichkeiten gegenüber der Bank. Die Klage konnte aufgrund des erklärten Rücktritts von dem Kaufvertrag (§§ 437 Nr. 2, 323 BGB) nur dann Erfolg haben, wenn der Beklagte als Verkäufer des Fahrzeugs anzusehen war und damit die Mangelfreiheit des Fahrzeugs im Sinne der §§ 433 Abs. 1 Satz 2, 439 BGB schuldete. Aufgrund der gewählten Konstruktion eines Agenturgeschäfts konnte dies nur der Fall sein, wenn die Voraussetzungen einer Gesetzesumgehung nach § 475 Abs. 1 Satz 2 BGB vorlagen und infolgedessen der Beklagte entgegen der vertraglichen Vereinbarung
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als Vertragspartner des Klägers anzusehen war. Insoweit stellte der Bundesgerichtshof zunächst klar, dass die Konstruktion eines Agenturgeschäfts im Gebrauchtwagenhandel nicht per se die Voraussetzungen des § 475 Abs. 1 Satz 2 BGB erfülle.434 Er nahm jedoch im Anschluss an eine im Schrifttum entwickelte Meinung an, dass ein Umgehungsgeschäft vorliege, wenn nicht der verkaufende Private, sondern der Händler die wirtschaftlichen Risiken des Geschäfts trage, insbesondere wenn er dem privaten Verkäufer einen Mindestabsatzpreis garantiert habe.435 Derartige Umstände lagen jedoch in dem zu entscheidenden Sachverhalt nicht vor, so dass dem Kläger gegenüber dem Beklagten kein Rücktrittsrecht zustand. Die Aussage des Bundesgerichtshofs, dass ein Agenturgeschäft dann zu einer Gesetzesumgehung führe, wenn bei einer wirtschaftlichen Betrachtung ein Eigengeschäft des vertretenden Händlers vorliege, ist einerseits in der Literatur umstritten.436 Andererseits bedurfte es dieser normbildenden Konkretisierung des § 475 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Entscheidung des Rechtsstreits nicht, da die Voraussetzungen eines wirtschaftlichen Eigengeschäfts gerade nicht vorlagen. Es handelt sich somit um eine von dem zu entscheidenden Fall losgelöste Normbildung durch ein obiter dictum.437
d) Nachlieferung bei mangelhaften Stücksachen In der Entscheidung BGHZ 168, 64 ging es um die Grenzen der Nachlieferung gemäß § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB bei mangelhaften Stücksachen. Der private Kläger hatte von der beklagten Automobilherstellerin ein Gebrauchtfahrzeug gekauft, das er vor dem Abschluss des Vertrags in einer Niederlassung der Beklagten besichtigt hatte. In dem Kaufvertrag war das Fahrzeug als unfallfrei bezeichnet, was jedoch nicht zutraf, da der Wagen einen erheblichen Vorschaden aufwies. In Bezug auf einen Rücktritt des Klägers von dem Kaufvertrag nach §§ 326 Abs. 5, 437 Nr. 2 BGB kam es für die Entbehrlichkeit einer Nachfristsetzung darauf an, ob der Beklagten eine Nacherfüllung im Sinne des § 275 Abs. 1 BGB unmöglich war oder ob der Kläger der Beklagten die Gelegenheit hätte geben müssen, ihm ersatzweise einen vergleichbaren Gebrauchtwagen zu liefern. Hierzu hatte sich in der Literatur bereits frühzeitig nach dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform eine Kontroverse entwickelt. Nach einer Auffassung scheidet bei Vorliegen einer Stückschuld, wie hier des individualisierten Gebraucht434
BGH, NJW 2005, 1039 (1040). BGH, NJW 2005, 1039 (1040). 436 Befürwortend unter anderen Bamberger/Roth/Faust, BGB, 2. Aufl. 2007, § 474 Rdnr. 7; Katzenmeier, NJW 2004, 2632 (2633); Staudinger/Matusche-Beckmann (2004), BGB, § 475 Rdnr. 45 ff.; ablehnend unter anderen Grunewald, Kaufrecht, 2006, § 3 Rdnr. 32; Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 3. Aufl. 2007, § 2 Rdnr. 519 ff. 437 Siehe bereits Maultzsch, ZGS 2005, 175 (178). 435
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wagens, eine Nachlieferung gemäß § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB kategorisch aus, weil nach dem Wesen einer Stückschuld nur der konkrete Vertragsgegenstand erfüllungstauglich sei.438 Nach einer anderen, sich in Detailfragen weiter ausdifferenzierenden Auffassung reicht das bloße Vorliegen einer Stückschuld nicht hin, um die Lieferung einer Ersatzsache stets als unmöglich im Sinne des § 275 Abs. 1 BGB anzusehen.439 Vielmehr müsse berücksichtigt werden, ob die Konkretisierung auf ein bestimmtes Stück bei Vertragsschluss rein zufällig gewesen sei oder ob sie für die Parteien einen materialen Gehalt gehabt habe, der potentielle Ersatzstücke nicht als erfüllungstauglich erscheinen lasse, selbst wenn diese derselben Gattung angehören. Nur in letzterem Fall sei eine Unmöglichkeit der Nacherfüllung mit der Folge eines sofortigen Rücktrittsrechts anzuerkennen. Der Bundesgerichtshof ging davon aus, dass in dem zu beurteilenden Fall eine „materiale“ Konkretisierung des Vertragsgegenstands vorlag, da der Kläger den Gebrauchtwagen vor dem Kauf inspiziert habe und daher die ersatzweise Lieferung eines anderen Fahrzeugs nicht akzeptieren müsse, selbst wenn dieses objektiv dieselben Eigenschaften (Typ, Farbe, Ausstattung, Laufleistung) aufweisen sollte.440 Obwohl somit nach allen denkbaren Auffassungen in dem konkreten Fall eine Nachlieferung an § 275 Abs. 1 BGB scheitern musste, beschränkte sich der Bundesgerichtshof nicht auf diese Feststellung, sondern entschied unter umfangreicher Bezugnahme auf den Streitstand im Schrifttum darüber hinaus, dass bei einer fehlenden materialen Konkretisierung das bloße Vorliegen einer Stückschuld nicht zu einer Unmöglichkeit der Nachlieferung führe, wenn die Sache durch ein mangelfreies „gleichartiges und gleichwertiges“ Stück ersetzt werden könne, was insbesondere bei Stückkäufen über Neuwaren in Betracht komme, bei denen der Käufer kein besonderes Interesse an dem Erwerb eines bestimmten Gegenstands habe.441 Mit dieser Befürwortung der materialen gegenüber der formalen Konkretisierungslösung mag das Gericht eine interessante Streitfrage für die Zukunft geklärt haben. Durch das anhängige Revisionsverfahren war dies jedoch nicht geboten und hätte dahinstehen können, weil wie dargelegt jedenfalls eine materiale Konkretisierung auf den besichtigten Gebrauchtwagen vorlag.
438 So unter anderem Ackermann, JZ 2002, 378 (379 ff.); Bamberger/Roth/Faust, BGB, 2. Aufl. 2007, § 439 Rdnr. 27 f.; S. Lorenz, JZ 2001, 742 (744). 439 So unter anderem Canaris, JZ 2003, 831 (835); Bitter/Meidt, ZIP 2001, 2114 (2119 f.); Grunewald, Kaufrecht, 2006, § 9 Rdnr. 45; Oetker/Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse, 3. Aufl. 2007, § 2 Rdnr. 202 ff.; H.P. Westermann, MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2008, § 439 Rdnr. 11. 440 BGHZ 168, 64 (73 ff.). 441 BGHZ 168, 64 (71 ff.).
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XII. Die Einflüsse der Europäisierung des Rechts 1. Grundlagen Die zunehmende Europäisierung des deutschen Rechts bewirkt vor allem in zweierlei Hinsicht eine Stärkung des normbildenden Mandats der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Dies gilt einerseits für den erweiterten Interpretations- und Rechtsfortbildungsspielraum, den die Rechtsprechung zur Harmonisierung des deutschen Rechts mit europarechtlichen Vorgaben für sich in Anspruch nimmt (a). Andererseits geht es um die Eigengesetzlichkeiten des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV (b).
a) Erweiterte Normbildungsspielräume Die Anwendung privatrechtlicher Regelungen, die in Umsetzung europäischer Richtlinien ergangen sind, führt zu einem erheblich erweiterten Spielraum des Bundesgerichtshofs bei Interpretationen und Rechtsfortbildungen und somit zu einer verstärkten Normbildung. Ausgangspunkt ist hierbei die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, nach der die nationalen Gerichte verpflichtet sind, die volle Wirksamkeit des Europarechts sicherzustellen und daher bei der richtlinienkonformen Anwendung des mitgliedsstaatlichen Rechts den gesamten Spielraum ausnutzen müssen, den ihnen die nationale Rechtsmethodik zur Verfügung stellt.442 Eine Überschreitung der nationalen Rechtsanwendungs- und Rechtsfortbildungsgrenzen ist dabei allerdings europarechtlich nicht geboten.443 Diese Grenze hat in der Literatur zu einer restriktiven Auffassung geführt, nach der sich der Prozess der europarechtskonformen Interpretation in einem zweistufigen Verfahren zu vollziehen habe.444 Auf einer ersten Stufe müsse das deutsche Gericht prüfen, welche Interpretationen die gesetzliche Vorschrift nach den tradierten nationalen Methoden der Rechtsanwendung erfahren könne. Nur soweit hierbei ein Spielraum verbleibe, sei auf einer zweiten Stufe aus den denkbaren Auslegungen die europarechtskonforme zu wählen. Nach dieser Sichtweise erweitert die richtlinienkonforme Interpretation mithin nicht die Interpretationsspielräume der Rechtsprechung, sondern stellt lediglich eine Vorzugsregelung im Fall mehrerer Interpretationsmöglichkeiten dar. 442 Grundlegend EuGH, Rs. 14/83 (von Colson), Slg. 1984, 1891 sowie EuGH, Rs. C397/01 bis C-403/01 (Pfeiffer u.a.), Slg. 2004, I-8835. 443 EuGH, Rs. C-212/04 (Adeneler), Slg. 2006, I-6057, Rdnr. 110 sowie weiterführend Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, § 1 Rdnr. 89 ff. 444 Exemplarisch Canaris, Festschrift Bydlinski, 2002, S. 47 (67 ff.); Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 272 ff.; Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, § 1 Rdnr. 89.
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Diese an einer weit gehenden Erhaltung der Richterbindung interessierte Auffassung hat sich jedoch weder in der wissenschaftlichen Diskussion noch in der Rechtsprechungspraxis durchgesetzt.445 So sieht sich der Bundesgerichtshof nicht durch ein zweistufiges Verfahren gebunden, sondern nimmt die europarechtlichen Vorgaben unmittelbar in den Blick. Im Ergebnis treibt er dabei die europarechtskonforme Interpretation sehr weit, indem er sie auch gegen den klaren Wortlaut und die klare Regelungsabsicht des Gesetzgebers zulässt, wenn nur der Gesetzgeber mit seiner Regelung zugleich auch den Willen hatte, die entsprechenden europarechtlichen Vorgaben korrekt umzusetzen. Hierdurch wird die Verwirklichung des europäischen Sekundärrechts mittels einer gedehnten subjektiv-teleologischen Interpretation bereits in das nationale Methodeninstrumentarium eingeflochten. Dieser Ansatz hat sich insbesondere in dem Revisionsverfahren zur Frage des Nutzungsersatzes bei der Lieferung mangelhafter Verbrauchsgüter widergespiegelt, das unten noch näher behandelt wird.446 Für die weit gehende Implementierung europarechtlicher Vorgaben im Wege der richterlichen Normbildung mag dabei das pragmatische Argument sprechen, dass der Gesetzgeber im Zweifel ohnehin an einer europarechtskonformen Regelung interessiert sei und diese daher ohne einen unzulässigen Übergriff in die Entscheidungshoheit der Legislative quasi vorweggenommen werden könne.447 Die Überdehnung des nationalen Methodeninstrumentariums dient in diesem Sinne dem Zweck, das unliebsame Verdikt eines Verstoßes des nationalen Rechts gegen europäische Vorgaben zu vermeiden.448 Unabhängig davon, wie dieser Gesichtspunkt im Ergebnis zu bewerten ist, führt er jedoch zu einer Zurückdrängung der Ordnungsfunktion des nationalen Privatrechts449 und, im Zusammenspiel mit dem sogleich zu behandelnden Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV, zu einer deutlich ausgeweiteten Normbildung der Zivilrechtsprechung.
b) Einflüsse des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV Sofern sich im Rahmen eines nationalen Rechtsstreits eine Frage der Auslegung des primären oder sekundären Europarechts stellt, ist das entscheidende Gericht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, diese Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn seine Entscheidung 445
Vgl. G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 6/48 ff. m.w.N. Siehe unten § 3 A XII 2, S. 115 ff. 447 Siehe Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 (52). Ein Versuch der normativen Rechtfertigung dieser faktischen Weiterungen durch den Gedanken einer „integrierten Staatlichkeit“ findet sich bei Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 300 ff. 448 Vgl. G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 6/81. 449 Kritisch vor diesem Hintergrund auch G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 7/114. 446
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nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann. Letzteres trifft insbesondere für die Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs zu.450 Gegenstand der Vorlage ist jedoch nicht die Anwendung des Europarechts auf den jeweiligen Streitfall. Eine solche Rechtsanwendung auf den Einzelfall ist dem Europäischen Gerichtshof gerade entzogen.451 Zwar können dem Europäischen Gerichtshof nur solche Fragen vorgelegt werden, die aus Sicht des vorlegenden, nationalen Gerichts entscheidungserheblich sind.452 Die Vorlage als solche zielt aber auf eine „sachverhaltsgelöste, abstrakte Verdeutlichung von Inhalt und Bedeutung […] des Gemeinschaftsrechts“ ab.453 Die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens besteht somit nicht in der Klärung europarechtlicher Fragen durch die Verwirklichung konkreter privater Rechte im Wege einer Streitentscheidung, sondern in der abstrakten Konkretisierung des Europarechts zur Sicherstellung einer einheitlichen Anwendungspraxis in allen Mitgliedsstaaten.454 Diese Entkoppelung zwischen Rechtsstreit und richterlicher Normbildung auf der Ebene des Europäischen Gerichtshofs wirkt im Zusammenhang mit Art. 267 AEUV nun aber nahezu notwendig auf die Behandlung zurück, die der betreffende Anlassrechtsstreit auf der Ebene des Bundesgerichtshofs als dem letztinstanzlichen nationalen Gericht erfährt. Denn zur ordnungsgemäßen Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens, insbesondere zur Formulierung einer zulässigen Vorlagefrage, ist der Bundesgerichtshof seinerseits gezwungen, sich von den konkreten Besonderheiten des Revisionsrechtsstreits zu lösen und aus diesem eine abstrakte Frage der Auslegung des Europarechts zu generieren. Gelegentlich hat der Europäische Gerichtshof Vorlagefragen, die sich zu stark auf die konkrete Anwendung des Europarechts in dem jeweiligen Rechtsstreit bezogen, sogar als unzulässig verworfen.455 Ein derartiges Vorgehen befördert umgekehrt wiederum die Neigung der nationalen Gerichte, in 450
Statt aller BGH, NJW 2006, 3200 (3202). EuGH, verb. Rs. 28–30/62 (Da Costa), Slg. 1963, 63 (81); Rs. 222/78 (ICAP), Slg. 1979, 1163 Rdnr. 10 ff.; Rs. C-203/99 (Veedfald), Slg. 2001, I-3569 Rdnr. 31 ff.; Schwarze/Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rdnr. 13, 17; kritisch Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 271 ff. 452 Siehe EuGH, Rs. C-379/98 (Preussen Elektra), Slg. 2001, I-2099 Rdnr. 39; Rs. C-390/99 (Canal Satélite Digital), Slg. 2002, I-607 Rdnr. 19. 453 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 331; ähnlich EuGH, Rs. C-453/00 (Kühne & Heitz), Slg. 2004, I-837 Rdnr. 21; Schwarze/Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rdnr. 17. 454 EuGH, Rs. 166/73 (Rheinmühlen), Slg. 1974, 33 Rdnr. 2; Rs. 107/76 (Hoffmann La Roche), Slg. 1977, 957 Rdnr. 5; Bork, RabelsZ 66 (2002), 327 (349); Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts, 1998, S. 175 ff.; Hess, RabelsZ 66 (2002), 470 (472 ff.); ders., ZZP 108 (1995), 59 (63 ff.); Schwarze/Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rdnr. 2 sowie kritisch Basedow, AcP 210 (2010), 157 (192 f.). 455 EuGH, Rs. C-203/99 (Veedfald), Slg. 2001, I-3569 Rdnr. 31 ff.; siehe auch EuGH, Rs. C-366/96 (Cordelle), Slg. 1998, I-583 Rdnr. 9. 451
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Verfahren, die potentiell auf eine Vorlage nach Art. 267 AEUV hinauslaufen, die abstrakte Klärung des Europarechts gegenüber den streitentscheidenden Erwägungen in den Vordergrund zu rücken. Im Ergebnis führt dies nicht selten dazu, dass Vorlagebeschlüsse weniger einem gezielten Vorantreiben des jeweiligen Rechtsstreits dienen, sondern vielmehr einer als Selbstzweck verstandenen Klärung und Vereinheitlichung des Europarechts. Hinter einem solchen Vorgehen mag zwar die pragmatische Erwägung stehen, dass andere Wege zu einer Klärung der europarechtlichen Rechtslage, wie insbesondere ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 259 AEUV oder ein Staatshaftungsprozess wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung, als schwerfällig und unbefriedigend erscheinen.456 Dies ändert jedoch nichts an der erheblichen Funktionsverschiebung zugunsten der Normbildung, die hiermit für die höchstrichterliche Rechtsprechung verbunden ist.
2. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Nutzungsersatz bei Nachlieferung Als europarechtlich induziertes Beispiel für einen Zivilprozess, in dem der Bundesgerichtshof die normbildende Funktion gegenüber der streitentscheidenden Funktion eindeutig in den Vordergrund gerückt hat, sei das Verfahren zur Frage des Nutzungsersatzes bei einer Nachlieferung gemäß § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB angeführt. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte eine Verbraucherin bei dem beklagten Versandhandelsunternehmen einen Backofen zum Preis von 524,90 Euro erworben, der im August 2002 geliefert wurde. Im Januar 2004 löste sich an der Innenseite des Herds die Emailleschicht ab, was die Beklagte als Fall eines Sachmangels anerkannte. Der Backofen wurde vereinbarungsgemäß ausgetauscht, jedoch forderte die Beklagte von der Käuferin einen Wertersatz für die Nutzung des alten Herds in Höhe von zuletzt 69,97 Euro. Diesen Betrag entrichtete die Käuferin, sie ermächtigte jedoch den Kläger, einen Verbraucherverband, zur Geltendmachung eines etwaigen Rückzahlungsanspruchs gegen die Beklagte. Dieser Rückzahlungsanspruch war der maßgebliche Gegenstand des Revisionsverfahrens. Die Käuferin hätte einen Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB gehabt, wenn sie für die Nutzung des alten Backofens von August 2002 bis Januar 2004 keinen Wertersatz geschuldet hätte. Die Beklagte berief sich zur Begründung des Nutzungsersatzanspruchs auf § 439 Abs. 4 BGB. Diese Norm verweist für die Abwicklung einer Nachlieferung im Sinne des § 439 456 Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 332; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 256; T. Pfeiffer, NJW 2009, 412 (413); Schulte-Nölke/Busch, Festschrift Canaris, Band II, 2007, S. 795 (804 f.); zu diesem Zusammenhang auch Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 269 ff.
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Abs. 1 Alt. 2 BGB auf die §§ 346 bis 348 BGB aus dem Rücktrittsrecht. Nach § 346 Abs. 1 BGB muss der Käufer nicht nur die mangelhafte Sache zurückgewähren, sondern auch die gezogenen Nutzungen herausgeben bzw. in Geld vergüten. Eine Nutzungsersatzpflicht desjenigen, der aufgrund eines Mangels eine Nachlieferung verlangt, war jedoch in der wissenschaftlichen Diskussion unter zwei verschiedenen Aspekten bestritten worden: Zum einen wurde argumentiert, die Nutzungsersatzpflicht führe zu einer willkürlichen Schlechterstellung desjenigen, der eine Nachlieferung begehre, gegenüber demjenigen, der wegen des Mangels von dem Kaufvertrag zurücktrete. Denn nur der Zurücktretende erhalte seinerseits den Kaufpreis mit Zinsen zurückerstattet. Der Nachlieferung Begehrende, der seinerseits den Kaufpreis endgültig an den Verkäufer entrichtet habe, dürfe daher umgekehrt auch nicht für die Nutzung der mangelhaften Sache Ersatz schulden.457 Zum anderen wurde für den Fall von Verbrauchsgüterkäufen im Sinne des § 474 Abs. 1 BGB bezweifelt, ob die Nutzungsersatzpflicht mit den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie458 vereinbar sei. Von einer solchen Vereinbarkeit war zwar der deutsche Gesetzgeber in den Materialien zu § 439 Abs. 4 BGB ausdrücklich ausgegangen.459 Nach Art. 3 Abs. 2 bis 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie muss die Herstellung des vertragsgemäßen Zustands durch eine Nachlieferung für den Verbraucher aber unentgeltlich und ohne erhebliche Unannehmlichkeiten erfolgen. Diese Vorgaben sah eine häufig vertretene Auffassung durch die Nutzungsersatzpflicht als verletzt an.460 Der Bundesgerichtshof setzte sich mit der Problematik des Nutzungsersatzes in dem besagten Verfahren zunächst im Rahmen eines Vorlagebeschlusses an den Europäischen Gerichtshof auseinander.461 Auf diesen Vorlagebeschluss entschied der Europäische Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens, dass die Nutzungsersatzpflicht bei Verbrauchsgüterkäufen nicht mit den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie vereinbar ist.462 Daraufhin nahm der Bundesgerichtshof in seinem abschließenden Urteil an, dass auch § 439 Abs. 4 BGB aufgrund einer europarechtskonformen teleologischen Reduktion bei Verbrauchsgüterkäufen nicht zu einer Nutzungsersatzpflicht des Verbrauchers im Fall der Nachlieferung führe.463 Dieses Ergebnis griff schließlich der Gesetzgeber mit Wirkung ab dem 16. Dezember 2008 in § 474 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F. auf. 457
Siehe die Nachweise in BGH, NJW 2006, 3200 (3200 f.). Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. EG Nr. L 171 vom 7. Juli 1999, S. 12 ff. 459 BT-Drucks. 14/6040, S. 233. 460 Siehe die Nachweise in BGH, NJW 2006, 3200 (3201 f.). 461 BGH, NJW 2006, 3200. 462 EuGH, Rs. C-404/06 (Quelle), Slg. 2008, I-2685. 463 BGHZ 179, 27 (34 ff.) in Rdnr. 21 ff. 458
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In dem vorliegenden Zusammenhang des Verhältnisses von Streitentscheidung und Normbildung sind dabei weniger die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und das abschließende Urteil des Bundesgerichtshofs von Interesse, als vielmehr dessen Vorlagebeschluss. In diesem Beschluss teilte das Gericht zunächst grundsätzlich die Bedenken der Auffassung, die in der Nutzungsersatzpflicht eine unangemessene, einseitige Belastung des Käufers erblickte, der bereits für die Lieferung des mangelhaften Gegenstands den Kaufpreis entrichtet habe.464 Der Bundesgerichtshof sah sich jedoch auf nationalrechtlicher Grundlage außer Stande, dieses gewünschte Ergebnis methodengerecht zu begründen. Denn nicht nur der klare Wortlaut des § 439 Abs. 4 BGB führe zu einer Nutzungsersatzpflicht, sondern auch der – nicht durch einen erheblichen Zeitablauf oder eine gravierende Änderung gesellschaftlicher Umstände relativierte – Wille des Gesetzgebers.465 Dieser hatte, wie bereits dargelegt, in den Gesetzgebungsmaterialien die Nutzungsersatzpflicht auch für den Fall der Nachlieferung ausdrücklich als angemessen erachtet.466 Daher, so der Bundesgerichtshof unter Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG, sei eine einschränkende Anwendung des § 439 Abs. 4 BGB nicht möglich. Er wies jedoch auf dieser Grundlage die Klage auf Rückzahlung des Nutzungsersatzes nicht ab, sondern legte gleichwohl dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 234 EGV (jetzt: Art. 267 AEUV) die Frage vor, ob eine Regelung, die den Verbraucher zu einem Ersatz für die Nutzung des gelieferten und später ausgetauschten mangelhaften Gegenstands verpflichtet, mit Art. 3 Abs. 2 bis 4 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie vereinbar ist. Die Bedeutung dieser Vorlage für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits blieb dabei jedoch unklar. Insbesondere ging der Bundesgerichtshof in seinem Vorlagebeschluss nicht darauf ein, ob und auf welchem Wege die etwaige Unvereinbarkeit der Nutzungsersatzpflicht mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie den Rückzahlungsanspruch der Beklagten in dem konkreten Rechtsstreit begründen würde. Nach Art. 234 EGV (jetzt: Art. 267 AEUV) kommt eine Vorlage im Vorabentscheidungsverfahren aber nur dann in Betracht, wenn das einzelstaatliche Gericht eine Entscheidung über die betreffende Rechtsfrage zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Insbesondere ist die Vorlage rein hypothetischer Fragen, zu deren Beantwortung der konkrete Rechtsstreit keinen Anlass bietet, unzulässig.467 Darüber, ob die Vorlage entscheidungserheblich ist, übt zwar der Europäische Gerichtshof keine volle Rechtskontrolle, sondern nur eine äußere Missbrauchsaufsicht aus, da diese Beurteilung maßgeblich von Fragen des na-
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BGH, NJW 2006, 3200 (3201). BGH, NJW 2006, 3200 (3201). 466 BT-Drucks. 14/6040, S. 232 f. 467 EuGH, Rs. C-379/98 (Preussen Elektra), Slg. 2001, I-2099 Rdnr. 39; Rs. C-390/99 (Canal Satélite Digital), Slg. 2002, I-607 Rdnr. 19. 465
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tionalen Rechts abhängt.468 Das vorlegende einzelstaatliche Gericht muss die Frage der Entscheidungserheblichkeit aber umfassend prüfen.469 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass der Bundesgerichtshof in dem Vorlagebeschluss noch keinerlei Rückschlüsse von einer etwaigen Europarechtswidrigkeit des Nutzungsersatzes auf die Rechtspositionen der Prozessparteien zog. Zwar sind die nationalen Gerichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet, die volle Wirksamkeit des Europarechts sicherzustellen und müssen daher bei der richtlinienkonformen Anwendung mitgliedsstaatlichen Rechts den gesamten Spielraum ausnutzen, den ihnen die nationale Rechtsmethodik zur Verfügung stellt.470 Eine Überschreitung der nationalen Rechtsanwendungs- und Rechtsfortbildungsgrenzen ist hingegen europarechtlich nicht geboten und daher unzulässig.471 Dabei hatte sich der Bundesgerichtshof, wie dargelegt, zunächst unter Bezugnahme auf Art. 20 Abs. 3 GG außer Stande gesehen, die Nutzungsersatzpflicht im Wege der Gesetzesinterpretation zu verneinen, da sowohl der Gesetzeswortlaut als auch der Wille des Gesetzgebers diese Ersatzpflicht geböten, wobei der Gesetzgeber die Ersatzpflicht in expliziter Auseinandersetzung mit den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie angeordnet hatte.472 Ein Vorlagebeschluss, der die streitentscheidende Funktion des Bundesgerichtshofs nicht gegenüber dem Ziel einer normbildenden Beurteilung des Nutzungsersatzes durch den Europäischen Gerichtshof in den Hintergrund gedrängt hätte, hätte daher Ausführungen dazu enthalten müssen, auf welchem Wege ein Judikat des Europäischen Gerichtshofs angesichts der Ausführungen des Bundesgerichtshofs zu den Grenzen der Rechtsanwendung aus Art. 20 Abs. 3 GG in die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits einfließen würde. Da die behandelte Rechtsfrage ein Privatrechtsverhältnis betraf und eine unmittelbare horizontale Wirkung von Richtlinien bisher nicht anerkannt ist,473 468 EuGH, Rs. C-145/03 (Keller), Slg. 2005, I-2529 Rdnr. 33 sowie Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 12 Rdnr. 20 f. m.w.N. 469 Statt aller Schwarze/Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rdnr. 35. 470 Grundlegend EuGH, Rs. 14/83 (von Colson), Slg. 1984, 1891 sowie EuGH, Rs. C-397/01 bis C-403/01 (Pfeiffer u.a.), Slg. 2004, I-8835. 471 EuGH, Rs. C-212/04 (Adeneler), Slg. 2006, I-6057, Rdnr. 110 sowie weiterführend Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, § 1 Rdnr. 89 ff. 472 BT-Drucks. 14/6040, S. 233 sowie bereits oben § 3 A XII 2, S. 116. 473 EuGH, Rs. C-91/92 (Faccini Dori), Slg. 1994, I-3325. Daran hat sich richtigerweise auch durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold (EuGH, Rs. C-144/04, Slg 2005, I-9981) nichts geändert. Dort ging es im Kern nicht um die unmittelbare Anwendung einer Richtlinie unter Privaten, sondern um die Wirkungen eines – durch den Europäischen Gerichtshof angenommenen – primärrechtlichen Diskriminierungsverbots wegen Alters (siehe EuGH, Rs. C-144/04, EuZW 2006, 17 [20]; dies verkennt Kreße, ZGS 2007, 215 ff. in seiner Diskussion der Auswirkungen der Mangold-Entscheidung für das hier in Rede stehende Vorlageverfahren; zutreffend hingegen Fischinger, EuZW 2008,
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konnte der Anwendungsvorrang des Europarechts als solcher nicht zu einem Ausschluss der Nutzungsersatzpflicht führen. Vielmehr war das Richtlinienrecht durch den Bundesgerichtshof nur in den Grenzen der Rechtsanwendung bzw. Rechtsfortbildung des § 439 Abs. 4 BGB berücksichtigungsfähig. Daher kam für das anhängige Verfahren allenfalls eine europarechtskonforme teleologische Reduktion des § 439 Abs. 4 BGB in Frage. Diese konnte sich wiederum nur auf den Gesichtspunkt stützen, dass der deutsche Gesetzgeber mit den §§ 437 ff. BGB im Allgemeinen und mit § 439 Abs. 4 BGB im Besonderen die Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie korrekt umsetzen wollte, dass er also einen so genannten Umsetzungswillen hatte. In der Tat beschritt der Bundesgerichtshof, nachdem der Europäische Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung die Unvereinbarkeit der Nutzungsersatzpflicht mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie festgestellt hatte, in seinem abschließenden Urteil diesen Weg und stützte eine teleologische Reduktion des § 439 Abs. 4 BGB auf den Willen des deutschen Gesetzgebers, die Richtlinie fehlerfrei umzusetzen.474 Jedoch war zum Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses durchaus umstritten, ob der Gedanke des Umsetzungswillens die konkrete Einschätzung des nationalen Gesetzgebers, nach der eine Vorschrift (hier: § 439 Abs. 4 BGB) mit den Richtlinienvorgaben übereinstimmt, für den Fall einer abweichenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs überformen und den deutschen Gerichten damit vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG zusätzliche Entscheidungsspielräume eröffnen kann.475 Eine stark vertretene Auffassung hatte dies verneint.476 Ein Vorrang des Umsetzungswillens vor dem konkreten gesetzgeberischen Regelungswillen – das heißt hier: vor der Anordnung einer Nutzungsersatzpflicht auch für Verbraucher – folgte auch keineswegs zwingend aus den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Pfeiffer, nach denen im Zweifel davon auszugehen ist, der Mitgliedsstaat
312 [313]; P. Schmidt, ZGS 2006, 408 f. m.w.N.). Das Primärrecht genießt anders als Richtlinienrecht auch im horizontalen Verhältnis einen Anwendungsvorrang gegenüber unvereinbaren nationalstaatlichen Regelungen; siehe G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 6/40. 474 BGHZ 179, 27 (34 ff.) in Rdnr. 21 ff. 475 So etwa Schulte-Nölke/Busch, Festschrift Canaris, Band II, 2007, S. 795 ff., 800 ff.; Witt, NJW 2006, 3322 (3325) mit Fn. 30 und wohl auch W.-H. Roth, Die richtlinienkonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, § 14 Rdnr. 29. Im Ergebnis ähnlich Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 330 f. sowie ders., NJW 2008, 2475 (2477), der die Unbeachtlichkeit des konkreten gesetzgeberischen Regelungswillens zwar nicht aus dem Gedanken eines Umsetzungswillens des historischen Gesetzgebers ableiten will, aber aus einem objektiven Normzweck des Umsetzungsgesetzes, der stets auf die europarechtlich zutreffende Umsetzung gerichtet sei. 476 Kritisch etwa Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 258; S. Lorenz, MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2008, Vor § 474 Rdnr. 20; Osterloh-Konrad, CR 2008, 545 (546 f.); Schürnbrand, JZ 2007, 910 (912 ff.).
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habe mit seiner Regelung die Absicht verfolgt, die betreffende Richtlinie in vollem Umfang zu verwirklichen.477 Denn damit war nicht gesagt, dass ein nationales Gericht auch einen tatsächlich geäußerten, wenn auch irrigen gesetzgeberischen Willen überspielen darf, nach dem die getroffene Regelung mit der Richtlinie vereinbar sei. Genauso lag die Problematik aber in dem hier behandelten Fall des § 439 Abs. 4 BGB, so dass der Bundesgerichtshof in seinem Vorlagebeschluss jedenfalls nähere Ausführungen hätte machen müssen, um über die Figur des Umsetzungswillens für den Fall eines entsprechenden Judikats des Europäischen Gerichtshofs die teleologische Reduzierbarkeit des § 439 Abs. 4 BGB und damit die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage zu begründen. An einer solchen argumentativen Verbindung ließ das Gericht es jedoch fehlen. Nachdem es unter einem Punkt 1 die Frage der Interpretationsfähigkeit des § 439 Abs. 4 BGB diskutiert und unter Berufung auf Art. 20 Abs. 3 GG zu Ungunsten der Verbraucher entschieden hatte, schloss sich ohne inhaltliche Verknüpfung unter Punkt 2 die europarechtliche Frage der Richtlinienkonformität an,478 bevor ganz zum Schluss und wiederum ohne Begründung der Entscheidungserheblichkeit die Schlussfolgerung gezogen wurde, der Rechtsstreit sei aufgrund der europarechtlichen Zweifel auszusetzen.479 In der Literatur ist der Bundesgerichtshof für dieses Vorgehen ganz überwiegend kritisiert und die Vorlage sogar als unzulässig angesehen worden.480 Der Beschluss vermittelte vielmehr den Eindruck, dass der Bundesgerichtshof mit seiner Vorlage ganz darauf fixiert war, dem Europäischen Gerichtshof eine abstrakte Entscheidung über die Vereinbarkeit der deutschen Gesetzeslage mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu ermöglichen. Die Rückwirkungen eines solchen Judikats auf die Entscheidung des anhängigen Rechtsstreits ließ der Bundesgerichtshof hingegen offen. Im konkreten Fall mag dieses Vorgehen durchaus auch im Sinne der Prozessparteien gewesen sein, da es sowohl dem 477
Siehe EuGH, Rs. C-397/01 bis C-403/01 (Pfeiffer u.a.), Slg. 2004, I-8835 Rdnr. 112. Vgl. BGH, NJW 2006, 3200 (3201): „Der Senat hat aber Zweifel, ob die Vorschrift des § 439 IV BGB in ihrer den Senat bindenden Auslegung mit der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufes und der Garantien für Verbrauchsgüter […] in Einklang steht […].“ 479 BGH, NJW 2006, 3200 (3202): „Die Entscheidung darüber, ob die Bestimmungen des Art. 3 II bis IV der Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie der in § 439 IV i.V. mit §§ 346 bis 348 BGB statuierten Verpflichtung des Verbrauchers entgegenstehen, dem Verkäufer im Falle der Ersatzlieferung Wertersatz für die Nutzung des ursprünglich gelieferten Verbrauchsgutes zu leisten, ist gemäß Art. 234 EG dem EuGH vorbehalten. Der Rechtsstreit ist daher auszusetzen, und die vorbezeichnete Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.“ 480 Siehe Fest, NJW 2005, 2959 (2961); Fischinger, EuZW 2008, 312 (313); S. Lorenz, NJW 2006, 3202 (3203); Rohlfing, GPR 2007, 80 (82); P. Schmidt, ZGS 2006, 408 ff.; Schürnbrand, JZ 2007, 910 (917); das Vorgehen des Bundesgerichtshofs billigend hingegen Herresthal, NJW 2008, 2475 (2476); Witt, NJW 2006, 3322 (3223); vermittelnd T. Pfeiffer, NJW 2009, 412 (413): „missverständlich formulierte Vorlage“. 478
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klagenden Verbrauchverband als auch dem beklagten Versandhaus wahrscheinlich weniger um den Ausgang dieses Falls, als vielmehr um die allgemeine Klärung der Nutzungsersatzpflicht ging. Es stand somit für beide Seiten ein typischer Musterprozess in Rede.481 Hieran passte sich der Bundesgerichtshof durch den Stil seines Vorlagebeschlusses ganz eindeutig an, indem er das öffentliche Interesse an einer Normbildung durch den Europäischen Gerichtshof von der streitentscheidenden Funktion des Revisionsverfahrens entkoppelte.
XIII. Zusammenfassung In Deutschland herrschte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Auffassung vor, der Zivilprozess diene der neutralen Durchsetzung privater Rechte und sei in diesem Sinne eine reine „Rechtsschutzanstalt“. Eine nennenswerte normbildende Aufgabe der Zivilrechtsprechung war selbst für die höchsten Gerichte nicht anerkannt. Diese stellten eine weitere Stufe der Fehlerkorrektur dar, deren Bedeutung für die Allgemeinheit nur darin bestand, mit der Fehlerkorrektur zugleich für eine einheitliche Anwendung des Rechts zu sorgen. Die historische Schule enthielt dann erste Ansätze, den obersten Gerichten auch eine Rolle bei der Vervollkommnung des Rechts zuzugestehen. Dies jedoch nur insoweit, als sie den historisch herausgebildeten und überkommenen Rechtsstoff anhand konkreter Fälle im Wege einer wissenschaftlichen Methode weiterentwickelten. Ein autonomes Normsetzungsmandat der Rechtsprechung war hiermit folglich noch nicht verbunden. Die Vorstellung, dass ein solches existieren könnte, begann dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzukeimen, wofür insbesondere zwei Umstände maßgeblich waren: Zum einen führte die Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens zu einem Paradigmenwechsel, der die zuvor herrschende prozessuale Sichtweise des Zivilrechts zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf materielle Privatrechte in den Hintergrund treten ließ. Damit entstand der Gedanke einer „dienenden“ Funktion des Zivilprozesses, der somit auf der höchstrichterlichen Ebene auch zur Fortentwicklung des materiellen Zivilrechts nutzbar gemacht werden konnte. Zum anderen kam gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch eine verstärkte Diskussion über die soziale Aufgabe des Privatrechts auf, die vor allem an die interessenjuristischen Gedanken Jherings anknüpfte und die über die Lehre des Österreichers Klein auch den Zivilprozess verstärkt als ein Mittel der Sozialgestaltung einordnete. Im Zuge der materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Kodifikationen setzte sich zunächst aber noch ein klassisches Bild der höchstrichterlichen 481 Zu dessen Rolle im Gefüge der richterlichen Normbildung näher unten § 4 D I 2, S. 310 ff.
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Rechtsprechung durch. So stand bei der Revision in Zivilsachen zum Reichsgericht anfänglich noch maßgeblich die abschließende Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits im Mittelpunkt, während die Befriedigung des öffentlichen Interesses an einer Vereinheitlichung bzw. Fortentwicklung des Privatrechts mittelbar aus dieser streitentscheidenden Funktion fließen sollte. Eine bewusste Steuerung des Fallmaterials der höchstrichterlichen Rechtsprechung unterblieb daher, sondern es galt das System der reinen Streitwertrevision. Soweit das traditionale, auf eine neutrale Rechtsanwendung ausgerichtete Bild der Rechtsprechung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Gestalt der Freirechtsschule eine Kritik erfuhr, führte auch dies nicht dazu, der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine maßgebliche Rolle bei der Bildung allgemeingültiger Normen zuzugestehen. Vielmehr trug nach der Freirechtsschule jeder einzelne Fall sein eigenes Gesetz in sich, so dass die Schaffung abstrakter Normen nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Rechtsprechung unmöglich erschien. Einen maßgeblichen Aufschwung erlebte die normbildende Funktion der Zivilgerichte daher erst mit den gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen gegen Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Eine herausragende Bedeutung erlangte hierbei das Vorgehen des Reichsgerichts im Rahmen der Aufwertungsrechtsprechung als Reaktion auf die Hyperinflation. Dies betraf nicht nur das Maß, in dem das Reichsgericht dabei das tradierte Privatrecht in Reaktion auf geänderte gesellschaftliche Umstände fortbildete. Vielmehr löste es sich hierbei auch zu einem erheblichen Teil von der Entscheidung konkreter Fallkonstellationen und nahm ein abstraktes rechtsgestaltendes Mandat für sich in Anspruch. Diese Entwicklung setzte sich dann im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts fort. Dies gilt beispielsweise für die Einführung der Grundsatzvorlage nach § 137 Abs. 1 GVG a.F. (§ 132 Abs. 4 GVG n.F.). In deren Rahmen entschied der Große Senat des Reichsgerichts – bzw. heute der Große Senat des Bundesgerichtshofs – nicht mehr über einen Zivilrechtsstreit in seiner Gesamtheit, sondern über eine abstrakte Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Ganz Ähnliches gilt heute in europarechtlichem Zusammenhang für die Funktion, die das Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV als Annex der Revisionsrechtsprechung erfüllt. Eine erhebliche Aufwertung erlebte die normbildende Seite der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung auch durch die Einflüsse des Grundgesetzes. Hierfür spielen vor allem die Ausstrahlung der Grundrechte auf das Privatrecht im Zusammenwirken mit dem Sozialstaatsprinzip und der Gedanke des Rechtsverweigerungsverbots eine Rolle. Für die Revision in Zivilsachen bedeutet dies, dass sie vornehmlich einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe verpflichtet wird und ihr streitentscheidendes Moment stark in den Hintergrund gerät. Das individuelle Streitverfahren verkörpert in diesem Bild nicht mehr den wesentlichen Gegenstand der höchstrichterlichen Tätigkeit, sondern lediglich einen Anlass, der die Gelegenheit bietet, eine für das Gemeinwesen bedeutsame Normbildung vorzunehmen. Einen
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paradigmatischen Ausdruck findet diese Entwicklung beispielsweise in den gewandelten Voraussetzungen, unter denen die Zivilprozessordnung die Revision zum Bundesgerichtshof eröffnet. Hier ist der Gedanke einer organischen Fortführung des privaten Streitverfahrens auf einer höheren Ebene im Laufe der Zeit immer stärker dem Gedanken einer reinen Grundsatzrevision im Dienste der Allgemeinheit gewichen.482 Darin manifestiert sich das Muster einer „vorsorgenden Rechtsprechung“, die auf eine prospektive Rechtsgestaltung abzielt. Dies bedeutet nicht, dass sich der Bundesgerichtshof als ein vollwertiger politischer Akteur begreifen würde, dessen Regelungsmandat demjenigen des Gesetzgebers gleichkäme. Dies verhindert bereits der Befund, dass die Grundbedingungen des Gemeinwesens in Deutschland traditionellerweise stärker durch die Gesetzgebung und die Verwaltung sichergestellt werden als durch die Rechtsprechung.483 Die öffentliche Funktion der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung bezieht sich daher in Deutschland nicht auf eine freie politische Gestaltung, sondern vornehmlich auf eine rechtsimmanente Gestaltung, die das möglichst reibungslose Funktionieren des Zivilrechtssystems unter Einschluss verfassungs- und europarechtlicher Vorgaben betrifft. Gleichwohl entfernt sich die Revisionsrechtsprechung bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe, die man als ein „legal engineering“ bezeichnen kann, relativ stark vom dem klassischen fallbezogenen Modus. In Anlehnung an Erwägungen, die Hanack im Zusammenhang mit der rechtsvereinheitlichenden Funktion der Bundesgerichte angestellt hat, lässt sich somit zusammenfassend festhalten, dass sich das Maß der höchstrichterlichen Normbildung im deutschen Zivilrecht heute weniger durch die Erfordernisse des anhängigen Rechtsstreits, als vielmehr durch das Bedürfnis des „Systems Rechtssprechung“ nach einer Klärung bzw. Erneuerung bestimmt.484
B. England I. Das traditionelle Common Law 1. Grundlagen Das englische Rechtssystem erhielt seine Prägung maßgeblich durch die Herausbildung des common law seit der normannischen Invasion im Jahr 1066. Von diesem Zeitpunkt an wandelten und verfestigten sich in einem kontinuierlichen Prozess überlieferte Handels- und Verkehrsbräuche zu rechtlichen Regeln, die 482
Dazu auch noch unten § 5 A I, S. 335 ff. Siehe Murray/Stürner, German Civil Justice, 2004, S. 575 ff. 484 Vgl. Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 251 ff. 483
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durch verschiedene rechtsprechende Institutionen der Krone als verbindlich zugrunde gelegt wurden und die zersplitterten lokalen Normen verdrängten, die von den jeweiligen Lehensherren erlassen worden waren.485 Ein Beispiel für diesen Prozess bildet die Entwicklungsgeschichte des englischen Handelsrechts. Dessen historischer Kern geht auf Handelsbräuche (customs) im Sinne einer lex mercatoria zurück. Diese customs wurden zunächst durch besondere Handels- und Schifffahrtsgerichte angewendet, die maßgeblich von den beteiligten Verkehrskreisen beeinflusst waren. Erst seit dem 16. Jahrhundert ging die handelsrechtliche Jurisdiktion mehr und mehr in die Hoheit der königlichen common law-Gerichte über, die sich hierbei zunächst auf die überlieferten customs stützten und diese dann sukzessive anpassten.486 Dabei waren die königlichen Gerichte häufig noch nicht originär für die jeweiligen Streitigkeiten zuständig, sondern zogen die Verfahren von den lokalen Gerichten erst infolge der Petition einer Prozesspartei mittels eines so genannten writ of certiorari an sich.487 In diesem Sinne besaßen die common law-Gerichte von Beginn an eine appellationsähnliche Funktion. Dabei kamen die königlichen Gerichte gerade in der mehrere Jahrhunderte andauernden formativen Periode des common law, in der die Grundregeln des englischen Zivilrechts herausgearbeitet wurden, nicht ohne eine erhebliche rechtsgestaltende Tätigkeit aus. Ein Beispiel hierfür bildet die Art und Weise, in der die Gerichte Schritt für Schritt ihre Jurisdiktion im Vertragsrecht ausbauten. So waren Verpflichtungen oder Schadensersatzforderungen aus Verträgen im 12. Jahrhundert zunächst nur einklagbar, wenn der Vertrag in einer bestimmten urkundlichen Form als „contract under seal“ abgeschlossen wurde.488 Ab dem 13. Jahrhundert konnten dann zunehmend auch aus formlosen Verträgen Leistungen eingeklagt werden, nämlich Sachleistungen durch die Klage aus detinue und Geldansprüche durch die Klage aus debt.489 Im Rahmen der Klage aus debt befand sich der Kläger jedoch insoweit in einer ungünstigen Position, als der Beklagte durch eine Eidesleistung (wager of law) die Erfüllung der Schuld behaupten und die Klage damit zu Fall bringen konnte.490 Diese Möglichkeit wurde erst in dem berühmten Slade’s Case491 aus dem Jahr 1602 abgeschnitten, indem für die Geltendmachung von Zahlungsansprüchen aus formlosen Verträgen neben die 485 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 12 ff.; Klerman/ Mahoney, Legal Origin?, USC Legal Studies Research Paper No. 07–3, 2007, S. 6 ff.; Pejovich, Law, Informal Rules and Economic Performance, 2008, S. 31 f.; Postema, [2002] 2 OUCLJ 155, 158. 486 Hierzu Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 657 ff. 487 Siehe Perry, Deciding to Decide, 1991, S. 295 ff. m.w.N. 488 Siehe Furmston, Cheshire, Fifoot and Furmston’s Law of Contract, 15. Aufl. 2007, S. 1 ff. 489 Furmston, Cheshire, Fifoot and Furmston’s Law of Contract, 15. Aufl. 2007, S. 4 f. 490 Vgl. Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 115 f. 491 76 Eng. Rep. 1072 (1602); dokumentiert durch Baker, [1971] 29 C.L.J. 51 ff.
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Klage aus debt die Klage aus assumpsit trat, in deren Rahmen dem Beklagten ein wager of law nicht möglich war.492 Hieraus entwickelte sich dann schließlich die generelle Einklagbarkeit formloser Verträge durch eine Klage aus assumpsit.493 Somit stand zu Beginn durchaus ein dynamischer Entwicklungsprozess in Rede, in dem reine Sitten- und Verkehrsregeln typischerweise gerade erst dann zu sanktionierbaren rechtlichen Normen geronnen, wenn ihre rein konventionsmäßige Befolgung nicht mehr als selbstverständlich unterstellt werden konnte.494 Dass diese sozialen Normen dabei einer erheblichen Filterung und Umgestaltung durch die Gerichte unterlagen,495 schwand jedoch relativ bald aus dem allgemeinen Bewusstsein. Anstelle dessen kam die Vorstellung auf, dass es sich bei dem common law um schon immer „da gewesenes“ Recht handele, das durch die Rechtsprechung nicht gebildet, sondern nur „entdeckt“ werde.496 So erscheint die Behauptung eines Richters in einem Urteil aus dem Jahr 1470, das common law existiere seit der Erschaffung der Welt,497 als durchaus repräsentativ für das englische Rechtsverständnis im Mittelalter. Die große Bedeutung, die die Rechtsprechung dabei überlieferten, gewohnheitsmäßig herausgebildeten Normen beimaß, verdeutlichen auch die folgenden Ausführungen Sir Edward Cokes in Calvin’s Case aus dem Jahr 1608: „[F]or we are but of yesterday (and therefore had need of the wisdom of those that were before us) and had been ignorant (if we had not received light and knowledge from our forefathers) and our days upon the earth are but as a shadow, in respect of the old ancient days and times past, wherein the laws have been by the wisdom of the most excellent men, in many successions of ages, by long and continual experience (the trial of light and truth) fined and refined, which no one man (being of so short a time) albeit he had in his head the wisdom of all the men in the world, in any one age could ever have effected or attained unto.“498
Aber auch soweit die klassischen Texte die Veränderlichkeit des common law thematisierten, sah man hierin gleichwohl einen kontinuierlichen Fluss der Rechtsprechung und keine gezielte Intervention durch die Gerichte. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang etwa die Metapher Sir Matthew Hales aus 492 Siehe Baker, [1971] 29 C.L.J. 213, 228 ff. und Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 645 f. 493 Furmston, Cheshire, Fifoot and Furmston’s Law of Contract, 15. Aufl. 2007, S. 7 f. 494 Vgl. zu der Wandelbarkeit der customs in England Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 307 ff. 495 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 124 ff.; Postema, Some Roots of our Notion of Precedent, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 9 (15 f.); Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1192 (2007). 496 Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 28; Stoner, Natural Law, Common Law, and the Constitution, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 171 (173 f.). 497 Wallyng v. Meger, [1470] 47 SS 38, per Catesby sjt. 498 Coke, The Reports of Sir Edward Coke, Band IV, Teil VII, hrsg. von Fraser, 1826, S. 6.
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dem ausgehenden 17. Jahrhundert, nach der das common law dem Schiff der Argonauten gleiche, das am Ende ihrer Reise immer noch dasselbe gewesen sei, obgleich die Argonauten im Laufe der Zeit so viele Teile an ihm ausgetauscht hätten, dass kaum noch ein einzelnes Stück des ursprünglichen Materials vorhanden gewesen sei.499 Zudem herrschte die Auffassung vor, dass das common law nicht nur einer steuernden Abänderung durch die Gerichte, sondern sogar der Disposition durch die Krone und das Parlament weit gehend entzogen sei.500 Dicey verdichtete dies zu der klassischen Formulierung, dass die allgemeinen Prinzipien des englischen Rechtswesens von gerichtlichen Entscheidungen ausgehen würden, deren Aufgabe es sei, die Rechte von Privatpersonen in konkreten Fällen zu beurteilen.501 In diesem Rahmen spielte die untrennbare Verknüpfung zwischen einem subjektiven Recht und den Mitteln seiner judikativen Durchsetzung eine zentrale Rolle. Das common law als praktisch erprobte Vernunft war somit nicht durch einen bloßen legislativen Willensakt überwindbar, der abstrakt und ohne konkrete Fallanschauung entsteht. 502 Folgerichtig verkörperte das common law nach der klassischen englischen Sichtweise selbst eine Art ungeschriebene Verfassung, die der staatlichen Regelungstätigkeit im Privatrecht gewisse Grenzen zog und deren Hüter wiederum die common law-Gerichte waren.503 Der Erlass von Gesetzen war vor diesem Hintergrund nicht als freier, souveräner Akt vorstellbar, sondern nur als Ergänzung und Randkorrektur des durch richterliche Entscheidungen verfestigten Gewohnheitsrechts.504 Einen praktischen Niederschlag fand dieses Verhältnis zwischen common law und statutory law beispielsweise in der so genannten mischief-rule, die in Heydon’s Case aus dem Jahr 1584 erstmals angewandt wurde.505 Nach dieser Interpretationsregel konnte ein Gesetz, welches das common law modifizierte, niemals isoliert aus sich selbst heraus ausgelegt werden. Vielmehr musste das Gericht auf einer ersten Stufe einen konkreten Missstand – eben einen „mischief“ – 499
Hale, The History of the Common Law of England, hrsg. von Gray, 1971, S. 40. Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 27 f.; Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 11. 501 Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. 1959, S. 195. 502 Postema, [2003] 3 OUCLJ 1, 18; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 259 f. 503 Zur Idee des common law constitutionalism grundlegend Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. 1959, S. 195 ff. sowie Allan, Text, Context, and Constitution, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 185 ff. und Stoner, Natural Law, Common Law, and the Constitution, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 171 ff. 504 Gerland, Probleme des englischen Rechtslebens, 1929, S. 12 f.; Milsom, A Natural History of the Common Law, 2003, S. 25; Plucknett, Legislation of Edward I, 1949, S. 13; Postema, [2002] 2 OUCLJ 155, 164 f. 505 Heydon’s Case, [1584] 76 Eng. Rep. 637. 500
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identifizieren, zu dem das common law geführt hatte. Auf einer zweiten Stufe war das Gesetz dann so zu interpretieren, dass dieser Missstand am besten ausgeglichen wurde.506 In diesem Sinne konnten Gesetze niemals „sui iuris“ bestehen und angewendet werden, sondern immer nur im Wechselblick mit den überlieferten Regelungen des common law. Hintergrund dieser Interpretationspraxis war das Bestreben der Gerichte, ein übermäßiges Eindringen der Legislative in die klassischen liberalen Regeln des Zivilrechts, insbesondere des Vertrags- und Eigentumsrechts, zu verhindern: „If the Act interfered with these notions, the judges tended either to assume that it could not mean what it said or to minimize the interference by giving the instructive words the narrowest possible construction, even to the point of pedantry.“507
Das klassische Privatrecht bildete für die Staatsgewalt somit eine Art Gravitationsfeld, das sich einer willkürlichen Überformung durch souveräne staatliche Entscheidungen entzog. Dementsprechend bestand eine wesensmäßige Verknüpfung zwischen dem Inhalt des Rechts und seiner richterlichen Anerkennung in konkreten Streitfällen.
2. Die Ausformung bei Blackstone Ihren wirkungsmächtigsten Ausdruck fand diese Sichtweise des common law als ein historisch überkommenes, aus konkreter Fallanschauung entstandenes und nur begrenzt fungibles Ganzes in Blackstones „Commentaries on the Laws of England“ aus den Jahren 1765–1769: „[I]n our law the goodness of a custom depends on it’s having been used time out of mind; or, in the solemnity of our legal phrase, time whereof the memory of man runneth not to the contrary. This is what gives it it’s weight and authority; and of this nature are the maxims and customs which compose the common law […] of this kingdom.“508
Für Blackstone war es die Aufgabe des Richters, einen Rechtsstreit zu entscheiden „not according to his own private judgment, but according to the known laws and customs of the land“.509 Der Richter sei nicht berechtigt, neue Regeln zu erlassen, sondern nur, die althergebrachten Regeln darzulegen und durchzusetzen. Danach enthält das Mandat zu der Entscheidung eines Rechtsstreits unter Privaten keine Legitimation zu einer darüber hinausgehenden Normbildung.510 Vielmehr stellen Gerichtsurteile aus dieser Perspektive nicht selbst 506 Näher Bennion, Statutory Interpretation, 5. Aufl. 2008, S. 918 ff.; Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, 3. Aufl. 1995, S. 11 f.; Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 1–069; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band II, 2001, S. 676 ff. 507 Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 14. 508 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band I, 1765, S. 67. 509 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band I, 1765, S. 69. 510 Brewbaker, Found Law, Made Law and Creation: Reconsidering Blackstone’s Decla-
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Recht dar, sondern nur einen Ausdruck dessen, was zwischen den Parteien schon zuvor galt.511 Diese Sichtweise bezeichnet man als „declaratory theory“ des richterlichen Urteilens, nach der die Gerichte kein Recht schaffen, sondern dieses Recht nur formal feststellen. Einem solchen rechtsförmigen Ausdruck kam zwar nach Blackstone eine formale Ordnungsfunktion und damit eine erhebliche Autorität zu, so dass Präjudizien in der Regel zu befolgen seien. Aber eine unbedingte Präjudizienbindung war für ihn ausgeschlossen, weil die Möglichkeit einer Fehlinterpretation des geltenden Rechts durch die vorangehenden Entscheidungen bestehe. In einem solchen Fall sei das fragliche Präjudiz nicht Ausdruck des „established custom of the realm“. 512 Die auch von Blackstone nicht geleugnete Entwicklungsfähigkeit des common law sollte sich daher nicht aus den Gerichtsentscheidungen selbst generieren, sondern aus einer Änderung der landeseinheitlichen Verkehrs- und Sittengebräuche, die sich im Laufe der Zeit jeweils zu verbindlichem (Gewohnheits-)Recht verdichten und von den common law-Gerichten aufgegriffen und nachvollzogen würden. 513 Dabei brachte Blackstone mit der Ansicht, dass „falsche“ Präjudizien, die sich nicht im Einklang mit dem nun besser erkannten common law befinden, unbeachtlich seien, durchaus die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein herrschende Auffassung zum Ausdruck. 514 So konnte die Befolgung eines Präjudizes durch den Court of Chancery noch im Jahr 1869 mit der Feststellung abgelehnt werden, es handele sich um „clearly a mistaken decision“.515 Dies geschah im Namen eines zeitlosen Rechts, das der Richter zur Lösung eines privaten Konflikts anzuwenden hatte. Zwar bildete diese Blackstonesche Sichtweise die Rechtsprechungspraxis nicht fehlerfrei ab, da die Gerichte, wie bereits angedeutet, natürlich auch selbst Neuerungen hervorbrachten und sich des Topos’ einer bloßen Enthüllung des richtigen Rechts hierbei nicht selten als eines praktischen Vorwands bedienten.516 Ihren berechtigten Kern fand die declaratory theory gleichwohl in der Einsicht, dass das Recht weniger etwas „Gemachtes“, als vielmehr etwas „Aufgegriffenes“ sei. Es war zwar einerseits kein bloßer Vollzug von Sitten und Verkehrsbräuchen, sondern erfuhr seine Formung durch einen ausgebildeten
ratory Theory, University of Alabama School of Law Working Paper, 2007, S. 3; WesleySmith, Theories of Adjudication and the Status of Stare Decisis, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 73 (74); kritisch zu dieser Interpretation der Commentaries aber Alschuler, 145 U. Pa. L. Rev. 1, 36 ff. (1996). 511 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band I, 1765, S. 69. 512 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band I, 1765, S. 69 f. 513 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band I, 1765, S. 64. 514 Cross, [1976] 92 L.Q.R. 516, 518; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 342 ff.; Postema, [2003] 3 OUCLJ 1, 11 f. 515 Collins v. Lewis, [1869] L.R. 8 Eq. 708, 709. 516 Vgl. Barnes, Shaping the Common Law, hrsg. von Boyer, 2008, S. 122.
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Richterstand.517 Andererseits leitete es seine Autorität aber nicht aus einer abstrakten staatlichen Setzung ab, sondern hatte sich anhand konkreter Streitverfahren in der täglichen Praxis der Gerichte zu bewähren.518 Das common law konnte vor diesem Hintergrund zwar nicht mehr als zeitlos-unwandelbar gelten, wohl aber vollzog sich seine Erneuerung in einem historisch-organischen Prozess.519 Die Herausbildung und die Rechtfertigung zivilrechtlicher Normen waren folglich nicht als geplante Gesellschaftsgestaltung vorstellbar, sondern untrennbar mit der Anwendung dieser Normen im Rahmen konkreter, adversarial verhandelter und entschiedener Streitverhältnisse verbunden.520
II. Das Writ-System Ihr prozessuales Pendant fand diese klassische Sichtweise des common law in dem so genannten writ-System, das bis zum Jahr 1832 das englische Privatrecht beherrschte und das als maßgebliche Wurzel der häufig betonten Verflechtung zwischen dem Sachrecht und dem Prozessrecht in England betrachtet werden kann.521 Wie dargelegt, traten ab dem 12. Jahrhundert neben die lokalen Gerichte die königlichen Gerichte als common law courts. Dies waren einerseits der Court of Exchequer, dessen Zuständigkeit allerdings im Wesentlichen auf steuer- und vermögensrechtliche Streitigkeiten mit einer unmittelbaren Bedeutung für den Monarchen beschränkt war, und andererseits der Court of Common Pleas und die King’s Bench in Westminster, die eine Zentralisierung der Zivilrechtspflege einleiteten.522 Während privatrechtliche Klagen vor den lokalen Gerichten keiner besonderen Formalitäten bedurften, musste für Klagen vor dem Court of Common Pleas und der King’s Bench ein so genannter writ bei dem Lord Chancellor, einem Beamten der Krone, beantragt werden.523 Ohne einen solchen writ war kein Beklagter verpflichtet, sich der Jurisdiktion eines königlichen Gerichts zu unterwerfen.524 Es handelte sich bei dem writ um ein Dokument, das den lokalen Sheriff anwies, den jeweiligen Beklagten zu einem Prozess zu laden, wo517
Postema, [2003] 3 OUCLJ 1 ff. Postema, [2002] 2 OUCLJ 155, 166 f. 519 Postema, [2002] 2 OUCLJ 155, 172 ff. 520 Postema, [2003] 3 OUCLJ 1, 7 f. 521 Maine, Dissertations on Early Law and Custom, 1891, S. 389; Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 1; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 381 f. 522 Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 10 ff.; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 147 ff. 523 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 53 f. 524 Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 17 f.; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 357. 518
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bei sich diese Ladung auf einen bestimmten, in dem writ angegebenen Klagegrund beschränkte.525 Dieser Inhalt des writ begrenzte zugleich die Zuständigkeit des Gerichts, über den Rechtsstreit zu entscheiden.526 Dabei waren als Klagegründe und somit als tauglicher Gegenstand eines Rechtsstreits vornehmlich die klassischen Rechtsbehelfe des common law aus Eigentum, Vertrag und Delikt anerkannt.527 Ursprünglich musste die Klage neben der Verletzung eines privaten Rechts zusätzlich auch eine Störung des öffentlichen Friedens durch die Rechtsverletzung behaupten, um vor den königlichen Gerichten verhandelbar zu sein.528 Dies macht deutlich, dass der zentralisierten Zivilrechtspflege im Rahmen des writ-Systems hauptsächlich eine friedenssichernde Funktion zukam. Aufgabe der Gerichte war es, das Gemeinwesen zu stabilisieren, indem sie private Rechte durchsetzten. Das öffentliche Interesse an einer Herausbildung neuer Normen, das heißt der Zweck einer Vervollkommnung der Rechtsordnung, konnte dabei allenfalls ein, wenn auch willkommenes, aber doch nicht gezielt angestrebtes Nebenprodukt sein. Der Beitrag der Rechtsprechung zum Gemeinwohl wurde vielmehr mit einer ungestörten Verwirklichung wohlerworbener privater Rechte weit gehend gleichgesetzt. 529 Diese funktionelle Begrenzung der königlichen Rechtsprechung ergab sich auch aus dem Wechselspiel mit anderen Institutionen. Obwohl die Zahl und der Inhalt der writs kontinuierlich ausgebaut wurden, trat ab dem 13. Jahrhundert eine Konsolidierung der anerkannten Klagegründe ein. Der Lord Chancellor verfolgte zunehmend einen formalisierenden Ansatz, da die lokalen Lehensherren einen Bedeutungsverlust ihrer eigenen Gerichtsbarkeit fürchteten und sich einer zu starken Ausweitung der Rechte widersetzten, die vor den königlichen Gerichten klagbar waren.530 So finden sich erste Begrenzungen der Kompetenz des Königs, Rechtsstreitigkeiten durch die Ausstellung von writs seiner Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, bereits in der Magna Charta aus dem Jahr 1215.531 Im 14. Jahrhundert trat als ein weiterer Antipode 525 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 54; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 355 f.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 181. 526 Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 3 f.; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 408. 527 Übersicht bei Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 16 ff., 49 ff. und Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 357 ff. 528 Milsom, A Natural History of the Common Law, 2003, S. 31 ff.; vgl. auch Stoner, Natural Law, Common Law, and the Constitution, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 171 (174). 529 Barnes, Shaping the Common Law, hrsg. von Boyer, 2008, S. 22. 530 H. Peter, Actio und Writ, 1957, S. 15 ff. und 71 f.; Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 10 ff.; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 356. 531 Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 19; Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 18.
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der Fortentwicklung des Rechts durch die königlichen Gerichte das Parlament in Erscheinung.532 Dieses begriff sich im Laufe der Zeit mehr und mehr als einzig legitime Instanz der Bildung neuer Regeln, die folgerichtig nicht in der Form richterlicher Urteile, sondern allgemeiner Gesetze zu erlassen waren. Vor diesem, einer zentralisierten Rechtsprechung eher feindlichen, Hintergrund sahen sich sogar die Richter des Court of Common Pleas und der King’s Bench selbst in manchen Fällen genötigt, neu entwickelte writs zu annullieren, weil sie die Grenzen des geltenden common law zu weit verließen.533 Der Preis für die allgemeine Anerkennung einer königlichen Gerichtsbarkeit war somit deren inhaltliche Begrenzung auf die Streitentscheidung anhand der anerkannten writs: „At any rate the tale of common law (i.e. non-statutory) actions was now regarded as complete. The king’s courts had come to be regarded as omnicompetent courts, they had to do all the important civil justice of the realm and to do it with the limited supply of forms of action which had been gradually accumulated in the days of feudal justice and ecclesiastical justice were serious competitors with royal justice.“534
Somit stand den Gerichten um das 14. Jahrhundert aus zwei miteinander verwobenen Gründen nur ein geringer Spielraum zur inhaltlichen Fortentwicklung des common law zu. Der erste Grund war die angenommene zeitlose Natur des englischen Rechts, zu dem eine umfangreiche richterliche Normbildung im Widerspruch gestanden hätte. Der zweite Grund war genuin institutioneller Natur und betraf das enge Korsett, das der zentralisierten Gerichtsbarkeit angelegt wurde. So waren der Court of Common Pleas und die King’s Bench im Rahmen des writ-Systems auf die Mitwirkung des Lord Chancellor als eines Regierungsbeamten angewiesen, unter dessen Kontrolle somit der Inhalt des Privatrechts stand.535 Daher waren diese Gerichte im Wesentlichen darauf beschränkt, die vor sie getragenen Rechtsstreite anhand der tradierten Regelungen zu entscheiden und besaßen nicht die institutionellen Voraussetzungen für eine nennenswerte Normbildung. Zudem vollzog sich die Entscheidungsfindung im Rahmen eines hochformalisierten Verfahrens, das auch den Parteien keinen freien Vortrag ihrer Tatsachenbehauptungen und Rechtsauffassungen ermöglichte, sondern ihnen so genannte pleadings abverlangte. In deren Rahmen handelten die Parteien, anknüpfend an den jeweiligen writ, einzelne Tatsachen- und Rechtsfragen sukzessive ab.536 Hierbei verdeckten technische Regularien nicht selten die substantiellen 532 H. Peter, Actio und Writ, 1957, S. 47 und 72 f.; Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 5. 533 Maitland/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 3 und 5; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 164 und 395. 534 Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 42. 535 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 55 f. 536 Näher zum Ablauf der pleadings Baker, An Introduction to English Legal History,
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Streitpunkte, so dass die pleadings nicht zu Unrecht als eine eigene Wissenschaft (science) angesehen wurden.537 „Legal thinking was about the procedural possibilities open to individual lawyers in a world of intellectual free enterprise, and the convolutions were not intended to change ‘the law’ or indeed intended at all: they were the cumulative residue of innumerable tiny twists, each intended only to serve the client of the day.“538
Die verfahrensmäßigen Beschränkungen führten somit dazu, dass etwa aufkeimende Rechtsfragen in den Entscheidungen kaum abschließend geklärt wurden,539 was Voraussetzung für eine normative Wirkung in anderen Fällen gewesen wäre. Nicht interessenbezogene subjektive Rechte, sondern die Verfügbarkeit eines writ sowie dessen prozessuale Behandlung in den pleadings dominierten das common law und schlossen die abstrakte Rationalisierung des Rechtsstoffs durch Gerichtsurteile aus.540 Vielmehr manifestierte das writ-System die klassische Vorstellung, nach der ein Zivilprozess zwar vor einem öffentlichen Forum ausgetragen wird, um störende Selbsthilfe zu vermeiden und Rechtsschutz zu gewähren, im Übrigen aber ein privater Wettstreit zwischen den Parteien bleibt. Somit standen nicht das materielle Recht und seine Fortentwicklung, sondern das Denken in den prozessualen Kategorien des jeweiligen Rechtsstreits im Vordergrund.541 Es ging in erster Linie um die verfahrensmäßige Einordnung der jeweiligen Sachverhalte und nicht um die Ausformung und Durchsetzung eines privatrechtlichen Regelungssystems. Die Rolle des Gerichts entsprach vor diesem Hintergrund weit gehend derjenigen eines klassischen Schiedsrichters.542 Folgerichtig konnte das englische Recht nicht auf eine möglichst umfassende Regulierung der Lebensverhältnisse ausgerichtet sein.543 Vielmehr beschränkte 4. Aufl. 2002, S. 76 ff. und Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 399 ff. 537 So Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 34 f.; ähnlich Goldsworthy, The Myth of the Common Law Constitution, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 204 (209) und Tubbs, The Common Law Mind, 2000, S. 23. 538 Milsom, A Natural History of the Common Law, 2003, S. XVI. 539 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 200 f.; Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 197 f.; Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 66 f.; Milsom, A Natural History of the Common Law, 2003, S. 2 ff. 540 H. Peter, Actio und Writ, 1957, S. 58 ff.; Ibbetson, Case-Law and Doctrine: a Historical Perspective on the English Common Law, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, 2003, S. 27 (32); Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 8 f.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 183. 541 Maine, Disserations on Early Law and Custom, 1891, S. 389 sowie Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 23 ff.; Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 3 ff.; Milsom, Studies in the History of the Common Law, 1985, S. 212; Postema, [2002] 2 OUCLJ 155, 162. 542 Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 8. 543 Boyer, Introduction, in: Barnes, Shaping the Common Law, hrsg. von Boyer, 2008, S. 1 (3).
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sich das common law auf ein selektives und fragmentarisches Eingreifen durch wohldefinierte Verfahren in solchen Fällen, die keiner ausreichenden Selbstregulierung durch informelle Sitten und Verkehrsbräuche zugänglich waren, was Pollock mit den folgenden Worten umschrieb: „It is the administration of justice with some sort of regularity that marks the existence of law, not the completeness of the rules administered […].“544
III. Die Auflockerung durch die Equity-Rechtsprechung Noch zu Hochzeiten des writ-Systems, nämlich im Laufe des 14. Jahrhunderts, begann jedoch eine Parallelentwicklung, die einer zunehmenden Materialisierung des englischen Privatrechts und seiner Fortentwicklung durch die königliche Gerichtsbarkeit Vorschub leistete. Es hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass die strikte Anwendung des formalisierten common law in den Grenzen, die das beschriebene writ-System zog, in vielen Fällen zu überharten Ergebnissen führte, die mit der königlichen Pflicht „to do equal and right justice and discretion in mercy and truth“, nicht vereinbar waren.545 Aufgrund der zentralen Bedeutung, die der Gedanke der Zeitlosigkeit des common law und die daraus resultierende Schranke für die Ausübung hoheitlicher Gewalt im englischen Rechtssystem besaßen, war es jedoch lange Zeit kein gangbarer Weg, die Rechtsprechung innerhalb der ordentlichen Gerichte offen zu reformieren.546 Soweit im Rahmen des writ-Systems neuen Problemstellungen Rechnung getragen wurde, geschah dies dementsprechend nicht mittels einer offenen Fortentwicklung des materiellen Rechts durch die Gerichte, sondern nur im Wege von Fiktionen.547 Dadurch konnten neuartige Konflikte mit Hilfe der überkommenen Klagerechte gelöst werden, ohne deren formale Struktur anzutasten. Zudem bildeten nicht die Richter die treibende Kraft dieser Anpassung durch Fiktionen, sondern die Parteivertreter im Zusammenspiel mit Jurys, während die Richter diese Fortentwicklungen aufgrund der Verfahrensstruktur oftmals nur passiv hinnehmen konnten.548 In den Worten Milsoms:
544 Pollock, [1894] 10 L.Q.R. 228, 231; ähnlich Milsom, A Natural History of the Common Law, 2003, S. 19 f. 545 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 98; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 184. 546 H. Peter, Actio und Writ, 1957, S. 28 f. 547 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 201 f.; Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 43 ff. und 63 ff.; Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 6 ff. 548 Milsom, A Natural History of the Common Law, 2003, S. 26 ff.
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„How can a system of law, a system of ideas whose hypothesis it is that rules are constant, adapt itself to a changing world? It has not been the ordered development of the jurist or the legislator, of men thinking about law for its own sake. It has been the rough free enterprise in argument of practitioners thinking about nothing beyond the immediate interest of each client; and the strength of the system has been in the doggedness, always insensitive and often unscrupulous, with which ideas have been used as weapons.“549
Die intentionale Korrektur der Härten des common law wurde vielmehr einer separaten Institution übertragen, nämlich dem Court of Chancery. Dieses Gericht stand ebenso wie die Durchführung des writ-Systems unter der Leitung des Lord Chancellor. Dem Lord Chancellor kam somit im Rahmen des Rechtssystems eine Doppelfunktion zu. Während jedoch seine Gestaltungsmöglichkeiten bei der Schaffung neuer writs im common law aus den genannten Gründen beschränkt waren,550 ermöglichte ihm seine Position am Court of Chancery eine flexiblere Behandlung von Rechtsstreitigkeiten. Dabei entwickelte sich der Court of Chancery als ein Gericht im engeren Sinne erst allmählich aus der exekutivischen Aufgabe des Lord Chancellor, Petitionen von Bürgern gegen Akte der öffentlichen Gewalt zu bescheiden.551 Diese Wurzel des Court of Chancery im Petitionsrecht beeinflusste auch den Charakter der equity-Rechtsprechung maßgeblich. In Anlehnung an Aristotelische Gedanken aus der Nikomachischen Ethik,552 die unter den englischen Juristen des Mittelalters weit verbreitet waren,553 bestand die Aufgabe der equity nämlich darin, angemessene Ergebnisse von Rechtsstreitigkeiten dann sicherzustellen, wenn dies der strenge Formalismus des common law mit seinen materiellrechtlichen und vor allem prozessualen Regeln nicht erlaubte. Der Lösung einer Rechtsstreitigkeit „at law“ – womit das traditionelle common law gemeint war – wurde die Lösung „in equity“ zur Seite gestellt. Dabei diente die equity-Rechtsprechung nicht nur dazu, neue Klagemöglichkeiten jenseits des tradierten common law zu schaffen. Vielmehr intervenierte der Court of Chancery auch zugunsten von Beklagten, wenn das common law durch die schematische Gewährung eines Anspruchs ohne Rücksicht auf etwaige Einwendungen des Beklagten unbillige Härten produzierte. Prozessual geschah dies dadurch, dass der Beklagte „in equity“ eine Verfügung (common injunction) gegen die Fortsetzung eines Rechtsstreits beantragen konnte, der vor den common law-Gerichten anhängig
549
Milsom, Historical Foundations of the Common Law, 1969, S. XI. Siehe oben § 3 B II, S. 129 ff. 551 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 100 ff.; Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 25; Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 24. 552 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, hrsg. von Gigon, 2. Aufl. 1995, 1137a ff. 553 Siehe Glanvill, The Treatise on the Laws and Customs of England, commonly called Glanvill, hrsg. von Hall, 1965, ii.7. 550
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war, aber als „unconscionable“ erschien.554 Somit erwuchs dem Court of Chancery sowohl bei der Ausdehnung der tradierten Klagerechte als auch bei deren Einschränkung ein erhebliches schöpferisches Mandat. Der Rechtsschutz, den der Court of Chancery „in equity“ gewährte, war jedoch stets in personam, das heißt untrennbar mit den Parteien des betreffenden Rechtsstreits verbunden und erzeugte für andere Fälle weder unmittelbare noch mittelbare Rechtswirkungen.555 Dies unterschied die equity vom common law, dessen writs gleichsam als normative Schablone für alle denkbaren Fallkonstellationen dienten. Hingegen vollzog sich das Verfahren vor dem Court of Chancery stark einzelfallbezogen und informell und war nicht dazu bestimmt, neue abstrakte rechtliche Regelungen zu entwerfen, sondern vielmehr zur Abmilderung der Härten berufen, die das common law in einem bestimmten Fall erzeugen konnte.556 In besonderem Maße galt dies für Situationen, in denen eine Partei bestimmten Formerfordernissen oder den strengen Beweisregeln des common law-Prozesses nicht genügen konnte.557 Fragen der Moral wurden häufig bewusst in die Entscheidungen nach equity einbezogen, was institutionell dadurch befördert wurde, dass die Lord Chancellors nicht selten hauptamtlich als Bischöfe tätig waren.558 Dieser Befund verdichtete sich in der bekannten Einschätzung, nach welcher der Court of Chancery „not a court of law but a court of conscience“ war.559 Gerade aus der equity-Rechtsprechung und weniger aus dem Wesen des strikten common law folgt somit, dass ein Präjudiz im englischen Recht stets untrennbar mit dem jeweils entschiedenen Fall zusammenhängt und dass dieser zur unverzichtbaren Überlieferungsgeschichte einer Entscheidung und ihrer Fruchtbarmachung in der Zukunft gehört. 560 Nach dem bisher Gesagten erscheint sogar die noch stärkere Annahme gerechtfertigt, dass die equity-Rechtsprechung in ihrer ursprünglichen Form kaum zur Herausbildung richterlicher Normen für die Beurteilung zukünftiger Fälle geeignet war. Vielmehr erklärte sich ihr Siegeszug gerade aus den Unzulänglichkeiten allgemeingültiger Regeln, was Lord Ellesmere in seiner Funktion als Lord Chancellor in einer Entscheidung aus dem Jahr 1615 wie folgt zusammenfasste:
554 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 106; Klerman, 74 U. Chi. L. Rev. 1179, 1191 (2007). 555 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 408; Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 102 ff. 556 Maitland/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 5 f.; Milsom, Historical Foundations of the Common Law, 1969, S. 74 ff. 557 Vgl. Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 102 f. 558 Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 685 f.; Subrin, 135 U. Pa. L. Rev. 909, 919 (1987). 559 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 105; vgl. auch Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 406 ff. 560 Siehe Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 171 f.
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„[M]en’s actions are so diverse and infinite that it is impossible to make a general law which may aptly meet with every particular and not fail in some circumstances. The office of the chancellor is to correct men’s consciences for frauds, breaches of trust, wrongs and oppressions of what nature soever they be, and to soften and mollify the extremity of the law.“561
Dem entspricht es, dass equity-Entscheidungen zunächst keine präjudizielle Bindung erzeugten und sogar nur unregelmäßig veröffentlicht wurden.562 Aufgegriffen wurden diese Besonderheiten der frühen equity-Rechtsprechung beispielsweise in der Entscheidung Fry v. Porter aus dem Jahr 1670. Hierbei betonte der Richter Vaughan, dass es sich bei der equity um eine zeitübergreifende Wahrheit für die Behandlung spezieller Fälle handele, die keiner schematischpräjudiziellen Formalisierung zugänglich sei: „I wonder to hear of citing precedents in matter of equity, for if there be equity in a case, that equity is a universal truth, and there can be no precedent in it, so that in any precedent that can be produced, if it be the same with this case, the reason and equity is the same in itself; and if the precedent be not the same case with this, it is not to be cited.“563
Der Gedanke einer solchen rein einzelfallbezogenen equity geriet jedoch bald in eine Paradoxie. Auf seiner Grundlage war nicht mehr sichergestellt, dass vergleichbare Fälle vergleichbar entschieden wurden, was wiederum als eine der Hauptforderungen der equity gelten musste. Weiterhin mag ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bei der Kritik an der ursprünglichen equity-Rechtsprechung auch die einflussreiche Philosophie Thomas Hobbes’ eine Rolle gespielt haben, der in einer rein vernunftbezogenen Einzelfallbeurteilung eine Gefahr für die formale Ordnungsfunktion des Staates erblickte.564 Schließlich war die equityRechtsprechung deswegen einem zunehmenden Misstrauen ausgesetzt, weil sie über die Person des Lord Chancellor in einer starken Abhängigkeit von dem Monarchen stand und insoweit auch aus institutioneller Sicht eine gewisse Spannung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit des common law aufwies, die sich im Laufe der Zeit das Credo der bürgerlichen Freiheitssicherung erarbeitet hatte.565 Einen personalen Kulminationspunkt erlebte dieses Spannungsverhältnis zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der Rivalität zwischen Sir Edward Coke, Chief Justice der King’s Bench, und Lord Ellesmere, Kopf des Court of Chancery. Im Rahmen dieses Disputs warf Coke dem Court of Chancery weit rei-
561
Earl of Oxford’s Case, [1615] 1 Rep. Ch. 1, 6. Maitland/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 8. 563 Fry v. Porter, [1670] 1 Mod. Rep. 300, 307, per Vaughan C.J. 564 Siehe Hobbes, A Dialogue between a Philosopher and a Student of the Common Laws, hrsg. von Cropsey, 1971, S. 54 ff.; dazu auch Postema, Some Roots of our Notion of Precedent, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 9 (11 ff.). 565 Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 193 ff. 562
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chende Kompetenzüberschreitungen vor und wirkte auf die Missachtung entsprechender Entscheidungen der Chancery hin.566 Daher führte kein Weg daran vorbei, auch die equity zu einem System konsistenter Regelungen auszubauen, das eine gleichmäßige Rechtsprechung des Court of Chancery ermöglichte, die von der Person des jeweiligen Lord Chancellor in größtmöglichem Maße unabhängig war. Einen wichtigen Schritt in dieser Richtung bildete die mit dem 17. Jahrhundert einsetzende Praxis der Chancery, ihre Urteile regelmäßig zu veröffentlichen. 567 Auf den klassischen Gebieten des Privatrechts, das heißt dem Vertragsrecht, dem Deliktsrecht und dem Sachenrecht, bildeten sich nun auch in der equity-Rechtsprechung Regeln heraus, die zwar über die Vorgaben des common law hinausgingen, aber gleichwohl Modellcharakter für künftige Rechtsstreitigkeiten besaßen.568 So war spätestens ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert im Bereich der equity das Bemühen der Gerichte deutlich, eine zeitübergreifende Konsistenz der Entscheidungen sicherzustellen. Zugunsten dieses Ziels waren die Lord Chancellors auch bereit, Gesichtspunkte der Einzelfallgerechtigkeit in einem gewissen Maße zurückzustellen. Dies galt ungeachtet der Tatsache, dass sich das strenge Prinzip des stare decisis als Bindung an die ratio decidendi einer bestimmten Entscheidung erst im Laufe des 19. Jahrhunderts voll durchsetzte.569 Denn historisch knüpfte die Präjudizienbindung im englischen Recht zunächst nicht an die Verbindlichkeit einzelner Vorentscheidungen und der hierin enthaltenden Rechtsregeln an, sondern an den Gedanken, dass eine kontinuierliche Reihe von Entscheidungen und das aus ihrer Summe ableitbare Regelungsgefüge Gültigkeit beansprucht.570 Durch diese Bezugnahme auf eine wohletablierte Entscheidungskette stand die Präjudizienbindung ursprünglich noch in einer engen Beziehung zu der klassischen Idee, nach der das common law die Summe der zu Recht geronnenen customs bildet. Einen deutlichen Ausdruck fand diese Hinwendung zu einer konsistenzorientierten equity-Rechtsprechung zum Beispiel in der Entscheidung Galton v. Hancock aus dem Jahr 1743.571 In diesem Rechtsstreit ging es um die Frage, wie in einem Erbfall die Belastungen, die sich aus Schulden des Erblassers ergeben, im Innenverhältnis zwischen dem gesetzlichen Erben und einem Vermächtnisnehmer zu verteilen sind. Konkret ging es um die Frage, ob die Pflicht des Erben zur Begleichung der Erblasserschulden sich auch auf Schulden bezieht, die durch eine Hypothek (mortgage) an demjenigen Grundeigentum des Erblassers 566 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 108 f.; siehe auch Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 242 ff. 567 Siehe dazu Macnair, The Structure and Function of the Early Chancery Reports, in: Stebbings (Hrsg.), Law Reporting in Britain, 1995, S. 123 ff. 568 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 110 f. m.w.N. und ausführlich Maitland/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 23 ff. 569 Siehe hierzu unten § 3 B V, S. 147 ff. 570 Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 347. 571 Galton v. Hancock, [1742] 26 Eng. Rep. 656; [1743] 26 Eng. Rep. 658.
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gesichert sind, das dem Vermächtnisnehmer zugewendet wurde. In einer ersten Entscheidung des Falls stellte Lord Hardwicke fest, dass zu dieser Frage keine unmittelbar einschlägigen Präjudizien vorlägen und dass es eine unbotmäßige Härte für den Erben darstellen würde, wenn er den Vermächtnisnehmer auch von der grundpfandrechtlich gesicherten Schuld entlasten müsste. Deshalb gebiete die equity eine Entscheidung zugunsten des Erben.572 In einem rehearing des Falls wurde diese Auffassung jedoch revidiert. Nun setzte sich der Court of Chancery eingehender mit verschiedenen Präjudizien auseinander, die Hinweise auf eine Lösung des Problems bereithielten. Hieraus wurde nun gefolgert, dass zwischen grundpfandrechtlich gesicherten Erblasserschulden und sonstigen Schulden kein Unterschied gerechtfertigt sei, weshalb der Erbe den Vermächtnisnehmer trotz der daraus resultierenden finanziellen Härten auch von der Hypothek entlasten müsse: „I might at first be influenced by the appearance of hardship in this case on the part of the heir. But the rule of a court of equity in marshalling of assets is of great consequence to the practice of this court, and ought to countervail any arguments of hardship to particular persons […].“573
In eine ähnliche Richtung weisen die folgenden Ausführungen des Lord Chancellor, Lord Eldon, aus dem Jahr 1818, die das Erfordernis einer konsistenten Entscheidungspraxis in equity hervorheben: „The doctrines of this Court ought to be as well settled and made as uniform almost as those of the common law, laying down fixed principles, but taking care that they are to be applied according to the circumstances of each case. I cannot agree that the doctrines of this Court are to be changed with every succeeding judge. Nothing would inflict on me greater pain, in quitting this place, than the recollection that I had done anything to justify the reproach that the equity of this Court varies like the Chancellor’s foot.“574
Somit wich auch im Bereich der equity der Gedanke einer relativ freien Rechtsschöpfung nach und nach den heute als tradiert geltenden Schranken englischer Rechtsprechung, die aus einer präjudiziell gebundenen Fallbetrachtung folgen. Mit einiger Berechtigung argumentiert Allen, dass die Beachtung vorangehender Entscheidungen für die equity im Laufe der Zeit sogar eine größere Bedeutung als für das klassische common law erlangte, weil das Gestaltungspotential der Billigkeitsrechtsprechung einer ausgleichenden Formgebung bedurfte, um dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit Rechnung zu tragen.575 Zudem galt mit der Entscheidung Shirley v. Fagg aus dem Jahr 1675 als geklärt, dass sich die Jurisdiktion des House of Lords auch auf Rechtsmittel gegen equity-Entschei-
572 573 574 575
Galton v. Hancock, [1742] 26 Eng. Rep. 656, 657. Galton v. Hancock, [1743] 26 Eng. Rep. 658, 663. Gee v. Pritchard, [1818] 2 Swans. 403, 414. Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 344, 381 f., 417 ff.
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dungen des Court of Chancery erstreckte und diese somit keine reinen Ermessensentscheidungen der Krone waren. 576 Folglich kam es zu einer starken Konvergenz des Normbildungspotentials in den Bereichen des common law und der equity, die Blackstone bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts wie folgt zusammenfasste: „The systems of jurisprudence in our courts both of law and equity are now equally artificial systems, founded in the same principles of justice and positive law; but varied by different usages in the forms and mode of their proceedings […].“577
Schließlich fand die Annäherung von common law und equity im Laufe des 19. Jahrhunderts auch einen institutionellen Niederschlag. So glichen sich die Verfahrensordnungen für Prozesse nach dem common law und nach equity schrittweise an.578 In diesem Sinne integrierten die common law-Gerichte verstärkt auch Institute in ihre Rechtsfindung, die klassischerweise den equityGerichten vorbehalten waren und vice versa.579 Das klassische writ-System des Court of Common Pleas und der King’s Bench wurde ab dem Jahr 1832 schrittweise abgeschafft.580 Seit den Judicature Acts 1873–1875 bedurfte es generell keines Rechtsvortrags der Parteien mehr, sondern nur noch der Angabe des streitgegenständlichen Sachverhalts und eines bestimmten Klageziels durch den Kläger.581 Die Rechtsstreitigkeiten waren fortan einheitlich unter allen Gesichtspunkten des common law und der equity zu beurteilen.582 Folgerichtig wurde die formelle Trennung zwischen Gerichten „at law“ und „in equity“ durch die Judicature Acts gänzlich aufgehoben und die Chancery als unselbstständige Abteilung (Chancery Division) in den neu geschaffenen High Court integriert.583 Dies veranlasste Maitland zu der Aussage, das Gebiet der equity könne fortan nur noch dadurch definiert werden, dass es die Summe der Regeln bilde, die in der Vergangenheit durch die separaten equity-Gerichte angewandt worden seien.584
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Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 21. Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band III, 1768, S. 429. 578 Näher Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 210 f. 579 Grundlegend Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 65 ff. 580 Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 6 f. 581 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 91 f.; Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 4. 582 Maitland/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 15 f.; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 212. 583 Hepburn, The Historical Development of Code Pleading in America and England, 1897, S. 185; Maitlant/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 15; Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 49. 584 Maitlant/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 1. 577
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„The day will come when lawyers will cease to inquire whether a given rule is a rule of equity or a rule of common law: suffice it that it is a well-established rule administered by the High Court of Justice.“585
Mit der Schaffung eines einheitlichen verfahrensmäßigen Rahmens verschoben sich zugleich die Gewichte weg von einer vornehmlich prozessual orientierten Sichtweise und hin zu einer materiellrechtlichen Perspektive. Die Frage nach den Formen individuellen Rechtsschutzes wich der Frage nach den materiellen Rechten der Beteiligten – „of what are the rights between man and man“.586 Dieser Blickwechsel ermöglichte es zugleich auch, privatrechtliche Regelungen nicht mehr vornehmlich als formale Ordnungsmuster zu begreifen, sondern als zweckbezogene Rechtspositionen, die einer aktiven Gestaltung durch Gerichte zugänglich waren.587 In diesem Sinne kann von einem gewissen Paradigmenwechsel durch die Judicature Acts gesprochen werden, der das englische Prozesswesen zugunsten eines gesteigerten Handlungs- und Ermessensspielraums der Gerichte auflockerte.588 Erhalten blieb aus dem ursprünglichen Charakter der Rechtsprechung allerdings auch nach dem Ende der Separierung von law und equity, dass die Bildung präjudizieller Regeln stets mit den konkret zu entscheidenden Fallkonstellationen verbunden blieb. Denn die Normbildung floss weiterhin nicht aus einer abstrakten richterlichen Regelungsbefugnis, sondern aus der Idee eines sukzessiven Entscheidungsgefüges.589 Folgerichtig waren für die Ermittlung des präjudiziellen Rechts auch nur solche normativen Aussagen bedeutsam, die zur Entscheidung des jeweiligen Falls erforderlich waren. Bloße obiter dicta anlässlich einer Entscheidung wurden hingegen nicht als Rechtsquelle anerkannt und blieben unverbindlich.590 So findet sich beispielsweise in einem Fall aus dem Jahr 1673 die folgende Passage: „An opinion given in Court, if not necessary to the judgment given of record, but that it might have been as well given if no such, or a contrary opinion had been broached, is no judicial opinion, nor more than a gratis dictum.“591
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Maitlant/Brunyate, Equity, 2. Aufl. 1936, S. 20. Maitland, The Forms of Action at Common Law, 1968, S. 66; ähnlich Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 82 f. 587 Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 85; Llewellyn, 30 Colum. L. Rev. 431, 436 f., 442 (1930). 588 Michalik, Justice in Crisis: England and Wales, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 117 (127). 589 Zywicki, 97 Nw. U. L. Rev. 1551, 1565 ff. (2003); Zywicki/Sanders, 93 Iowa L. Rev. 559, 579 ff. (2008). 590 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 198 f.; näher zur Abgrenzung zwischen ratio decidendi und obiter dictum Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 75 ff. 591 Bole v. Horton, [1673], per Vaughan C.J., zitiert nach Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 209. 586
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Die Normbildung verkörperte somit keine eigenständige Funktion der richterlichen Tätigkeit, sondern stellte trotz der zunehmenden Materialisierung des Rechts und des voranschreitenden Präjudizienwesens weiterhin eine mittelbare Folge der Streitentscheidungen dar.
IV. Der Zweck des Appellationsprozesses Die vorrangige Bedeutung der Streitentscheidung galt dabei auch für die Tätigkeit der Appellationsgerichte. Als solche fungierten seit dem 17. Jahrhundert und bis zu den Judicature Acts gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Exchequer Chamber in zweiter Instanz und das House of Lords in dritter Instanz.592 Ursprünglich beanspruchte das House of Lords die oberste Gerichtsbarkeit zwar, weil es diese Gerichtsbarkeit als wesensverwandt mit der gesetzgebenden Tätigkeit ansah und daher im Oberhaus des Parlaments angesiedelt wissen wollte. 593 Nach und nach trat jedoch eine juristische Professionalisierung der rechtsprechenden Tätigkeit des House of Lords ein, die sie materiell von der gesetzgebenden Tätigkeit abgrenzte,594 selbst wenn diese Trennung erst im 19. Jahrhundert einen eindeutigen institutionellen Niederschlag fand.595 Die Funktion des Appellationsprozesses bestand vor diesem Hintergrund weniger in einer Normbildung als vielmehr in einer erneuten Überprüfung des vorinstanzlichen Ergebnisses und wurde in einem Urteil aus dem Jahr 1723 wie folgt beschrieben: „[It is] the glory and happiness of our excellent constitution, that to prevent injustice no man is concluded by the first judgment; but that if he apprehends himself to be aggrieved he has another court to which he can resort for relief.“596
Dabei bezog sich dieser Gedanke einer Fehlerkorrektur zugunsten der beschwerten Partei nicht etwa auf die Ermittlung der Tatsachengrundlagen des Urteils, sondern gerade auf die Beurteilung von Rechtsfragen. Denn die englischen Appellationsgerichte waren als so genannte courts of error nahezu ausschließlich auf die Entscheidung von Rechtsfragen beschränkt.597 Eine vollständige oder teilweise Neubeurteilung der Tatsachengrundlage eines Urteils war in 592 Einzelheiten bei Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 18 ff. sowie im Überblick M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 26. 593 Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 21; Meyer-Mickeleit, Revision, Kassation und Final Appeal, Diss. Tübingen 1996, S. 15 f. 594 Hierzu Jones, The Judicial Role of the House of Lords before 1870, in: Blom-Cooper/ Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 3 ff.; MeyerMickeleit, Revision, Kassation und Final Appeal, Diss. Tübingen 1996, S. 15 ff. 595 Dazu unten § 3 B V, S. 150 f. 596 R. v. Cambridge University, ex parte Bentley, [1723] 1 Stra. 557, 565, per Pratt C.J. 597 Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 44 ff.; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 388.
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England weit gehend unbekannt.598 Dies beruhte vor allem darauf, dass die Beweiswürdigung in erster Instanz regelmäßig einer Jury oblag, weshalb ihre richterliche Überprüfung auf höherer Ebene systemwidrig gewesen wäre.599 Ausnahmen von der Appellationsfestigkeit der Beweiswürdigung bestanden folgerichtig nur in der equity-Rechtsprechung, bei der auch die Tatsachenermittlung nicht durch eine Jury, sondern durch den Richter erfolgte.600 Im Übrigen war der Gegenstand des Überprüfungsverfahrens jedoch auf Rechtsfragen beschränkt. Diese wurden nun, wie dargelegt, nicht vornehmlich im Interesse der Rechtsgemeinschaft, sondern der Parteien erneut beurteilt. Auch nachdem die Appellationsrechtsprechung durch die Gerichtsreform des Jahres 1875 dem Court of Appeal in zweiter Instanz und dem House of Lords in dritter Instanz übertragen worden war,601 diente sie nicht in erster Linie dem Interesse der Allgemeinheit an einer Klarstellung und Fortbildung des Rechts, sondern den Parteien des jeweiligen Rechtsstreits. Dies unterstreichen die folgenden beiden Umstände: Zum einen wurde der Court of Appeal durch die Judicature Acts mit dem erstinstanzlichen High Court (sowie mit dem in Strafsachen zuständigen Crown Court) unter das gemeinsame Dach des Supreme Court of Judicature602 zusammengefasst. Die Gerichtsbarkeit erster Instanz und die erste Appellationsebene bildeten somit fortan eine organische Einheit.603 Zum anderen geriet im Rahmen der Justizreform der Jahre 1873–1875 ernsthaft in Zweifel, ob es eines zweiten Rechtsmittels von dem neu geschaffenen Court of Appeal zum House of Lords überhaupt bedürfe, da mehr als eine Kontrollinstanz zur Überprüfung gerichtlicher Urteile unangemessen sei.604 Die rechtsprechende Funktion des House of Lords wurde erst durch eine Intervention „in letzter Minute“ nach Maßgabe des Appellate Jurisdiction Act von 598
Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 47. Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 61 f.; M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 21 ff. 600 Siehe van Caenegem, History of Civil Procedure, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 2, 1973, Rdnr. 33 (S. 45); M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 26 f.; R. Stürner, Festschrift Schumann, 2001, S. 491 (498). 601 Siehe Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 141 ff.; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 211 f.; Stevens, Law and Politics, 1978, S. 57 ff. 602 Im Jahr 1981 wurde das Gericht in „Supreme Court of England and Wales“ umbenannt; siehe Sec. 1 (1) Supreme Court Act 1981. Seit dem Constitutional Reform Act 2005 zählen der High Court und der Court of Appeal schließlich zu den „Senior Courts of England and Wales“; siehe Constitutional Reform Act (c. 4), sch. 11. 603 Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 12; Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 49; Steele, The Judicial House of Lords: Abolition and Restoration 1873–6, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 13 (17). 604 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 142; Blom-Cooper/ Drewry, Final Appeal, 1972, S. 27 ff. 599
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1876 beibehalten. Diese Wendung beruhte aber weniger auf der Überlegung, dass es einer genuin normbildenden zweiten Rechtsmittelinstanz bedürfe, als vielmehr auf einer im Hintergrund schwelenden politischen Auseinandersetzung zwischen dem House of Commons und dem House of Lords als den beiden Kammern des Parlaments. So sah das Oberhaus des Parlaments durch eine Beseitigung seines rechtsprechenden Zweigs langfristig auch seine politische Existenz gefährdet, weshalb es letztlich erfolgreich auf einer Aufrechterhaltung der rechtsprechenden Funktion beharrte.605 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass nicht nur der erste appeal zum Court of Appeal, sondern auch der zweite appeal zum House of Lords bis zum Jahr 1934 keinen formellen Restriktionen unterlag. Selbst das zweite Rechtsmittel wurde vielmehr auf der Grundlage des Appellate Jurisdiction Act 1876 als ein individuelles Recht der Parteien angesehen (appeal as of right), weshalb es keiner Zulassung des Rechtsmittels durch den iudex a quo oder den iudex ad quem bedurfte.606 Der Umstand, dass der Zufluss an Fallmaterial zu den Appellationsinstanzen nicht direkt durch die Gerichte gesteuert wurde, wurzelte dabei in dem kulturellen Leitbild der englischen Rechtsprechung, nach dem die Gerichte gesellschaftliche Probleme weniger aktiv-gestaltend als vielmehr passiv-reagierend aufgreifen. Die Überschaubarkeit des Fallvolumens vor dem Court of Appeal und dem House of Lords wurde vor diesem Hintergrund rein faktisch durch die hohe Kostenlast, die mit Rechtsmitteln verbunden war, und durch die selektierende Tätigkeit der barristers gesichert, die als Parteivertreter erheblichen Einfluss auf die Frage nahmen, in welchen Fällen Rechtsmittel eingelegt wurden. Gerade der Stand der barristers zeichnet sich historisch gesehen durch ein besonderes, der Rechtspflege verpflichtetes Ethos aus, das zu einer Mediation zwischen den Parteiinteressen und den Interessen an einem geordneten Ablauf des Prozessgeschehens vor den höheren englischen Gerichten führt. 607 Ein ernsthaftes Überlastungsproblem bestand daher für die englischen Appellationsgerichte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nicht.608 Im Jahr 1933 wurden allerdings unter der Leitung Lord Hansworths, der zu diesem Zeitpunkt als Master of the Rolls, das heißt als Präsident des Court of Appeal, fungierte, Vorarbeiten zu einem Gesetz angestoßen, das auf eine Beschränkung des Zugangs zum House of Lords durch eine Zulassungsentscheidung (leave to appeal) abzielte.609 Dieses Gesetz wurde in Gestalt des Adminis605 Eingehend zu der Auseinandersetzung Steele, The Judicial House of Lords: Abolition and Restoration 1873–6, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 13 ff.; siehe auch Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 28. 606 Siehe Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 120. 607 Kritzer, Courts, Justice, and Politics in England, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 81 (86). 608 Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 119 ff. 609 Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 120.
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tration of Justice (Appeals) Act 1934 auch erlassen und enthielt die folgende Bestimmung: „No appeal shall lie to the House of Lords from any order or judgment made or given by the Court of Appeal […], except with the leave of that Court or of the House of Lords.“610
Motiviert war diese Änderung allerdings nicht durch den Gedanken, die Ressourcen des House of Lords stärker auf Fälle zu konzentrieren, die einen unmittelbaren Ertrag für die Fortentwicklung des common law zum Wohle der Allgemeinheit erwarten ließen. Vielmehr offenbarten insbesondere die Stellungnahmen des Lord Chancellor, Viscount Sankey, und Lord Atkins in der Debatte des Gesetzes, dass dessen Zweck nicht in der Verringerung der Zahl der appeals oder der Steuerung der zu entscheidenden Rechtsfragen lag. 611 Vielmehr ging es darum zu verhindern, dass diejenige Partei, die vor dem Court of Appeal unterlegen war, die andere Partei mit der Drohung eines möglichen, aber in der Sache haltlosen Rechtsmittels zum House of Lords „erpressen“ kann, um ihr dadurch ungerechtfertigte Zugeständnisse abzuringen. Es sollte somit nur die Gefahr eines Missbrauchs des Rechtsmittels zum House of Lords abgemildert werden.612 Maßstab für eine leave to appeal musste daher zunächst die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels bleiben, so dass der Gedanke einer Rechtskontrolle im Interesse der Parteien fortwirkte. Die Verknüpfung der Rechtsmittelzulassung mit einem „point of principle“, das heißt einer Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung, entwickelte sich vielmehr erst später.613
V. Die Positivierung der Rechtsprechung und das Stare Decisis Herrschte noch bis weit in das 19. Jahrhundert im Anschluss an Blackstone die Auffassung vor, richterliche Urteile in Zivilrechtsstreitigkeiten seien lediglich Verkündungen des common law und nicht dessen Quelle,614 änderte sich dies im Zuge des aufkeimenden positivistischen Rechtsverständnisses grundlegend. Diese Neuorientierung war in erster Linie mit den Schriften John Austins, insbesondere mit seinen „Lectures on Jurisprudence“, verbunden und prägte das englische Rechtsverständnis im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich.615 Nach 610
Sec. 1 (1) Administration of Justice (Appeals) Act 1934. Siehe H.L. Debs., 5 June 1934, vol. 92, cols. 789 ff. 612 Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 121 f.; Drewry/Blom-Cooper, The House of Lords and the Court of Appeal, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 48 (54). 613 Hierzu unten § 5 A II 2, S. 360 ff. 614 Vgl. Cross, [1976] 92 L.Q.R. 516, 518 ff. 615 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 7; Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 257. 611
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Austin, der insoweit an die Philosophie Benthams anknüpfte,616 konnte als Recht nur das gelten, was als zwangsbewehrtes Gebot oder Verbot aus dem Willen einer Person fließt, die über den jeweiligen Adressaten Macht ausübt: „Every law or rule […] is a command. […] A command is distinguished from other significations of desire, not by the style in which the desire is signified, but by the power and the purpose of the party commanding to inflict an evil or pain in case the desire be disregarded.“617
Die typische Quelle solcher Ge- und Verbote war für Austin dabei ein politischer Souverän.618 Damit stellte er sich diametral gegen das ursprüngliche Ideal des common law, nach dem das Recht einer freien Disposition des Königs und des Parlaments entzogen ist, sondern sich vielmehr aus Verkehrssitten quasi von „unten nach oben“ entwickelt und durch das Mittel des Gerichtsverfahrens lediglich exekutiert wird. Diesem Blackstoneschen Ideal trat Austin – geradezu mit einer Umkehrung der jeweiligen Formulierungen – scharf entgegen.619 So hieß es bei Blackstone noch: „Justice is not derived from the King, as from his free gift; but he is the steward of the public, to dispense it to whom it is due. He is not the spring, but the reservoir; from whence right and equity are conducted by a thousand channels, to every individual.“620
Hingegen sah Austin das Recht als Produkt einer zentralisierten Planung des Souveräns an. Ein machtvoller Souverän erschien ihm dabei, im Anschluss an Hobbes, als einziger Garant der Vermeidung eines „bellum onmium contra onmes“: „For either directly or remotely, the sovereign, or supreme legislator, is the author of all law; and all laws are derived from the same source […]. Individuals or bodies legislating in subordination to the sovereign are more properly reservoirs fed from the source of all law, the supreme legislature, and again emitting the borrowed waters which they receive from that Fountain of Law.“621
Somit verortete Austin die Befugnis zur Normbildung in erster Linie in der Gesetzgebung, mag diese von einem Monarchen oder einem Parlament ausgehen.622 Anders als nach der klassischen Auffassung des common law, nach 616 Siehe Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 222 ff.; Postema, Some Roots of our Notion of Precedent, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 9 (13 f.). 617 Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Band I, 1885, S. 88 f. 618 Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Band I, 1885, S. 86 f. 619 Vgl. Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 2 f. 620 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band I, 1765, S. 266. 621 Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Band II, 1885, S. 510. 622 Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 241.
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welcher der Gesetzgeber die traditionell überlieferten rechtlichen Regelungen allenfalls in Randbereichen korrigieren durfte,623 zentrierte sich die Gestaltungsmacht nach der Vorstellung des englischen Rechtspositivismus nun maßgeblich auf den Willen des Souveräns. Die Aufgabe der Rechtsprechung war es in diesem Gefüge daher zunächst, die Ge- und Verbote des Souveräns umzusetzen und diesen damit das Zwangsmoment zu verleihen, das nach der positivistischen Lehre erforderlich ist, um ihre Rechtsqualität zu begründen.624 Allerdings zog Austin hieraus nicht die Konsequenz, der Rechtsprechung die Befugnis zur Normbildung gänzlich abzusprechen. Dies war zwar die Sichtweise Benthams, der insbesondere das retroaktive Moment der Normbildung durch die Rechtsprechung und damit das gesamte System des common law als inakzeptabel ansah.625 „It is the judges […] that make the common law. Do you know how they make it? Just as a man makes law for his dog. When your dog does anything you want to break him of, you wait till he does it and then beat him. This is the way you make laws for your dog: and this is the way the judges make law for you and me.“626
Für Bentham war es somit ein hauptsächlicher Mangel des Richterrechts, dass dieses als „law after the fact“ immer erst nach dem Aufkommen von Fällen entstehen kann, die es selbst bereits regeln soll.627 Hingegen sah Austin es durchaus als eine der vornehmsten Aufgaben der obersten Gerichte an, selbst neues Recht zu setzen, soweit der Souverän sie hierzu autorisiert hatte. Er kritisierte lediglich die Bemäntelung dieses Vorgehens als bloß deklaratorische Anwendung des Rechts: „I by no means disapprove of what Mr. Bentham has chosen to call by the disrespectful, and therefore, as I conceive, injudicious, name of judge-made law. For I consider it injudicious to call by any name indicative of disrespect what appears to me highly beneficial and even absolutely necessary. I cannot understand how any person who has considered the subject can suppose that society could possibly have gone on if judges had not legislated, or that there is any danger whatever in allowing them that power which they have in fact exercised, to make up for the negligence or the incapacity of the avowed legislator. That part of the law of every country which was made by judges has been far better made than that part which consists of statutes enacted by the legislative. Notwithstanding my great admiration for Mr. Bentham, I cannot but think that, instead of blaming judges for having legislated, he should blame them for the timid, narrow, and piecemeal manner in
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Siehe oben § 3 B I 1, S. 126 f. Siehe Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Band I, 1885, S. 97. 625 Zu Benthams Reduzierung legitimer Rechtsquellen auf die Gesetzgebung auch Cross, [1976] 92 L.Q.R. 516 ff. sowie Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 30 f. und Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 194 f. 626 Bentham, The Works of Jeremy Bentham, hrsg. von Bowring, Band V, 1962, S. 235. 627 Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 2. 624
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which they have legislated, and for legislating under cover of vague and indeterminate phrases […].“628
Im Einklang mit seiner Definition des Rechts kam es für Austin somit nur darauf an, ob die richterlich gebildeten Normen hinreichend durch Zwangssanktionen gedeckt sind, die ihre Befolgung sicherstellen und die Rechtssubjekte damit zu Gewaltunterworfenen der normbildenden Rechtsprechung machen.629 Dies geschah für ihn im Wege eines, gegebenenfalls stillschweigenden, Einverständnisses des Souveräns mit der richterlichen Normbildung, das diesen Normen eine Teilhabe an dem staatlichen Sanktionsapparat einräumt.630 Der Machtzuwachs der Gerichte, der sich aus dem positivistischen Rechtsverständnis im Vergleich mit der rein deklaratorischen Auffassung der Rechtsprechung ergab, wurde jedoch sogleich durch eine strenge Präjudizienbindung moderiert, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts voll entfaltete.631 Die Anfänge der Präjudizienbindung reichen dabei bereits bis in das 14. Jahrhundert zurück, als mit der aufkommenden Veröffentlichung von Urteilen in den so genannten Year Books allmählich die faktischen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, um sich auf vorangegangene Urteile als autoritative Vorgaben beziehen zu können.632 Eine strikte Bindung an die rationes decidendi einzelner Entscheidungen folgte hieraus jedoch nicht sogleich, wofür zwei Gründe maßgeblich waren: Erstens erfolgte im Bereich des klassischen common law zu Zeiten des writSystems nur selten eine definitive Klärung neuer Rechtsfragen in den veröffentlichten Urteilen.633 Hierbei spielte auch eine Rolle, dass die Prozessaufzeichnungen in den Year Books nicht durch die entscheidenden Gerichte, sondern in der Regel durch die Schüler beteiligter Rechtsanwälte erfolgten. Diese konzentrierten sich in ihren Ausführungen weniger auf den Standpunkt des Gerichts als vielmehr auf das Vorbringen der Parteivertreter, dessen Struktur sie zu erlernen suchten.634 Selbst soweit die Urteilsaufzeichnungen später durch eminente 628 Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Band I, 1885, S. 218 f. 629 Vgl. Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Band I, 1885, S. 96 ff. 630 Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Band I, 1885, S. 101 ff. und Band II, 1885, S. 520 f. 631 Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 24 ff.; Evans, Change in the Doctrine of Precedent during the Nineteenth Century, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 35 ff.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 253 f. 632 Dazu Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 190 ff.; Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 178 ff.; Dawson, The Oracles of the Law, 1968, S. 50 ff. 633 Siehe oben § 3 B II, S. 131 f. 634 Plucknett, Early English Legal Literature, hrsg. von Holland, 1958, S. 102 ff.; Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1195, 1198 (2007).
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Juristen, wie beispielsweise im 17. Jahrhundert durch den Richter Sir Edward Coke erfolgten, besaßen sie noch keine amtliche Autorität und vermischten zuweilen die Darstellung des Entschiedenen mit privaten Kommentaren und Ansichten.635 Folgerichtig widersprachen sich verschiedene Darstellungen desselben Falls nicht selten. Das Studium der verfügbaren Urteilsaufzeichnungen ermöglichte daher selbst noch im 18. Jahrhundert nur teilweise, eine präzise ratio decidendi festzustellen.636 Zweitens war auch der Bezugspunkt der Präjudizienbindung ebenfalls bis in das 18. Jahrhundert hinein ein anderer als nach dem modernen Verständnis des stare decisis. Selbst soweit die ratio decidendi eines einzelnen Urteils zuverlässig festellbar war, konnte nicht sie allein, sondern nur eine konsistente Entscheidungsserie verbindlich werden.637 Hierin spiegelte sich noch in einem gewissen Maße der Gedanke wider, Gerichtsentscheidungen seien keine eigenständige Rechtsquelle, sondern nur eine Verlautbarung gewohnheitsrechtlicher Normen. Mit dem Siegeszug des Positivismus im 19. Jahrhundert wurde dann jedoch der Weg für ein strenges Prinzip des stare decisis frei gemacht, nach dem nicht nur eine wohletablierte Entscheidungskette, sondern jedes einzelne Urteil mit seiner ratio decidendi ein rangniederes oder ranggleiches Gericht in späteren Verfahren bindet. Insbesondere konnten nunmehr die rationes decidendi der jeweiligen Präjudizien im Zuge einer professionelleren Aufbereitung der Entscheidungen gut nachvollzogen werden.638 Eine wichtige Rolle hierbei spielte die Gründung des Council of Law Reporting, das seit dem Jahr 1865 zuverlässige „Law Reports“ herausgab, die durch die Mitwirkung der entscheidenden Richter eine authentische Darstellung garantierten.639 Daneben schuf die Verschmelzung der law- und equity-Gerichte durch die Judicature Acts ab dem Jahr 1875 eine einheitliche Gerichtshierarchie, die eine klare Bestimmung der Bindungswirkung von Präjudizien im Instanzenzug ermöglichte.640 Schließlich 635 Lord Hope of Craighead, Methods and Results – the place of case law in the legal system of the UK, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, 2003, S. 145 (148); Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 281; Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1199 f. (2007). 636 Dawson, The Oracles of the Law, 1968, S. 65 ff.; Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1200 ff. (2007). 637 Dazu oben § 3 B III, S. 137. 638 Hierzu Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 221 ff.; Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 67 f.; Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 126; Dawson, The Oracles of the Law, 1968, S. 80 ff.; Wesley-Smith, Theories of Adjudication and the Status of Stare Decisis, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 73 (81). 639 Baker, An Introduction to English Legal History, 4. Aufl. 2002, S. 184; Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1203 (2007). 640 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 220 f.; Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 126; Plucknett, A Concise History of the Common Law, 5. Aufl. 1956, S. 349 f.; Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1206 (2007); Wesley-Smith, Theories of Adjudication and the Status of Stare Decisis, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 73 (81).
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war mit der durch Bentham und Austin geprägten Vorstellung, dass es sich bei rechtlichen Regelungen um Setzungen eines Souveräns und nicht um zeitlose Vorgaben handelte, ein weiteres Hindernis für die bindende Wirkung von Urteilen beseitigt.641 Folglich war nunmehr auch der Brückenschlag zwischen Präjudizienbindung und Gewohnheitsrecht nicht mehr erforderlich, sondern vermochte die Autorität der richterlichen Entscheidung bereits aus sich heraus die Verbindlichkeit der Urteile zu tragen. Die inhaltliche Referenz, die das Recht im Bild des Positivismus aufgrund der Abkoppelung der Rechtsinhalte von überlieferten Wahrheiten verlor, wurde daher durch die formale Referenz der Präjudizienbindung ersetzt.642 Der damit verbundene Anschauungswandel kommt schön in einer Äußerung des Richters Mellish aus dem Jahr 1875 zum Ausdruck, die den radikalen Bruch mit der Blackstoneschen Sichtweise verdeutlicht: „The whole of the rules of equity and nine-tenths of the common law have in fact been made by judges.“643
Folgerichtig erkannte das House of Lords in der Entscheidung Beamish v. Beamish aus dem Jahr 1861 förmlich seine Bindung an eigene Präjudizien an, weil diesen Entscheidungen ein konstitutives Moment zukomme.644 Allerdings begrenzte die voranschreitende Positivierung des Rechts nicht nur die Abweichung von bestehenden Präjudizien, sondern auch die Setzung neuer richterrechtlicher Regelungen, die in dem bisherigen case law keinen Niederschlag gefunden hatten.645 Dies folgte vor allem aus dem nun wirkungsmächtigen Gedanken einer absoluten Souveränität des Parlaments.646 Danach unterliegt das Parlament einerseits bei der Schaffung neuer rechtlicher Regelungen grundsätzlich keinen inhaltlichen Bindungen und ist andererseits die Fortentwicklung des Rechts vornehmlich dem gesetzgeberischen Prozess vorbehalten.647 Der Gedanke der uneingeschränkten Parlamentssouveränität überwand insbeson641 Evans, Change in the Doctrine of Precedent during the Nineteenth Century, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 35 (65 ff.); Postema, Bentham and the Common Law Tradition, 1986, S. 210 ff. 642 Siehe zu diesem Zusammenhang Alexander/Sherwin, Judges as Rule Makers, in: Edlin (Hrsg.), Common Law Theory, 2007, S. 27 (30 ff.). 643 Allen v. Jackson, [1875–76] L.R. 1 Ch. D. 399, 405, per Mellish L.J. 644 Beamish v. Beamish, [1861] 11 Eng. Rep. 735, 761, per Lord Campbell; dazu Evans, Change in the Doctrine of Precedent during the Nineteenth Century, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 35 (56 f.); Stevens, Law and Politics, 1978, S. 82 f. 645 Allgemein zu „cases of first impression“ Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 200 ff.; Lefroy, [1904] 20 L.Q.R. 399 ff. 646 Dazu Barnes, Shaping the Common Law, hrsg. von Boyer, 2008, S. 163; Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 198 ff.; Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1997, S. 145; Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 7 ff. 647 Grundlegend Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. 1959, S. 39 ff.
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dere das klassische Verständnis des richterlich geprägten common law als eine Quasi-Verfassung, welche die Grundstrukturen des englischen Rechts zwingend vorgibt und gesetzgeberischen Korrekturen nur eingeschränkt zugänglich ist.648 Fortan galt das Richterrecht zwar weiter als Rechtsquelle, die aber der Entscheidungshoheit des Gesetzgebers umfassend subordiniert war. In diesem Sinne stellte es aus positivistischer Sicht eine konsequente Fortentwicklung des Prinzips stare decisis dar, nicht nur die Abänderung bereits bestehender Präjudizien dem Parlament zu überlassen, sondern auch die erstmalige Bildung neuer Normen zumindest dann auf die Legislative zu verlagern, wenn sie von einigem Gewicht waren. Daher zog der Gedanke der Parlamentssouveränität eine grundsätzliche Vermutung zugunsten der Vollständigkeit des bestehenden case law nach sich,649 da neue Normen durch das Parlament geschaffen werden sollten und die Aufgabe der Rechtsprechung im Wesentlichen auf die Umsetzung und punktuelle, fallnahe Anpassung des bestehenden Rechts begrenzt blieb.650 Folgerichtig begründete das House of Lords die strenge Handhabung des Grundsatzes stare decisis auch maßgeblich mit der Wahrung der Entscheidungshoheit der Legislative.651 Mit den Worten Barnes’ ging es somit darum „to take the judiciary out of politics, if not quite to take politics out of the judiciary“.652 In diesem Sinne entwickelte sich der englische Rechtspositivismus im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine Richtung, die der Rechtsprechung gerade keine umfassende Kompetenz zuerkannte, bisher offene Rechtsfragen anlässlich der Entscheidung konkreter Rechtsstreitigkeiten zu regeln. 653 Die abstrakte Fortentwicklung des Rechts als Aufgabe des Gesetzgebers wurde vielmehr von der Rechtsdurchsetzung und -konkretisierung als den Aufgaben des Gerichtsprozesses strikt getrennt.654 Dies galt in besonderem Maße für das House of Lords. Ursprünglich waren zwar die legislative Funktion des House of Lords als Teil des Parlaments und seine Rolle als oberstes englisches Gericht institutionell noch nicht streng voneinander geschieden. Dies änderte sich jedoch im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts grundlegend.655 Insbesondere zwei Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert: Zum einen wurde durch den Appellate Jurisdiction Act im Jahr 1876 das Amt der „Lords of Appeal in Ordinary“ geschaffen, die trotz ihrer fortbestehenden Mitgliedschaft im Oberhaus des Parlaments656 vornehmlich mit der rechtsprechenden Funktion betraut wa648 649 650 651 652 653 654 655 656
Hierzu oben § 3 B I 1, S. 126 f. Vgl. Levitsky, 42 Am. J. Comp. L. 347, 350 (1994). Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-Amercan Law, 1987, S. 139 ff., 228 f. Beamish v. Beamish, [1861] 11 Eng. Rep. 735, 760 f., per Lord Campbell. Barnes, Shaping the Common Law, hrsg. von Boyer, 2008, S. 163. Siehe Atiyah, 65 Iowa L. Rev. 1249, 1259 (1980). Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract, 1979, S. 660 ff. Ausführlich Stevens, Law and Politics, 1978, S. 14 ff. Näher zur verbleibenden Beteiligung der Law Lords an der Legislative Blom-Cooper/
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ren.657 Zum anderen formierte sich der rechtsprechende Arm des House of Lords im Jahr 1948 zu dem so genannten Appellate Committee, wodurch der judikative Verfahrensgang von den legislativen Sitzungen in der so genannten Chamber of the House of Lords abgetrennt wurde.658 Fortan bestand somit auch aus institutioneller Sicht eine eindeutige Unterscheidung zwischen der judikativen Funktion und der legislativen Funktion des House of Lords.659
VI. Die Urteilspraxis des Court of Appeal und des House of Lords Selbstverständlich wäre es realitätsfern anzunehmen, dass die obersten englischen Gerichte seit der Etablierung des strengen Präjudiziengedankens das Recht nur noch mechanisch anwendeten und nicht mehr fortentwickelten. Die umfassende Weiterbildung zahlreicher privatrechtlicher Institute durch die englische Rechtsprechung im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert hat Stevens in einer groß angelegten Untersuchung für das House of Lords umfassend aufgearbeitet.660 Mit diesem Befund harmoniert es, dass dieses Gericht durch das Practice Statement aus dem Jahr 1966 auch offiziell die Kompetenz für sich in Anspruch nahm, unter bestimmten Voraussetzungen von eigenen Präjudizien abweichen zu können.661 Entscheidend für die Themenstellung der vorliegenden Arbeit ist jedoch nicht das Ausmaß dieser richterlichen Normbildung, sondern vielmehr die Frage, in welchem Verhältnis der Court of Appeal und das House of Lords diese Normbildung zu der Streitentscheidung in dem jeweiligen Einzelfall betreiben. Die englische Rechtsprechung tendiert dabei dazu, die Normschöpfung grundsätzlich nicht als eine eigenständige, von der Streitentscheidung losgelöste Funktion zu begreifen, sondern als deren Ausfluss. Dies gilt zum einen für den Court of Appeal als Mittelinstanz, dessen Aufgabe Lord Diplock im Jahr 1982 mit den folgenden Worten umschrieben hat:
Drewry, Final Appeal, 1972, S. 196 ff. und Hope, Law Lords in Parliament, in: Blom-Cooper/ Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 164 ff. 657 Stevens, Law and Politics, 1978, S. 65 ff.; siehe auch Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 24, 28 f. 658 Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 112 f.; White, The Judicial Office, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 30 (36 f.). 659 Wesley-Smith, Theories of Adjudication and the Status of Stare Decisis, in: Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 73 (82 ff.). 660 Stevens, Law and Politics, 1978, S. 133 ff., 209 ff., 384 ff., 590 ff. 661 Siehe oben § 2 B I, S. 28 f.; ausführlich zu den Hintergründen des Practice Statement Blom-Cooper, 1966 and All That: The Story of the Practice Statement, in: Blom-Cooper/ Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 128 ff.
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„The primary duty of the Court of Appeal on an appeal in any case is to determine the matter actually in dispute between the parties. […] Accordingly propositions of law may well be stated in terms either more general or more specific than would have been used if he who gave the judgment had had in mind somewhat different facts, or had heard a legal argument more expansive than had been necessary in order to determine the particular appeal.“662
Darüber hinaus wird auch das House of Lords als eine klassisch orientierte „Vaterfigur“ der englischen Rechtsprechung angesehen, die das Banner der Präjudizienbindung hochhält und ein gesetzgebungsähnliches, rechtspolitisches Ausgreifen der unteren und mittleren Instanz bereits im Keim erstickt.663 Vor diesem Hintergrund erscheint die englische Appellationsrechtsprechung im Bereich des Zivilrechts nicht vornehmlich als eine normbildende Gewalt im Dienste der Gemeinschaft, sondern als ein Schlichter unter den Bürgern und ein Balancepunkt zwischen dem Staat und den Einzelnen.664
1. Der Einfluss des Rechtsprechungsstils Diese Anbindung der richterlichen Normbildung an das streitentscheidende Moment spiegelt sich zunächst in verschiedenen stilistischen Besonderheiten wider, die für Urteile englischer Obergerichte typisch sind. Charakteristisch ist dabei zunächst die besonders intensive Behandlung, die der jeweilige Sachverhalt in den Entscheidungen des Court of Appeal und des House of Lords in aller Regel erfährt. Anders als beispielsweise der Bundesgerichtshof665 verfolgen die englischen Gerichte nicht das Ziel, den Sachverhalt auf ein Minimum zu konzentrieren. Vielmehr wird dieser regelmäßig in allen seinen Nuancen geschildert, wobei gerade die konkrete Anschaulichkeit des Lebenssachverhalts die rechtliche Beurteilung oft maßgeblich beeinflusst.666 Hierbei spielt auch eine Rolle, dass der Ablauf des englischen Appellationsverfahrens bis zur Urteilsfindung maßgeblich durch die mündliche Verhandlung geprägt wird. So erkennt Damaska in dieser Betonung des mündlichen Moments einen kulturellen Wesenszug englischer Rechtsprechung, der ihre Verknüpfung mit dem jeweils zu lösenden Konflikt sichert und damit zugleich einen Gegensatz zu einem abstrakt-zweckorientierten Vorgehen bildet.667 Zwar sind die Parteivertreter mittlerweile sowohl in Verfahren vor dem Court of Appeal668 als auch 662
Roberts Petroleum Ltd. v. Bernard Kenny Ltd., [1983] 2 A.C. 192, 201. Wilson/Christiansen, England and Wales, in: Platto (Hrsg.), Civil Appeal Procedures Worldwide, 1992, S. 140 (147 f.). 664 Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 16. 665 Siehe oben § 3 A XI 1, S. 99 f. 666 G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 7/28; Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 292. 667 Damaska, The Faces of Justice and State Authority, 1986, S. 61 f. 668 Siehe Practice Direction (Court of Appeal: Presentation of Argument), [1989] 663
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vor dem House of Lords669 bzw. jetzt dem Supreme Court of the United Kingdom670 verpflichtet, zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eine aussagekräftige Grobstruktur ihrer Argumentation einzureichen. Diese schriftliche Vorbereitung sehen die Gerichte aber nicht als Kernpunkt des Appellationsverfahrens an, sondern als ein Hilfsmittel, dessen Umfang und Bedeutung nicht zu weit ausgedehnt werden sollte.671 Im Zentrum der Urteilsfindung steht daher auch heute noch die mündliche Verhandlung, in der die Parteivertreter jeweils ihren „case“ entwickeln.672 Aufgrund des adversarialen Grundcharakters des Appellationsverfahrens bestimmen die Parameter dieses Parteivortrags dann in der Regel auch die späteren Erwägungen der Richter bei der Urteilsfindung.673 Der mündliche Modus fördert somit die Verbindung von Fall und Rechtsaussage als Gegenstück zu rein abstrakten juristischen Erwägungen. Schließlich steigert die Präjudizienbindung noch einmal die Relevanz der konkreten Entscheidungssachverhalte. Einen bindenden Charakter erlangen dabei niemals abstrakte Ausführungen zu der geltenden Rechtslage aus früheren Urteilen, so eingängig und überzeugend diese systematisierenden Ausführungen auch sein mögen.674 Vielmehr kann die ratio decidendi der früheren Entscheidung nur aus dem Zusammenspiel der rechtlichen Erwägungen mit dem jeweils zugrunde liegenden Sachverhalt gewonnen werden. Somit beschränkt sich eine kunstgerechte Urteilsfindung nicht auf die sorgfältige Aufbereitung des nun zur Entscheidung anstehenden Sachverhalts und die Inbezugnahme bloßer Rechtsausführungen aus Präjudizien. Zumindest in schwierigen Fällen muss auch der den Präjudizien zugrunde liegende Sachverhalt genau analysiert werden, um die jeweilige ratio decidendi und ihre Einschlägigkeit für den vorliegenden Fall abzuschätzen.675 Erst auf einer solchen Grundlage können beispielsweise die Techniken der extension by analogy oder des distingushing eines Präjudizes sinnvoll angewendet werden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Appellationsrichter die Parteivertreter gelegentlich ermahnen, bei der Auswahl der angeführten Präjudizien sorgfältig vorzugehen, um den Auf1 W.L.R. 281; Practice Direction (Court of Appeal: Procedure), [1995] 1 W.L.R. 1191; Practice Direction (Court of Appeal; Leave to Appeal and Skeleton Arguments), [1999] 1 W.L.R. 2. 669 Directions Applicable to Civil Appeals (House of Lords), 2007–2008 ed., para 11. 670 Rule 22 Sup. Ct. R. 2009 (UK). 671 Siehe dazu etwa M.V. Yorke Motors (A Firm) v. Edwards, [1982] W.L.R. 444, 446 f., per Lord Diplock. 672 J. Jacob, [1998] 61 M.L.R. 390, 395; Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 274 f., 278 f. Siehe auch Zuckerman, ZZPInt 1 (1996), 65 (75): „It is not the function of skeleton arguments to bind the parties to certain propositions or to obviate oral argument, only to make oral argument more effective and more economical.“ 673 Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 291. 674 Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 286 f. 675 de Boor, Die Methode des englischen Rechts und die deutsche Rechtsreform, 1934, S. 54; Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, 1973, S. 14 f.
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wand für deren Überprüfung und den Prozess der Entscheidungsfindung nicht ausufern zu lassen.676 Diese prägende Bedeutung der streitentscheidenden Facette eines Urteils auch für die normbildende Funktion der Appellationsrechtsprechung spiegelt sich darüber hinaus in dem relativ großen Maß an Individualität wider, das die einzelnen Richter in die Entscheidung einbringen.677 Dies gilt bereits für den Court of Appeal, in besonderem Maße aber für das House of Lords bzw. jetzt den Supreme Court of the United Kingdom. Da in einem Appellationsverfahren auf dieser höchsten Instanz in aller Regel nur jeweils fünf der insgesamt zwölf Richter an einem Urteil mitwirken und es zudem keine festen Senate gibt, sondern die Zusammensetzung der Richter variiert, kann von einem einheitlichen Gericht ohnehin nur sehr eingeschränkt die Rede sein.678 Vielmehr sind die Entscheidungen der Ausdruck des individuellen Urteils herausragender Richterpersönlichkeiten. Folgerichtig ist es an den englischen Appellationsgerichten zumindest in Zivilrechtsstreitigkeiten nicht üblich, dass ein einheitliches „judgment of the court“ ergeht, sondern die Richter verfassen jeweils eigenständige Voten (seriatim opinions).679 Dies gilt unabhängig davon, ob sie von den Rechtsauffassungen ihrer Kollegen maßgeblich abweichen oder nicht. Sofern keine solche Abweichung besteht, mag sich das Votum zwar auf eine kurze Zustimmung zu dem so genannten leading judgment eines anderen Richters beschränken, das den Fall und seine rechtlichen Implikationen umfassend analysiert. Häufig treten jedoch auch parallele Voten auf, die jeweils eine abweichende Begründungslinie für dasselbe Ergebnis einschlagen, oder so genannte dissenting opinions, die sogar im Ergebnis von der Mehrheitsauffassung abweichen. 680 Derartige plurale Voten sind durchaus in der Lage, den normbildenden Effekt eines Urteils zu beschränken.681 So können bereits unterschiedliche Nuancen in den jeweiligen Begründungslinien die Feststellung einer einheitlichen ratio decidendi des Urteils erschweren oder sogar unmöglich machen. 682 Hierbei wirkt sich besonders aus, dass die Lordrichter ihre separaten Voten zwar vor der Ur676 Siehe Roberts Petroleum Ltd. v. Bernard Kenny Ltd., [1983] 2 A.C. 192, 202, per Lord Diplock. 677 Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, 1973, S. 13, 17 ff.; Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 15 f. 678 Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 22 ff. (für das House of Lords) sowie Buxton, [2009] 125 L.Q.R. 288 ff. (für den neuen Supreme Court of the United Kingdom). 679 Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 85. 680 Eingehend Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 79 ff. 681 ZoBell, 44 Cornell L.Q. 186, 189 ff. (1959); Schulze/Seif, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 1 (9); Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1202 f., 1207 f., 1217 f. (2007). 682 Lord Hope of Craighead, Methods and Results – the place of case law in the legal system of the UK, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Euro-
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teilsveröffentlichung untereinander zirkulieren, aber nur äußerst selten in Reaktion auf die Argumentation der anderen Richter angleichen oder ändern. Jeder Richter, der ein ausführliches Votum verfasst, folgt vielmehr in der Regel seiner eigenen Argumentationslinie, die sich mit derjenigen der anderen Richter decken kann, aber nicht muss.683 Wie das folgende Zitat aus einer Entscheidung des House of Lords belegt, handelt es sich bei diesem Befund aus Sicht der englischen Appellationsrichter nicht etwa um ein notwendiges Übel, sondern um eine bewusst einkalkulierte Eigenheit des englischen Rechtsprechungsstils, der fallbezogene Präjudizien von allgemeingültigen Normen unterscheidet, die im Wege der Gesetzgebung entstehen: „With the passage of time I have come more and more firmly to the conclusion that it is never wise to have only one speech in this House dealing with an important question of law. My main reason is that experience has shown that those who have to apply the decision to other cases […] seem to find it difficult to avoid treating sentences and phrases in a single speech as if they were provisions in an Act of Parliament. They do not seem to realise that it is not the function of noble and learned Lords or indeed of any judges to frame definitions or to lay down hard and fast rules.“684
Anschauliche Beispiele für diesen Effekt der Einzelvoten, eine abstrakte Normbildung zu bremsen, stellen die Entscheidungen des House of Lords in den Verfahren Boys v. Chaplin 685 und McLoughlin v. O’Brian and Others686 dar. In der Sache Boys v. Chaplin ging es um die haftungsrechtlichen Folgen eines Verkehrsunfalls, der sich zwischen zwei Engländern auf Malta ereignet hatte, die dort als Angehörige der britischen Streitkräfte stationiert waren. Aufgrund dieses Unfalls erlitt der spätere Kläger erhebliche Verletzungen, die allerdings nur einen geringen materiellen Schaden von £ 53,– verursachten. Für seinen immateriellen Schaden sprach ihm das erstinstanzliche Gericht im Rahmen einer in England anhängig gemachten Klage jedoch £ 2250,– zu. Vor dem House of Lords war nun die Frage zu klären, ob diese Zuerkennung von Schmerzensgeld vor dem Hintergrund zutreffend war, dass zwar das englische Recht einen entsprechenden Schmerzensgeldanspruch bei Verkehrsunfällen vorsah, nicht aber das maltesische Recht. Im Ergebnis votierten alle fünf Richter dafür, dass das Schmerzensgeld zutreffend nach Maßgabe des englischen Rechts zuerkannt worden sei. Hierfür gab jedoch jeder der Richter eine unterschiedliche Begrünpäischen Gemeinschaft, 2003, S. 145 (155) sowie zu Einzelheiten Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 84 ff. 683 Blom-Cooper, Style of Judgments, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 145 (155); Dickson, [2007] 123 L.Q.R. 571, 596; Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 15. 684 Cassell & Co. v. Broome, [1972] A.C. 1027, 1084 f., per Lord Reid; ähnlich Roebuck v. Mungovin, [1994] 2 A.C. 224, 236, per Lord Browne-Wilkinson. 685 [1971] A.C. 356. 686 [1983] 1 A.C. 410. Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung des House of Lords bei Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 90 ff.
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dung. Lord Hodson vertrat die Auffassung, dass die Zuerkennung des Schmerzensgelds eine Frage des anwendbaren Sachrechts darstelle. Als solches sei vorliegend nicht das maltesische Recht als lex loci delicti maßgeblich, sondern das englische Recht, da das Unfallgeschehen zwischen den beiden auf Malta nur temporär stationierten Angehörigen der britischen Streitkräfte eine engere Beziehung zum englischen Recht aufweise.687 Lord Guest nahm an, dass es sich bei dem Anspruch auf Schmerzensgeld nicht um einen eigenständigen materiellrechtlichen Anspruch handele, sondern nur um eine Frage der Quantifizierung des Schadens, der aus dem einheitlichen Delikt resultiert. Folglich handele es sich nicht um eine materiellrechtliche, sondern um eine prozessuale Frage, die nach dem Recht der lex fori und damit nach englischem Recht zu entscheiden sei.688 Lord Donovan stützte sein Votum auf die verwandte, aber etwas anders nuancierte Annahme, dass das Schmerzensgeld eine Frage der einschlägigen Rechtsschutzformen (remedies) bilde und dass die englischen Gerichte auch in internationalen Sachverhalten berechtigt seien, remedies nach Maßgabe des englischen Rechts zu gewähren.689 Lord Wilberforce ging in seiner Entscheidung wiederum davon aus, dass eine rein formale Betrachtung des aufgeworfenen Rechtsproblems nicht tragfähig sei, sondern verfolgte einen policyorientierten Ansatz. Da der Ausschluss von Schmerzensgeld bei Verkehrsunfällen eine rechtspolitische Entscheidung Maltas darstelle, aber nicht ersichtlich sei, dass Malta ein Interesse an der Durchsetzung dieser Entscheidung für das Rechtsverhältnis unter zwei Angehörigen der britischen Streitkräfte habe, sei nach Maßgabe des englischen Rechts ein Schmerzensgeld zu gewähren.690 Schließlich ordnete Lord Pearson das Problem als ein solches des anwendbaren Sachrechts ein und entnahm den vorhandenen Präjudizien für den Fall eines in England zulässigerweise anhängigen Verfahrens die Regel, dass auf die Schadensersatzfolgen eines Delikts immer bereits dann englisches Recht anwendbar sei, wenn das schädigende Verhalten auch nach dem Recht des Deliktsorts als solches unrechtmäßig sei, selbst wenn die lex loci delicti die konkrete Schadensersatzfolge des englischen Rechts (hier: Schmerzensgeld) nicht kenne.691 Aufgrund dieser Begründungsvielfalt lässt sich dem Urteil Boys v. Chaplin trotz der Übereinstimmung im Ergebnis kaum eine verbindliche abstrakte ratio decidendi entnehmen.692 Ähnlich lag es in dem Fall McLoughlin v. O’Brian and Others. Eines der zentralen Probleme dieses Verfahrens, auf das unten noch näher einzugehen 687
Boys v. Chaplin, [1971] A.C. 356, 373 ff., per Lord Hodson. Boys v. Chaplin, [1971] A.C. 356, 380 ff., per Lord Guest. 689 Boys v. Chaplin, [1971] A.C. 356, 383 ff., per Lord Donovan. 690 Boys v. Chaplin, [1971] A.C. 356, 384 ff., per Lord Wilberforce. 691 Boys v. Chaplin, [1971] A.C. 356, 393 ff., per Lord Pearson. 692 Hierzu Blom-Cooper, Style of Judgments, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 145 (155). 688
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sein wird,693 war die Frage, ob die Ersatzfähigkeit von Schockschäden über das juristische Kriterium der „reasonable forseeability“ hinaus durch rechtspolitische Erwägungen (policy) einzuschränken sei und welche Kriterien hierfür bejahendenfalls eine Rolle spielen können. Obwohl alle fünf Richter der konkreten Klage stattgaben, enthielten ihre Voten hierzu ein ausgesprochen heterogenes Meinungsbild, das insbesondere Manchester und Salter694 herausgearbeitet haben. Lord Bridge und Lord Scarman lehnten es prinzipiell ab, einen vorhersehbaren Schockschaden wegen policy-Erwägungen von der negligence-Haftung auszunehmen.695 Hingegen waren policy-Erwägungen nach den Voten von Lord Edmund-Davies und Lord Wilberforce grundsätzlich beachtlich, sprachen im konkreten Fall jedoch nicht gegen die Haftung. 696 Der fünfte Richter, Lord Russell, entschied letztlich nicht eindeutig, ob und in welchen Fällen rechtspolitische Erwägungen einer Haftung für vorhersehbare Schockschäden entgegenstehen könnten.697 Aus diesem Grund kann der Entscheidung in McLoughlin keine eindeutige ratio decidendi entnommen werden, die festlegt, ob und in welchem Maße policy-Erwägungen bei der Behandlung von Schockschäden rechtlich relevant sind. 698 Dementsprechend attestiert etwa Robertson der Entscheidung eine deutliche innere Spannung zwischen restriktiven und expansiven Linien der Haftungsbegründung.699 Die verbindliche Wirkung dieses Urteils ist damit letztlich auf eine Streitentscheidung zu dem konkreten Sachverhalt mit seinen Besonderheiten begrenzt. Eine abstrakte Klärung der Schockschadensproblematik konnte und wollte es nicht leisten, was sich nicht zuletzt auch an der kontroversen Folgerechtsprechung des House of Lords zeigt.700 Hieraus ergibt sich, dass die Qualität eines höchstrichterlichen Urteils als „landmark decision“, die McLoughlin zweifellos besitzt, nicht unbedingt von der Intensität seiner normbildenden Wirkung abhängt, sondern dass nach englischem Verständnis vielmehr die exemplarische Aufarbeitung eines konkreten Lebenssachverhalts einen großen Eigenwert besitzt. Auch dissenting opinions verfolgen in England eher selten den Hauptzweck, die Rechtsprechung möge die ratio decidendi des Urteils später im Wege eines overruling aufheben oder die Legislative möge sie im Wege eines Gesetzes ab-
693
Siehe § 3 B VI 2 d, S. 166 ff. Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 15–009. 695 McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 429 ff., per Lord Scarman und 431 ff., per Lord Bridge. 696 McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 416 ff., per Lord Wilberforce und 423 ff., per Lord Edmund-Davies. 697 McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 429, per Lord Russell. 698 Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 15–009, S. 374. 699 Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 201. 700 Siehe insbesondere Alcock v. Chief Constable of South Yorkshire, [1992] A.C. 310 und White v. Chief Constable of South Yorkshire, [1999] 2 A.C. 455. 694
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ändern.701 Derartige, auf zukünftige Normbildungen bezogene Erwägungen können zwar eine gewisse Rolle spielen. Aus Sicht der Richter repräsentieren dissenting opinions in der Regel aber in mindestens ebenso hohem Maße die streitentscheidende Seite, indem sie einen Nachweis für das Ringen um die zutreffende Lösung schwieriger Rechtsfragen erbringen und damit einen Ausweis für die intellektuelle Redlichkeit der Richter bilden: „An outward appearance of unanimity when judges are not really unanimous is incompatible with the vigorous intellectual integrity of those who compose the tribunal and who will continue to sit together on countless future occasions; nor can it foster that degree of confidence which the public looks for in its highest judiciary.“702
Folgerichtig hat Lord Reid die Ungewissheiten, die aus der englischen Praxis separater Richtervoten resultieren, nicht als einen Makel, sondern geradezu als ein Qualitätsmerkmal des common law begriffen: „The truth is that it is often not possible to reach a final solution of a difficult problem all at once. It is better to put up with some uncertainty – confusion if you like – for a time than to reach a final solution prematurely. The problem often looks rather different the second time you deal with it. Second thoughts are not always best but they generally are.“703
Keinen Widerspruch zu dem bisher Gesagten stellt – bei genauerer Betrachtung – die zunehmende Neigung einzelner Lordrichter dar, in grundlegenden Urteilen wichtige Rechtsfragen nicht ausschließlich fallbezogen, sondern stark systematisch abzuhandeln. Beispiele hierfür bilden etwa die Erwägungen von Lord Goff zur Haftung für Schädigungen unter Grundstücksnachbarn in der Entscheidung Cambridge Water Co. v. Eastern Counties Leather Plc.,704 die Ausführungen von Lord Browne-Wilkinson zum Rechtsinstitut „undue influence“ in Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another 705 sowie jüngst die Darlegungen von Lord Hoffmann zu vermögensschädigenden Delikten (economic torts) in OBG Limited.706 In derartigen Systematisierungen kommt das zunehmende Streben der englischen Rechtsprechung zum Ausdruck, das Präjudizienwesen nicht mehr nur als eine Summe unverbundener Regelungen anzusehen, sondern als einen Ausdruck verallgemeinerbarer Rechtsprinzipien.707 Damit ist jedoch keineswegs der Anspruch verbunden, dass derartige abstrakt-systematisierende Ausführungen eine volle präjudizielle, normbildende Kraft erlangen sollten. Vielmehr kommt den systematisierenden Ausführungen eine Funktion zu, die 701
Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 88 ff. m.w.N. Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 86. 703 Reid, [1972] 12 Journal of the Society of Public Teachers of Law 22, 29. 704 [1994] 2 A.C. 264, 297 ff. 705 [1994] 1 A.C. 180, 189 ff.; hierzu noch unten § 3 B VII 1 b, S. 174 ff. 706 OBG Limited and another v. Allan and others/Douglas and others v. Hello! Ltd. and others (No. 3)/Mainstream Properties Ltd. v. Young, [2008] 1 A.C. 1, 18 ff. in para 3 ff. 707 Siehe oben § 1 B III 2, S. 8 f. 702
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mit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der jeweiligen Sachprobleme in der Literatur vergleichbar ist.708 Zwar haben solche Äußerungen von Appellationsrichtern bei der Lösung zukünftiger Fälle in England ein deutlich größeres Gewicht als die Äußerungen von Rechtswissenschaftlern. Dies ändert aber nichts daran, dass die spezifische Wirkung der Urteile als „Bausteine im common law“ weniger in ihren rein systematisierenden Erwägungen wurzelt als vielmehr in der Einheit, die sich aus der zugrunde liegenden Fallkonstellation mit der rechtlichen Würdigung ergibt.709 Dies verbietet es, die Ausführungen englischer Richter aus dem Kontext des Falls zu isolieren, in dem sie getätigt wurden. Soweit die wissenschaftlich-systematisierenden Inhalte eines englischen Urteils nicht nur als bloße obiter dicta fungieren sollen, sondern als verbindlicher Rechtsinhalt, müssen sie somit erst in Beziehung zu der fallbezogen-urteilenden Seite gesetzt werden und verlieren dabei zugleich ihre abstrakte Allgemeinheit.
2. Beispiele aus der Rechtsprechung Das fallbezogene Selbstverständnis der englischen Appellationsrechtsprechung sei im Folgenden anhand einiger Urteile exemplarisch näher verdeutlicht. Dabei geht es entsprechend der Fragestellung der vorliegenden Arbeit nicht um eine nähere inhaltliche Analyse der Rechtssätze, die in diesen Urteilen aufgestellt und angewendet wurden, als vielmehr um den Modus der Entscheidungsfindung. Dementsprechend wurden die Urteile nicht aufgrund der Sachfragen ausgewählt, die in ihnen behandelt werden, sondern weil sie explizite Aussagen zu der Funktion des Appellationsprozesses im Gefüge aus Streitentscheidung und Normbildung enthalten. Darüber hinaus bilden die folgenden Urteile in zeitlicher Hinsicht einen Querschnitt der letzten 100 Jahre, so dass ihre Summe eine gewisse Aussagekraft für sich in Anspruch nehmen kann.
a) Die Haftung für Boykottdrohungen In dem Fall Quinn v. Leathem,710 der dem House of Lords im Jahr 1901 zur Entscheidung vorlag, ging es um die Haftbarkeit von Mitgliedern einer Gewerkschaft. Diese hatten den Boykott eines Unternehmens bewirkt, das auch NichtGewerkschaftsmitglieder beschäftigte. Der Boykott war dadurch erfolgt, dass die Gewerkschaft die Arbeitnehmer eines Drittunternehmens zur Arbeitsniederlegung angehalten hatte, so lange dieses Drittunternehmen geschäftliche Beziehungen zu dem boykottierten Unternehmen pflegen würde. Dabei stellte sich die Frage, ob die Haftbarkeit von Gewerkschaftsmitgliedern für gewerkschaft708
Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 291 f. Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 292; Thomas, The Judicial Process, 2005, S. 154 f. 710 [1901] A.C. 495. 709
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liche Boykotte durch die frühere Entscheidung in der Sache Allen v. Flood711 generell ausgeschlossen war. In diesem Zusammenhang äußerte sich der Richter Earl of Halsbury zur Normbildung durch Präjudizien wie folgt: „I have very often said before, that every judgment must be read as applicable to the particular facts proved, or assumed to be proved, since the generality of the expressions which may be found there are not intended to be expositions of the whole law, but governed and qualified by the particular facts of the case in which such expressions are to be found. The other is that a case is only an authority for what it actually decides. I entirely deny that it can be quoted for a proposition that may seem to follow logically from it. Such a mode of reasoning assumes that the law is necessarily a logical code, whereas every lawyer must acknowledge that the law is not always logical at all.“712
In dieser Aussage kommt deutlich zum Ausdruck, dass nach Auffassung des Lordrichters eine Normbildung nur in strenger Akzessorietät zu der streitentscheidenden Funktion des Präjudizes möglich ist, da die verbindliche ratio decidendi erst vor dem Hintergrund des zu beurteilenden Sachverhalts bestimmt werden kann.713 Daraus folgte für Earl of Halsbury nicht nur eine entsprechende Begrenzung der formellen Bindungswirkung der vorangehenden Entscheidung, sondern er betrachtete es bereits als illegitim, wenn eine nachfolgende Entscheidung auch nur die Autorität des Präjudizes im Wege einer „logischen Erweiterung“ für eine rechtliche Beurteilung in Anspruch nimmt, die zu dem Sachverhalt der vorangehenden Entscheidung in keinem hinreichenden Zusammenhang steht. Konkret wurde der Sachverhalt in Quinn v. Leatham von demjenigen in Allen v. Flood dadurch unterschieden, dass der Beklagte in Allen keine Drohung mit einem Boykott ausgeübt, sondern nur vor einem Drittboykott gewarnt hatte. Somit konnte eine Haftung der Beklagten in Quinn einstimmig bejaht werden.
b) Gefährliche Gegenstände und Strict Liability Auch die englischen Gerichte sahen sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts, nicht anders als das Reichsgericht oder der Bundesgerichtshof, mit einer immer rasanteren Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse konfrontiert, die eine bloße Anknüpfung an Präjudizien im Sinne des stare decisis unmöglich machte, sondern vielmehr eine ständige Anpassung der rechtlichen Regelungen erforderte. Gerade eine Veränderung der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Umstände bildete dabei ein Hauptkriterium für die Entschei711 [1898] A.C. 1. In diesem Fall stellte ein Führungsmitglied einer Gewerkschaft gegenüber seinem eigenen Arbeitgeber in Aussicht, dass die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ihre Arbeitsverträge kündigen würden, wenn der Arbeitgeber weiterhin auch NichtGewerkschaftsmitglieder beschäftigen würde. Eine Haftung für dieses Verhalten wurde verneint. 712 [1901] A.C. 495, 506. 713 Hierzu auch Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 59 ff.
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dung, ob die vorhandenen Präjudizien zu modifizieren seien.714 Die Fortentwicklung des Rechts erfolgte jedoch typischerweise nicht in Form einer über den konkreten Fall hinausgreifenden Normbildung, sondern anhand der Erfordernisse des jeweiligen Rechtsstreits, wie dies beispielsweise in der Entscheidung Haseldine v. Daw aus dem Jahr 1941 durch den Court of Appeal klar zum Ausdruck gebracht wurde: „The common law of England has throughout its long history developed as an organic growth, at first slowly under the hampering restrictions of legal forms of process, more quickly in the time of Lord Mansfield, and in the last hundred years at an ever-increasing rate of progress, as new cases, arising under new conditions of society, of applied science, and of public opinion have presented themselves for solution by the courts.“715
Dieses Verhältnis von Streitentscheidung und richterlicher Normbildung findet sich in der Entscheidung Read v. J. Lyons & Company716 aus dem Jahr 1946 bestätigt. In diesem Fall war eine Arbeiterin, die während des Zweiten Weltkriegs aufgrund einer behördlichen Anordnung in einer Munitionsfabrik Dienste leistete, durch eine Explosion von Munition verletzt worden und verklagte das Unternehmen, das die Fabrik betrieb, auf Schadensersatz. Die Klägerin behauptete keine Fahrlässigkeit der Beklagten, sondern stützte ihre Klage auf eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung (strict liability) der Beklagten. Eine solche Haftung war in der Entscheidung Rylands v. Fletcher 717 für Schädigungen durch Gegenstände entwickelt worden, die „inherently dangerous“ sind, jedoch nur unter weiteren Bedingungen. Hierzu zählte nach diesem Urteil auch, dass die gefährlichen Gegenstände im Zuge des schädigenden Verlaufs von dem Grundstück des Haftenden auf ein anderes Grundstück entweichen (escape). In concreto ging es in Rylands v. Fletcher dabei um eine größere Menge Wasser, die von dem Grundstück des Beklagten auf dasjenige des Klägers strömte und dort Schäden anrichtete. Die Klägerin in Read v. J. Lyons & Company machte nun geltend, dass das Erfordernis eines Entweichens des gefährlichen Gegenstands auf ein anderes Grundstück rationalerweise für die Gefährdungshaftung keine Rolle spielen könne, sondern dass auch Verletzungen auf dem Grundstück desjenigen erfasst sein müssen, der die tatsächliche Gewalt über die gefahrbringende Sache inne hat. 718 Diese Sichtweise wiesen die Lordrichter jedoch einstimmig zurück. Für den hier in Rede stehenden Zusammenhang sind dabei die folgenden Ausführungen Lord Macmillans von besonderem Interesse:
714 715 716 717 718
Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 138 f. Haseldine v. Daw, [1941] 2 K.B. 343, 350, per Scott L.J. [1947] A.C. 156. [1868] L.R. 3 H.L. 330. Vgl. Read v. J. Lyons & Company, [1947] A.C. 156, 160.
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„Your Lordships’ task in this House is to decide particular cases between litigants and your Lordships are not called upon to rationalize the law of England. That attractive if perilous field may well be left to other hands to cultivate. It has been necessary in the present instance to examine certain general principles advanced on behalf of the appellant because it was said that consistency required that these principles should be applied to the case in hand. Arguments based on legal consistency are apt to mislead for the common law is a practical code adapted to deal with the manifold diversities of human life and as a great American judge has reminded us ‘the life of the law has not been logic; it has been experience.’“719
In diesem Sinne wurde die Gefährdungshaftung aus Rylands v. Fletcher vor dem historischen Hintergrund der Pflichten unter Grundstücksnachbarn interpretiert (nuisance law) und ihre Ausdehnung auf den jetzt zu entscheidenden Fall abgelehnt.720
c) Die Entwicklung der außervertraglichen Auskunftshaftung Als klassisch für den Umgang der englischen Gerichte mit dem Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung gelten weiterhin die Fälle Candler v. Crane, Christmas & Co.721 sowie Hedley Byrne & Co. Ltd. v. Heller & Partners Ltd.722 Diese beschäftigen sich mit der Problematik, ob eine deliktische Haftung für fahrlässige Falschauskünfte in Betracht kommt, wenn der jeweilige Adressat der Information einen Vermögensschaden erleidet, weil er auf deren Richtigkeit vertraut, ohne aber in einer vertraglichen Beziehung zu dem Informanten zu stehen. Die Entscheidung Candler v. Crane, die im Jahr 1951 durch den Court of Appeal getroffen wurde, betraf einen Fall, in dem ein potentieller Investor die Bilanzen eines Unternehmens einsehen wollte. Das Unternehmen beauftragte daraufhin seine Buchhaltungsfirma, dem Investor die gewünschten Informationen zur Verfügung zu stellen. Dabei legte ein Angestellter der Buchhaltungsfirma fahrlässig fehlerhaft erstellte Bilanzen vor, die die Vermögenslage des Unternehmens erheblich besser erscheinen ließen, als sie tatsächlich waren. Aufgrund dieser Informationen entschloss sich der Investor, dem Unternehmen einen gewissen Kapitalbetrag zur Verfügung zu stellen, mit dem er jedoch aufgrund der bald eintretenden Insolvenz des Unternehmens ausfiel. Daraufhin verklagte er die Buchhaltungsfirma auf Schadensersatz. Die Mehrheit der Richter lehnte eine Haftung ab. Dies wurde im Wege einer ausführlichen Analyse des bestehenden case law auf die Annahme gestützt, dass die Präjudizien eine deliktische Haftung außerhalb von Vertragsbeziehungen allenfalls für Personen- und Eigentumsschäden zuließen, aber für reine 719 720 721 722
Read v. J. Lyons & Company, [1947] A.C. 156, 175. Siehe Read v. J. Lyons & Company, [1947] A.C. 156, 173 f. [1951] 2 K.B. 164. [1964] A.C. 465.
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Vermögensschäden mangels einer entsprechenden duty of care ausschlössen.723 Hierfür wurde insbesondere die Entscheidung des Court of Appeal in der Sache Le Lievre v. Gould724 angeführt. Lord Denning vertrat hingegen in einer vielbeachteten dissenting opinion eine andere Auffassung. Er leitete diese mit der Einschätzung ein, dass Gesichtspunkte der Gerechtigkeit eine Haftung in dem zu entscheidenden Fall geböten, da die Beklagte die Bilanzen in dem Wissen um ihre Bedeutung für die Investitionsentscheidung des Klägers unsorgfältig zusammengestellt hätte.725 Anders als seine Richterkollegen sah er eine derartige Entscheidung auch nicht als Widerspruch zu den vorliegenden Präjudizien an. Diese schlössen eine entsprechende Haftung zumindest nicht aus und ein allgemeines Verbot der Erweiterung von Rechtsinstituten über den tradierten Bestand hinaus sei dem common law fremd: „This argument about the novelty of the action does not appeal to me in the least. It has been put forward in all the great cases which have been milestones of progress in our law, and it has always, been rejected. […] On the one side there were the timorous souls who were fearful of allowing a new cause of action. On the other side there were the bold spirits who were ready to allow it if justice so required. It was fortunate for the common law that the progressive view prevailed.“726
Schließlich lag eine Haftung nach Lord Denning auch im Interesse der Rechtsgemeinschaft. Denn wenn die rechtliche Verantwortlichkeit von Buchhaltern für fahrlässige Fehlangaben auf das Verhältnis zu dem jeweiligen Auftraggeber begrenzt werde, fehle es an einer hinreichenden Sanktion gegenüber nachlässigen Bilanzen, da die Quelle der Unrichtigkeit häufig gerade von dem Auftraggeber selbst ausgehe. Nur eine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Buchhalter gegenüber Dritten könne daher die gewünschte Steuerungswirkung entfalten.727 Bedeutsam ist an der Entscheidung Candler v. Crane, dass sowohl die Mehrheitsmeinung als auch die dissenting opinion das Problem der Fortentwicklung der negligence-Haftung als eine Einheit aus Streitentscheidung und Normbildung angingen. Die Mehrheitsauffassung analysierte die Streitsache vor dem Hintergrund der Präjudizien und sah keine Möglichkeit einer Haftungserweiterung. Lord Denning war insoweit zwar anderer Auffassung und bezog hierbei auch rechtspolitische Erwägungen der Steuerungsfunktion von Haftungs723 Candler v. Crane, Christmas & Co., [1951] 2 K.B. 164, 185 ff., per Asquith L.J. und Cohen L.J. 724 [1893] 1 Q.B. 491. 725 Candler v. Crane, Christmas & Co., [1951] 2 K.B. 164, 176, per Denning L.J. 726 Candler v. Crane, Christmas & Co., [1951] 2 K.B. 164, 178, per Denning L.J. Ausführlich zu der innovativen Entscheidungsphilosophie Lord Dennings Stevens, Law and Politics, 1978, S. 488 ff. und Thomas, The Judicial Process, 2005, S. 94 ff. 727 Candler v. Crane, Christmas & Co., [1951] 2 K.B. 164, 184 f., per Denning L.J.
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tatbeständen ein, dies jedoch ausgehend von der Annahme, dass in erster Linie der zu entscheidende Fall als konkretes Ereignis eine Bejahung der Haftung gebiete. Die Haftung für Vermögensschäden infolge fahrlässiger Falschauskünfte wurde nur wenige Jahre später, nämlich 1963, wieder aufgegriffen, diesmal durch das House of Lords in der Sache Hedley Byrne & Co. Ltd. v. Heller & Partners.728 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die Klägerin, ein Dienstleistungsunternehmen, zur Vorbereitung der Entscheidung, ob es einem Kunden Leistungen in erheblichem Umfang kreditieren sollte, über ihre Hausbank bei der Beklagten, der Bank des Kunden, nach dessen Kreditwürdigkeit anfragen lassen. Die Beklagte übermittelte der Hausbank der Klägerin eine positive Einschätzung, die bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt nicht gerechtfertigt war. Im Vertrauen auf diese Einschätzung wurden die Leistungen dem Kunden kreditiert und die Klägerin nahm nach dessen Insolvenz die Beklagte wegen der Falschauskunft in Anspruch. Die fünf Lordrichter waren sich darin einig, dass in Abweichung von den Entscheidungen des Court of Appeal in Le Lievre v. Gould und Candler v. Crane eine negligence-Haftung für vermögensschädigende Falschauskünfte auch außerhalb von Vertragsbeziehungen in Betracht komme, wenn eine hinreichende „proximity“ zwischen Schädiger und Geschädigtem vorliege.729 Dies sei insbesondere der Fall, wenn ein Auskunftgeber für sich eine spezielle Expertise in Anspruch nehme und voraussehen könne, dass ein anderer im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen treffen werde.730 Dieses overruling der Entscheidung Candler v. Crane führte gleichwohl nicht zu einem Erfolg der Kläger in Hedley Byrne, da die beklagte Bank ihre Auskunft ausdrücklich „without responsibility“ abgegeben hatte und dies nach Auffassung aller Lordrichter einer Haftung gegenüber der Klägerin entgegenstand. Folglich hätte die Streitentscheidung aufgrund dieser Freizeichnungsklausel auch ohne eine Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Position in Candler v. Crane erfolgen können. Zwar äußerte Lord Devlin in seinem Votum die Ansicht, dass die ausführliche Erörterung des prinzipiellen Problems der Haftung für fahrlässige Falschauskünfte erforderlich gewesen sei, um die richtige Lösung in dem konkreten Streitfall finden zu können.731 Es ist jedoch nicht ersichtlich, weshalb die entscheidungserhebliche Schlussfolgerung, dass eine Haftung in Hedley Byrne jedenfalls wegen der Freizeichnungsklausel ausgeschlossen sei, von der vorrangigen Entscheidung abhängig war, dass eine solche Haftung in Abwei728
[1964] A.C. 465. Hedley Byrne & Co. Ltd. v. Heller & Partners Ltd., [1964] A.C. 465, 530, per Lord Devlin. 730 Siehe Hedley Byrne & Co. Ltd. v. Heller & Partners Ltd., [1964] A.C. 465, 466. 731 Hedley Byrne & Co. Ltd. v. Heller & Partners Ltd., [1964] A.C. 465, 532, per Lord Devlin. 729
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chung von Candler v. Crane grundsätzlich denkbar sei.732 Vielmehr wollten die Richter eine aus ihrer Sicht eingetretene allgemeine Fehlentwicklung des Haftungsrechts normbildend korrigieren, ohne dass dies durch die Entscheidung in der Sache Hedley Byrne gefordert gewesen wäre. Das House of Lords nahm in diesem Fall somit eine Normbildungsbefugnis für sich in Anspruch, die Eisenberg treffend als „announcement approach“ charakterisiert hat.733 Nach diesem Ansatz gehören alle diejenigen rechtlichen Aussagen eines Urteils zu der ratio decidendi, die das entscheidende Gericht erkennbar mit Verbindlichkeit ausstatten wollte. Dieses Modell, das nicht auf die Entscheidungserheblichkeit der normativen Aussage in dem konkreten Fall abstellt, ist folglich Ausdruck einer Regelbildung, die sich nicht als integraler Bestandteil der streitentscheidenden Funktion der Appellationsrechtsprechung begreift.734 Faktisch hat sich die Lösung des House of Lords in Hedley Byrne dabei auch als erfolgreich erwiesen, da die Instanzgerichte die grundsätzliche Bejahung einer Haftung für fahrlässige Falschauskünfte nachfolgend nicht als bloßes obiter dictum, sondern als Teil der bindenden ratio decidendi angesehen haben.735 Die Entscheidung Hedley Byrne hat jedoch keinen grundsätzlichen Richtungswechsel der englischen Obergerichte in der Frage bewirkt, in welchem Verhältnis die Streitentscheidung einerseits und die Normbildung andererseits zueinander stehen. So hatte etwa Lord Reid in einer kurz vor Hedley Byrne erlassenen Entscheidung noch ausdrücklich betont, dass eine richterliche Normbildung insoweit nicht in Betracht komme, als die betreffende Aussage in einem Urteil „much wider than was necessary for the decision“ sei. 736 Das Urteil in Hedley Byrne vermochte vielmehr die Unterscheidung zwischen einer verbindlichen ratio decidendi und einem unverbindlichen obiter dictum, das heißt den inneren Zusammenhang von Normbildung und Streitentscheidung, nicht nachhaltig zu erschüttern. Dies belegt beispielsweise die folgende Aussage Lord Goffs in Food Corporation of India v. Antclizo Shipping Corporation:737 „Your Lordships’ House has repeatedly stressed that they will not embark on an inquiry into an issue which is only of academic interest […]. A fortiori they should not do so where the inquiry involves a review of a previous decision of your Lordships’ House, because it cannot be right to hold, obiter, that such a previous decision was wrong.“738 732
Vgl. Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 79 f. Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 54 f.; ähnlich ders., The Principles of Legal Reasoning in the Common Law, in: Edlin (Hrsg.), Common Law, Theory, 2007, S. 81 (88 f.). 734 Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 55. 735 Siehe W.B. Anderson and Sons Ltd. v. Rhodes, [1967] 2 All E.R. 850, 857. 736 Scruttons Ltd. v. Midland Silicones Ltd., [1962] A.C. 446, 477, per Lord Reid. 737 [1988] 1 W.L.R. 603. 738 Food Corporation of India v. Antclizo Shipping Corporation, [1988] 1 W.L.R. 603, 607, per Lord Goff. 733
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Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass die aus methodisch-prozessualer Sicht unnötige Änderung der Rechtsprechung in Hedley Byrne trotz der großen Bedeutung dieses Urteils nicht modellhaft für das Funktionsverständnis der englischen Appellationsrechtsprechung ist.
d) Die Haftung für Schockschäden Die Grundskepsis gegenüber einer normschöpferischen Tätigkeit, die weit über den jeweils zu entscheidenden Fall hinausgeht, wurde auch in der Entscheidung McLoughlin v. O’Brian and Others 739 aus dem Jahr 1982 bestätigt. Hier ging es um die Frage, ob eine Haftung von Unfallverursachern für Schockschäden, die Angehörige der unmittelbar verletzten Personen erleiden, auf Fälle begrenzt ist, in denen die schockauslösende Kenntnisnahme von der Verletzung entweder noch an der Unfallstelle oder in unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Nähe erfolgt (immediate aftermath). In dem zugrunde liegenden Sachverhalt war dies nicht der Fall. Vielmehr hatte die Klägerin, Mrs. McLoughlin, erst zwei Stunden später erfahren, dass ihr Ehemann mit den gemeinsamen Kindern in einen durch den Beklagten verschuldeten Unfall verwickelt worden war. In das Krankenhaus geeilt, erfuhr sie vom Tod einer ihrer Töchter, hörte die beiden anderen Kinder vor Schmerzen schreien und sah ihren Ehemann verzweifelt und geistig abwesend dasitzen. Hierauf erlitt sie einen schweren Schock mit erheblichen Folgeschäden, für die sie mit der Klage Ersatz verlangte. Obwohl auch ein zeitlich versetzter Schockschaden von Angehörigen noch dem allgemeinen Zurechnungskriterium der „reasonable foreseeability“ des Schadens genügt, das für das englische Deliktsrecht zentral ist, wurde aus rechtspolitischen Erwägungen eine weitere Begrenzung der Haftung für Schockschäden in Betracht gezogen. So sah es Richter Stephenson in dem vorangehenden Urteil des Court of Appeal aufgrund von „considerations of policy“ noch als geboten an, die Haftung bei einer erheblichen zeitlichen und räumlichen Distanz zwischen dem Unfall und der schockauslösenden Kenntnisnahme von dem Unfall zu verneinen.740 So nannte er als denkbare unerwünschte Konsequenzen einer Haftung in diesen Fällen die verstärkte Belastung der Gerichte durch eine Vielzahl von Klagen (so genanntes floodgate argument), eine Steigerung der Versicherungsprämien und den Anreiz zu betrügerischen Klagen, bei denen ein Schockschaden nur vorgespiegelt werde.741 Diese Sichtweise, nach der ein unter dem tradierten Haftungsprinzip der reasonable foreseeability gegebener Anspruch gleichwohl aus rechtspolitischen Gründen zu verneinen ist, hielt jedoch der einhelligen Auffassung im House of 739 740 741
[1981] Q.B. 599; [1983] 1 A.C. 410. McLoughlin v. O’Brian and Others, [1981] Q.B. 599, 613 ff., per Stephenson L.J. McLoughlin v. O’Brian and Others, [1981] Q.B. 599, 613 ff., per Stephenson L.J.
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Lords nicht stand, obwohl die Richter dabei durchaus unterschiedlichen Begründungslinien folgten.742 So erkannten zwar zwei der fünf Richter relativ eindeutig an, dass der Gedanke einer praktikablen Haftungseinschränkung durchaus geeignet sein könne, einen Schadensersatzanspruch selbst bei reasonable foreseeability des Schockschadens auszuschließen.743 Wie sich aus den Ausführungen Lord Wilberforces ergibt, waren hiermit aber Gesichtspunkte wie das Verhältnis zwischen dem Unfallgeschädigten und dem Schockgeschädigten, die Nähe des Schockgeschädigten zum Unfall und die Art der Entstehung des Schocks gemeint.744 Hierbei handelt es sich um Erwägungen zu einer möglichen Haftungsbegrenzung, die wesentlich fallnäher sind als eine generelle Beschneidung von Ansprüchen unter den rechtspolitischen Gesichtspunkten der Gerichtsüberlastung, der Steigerung von Versicherungsprämien und etwaiger betrügerischer Klagen, die der Court of Appeal angeführt hatte. Derartigen Argumenten sprachen alle fünf Richter des House of Lords im Ergebnis die Relevanz ab und gaben der Klage in McLoughlin einstimmig statt. Dass mit diesem Urteil in erster Linie eine gerechte Entscheidung des Falls und weniger eine abstrakte Klärung der generellen Ersatzfähigkeit von Schockschäden bezweckt war, kam insbesondere in dem Votum Lord Wilberforces zum Ausdruck:745 Zwar bewege sich die Bejahung der Haftung in diesem Fall „upon the margin of what the process of logical progression would allow“. Entscheidend sei jedoch, dass es dem Gerechtigkeitsempfinden einer breiten Bevölkerungsmehrheit widersprechen würde, wenn das schwere Leid, das die Klägerin habe ertragen müssen, keine Haftung nach sich ziehen würde. Zudem verwies Lord Bridge darauf, dass die Klage dem allgemeinen Prinzip der negligence-Haftung entspreche, dass Schädigungen, die aus einem sorgfaltswidrigen Verhalten entstehen und die vernünftigerweise vorhersehbar sind, zu ersetzen seien. Wenn in diesem Zusammenhang rechtspolitische Argumente gegen eine Haftung angeführt würden, gehe es somit gerade um eine Abkehr von den klassischen Prinzipien des juristischen Entscheidens, die nicht akzeptabel sei: „To attempt to draw a line at the furthest point which any of the decided cases happens to have reached, and to say that it is for the legislature, not the courts, to extend the limits of liability any further would be, to my mind, an unwarranted abdication of the court’s function of developing and adapting principles of the common law to changing conditions.“746 742 Zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten für die Ermittlung einer ratio decidendi siehe bereits oben § 3 B VI 1, S. 156 f. 743 McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 416 ff., per Lord Wilberforce und 423 ff., per Lord Edmund-Davies. 744 McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 422, per Lord Wilberforce. 745 McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 419. 746 McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 443, per Lord Bridge.
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Auch Lord Scarman trat mit Vehemenz dafür ein, den Anspruch der Klägerin nicht an dem rechtspolitischen Gedanken der Eindämmung des Haftungsrechts scheitern zu lassen: „The distinguishing feature of the common law is this judicial development and formation of principle. Policy considerations will have to be weighed: but the objective of the judges is the formulation of principle. And, if principle inexorably requires a decision which entails a degree of policy risk, the court’s function is to adjudicate according to principle, leaving policy curtailment to the judgment of Parliament. By concentrating on principle the judges can keep the common law alive, flexible and consistent, and can keep the legal system clear of policy problems which neither they, nor the forensic process which is their duty to operate, are equipped to resolve. If principle leads to results which are thought to be socially unacceptable, Parliament can legislate to draw a line or map out a new path.“747
Das House of Lords vertrat somit in McLoughlin die Auffassung, eine Beurteilung der Ersatzfähigkeit von Schockschäden sei nur in spezieller Ansehung des entschiedenen Einzelfalls möglich, nicht aber im Wege gesetzgebungsähnlicher, rein rechtspolitischer Erwägungen.
e) Die Negligence-Haftung unter Hoheitsträgern Eine Bestätigung erfuhr diese restriktive Linie in jüngerer Zeit schließlich in der Entscheidung des Court of Appeal in Islington London Borough Council v. University College London Hospital NHS Trust.748 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt erlitt eine Frau einen Schlaganfall infolge einer fahrlässigen Fehlbehandlung durch Angestellte des späteren Beklagten, eines kommunalen Krankenhauses. Die erforderlichen Heilungskosten übernahm aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift die spätere Klägerin, eine kommunale Sozialbehörde, da die Patientin finanziell bedürftig war. Mit der Klage machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten einen Schadensersatzanspruch aus negligence geltend und wollte auf diesem Wege Kompensation für die aufgewendeten Heilungskosten erlangen. Hiermit war das Problem eines Haftungsrückgriffs in Fällen angesprochen, in denen eine staatliche Einrichtung aufgrund einer gesetzlichen Pflicht Kosten aufwendet, die durch das Fehlverhalten eines anderen entstanden sind. Eine entsprechende gesetzliche Rückgriffsgrundlage bestand nicht. Der Court of Appeal verneinte im Fall Islington nun auch einen Schadensersatzanspruch der kommunalen Sozialbehörde aus negligence zum Ausgleich der eingetretenen Vermögensschäden. Rechtsdogmatisch wurde dieses Ergebnis auf das Fehlen einer duty of care der Beklagten gegenüber der Klägerin gestützt. Darüber hinaus begründete Richter Buxton dieses Ergebnis in seiner leading opinion unter anderem mit den folgenden Erwägungen:
747 748
McLoughlin v. O’Brian and Others, [1983] 1 A.C. 410, 430, per Lord Scarman. [2005] EWCA Civ. 596 und hierzu Markesinis/Deakin, Tort Law, 6. Aufl. 2008, S. 198.
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„[I]t would be idle to pretend that a decision in Islington’s favour might not have implications, in terms of its reasoning, for other providers of public services. Mr Miller suggested the case of education authorities, obliged to provide gratuitous services to a child who required a statement of special educational needs because of clinical negligence. The same might be true of a great range of social services that are in principle free to the recipient. It is quite impossible for a court to know, within the confines of a particular case and with the benefit only of a sparse amount of evidence and its own commonsense, what are the wider implications of the move that it is being asked to make. This is a task for law reform, which can be undertaken in the light of the full picture and of informed comment on all of the collateral implications; rather than for law making.“749
Somit wurde die im Fall Islington in Rede stehende Frage, ob die negligenceHaftung zu einer Regressmöglichkeit von staatlichen Leistungsträgern auszubauen sei, mit dem Argument einer institutionellen Prärogative des Gesetzgebers verneint. Die Regelung des Rückgriffs für Sozialaufwendungen, die infolge einer fahrlässigen Schädigung erforderlich werden, sahen die Richter als ein komplexes rechtspolitisches Problem an, zu dessen Lösung der einzelfallbezogene Zivilprozess nicht in der Lage sei. Aus diesem Grund enthielt sich das Gericht einer entsprechenden Normbildung.
f) Zwischenergebnis Bei den gegebenen Beispielen handelt es sich zwar um eine relativ kleine Anzahl von Fällen aus der höchstrichterlichen Praxis in England, die sich inhaltlich mit ganz heterogenen Rechtsfragen beschäftigen. Dennoch illustrieren diese Fälle in einem zeitlichen Querschnitt, dass sich die richterliche Normbildung in England traditionellerweise in einer engen Anlehnung an den zu entscheidenden Einzelfall vollzieht.750 Diese Schlussfolgerung wird auch durch Blom-Cooper und Drewry in ihrer groß angelegten Studie über die Appellationspraxis des House of Lords geteilt: „On the evidence we have examined, the House of Lords in its judicial capacity has been meticulously deferential to Parliament in refraining from decisions which reflect on public policy not directly involved in the instant case.“751
Diese Einschätzung gilt zumindest für die Rechtsfragen, die sich in den klassischen Kernbereichen des Zivilrechts, wie zum Beispiel dem Vertrags- und Deliktsrecht, stellen, und bei denen daher mit einem kontinuierlichen Fluss von Streitverfahren vor den Court of Appeal und das House of Lords bzw. jetzt den Supreme Court of the United Kingdom zu rechnen ist. In diesem Bereich do749 Islington London Borough Council v. University College London Hospital NHS Trust, [2005] EWCA Civ. 596, para 37, per Buxton L.J. 750 Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 275 ff.; Paterson, The Law Lords, 1982, S. 10. 751 Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 364.
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miniert der Ansatz einer kontinuierlichen Kette von Fallentscheidungen und nicht derjenige einer abstrakten Normbildung. Hierbei soll nicht bestritten werden, dass die englischen Appellationsgerichte auch im Rahmen ihrer privatrechtlichen Urteile gewichtige rechtspolitische Entscheidungen treffen, wie dies beispielsweise Robertson für den Bereich der negligence-Haftung nachgezeichnet hat.752 Entscheidend ist aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung aber, dass sie dies durch eine Verkopplung von Streitentscheidung und Normbildung tun, wie die folgenden Worte Lord Diplocks sehr schön zusammenfassen: „The justification of the courts’ role in giving the effect of the law to the judges’ conception of the public interest in the field of negligence is based upon the cumulative experience of the judiciary of the actual consequences of lack of care in particular instances. And the judicial development of the law of negligence rightly proceeds by seeking first to identify the relevant characteristics that are common to the kinds of conduct and relationship between the parties which are involved in the case for decision and the kinds of conduct and relationships which have been held in previous decisions of the courts to give rise to a duty of care.“753
Ein „reasoning from case to case“ scheint aus englischer Sicht daher auch unter dem Blickwinkel des Normbildungsbedürfnisses nicht nur als gangbar, sondern sogar als geboten.754 Die Anpassung des geltenden Rechts über den tradierten Bestand hinaus folgt somit trotz ihrer allgemeingültigen Wirkung genetisch den Erfordernissen der konkreten Fallentscheidung.
VII. Neuere Tendenzen zu einer abstrakt-normbildenden Funktion der Zivilrechtsprechung Haben die vorstehenden Darlegungen das klassische Bild der englischen Rechtsprechung und der Rolle der obersten Gerichte skizziert, so darf allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, dass im Zuge jüngerer Entwicklungen der Gedanke einer stark fallbezogenen Appellationsrechtsprechung auch in England verschiedene Einschränkungen und Angriffe erfährt. Dabei zeichnet sich eine gewisse Tendenz ab, die Zivilrechtsprechung einer stärkeren Rationalisierung zu unterwerfen, sie also ähnlich der Gesetzgebung und der Verwaltung als einen möglichst effizienten gesamtgesellschaftlichen Lösungsmechanismus nutzbar zu machen.755 Beispielsweise existieren aus jüngerer Zeit Entscheidungen des Court of Appeal und des House of Lords, deren Stil das Ziel einer Streitentscheidung 752
Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 187 ff. Home Office v. Dorset Yacht Co. Ltd., [1970] A.C. 1004, 1058. 754 Zu diesem Aspekt Blom-Cooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 291 ff. 755 Siehe Kritzer, Courts, Justice, and Politics in England, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 81 (173 ff.). 753
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deutlich hinter das Ziel einer allgemeinen Klärung und Fortentwicklung des Rechts zurücktreten lässt (1.). Auch die zunehmende Europäisierung des Rechts beeinflusst die Rolle der englischen Appellationsrechtsprechung im Spannungsfeld aus Streitentscheidung und Normbildung (2.). Schließlich hat die englische Zivilprozessreform des Jahres 1998 das gesellschaftliche Interesse an einer leistungsfähigen Rechtspflege gegenüber dem Parteiinteresse an einer Streitentscheidung in den Vordergrund gerückt, wenngleich die Auswirkungen speziell auf das Appellationsverfahren hierbei, wie zu zeigen sein wird, nicht grundsätzlicher Natur waren (3.).
1. Wandlungen im Urteilsstil a) „Bürokratisierte“ Urteile des Court of Appeal zum Prozessrecht Im Rahmen der vorangehenden Darstellung wurde es als ein charakteristisches Stilmittel der englischen Appellationsrechtsprechung hervorgehoben, dass sich die Richter dem jeweiligen Fall typischerweise in individuellen Einzelvoten widmen und dass gerade hierdurch eine langsamere, fallbezogene Entwicklung des Privatrechts gegenüber der möglichen Alternative einer schnellen, abstrakten Klärung von Rechtsfragen dominiert. In exzeptionellen Fällen ist die englische Rechtsprechung jedoch bereit, von dieser Methode abzuweichen und Fragen „of general public importance“ einer planerisch-gesteuerten Lösung zuzuführen, die sich von den Erfordernissen einer kunstgerechten Streitentscheidung weit entfernt und auch Rechtsfragen behandelt, die aus Sicht des konkreten Falls bloß „akademisch“ oder „hypothetisch“ erscheinen. 756 In diesem Zusammenhang haben vor allem zwei Urteile des Court of Appeal aus dem Jahr 1997 für Aufsehen gesorgt, bei denen sich das Gericht zum Ziel gesetzt hatte, in möglichst effizienter Weise verschiedene Unklarheiten eines prozessrechtlichen Regelungskomplexes zu klären. Konkret ging es in der Entscheidung Bannister v. S.G.B. Plc and Others and Other Cases 757 um die Interpretation einer Regelung der County Court Rules 1981. Diese Regelung bezweckte die Beschleunigung kleinerer, standardisierter Verfahren vor den county courts, indem sie eine Verwerfung der Klage vorsah, wenn der Kläger im Vorfeld der mündlichen Verhandlung nicht zu bestimmten Zeitpunkten verschiedene Prozesshandlungen vornahm. Aufgrund der unklaren Fassung der Regelung bestanden bei ihrer Anwendung jedoch zahlreiche Unklarheiten. Folglich hatten sich vor dem Court of Appeal mehr als 100 Verfahren angesammelt, welche die besagte Regelung der County Court Rules 1981 betrafen. Dabei konstatierte das Gericht mehr als 30 unterschiedliche und 756 Vgl. Glasgow Navigation Co. v. Iron Ore Co. Ltd., [1910] A.C. 293, 294 und Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 8.14. 757 [1998] 1 W.L.R. 1123.
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nicht hinreichend geklärte Rechtsfragen hinsichtlich der Verwerfungsvorschriften.758 Diese Fragen betrafen unter anderem die Berechnung der Fristen für die jeweiligen Prozesshandlungen, eine mögliche Fristverlängerung, die inhaltlichen Anforderungen an die Prozesshandlungen, die Reichweite der Präklusion sowie die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung oder einer erneuten Klage nach der Verwerfung. Vor dem Hintergrund einer so komplexen Problematik sah sich der Court of Appeal genötigt, eine Entscheidung zu erlassen, die weniger einem Urteil als vielmehr einer Verwaltungsanweisung für die Handhabung der fraglichen Verfahrensvorschriften glich. In einem einheitlichen judgment of the court handelte das Gericht in rein abstrakter Form zunächst die einzelnen Rechtsfragen ab, um erst im Anschluss die gewonnenen Ergebnisse exemplarisch auf 19 konkrete Appellationsverfahren anzuwenden. Die Parteien der übrigen Appellationsverfahren wurden hingegen angehalten, auf der Grundlage der Rechtsausführungen des Urteils zu einvernehmlichen Lösungen zu gelangen. In einem „Vorwort“ erläuterte der Court of Appeal dieses Vorgehen wie folgt: „This is the judgment of the court to which all three members of the court have contributed equally. As we will explain, we have chosen these 19 appeals and two applications out of more than 100 appeals and applications which were awaiting disposal by the court in March of this year, in order to give us the opportunity of dealing with a very large number of unresolved issues on the proper interpretation of Ord. 17, r. 11 of the County Court Rules 1981. We are also using the occasion to restate the existing law on this topic in a single judgment. Such is the scale of the difficulties that have been confronting the lower courts that we have asked that a copy of this judgment should be sent immediately to every county court in England and Wales (for distribution to the judges who sit at that court), as well as to all the parties in all the appeals and applications awaiting decisions by this court. The text of this judgment is to be made available immediately on FELIX, the judges’ electronic bulletin board, and on the Internet […].“759
In Bannister trat somit die streitentscheidende Funktion des Verfahrens gegenüber der normbildenden Funktion ganz in den Hintergrund. Denn mit den Mitteln klassischer englischer Rechtsprechung war eine Klärung des Inhalts der County Court Rules 1981 aus Sicht des Court of Appeal nicht möglich: „Our purpose is to resolve outstanding problems, and also to provide in a single judgment a comprehensive restatement of existing authority. It should then be unnecessary in future to refer to any earlier authorities on this topic. We hope that the adoption of this strategy will bring some order to the chaos which exists at present, and that the guidance we will be giving may help to avoid, or at any rate to reduce, the recurrence of satellite litigation in this field.“760 758
Bannister v. S.G.B. Plc and Others and Other Cases, [1998] 1 W.L.R. 1123, 1130 in para
1.5. 759 760
1.6.
Bannister v. S.G.B. Plc and Others and Other Cases, [1998] 1 W.L.R. 1123, 1129. Bannister v. S.G.B. Plc and Others and Other Cases, [1998] 1 W.L.R. 1123, 1130 in para
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Trotz dieser Erläuterungen ist die Entscheidung in der Literatur scharf kritisiert worden. So hat beispielsweise Jacob argumentiert, dass die Abwendung von dem traditionellen, fallbezogenen Stil der Rechtsprechung und die Hinwendung zu einem neuen, abstrakten Stil bürokratischer Problemlösung keinen nachhaltigen Erfolg haben könne.761 Auch andere Autoren sehen es als einen erheblichen Verlust an, wenn der klassische englische Entscheidungsstil, der auf individuellen Einzelvoten mit einer nuancierten und entwicklungsoffenen Diskussion schwieriger Rechtsfragen aufbaut, einem kollektivistischen Stil weicht, der sich möglichst abstrakt-bürokratisierten Lösungen verpflichtet sieht.762 Die Nachwirkungen der Entscheidung in Bannister unterstreichen die Plausibilität dieser Kritik. So musste sich der Court of Appeal in der Folgeentscheidung Greig Middleton & Co. Ltd. v. Napthali Denderowicz 763 mit verschiedenen Einzelfragen beschäftigen, die auch durch den abstrakten Ansatz in Bannister noch nicht hinreichend geklärt waren. Zudem sah sich das Gericht genötigt, einige „Korrekturen und Klarstellungen“ (corrections and clarifications) in Bannister einzuarbeiten und somit eine „überarbeitete Fassung“ (revised version) dieses Urteils zu veröffentlichen.764 Bereits dieses exzeptionelle Vorgehen zeigt, dass die Entscheidungen Bannister und Greig zwar durchaus bedeutsam für die Frage sind, wie sich die englische Rechtsprechung neuen Regulierungsaufgaben stellt. Als genereller Paradigmenwechsel können sie aber aufgrund der Besonderheit der Verfahren, die zudem nicht das materielle Zivilrecht, sondern prozessrechtliche Vorschriften betrafen, kaum gelten.
b) „Quasi-legislative“ Urteile des House of Lords zu Ehegattensicherheiten Ein Wandel im Urteilsstil, der die Funktion der Normbildung gegenüber derjenigen der Streitentscheidung in den Vordergrund rückt, findet sich zum Teil auch in jüngeren Entscheidungen des House of Lords. Paradigmatisch hierfür stehen die beiden maßgeblichen Urteile zur Wirksamkeit von Sicherheiten, die Ehefrauen für Geschäftskredite ihrer Ehemänner bestellen. Wie in Deutschland, so wurde es auch in England gegen Ende des 20. Jahrhunderts immer üblicher, dass sich Kreditgeber zur Absicherung von Unternehmenskrediten auch von den Ehefrauen der Unternehmer Sicherheiten bestellen ließen. Da aufgrund des persönlichen Näheverhältnisses zwischen Kreditnehmer und Sicherungsgeberin hierbei eine ungerechtfertigte Übervorteilung der 761
J. Jacob, [1998] 61 M.L.R. 390, 393 ff. Andrews, English Civil Procedure, 2003, 38.61 ff.; Mann, [1991] 107 L.Q.R. 519 ff.; Munday, [2002] 61 C.L.J. 321 ff. 763 [1998] 1 W.L.R. 1164. 764 Siehe Greig Middleton & Co. Ltd. v. Napthali Denderowicz, [1998] 1 W.L.R. 1164, 1168 f. in para 1.3. 762
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Letzteren drohte und sich die Gesetzgebung dieses Problems nicht annahm, sah sich das House of Lords gehalten, diese Problematik einer Lösung anhand vertragsrechtlicher Grundsätze zuzuführen. Hierbei wählte das englische Recht den Weg, die etwaige Unwirksamkeit der Ehegattensicherheit im Ausgangspunkt an eine unzulässige Willensbeeinflussung (undue influence) der Sicherungsgeberin durch den Kreditnehmer zu knüpfen. 765 Dies führte in der Folge zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine solche Willensbeeinflussung durch den Kreditnehmer dem Kreditgeber zuzurechnen war und folgerichtig zu einer Unwirksamkeit der Sicherheit führen konnte. Unproblematisch war dabei der Fall, dass der Kreditgeber von der Willensbeeinflussung tatsächlich Kenntnis hatte (actual notice). Umstritten und maßgeblicher Gegenstand der im Folgenden behandelten Urteile war hingegen die Frage, welche Obliegenheiten den Kreditgeber bei fehlender tatsächlicher Kenntnis von der undue influence durch den Kreditnehmer treffen, um eine wirksame privatautonome Entscheidung der Sicherungsgeberin zu gewährleisten. Die Verletzung solcher Obliegenheiten würde zu einer so genannten constructive notice führen und die Sicherheit ebenfalls rechtsunwirksam machen. Das House of Lords wandte sich der Frage, welche „reasonable steps“ ein Kreditinstitut unternehmen müsse, um sicherzustellen, dass die Ehefrau die Sicherheit ohne unzulässige Willensbeeinflussung eingehe, erstmals näher in der Entscheidung Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another 766 aus dem Jahr 1993 zu. Ähnlich wie die Urteile des Court of Appeal zu den Rechtsfragen der Prozessbeschleunigung im county court-Verfahren767 besteht auch dieses Urteil des House of Lords nur aus einer leading opinion durch Lord Browne-Wilkinson, der die anderen Richter vorbehaltlos zustimmten. Am Maßstab des klassischen englischen Urteilsstils, der eher auf eine plurale Urteilsbegründung ausgerichtet ist,768 stellt dies eine ungewöhnliche Entscheidungsform dar, die bereits als solche das starke normbildende Moment belegt, das die Richter bezweckten. Im Einklang hiermit steht es, dass Lord Browne-Wilkinson sein Votum nicht mit einer Aufarbeitung der einschlägigen Präjudizien begann, sondern mit policy considerations, welche die nachfolgenden rechtlichen Ausführungen vorstrukturieren sollten. Er strich hierbei das Spannungsverhältnis heraus, das zwischen dem Interesse an einem hinreichenden Schutz der Ehefrauen einerseits und der Gefahr einer unbotmäßigen Einschränkung des Kreditverkehrs andererseits bestehe und das die zu findende Lösung angemessen ausgleichen müsse.769 Mit der Vermeidung unzulässiger faktischer Diskriminierungen von Frauen in persönlichen Näheverhältnissen und der Funktionsfähigkeit des 765 766 767 768 769
Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another, [1994] 1 A.C. 180, 195 ff. [1994] 1 A.C. 180. Siehe oben § 3 B VII 1 a, S. 171 ff. Dazu oben § 3 B VI 1, S. 154 ff. Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another, [1994] 1 A.C. 180, 188 f.
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Bankgeschäfts griff er dabei sehr disparate und vielschichtige Interessen auf, deren Ausgleich man normalerweise weit eher mit einer gesetzgeberischen als mit einer richterlichen Entscheidung in Verbindung bringen würde.770 Dies hat Robertson zu der Einschätzung verdichtet, dass O’Brien „a clearly thought out and open application of the judicial power to legislate“ enthält.771 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Präjudizien zu einer undue influence unter Ehegatten aus der Sicht Lord Browne-Wilkinsons keine befriedigende Lösung vorgaben, obwohl er diese Präjudizien im Anschluss an seine policy considerations „geradezu lehrbuchartig“772 analysierte. In diesem Sinne fasste das Votum die Aufgabe, die sich dem House of Lords aus seiner Sicht stellte, wie folgt zusammen: „In my judgment your Lordships should seek to restate the law in a form which is principled, reflects the current requirements of society and provides as much certainty as possible.“773
Hiermit erfüllte das Gericht weniger eine streitentscheidende als vielmehr eine quasi-legislatorische Aufgabe, was auch der weitere Inhalt des Urteils unterstreicht. Bei der Entwicklung seiner Lösung ging Lord Browne-Wilkinson zunächst von einer sehr allgemeinen Annahme aus, nämlich dass zum Kern des equity-Rechts eine „mitfühlende Behandlung“ (tender treatment) von Ehefrauen gehöre, die für Kredite ihrer Ehemänner Sicherheiten gewähren, und dass deshalb eine „Tendenz zur Unwirksamkeit“ (invalidating tendency) solcher Geschäfte bestehe.774 Die weitere Ausarbeitung dieses Prinzips hinsichtlich der Frage, welche „reasonable steps“ ein Kreditinstitut nun unternehmen müsse, um die Zurechenbarkeit eines undue influence unter den Ehegatten zu vermeiden, überließ Lord Browne-Wilkinson jedoch nicht einem schrittweisen Vorgehen case-by-case. Vielmehr sah er für zukünftige Fälle, bei denen die Sicherheitenbestellung erst nach der Veröffentlichung des Urteils in O’Brien erfolgen würde, eine strikte Formalisierung vor: Die Bank müsse mit der Ehefrau ein Treffen ohne den kreditnehmenden Ehemann arrangieren und sie über den Umfang und das Risiko ihrer Sicherheitenbestellung informieren sowie ihr die zusätzliche Einholung unabhängigen Rechtsrats empfehlen.775 Wohl wissend, dass hiermit zwar ein vielleicht plausibler, aber keineswegs zwingender Schutzmechanismus zugunsten der Ehefrauen etabliert war, von dem die Kreditgeber bis zur Veröffentlichung noch nicht wissen konnten, hielt das Urteil weiterhin fest, dass die erforderlichen reasonable steps für bereits abgeschlossene Transaktionen ein770 771 772 773 774 775
Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 124 ff. Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 124. So G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 4/148. Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another, [1994] 1 A.C. 180, 195. Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another, [1994] 1 A.C. 180, 195 f. Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another, [1994] 1 A.C. 180, 196.
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schließlich des aktuell zur Entscheidung anstehenden Sachverhalts nur „on the facts of each case“ bestimmt werden könnten.776 Für den konkreten Rechtsstreit stellte Lord Browne-Wilkinson in einem abschließenden Abschnitt, dessen Umfang sich im Verhältnis zu den vorangehenden, zukunftsbezogenen Rechtsausführungen äußerst schmal ausnimmt, lediglich fest, dass die kreditgebende Bank keinerlei Aufklärung der Ehefrau über den Umfang der zu bestellenden Sicherheit vorgenommen habe, weshalb dieses Sicherungsgeschäft unwirksam sei.777 Somit wurde der für zukünftige Fälle geltende, normbildende Gehalt des Urteils in O’Brien weitgehend unabhängig von dem knapperen, streitentscheidenden Gehalt entwickelt. Die Entscheidung bewirkte jedoch nicht die erwünschte abschließende Klärung des Problems der Ehegattenbürgschaften durch die Appellationsrechtsprechung. Vor allem erwies sich das in O’Brien geforderte Treffen zwischen der kreditgewährenden Bank und der sicherungsgebenden Ehefrau als impraktikabel und wurde durch die Banken regelmäßig nicht eingehalten.778 Diese wichen vielmehr darauf aus, dass die sicherungsgebende Ehefrau eine schriftliche Bestätigung eines Rechtsanwalts (solicitor) über eine unabhängige Beratung zu den Risiken des Sicherungsgeschäfts beizubringen habe. Aus diesem Grund befasste sich das House of Lords in einem vielbeachteten Urteil aus dem Jahr 2001, Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., erneut mit der Problematik.779 Auch dieses Urteil erscheint unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Streitentscheidung und Normbildung in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Dies gilt bereits für den Umstand, dass das House of Lords nicht nur ein Streitverfahren behandelte, sondern acht verbundene Verfahren. In dieser Hinsicht ähnelt das Verfahren dem oben geschilderten Urteil des Court of Appeal in Bannister, das ebenfalls eine Vielzahl von Streitverfahren zur möglichst weit reichenden Klärung bestimmter Rechtsfragen zusammenfasste.780 Entsprechend gestaltete sich auch der Stil des Urteils in Etridge: Die leading judgments von Lord Nicholls und Lord Scott entwickelten ihre rechtlichen Ausführungen nicht im Anschluss an die Sachverhalte der zu entscheidenden Fälle. Vielmehr nahmen die beiden Voten zunächst eine umfangreiche abstrakte Systematisierung des Rechtsinstituts undue influence und der Zurechnung einer solchen unzulässigen Einflussnahme gegenüber Dritten vor.781 Vergleichba776
Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another, [1994] 1 A.C. 180, 196. Barclays Bank Plc. v. O’Brien and Another, [1994] 1 A.C. 180, 199. 778 Siehe Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 804 f. in para 51. 779 Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773. 780 Siehe oben § 3 B VII 1 a, S. 171 ff. 781 Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 794 in para 6 ff., per Lord Nicholls und 836 in para 139 ff, per Lord Scott. 777
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res gilt auch für die Ausführungen von Lord Hobhouse.782 Hierbei hielten die Richter es mit den Worten Lord Nicholls für geboten, „to go back to first principles“.783 In ähnlicher Weise sah es Lord Hobhouse als Aufgabe des Gerichts an, ein Grundsatzurteil zu erlassen, das die Rechtslage in größtmöglichem Maße klarstellt (to settle the law).784 Der Leser erhält dabei den Eindruck, als beschäftigten sich die Richter in gesetzgebungsähnlicher Manier mit einem gesellschaftlich relevanten Regelungsproblem an sich und weniger mit konkreten Fällen, die dieses Regelungsproblem veranschaulichen. So war es wiederum Lord Nicholls, der die anstehende Aufgabe des House of Lords dahingehend zusammenfasste, einen Ausgleich zwischen der erforderlichen Sicherheit in Kreditmärkten und den Risiken familiärer Verbundenheit herzustellen.785 In folgerichtiger Durchführung dieses generalisierenden Ansatzes findet sich der Sachverhalt der acht verbundenen Verfahren auch erst im letzten Viertel des Urteils wiedergegeben.786 Während drei der beteiligten Richter787 jeweils ein umfassendes abstraktes Konzept der Wirksamkeit von Ehegattensicherheiten entwickelten, machte nur ein Richter umfangreichere Ausführungen zu den anhängigen Streitverfahren.788 Inhaltlich gab das House of Lords in Etridge dem Streben der Banken nach, das Aufklärungsgespräch mit der Ehefrau nicht notwendig selbst durchführen zu müssen, sondern im Wege der so genannten independent advice von einem durch die Ehefrau ausgewählten solicitor vornehmen zu lassen. Hierdurch wurde insbesondere das Risiko einer Fehlaufklärung durch den solicitor im Grundsatz auf die Ehefrau verlagert, da der solicitor nicht als Agent der Bank fungiere, so dass sein Fehlverhalten nicht ohne Weiteres der Letzteren zuzurechnen sei.789 Zum Ausgleich machte das Gericht detaillierte Vorgaben für die durch den solicitor geschuldete Aufklärung sowie die Mitwirkungs- und Nachforschungspflichten der kreditgebenden Bank, die in dem Urteil ca. sechs Seiten einnehmen.790 Darüber hinaus legte Lord Nicholls, wiederum noch vor einem Eingehen auf die konkret anhängigen Fälle, ausführlich dar, dass die entwickel782
Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 818 ff. in para
98 ff. 783 784 785 786
Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 794 in para 6. Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 818 in para 99. Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 800 in para 34 ff. Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 850 in para
194 ff. 787
Lord Nicholls, Lord Hobhouse und Lord Scott. Siehe Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 850 ff. in para 194 ff., per Lord Scott. 789 Siehe Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 810 f. in para 75 ff., per Lord Nicholls. 790 Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 806–812 in para 58–80, per Lord Nicholls. 788
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ten Aufklärungspflichten „a wider principle“ verkörpern würden, das alle Konstellationen von nicht-kommerziell bestellten Sicherheiten betreffe, so zum Beispiel auch Sicherheiten eines Arbeitnehmers für eine Schuld des Arbeitgebers.791 Derartige Fälle waren in Etridge freilich nicht anhängig; vielmehr ging es in den acht Fallkonstellationen jeweils um Ehegattensicherheiten. Bemerkenswert ist letztlich die folgende Besonderheit der Prozesssituation: Das Urteil in Etridge entwickelte die Maßstäbe der geschuldeten Aufklärung gegenüber dem O’Brien-Urteil fort, um eine möglichst eindeutige und praktikable Klärung der Rechtslage herbeizuführen. Zu diesem Zweck wurde durch Lord Nicholls ein detailliertes Pflichtenprogramm für die kreditgewährenden Banken ausgearbeitet, wenn diese kein eigenständiges Gespräch mit der sicherungsgebenden Ehefrau führen, sondern auf die independent advice durch einen solicitor vertrauen. Dieses Programm soll nach dem Votum von Lord Nicholls wiederum nur für zukünftige Transaktionen gelten, die nach dem Erlass des Urteils abgeschlossen werden.792 Die Ironie der Prozesssituation bestand nun aber darin, dass die Sicherungsgeschäfte in den acht anhängigen Fällen nicht nur – logischerweise – vor dem Etridge-Urteil abgeschlossen worden waren, sondern sämtlich bereits vor dem Urteil in O’Brien.793 Bereits das O’BrienUrteil hatte aber die dort entwickelten Grundsätze zu den Pflichten der Banken auf Neufälle beschränkt, während für Altfälle eine einzelfallbezogene Beurteilung bestimmen sollte, ob die Banken vernünftige Schritte zum Schutz der Ehefrauen unternommen hatten. In Etridge modifizierte das House of Lords somit ein Pflichtenprogramm aus einem vorangegangenen Urteil, das seinerseits noch nicht einmal auf die nun zur Entscheidung anstehenden Altfälle anwendbar gewesen wäre. Auch dieser Umstand verdeutlicht, dass das Augenmerk der Richter ganz auf dem normbildenden Aspekt ihrer Entscheidung lag. Zusammenfassend betrachtet, bilden die Urteile des House of Lords in O’Brien und Etridge somit ein Beispiel für die weit gehende Entkoppelung der richterlichen Normbildung von der konkreten Streitentscheidung.794 In Abkehr von dem klassischen Bild der englischen Appellationsrechtsprechung fließen die Vorgaben für zukünftige Fälle weniger aus der exemplarischen Behandlung eines Rechtsstreits, sondern die Richter begreifen ihre Aufgabe als eine solche der systematischen und möglichst weit reichenden Klärung eines gesellschaftlichen Regelungsproblems.
791 Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 812 ff. in para 82 ff., per Lord Nicholls. 792 Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 804, 811 in para 79 f. Kritisch hierzu wohl aber Lord Hobhouse auf S. 818 f. in para 100. 793 Siehe Royal Bank of Scotland plc v. Etridge (No. 2) et. al., [2002] 2 A.C. 773, 804 in para 50. 794 G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 4/151.
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2. Die Einflüsse der Europäisierung des Rechts a) Grundlagen Mit Wirkung zum 1. Januar 1973 ist das Vereinigte Königreich den Europäischen Gemeinschaften beigetreten und heute Mitglied der Europäischen Union. Der Einfluss, den diese Entwicklung auf das englische Recht ausübt, wird allgemein als sehr groß eingeschätzt.795 Dies betrifft nicht nur die inhaltlichen Vorgaben, die sich aus dem primären und dem sekundären Europarecht ergeben. Vielmehr überformen die europäischen Einflüsse auch den Stil und den Modus der Entscheidungsfindung durch die nationalen Gerichte. Lord Denning hat die zunehmende Bedeutung des Europarechts für die englische Rechtsprechung dabei sogar mit einer „hereinbrechenden Flut“ (incoming tide) verglichen.796 Die Rechtsquellen des Europarechts, insbesondere das Primärrecht, zeichnen sich tendenziell durch eine höhere Abstraktion und stärkere Materialisierung aus, als dies traditionellerweise für die regelmäßig konkret-formalen Vorgaben des englischen Fall- und Gesetzesrechts galt.797 Dieser Unterschied setzt sich folgerichtig auf der Ebene des Rechtsprechungsprozesses fort. Während der common law-Prozess auf die Verwirklichung privater Rechte fokussiert sei, habe die Rechtsprechung auf europäischer Ebene in erster Linie die Prinzipien der Union durchzusetzen und damit öffentlichen Interessen zu dienen.798 Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird somit aus englischer Perspektive als stark zweckorientiert und häufig als gesetzgebungsähnlich wahrgenommen.799 Lord Denning hat dies wiederum in die folgenden Worte gefasst: „When they come upon a situation which is to their minds within the spirit – but not the letter – of legislation, they solve the problem by looking at the design and purpose of the legislature – at the effect which it was sought to achieve. They then interpret the legislation so as to produce the desired effect. This means that they fill gaps, quite unashamedly, without hesitation. They ask simply: what is the sensible way of dealing with this situation so as to give effect to the presumed purpose of the legislation? They lay down the law accordingly. If you study the decisions of the European Court, you will see that they do it 795 Jacobs/Anderson, European Influences, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 483 ff.; Kritzer, Courts, Justice, and Politics in England, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 81 (166 ff.); Levitsky, 42 Am. J. Comp. L. 347 ff. (1994); Stevens, Law and Politics, 1978, S. 624; Steyn, [2002] 118 L.Q.R. 382, 385. 796 H. P. Bulmer Ltd. and Another v. J. Bollinger S.A. and Others, [1974] Ch. 401, 418, per Lord Denning M.R. 797 Arden, [2008] 67 C.L.J. 487, 499 f.; Levitsky, 42 Am. J. Comp. L. 347, 348 ff. (1994); Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 4–013 f. 798 Peel, Forum Shopping in the European Judicial Area – Introductory Report, University of Oxford Faculty of Law Legal Studies Research Paper No. 39/2006, 2006, S. 1 ff. 799 Freeman, [1973] 26 Current Legal Problems 166; Stevens, Law and Politics, 1978, S. 624.
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every day. To our eyes – short-sighted by tradition – it is legislation pure and simple. But to their eyes, it is fulfilling the true role of the courts.“800
Vor diesem Hintergrund stellt sich auch für die englische Rechtsprechung im europarechtlichen Bezugsrahmen das Erfordernis, die Praxis der Rechtsfindung stärker an objektiv-teleologischen Gesichtspunkten und an der Verwirklichung rechtspolitischer Zwecke auszurichten.801 Denn Sec. 2 (4) ECA 1972 verpflichtet die Gerichte, gesetzliche Vorschriften, soweit möglich, im Einklang mit dem Europarecht zu interpretieren. Ähnlich wie die Gerichte in Deutschland802 haben der Court of Appeal und das House of Lords diese Vorgabe dazu genutzt, die Interpretationsspielräume gegenüber den traditionellen Rechtsanwendungsmaßstäben auszuweiten, um das Verdikt einer Europarechtswidrigkeit englischen Rechts zu vermeiden.803 Die Europäisierung des englischen Rechts führt somit zu einer Kompetenzausweitung bei den Gerichten, die ein verstärktes normbildendes Mandat umfasst.804 Im Zuge dieses Prozesses wird der Fallbezug der Rechtsprechung tendenziell ausgedünnt, weil die Umsetzung allgemeiner normativer Ziele und Vorgaben in den Vordergrund tritt. Diese Schwerpunktsetzung zwingt die englische Rechtsprechung, um das oben angeführte Bild Lord Dennings aufzugreifen, ihre traditionell gepflegte „Kurzsichtigkeit“ einer korrigierenden Operation zu unterziehen, um über den konkreten Fall hinaus auf übergreifende Regelungsstrukturen blicken zu können. Praktische Bedeutung erlangt dies beispielsweise im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV. Der Vorlagegegenstand betrifft dabei nicht den jeweiligen Rechtsstreit in seiner Gänze, sondern nur die Auslegung des primären und sekundären Europarechts, das für den Rechtsstreit Bedeutung besitzt. Bei der Darlegung der deutschen Entwicklung wurde bereits darauf hingewiesen, dass dies in Verfahren mit europarechtlichem Bezug häufig zu einem abstrakten Rechtsprechungsstil führt, in dessen Rahmen die konkrete Fallentscheidung hinter die Klärung des supranationalen Rechts zurücktritt. 805 In ähnlicher Weise sind daher auch die englischen Gerichte gezwungen, für die Zwecke der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof den konkreten Streitfall zugunsten einer allgemeinen Rechtsfrage zurückzustellen. Das juristische Ge800 James Buchanan & Co. Ltd. v. Babco Forwarding and Shipping (UK) Ltd., [1977] Q.B. 208, 213 f., per Lord Denning M.R. 801 Cross/Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 226; Jacobs/Anderson, European Influences, in: Blom-Cooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 483 (495 f.); Levitsky, 42 Am. J. Comp. L. 347 ff., 368 ff. (1994); Zweigert/ Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 261. 802 Dazu oben § 3 A XII 1 a, S. 112 f. und § 3 A XII 2, S. 115 ff. 803 Eingehend Levitsky, 42 Am. J. Comp. L. 347, 369 ff. (1994) und Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 4–035 ff. 804 Arden, [2008] 67 C.L.J. 487, 500; Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 4–014; Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 103 ff. 805 Siehe oben § 3 A XII 1 b, S. 113 ff. und § 3 A XII 2, S. 115 ff.
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samtproblem wird in europarechtsirrelevante und europarechtsrelevante Teile aufgespalten.806 Dies hat auch Folgewirkungen für das System der Präjudizienbindung. So hängt die Bindungswirkung einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die nach Art. 267 AEUV ergangen ist, in späteren Verfahren vor den englischen Gerichten nicht davon ab, ob das Vorlageverfahren und das spätere Verfahren auf einem im Wesentlichen gleichen Sachverhalt beruhen.807 Ein einschränkendes distinguishing durch die Appellationsgerichte kommt daher nicht in Betracht. Da sich mittlerweile auch die englischen Gerichte gehalten sehen, dem Europäischen Gerichtshof in möglichst großem Maße die Gelegenheit zu geben, das Europarecht interpretativ fortzuentwickeln, machen sie von dem Mittel des Vorabentscheidungsverfahrens nach anfänglicher Zurückhaltung nun immer häufiger Gebrauch,808 was die praktische Bedeutung des geschilderten Paradigmenwechsels im Rechtsprechungsstil als durchaus erheblich erscheinen lässt.
b) Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Diskriminierungsschutz bei Schwangerschaft Ein anschauliches Beispiel für die Akzentverschiebung, die der Einfluss des Europarechts auf die englische Rechtsprechung für das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung bewirken kann, bildet der Fall Webb v. EMO Air Cargo (U.K.) Ltd.809 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte das beklagte Unternehmen die Klägerin in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis angestellt. Bei der Einstellung war aus Sicht beider Parteien klar, dass die Klägerin in dem ersten Zeitraum als Schwangerschaftsvertretung für eine andere Arbeitnehmerin der Beklagten tätig sein sollte. Dies war jedoch nicht möglich, da sich kurz darauf herausstellte, dass die Klägerin ebenfalls schwanger war. Daraufhin kündigte ihr die Beklagte. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit dem Argument, sie sei vor dem Hintergrund des Sex Discrimination Act 1975 unzulässig wegen ihrer Schwangerschaft, respektive ihres Geschlechts, diskriminiert worden. Sec. 1 (1) dieses Gesetzes enthielt die folgende Regelung: „A person discriminates against a woman in any circumstances relevant for the purposes of any provision of this Act if – (a) on the ground of her sex he treats her less favourably than he treats or would treat a man […].“
Die Klage war zunächst in mehreren Instanzen erfolglos. Die Gerichte nahmen an, dass die Klägerin nicht im Sinne der Sec. 1 (1) Sex Discrimination Act 1975 806 807 808 809
Levitsky, 42 Am. J. Comp. L. 347, 368 (1994). Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 4–039. Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 4–028 m.w.N. [1993] I.C.R. 175.
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schlechter behandelt worden sei als ein Mann in vergleichbarer Lage. Denn sie sei nicht spezifisch wegen ihrer Schwangerschaft entlassen worden, sondern weil sie die Arbeit während der anvisierten Schwangerschaftsvertretung nicht habe wahrnehmen können. Da aber auch ein Mann, der während des besagten Zeitraums krankheitsbedingt nicht hätte arbeiten können, durch die Beklagte entlassen worden wäre, fehle es an einer Diskriminierung. Dieser Interpretation des Sex Discrimination Act 1975 schloss sich im Ausgangspunkt auch das House of Lords an.810 Das Gericht hatte jedoch Zweifel, ob eine solche Regelung mit einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft im Einklang stand, die geschlechtsspezifische Diskriminierungen verbot.811 Es entschied daher, dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob eine entsprechende Kündigung, wie sie im Fall Webb erfolgt war, gegen das sekundärrechtliche Verbot der geschlechtsspezifischen Diskriminierung verstieß. Die Bedeutung dieser Vorlagefrage für den Ausgang des konkreten Streitverfahrens blieb jedoch unklar. Denn da es sich um einen Rechtsstreit unter Privaten handelte, konnte die Antidiskriminierungsrichtlinie keine unmittelbare Wirkung zeitigen, sondern allenfalls im Rahmen einer Interpretation des Sex Discrimination Act 1975 Relevanz entfalten. Ob eine solche richtlinienkonforme Interpretation möglich sein würde, ließ das House of Lords jedoch ausdrücklich offen: „In the event of the court arriving at a decision that [a violation of the Directive is given], it would be necessary for this House to consider whether it is possible to construe the relevant provisions of the Act of 1975 in such a way as to accord with such decision. Further, it is not impossible to envisage that the sort of situation which existed in the present case might arise in circumstances where Directive (76/207/E.E.C.) has direct application, namely where the employer is the state or an emanation of the state. So I think it appropriate that before final judgment is given on this appeal there should be referred to the European Court of Justice […].“812
Ganz ähnlich wie der Bundesgerichtshof in dem Vorlagebeschluss zum Nutzungsersatz bei Lieferung mangelhafter Verbrauchsgüter813 äußerte sich das House of Lords in seinem Vorlagebeschluss im Fall Webb somit nicht zur Entscheidungserheblichkeit der europarechtlichen Frage für den konkreten Rechtsstreit. Auch hier ging es dem Gericht vielmehr vornehmlich um das abstrakte Interesse an der Klärung einer wichtigen Rechtsfrage, wie der Verweis auf den hypothetischen Parallelfall einer unmittelbaren Wirkung der Antidiskriminierungsrichtlinie zeigt, der in Webb gerade nicht gegeben war. Auf die Vorlage entschied der Europäische Gerichtshof, dass ein Verstoß gegen die Antidiskriminierungsrichtlinie auch dann vorliege, wenn einer unbe810 811 812 813
Webb v. EMO Air Cargo (U.K.) Ltd., [1993] I.C.R. 175, 179 ff., per Lord Keith. Webb v. EMO Air Cargo (U.K.) Ltd., [1993] I.C.R. 175, 183 ff., per Lord Keith. Webb v. EMO Air Cargo (U.K.) Ltd., [1993] I.C.R. 175, 187, per Lord Keith. Siehe oben § 3 A XII 2, S. 115 ff.
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fristet eingestellten Arbeitnehmerin deshalb gekündigt werde, weil sie aufgrund einer Schwangerschaft zunächst nicht für eine Aufgabe eingesetzt werden könne, deren Erfüllung aus Sicht der Vertragsparteien bei Abschluss des Arbeitsvertrags wesentlich gewesen sei.814 In seinem darauf folgenden, abschließenden Urteil bejahte das House of Lords dann die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Interpretation von Sec. 1 (1) Sex Discrimination Act 1975 und gab somit der Klägerin Recht. Auch in diesem Urteil bezogen sich die umfangreichsten Ausführungen aber nicht auf die Konsequenzen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für den vorliegenden Fall. Die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Interpretation wurde vielmehr recht apodiktisch behauptet.815 Eingehend stellte das House of Lords hingegen klar, dass in einem hypothetischen Alternativfall, in dem die schwangere Arbeitnehmerin nicht – wie in Webb – unbefristet, sondern nur befristet für den Zeitraum der Schwangerschaftsvertretung eingestellt werde, eine rechtswidrige Diskriminierung auch aus europarechtlicher Sicht wohl zu verneinen sei.816 Auch insoweit rückte das Gericht die abstrakte Klärung des Problems der Diskriminierung wegen Schwangerschaft gegenüber der Lösung des eigentlichen Falls in den Vordergrund.
3. Die Auswirkungen der Civil Procedure Reform 1998 Im Zuge der Zivilprozessreform des Jahres 1998 hat das englische Prozesswesen eine nicht unerhebliche Neuausrichtung erfahren, die eine deutliche Einschränkung des klassischen adversarialen Prozessverständnisses bewirkt und die dabei in erster Linie das Verfahren in der Tatsacheninstanz betrifft. Vorausgegangen war eine intensive Diskussion, die sich insbesondere an den langen Verfahrensdauern und den hohen Kosten der Rechtsverfolgung in England entzündet hatte. Lord Woolf stellte in seinen beiden Gutachten, die die Prozessreform maßgeblich vorbereiteten, folgerichtig die Verbesserung des „access to justice“ für breite Bevölkerungskreise in den Mittelpunkt.817 Damit hat die wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung, die im Laufe des 20. Jahrhunderts auch für das englische Recht prägend geworden ist, die sich aber zunächst weit gehend auf die Ergänzung der administrativen Staatstätigkeit durch eine umfassende judikative Kon-
814 815
EuGH, Rs. C-32/93 (Webb), Slg. 1994, I-3567 Rdnr. 24 ff. Vgl. Webb v. EMO Air Cargo (U.K.) Ltd. (No. 2), [1995] I.C.R. 1021, 1027, per Lord
Keith. 816
Webb v. EMO Air Cargo (U.K.) Ltd. (No. 2), [1995] I.C.R. 1021, 1025 ff., per Lord
Keith. 817 Umfassend Lord Woolf, Access to Justice: Interim Report to the Lord Chancellor on the Civil Justice System in England and Wales, 1995 und ders., Access to Justice: Final Report to the Lord Chancellor on the Civil Justice System in England and Wales, 1996; speziell zum Problem der Kostenlast bereits eindringlich Zuckerman, [1996] 59 M.L.R. 773 ff.
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trolle des Verwaltungshandelns beschränkte,818 nun auch das Gebiet des Privatrechts erreicht. Die Reform lehnt sich dabei stark an den Gedanken des „managerial judging“ an, der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunächst in den Vereinigten Staaten durchgesetzt und zu einer aktiveren Überformung des privaten Prozessverhaltens durch die Gerichte geführt hat. 819 Dementsprechend folgen die neuen Civil Procedure Rules zwei Leitlinien:820 Erstens wird dem Gericht im Verhältnis zu den Parteien und ihren Prozessvertretern eine aktivere Rolle bei der Gestaltung des erstinstanzlichen Prozessablaufs eingeräumt. Zweitens soll diese gestiegene Dispositionsmacht dahingehend ausgeübt werden, dass das Verfahren hinsichtlich seiner zeitlichen Dauer und seiner Kosten in einem proportionalen Verhältnis zu seinem materialen Gegenstand verläuft. Auf einer abstrakteren Ebene liegt dem ein Prozessbild zugrunde, das nicht mehr uneingeschränkt an der Individualität des jeweiligen Streitverfahrens orientiert ist, sondern an dem Gedanken einer distributiven Verfahrensgerechtigkeit, die das Rechtsschutzsystem als eine Einheit begreift, in der die Gesamtheit aller sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Konflikte mit einem angemessenen Anteil repräsentiert und einer Lösung zugeführt werden muss.821 Auch für die Appellationsebene wird den Civil Procedure Rules 1998 eine verstärkte Hinwendung zum Gedanken des case management entnommen.822 Für die vorliegende Untersuchung erscheint dabei am ehesten die Neuerung relevant, dass nun grundsätzlich auch das Rechtsmittel gegen eine erstinstanzliche Entscheidung des High Court zum Court of Appeal gemäß Rule 52.3 (1) und (2) CPR einer Zulassung durch den iudex a quo oder den iudex ad quem bedarf. Gerade aus diesem Umstand leiten Kommentatoren ein aktiveres Mandat der Gerichte zur Steuerung des Appellationsprozesses ab.823 Gleichwohl wäre 818
Hierzu Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 22. Zu diesem Zusammenhang Michalik, Justice in Crisis: England and Wales, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 117 (152 ff.) und Zuckerman, ZZPInt 2 (1997), 31 (32). 820 Zuckerman, Justice in Crisis: Comparative Dimensions of Civil Procedure, in: ders. (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 3 (16 f.); ähnlich Graininger/Fealy, The Civil Procedure Rules in Action, 2. Aufl. 2000, S. 173 ff. und Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 228 ff. 821 Andrews, English Civil Procedure, 2003, 6.49 ff.; ders.; The Modern Civil Process, 2008, 1.04; M. Stürner, ZVglRWiss 99 (2000), 310 (315); ders., ZVglRWiss 103 (2004), 349 (366 ff.); Zuckerman, Justice in Crisis: Comparative Dimensions of Civil Procedure, in: ders. (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 3 (17 f.). 822 Drewry/Blom-Cooper, The House of Lords and the Court of Appeal, in: BlomCooper/Dickson/Drewry (Hrsg.), The Judicial House of Lords 1876–2009, 2009, S. 48 (51 ff.); J. Jacob, [1998] 61 M.L.R. 390; Michalik, Justice in Crisis: England and Wales, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 117 (158). 823 Siehe Michalik, Justice in Crisis: England and Wales, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 117 (158). 819
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es unzutreffend, hieraus ein Umschwenken des englischen Systems auf eine reine Grundsatzappellation im Interesse der Allgemeinheit abzuleiten. Denn nach Rule 52.3 (6) (a) CPR setzt die Zulassung lediglich voraus, dass das Rechtsmittel „would have a real prospect of success“. Ein solcher Erfolg setzt nach Rule 52.11 (3) (a) CPR wiederum nur voraus, dass die angegriffene Entscheidung rechtlich unzutreffend (wrong) ist. Es kommt daher lediglich auf die materielle Richtigkeit der Entscheidung an, so dass der unmittelbare Zweck des Rechtsmittels nicht die Klärung allgemeiner Rechtsfragen, sondern die Fehlerkorrektur in dem konkreten Verfahren bleibt: „Rights of appeal are not so much rights of access to a court, as rights to have the opportunity of persuading a higher court that the first instance decision is wrong. […] the entrenched system of appeals enabling dissatisfied litigants to appeal at least once to a higher court recognises the possibility that on occasions first instance decisions may be unjustly wrong and provides a means of putting them right.“824
Diese Sichtweise wird auch durch den so genannten Bowman-Report bestätigt, der in Vorbereitung der Prozessreform Vorschläge für die Funktion und die Stellung des Court of Appeal im zukünftigen Rechtsmittelsystem enthielt. 825 Der Report räumte dem Zweck der Vereinheitlichung und der Fortentwicklung des Rechts für den ersten appeal dabei keinen Vorrang gegenüber dem Interesse der Prozessparteien an einer Fehlerkorrektur ein. 826 Eines Streitpunkts von allgemeiner Bedeutung bedarf es somit für die Zulassung des ersten Rechtsmittels zum Court of Appeal gerade nicht. Ein derartiger „important point of principle or practice“ ist vielmehr gemäß Rule 52.13 (2) (a) CPR nur erforderlich, wenn das Rechtsmittel als zweiter appeal gegen eine Appellationsentscheidung eingelegt werden soll, die in einer weniger bedeutsamen Streitsache bereits durch einen county court oder den High Court selbst getroffen wurde.827 Somit hat sich durch die Civil Procedure Rules 1998 nichts daran geändert, dass das erste Rechtsmittel zum Court of Appeal keiner besonderen Gemeinwichtigkeit der Streitsache bedarf, sondern auf jeglichen Rechtsfehler der erstinstanzlichen Entscheidung gestützt werden kann. Eine gezielte Beschränkung des Fallmaterials zugunsten öffentlicher Interessen erfolgt insoweit gerade nicht.828 824 Colley v. Council for Licensed Conveyancers, [2002] 1 W.L.R. 160, 170 in para 31; siehe auch Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 8.14: „On matters of law, appellate courts are fully prepared, indeed obliged, to make corrections.“ 825 Bowman, Report to the Lord Chancellor by the Review of the Court of Appeal (Civil Division), 1997. 826 Bowman, Report to the Lord Chancellor by the Review of the Court of Appeal (Civil Division), 1997, para 1.6 ff.; ähnlich Lord Woolf, Access to Justice: Final Report to the Lord Chancellor on the Civil Justice System in England and Wales, 1996, para 14.1 f. 827 Andrews, English Civil Procedure, 2003, 38.19; ders., The Modern Civil Process, 2008, 8.13. 828 Siehe noch unten § 5 A II 1 a, S. 356 ff., auch zu der umgekehrten Frage ob, Rule 52.3 (6)
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Darüber hinaus hat sich auch ein Reformvorschlag Lord Woolfs829 nicht durchgesetzt, nachdem in Verfahren, die zwar eine allgemein bedeutsame Rechtsfrage aufwerfen, in denen sich die beschwerte Partei aber nicht zu einem appeal entschließt, die Law Commission als Vertreter des öffentlichen Interesses berechtigt sein sollte, ihrerseits ein Rechtsmittel einzulegen. Danach hätte ein aus Sicht der Parteien abgeschlossener Disput quasi als Folie dienen können, um eine reine Normbildung durch die Appellationsgerichte zu betreiben. Eine solche Regelung hätte jedoch einen zu starken Bruch mit der Grundstruktur englischer Rechtsprechung bedeutet. Zum einen hätte er die Regel, dass englische appellate courts keine hypothetischen Fragen entscheiden,830 nicht nur eingeschränkt, sondern in ihrem Kern angetastet. Vor allem aber schlug die generelle Kritik durch, dass eine Trennung der öffentlichen Zwecke des Rechtsmittelsystems von den privaten Parteizwecken unzulässig sei.831 Folglich hat die Zivilprozessreform des Jahres 1998 keine erheblichen Änderungen für das funktionelle Verständnis des englischen Appellationsprozesses im Spannungsfeld zwischen Streitentscheidung und Normbildung gebracht.
VIII. Zusammenfassung Das englische case law klassischer Prägung, das seit dem Mittelalter durch die königlichen Gerichte entwickelt wurde, stellt weniger ein aktives, zukunftsgestaltendes Recht, sondern vielmehr ein reaktives, konservierendes Recht dar, das den vorhandenen Bestand in stetiger Auseinandersetzung mit konkreten Fallkonstellationen fortschreibt. Dabei war das materielle Zivilrecht zu Zeiten des writ-Systems untrennbar mit den jeweiligen prozessualen Formen seiner Durchsetzung verbunden, so dass die Rechtsprechung auf die Beurteilung des jeweiligen Streitverhältnisses festgelegt war und keine abstrakte Normbildung betreiben konnte. Ausgehend von diesen Charakteristika, speiste sich das normschöpferische Mandat der englischen Rechtsprechung von Beginn an gerade nicht aus den Bedürfnissen eines Interventionsstaates, in dem es die Kapazitätsgrenzen anderer Staatsorgane zu kompensieren gälte, sondern umgekehrt aus dem Gedanken der Begrenzung staatlicher Macht. Folgerichtig verkörperte das common law nach der klassischen Sichtweise selbst eine ungeschriebene (b) CPR dazu führen kann, dass ein appeal zugelassen wird, der zwar keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat, aber möglicherweise den Anlass bietet, eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung zu erörtern. 829 Access to Justice: Final Report to the Lord Chancellor on the Civil Justice System in England and Wales, 1996, para 14.41; ders., Protection of the Public – A New Challenge, 1990, S. 47. 830 Glasgow Navigation Co. v. Iron Ore Co. Ltd., [1910] A.C. 293, 294 sowie Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 8.14. 831 Siehe J. Jacob, [1998] 61 M.L.R. 390, 399.
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Verfassung, die der staatlichen Regelungstätigkeit im Privatrecht vorgelagert war und ihr gewisse Grenzen zog. Dieser Gedanke löste sich erst allmählich auf, indem das Parlament mehr und mehr als ein souveräner Regelgeber begriffen wurde. Mit dem Aufkommen der equity lockerte sich zwar auch für die Rechtsprechung das starre prozessuale Korsett, das einer weit reichenden normschöpferischen Tätigkeit entgegenstand. Doch blieb auch unter dem Gesichtspunkt der equity der jeweilige Fall, dem es gerecht zu werden galt, das Zentrum der richterlichen Tätigkeit und nicht der Aspekt einer zukunftsbezogenen Normbildung. Der historische Grundgedanke der richterlichen Normbildung in England beruht somit weniger auf einem systematisch-planenden Vorgehen als vielmehr auf einer fallorientierten Abfolge von Analogien und Unterscheidungen, in deren Rahmen sich die rationes decidendi als Vorgaben für zukünftige Fälle sukzessive herausschälen. Lord Mansfield hatte diesen Prozess in der Mitte des 18. Jahrhunderts in unnachahmlich englischer Weise wie folgt umschrieben: „[T]he common law […] works itself pure by rules drawn from the fountain of justice.“832
Im Zuge der Positivierung der Rechtsprechung während des 19. Jahrhunderts setzte sich dann zwar zunehmend ein rationalistischeres Bild der englischen Rechtsprechung durch. Mit der vollen Entfaltung des Prinzips des stare decisis wurde jedoch zugleich auch wieder ein Gegengewicht geschaffen, das einer zu weit reichenden Normbildung durch die Rechtsprechung Grenzen zieht. In diesem Sinne entspricht es auch heute durchaus noch dem Grundverständnis der englischen Appellationsgerichte, dass sie ihre normbildenden Entscheidungen an den jeweiligen Disput der Prozessparteien anknüpfen und nicht aus einer rein objektiven Regelungsperspektive agieren. Auch die Funktion des Court of Appeal und des Supreme Court of the United Kingdom wird daher im Grundsatz nicht in einer gesetzesähnlichen Normbildungstätigkeit erblickt. Vielmehr begreift die englische Tradition die Anknüpfung an einen kontinuierlichen Fallzustrom als einen notwendigen Wesenszug der Appellationsrechtsprechung, der die richterliche Normbildung von der abstrakten Regelungsbefugnis des Gesetzgebers abgrenzt. Die daraus folgenden Grenzen für die Fähigkeit der Gerichte, das Recht in hohem Tempo und in gesetzesähnlicher Manier den tatsächlichen oder vermeintlichen Erfordernissen der Zeit anzupassen, werden nicht als ein Handicap verstanden, sondern vielmehr als ein Qualitätsmerkmal nachhaltiger Rechtsprechung, die nicht in „Monaten, sondern in Dekaden“ denkt.833
832 Omychund v. Barker, 26 Eng. Rep. 15, 23 (Ch. 1744), per Solicitor General William Murray (Lord Mansfield). 833 So Lord Reid, [1972] 12 Journal of the Society of Public Teachers of Law 22, 28.
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Allerdings ist nicht zu verkennen, dass im Zuge jüngerer Entwicklungen auch in England die Funktion der Appellationsrechtsprechung einer Neubewertung unterliegt. So tendiert die höchstrichterliche englische Rechtsprechung in jüngerer Zeit durchaus dazu, das klassische fallbezogene Vorgehen zurückzustellen, wenn eine bürokratisierte oder abstrakt-gesetzesähnliche Form der Urteilsfindung die Lösung drängender Regelungsprobleme erwarten lässt. Die Erfahrungen, die in England in jüngster Zeit mit Urteilen gemacht worden sind, die sich einer möglichst weit reichenden Normbildung ohne einen engen Fallbezug verschrieben haben, belegen jedoch, dass derartige reine Grundsatzjudikate die in sie gesteckten Erwartungen tendenziell eher nicht erfüllen, sondern nachfolgend eines korrigierenden Gegensteuerns bedürfen.834 Der Trend zu einer verstärkt abstrakten Normbildung wird aber auch durch die Auswirkungen des Europarechts auf die englische Rechtsprechung befördert. Dabei hält, wie in Deutschland, vor allem das Vorlageverfahren an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV die Rechtsprechung dazu an, einzelne Verfahren als Hebel für eine fallenthobene Normbildung auszunutzen. Letztlich hat die Zivilprozessreform des Jahres 1998, die dem Ziel eines verbesserten access to justice für breite Bevölkerungskreise verpflichtet war, zwar eine deutliche Einschränkung des adversarial-streitbezogenen Grundmusters der englischen Rechtsprechung bewirkt, dabei aber großenteils das Verfahren in der Tatsacheninstanz betroffen und das Appellationsverfahren auf den beiden obersten englischen Gerichtsebenen im Kern unangetastet gelassen.
C. USA Die rechtsvergleichende Literatur betont sowohl in Bezug auf den Inhalt des Rechts als auch auf den Prozess der Normbildung eine stärker formale Orientierung im Fall Englands und eine stärker materiale Orientierung im Fall der USA.835 In diesem Sinne war das amerikanische Rechtsverständnis bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Geiste der Unabhängigkeitserklärung mehr als das englische Recht auf materiale, vernunftrechtliche Werte ausgerichtet, bei deren Verwirklichung der Gesetzgebung keine generelle Prärogative zugestanden wurde.836 Während die Herausforderungen, die der gesellschaftliche Wandel im 20. Jahrhundert an das Recht stellte, in Europa stärker durch die Gesetzgebung und die Verwaltung wahrgenommen wurden, lag ein Schwerge834 Siehe hierzu die Entwicklung nach den Entscheidungen Bannister (§ 3 B VII 1 a, S. 171 ff. und O’Brien (§ 3 B VII 1 b, S. 173 ff.). 835 Grundlegend Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 32 ff., 267 ff.; siehe auch Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1; Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 1 ff., 60 ff. und Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 77 ff. 836 Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 229 ff.
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wicht der rechtlichen Innovation in den USA – trotz der New Deal-Gesetzgebung – auf der richterlichen Normbildung.837 Befördert wurde diese Entwicklung durch das Prinzip des federalism, das die legislativen Befugnisse zwischen der Bundesebene und den Einzelstaaten stark aufspaltet und damit die Schlagkraft der Gesetzgebung hemmt.838 Viele regulatorische Aufgaben sind daher in den Vereinigten Staaten von einer individuellen Aktivität auf dem Klageweg abhängig.839 Somit erscheint der Rückgriff auf eine gerichtliche Auseinandersetzung häufig als das nahe liegende Mittel zur Lösung sozialer Konflikte. Ein Beispiel hierfür bildet die große Bedeutung, die deliktsrechtliche Lösungen als Reaktion auf Schadenszufügungen in den Vereinigten Staaten im Vergleich mit kollektiven Ausgleichssystemen haben und die in England weit weniger stark ausgeprägt ist.840 Vor diesem Hintergrund kann für die USA von einer historisch fundierten Tendenz zur Juridifizierung gesellschaftlicher Probleme gesprochen werden, die notwendigerweise die Bedeutung der Gerichte steigert. 841 „[…] American courts have been more open to new challenges, more willing to take on new tasks. This has encouraged others to push problems their way – so much so that no courts anywhere have greater responsibility for making public policy than the courts of the United States.“842
Mit dieser weit gefassten Aufgabe der Gerichte geht ein adversarialer Prozessstil einher, der zugleich eine kulturell fundierte Form der Problemlösung darstellt.843 Er ist logischer Ausdruck des in den USA vorhandenen Misstrauens gegenüber einem „starken Staat“, der mit gesetzgeberischen oder verwaltenden Aktivitäten weit eher in Verbindung gebracht wird als mit einer Rechtsprechung, die Veränderungen im Anschluss an einen Wettstreit unter den Prozessparteien
837
Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 148 ff.; Kagan, Adversarial Legalism, 2003, S. 37 ff.; Huber/Ragin/Stephens, 99 Am. J. Sociology 711 ff. (1994). 838 Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 69. 839 Friedman, The Litigation Revolution, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of American Law, Band III, 2008, S. 175 (181 f.); Kagan, Adversarial Legalism, 2003, S. 3, 34 ff. 840 Siehe Atiyah, 1987 Duke L.J. 1002, 1004 ff.; Kritzer, Courts, Justice, and Politics in England, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 81 (126); Miller/Sarat, 15 Law & Soc’y Rev. 525, 545 f. (1981). 841 Adams, The ‘Right’ to Appeal in the United States: Elusive or Illusory?, in: Fischer/ Adams/Sperl/Cornish, Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1975, S. 23 (25); H. Jacob, Courts and Politics in the United States, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 16 (28 f.). 842 Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 3. 843 Kagan, Adversarial Legalism, 2003, S. 5 ff.; Resnik, 96 Harv. L. Rev. 374, 380 ff. (1982); Thibaut/Walker, 66 Cal. L. Rev. 541, 551 f. (1978); Walker/Lind/Thibaut, 65 Va. L. Rev. 1401, 1412 ff. (1979); einschränkend aber Friedman, The Litigation Revolution, in: Grossberg/ Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band III, 2008, S. 175 (187 ff.).
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bewirkt.844 Kehrseite dieser Sichtweise ist es aber, dass ein neben die Streitentscheidung tretendes, weit greifendes social engineering durch die höchstrichterliche Rechtsprechung als eine legitime Aufgabe des Rechtsprechungsprozesses angesehen wird.845 Das Gebiet des Privatrechts und der Rahmen des Zivilprozesses dienen daher häufig nur als Medien, durch die Fragen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung geklärt werden. Folgerichtig hat Jaffe von einem dezidiert politischen Charakter der amerikanischen Rechtsprechung gesprochen.846 Der Entwicklungsprozess, der hinter dieser Charakterisierung steht, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Eine besondere Schwierigkeit besteht dabei allerdings darin, dass in den Vereinigten Staaten neben die Bundesgerichte (federal courts) die einzelstaatlichen Gerichte (state courts) treten und dass die Entwicklung in diesen Gerichtszweigen zum Teil sehr heterogen verlief. Allen hat die Vereinigten Staaten vor diesem Hintergrund als „conglomerate […] both of laws and of jurisdictions“ bezeichnet.847 Deshalb können die folgenden Ausführungen nur einen Überblick zu der Grundentwicklung geben und nicht alle Details nachzeichnen.
I. Die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts In den Kolonien, die später die Vereinigten Staaten bildeten, war die rechtsschöpfende Funktion der Gerichte von Beginn an stärker im Bewusstsein verankert als in England. Die klassisch-puristische declaratory theory848 konnte in einer Umgebung, die in den Gründungs- und Besiedlungsjahren permanenten Umbrüchen ausgesetzt war, niemals nachhaltig Fuß fassen.849 Zu offensichtlich war der Widerspruch zwischen dieser Theorie und einer Realität, in der die Gerichte in Ermangelung einer leistungsfähigen Verwaltung einen Großteil der
844 Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 38 ff.; Burbank, The Complexity of Modern American Civil Litigation: Curse or Cure?, University of Pennsylvania Law School Public Law and Legal Theory Research Paper Series, Research Paper No. #07–27, 2007, S. 5; Kagan, Adversarial Legalism, 2003, S. 14 ff. 845 Atiyah/Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 404; Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 26 ff., insbesondere S. 36; Fiss, 93 Yale L.J. 1073, 1089 f. (1984); Kagan, Adversarial Legalism, 2003, S. 56. 846 Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 60 ff.; ähnlich H. Jacob, Courts and Politics in the United States, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 16 ff. 847 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 45; siehe auch H. Jacob, Courts and Politics in the United States, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 16 (21). 848 Siehe oben § 3 B I, S. 123 ff. 849 Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 427 ff.; Horwitz, The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 16 ff.
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gesellschaftlichen Regulierung übernehmen mussten. 850 Das US-amerikanische Rechtsverständnis hatte vielmehr von Beginn an ein instrumentelles Bild der Rechtsprechung verinnerlicht, in dem die Gerichte das Recht als ein flexibles Mittel gesellschaftlicher Konfliktlösung nutzbar machen.851 Einen paradigmatischen Ausdruck fand diese Fokussierung des rechtlichen Wandels auf die Rechtsprechung in der folgenden Aussage des Richters am Supreme Court of Pennsylvania, Hugh Henry Brackenridge, aus dem Jahr 1814: „[T]he legislature can act only in detail, and in particulars, whereas the able judge can remove at once, or alter, what was originally faulty or has become disproportioned in the building.“852
Diese Sichtweise stand in diametralem Widerspruch zu der positivistischen Auffassung, die in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschte und welche die Gerichte als ausführende Organe des gesetzgeberischen Willens ansah, während dem Parlament seinerseits eine nahezu unbegrenzte Souveränität in der Ordnung der Privatrechtsverhältnisse zugestanden wurde.853 Geradezu umgekehrt begrenzte das dargelegte amerikanische Verständnis die Gesetzgebung auf Detailarbeit, während die Rechtsprechung die großen Entwicklungslinien zeichnen sollte. Aufgrund der herausgehobenen Rolle der Rechtsprechung waren in den Vereinigten Staaten auch die Fragen der Besetzung und der Organisation der Gerichte von Beginn an Gegenstand starker politischer Auseinandersetzungen. 854 So vergaben die Einzelstaaten selbst die Ämter an den Appellationsgerichten traditionellerweise durch Wahlen.855 Hierdurch waren die führenden Richter an den state courts der USA politischen Entwicklungen und Veränderungen von Beginn an unmittelbarer ausgesetzt als dies in England oder Deutschland der Fall ist.856 Die Richter an den federal courts wurden zwar gemäß Art. III § 1 der Bundesverfassung seit jeher auf Lebenszeit ernannt, aber auch hier spielten und spielen rechtspolitische Gesichtspunkte häufig eine erhebliche Rolle bei der 850 Vgl. Forbath, Politics, State Building, and the Courts, 1870–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band II, 2008, S. 643; Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 15. 851 Herget/Wallace, 73 Va. L. Rev. 399, 420 (1987). 852 Zitiert nach Horwitz, The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 24. 853 Siehe oben § 3 B V, S. 144 ff. 854 Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 79 ff., 279 ff.; Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 60 ff. 855 Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 81 ff.; Hall, The Courts, 1790–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of American Law, Band II, 2008, S. 106 (112 ff.). Heute wenden die Bundesstaaten sehr unterschiedliche Methoden zur Auswahl der Appellationsrichter an; hierzu Murphy/Pritchett/Epstein/Knight, Courts, Judges, & Politics, 6. Aufl. 2006, S. 152 ff. 856 Siehe Karsten, Head versus Heart: Judge-Made Law in Nineteenth-Century America, 1997, S. 314 ff. m.w.N.
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Auswahlentscheidung.857 Diese Umstände bewirken zumindest tendenziell eine stärkere Politisierung der Rechtsprechung, die geeignet ist, den Blick von dem jeweils zu entscheidenden Fall auf die Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme zu lenken. Diese Grundtendenz beeinflusste auch die Rezeption des englischen Rechts durch die US-amerikanischen Gerichte. Gerade nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 erschien das englische Recht nicht mehr per se als eine autoritative Vorgabe, sondern es wurde permanent auf den Prüfstand seiner Tauglichkeit für die amerikanischen Verhältnisse gestellt.858 Während es dem englischen Privatrecht vorrangig um die Moderierung und die graduelle Anpassung eines in seinen Grundlagen gefestigten Gesellschaftsgefüges ging, musste das amerikanische Recht Antworten auf die dynamischen Entwicklungssprünge eines sich erst bildenden Gemeinwesens finden. Dieser Unterschied galt auch für das Prozessrecht, das sich zwar grundsätzlich an das englische System anlehnte, aber stets auf die gesellschaftlichen Besonderheiten des noch in seiner Erschließung befindlichen Landes zugeschnitten wurde.859 Ein wichtiger Unterschied bestand dabei vor allem darin, dass die englischen Obergerichte typischerweise nur für Rechtsstreitigkeiten unter arrivierten und begüterten Bevölkerungskreisen einen geeigneten Rahmen boten, während die Rechtsprechung in den USA von Beginn an mit wesentlich diffuseren, breiter gestreuten Konflikten konfrontiert wurde und folgerichtig eine „populärere“ Funktion wahrnahm. 860 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Frage des „Quis iudicabit?“ in den Vereinigten Staaten immer eine besonders große Rolle spielte und hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen den einzelstaatlichen und den bundesstaatlichen Gerichten für langanhaltende Diskussionen sorgte. Während sich dabei die so genannten federalists als Verfechter einer starken Zentralgewalt für eine möglichst umfassende Entscheidungs- und damit auch Normbildungskompetenz der federal courts einsetzten, standen die so genannten republicans als Proponenten einer starken einzelstaatlichen Souveränität einer solchen Zentralisierung der Rechtsprechung skeptisch gegenüber und beharrten auf einer Prärogative der state courts. Der Judiciary Act 1789 kam grundsätzlich noch dem republikanischen Interesse entgegen, weil danach die federal district courts 857 Siehe Evans, 1948 Wis. L. Rev. 330 ff.; Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 60 f.; R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 29 ff. sowie dens., How Judges Think, 2008, S. 19 ff. 858 Ausführlich Hall, 4 Vand. L. Rev. 791 ff. (1951); Horwitz, The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 16 ff.; Meyler, 59 Stan. L. Rev. 551, 567 ff. (2006) und Wengler, Festschrift Rabel, Band I, 1954, S. 39 ff.; siehe zudem Friedman, Law in America, 2002, S. 24 ff.; Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 19 ff.; Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 428; Pound, 36 Harv. L. Rev. 641, 651 f. (1923). 859 Leubsdorf, The Myth of Civil Procedure Reform, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 53 (57 f.). 860 Friedman, Law in America, 2002, S. 26.
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bzw. die federal circuit courts als erstinstanzliche Bundesgerichte in allgemeinen Zivilsachen nur dann zuständig waren, wenn der Rechtsstreit (1.) zwischen einem Angehörigen des Forumstaates und dem Angehörigen eines anderen Bundesstaates entstand (so genannte diversity jurisdiction) und (2.) der Streitwert über US $ 500,– lag,861 einem damals sehr hohen Wert. Der Zugang zum US Supreme Court, auf den sich zum damaligen Zeitpunkt nahezu alle Rechtsmittelverfahren auf der Bundesebene konzentrierten,862 war sogar erst ab einer Streitwertsumme von US $ 2000,– eröffnet.863 Jedoch versuchten die federalists mit der Verabschiedung des Judiciary Act 1801 unter der Ägide des Präsidenten John Adams den Einfluss der Bundesgerichte zu erhöhen. 864 Nach § 11 des Judiciary Act 1801 erhielten die federal circuit courts nun die Jurisdiktion über „all cases in law or equity, arising under the constitution and laws of the United States“. Die offene Formulierung „laws of the United States“ weckte bei den Republikanern die Befürchtung, dass hiermit nicht nur eine Zuständigkeit in Bezug auf Bundesgesetze begründet würde, sondern auch ein Mandat zur Entwicklung eines federal common law, dass die Hoheit der Einzelstaaten in den Kerngebieten des Privatrechts hätte gefährden können.865 Insbesondere der republikanische Führer Jefferson maß deshalb den Fragen gerichtlicher Zuständigkeit höchste Bedeutung bei und sah mit dem Judiciary Act 1801 die Gefahr einer unangemessenen richterlichen Machtusurpation verbunden.866 Diese Befürchtung schien umso berechtigter, als die federalists zahlreiche, mit dem Judiciary Act neu geschaffene Positionen an den Bundesgerichten in den letzten Tagen der Präsidentschaft Adams’ mit loyalen Gefolgsleuten besetzten. 867 Dementsprechend betrieb Jefferson nach seiner Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten eine möglichst zügige Aufhebung des Judiciary Act 1801, die schließlich im März 1802 auch erfolgte.868 Im Rahmen dieser hochpolitisierten Diskussion über gerichtliche Zuständigkeiten und Kompetenzen entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts der durch Llewellyn so genannte grand style höchstrichterlicher Entscheidungen, der vor allem mit der Person des Chief Justice am US Supreme Court, John Marshall, in Verbindung gebracht wurde.869 Urteile wurden in dieser Phase weniger durch Präjudizien bestimmt als durch die Erfordernisse einer Gesellschaft, die sich 861 Siehe Judiciary Act of 1789 § 11 sowie R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 48. 862 Hierzu R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 23 f. 863 Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 2. 864 Hierzu umfassend LaCroix, 2007 Sup. Ct. Rev. 345, 381 ff. 865 LaCroix, 2007 Sup. Ct. Rev. 345, 388. 866 LaCroix, 2007 Sup. Ct. Rev. 345, 388. 867 Näher Turner, 109 U. Pa. L. Rev. 494 ff. (1961). 868 LaCroix, 2007 Sup. Ct. Rev. 345, 390 ff. 869 Llewellyn, 3 Vand. L. Rev. 395, 396 (1950); ders., The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 36 ff.
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rasch änderte, was in weit ausgreifenden, interessenbezogenen Voten zum Ausdruck kam:870 „Precedent guided, but principle controlled.“871
Folgerichtig genoss auch der Grundsatz des stare decisis nicht den Status eines absoluten Ordnungswerts, sondern war nur insoweit relevant, als er dem höheren Ziel der Schaffung einer gerechten und erfolgreichen Gesellschaft diente. Dementsprechend betrachteten die amerikanischen Gerichte präjudizielle Vorgaben zu Zeiten des grand style nicht als ein hinreichendes Entscheidungskriterium, sondern nur als einen Gesichtspunkt unter mehreren, der bei der Urteilsgewinnung eine Rolle spielte.872 Dass dabei die Beförderung wünschenswerter Ergebnisse häufig den Vorrang gegenüber rein innerrechtlichen Erwägungen genoss, spiegeln beispielsweise die folgenden Ausführungen des Supreme Court von Indiana aus dem Jahr 1833 wider, mit denen das Gericht eine Abweichung von englischen Urteilen aus dem 17. Jahrhundert rechtfertigte: „Since those days, civil society and the relations, duties, and transactions of men, have undergone an entire change. It is since that period that commercial law has taken its rise, and has been, with such wondrous and beneficial effect, applied to all manner of contracts respecting personal goods; hence, the great changes in the law, rules of pleading, and rules of judicial decision. The great excellence of the common law exists in its flexibility; in its being a science which can always adapt itself to every situation of society, and apply the rules of common sense, sound policy, and natural justice, to the transactions of men.“873
Dabei nahmen die Gerichte das Zivilrecht, insbesondere das Sachenrecht und das Haftungsrecht, auch in Dienst, um die ökonomische Entwicklung nicht nur nachzuvollziehen, sondern selbst zu steuern.874 In erster Linie geschah dies, indem die Rechtsprechung negatorische Ansprüche und Haftungsansprüche zur Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt umgestaltete.875 Einen hinreichenden Zustrom an Verfahren, in denen die Kläger bereit waren, ihre Klage auf „innovative“ Rechtspositionen zu stützen und damit der Rechtsprechung erst die Gelegenheit zu einer progressiven Umgestaltung des Rechts boten, stellten dabei zwei Entwicklungen im Rahmen des Prozesskostenrechts sicher:876 Zum einen geht es hierbei um die so genannte American rule, nach der auch die obsiegende Partei ihre eigenen Anwaltskosten selber zu tragen hat und die das Kostenrisiko für Klagen auf einer unsicheren, noch nicht allgemein anerkannten 870
Friedman, American Law in the 20th Century, 2002, S. 271. Llewellyn, 3 Vand. L. Rev. 395, 396 (1950). 872 Reid, Judicial Precedent in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, University of St. Thomas School of Law Legal Studies Research Paper No. 06–28, 2006, S. 79 ff. 873 Johnson v. Baird, 3 Blackf. 182, 189 (Ind. 1833). 874 Horwitz, The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 102. 875 Eingehend Horwitz, The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 63 ff. 876 Karsten, Heart versus Head: Judge-Made Law in Nineteenth-Century America, 1997, S. 191 ff. 871
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Rechtsgrundlage verringert. Zum anderen ließen die Gerichte in zunehmendem Maße so genannte contingency fees zu, das heißt Erfolgshonorare, und erleichterten auch auf diesem Wege die Klagemöglichkeit vor allem für nicht wohlhabende Parteien. In diesem Sinne verstanden sich die obersten Gerichte in den Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht vornehmlich als streitentscheidende Instanz, die auf der Grundlage historisch fundierter Präjudizien agiert, sondern als derjenige Teil der Staatsgewalt, dem bei der Fortentwicklung des Rechts die Führungsaufgabe zufiel. Gilmore hat für das daraus resultierende Selbstverständnis des US-amerikanischen Rechtssystems das folgende Bild verwendet: „[O]ur system was, from the beginning, consciously designed as a sort of formal garden instead of being allowed to come up as it might from the compost heap of the centuries.“877
Allerdings nahmen die Richter der supreme courts sowohl auf der Bundesebene als auch in den Einzelstaaten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts oft zugleich auch als Mitglieder der circuit courts das Amt eines erstinstanzlichen Richters wahr (so genanntes circuit riding).878 Diese praktische Anschauung zahlreicher, häufig wenig spektakulärer Fälle wirkte einer zu starken Loslösung ihrer Rechtsprechung von der streitentscheidenden Funktion zum Teil entgegen. Erst das Vorbild der Bundesgerichte, bei denen im Jahr 1891 mit den intermediate appellate courts eine mittlere Stufe reiner Appellationsgerichte unterhalb des US Supreme Court eingerichtet wurde,879 führte auch auf der einzelstaatlichen Ebene zu einer sukzessiven Trennung der erstinstanzlichen Richter von den Appellationsrichtern.880
II. Die Entscheidung Swift v. Tyson Ein anschauliches Beispiel für eine Entscheidung im grand style bildet diejenige des US Supreme Court in der Sache Swift v. Tyson 881 aus dem Jahr 1842. Dieses Urteil ist für den Gegenstand der vorliegenden Arbeit deshalb von besonderem Interesse, weil sich in ihr nicht nur ein Problem des materiellen Zivilrechts stellte. Vielmehr war auch darüber zu entscheiden, ob die federal courts in Streitigkeiten, die sie aufgrund der diversity jurisdiction erreichen, ein bundeseinheitliches 877
Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 11. Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 92 ff.; Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 4 f.; R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 23 f. 879 Hierzu Böhm, Amerikanisches Zivilprozessrecht, 2005, Rdnr. 147; Hall, The Courts, 1790–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambrigde History of Law in America, Band II, 2008, S. 106 (125 f.); R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 24. 880 Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 5. 881 41 U.S. 1 (1842). 878
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federal common law herausbilden und anwenden dürfen oder ob sie auf eine Anwendung des jeweils einschlägigen einzelstaatlichen common law begrenzt sind. Der Entscheidung lag der folgende Sachverhalt zugrunde: Der Beklagte hatte von zwei Verkäufern Grundstücke gekauft, die im Staat Maine belegen waren, und hatte zur Begleichung des Kaufpreises im Staat New York einen Wechsel akzeptiert. Diesen Wechsel indossierten die Verkäufer vor seiner Fälligkeit weiter an den Kläger und zwar als teilweise Tilgung einer Schuld, die sie gegenüber dem Kläger hatten. Als der Kläger den Wechsel nach Fälligkeit geltend machte, verweigerte der Beklagte die Zahlung mit dem Argument, dass er von den Verkäufern bei dem Grundstücksverkauf betrogen worden sei und dass ihm daher eine Einrede gegen die Wechselverbindlichkeit zustehe. Der Fall wurde vor einen federal circuit court gebracht. Dieses Gericht legte dem US Supreme Court die Frage vor, ob der Umstand der Täuschung des Beklagten durch die Verkäufer für den Zahlungsanspruch des Klägers entscheidungserheblich sei und daher über ihn Beweis erhoben werden müsse. Das Urteil des US Supreme Court wurde durch den Richter Story verfasst. Dieser legte zunächst den Grundsatz dar, dass einem gutgläubigen Indossatar, der das Wertpapier für eine werthaltige Gegenleistung (valuable consideration) erlangt habe, Einreden aus dem persönlichen Verhältnis zwischen dem Indossanten und dem Wechselschuldner nicht entgegengehalten werden können. Jedoch bestünden nach dem Recht des Staates New York, wo der Wechsel akzeptiert worden war, Zweifel, ob nicht nur die Zahlung einer Geldsumme für den Wechsel eine valuable consideration darstelle, sondern auch die Annahme des Wechsels als Tilgung einer Forderung, die gegen den Indossanten bestand. Story führte aus, dass die Leitentscheidung in Bay v. Coddington882 für die Bejahung einer valuable consideration spreche, nachfolgende Urteile der New Yorker Gerichte dies aber möglicherweise geändert hätten. Allerdings lasse sich auch keiner New Yorker Entscheidung eindeutig entnehmen, dass es an einer werthaltigen Gegenleistung des Empfängers fehle, wenn der Wechsel zur Tilgung einer Forderung des Empfängers übertragen werde. Story ließ dies jedoch dahinstehen und wendete sich der für ihn eigentlich interessanten Frage zu, nämlich dem Verhältnis von state und federal common law. Selbst wenn das New Yorker Recht in der vorliegenden Konstellation eine valuable consideration verneine, sei dies für die Bundesgerichte nicht bindend, da diese „principles established in the general commercial law“ anzuwenden hätten. Anderes ergäbe sich auch nicht aus § 34 des Judiciary Act 1787, der in common law-Streitigkeiten vor den Bundesgerichten „the laws of the several states“ für verbindlich erklärte. Denn als laws of the states in diesem Sinne könnten nicht privatrechtliche Doktrinen von überörtlicher Bedeutung gelten, sondern nur Gesetze mit
882
5 Johns. Ch. 54 (1821).
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einem lokalen Bezug. Das Recht der Wertpapiere hingegen erfordere eine bundeseinheitliche Beurteilung: „The law respecting negotiable instruments may be truly declared […] to be in a great measure, not the law of a single country only, but of the commercial world.“883
Folglich dürfe der vorliegende Rechtsstreit nicht nach den Präjudizien des Staates New York, sondern nach allgemeinen handelsrechtlichen Prinzipien entschieden werden, was zu der Bejahung einer valuable consideration führe, so dass der Beklagte die Einrede aus dem Grundverhältnis zu den Verkäufern nicht erheben könne. Die Entscheidung Swift v. Tyson stellt aus zwei Gründen eine weit greifende Normbildung dar, die sich von den Erfordernissen der Entscheidung des konkreten Rechtsstreits deutlich löst. Zunächst ging Story nicht darauf ein, dass zu der Frage, ob ein bundeseinheitliches federal common law existiert, bereits ein eindeutiges Präjudiz des US Supreme Court vorlag, das der Auffassung Storys widersprach. Es handelt sich um die Entscheidung Wheaton and Donaldson v. Peter and Grigg aus dem Jahr 1834, in der ausgeführt wurde: „It is clear, there can be no common law of the United States. The federal government is composed of twenty-four sovereign and independent states; each of which may have its local usages, customs and common law. There is no principle which pervades the union and has the authority of law, that is not embodied in the constitution or laws of the union. The common law could be made a part of our federal system, only by legislative adoption. When therefore, a common law right is asserted, we must look to the state in which the controversy originated.“884
Dass dieses Präjudiz, das eine Frage von zentraler Bedeutung für das Kompetenzverhältnis von einzel- und bundesstaatlichen Gerichten betraf, in der Entscheidung Swift v. Tyson keine Berücksichtigung fand, lässt nur den Schluss zu, dass der US Supreme Court seine Kompetenzen nun radikal ausweiten und damit zugleich einem policy-orientierten Rechtsprechungsstil Vorschub leisten wollte.885 Diese Vermutung erscheint auch deswegen plausibel, weil in der materiellrechtlich zu entscheidenden Frage des Einwendungsausschlusses wohl gar keine Diskrepanz zwischen dem Recht des Staates New York einerseits und den general commercial principles andererseits bestand, auf die Story sich stützen wollte. Die Entscheidung Bay v. Coddington hatte eine valuable consideration, wie dargelegt, bejaht. Sie galt trotz einiger vielleicht etwas unklarer Folgeentscheidungen in New York weiterhin als „good law“.886 Dies verdeutlicht sich auch daran, dass der US Supreme Court in Swift v. Tyson kein New Yorker Ur883 884 885 886
Swift v. Tyson, 41 U.S. 1, 12 (1842). Wheaton and Donaldson v. Peter and Grigg, 33 U.S. 591, 658 (1834). Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 33 ff. Siehe Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 31 ff.
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teil anführen konnte, in dem eine valuable consideration bei der Übertragung eines Wechsels zur Tilgung einer Forderung eindeutig verneint wurde. Somit sprechen gute Gründe dafür, dass Story den Fall nur zum Anlass nahm, um den Bundesgerichten eine weit reichende Kompetenz zu sichern, privatrechtliche Streitigkeiten zukünftig nach general commercial principles zu entscheiden, wobei diese Rechtsprinzipien natürlich erst durch die Bundesgerichte herausgearbeitet und konkretisiert werden mussten. So gesehen bildete die Figur des federal common law ein Mittel, um die Entscheidungshoheit über wichtige Fragen des Privatrechts in einer sich dynamisch entwickelnden Verkehrsgesellschaft von den state courts auf die federal courts zu verlagern. Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die federal courts damals stärker policy-orientiert waren als die state courts, die tendenziell eine konservativere Haltung in Fragen der Normbildung einnahmen.887 Swift v. Tyson erweiterte somit gravierend den Handlungsspielraum einer Zivilgerichtsbarkeit, die sich als aktiver Part im Getriebe der Gesellschaftsgestaltung begriff. Die Entscheidung wurde sowohl in den federal courts als auch in den state courts freundlich aufgenommen und eröffnete den Bundesgerichten bald eine normbildende Kompetenz in vielen Bereichen des Privatrechts, die durchaus auch jenseits des engeren Gebiets des interlokalen commercial law lagen.888 Fortan sah man in einem bundeseinheitlichen common law vielmehr ein probates Mittel, um ganz allgemein eine rationalere Planung des Privatrechts zu ermöglichen und betrieb dementsprechend intensiv den Ausbau des Regelsystems in verschiedensten Teilbereichen.889 So wurde zum Beispiel in der Entscheidung Black and White Taxicab and Transfer Company v. Brown and Yellow Taxicab and Transfer Company890 eine rein lokale Wettbewerbsabsprache zwischen einem Bahnunternehmen und einem Taxiunternehmen entgegen dem case law Kentuckys für rechtmäßig erklärt. Der Enthusiasmus, der mit der Idee eines bundeseinheitlichen, rationalen common law verbunden war, führte tendenziell zu einer Verselbständigung der normbildenden Funktion im Verhältnis zu dem jeweiligen Streitverfahren.891 Selbst gegenüber gesetzgeberischen Aktivitäten der Einzelstaaten sicherten die Bundesgerichte ihre Entscheidungshoheit ab, indem sie Gesetze, die den Prinzipien des neu entwickelten federal common law zuwiderliefen, einer rigi887
Horwitz, The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 249 ff. Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 192 mit Fn. 13; ders., American Law in the 20th Century, 2002, S. 261; Forbath, Politics, State Building, and the Courts, 1870–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band II, 2008, S. 643 (655 f.); Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 33 f. mit Nachweisen in Fn. 24; Purcell, Litigation and Inequality, 1992, S. 59 ff. 889 Vgl. Purcell, Litigation and Inequality, 1992, S. 63. 890 276 U.S. 518 (1928). 891 Subrin, 135 U. Pa. L. Rev. 909, 930 f. (1987). 888
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den Verhältnismäßigkeitskontrolle unterzogen.892 Den dogmatischen Ansatzpunkt für diese Kontrolle bildete das Erfordernis eines „substantive due process“, dass heißt ein materialisiertes Verständnis des Rechtsstaatsprinzips, das aus dem 14. Verfassungszusatz der USA abgeleitet wurde und über das die Grundprinzipien des federal common law gleichsam in einen Verfassungsrang erhoben wurden. Diese Figur bot den Bundesrichtern somit die Möglichkeit, einzelstaatliche Gesetze einer rigiden Inhaltskontrolle zu unterwerfen.893 Rechtspolitisch stand hinter diesem Vorgehen ein Selbstverständnis der Rechtsprechung, nach dem die Fortentwicklung des amerikanischen (Zivil-)Rechts stärker von den Gerichten als von der Gesetzgebung bestimmt werden sollte.894 Mit der Entscheidung Swift v. Tyson war daher das Tor für eine weit reichende Normbildung durch Zivilprozesse auf der Bundesebene geöffnet worden. Endgültig zugestoßen wurde es erst wieder durch das Urteil Erie R. Co. v. Tompkins aus dem Jahr 1938, das die Figur eines federal common law für verfassungswidrig erklärte.895
III. Die Entwicklung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat in den Vereinigten Staaten eine Konsolidierung ein, die auch die schöpferische Funktion der Gerichte abbremste. Es brach das Zeitalter des durch Llewellyn so genannten formal style an. 896 Dieser Stil der höchstrichterlichen Rechtsprechung stellte die Normbildung zugunsten einer strengen Präjudizien- und Doktrinenbildung zurück:897 „Precedent was to control, not merely to guide.“
Ihre intellektuelle Grundlage fand diese Formalisierung in einem klassischen Liberalismus, der das politisch-gesellschaftliche Gefüge der USA zu dieser Zeit durchzog. Auf dieser Grundlage erlangten traditionelle Werte wie Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit und Eigentumsschutz die oberste Priorität.898 Hiermit einher ging die Vorstellung einer kategorialen Trennung zwischen der 892 Fisher, Legal Theory and Legal Education, 1920–2000, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band III, 2008, S. 34 (35 f.); Purcell, Litigation and Inequality, 1992, S. 61 f. 893 Siehe R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 51 f. Als Kulminationspunkt der Rechtsprechung zum substantive due process gilt die Entscheidung Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905), in der ein Gesetz zu Höchstarbeitszeiten im Bäckerhandwerk als verfassungswidrige Beschränkung der Vertragsfreiheit verworfen wurde. 894 Horwitz, The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 255 f. 895 Siehe unten § 3 C V 1, S. 217 f. 896 Llewellyn, 3 Vand. L. Rev. 395, 396 (1950); ders., The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 38 ff. 897 Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 287 ff. 898 Hierzu Kennedy, 89 Harv. L. Rev. 1685, 1728 ff. (1976); White, 58 Va. L. Rev. 999, 1000 ff. (1972); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 238.
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Sphäre des Privatrechts und der Sphäre des öffentlichen Rechts. Erstere sollte nur der Ordnung privater Rechtsverhältnisse anhand der klassischen Abgrenzung des „Mein“ und „Dein“ dienen, aber kein Medium für eine auf gesellschaftliche Veränderungen abzielende Regulierung mehr bilden.899 Kritische Stimmen führen dieses Umschwenken auf den Umstand zurück, dass die wirkungsmächtigsten Handels- und Wirtschaftskreise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Lage gewesen seien, ihre rechtspolitischen Ziele durchzusetzen und nun auf eine scheinbar „neutrale Verwaltung“ des erreichten Bestands gedrängt hätten.900 Jedenfalls gaben die Gerichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit gehend den Anspruch auf, aktiv-regulierend in die wirtschaftliche Entwicklung einzugreifen. Eine äußere Stütze fand die zunehmend dogmatisch-begriffliche Orientierung der Rechtsprechung dabei in den aufkommenden ausgefeilten Veröffentlichungssystemen für höchstrichterliche Entscheidungen der Einzelstaaten und der Bundesgerichte.901 Denn hierdurch wurde es den Gerichten ermöglicht, stark an Präjudizien orientierte, formalisierte Urteile abzufassen, die sich substantiellen Begründungen für die getroffenen Entscheidungen möglichst enthielten.902 Diese Tendenz fand schließlich ein Pendant in der Unterrichtsmethode, die der Dekan Langdell an der Harvard Law School einführte. Das Studium konzentrierte sich danach auf appellate cases, die nicht unter dem Blickwinkel gesellschaftlicher Interessenbewertung analysiert wurden, sondern nach einer formal-begrifflichen Methode (scientific method).903 Flankiert wurde das „formale Zeitalter“ der Rechtsprechung aber darüber hinaus auch von institutionellen Rahmenbedingungen, die innerhalb des Prozessrechts und der Gerichtsverfassung lagen. So wurde die verfahrensmäßige Diskrepanz zwischen Klagen „at law“ und Klagen „in equity“ größtenteils bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beseitigt.904 Prominentes Beispiel hierfür war der so genannte Field Code, der das Zivilprozessrecht in New York ab dem Jahr 1848 auf eine neue Grundlage stellte und unter anderem die Verfah899
Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960, 1992, S. 10 f. Siehe hierzu Forbath, Politics, State Building, and the Courts, 1870–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band II, 2008, S. 643 (645 ff.) und Horwitz, 19 Am. J. Legal Hist. 251 ff. (1975) sowie ders., The Transformation of American Law 1780–1860, 1977, S. 253 ff. 901 Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 306; Friedman/Kagan/Cartwright/Wheeler, 33 Stan. L. Rev. 773, 794 f. (1981). 902 Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 62 f.; Kagan/Cartwright/Friedman/ Wheeler, 76. Mich. L. Rev. 961, 969 (1978). 903 Friedman, American Law in the 20th Century, 2002, S. 33 ff.; Macgill/Newmyer, Legal Education and Legal Thought, 1790–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band II, 2008, S. 36 (49 ff.) sowie kritisch Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 42 ff. 904 Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 95 ff.; Millar, Civil Procedure of the Trial Court in Historical Perspective, 1952, S. 52 ff. 900
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ren für Klagen nach dem common law und nach equity-Prinzipen vereinheitlichte. Dabei gewann trotz der Abschaffung der starren forms of action eher der Charakter des klassischen common law-Prozesses über den freieren, an Gesichtspunkten materialer Gerechtigkeit orientierten equity-Prozess die Oberhand.905 Die Hauptaufgabe des Zivilprozesses wurde zu dieser Zeit somit in der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung anerkannter Rechtspositionen gesehen.906 Appellationsprozesse waren dementsprechend über weite Strecken des 19. Jahrhunderts auf so genannte writs of error beschränkt, das heißt auf die Überprüfung von bestimmten Fehlern in der Rechtsanwendung, die zudem aus den Prozessprotokollen (records) hervorgehen mussten.907 Neue rechtliche Gesichtspunkte im Sinne einer Fortentwicklung des Rechts konnten in diesem Rahmen auf der höchstrichterlichen Ebene nur schwer thematisiert werden.908 Um das Jahr 1900 stand der US Supreme Court dementsprechend in dem Ruf, unabhängig von Strömungen des Zeitgeistes zu sein und eine reine Rechtskontrolle auszuüben.909 In den meisten Bundesstaaten existierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zudem nur eine Appellationsinstanz. Diese supreme courts hatten darüber hinaus keine Auswahlmöglichkeit im Hinblick auf die zu entscheidenden Verfahren, sondern mussten jeden Fall, in dem eine Prozesspartei ein Rechtsmittel einlegte, judizieren.910 Diese Pflicht war die notwendige Kehrseite eines in der Rechtskultur verwurzelten „right to appeal“, nach dem jeder Bürger die Gewähr haben musste, ein gegen ihn ergangenes Urteil einer Fehlerkontrolle unterziehen zu lassen.911 Die Konsequenz war eine rein passive Rolle der supreme courts bei der Auswahl der höchstrichterlich zu entscheidenden Rechtsfragen; diese Auswahl war vielmehr „litigant-controlled“.912 Zusammenfassend herrschte somit die Auffassung vor, dass eine einstufige Appellationsgerichtsbarkeit mit der Funktion einer möglichst umfassenden Fehlerkorrektur sowohl im Dienste der Prozessparteien als auch der Wahrung der Rechtseinheit wünschenswerter sei, als eine mehrstufige Appellationsgerichtsbarkeit mit dem Hang zu einer weit greifenden, von Inkonsistenzen bedrohten Normbildung.913 905 Chase, Law, Culture, and Ritual, 2005, S. 82; Horwitz, 19 Am. J. Legal Hist. 251, 262 ff. (1975); Leubsdorf, The Myth of Civil Procedure Reform, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 53 (58); Subrin, 135 U. Pa. L. Rev. 909, 931 ff. (1987). 906 Hepburn, The Historical Development of Code Pleading in America and England, 1897, S. 8. 907 Merry, 47 Minn. L. Rev. 53, 63 (1962); Warren, 37 Harv. L. Rev. 49, 74 f. (1923). 908 Pound, Appellate Procedure in Civil Cases, 1941, S. 320; Sunderland, 5 Tex. L. Rev. 126, 140 ff. (1927). 909 Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 284 f. 910 Kagan/Cartwright/Friedman/Wheeler, 76. Mich. L. Rev. 961, 967 (1978). 911 Kagan/Cartwright/Friedman/Wheeler, 76. Mich. L. Rev. 961, 979 (1978). 912 Black, 2 J. Legal Stud. 125, 128 (1973). 913 Siehe Sunderland, 5 Tex. L. Rev. 126, 132 ff. (1927); ders., 6 Am. L. Sch. Rev. 693, 694 ff. (1930).
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Ein anschauliches Beispiel für den formal style bildet das Mehrheitsvotum in der Entscheidung Roberson v. Rochester Folding Box Co. des New York Court of Appeals aus dem Jahr 1902.914 Diese Entscheidung betraf den Schutz des Rechts am eigenen Bild. Die Beklagte, ein Unternehmen der Werbemittelindustrie, hatte für ein Mehlprodukt ca. 25.000 Werbebilder mit dem Abbild der Klägerin herstellen lassen, ohne zuvor deren Einwilligung einzuholen. Die Werbemittel wurden weiträumig verteilt. In der Folge identifizierten zahlreiche Personen die Klägerin mit dem Bild auf den Werbepackungen und verspotteten sie zum Teil in der Öffentlichkeit. Durch den Kummer hierüber litt die Gesundheit der Klägerin erheblich. Sie verlangte von der Beklagten US $ 15.000,– als Ersatz für immaterielle Schäden sowie die Unterlassung einer weiteren Verbreitung ihrer Bildnisse. Die Entscheidung des Rechtsstreits hing dabei maßgeblich von der Frage ab, ob das Recht des Staates New York ein allgemeines „right of privacy“ kannte, das einen generellen Schutz vor der unbefugten Verwendung von Bildnissen gewährte. Die Mehrheit der Richter lehnte ein solches Recht in einer 4:3-Entscheidung ab. Anhand der bestehenden Präjudizien arbeitete sie heraus, dass bis dato ein zivilrechtlicher Persönlichkeitsschutz nur insoweit anerkannt war, als die Verletzung der Privatsphäre über eine Eigentumsverletzung (zum Beispiel durch die Entwendung von Fotonegativen) oder über den Bruch einer Vertrauensstellung vermittelt war.915 Ein hierüber hinausgehender Schutz des right of privacy wurde vor allem mit dem Argument abgelehnt, dass die einzelnen Ausprägungen und Grenzen eines solchen Rechts nicht in der vorliegenden Entscheidung abschließend festgelegt werden könnten, sondern eine Vielzahl an Folgeklagen und Folgerechtsprechung provozieren würde: „If such principle be incorporated into the body of the law through the instrumentality of a court of equity, the attempts to logically apply the principle will necessary result, not only in a vast amount of litigation, but in litigation bordering upon the absurd […]. And so we might add to the list of things that are spoken and done day by day which seriously offend the sensibilities of good people to which the principle which the plaintiff seeks to have imbedded in the doctrine of the law would seem to apply.“916
Folgerichtig sah es die Mehrheitsmeinung nicht als Aufgabe der Gerichte, sondern der Gesetzgebung an, einen allgemeinen Schutz von Bildnissen gegenüber unbefugten Verwendungen zu schaffen: „These considerations […] make more clear […] the absolute impossibility of dealing with this subject save by legislative enactment, by which may be drawn arbitrary distinctions which no court should promulgate as a part of general jurisprudence.“917 914 915 916 917
171 N.Y. 538 (1902). Siehe Roberson v. Rochester Folding Box Co., 171 N.Y. 538, 547 ff. (1902). Roberson v. Rochester Folding Box Co., 171 N.Y. 538, 544 f. (1902), per Parker Ch.J. Roberson v. Rochester Folding Box Co., 171 N.Y. 538, 555 (1902), per Parker Ch.J.
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Die Minderheitsmeinung erachtete die Klage hingegen für begründet.918 Dass die Herausarbeitung der Konturen eines right of privacy eine längere Reihe von case law erfordern würde, sah sie im Einklang mit dem Grundwesen des common law nicht als unüberbrückbares Hindernis an. Jedenfalls der vorliegende Fall, in dem die unbefugte Verwendung des Bildnisses einerseits zu kommerziellen Zwecken erfolgt sei und andererseits bei der Klägerin zu erheblichen psychischen Schäden geführt habe, rechtfertige einen Anspruch auf Schadensersatz und Unterlassung. Diese, die dynamische Entwicklungsfähigkeit des common law betonende Sichtweise war im Zeitalter des formal style in der Appellationsrechtsprechung jedoch nicht mehrheitsfähig. Erst der Gesetzgeber war es, der ein Jahr nach der Entscheidung in Roberson einen straf- und zivilrechtlichen Schutz vor der unbefugten Verwendung von Bildnissen zu Werbezwecken statuierte.919 Allerdings war dem formal style in den Vereinigten Staaten keine allzu lange Herrschaft vergönnt. Bereits ab der Wende zum 20. Jahrhundert und verstärkt ab den 1920er Jahren kam es zu einer Renaissance policy-orientierter Ansätze.920 Ihren Kontext hatte diese Entwicklung in einer zunehmenden Industrialisierung der amerikanischen Gesellschaft, die zahlreiche neue Regulierungsprobleme hervorrief und auch in der Rechtsprechung einer „progressive movement“ Auftrieb gab.921 Der Umschwung personifizierte sich dabei einerseits in dem Wirken einer der bedeutendsten amerikanischen Richterpersönlichkeiten: Oliver Wendell Holmes. Zum anderen bildete er die Grundlage der rechtssoziologischen und rechtsrealistischen Schule.
IV. Die „progressive Bewegung“ (Progressive Movement) 1. Die Rechtstheorie Holmes’ Wesentlichen Einfluss auf die Lehre von der richterlichen Rechtsfindung in den USA hatte ausgangs des 19. Jahrhunderts Oliver Wendell Holmes, sowohl in seiner Funktion als Wissenschaftler als auch als späterer Richter am US Supreme Court. Sein Rechtsverständnis gilt einerseits als Kritik an der formalistischen Methode922 und andererseits als eine maßgebliche Grundlage der rechts918 Roberson v. Rochester Folding Box Co., 171 N.Y. 538, 557 ff. (1902), per Gray J., dissenting. 919 Hierzu unten § 4 D II 2 c aa, S. 328. 920 Siehe Llewellyn, 3 Vand. L. Rev. 395, 396 (1950): The grand style „has been working its way back into general use by our courts“. Vgl. auch dens., The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 40 ff. 921 Forbath, Politics, State Building, and the Courts, 1870–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band II, 2008, S. 643 (650 ff.). 922 Siehe R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 201.
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soziologischen und rechtsrealistischen Bewegung, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten erhob.923 Die Grundfrage, die sich durch Holmes Werk zieht, betrifft das Spannungsverhältnis zwischen der Vorhersehbarkeit rechtlicher Pflichten und der Notwendigkeit, das Recht an die Veränderung gesellschaftlicher Umstände anzupassen.924 Dabei blieb Holmes skeptisch gegenüber der Vorstellung des englischen Rechtspositivismus, dass eine umfassende rationale Systematisierung des Rechts durch einen Souverän erfolgen könne,925 was er zu dem folgenden berühmten Diktum verdichtete: „The life of the law has not been logic: it has been experience. The felt necessities of the time, the prevalent moral and political theories, intuitions of public policy, avowed or unconscious, even the prejudices which judges share with their fellow-men, have had a good deal more to do than the syllogism in determining the rules by which men should be governed.“926
Daher verortete er den Lebensnerv des Rechtssystems, anders als Bentham und Austin, weniger in der Gesetzgebung als vielmehr in der Tätigkeit der Gerichte: „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“927
Eine wesentliche Aufgabe des common law-Richters bestand für Holmes dabei darin, überkommene Regeln, deren ursprüngliche Ratio aufgrund veränderter Umstände nicht mehr einschlägig ist, an die neuen Verhältnisse anzupassen: „A very common phenomenon, and one very familiar to the student of history, is this. The customs, beliefs, or needs of a primitive time establish a rule or a formula. In the course of centuries the custom, belief, or necessity disappears, but the rule remains. The reason which gave rise to the rule has been forgotten, and ingenious minds set themselves to inquire how it is to be accounted for. Some ground of policy is thought of, which seems to explain it and to reconcile it with the present state of things; and then the rule adapts itself to the new reasons which have been found for it, and enters a new career.“928 Und weiter: „Every important principle which is developed by litigation is in fact and at bottom the result of more or less definitely understood views of public policy […].“929
Nach Holmes sollten die Gerichte somit weniger einer historischen Methode folgen, in deren Rahmen die tradierten Regeln lediglich in kleinen Schritten und mittels eines organischen Prozesses neuen Verhältnissen angepasst werden, 923
Novick, Introduction to the Dover Edition of ‚The Common Law‘, 1991, S. IX ff. Novick, Introduction to the Dover Edition of ‚The Common Law‘, 1991, S. VIII. 925 Holmes, 10 Harv. L. Rev. 457, 465 ff. (1897). 926 Holmes, The Common Law, 1881 (Dover ed. 1991), S. 1. 927 Holmes, 10 Harv. L. Rev. 457, 461 (1897). 928 Holmes, The Common Law, 1881 (Dover ed. 1991), S. 5. 929 Holmes, The Common Law, 1881 (Dover ed. 1991), S. 35; ähnlich ders., 10 Harv. L. Rev. 457, 466 (1897). 924
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sondern der bewussten Abwägung gesellschaftlicher Interessen einen größeren Raum geben.930 „We still are far from the point of view which I desire to see reached. […] The development of our law has gone on for nearly a thousand years, like the development of a plant, each generation taking the inevitable next step, mind, like matter, simply obeying a law of spontaneous growth. It is perfectly natural and right that it should have been so. […] Still it is true that a body of law is more rational and more civilized when every rule it contains is referred articulately and definitely to an end which it subserves, and when the grounds for desiring that end are stated or are ready to be stated in words.“931
Diese Grundüberzeugung weist eine große Ähnlichkeit zu den etwa zeitgleich geäußerten interessenjuristischen Gedanken Jherings auf.932 Sie führte Holmes in Abkehr von dem Credo der formalistischen Periode zu der Folgerung, dass die richterliche Aufgabe nicht in der Anwendung reiner Rechtsregeln ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Phänomene bestehen könne. Der Richter der Zukunft sei nicht der „black-letter man“, sondern „the man of statistics and the master of economics“.933 Richter sollten den historisch überkommenen Normenbestand dabei lediglich als Ausgangspunkt ihrer Erwägungen betrachten, dem kein intrinsischer Wert zukomme. Eine Regel dürfe vielmehr immer nur in dem Maße fortbestehen, in dem ihre soziale Nützlichkeit dargelegt werden könne: „I look forward to a time when the part played by history in the explanation of dogma shall be very small, and instead of ingenious research we shall spend our energy on a study of the ends sought to be attained and the reasons for desiring them.“934
Dabei führte er zahlreiche Beispiele von Regelungen an, die nach seiner Auffassung als historische Relikte zu überwinden seien. So scheute er beispielsweise nicht davor zurück, einen historischen Eckpfeiler des Vertragsrechts des common law, nämlich die consideration-Lehre, als bloße historische Zufälligkeit einzuordnen, für die es keinen erkennbaren Zweckmäßigkeitsgrund gebe und die daher abzuschaffen sei.935 Im Bereich des Deliktsrechts wandte Holmes sich gegen das subjektive Verschulden als generelles Zurechnungsprinzip und befürwortete eine objektive, an den gesellschaftlichen Bedürfnissen ausgerichtete Verantwortungszuschreibung.936 Das mögliche Gegenargument, hierdurch werde die Herstellung einer iustitia commutativa als legitimer Aufgabenbereich des Privatrechts verlassen, lehnte er mit der Begründung ab, dass der recht ver930
Holmes, 10 Harv. L. Rev. 457, 467 f. (1897). Holmes, 10 Harv. L. Rev. 457, 468 f. (1897). 932 Siehe oben § 3 A IV, S. 50 ff. Eine enge Verbindung zwischen Holmes und der späteren Interessenjurisprudenz Hecks sieht auch Auer, ZEuP 2008, 517 (525 f.). 933 Holmes, 10 Harv. L. Rev. 457, 469 (1897). 934 Holmes, 10 Harv. L. Rev. 457, 474 (1897). 935 Holmes, 10 Harv. L. Rev. 457, 472 (1897). 936 Dazu Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960, 1992, S. 110 ff. 931
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standene Zweck des gesamten Rechts und somit auch des Haftungsrechts vielmehr gerade in einer Beförderung gesamtgesellschaftlicher Zwecke liege: „[T]he law does undoubtedly treat the individual as a means to an end, and uses him as a tool to increase the general welfare at his own expense.“937
Zusammenfassend wollte Holmes den Gerichten somit einen weiten Spielraum einräumen, damit sie in ihren normbildenden Entscheidungen einen bewusstplanenden Ausgleich widerstreitender gesellschaftlicher Interessen vornehmen können und dabei den Blick über den Horizont des konkreten Rechtsstreits hinaus auf die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der rechtlichen Regelungen lenken. Allerdings war er sich hierbei zumindest während seiner späteren Zeit als Richter am US Supreme Court auch der Grenzen bewusst, die der Rahmen eines Zivilprozesses für eine derartige Normbildung zieht, wie das folgende Zitat aus seiner dissenting opinion zu der Entscheidung Southern Pacific Co. v. Jensen verdeutlicht. Zwar wird auch darin eine normbildende Aufgabe der Rechtsprechung bestätigt, jedoch unter Ablehnung radikaler Eingriffe in das tradierte Rechtssystem, wie er sie noch in seinen früheren akademischen Schriften verfochten hatte: „I recognize without hesitation that judges do and must legislate but they can do so only interstitially; they are confined from molar to molecular motions. A common-law judge could not say I think the doctrine of consideration a bit of historical nonsense and shall not enforce it in my court.“938
Im Anschluss an die Grundüberzeugungen Holmes’ gewannen ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts dann in den Vereinigten Staaten in immer stärkerem Maße so genannte progressive Denkrichtungen an Einfluss. Deren wichtigste Ausprägungen waren die rechtssoziologische Schule (sociological jurisprudence), die Theorie der richterlichen Entscheidung nach Cardozo und die rechtsrealistische Schule (legal realism). Das genaue Verhältnis dieser Strömungen zueinander ist sehr komplex und Gegenstand einer umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion, die an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden muss.939 Für die hier interessierende Frage nach der Rolle der Normbildung im Prozess der Rechtsfindung ist vielmehr zunächst der folgende gemeinsame Ausgangspunkt relevant: Die progressive movement maß tradierten Regeln nur eine begrenzte Bedeutung für die richterliche Rechtsfindung bei. Vielmehr verlagerte sie den Fokus auf die Durchsetzung sozialer und ökonomischer Zwecke, denen das Recht dienstbar gemacht werden sollte.940 937
Holmes, The Common Law, 1881 (Dover ed. 1991), S. 46 f. Southern Pacific Co. v. Jensen, 244 U.S. 205, 231 (1917), per Holmes J., dissenting. 939 Siehe hierzu grundlegend Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960, 1992, S. 169 ff. und White, 58 Va. L. Rev. 999, 1013 ff. (1972) sowie im Überblick Friedman, American Law in the 20th Century, 2002, S. 489 ff. 940 White, 58 Va. L. Rev. 999, 1020 (1972). 938
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2. Die rechtssoziologische Schule Roscoe Pound, einer der Hauptvertreter der sociological jurisprudence, ging in seiner Rechtstheorie von der Annahme aus, dass sich die Gesellschaft in einem kontinuierlichen Prozess der Veränderung befinde und dass dieser Prozess durch Recht gestaltet werden könne, wenn die maßgeblichen Entscheidungsträger diese gestalterische Aufgabe nur akzeptieren und klug ausführen würden.941 Mit der deutschen Interessenjurisprudenz in ihrer frühen, durch Jhering repräsentierten Form und ihrer späteren Verfeinerung durch Heck verband Pound die Annahme, dass das Recht kein in sich geschlossenes, autonomes System sei, sondern dass es der Durchsetzung menschlicher Interessen diene und auf deren größtmögliche Verwirklichung auszurichten sei.942 Er wandte sich daher gegen eine „mechanical operation of legal rules“ bzw. „mechanical jurisprudence“, die das Markenzeichen der formalen Periode des US-amerikanischen Rechts gewesen waren.943 Voraussetzung für die gebotene Neuausrichtung sei ein gründliches Wissen um soziale, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge.944 Die tatsächlichen Auswirkungen juristischer Regelungen müssten nicht nur durch den Gesetzgeber und die Verwaltung, sondern auch durch die Gerichte stärker in das Blickfeld genommen werden.945 Eine Verbesserung der richterlichen Entscheidungsfindung setze daher drei Schritte voraus: erstens die Einsicht in soziale Interdependenzen, zweitens die Einbindung richterlicher Entscheidungen in diesen sozialen Kontext durch die Nutzbarmachung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und drittens eine Form des „social engineering“. Dies bedeutete für Pound, dass die Rechte der Parteien als Teil der sozialen Interessen der Gesellschaft begriffen werden müssten und dass es die Aufgabe des Gerichts sei, ein Prinzip herauszuarbeiten, nach dem ein Maximum dieser sozialen Interessen mit einem Minimum an Opfern befriedigt werden könne.946 Um diesen Gedanken eines sozialen Optimums zu verwirklichen, müsse jedoch die Vorstellung aufgegeben werden, dass ein privatrechtlicher Streit in erster Linie der Verwirklichung individuell verstandener Rechte mit einem intrinsischen Wert diene: „In such a conception of judicial decision as part of a larger process of social engineering, in a sense legislation and judicial decision are put on the same basis. Each is or may be creative. Each is and should be governed by principles of social utility.“947
941 942 943 944 945 946 947
(1933).
Pound, 25 Harv. L. Rev. 489, 512 ff. (1912). Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 34 ff.; Eidenmüller, AcP 197 (1997), 80 (90 f.). Pound, 8 Colum. L. Rev. 605 (1908). Pound, 5 Colum. L. Rev. 339, 344 (1905). Pound, 25 Harv. L. Rev. 489, 513 (1912). Pound, 36 Harv. L. Rev. 940, 955 (1923). Pound, 36 Harv. L. Rev. 940, 955 (1923); siehe auch dens., 47 Harv. L. Rev. 1, 15 ff.
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Einen plastischen Anwendungsfall fand diese Sichtweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Streitfrage, ob der Vertrag ungeachtet eines möglichen Gefälles an wirtschaftlicher Macht zwischen den Parteien weiterhin als eine neutrale Form des Interessenausgleichs zwischen Privatrechtssubjekten begriffen werden könne. Die Rechtsprechung des US Supreme Court hatte sich auf diesen Standpunkt gestellt und daher regulierende Eingriffe des Gesetzgebers in das Vertragsrecht, die dem Schutz ökonomisch schwacher Parteien wie zum Beispiel dem Schutz der Arbeitnehmer dienten, als Verstoß gegen die verfassungsrechtlich garantierte Vertragsfreiheit angesehen und damit aufgehoben. Als Höhepunkt dieses Prozesses gilt die Entscheidung Lochner v. New York948 aus dem Jahr 1905, in der die Mehrheit der Richter die gesetzliche Festlegung von Höchstarbeitszeiten für Bäcker als verfassungswidrig aufhob. Pound erblickte hierin nicht nur eine falsche Entscheidung der konkreten Rechtsfrage, sondern sah vielmehr das gesamte klassische Verständnis des Zivilrechts als verfehlt an. Es beruhe auf einem „rein juristischen“ Bild des Staates und widerspreche den „sozialen Bedürfnissen der Gegenwart“.949 Das Recht und seine Durchsetzung dürften niemals „privat“ begriffen werden, sondern seien immer der Gesellschaft verpflichtet, das heißt „öffentlich“: „[A]n individualist conception of justice, which exaggerates the importance of property and of contract, exaggerates private right at the expense of public right […].“950
Subjektive zivilistische Rechte wurden durch die rechtssoziologische Schule daher nicht mehr als Objekt eines rein passiven staatlichen Schutzes begriffen, sondern als Kompetenzen, die zwar einer bestimmten Person zustehen, deren Zweck aber vornehmlich in der Schaffung eines Interessenausgleichs im Dienste der Gesellschaft liegt.951 Übertragen auf die Ebene des Gerichtsverfahrens führte diese Sichtweise konsequenterweise zu dem Schluss, dass auch der Zivilprozess nicht vornehmlich individuellen, sondern gesellschaftlichen Interessen zu dienen habe.952 Dies lenkte den Blick weg von der vergangenheitsbezogenen, fallnahen Beurteilung eines individuellen Konflikts und hin zu einer zukunftsbezogenen Gesellschaftsgestaltung. Zwar verkannte Pound nicht, dass auch die normbildende Rechtsprechung an ein konkretes Streitverfahren anknüpfen muss und sich nicht vollständig von der Beurteilung dieses konkreten Konflikts lösen kann.953 Doch stellte die richterliche Rechtsfindung für ihn vornehmlich einen Prozess dar, den er als „a process of legal social engineering as a part of the 948
198 U.S. 45 (1905). Pound, 18 Yale L.J. 454, 464 (1909). 950 Pound, 18 Yale L.J. 454, 457 (1909). 951 Michaels/Jansen, 54 Am. J. Comp. L. 843, 857 (2006) m.w.N. 952 Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 403 f. (1906) sowie Wheeler, 48 S. Tex. L. Rev. 943, 951 (2007). 953 Pound, 36 Harv. L. Rev. 940, 942 ff. (1923). 949
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whole process of social control“ beschrieb.954 Dementsprechend verortete Pound den Lebensnerv der Rechtsprechung nicht auf der Ebene der Tatsacheninstanz, sondern auf der Appellationsebene und zwar nicht in deren Funktion als eine Rechtskontrolle im Interesse der Prozessparteien, sondern in der Funktion als ein Mittel zur Fortentwicklung des Rechts.955 Er ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er dafür plädierte, die im common law verankerte Judikative solle ihre Vorbehalte gegenüber der rechtlichen Regulierung durch Gesetze aufgeben und die moderne, sozialwissenschaftlich geprägte Gesetzgebungsarbeit geradezu als Vorbild für ihre eigene Tätigkeit ansehen.956
3. Die Rechtstheorie Cardozos Ähnliche Gedanken zu einer stärkeren Ausrichtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung an den Bedürfnissen der Gesamtgesellschaft und weniger an der Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits finden sich auch in der Rechtstheorie Cardozos. Diese kann zwar nicht unmittelbar der rechtssoziologischen Schule zugerechnet werden. Vielmehr ging Cardozo davon aus, dass in einem Großteil der zu entscheidenden Fälle nicht auf außerrechtliche Kriterien zurückgegriffen werden müsse, da das Ergebnis durch eine bloße Anwendung der Präjudizien determiniert sei. Er wandte sich aber ebenfalls gegen das Credo des formal style, nach dem Präjudizien und ihr wissenschaftliches Studium im Sinne der Methode Langells957 einen geschlossenen Kosmos des common law bilden könnten, der eine abschließende Beurteilung aller auftretenden Rechtsfragen erlaube.958 Für den damit als möglich akzeptierten Fall, dass eine neue richterliche Normbildung erforderlich wird, wollte Cardozo allerdings nicht ausschließlich die Anforderungen sozialer und ökonomischer Gesellschaftsgestaltung entscheiden lassen, sondern auch historische und philosophische Gesichtspunkte.959 Soweit aber soziale Bedürfnisse zu berücksichtigen seien, solle der Richter dies in gleicher Weise tun wie der Gesetzgeber.960 Der Fokus des Richters dürfe daher bei der Entscheidung schwieriger Fälle nicht auf den „besonderen Bedürfnissen“ des anhängigen Rechtsstreits liegen. Vielmehr gelte es, die „objektive Natur“ des Problems zu erfassen und einer entsprechenden Lösung zuzuführen.961 Dementsprechend bestimmte Cardozo auch die Funktion der obersten Gerichte. Ihre Aufgabe bestehe nicht darin, individuellen Prozess-
954 955 956 957 958 959 960 961
Pound, 36 Harv. L. Rev. 940, 958 (1923). Pound, 25 Harv. L. Rev. 489, 514 (1912). Pound, 21 Harv. L. Rev. 383, 403 ff. (1908). Siehe oben § 3 C III, S. 199 ff. Nelson, The Legalist Reformation, 2001, S. 22 f. Cardozo, The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 9 ff. Cardozo, The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 113 ff. Cardozo, The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 120.
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parteien ihr Recht zu gewähren, sondern vielmehr darin, der Rechtsgemeinschaft zu dienen: „The wrongs of aggrieved suitors are only the algebraic symbols from which the court is to work out the formula of justice.“962
Ein anschauliches haftungsrechtliches Beispiel für Cardozos Neigung, in der Appellationspraxis auftretende Rechtfragen möglichst weit reichend und ohne zu starken Rückgriff auf den konkreten Sachverhalt zu lösen, bildet die Entscheidung des New York Court of Appeals in der Sache Palsgraf v. The Long Island Railroad Company 963 aus dem Jahr 1928. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt halfen zwei Angestellte der beklagten Eisenbahngesellschaft einem Passagier dabei, noch auf einen bereits in Bewegung befindlichen Zug aufzuspringen. Dabei stießen sie ihm ein Paket aus dem Arm. Dieses Paket enthielt, was äußerlich jedoch nicht erkennbar war, Feuerwerkskörper und explodierte bei seinem Aufprall auf dem Bahnsteig. Die Druckwelle bewirkte, dass eine in einiger Entfernung auf dem Bahnsteig stehende größere Waage umstürzte und die Klägerin verletzte. In dem Verfahren ging es darum, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs der Klägerin aus negligence gegeben waren. Eine Minderheit der Richter von 3:4 bejahte dies. In seiner dissenting opinion führte Judge Andrews hierzu aus, dass die Angestellten fahrlässig das Herunterfallen des Pakets bewirkt hätten. Zwar sei für sie in diesem Moment nicht konkret erkennbar gewesen, wie hieraus für die spätere Klägerin eine Gefahr folgen könne. Dies ändere jedoch nichts an ihrer Fahrlässigkeit. Eine Einschränkung der Haftung könne vielmehr nur über das Zurechnungskriterium des proximate cause erfolgen, nach dem die Kausalkette zwischen der schädigenden Handlung und dem Schadenserfolg nicht zu indirekt sein dürfe.964 Diese Frage lasse sich wiederum nur anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls beurteilen.965 Im Ergebnis bejahte die dissenting opinion einen proximate cause, da zwischen der schadensbringenden Handlung und der Verletzung der Klägerin „no remoteness in time [and] little in space“ bestanden habe.966 Die Mehrheit der Richter verneinte hingegen in einem durch Cardozo verfassten Votum die Haftung. Die Kernfrage des Falls laute nicht, ob der Kausalverlauf eine Haftungszurechnung erlaube.967 Vielmehr gehe es bereits um die Frage, ob der Beklagten gerade gegenüber der Klägerin eine duty of care oblegen habe. Negligence sei ein relatives Konzept, das immer nur in Bezug auf eine 962 Cardozo, The Jurisdiction of the Court of Appeals of the State of New York, 2. Aufl. 1909, S. 11. 963 248 N.Y. 339 (1928). 964 Palsgraf v. The Long Island Railroad Company, 248 N.Y. 339, 351 (1928). 965 Palsgraf v. The Long Island Railroad Company, 248 N.Y. 339, 354 (1928). 966 Palsgraf v. The Long Island Railroad Company, 248 N.Y. 339, 356 (1928). 967 Palsgraf v. The Long Island Railroad Company, 248 N.Y. 339, 346 (1928).
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bestimmte gefährdete Person vorliegen könne.968 Voraussetzung der Haftung sei daher, dass der Schädiger vernünftigerweise habe vorhersehen können, dass von seinem Verhalten auch für den später Geschädigten eine Gefahr ausgehe. Die Beurteilung dieser Frage wollte Cardozo jedoch nicht einer reinen Einzelfallbetrachtung anheimstellen. Vielmehr war nach seiner Auffassung maßgeblich, ob sich der Geschädigte erkennbar in der Gefahrenzone (zone of danger) befand, die das schädigende Verhalten unmittelbar um sich zieht, was in Palsgraf nicht der Fall war. Mit diesem Rückgriff auf die erkennbare Gefahrenzone wurde ein relativ abstraktes Kriterium der Haftungseinschränkung bei negligence etabliert, das sich deutlich von dem mehr einzelfallbezogenen Ansatz der dissenting opinion unterscheidet.969
4. Der Legal Realism Die Schule des legal realism, als deren Hauptvertreter Llewellyn und Jerome Frank gelten, teilte im Ausgangspunkt mit der rechtssoziologischen Strömung die Auffassung, dass der Prozess der richterlichen Rechtsfindung ein gesamtgesellschaftliches Phänomen sei, das nicht adäquat als Anwendung allgemeiner Regeln auf einen besonderen Einzelfall begriffen werden könne. Vielmehr gehe es um einen immer wieder neu zu justierenden Ausgleich zwischen widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen. Rechtliches Entscheiden weist in dieser Sichtweise keine Besonderheiten auf, die es von anderen, zum Beispiel politischen, Formen des Entscheidens wesensmäßig trennen könnten. Folgerichtig waren die realen Wirkungsfolgen einer rechtlichen Regelung für die Vertreter des legal realism stets bedeutsamer als ihre Ableitung aus historisch-autoritativen Quellen, weshalb ihnen die klassische case law-Methode höchst unvollkommen erschien.970 Allerdings hielten die Rechtsrealisten die institutionellen Rahmenbedingungen des Zivilprozesses weit gehend für ungeeignet, um ein erfolgreiches social engineering bewältigen zu können. Sie begriffen Richter als menschliche Individuen, die ihren jeweiligen Vorverständnissen und idiosynkratischen Wertvorstellungen folgen und erst nachträglich ihre bereits gefundenen Ergebnisse auf eine scheinbar rationale, in Wirklichkeit aber nur nachgeschobene Basis stützen würden.971 Aus dieser Grundüberzeugung entwickelte der legal realism einen verhaltensbezogenen Ansatz, der die sozio-psychologischen Gründe der Entscheidungsfindung in den Mittelpunkt rückte.972 Die normbildende Recht968
Palsgraf v. The Long Island Railroad Company, 248 N.Y. 339, 345 (1928). Nelson, The Legalist Reformation, 2001, S. 102 f. 970 Siehe White, Tort Law in America, 1985, S. 20 ff. 971 Umfassend Frank, Law and the Modern Mind, 1930, S. 3 ff.; siehe auch White, 58 Va. L. Rev. 999, 1015 (1972). 972 Siehe Llewellyn, 30 Colum. L. Rev. 431 ff. (1930). 969
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sprechung war aus dieser Sicht untrennbar mit der Persönlichkeit des entscheidenden Richters verbunden, so dass „law may vary with the personality of the judge who happens to pass upon any given case“.973 Zwar sahen sowohl Frank als auch Llewellyn einen gewissen Spielraum, um die Entscheidungsfindung in gerichtlichen Verfahren stärker zu objektivieren und damit eine erfolgversprechende Sozialgestaltung durch Zivilprozesse zu ermöglichen. So sollten Richter nach Frank erstens auf Experten zurückgreifen, um wichtige tatsächliche Grundlagen für ihr Urteil zu ermitteln, sollten sich zweitens ihre Vorurteile und Antipathien vergegenwärtigen, um diese zu relativieren, und sollten drittens das „Phantasiebild perfekter juristischer Konsistenz“ zugunsten eines „juristischen Skeptizismus“ aufgeben.974 Im Ergebnis lief dies auf die Forderung nach einer verstärkten Politisierung der Zivilrechtsprechung hinaus: „It is today recognized that decisions in the field of constitutional law are ‘politics’. But decisions relating to torts, trusts, corporations, mortgages, bills and notes, domestic relations, or anything else could as well be labeled ‘politics’. Judging is part of the process of government and the process of government is ‘politics’. Judging is also ‘economics’, ‘ethics’, ‘sociology’, ‘anthropology’, ‘philosophy’ and ‘psychology’. What of it?“975
In ganz ähnlicher Weise rief Llewellyn die Richter dazu auf, den zu entscheidenden Fall weniger als spezifische Kontroverse zwischen konkreten Prozessparteien zu begreifen, sondern vielmehr als einen Falltypus, der einer breiteren Lösung zuzuführen sei: „If […] the type of situation is in the forefront of attention, a solving rule comes in for much more thoughtful testing and study. Rules are thrust toward reasonable simplicity, and made with broader vision. Moreover, the idiosyncracies of the particular case and its possible emotional deflections are set for judgment against a broader picture which gives a fair chance that accidental sympathy is not mistaken for long-range justice for all.“976
In diesem Sinne müsse es sich der Appellationsrichter zu einer Pflicht und Methode machen, seine Tätigkeit nicht primär als Entscheidung eines Streits zwischen konkreten Parteien zu betrachten, sondern als eine Leitschnur für die Zukunft.977 Trotz dieser Bestrebungen nach einer zukunftsgerichteten Rationalisierung des richterlichen Entscheidungsprozesses blieb für den Rechtsrealismus jedoch die Grunderkenntnis, dass breite und umfassende Daten über gesellschaftliche Konfliktlagen, die den Schlüssel für eine tragfähige Lösung bilden sollten, in 973
Frank, Law and the Modern Mind, 1930, S. 111. Frank, Law and the Modern Mind, 1930, S. 147. 975 Frank, 26 Ill. L. Rev. 761, 779 (1932). 976 Llewellyn, 3 Vand. L. Rev. 395, 398 (1950); ähnlich ders., The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 43 f. 977 Llewellyn, The Bramble Bush: On our Law and its Study, 1951, S. 159. 974
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dem prozeduralen Rahmen eines parteibetriebenen Privatrechtsstreits kaum in systematischer Weise zu gewinnen seien.978 Schließlich werde die Agenda eines Gerichtsverfahrens nicht bestimmt durch „judicially-minded helpful consultants but by adversaries to each of whom the tribunal serves either as an obstacle or as a tool, or, more commonly, as both at once“.979 Insoweit waren die Vertreter des Rechtsrealismus skeptischer als die Vertreter der rechtssoziologischen Schule, ob die Rechtsprechung zu einer systematischen Sozialgestaltung fähig sei.980 Vor diesem Hintergrund musste der Beitrag der Rechtsprechung zur Normbildung nicht nur unvollkommen bleiben, sondern vielmehr stellten Entscheidungen, die durch die Besonderheiten eines Einzelfalls geformt wurden, sogar eine Gefahr für die Verwirklichung gesamtgesellschaftlicher Zwecke dar. Das Interesse der Reformbewegung wandte sich daher von dem Prozess der Rechtsprechung ab, deren Blick aus Sicht der Realisten nicht weit genug über den Tellerrand (scil.: den zu entscheidenden Fall) hinausreichte und daher die sozialen und ökonomischen Konfliktlagen nicht klar genug beurteilen konnte.981 Statt dessen sollte die Normbildung verstärkt in dem institutionellen Rahmen der Gesetzgebung und der Verwaltungsbehörden (administrative agencies) betrieben werden, die ohne die Fesseln eines adversarialen Prozesses arbeiteten und geeigneter für gesamtgesellschaftliche Interessenabwägungen erschienen.982 Diese Schwerpunktverlagerung auf modernere, insbesondere flexiblere Formen der Regulierung wurde typisch für das Zeitalter des New Deal in den 1930er Jahren.983 In diesen Zusammenhang fällt folgerichtig auch die massive Ausbreitung des statutory law in den USA sowie dessen zunehmende Umsetzung und Konkretisierung durch spezialisierte Verwaltungsbehörden.984 Den Gerichten und insbesondere auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung war aus diesem Blickwinkel im Ergebnis nur eine Form der Normbildung gestattet, die an den jeweiligen Rechtsstreit und die zugrunde liegende Faktenlage anschließt. Nur soweit dem Richter die Lebenssituation, die es zu regeln gelte, vor Augen stehe und soweit er diese Lebenssituation in dem gege-
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Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 88. Llewellyn, The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 30. 980 Siehe Herget/Wallace, 73 Va. L. Rev. 399, 434 (1987) und Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960, 1992, S. 189 ff. 981 Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 90 f.; White, 58 Va. L. Rev. 999, 1003 (1972). 982 Landis, The Administrative Process, 1938, S. 23 ff.; Llewellyn, 30 Colum. L. Rev. 431, 455 f. (1930); Pound, The Spirit of the Common Law, 1921, S. 72. 983 Chase, Law, Culture, and Ritual, 2005, S. 84 f.; Ernst, Law and the State, 1920–2000, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band III, 2008, S. 1 (3 ff.); Heydebrand/Seron, Rationalizing Justice, 1990, S. 36. 984 Im Überblick Calabresi, A Common Law for the Age of Statutes, 1982, S. 72 ff. 979
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benen prozessualen Rahmen zu durchdringen und zu durchdenken vermöge, könne ein sinnvolles Präjudiz entstehen.985 „A judge makes his rule in and around a specific case, and looking backward. The case shapes the rule; the judge’s feet are firmly on the particular instance; his rule is commonly good sense, and very narrow. And any innovation is confined regularly within rather narrow limits […].“986
An diesem Punkt zeigt sich eine deutliche Gemeinsamkeit des Justizbildes des legal realism einerseits und der Freirechtsschule andererseits.987 Auch diese kritisierte zwar ein formal geprägtes Bild der Rechtsprechung, das die Gerichte auf rein juristisch-dogmatische Ableitungsprozesse beschränkt und befürwortete anstelle dessen eine stärker sozialgestaltende Funktion der Rechtsprechung. Letztlich sah auch sie es aber aufgrund der Eigenheiten des richterlichen Entscheidungsprozesses, insbesondere aufgrund seiner affektiven Komponente, als geboten an, die Rechtsfindung der Rechtsprechung eng an das jeweils zur Verfügung stehende Fallmaterial anzukoppeln.988 Praktisch niedergeschlagen hat sich das Justizbild des legal realism, das sowohl von einer unvermeidlichen Gesellschaftsbezogenheit der Rechtsprechung als auch von den institutionellen Grenzen richterlicher Erkenntnismöglichkeit geprägt war, zum Beispiel im Stil des UCC, dessen ersten Entwurf in den 1940er Jahren maßgeblich Llewellyn ausgearbeitet hatte.989 Zwar enthält der UCC eine Vielzahl offener, konkretisierungsbedürftiger Begriffe, welche die notwendige Flexibilität in seiner Anwendung sicherstellen sollen. Doch bildet im Geiste des Codes nicht eine eigenständige, freie Wertung des Richters den Maßstab für diese Konkretisierung, sondern ein Anknüpfen an allgemeine Handelsbräuche und Verkehrssitten.990 Dieses passive Aufgreifen des gesellschaftlich Gewachsenen durch den Richter stellte aus Sicht der Rechtsrealisten zwar keineswegs den optimalen Modus der Entscheidungsfindung dar, wohl aber das kleinere Übel angesichts der institutionellen Grenzen des Rechtsprechungsprozesses.
985
Llewellyn, The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 127. Llewellyn, The Bramble Bush: On our Law and its Study, 1951, S. 78. 987 Allgemein zur entstehungsgeschichtlichen Verwandtschaft des legal realism mit der Freirechtsschule Heget/Wallace, 73 Va. L. Rev. 399, 419 ff. (1987). 988 Näher oben § 3 A VI, S. 62 ff. 989 Hierzu im Überblick Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 563 ff.; ders., American Law in the 20th Century, 2002, S. 379 ff. 990 Siehe Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 196 und Wiseman, 100 Harv. L. Rev. 465, 493 ff. (1987). 986
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V. Die Auswirkungen der Progressive Movement auf den Appellationsprozess Obwohl die rechtssoziologische Bewegung und der Rechtsrealismus das Mandat zu einer sozialgestaltenden Normbildung nicht schwerpunktmäßig in der Rechtsprechung verorteten, ließen sie die Praxis der Appellationsgerichte und deren institutionellen Rahmen nicht unberührt.991 Ausgangspunkt war hierbei die dargelegte Grundannahme, dass die klassische Unterscheidung zwischen einer privaten Sphäre des Rechts, verkörpert durch das Zivilrecht sowie den Zivilprozess, und einer öffentlichen Sphäre des Rechts, verkörpert durch das Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie das Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren, nicht nur relativierungsbedürftig sei, sondern gänzlich aufgegeben werden müsse.992 Das Zivilrecht und der Zivilprozess sollten ihrerseits eine Spielart der Sozialgestaltung bilden und mussten entsprechend neu strukturiert werden, um einen größtmöglichen Ertrag für das Gemeinwesen leisten zu können. Vor allem hatte die Rechtsprechung das Ideal aufzugeben, ein System aus Regeln und daraus folgenden individuellen Rechten und Pflichten zu verwalten, sondern sie musste sich einer flexibleren, bürokratisch orientierten Gestaltungsaufgabe öffnen.993 Die Kritik an der klassischen Struktur des Zivilverfahrens setzte folgerichtig dabei an, dass in einem adversarialen Prozesssystem keine zielgerichtete Gesellschaftsgestaltung möglich sei.994 Die diesbezügliche Diskussion stieß vor allem Pound mit seinem berühmten Vortrag „The Causes of Popular Dissatisfaction with the Administration of Justice“995 im Jahr 1906 an. Hierbei kritisierte Pound unter anderem, dass der adversariale Streitmodus, bei dem die Parteien die alleinige Hoheit über den Inhalt und den Ablauf des Verfahrens behalten, während das Gericht nur als eine neutral-entscheidende Instanz fungiert, keine hinreichende Aufarbeitung der wirklichen Konflikte gestatte, die hinter den Rechtsstreitigkeiten stünden.996 Spätestens seit diesem Zeitpunkt befand sich das klassische parteibezogene Streitverfahren in der Defensive gegenüber der Idee eines prozessualen Rahmens, der durch weite Ermessenspielräume des Richters die Klärung wichtiger Sachfragen ermöglichen sollte.997 Es wurde ein 991
Herget/Wallace, 73 Va. L. Rev. 399, 437 (1987). Siehe Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960, S. 165 ff. und 206 ff. und Michaels/Jansen, 54 Am. J. Comp. L. 843, 857 (2006). 993 Miller, Judicial Activism and American Constitutionalism: Some Notes and Reflections, in: Pennock/Chapman (Hrsg.), Nomos XX: Constitutionalism, 1979, S. 333 ff.; siehe auch Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 14 ff. 994 Heydebrand/Seron, Rationalizing Justice, 1990, S. 21. 995 29 A.B.A. Rep. 395 ff. (1906). 996 Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 405 ff. (1906). 997 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 21 f.; Subrin, 135 U. Pa. L. Rev. 909, 944 ff. (1987). 992
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neuer Weg gesucht, der es den Gerichten erlauben würde „to search independently for truth and justice“.998
1. Die bundesstaatliche Ebene Auf der Bundesebene trug die Reformbewegung erste wichtige Früchte in den Federal Rules of Civil Procedure, die im Jahr 1938 erlassen wurden. Diese regeln das erstinstanzliche Verfahren vor den Federal District Courts und orientieren sich – anders als noch der New Yorker Field Code999 – nicht an dem formalisierten common law-Prozess, sondern an dem wesentlich freieren, auf eine materiale Gerechtigkeit zielenden equity-Verfahren.1000 Für die Normbildungsmöglichkeiten der Rechtsprechung waren dabei vor allem zwei Grundentscheidungen der Federal Rules of Civil Procedure von Bedeutung: Zum einen verlangt Rule 8 Fed. R. Civ. P. in der Interpretation, die sie durch die Entscheidung Conley v. Gibson1001 erlangt hat, von dem Kläger nicht, dass er sich in seinem Klageantrag auf einen bestimmten cause of action stützt, sondern nur, dass er die tatsächlichen Grundlagen seiner Klage in einer Art und Weise angibt, die den Gegenstand des Verfahrens hinreichend umreißen. Dies erleichtert die Prozessführung für Kläger, deren Begehren sich nicht auf einen tradierten Klagegrund stützen lässt, sondern auf richterliche Innovationen abzielt.1002 Zum anderen begünstigt das relativ weite Ermessen, das der trial judge nach den Federal Rules of Civil Procedure bei der Verfahrensgestaltung hat, um auf neue komplexe Rechtslagen reagieren zu können, die judikative Normbildung.1003 Hierdurch erweiterten sich auch die Möglichkeiten, einen bestimmten Falltypus angemessen für eine anschließende Beurteilung auf höherer gerichtlicher Ebene aufzubereiten. Somit war der Grundtenor der Prozessreform durchaus auf eine Expansion der richterlichen Normbildung angelegt und schuf die Voraussetzungen für eine Fortentwicklung des Rechts in vielen Bereichen des Zivilrechts wie zum Beispiel dem Produkthaftungsrecht.1004 Allerdings zogen sich die US Courts of Appeals und der US Supreme Court im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker von der Beurteilung rein zivilrechtlicher Fragen zurück. Im Geiste des progressiven Rechtsdenkens wurde 998
Pound, 29 A.B.A. Rep. 395, 405 (1906). Siehe oben § 3 C III, S. 200 f. 1000 Friedman, American Law in the 20th Century, 2002, S. 252 ff.; Holtzoff, 30 NYU L. Rev. 1057, 1058 (1955); Leubsdorf, The Myth of Civil Procedure Reform, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 53 (58); Subrin, 135 U. Pa. L. Rev. 909, 922 ff. (1987). 1001 355 U.S. 41 (1957). 1002 Sherwin, The Story of Conley, in: Clermont (Hrsg.), Civil Procedure Stories, 2. Aufl. 2008, S. 295 (319); siehe auch Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 38. 1003 Eingehend Subrin, 135 U. Pa. L. Rev. 909, 948 ff. (1987). 1004 Friedenthal, 69 Cal. L. Rev. 806, 818 (1981); vgl. auch R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 54 f. 999
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ihre Hauptkompetenz vielmehr in Fragen der verwaltungsrechtlichen Regulierung sowie der Verfassungsauslegung gesehen, wobei insbesondere die Bürgerrechte (civil liberties) einen neuen Rechtsprechungsschwerpunkt der Bundesgerichte bildeten.1005 Dies spiegelte sich auch in der Ausbalancierung des Kompetenzgefüges zwischen den federal courts und den state courts wider. So hatten die Bundesgerichte bereits durch den Judiciary Act 1875 neben der diversity jurisdiction die zusätzliche Kompetenz erhalten, alle Streitigkeiten zu entscheiden, die so genannte federal questions berührten.1006 Hierunter fiel vor allem die Interpretation von Bundesgesetzen, die sich typischerweise auf öffentlichrechtliche Fragen und nicht auf das klassische Zivilrecht erstreckten. Das Zivilrecht stand vielmehr weiterhin unter der Ägide des common law. Zwar hatte der US Supreme Court noch in Swift v. Tyson entschieden, dass die Bundesgerichte im Rahmen ihrer diversity jurisdiction ein bundeseinheitliches common law anwenden und entwickeln können, was ihnen ursprünglich eine erhebliche Bedeutung bei der Normbildung im Privatrecht verliehen hatte.1007 Diese Entscheidung und damit zugleich auch die Idee eines durch die Bundesgerichte zu pflegenden federal common law wurden im Jahr 1938 jedoch in der Sache Erie R. Co. v. Tompkins1008 verworfen. Der Fall betraf einen Sachverhalt aus Pennsylvania, in dem ein Passant auf dem Gelände der beklagten Eisenbahngesellschaft von einem Zug erfasst und schwer verletzt wurde. Da er sich als „trespasser“ unbefugt auf dem Bahngelände aufhielt, stand ihm nach dem common law Pennsylvanias kein Schadensersatzanspruch zu. Die Bundesgerichte hatten nun zu beurteilen, ob ein Anspruch aus dem federal common law gegeben war. Die erste Instanz entschied, dass aus Sicht des federal common law auch gegenüber einem trespasser strengere Sorgfaltspflichten bestünden und urteilte zugunsten des Klägers. Diese Entscheidung wurde jedoch vor dem US Supreme Court aufgehoben. Die Mehrheit der Richter in Erie R. Co. v. Tompkins sah nämlich die Entscheidung in Swift v. Tyson, welche die Existenz eines federal common law bejaht hatte, aus verschiedenen Gründen als verfassungswidrig an.1009 Zum einen sei das Konzept eines bundeseinheitlichen Zivilrechts zu vage und unbestimmt, um eine taugliche Entscheidungsgrundlage für die Bundesgerichte bilden zu können. Zum anderen sei es nicht hinzunehmen, dass in einem Rechtsstreit zwischen zwei Angehörigen desselben Staates vor den einzelstaatlichen Gerichten 1005 Siehe Heydebrand/Seron, Rationalizing Justice, 1990, S. 36 ff., 161 ff.; Epp, External Pressure and the Supreme Court’s Agenda, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 255 ff. 1006 Hart/Wechsler, The Federal Courts and the Federal System, 1953, S. 229 ff.; siehe heute 28 U.S.C. § 1331. 1007 Siehe oben § 3 C II, S. 195 ff. 1008 304 U.S. 64 (1938). 1009 Erie R. Co. v. Tompkins, 304 U.S. 64, 71 ff. (1938), per Brandeis J.
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state common law anzuwenden sei, während in Fällen der diversity jurisdiction vor den Bundesgerichten möglicherweise abweichendes federal common law gelte. Die damit durch das Gericht aufgegriffene Problematik eines unterschiedlichen Entscheidungsmaßstabs als Folge des Urteils in Swift bestand selbst nach dem Judiciary Act 1875 fort, der die Zuständigkeit der Bundesgerichte, wie dargelegt, auf alle federal questions erstreckt hatte. Denn die Möglichkeit, dass ein Bundesgericht in einem Rechtsstreit federal common law anwenden könnte, wurde nicht als eine federal question in diesem Sinne begriffen, so dass die Zuständigkeit der Bundesgerichte in common law-Fällen weiterhin nur in den Konstellationen der diversity jurisdiction bestand und in allen anderen Konstellationen die einzelstaatlichen Gerichte auf der Grundlage ihres jeweiligen state common law urteilten.1010 Schließlich, so der Supreme Court in Erie, erlaube es die verfassungsrechtliche Aufgabenverteilung zwischen den Einzelstaaten und dem Bund nicht einmal dem Bundesgesetzgeber, das Zivilrecht einheitlich zu regeln, weshalb es a fortiori auch nicht in der Macht der Bundesgerichte stehen dürfe, ein allgemeingültiges common law herauszuarbeiten.1011 Folglich hatten die federal courts in common law-Streitigkeiten zukünftig das einschlägige state law anzuwenden und durften keine eigenständige Normbildung mehr betreiben. Auf dieser Grundlage verlor insbesondere der US Supreme Court rasch das Interesse an privatrechtlichen Streitigkeiten, die nach dem common law zu beurteilen waren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts sah er es nicht mehr als seine Aufgabe an, zivilrechtliche Fälle, die aufgrund der diversity jurisdiction vor die Bundesgerichte gelangt waren, anhand des einzelstaatlichen common law zu überprüfen, sondern fokussierte sich ganz auf die federal question jurisdiction sowie die Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten.1012 Ein umfassender Bericht über die Entscheidungspraxis des US Supreme Court aus dem Jahr 1972 fasste diese Entwicklung mit den folgenden, plastischen Worten zusammen: „Issues that would have been decided on the merits a generation ago are passed over by the Court today […].“1013
1010
Barrett, 94 Va. L. Rev. 813, 829 (2008); Purcell, Litigation and Inequality, 1992, S. 60. Erie R. Co. v. Tompkins, 304 U.S. 64, 78 f. (1938), per Brandeis J. 1012 Gilmore, The Ages of American Law, 1977, S. 61; Griswold, 60 Cornell L. Rev. 335, 342 ff. (1975); Purcell, The Story of Erie, in: Clermont (Hrsg.), Civil Procedure Stories, 2. Aufl. 2008, S. 21 (75 f.); siehe auch Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 102 mit Fn. 273. 1013 Federal Judicial Center, Report of the Study Group on the Caseload of the Supreme Court, 1972, S. 2. 1011
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Auch auf der Ebene der US Courts of Appeals spielten klassische privatrechtliche Streitigkeiten im Laufe der Zeit eine immer geringere Rolle.1014 Hierfür war neben der Beseitigung des federal common law auch entscheidend, dass die Mindeststreitsummen, die im Rahmen der diversity jurisdiction erreicht werden müssen, um in einem common law-Fall die Zuständigkeit der Bundesgerichte zu begründen, kontinuierlich angehoben wurden.1015 Während der erforderliche Streitwert zu Beginn des 20. Jahrhunderts US $ 2000,– betrug, erhöhte er sich im Jahr 1958 auf US $ 10.000,– und liegt seit 1996 gemäß 28 U.S.C. § 1332 bei US $ 75.000,–. Privatrechtliche Streitigkeiten, die unter diesem Wert liegen und keine federal question aufwerfen, können dementsprechend nicht mehr vor die Bundesgerichte gelangen.
2. Die einzelstaatliche Ebene Praktische Auswirkungen für die Normbildung im Privatrecht hatte die Reformbewegung hauptsächlich auf der Ebene der state courts. Dabei stärkte die Erie-Doktrin das Normbildungspotential der einzelstaatlichen Appellationsgerichte, da mit der Figur des federal common law zugleich auch ein mögliches Korrektiv bzw. ein Kontrollmechanismus gegenüber der Rechtsprechung dieser Gerichte weggefallen war.1016 In der Tat zeigten sich die state appellate courts nun zunehmend gegenüber der Idee aufgeschlossen, ihre Entscheidungen weniger als Rechtskontrolle der Einzelfallentscheidung zu begreifen, sondern als Mittel einer gesellschaftsbezogenen, abstrakten Normbildung.1017 Dieses neue Selbstverständnis fand in verschiedenen Rahmenbedingungen eine Stütze.
a) Die Bedeutung gerichtsverfassungsrechtlicher und prozessualer Reformen Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden in zahlreichen Einzelstaaten zwischen der Eingangsinstanz und den jeweiligen supreme courts so genannte intermediate appellate courts geschaffen.1018 Diese erlaubten es einerseits, das Interesse der Prozessparteien an einer Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils im 1014 Zu statistischen Einzelheiten Baum/Goldman/Sarat, 16 Law & Soc’y Rev. 291, 294 ff. (1981–1982) sowie Landes/Posner, 19 J.L. & Econ. 249, 253 (1976). 1015 Friedman, American Law in the 20th Century, 2002, S. 260; Heydebrand/Seron, Rationalizing Justice, 1990, S. 166. 1016 Vgl. Rubin, 13 Sup. Ct. Econ. Rev. 19, 26 (2005); Zywicki, 97 Nw. U. L. Rev. 1551, 1613 ff. (2003). 1017 Friedman, A History of American Law, 3. Aufl. 2005, S. 551; Kagan/Cartwright/ Friedman/Wheeler, 76 Mich. L. Rev. 961, 980 (1978). 1018 Hierzu ausführlich Kagan/Cartwright/Friedman/Wheeler, 30 Stan. L. Rev. 121, 130 ff. (1977) sowie dies., 76 Mich. L. Rev. 961, 972 ff. (1978); im Überblick Friedman, American Law in the 20th Century, 2002, S. 43 und Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 11 f.
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Sinne eines „right to appeal“ zu befriedigen, und gaben andererseits den höchsten einzelstaatlichen Gerichten trotz einer immer stärker anschwellenden Prozessflut1019 den notwendigen Freiraum, um ihre Ressourcen für die Behandlung rechtspolitisch besonders interessanter Fragen einzusetzen.1020 Dementsprechend erhielten die state supreme courts eine große Freiheit bei der Frage, ob sie einen Fall überhaupt zur Entscheidung annehmen.1021 Vorbildhaft hierfür war wiederum die Zuständigkeitsregelung des US Supreme Court, der bereits seit Einführung der federal intermediate appellate courts im Jahr 18911022 in den Verfahren, die nicht die Verfassungsmäßigkeit eines Akts der öffentlichen Gewalt betrafen, regelmäßig nur noch aufgrund eines ermessensabhängigen writ of certiorari tätig wurde.1023 Durch den Judiciary Act 1925 wurde diese Entwicklung für den US Supreme Court schließlich endgültig besiegelt und entfaltete auch eine starke Vorbildwirkung für die state supreme courts. Das Ermessen bei der Auswahl der zu entscheidenden Fälle trug dabei der Forderung Pounds Rechnung, nach der ein durchorganisiertes „Management“ in einem modernen Gericht nicht weniger vonnöten sei als in einer modernen Fabrik.1024 Hierdurch sollte der Umstand ausgeglichen werden, dass die Regelbildung in einem adversarialen System grundsätzlich von der individuellen Prozessführung durch Private abhängt.1025 Dabei erschien die traditionelle, passive Rolle der Gerichte einem Zeitalter mit zunehmend komplexeren sozialen Konflikten nicht mehr angemessen.1026 Ab den 1930er Jahren wurde daher in immer stärkerem Maß eine Rationalisierung der Gerichtsverfahren angestrebt, die den gesellschaftlichen Ertrag der Rechtsprechung erhöhen sollte. Eine Voraussetzung hierfür war es, die Rolle des Richters nicht mehr ausschließlich oder vornehmlich als eine rückwärtsblickend-streitentscheidende zu verstehen, sondern als eine vorwärtsblickend-regulierende. Folgerichtig konstatiert Nelson für den Zeitraum ab der Mitte des 20. Jahrhunderts eine fortschreitende Bürokratisierung der Rechtsprechung in den Vereinigten Staa-
1019 Hierzu im Überblick Friedman, The Litigation Revolution, in: Grossberg/Tomlins, The Cambridge History of Law in America, Band III, 2008, S. 175 ff. und R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 59 ff. 1020 Hall, The Courts, 1790–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of American Law, Band II, 2008, S. 106 (112 f.); Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 17. 1021 Kagan/Cartwright/Friedman/Wheeler, 30 Stan. L. Rev. 121, 130 ff. (1977) sowie dies., 76 Mich. L. Rev. 961, 981 ff. (1978). 1022 Siehe oben § 3 C I, S. 195. 1023 Hall, The Courts, 1790–1920, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambrigde History of Law in America, Band II, 2008, S. 106 (126); Perry, Deciding to Decide, 1991, S. 299 f. 1024 Pound, Organization of Courts, 1940, S. 286. 1025 Siehe Cardozo, The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 145. 1026 Heydebrand/Seron, Rationalizing Justice, 1990, S. 117.
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ten.1027 Die damit verbundene Diskussion um „managerial judges“ betrifft zwar in erster Linie die aktive Beeinflussung des Prozessablaufs in erster Instanz durch den trial judge.1028 Erscheinungsformen des so genannten case management sind dabei insbesondere die aktive Steuerung der pre-trial discovery, von Vergleichsverhandlungen sowie die Implementierung gerichtlicher Entscheidungen und Auflagen.1029 Aber auch für die Ebene der appellate courts erlangte der Gedanke einer gezielten richterlichen Beeinflussung von Streitverfahren eine weit reichende Bedeutung. Auch hier wurde das klassische Ideal einer neutralen Ordnungsfunktion des Gerichts im rechtlichen Kampf Privater eingeschränkt, um eine effektivere Nutzung der höchstrichterlichen Ressourcen im öffentlichen Interesse zu erreichen.1030 So bewegte sich die Appellationsrechtsprechung durch Institute wie das Annahmeermessen der supreme courts sukzessive weg von einer Fehlerkontrolle in dem konkreten Rechtsstreit und hin zu einer normbildenden Funktion im Dienste der Gesellschaft.1031 „Appellants could not merely argue that the trial court had committed ‘errors’. They had to demonstrate that they deserved to be heard for special reasons. When addressing the modern high-discretion supreme court, therefore, appellants often emphasized the case’s legal significance and social consequences, for which the court was urged to assume responsibility.“1032
Somit bildete sich für die intermediate appellate courts einerseits und die state supreme courts andererseits ein unterschiedliches funktionelles Verständnis des Appellationsprozesses heraus. Während auf der mittleren Rechtsmittelebene die Frage, ob in dem jeweiligen Streitverfahren das Recht korrekt angewendet worden ist („correctness review“), zumindest über weite Strecken des 20. Jahrhunderts eine erhebliche eigenständige Bedeutung neben der Frage behielt, ob eine erneute Entscheidung des Streitfalls einen relevanten Beitrag zur Fortentwicklung des Rechts würde leisten können, rückte auf der Ebene der supreme courts dieser Gedanke der Fortentwicklung des Rechts ganz in den Vordergrund, was mit dem Begriff eines „institutional review“ umschrieben wird.1033 In diesem Rahmen war es für die supreme courts folglich nicht mehr
1027
Nelson, The Legalist Reformation, 2001, S. 342 ff. Grundlegend Resnik, 96 Harv. L. Rev. 374, 386 ff., 414 ff. (1982) m.w.N. sowie im Überblick Böhm, Amerikanisches Zivilprozessrecht, 2005, Rdnr. 492 ff. und Langbein, 52 U. Chi. L. Rev. 823, 858 ff. (1985). 1029 Resnik, 96 Harv. L. Rev. 374, 386 ff. (1982). 1030 Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 49. 1031 Kagan/Cartwright/Friedman/Wheeler, 76 Mich. L. Rev. 961, 983 (1978); Leflar, Internal Operating Procedures of Appellate Courts, 1976, S. 1 ff. 1032 Kagan/Cartwright/Friedman/Wheeler, 76 Mich. L. Rev. 961, 984 (1978). 1033 Böhm, Amerikanisches Zivilprozessrecht, 2005, Rdnr. 178; Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 17. 1028
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erstrebenswert, die Fortentwicklung des Rechts nur im Wege kleiner Schritte zu moderieren, sondern erlangten diese Gerichte eine quasi-legislative Rolle.1034 Ganz in diesem Sinne der supreme courts als normbildende Institutionen hielt es Llewellyn für notwendig, exemplarische Streitfälle in geordneter Reihenfolge einer höchstrichterlichen Entscheidung zuzuführen. Die obersten Gerichte dürften sich hierbei nicht der zufälligen Abfolge privater Prozessführung unterwerfen, die in der Regel nur Bruchstücke eines gesellschaftlichen Problems sichtbar werden lasse. Vielmehr erlaube einzig die gesteuerte Zusammenfassung ähnlich gelagerter Fälle ein umfassendes Bild.1035 Diese Sichtweise spiegelt in pointierter Form eine prägende Entwicklung der höchstrichterlichen US-amerikanischen Rechtsprechung nach dem Zweiten Weltkrieg wider, nämlich den Umstand, dass sich diese Rechtsprechung nun weniger fallorientiert, sondern mehr und mehr problemorientiert verhielt: „What this shift signifies is the increasing subordination of the individual case in judicial policymaking, as well as the expansion of judicial responsibility more nearly to overlap the responsibilities of other governmental institutions. The individual case and its peculiar facts have on occasion become mere vehicles for an exposition of more general policy problems. Consequently, somewhat less care can be devoted, by lawyers and judges alike, to the appropriateness of particular plaintiffs and to the details of their grievances.“1036
Eine großangelegte empirische Studie über die Entscheidungspraxis der einzelstaatlichen supreme courts in den Jahren 1870 bis 1970 bestätigt diesen Funktionswandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung in den USA. Im Laufe der Zeit wandten sich die Appellationsgerichte in zunehmendem Maße von klassischen, eher technisch geprägten Bereichen des Privatrechts wie zum Beispiel dem Grundstücksrecht ab und konzentrierten sich auf rechtspolitisch umstrittenere Gebiete wie insbesondere das Deliktsrecht.1037 Diese Tendenz verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch und ergriff neben den state supreme courts auch die Ebene der intermediate appellate courts. Auf dieser Ebene wurde nämlich eine Art informeller writ of certiorari eingeführt, indem Rechtsstreitigkeiten, denen keine erkennbare grundsätzliche Bedeutung zukommt, zunehmend ohne mündliche Verhandlung und ohne Entscheidungsgründe abgehandelt werden.1038 Durch diese ermessensabhängigen Mittel soll sichergestellt werden, dass nur noch gesamtgesellschaftlich bedeutsame Probleme die volle Aufmerksamkeit der Appellationsgerichte erlangen.1039 1034
Siehe R. Posner, 119 Harv. L. Rev. 31, 35 (2005), in Bezug auf den US Supreme Court. Llewellyn, The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 263. 1036 Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 9. 1037 Kagan/Cartwright/Friedman/Wheeler, 30 Stan. L. Rev. 121, 132 ff. (1977) sowie dies., 76 Mich. L. Rev. 961, 987 ff. (1978). 1038 Hierzu näher unten § 5 A III 2, S. 379 ff. 1039 Resnik, 49 Ala. L. Rev. 133, 207 f. (1997) m.w.N. 1035
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b) Der Einfluss des Rechtsprechungsstils Bei den Rechtsfragen, die den Gerichten als gemeinwichtig erschienen, manifestierte sich das verstärkte Normbildungsinteresse der state appellate courts auch in dem Stil der Entscheidungen. So wurde unter anderem die Doktrin der Präjudizienbindung für solche precedents zunehmend lockerer gehandhabt, die noch aus der Periode der formal orientierten Rechtsprechung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stammten.1040 Im Gegenzug versuchten die amerikanischen Gerichte die normative Wirkung ihrer neuen, rechtspolitisch oft weit ausgreifenden, Urteile zu stärken. Dies geschah dadurch, dass sie denjenigen Aussagegehalt der Entscheidung, der über den konkreten Fall hinausweist, in möglichst eindeutiger und abstrakter Form formulierten.1041 Insoweit besteht eine gewisse Parallele zu den Effekten, welche die Leitsatzpraxis des Bundesgerichtshofs in Deutschland für die Rezeption von Präjudizien hat. Als Ergebnis dieser Entwicklung ist die klassische case law-Methode, die auf einer präzisen Analyse des Sachverhalts, der zu klärenden Rechtsfrage und der Entscheidungsformel beruht, in den USA in die Defensive geraten. An ihre Stelle tritt in zunehmendem Maße eine abstrakte Betrachtung des normativen Aussagegehalts der Entscheidung, die sich von dem jeweils entschiedenen Fall weit gehend löst.1042 Darüber hinaus kommt rechtspolitischen Erwägungen in der Urteilspraxis der US-amerikanischen Appellationsgerichte häufig eine herausgehobene Bedeutung zu. Eine erste Grundlage findet dies bereits in der Vorbereitung der Urteilsfindung durch die Parteivertreter. Anders als in England, wo das Moment der mündlichen Verhandlung im Zentrum steht,1043 dominieren hierbei ausführliche schriftliche appellate briefs.1044 Diese beziehen sich häufig nicht nur auf das einschlägige Gesetzesrecht und case law, sondern auch auf die politischen, sozialen oder ökonomischen Implikationen der anstehenden Entscheidung und prägen den weiteren Verfahrensablauf häufig maßgeblich. Beispielsweise berücksichtigen die Gerichte Gesichtspunkte, die zwar zugunsten des Appellationsführers sprechen würden, die dieser aber in seinem appellate brief nicht aufgeworfen hat, in der Regel nicht mehr.1045 Vor diesem Hintergrund werden die vorbereitenden Schriftsätze plastisch als „heavy artillery of appel1040
Nelson, The Legalist Reformation, 2001, S. 271. Ausführlich Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1248 ff. (2007) m.w.N. 1042 Collier, 1988 Wis. L. Rev. 771, 813 f.; Schauer, 62 U. Chi. L. Rev. 1455 ff. (1995); Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1248 (2007). 1043 Dazu oben § 3 B VI 1, S. 152 f. 1044 Cohen, Inside Appellate Courts, 2002, S. 52 ff.; Karlen, Appellate Courts in the United States and England, 1963, S. 150 f.; Meador, Appellate Courts in the United States, 2. Aufl. 2006, S. 49. 1045 Miller v. Fairchild Industries, Inc., 797 F.2d 727, 738 (9th Cir. 1986): „The Court of Appeals will not ordinarily consider matters on appeal that are not specifically and distinctly argued in appellant’s opening brief […].“ 1041
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late practice“ beschrieben.1046 Ergänzt wird diese umfangreiche schriftliche Aufarbeitung der rechtlichen und außerrechtlichen Implikationen eines Falls durch die Möglichkeit von Interessengruppen, die selbst nicht Partei des jeweiligen Verfahrens sind, ihren Standpunkt im Wege so genannter amicus curiaeSchriftsätze in die Urteilsfindung einzubringen.1047 Auch bei diesen Interventionen liegt der Schwerpunkt typischerweise ganz auf den normbildenden Aspekten und nicht auf der zu treffenden Streitentscheidung für den konkreten Fall. Schließlich sind der Stil der Appellationsrechtsprechung in den Vereinigten Staaten und deren Neigung zu umfassenden Normbildungen auch dadurch beeinflusst worden, dass über das 20. Jahrhundert hinweg die Zahl der dissenting opinions stetig angestiegen ist.1048 Allerdings kann das Phänomen separater Voten für das Selbstverständnis der Richter und die Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung je nach dem jeweiligen Kontext verschiedene Bedeutungen haben. So wurde im Rahmen der Entwicklung in England darauf hingewiesen, dass parallele Voten und dissenting opinions dort typischerweise ein Ausdruck für die individuellen Bemühungen der Richter sind, den gegenwärtigen Rechtsstreit einer richtigen Lösung zuzuführen.1049 Umgekehrt kann eine concurring opinion oder dissenting opinion aber auch ein verstärktes Interesse an der Fortentwicklung des Rechts durch die Gerichte manifestieren. Aus dieser Perspektive, die in den Vereinigten Staaten vorherrscht, besteht der eigentliche Zweck solcher Voten in der Beeinflussung der zukünftigen, dem konkreten Streitentscheid nachfolgenden Entwicklung: „[T]he view of today’s dissenters might become tomorrow’s law.“1050
In ähnlicher Weise erkennt der Richter am US Supreme Court Scalia, der für seine grundlegenden dissenting opinions bekannt ist, den Wert abweichender Voten maßgeblich in einem zukunftsgerichteten Rechtsdiskurs, für den das höchste Gericht ein Forum bieten müsse: „The Court itself is not just the central organ of legal judgment; it is center stage for significante legal debate.“1051
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So Coffin, On Appeal, 1994, S. 107. Näher dazu unten § 5 A III 1 b bb, S. 378 und § 5 B III 3 b, S. 420 ff. 1048 Friedman/Kagan/Cartwright/Wheeler, 33 Stan. L. Rev. 773, 785 ff. (1981); Galanter, [1992] 55 M.L.R. 1, 17; R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 237 f. 1049 Siehe oben § 3 B VI 1, S. 157 f. 1050 Friedman/Kagan/Cartwright/Wheeler, 33 Stan. L. Rev. 773, 785 (1981); siehe auch Herzog/Karlen, Attacks on Judicial Decisions, in: Cappelletti (Hrsg.), Civil Procedure, International Encyclopedia of Comparative Law, Band XVI, Chapter 8, 1982, Rdnr. 84. 1051 Zitiert nach O’Brien, Institutional Norms and Supreme Court Opinions: On Reconsidering the Rise of Individual Opinions, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 91 (112). 1047
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Schließlich belegt auch eine Untersuchung zu den Funktionen, die die Richter am Washington State Supreme Court mit dissenting opinions verbinden, dass die Vorwegnahme möglicher zukünftiger Rechtsentwicklungen und die Präsentation innovativer normativer Ideen hierbei eine große Rolle spielen.1052 Während der anhängige Rechtsstreit durch das Appellationsgericht einer eindeutigen Lösung im Sinne einer Bestätigung oder einer Verwerfung des vorangehenden Urteils zugeführt werden muss, gebieten die normativen Implikationen, die höchstrichterliche Entscheidungen für die Zukunft entfalten, nach US-amerikanischem Verständnis somit ein möglichst breites Spektrum richterlicher Ausdrucksmöglichkeiten.1053 Ihre Zukunftsbezogenheit verbindet concurring opinions und dissenting opinions dabei mit einem obiter dictum, das ebenfalls nicht zur Entscheidung des konkreten Rechtsstreits erforderlich ist, aber Perspektiven für die zukünftige Rechtsentwicklung geben kann. Folgerichtig stellen concurring opinions und dissenting opinions in der Rechtsprechungspraxis der Vereinigten Staaten häufig geradezu ein Sammelbecken rechtspolitischer Erwägungen dar.1054 So berichtet etwa Llewellyn, dass dissenting opinions am New York Court of Appeals sehr ungewöhnlich gewesen seien, bis Cardozo an dieses Gericht berufen wurde und mit seinem „style of reason“ zugleich eine Kultur der abweichenden Auffassungen etabliert habe, die innerhalb weniger Jahre durchschnittlich 1/7 aller Urteile des New York Court of Appeals erfasste.1055 Die starke policy-Orientierung vieler dissenting opinions kann dabei mittelbar auch auf den Stil des Mehrheitsvotums ausstrahlen. Denn je stärker eine dissenting opinion rechtspolitische Gesichtspunkte herausstellt, wird auch das Mehrheitsvotum genötigt, sich mit diesen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen. Auf diesem Wege bestimmen politische, soziale und ökonomische Erwägungen häufig den Urteilsstil amerikanischer Appellationsentscheidungen.1056 Zudem kann der Widerspruch einer Minderheit der entscheidenden Richter in einer dissenting opinion für die Mehrheit der entscheidenden Richter auch einen Anreiz beseitigen, die eigenen Entscheidungsgründe auf die Besonderheiten des jeweiligen Falls zu beschränken, um hierdurch einen offenen Bruch mit der Minderheitsauffassung möglichst noch zu vermeiden.1057 Vor dem Hintergrund dieses Wechselspiels hat Richard Posner 1052 Sheldon, The Incidence and Structure of Dissensus on a State Supreme Court, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 115 (120 ff.). 1053 Sheldon, The Incidence and Structure of Dissensus on a State Supreme Court, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 115 (116 f.). 1054 Siehe H. Jacob, Courts and Politics in the United States, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 16 (71). 1055 Llewellyn, The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 463. 1056 Shapiro, 14 Law & Soc’y Rev. 629, 652 (1980). 1057 Vgl. die bei Sunstein, Beyond Judicial Minimalism, Harvard University Law School Public Law & Legal Theory Research Paper No. 08–40, 2008, S. 3, berichteten Erwägungen des Chief Justice Roberts.
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die Funktion der dissenting opinion in US-amerikanischen Appellationsgerichten als eine strategische Option bezeichnet, die das Gesamtgefüge der richterlichen Normbildung maßgeblich beeinflusst.1058 Schließlich ist es in den Vereinigten Staaten seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr üblich, dass alle Richter des entscheidenden Appellationsgerichts auch dann einzelne Voten verfassen, wenn sie im Ergebnis und in den wesentlichen Gründen für die Entscheidung übereinstimmen.1059 Gerade für die Ebene der supreme courts wird hierdurch im Zusammenspiel mit dem Umstand, dass diese Gerichte ihre Fälle unter Beteiligung aller Richter entscheiden, tendenziell eine möglichst breite Basis für das maßgebliche Mehrheitsvotum hergestellt. Die Präferenz für eine einheitliche Stimme derjenigen Appellationsrichter, die sich in den grundsätzlichen Fragen einer Entscheidung verständigen können, findet ihr historisches Vorbild dabei in der Person des Chief Justice Marshall, der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts dem US Supreme Court vorsaß. Durch klare und idealerweise sogar einstimmige Urteile wollte er das Gewicht des US Supreme Court im Verhältnis zu den anderen Staatsgewalten stärken.1060 In diesem Streben, die Bedeutung der höchstrichterlichen Urteile durch ihre äußerliche Vereinheitlichung zu erhöhen, unterscheidet sich die amerikanische Entscheidungsform deutlich von derjenigen in England, wo einerseits die Praxis der seriatim opinions gepflegt wird und andererseits auf der höchsten Ebene nicht alle zwölf Richter über einen Fall entscheiden, sondern nur fünf Richter.1061 Dabei verstärkt das US-amerikanische Modell den normbildenden Effekt der höchstrichterlichen Urteile im Vergleich mit England wesentlich. Denn durch einheitliche Mehrheitsvoten, denen sich möglichst viele Richter anschließen, schwindet die Gefahr, dass Nuancierungen in den einzelnen Voten des Mehrheitslagers die Bildung einer tragfähigen ratio decidendi als Vorgabe für zukünftige Fälle schwächen.1062 Dementsprechend findet an den US-amerikanischen supreme courts in der Regel ein langer Verhandlungsprozess unter denjenigen Richtern statt, die ein gemeinsames Votum beabsichtigen, 1058 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 32 ff. Ähnlich auch Maltzman/Spriggs/Wahlbeck, Strategy and Judicial Choice: New Institutionalist Approaches to Supreme Court Decision-Making, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 43 (55): „[J]ustices regularly make suggestions and threats and even circulate separate opinions as a mechanism for extracting concessions from the majority opinion author.“ 1059 Tiersma, 82 Notre Dame L. Rev. 1187, 1229 ff. (2007). 1060 O’Brien, Institutional Norms and Supreme Court Opinions: On Reconsidering the Rise of Individual Opinions, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 91 (92 f.); Zweigert, Empfiehlt es sich, die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des überstimmten Richters (Dissenting Opinion) in den deutschen Verfahrensordnungen zuzulassen?, in: Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages Nürnberg 1968, Band I, 1968, D 1 (26). 1061 Hierzu oben § 3 B VI 1, S. 154 ff. 1062 Siehe zu diesem Phänomen im englischen Recht oben § 3 B VI 1, S. 155 ff. und § 3 B VI 2 d, S. 166 ff.
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um einen möglichst breiten, konsensfähigen Urteilsinhalt auszuarbeiten.1063 In ähnlicher Weise versuchen umgekehrt auch mögliche dissenters ihre Reihen zu schließen, damit ihre Argumentation die größtmögliche Chance hat, in etwaigen späteren Verfahren mehrheitsfähig zu werden. Zusammenfassend bilden Mehrheits- und Minderheitsvoten an den Appellationsgerichten in den Vereinigten Staaten somit ein komplexes Gefüge, dass sich maßgeblich auf die intensive, weniger auf den konkreten Fall als vielmehr auf die zukünftige Rechtsentwicklung bezogene, normbildende Funktion dieser Gerichte zurückführen lässt.
c) Zwei Beispiele aus der Urteilspraxis der State Supreme Courts aa) Schadensersatz bei misslungener Sterilisation in Minnesota Ein anschauliches Beispiel dafür, dass die state supreme courts mit dem Aufkommen der rechtssoziologischen und der rechtsrealistischen Bewegung geneigter waren, Zivilverfahren unabhängig von ihrer streitentscheidenden Dimension zur Klärung allgemeinbedeutsamer rechtspolitischer Fragen nutzbar zu machen, bildet die Entscheidung des Supreme Court of Minnesota in der Sache Christensen v. Thornby1064 aus dem Jahr 1934, in der es um die schadensrechtlichen Folgen einer missglückten Sterilisation ging. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt plante der Kläger, sich durch einen operativen Eingriff sterilisieren zu lassen, da er und seine Ehefrau darauf aufmerksam gemacht worden waren, dass weitere Schwangerschaften und Geburten das Leben der Ehefrau gefährden könnten. Der beklagte Chirurg empfahl eine Vasektomie des Klägers zur Vermeidung weiterer Risiken für die Ehefrau und führte diese auch durch. Nach der Operation informierte er den Kläger, dass der Eingriff erfolgreich gewesen sei und den Kläger sterilisiert habe. Gleichwohl wurde dessen Frau später erneut von ihm schwanger. Sie gebar ein gesundes Kind und trug selbst keine gesundheitlichen Schäden davon. Gleichwohl nahm der Kläger den Beklagten auf US $ 5000,– Schadensersatz in Anspruch, da er aufgrund der Schwangerschaft große Sorgen um die Gesundheit seiner Ehefrau ausgestanden habe und zudem erhebliche Kosten sowohl vor als auch nach der Geburt habe aufwenden müssen. Er stützte sich hierbei jedoch nicht auf einen Kunstfehler bei der Vasektomie, sondern auf den Gesichtspunkt des „deceits“, da die Angabe des Beklagten, dass die Operation den Kläger sterilisiert habe, objektiv falsch gewesen sei. Das erstinstanzliche Gericht verwarf die Klage, da der Vertrag über die Vasektomie sittenwidrig gewesen sei, weshalb der Kläger hieraus keine Rechte ge-
1063 1064
Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 16. 255 N.W. 620 (Minn. 1934).
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gen den Beklagten herleiten könne.1065 Der Supreme Court bestätigte diese Entscheidung, allerding nur im Ergebnis, nicht in der Begründung. So verwarf er ausdrücklich die Sittenwidrigkeit des Vertrags. Hierbei setzte er sich mit der gesetzlichen Rechtslage zu Sterilisationen und Abtreibungen in verschiedenen Staaten auseinander und kam zu dem Schluss, dass ein entsprechender Vertrag jedenfalls dann nicht unwirksam sei, wenn ein medizinisches Risiko weiteren Schwangerschaften entgegenstehe.1066 In der Folge lehnte der den Schadensersatzanspruch gleichwohl ab, da ein Anspruch aus deceit nicht nur eine objektiv falsche Aussage über die Erfüllung der vertraglich versprochenen Leistung erfordere, sondern auch eine Täuschungsabsicht (fraudulent intent). Diese habe der Beklagte nicht gehabt, da er irrig von der Wirksamkeit der Vasektomie ausgegangen sei. Darüber hinaus lägen die eingeklagten Schadensposten nicht im Schutzbereich der vertraglich vereinbarten Pflicht zur Sterilisation, die nur den Gesundheitsschutz der Ehefrau bezweckt habe.1067 Vor dem Hintergrund dieser fallspezifischen Hindernisse für einen Ersatzanspruch des Klägers hätte die Frage nach der Wirksamkeit des Vertrags bzw. dessen möglicher Sittenwidrigkeit allerdings dahinstehen können. Der Supreme Court of Minnesota nahm den Fall gleichwohl zum Anlass, eine brisante und – wie bereits die abweichende Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts belegt – umstrittene rechtspolitische Frage einer höchstrichterlichen Klärung zuzuführen. Hierin spiegelt sich der Geist eines verstärkten social engineering durch die Gerichte wider, der auf die gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse ausgerichtet ist und sich von den Zufälligkeiten des Anlassstreits löst.
bb) Die Herausbildung einer strikten Produkthaftung in Kalifornien Die beiden klassischen Urteile, die zu der Herausbildung einer strikten Produkthaftung in Kalifornien geführt haben und die untrennbar mit der Person des Richters Traynor verknüpft sind, bilden wiederum ein anschauliches Beispiel für das oben herausgestellte Potential, das concurring oder dissenting opinions den reformorientierten Rechtsprechungskreisen boten, um die Entwicklung des case law in ihrem Sinne zu beeinflussen. Den Ausgangspunkt bildete hierbei die Entscheidung Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno aus dem Jahr 1944.1068 In dem zugrunde liegenden Sachverhalt war eine Flasche mit einem Colagetränk in der Hand der Klägerin, einer Kellnerin, explodiert. Dies geschah, als sie die Flasche in dem Restaurant, in dem sie beschäftigt war, aus einer Kiste in den Kühlschrank legen wollte. Beklagte war die Firma, die die Flaschen abgefüllt und etwa zwei Tage vor der Ex1065 1066 1067 1068
Siehe Christensen v. Thornby, 255 N.W. 620, 621 (Minn. 1934). Christensen v. Thornby, 255 N.W. 620, 621 f. (Minn. 1934). Christensen v. Thornby, 255 N.W. 620, 622 (Minn. 1934). 150 P.2d 436 (Cal. 1944).
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plosion durch einen Angestellten an das Restaurant ausgeliefert hatte. Bei dem Unfall zog sich die Klägerin erhebliche Verletzungen zu, für die sie von der Beklagten Ersatz verlangte. Dabei gründete sie ihre Klage auf den negligence-Tatbestand und berief sich in diesem Zusammenhang auf die Doktrin „res ipsa loquitur“. Diese Doktrin erlaubt eine Art Anscheinsbeweis für das Vorliegen von negligence auf der Seite des Beklagten, wenn der festgestellte Schadensverlauf ohne einen solchen Sorgfaltsverstoß typischerweise nicht hätte eintreten können.1069 Die Mehrheitsauffassung in der Entscheidung des Supreme Court of California zum Fall Escola setzte sich nun vornehmlich mit der Frage auseinander, unter welchen konkreten Bedingungen die Doktrin „res ipsa loquitur“ auf schadensbringende Produkte angewendet werden kann und ob diese Voraussetzungen in dem konkreten Fall erfüllt waren. Hierbei konnten sich die Richter auf eine Vielzahl von Präjudizien stützen, welche die Doktrin bereits auf explodierende Flaschen mit kohlensäurehaltigen Getränken angewendet hatten.1070 Danach war der Schluss auf einen Sorgfaltsverstoß des Abfüllers der Flasche gerechtfertigt, wenn der Geschädigte beweisen konnte, dass die Flasche nach der Auslieferung weder durch ihn selbst noch durch einen Dritten unsachgemäß gehandhabt wurde, da das Bersten der Flasche in einem solchen Fall typischerweise nur auf einem zu hohen Befüllungsdruck oder auf einer unzureichenden Kontrolle der Flasche beruhen könne, was jeweils einen Sorgfaltsverstoß des Abfüllers begründe. In Anwendung dieser Maßstäbe auf den konkreten Fall ging die Mehrheitsauffassung davon aus, dass die Jury in der erstinstanzlichen Entscheidung ohne Rechtsfehler auf ein sorgfaltswidriges Verhalten der Beklagten geschlossen habe und bestätigte daher das für die Klägerin günstige Urteil.1071 Dem stimmte der Richter Traynor in seiner concurring opinion nur im Ergebnis zu. Nach seiner Auffassung sollte die Haftung des Produzenten für schadensbringende Produkte nicht länger von einem (vermuteten) Sorgfaltsverstoß abhängen, sondern als so genannte absolute liability allein an die objektiv fehlerhafte Herstellung des Produkts anknüpfen.1072 Diesen Gedanken, der von der Klägerseite nicht vorgetragen worden war,1073 entwickelte Traynor ohne nähere Bezugnahme auf den konkreten Fall anhand rechtspolitischer Erwägungen: „Even if there is no negligence, however, public policy demands that responsibility be fixed wherever it will most effectively reduce the hazards to life and health inherent in defective products that reach the market. It is evident that the manufacturer can anticipate 1069
Näher Prosser/Keeton, Torts, 5. Aufl. 1984, §§ 39 f. Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, 150 P.2d 436, 438 (Cal. 1944). 1071 Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, 150 P.2d 436, 438 ff. (Cal. 1944). 1072 Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, 150 P.2d 436, 440 (Cal. 1944). 1073 Siehe Geistfeld, Escola v. Coca Cola Bottling Co., in: Rabin/Sugarman (Hrsg.), Torts Stories, 2003, S. 229 (234). 1070
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some hazards and guard against the recurrence of others, as the public cannot. Those who suffer injury from defective products are unprepared to meet its consequences. The cost of an injury and the loss of time or health may be an overwhelming misfortune to the person injured, and a needless one, for the risk of injury can be insured by the manufacturer and distributed among the public as a cost of doing business.“1074
In erster Linie präsentierte Traynor sein Konzept der Produkthaftung somit aus rechtspolitischer Sicht, nämlich einerseits als einen Anreiz für die Hersteller, die Sicherheitsstandards zu erhöhen, und andererseits als eine verschuldensunabhängige Versicherung der Geschädigten durch den Hersteller. In dieser Seite des Votums spiegelt sich Traynors Nähe zum legal realism wider, der auf die realen Wirkungsfolgen von Rechtsregeln ein größeres Gewicht legt als auf ihre Ableitung aus autoritativen Quellen, insbesondere aus Präjudizien.1075 In der Folge ging Traynor aber auch auf die rechtsdogmatische Umsetzung seines Konzepts ein. Damit wollte er dieses auf eine weitere, neben die rechtspolitischen Erwägungen tretende Grundlage stellen und damit seine Akzeptanz erhöhen. Hierbei plädierte er für eine implizite Garantie (implied warranty) der Fehlerfreiheit des Produkts, an der sich der Produzent nicht nur im Rahmen des Vertragsrechts gegenüber seinen Vertragspartnern festhalten lassen müsse, sondern auch gegenüber sonstigen Geschädigten im Rahmen des Deliktsrechts.1076 Auch hierin verdeutlichte sich Traynors grundsätzliche Einstellung zum Rechtsprechungsprozess, die zwar die klassische case law-Methode durchaus einbezog, aber auch ein Moment akademischer Systematisierung pflegte.1077 Aus diesem Grund wurde Traynor als „a law professor’s judge“ bezeichnet.1078 Für den Fall Escola war die neue Sichtweise der Produkthaftung als eine verschuldensunabhängige Versicherungslösung im Ergebnis noch ohne Belang, da dieser Fall bereits anhand der tradierten Doktrin „res ipsa loquitur“ zugunsten der Geschädigten entschieden werden konnte. Auch in zwei weiteren Fällen zu explodierenden Flaschen, die der Supreme Court of California in den Jahren 19491079 und 19581080 zu entscheiden hatte, gelang es Traynor noch nicht, die Mehrheit der Richter von dem Konzept der strict liability zu überzeugen, sondern kam weiterhin die Doktrin „res ipsa loquitur“ zur Anwendung. Dabei wurde die Klage in dem späteren Fall von der Mehrheitsauffassung sogar abgewiesen, da die Voraussetzungen der Verschuldensvermutung nicht vorlagen. 1074
Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, 150 P.2d 436, 440 f. (Cal. 1944). Geistfeld, Escola v. Coca Cola Bottling Co., in: Rabin/Sugarman (Hrsg.), Torts Stories, 2003, S. 229 (243 f.); White, Tort Law in America, 1985, S. 63 ff. sowie allgemein zum legal realism oben § 3 C IV 4, S. 211 ff. 1076 Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, 150 P.2d 436, 441 f. (Cal. 1944). 1077 Geistfeld, Escola v. Coca Cola Bottling Co., in: Rabin/Sugarman (Hrsg.), Torts Stories, 2003, S. 229 (236). 1078 Kalven, 53 Cal. L. Rev. 189 (1965). 1079 Gordon v. Aztec Brewing Co., 203 P.2d 522 (Cal. 1949). 1080 Trust v. Arden Farms Co., 324 P.2d 583 (Cal. 1958). 1075
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Knapp zwanzig Jahre nach Escola konnte Traynor seinen Ansatz jedoch als einhellige Auffassung des Supreme Court of California etablieren. In der im Jahr 1963 anstehenden Entscheidung Greenman v. Yuba Power Products, Inc.1081 ging es um einen Fall, in dem der spätere Kläger durch eine Produktpräsentation in einem Geschäft und durch einen Herstellerkatalog auf ein Multifunktionswerkzeug aufmerksam geworden war, das als Säge, Bohrer und Drechselbank verwendet werden konnte. Er ließ sich dieses Werkzeug von seiner Ehefrau zu Weihnachten schenken und arbeitete damit zunächst problemlos, erlitt jedoch eines Tages schwere Kopfverletzungen, als ein Stück Holz während der Arbeit aus der Drechselmaschine flog. Er verklagte daraufhin den Verkäufer und den Hersteller des Geräts wegen eines Mangels des Werkzeugs sowohl auf der Grundlage einer Garantieverletzung als auch auf der Grundlage von negligence. In der ersten Instanz wurde die Klage gegen den Verkäufer abgewiesen, während die Klage gegen den Hersteller erfolgreich war, wobei das Jury-Urteil offenließ, ob dies auf der Grundlage einer Garantieverletzung oder der Annahme von negligence auf Seiten des Herstellers beruhte. Während der Kläger gegen die Klageabweisung in Bezug auf den Verkäufer einen appeal einlegte, wandte sich der Hersteller mit seinem appeal gegen seine eigene Verurteilung. In der abschließenden Entscheidung des Supreme Court of California spielte einzig dieser appeal des Herstellers eine Rolle. Diesmal verfasste Traynor das einstimmige Urteil des Gerichts. Hierbei ging er auf die Frage einer möglichen Haftung des Herstellers aus negligence nicht näher ein, obgleich der Kläger in der ersten Instanz umfangreichen Beweis für die Behauptung angetreten hatte, dass der Unfall auf einer sorgfaltswidrigen Konstruktion und Produktion des Werkzeugs beruhte.1082 Vielmehr legte Traynor bereits die Prämisse zugrunde, dass für Körperverletzungen aus fehlerhaften Produkten eine deliktische strict liability bestehe, die von einer Vertragsbeziehung zwischen dem Hersteller und dem Geschädigten sowie einer darin enthaltenen vertraglichen Garantie unabhängig sei.1083 Zur Begründung bezog er sich einerseits auf eine Reihe von Fällen, die in verschiedenen Jurisdiktionen der USA seit dem Urteil in Escola ergangen waren. Andererseits verwies er aber auch ausdrücklich auf seine eigenen Ausführungen in der concurring opinion zu Escola, die den Gedanken der Produkthaftung als verschuldensunabhängige Versicherungslösung in die Diskussion eingeführt hatte.1084 Auf diesem Wege wurde die concurring opinion in Escola mittelbar zu einer autoritativen Grundlage für den Durchbruch der strict liability im Produkthaftungsrecht. Diese Gefährdungshaftung galt fortan als Ausdruck eines progressiven Verbraucherschutzes, zumal Traynor den Gedanken, dass Verbraucher gegenüber den großen Konzernen 1081 1082 1083 1084
377 P.2d 897 (Cal. 1963). Siehe Greenman v. Yuba Power Products, Inc., 377 P.2d 897, 899 (Cal. 1963). Greenman v. Yuba Power Products, Inc., 377 P.2d 897, 900 f. (Cal. 1963). Greenman v. Yuba Power Products, Inc., 377 P.2d 897, 899, 901 (Cal. 1963).
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„machtlos“ (powerless) seien, in Greenman noch einmal ausdrücklich hervorgehoben hatte.1085 Somit setzte sich der Traynorsche Ansatz in den 1960er Jahren als rechtspolitische Grundlage der strikten Produkthaftung in den USA mehr und mehr durch und ging schließlich auch in die Fassung des Restatement (Second) of Torts § 402A (1965) ein.1086
VI. Die Einwirkung des Verfassungsrechts auf den Zivilprozess Als eine Ausprägung des progressiven Rechtsdenkens erlangte zur Mitte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten schließlich auch das Verfassungsrecht eine zunehmende Bedeutung für die Ausrichtung des Zivilprozesses. Maßgeblicher Katalysator war dabei die civil rights-Bewegung, insbesondere das Verbot der Diskriminierung farbiger Bürger. Paradigmatisch hierfür stehen die Fälle Shelley et. ux. v. Kraemer et ux./McGhee et ux. v. Sipes et al., die dem US Supreme Court im Jahr 1948 zur Entscheidung vorlagen.1087 In den zugrunde liegenden Sachverhalten, die in Missouri und Michigan spielten, hatte jeweils eine Vielzahl weißer Hauseigentümer in so genannten restrictive covenants wechselseitig vereinbart, dass sie ihre Grundstücke in einem abgegrenzten Wohngebiet nicht an Farbige veräußern oder vermieten dürfen. Die covenants hatten dabei eine dingliche Wirkung ähnlich einer Grunddienstbarkeit. Gleichwohl verkauften manche Eigentümer ihre Grundstücke an Farbige. Daraufhin nahmen einzelne Begünstigte der covenants die Gerichte in Missouri bzw. Michigan in Anspruch, um den farbigen Hauserwerbern die Nutzung der erworbenen Grundstücke zu untersagen. Die supreme courts von Missouri und Michigan bestätigten jeweils eine solche Untersagung. Hiergegen riefen die farbigen Erwerber den US Supreme Court an und rügten eine Verletzung ihrer Rechte aus dem 14. Verfassungszusatz der USA, der alle Einzelstaaten dazu verpflichtet, in ihrer Jurisdiktion jedermann dieselben Rechte (equal protection of the laws) zu gewähren. Die Verfahren wurden dabei massiv von Bürgerrechtsgruppen unterstützt, die in den besagten covenants ein maßgebliches Hindernis für die Integration farbiger Bürger und für deren gesellschaftliche Aufstiegschancen erblickten.1088 Dementsprechend stellten die Klägervertreter in ihren Schriftsätzen und in ihrer Prozessführung weniger die rein rechtlichen Argumente in den Mittelpunkt als vielmehr die sozialen und 1085
Greenman v. Yuba Power Products, Inc., 377 P.2d 897, 899, 901 (Cal. 1963). Siehe Geistfeld, Escola v. Coca Cola Bottling Co., in: Rabin/Sugarman (Hrsg.), Torts Stories, 2003, S. 229 (241 ff.) sowie Restatement (Second) of Torts § 402A Comment c. 1087 334 U.S. 1 (1948). 1088 Siehe Pritchett, Shelley v. Kraemer, in: Gilles/Goluboff (Hrsg.), Civil Rights Stories, 2008, S. 5 (12 ff.). 1086
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ökonomischen Implikationen der covenant-Praxis. In diesem Sinne bezeichnete eine der Klageschriften den Fall als „a test as to whether we will have a united nation or a country divided into areas and ghettos solely on racial or religious lines“.1089 Hingegen beriefen sich die Beklagtenvertreter maßgeblich auf ihnen günstige Präjudizien sowie auf sachenrechtliche Grundsätze. Zugunsten beider Seiten wurden zahlreiche amicus curiae-Schriftsätze von interessierten Interessengruppen eingereicht, wobei die Kläger unter anderem durch den Generalanwalt der Vereinigten Staaten, Perlman, unterstützt wurden. Für diesen waren die covenants unvereinbar mit „the spirit of mutual tolerance and respect for the dignity and rights of the individual which give vitality to our democratic way of life“.1090 Das hochpolitisierte Umfeld, in dem der US Supreme Court zu entscheiden hatte, verdeutlichte sich auch daran, dass drei der neun Richter sich für befangen erklärten und nicht an dem Urteil mitwirkten, da sie selbst Eigentümer von covenant-gebundenen Immobilien waren.1091 Die verbleibenden sechs Richter bejahten einstimmig eine Verletzung des 14. Verfassungszusatzes infolge der Durchsetzung der covenants durch die Gerichte in Missouri und Michigan. Die zentrale Frage war dabei, inwieweit überhaupt ein staatliches Handeln (state action) als Anknüpfungspunkt für eine mögliche Verfassungsverletzung vorlag.1092 Der US Supreme Court hatte nämlich bereits in einer früheren Entscheidung klargestellt, dass sich die Vorgaben des 14. Verfassungszusatzes nicht auf reine Privatrechtsverhältnisse erstrecken würden, so dass einem restrictive covenant, der Farbige diskriminiere, nicht die materiell-privatrechtliche Wirksamkeit fehle.1093 Umgekehrt war klar, dass staatlich dekretierte, zum Beispiel bauplanungsrechtliche Einschränkungen der Grunderwerbsmöglichkeiten von Farbigen gegen die Bundesverfassung verstoßen.1094 Gerade aus diesen Gründen hatte sich die Praxis der restrictive covenants in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Alternative zu rassenbezogenen gemeindlichen Planungsregelungen durchgesetzt.1095
1089 Zitiert nach Pritchett, Shelley v. Kraemer, in: Gilles/Goluboff (Hrsg.), Civil Rights Stories, 2008, S. 5 (19). 1090 Zitiert nach Pritchett, Shelley v. Kraemer, in: Gilles/Goluboff (Hrsg.), Civil Rights Stories, 2008, S. 5 (19). 1091 Pritchett, Shelley v. Kraemer, in: Gilles/Goluboff (Hrsg.), Civil Rights Stories, 2008, S. 5 (20). 1092 Zu den geschichtlichen Hintergründen der state action doctrine siehe Thüsing, ZVglRWiss 99 (2000), 69 (70 ff.) m.w.N. 1093 Corrigan v. Buckley, 271 U.S. 323, 330 f. (1926). 1094 Buchanan v. Warley, 245 U.S. 60 (1917) sowie Shelley et. ux. v. Kraemer et ux./McGhee et ux. v. Sipes et al., 334 U.S. 1, 10 ff. (1948). 1095 Hierzu Pritchett, Shelley v. Kraemer, in: Gilles/Goluboff (Hrsg.), Civil Rights Stories, 2008, S. 5 (7 ff.).
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In Shelley hielt der US Supreme Court zunächst die Auffassung aufrecht, dass restrictive covenants als private Vereinbarungen aus materiellrechtlicher Sicht nicht dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot unterstünden. Hieran schloss sich nun aber die Frage an, ob zumindest die Durchsetzung diskriminierender covenants durch einzelstaatliche Zivilgerichte etwas an dem rein privatrechtlichen Charakter der Diskriminierung änderte und somit zu einer verfassungswidrigen state action führte. Gegen eine solche Annahme wurde in der Diskussion eingewandt, dass der Staat mit der zivilprozessualen Durchsetzung privater Rechte lediglich neutral einen privaten Willen ausführe, sich aber nicht die Motive des Klägers zu eigen mache und auch nicht selbst regulierend tätig werde.1096 Der US Supreme Court wies dieses Argument in seiner Entscheidung jedoch zurück: „We have no doubt that there has been state action in these cases in the full and complete sense of the phrase. […] These are not cases, as has been suggested, in which the States have merely abstained from action, leaving private individuals free to impose such discriminations as they see fit. Rather, these are cases in which the States have made available to such individuals the full coercive power of government to deny to petitioners, on the grounds of race or color, the enjoyment of property rights in premises which petitioners are willing and financially able to acquire and which the grantors are willing to sell. The difference between judicial enforcement and nonenforcement of the restrictive covenants is the difference to petitioners between being denied rights of property available to other members of the community and being accorded full enjoyment of those rights on an equal footing.“1097
Der US Supreme Court negierte im Fall Shelley somit eine besondere Rolle der Zivilrechtsprechung und verglich die gerichtliche Durchsetzung der covenants beispielsweise mit Fällen, in denen die Gerichte farbige Bürger als mögliche Jurymitglieder von der Mitwirkung an Strafprozessen ausgeschlossen hatten.1098 Zwar ging die Urteilsbegründung nicht explizit auf die vorgetragenen sozialen und ökonomischen Wirkungszusammenhänge der covenants ein. Es besteht jedoch in der Literatur Einigkeit, dass diese Umstände für die Entscheidungsfindung eine maßgebliche Rolle gespielt haben.1099 Hierfür spricht auch, dass die US-amerikanischen Gerichte die Shelley-Doktrin später nicht auf Fälle erstreckt haben, in denen die gerichtliche Durchsetzung vertraglicher Vereinbarungen keine vergleichbar gravierenden Auswirkungen auf grundrechtlich geschützte Freiheitsbereiche hatte, wie in den hier geschilderten Fällen der Rassendiskriminierung.1100 1096
Siehe Jaffe, English and American Judges as Lawmakers, 1969, S. 40. Shelley et. ux. v. Kraemer et ux./McGhee et ux. v. Spies et al., 334 U.S. 1, 19 (1948). 1098 Shelley et. ux. v. Kraemer et ux./McGhee et ux. v. Spies et al., 334 U.S. 1, 15 f. (1948). 1099 Pritchett, Shelley v. Kraemer, in: Gilles/Goluboff (Hrsg.), Civil Rights Stories, 2008, S. 5 (21) m.w.N. 1100 Hierzu Davis v. Prudential Securities, Inc., 59 F.3d 1186, 1191 f. (11th Cir. 1995); Cremin v. Merril Lynch, Pierce, Fenner & Smith, Inc., 957 F.Supp. 1460, 1467 (N.D.Ill. 1997). 1097
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Zusammenfassend betrachtet, begünstigte die Entscheidung im Fall Shelley in zweifacher Weise eine verstärkte normbildende Funktion des amerikanischen Zivilprozesses. Zum einen bestätigte sie die bereits angesprochene, im Zuge des 20. Jahrhunderts immer wirkungsmächtigere Sichtweise, nach der zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht kein kategorialer Unterschied besteht. Sie leistete damit der Indienstnahme des Privatrechts und des Zivilprozesses für öffentliche Zwecke, insbesondere für die effektive Implementierung von Bürgerrechten, weiteren Vorschub. Zum anderen ermöglichte das Urteil, indem es die allgemeinen verfassungsrechtlichen Programmsätze über das Bindeglied der gerichtlichen Durchsetzung auf Privatrechtsverhältnisse projizierte, eine tendenziell abstraktere, weniger fallnahe Behandlung dieser Rechtsverhältnisse. Es liegt somit eine ähnliche Entwicklung vor, wie sie die Konstitutionalisierung des Zivilrechts in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht hat.1101 In der Tat bestehen, wie Thüsing nachgewiesen hat, in der jüngeren Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten sogar Ansatzpunkte dafür, die Wirkung der Grundrechte in privatrechtlichen Beziehungen unabhängig von dem Kriterium der state action zu bestimmen.1102 In diesem Rahmen wird die Verfassung in weit gehender Annäherung an das Konzept des Bundesverfassungsgerichts als eine Wertordnung begriffen, die auf die Auslegung und Anwendung des gesamten einfachen Rechts ausstrahlt.
VII. Zwischenfazit: Das Erbe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts In ihrer Summe tragen die geschilderten Neuorientierungen, die der Appellationsprozess in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet des Privatrechts vor allem durch den Einfluss der rechtssoziologischen und der rechtsrealistischen Schule, aber auch durch die Einwirkungen des Verfassungsrechts erfahren hat, durchaus den Charakter eines Paradigmenwechsels. Diesen hat in der Literatur insbesondere Fiss eindringlich beschrieben und befürwortend aufgegriffen.1103 Nach seiner Auffassung muss der Prozess der Rechtsprechung wesensmäßig immer auf die Konkretisierung und Verwirklichung öffentlicher Werte (public values) ausgerichtet sein und nicht auf die bloß neutrale Schlichtung eines Konflikts zwischen privaten Interessen. Das klassische Bild der Streitentscheidung stelle ein „sociologically impoverished universe“ dar, in dem viele der maßgeblich zu berücksichtigenden Interessen überhaupt nicht vorkämen.1104 Dementspre1101 1102 1103 1104
Dazu oben § 3 A X, S. 82 ff. Thüsing, ZVglRWiss 99 (2000), 69 (81 ff.). Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121 ff. (1982). Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 122 f. (1982).
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chend würden auch die Gerichte als isolierte Institutionen erscheinen, die nach Art eines Schiedsrichters fungierten. Zutreffend sei es hingegen, die Gerichte nicht nur im Bereich des Verwaltungs- und Verfassungsrechts, sondern bei allen ihren Rechtsprechungsaufgaben als einen integralen Bestandteil der Staatsgewalt (integral part of government) anzusehen.1105 Ihnen komme gegenüber der Gesetzgebung und der Verwaltung keine akzessorische, sondern eine gleichgeordnete Stellung zu. Die Funktion der Rechtsprechung wird dabei nicht aus der Perspektive eines konkreten Rechtsstreits unter Privaten betrachtet, sondern als die Ausübung einer gestaltenden staatlichen Tätigkeit begriffen.1106 Hiermit weist Fiss den Gerichten eine zentrale Verantwortung für die Formung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse zu und bringt somit die Quintessenz der Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten zum Ausdruck.
VIII. Die Legal Process-Schule In den 1950er Jahren bildete sich in den Vereinigten Staaten allerdings in Reaktion auf die Thesen und die praktischen Auswirkungen der rechtssoziologischen und der rechtsrealistischen Bewegung die so genannte legal process-Schule heraus. Ziel dieser Schule war es, nach den Anfechtungen, die das klassische Bild der richterlichen Entscheidungsfindung erlitten hatte, eine spezifische Funktion der Judikative gegenüber anderen Formen der sozialen Konfliktlösung zu vindizieren, ohne in eine rein formalistische Sichtweise zurückzufallen.1107 Dabei widmete sich diese Denkrichtung neben den rechtsmethodischen Aspekten des richterlichen Entscheidungsprozesses vor allem auch dessen institutionellen Rahmenbedingungen. Einen Vorläufer fand die legal process-Schule in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in dem Konzept der institutionellen Kompetenz (institutional competence), das der Richter am US Supreme Court, Louis Brandeis, seinen Voten in den Fällen zugrunde legte, in denen es die Grenzen richterlicher Befugnisse auszuloten galt.1108 Beispielhaft hierfür steht Brandeis’ dissenting opinion in der Entscheidung International News Service v. Associated Press.1109 Hier ging es um die Frage, ob einem Nachrichtendienst ein eigentumsähnliches Ausschlussrecht an Nachrichten zusteht, die er zusammengestellt und aufbereitet hat. Ein solches verletzungsfähiges Recht war bis dahin nur in Fällen anerkannt, in de1105
Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 124 f. (1982). Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1, 41 f. (1979). 1107 Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960, 1992, S. 254. 1108 Siehe Eskridge/Frickey, An Historical and Critical Introduction to The Legal Process, in: Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. LIX ff. 1109 248 U.S. 215 (1918). 1106
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nen die Usurpation der Nachrichten durch Dritte im Wege eines Vertrags- oder Treubruchs erfolgte (breach of contract or trust). Die Mehrheitsmeinung in International News Service bejahte jedoch eine Ausdehnung des Schutzes zusammengestellter und aufbereiteter Nachrichten auf sonstige Fälle einer Aneignung durch Dritte. Sie begründete ihre Entscheidung hauptsächlich mit Erwägungen aus dem Begriff und dem Typus des Eigentums, die auch auf handelbare Nachrichten zuträfen. Brandeis hob hingegen hervor, dass die Frage des Schutzes von aufbereiteten Nachrichten für die Allgemeinheit von höchster Bedeutung sei und eine Vielzahl widerstreitender Interessen berühre.1110 Eine derartig komplexe rechtspolitische Entscheidung obliege dem Gesetzgeber; das Gericht dürfe sie nicht im Sinne einer Bejahung des eigentumsähnlichen Schutzes vorwegnehmen: „Courts are ill-equipped to make the investigations which should precede a determination of the limitations which should be set upon any property right in news […]. Courts would be powerless to prescribe the detailed regulations essential to full enjoyment of the rights conferred or to introduce the machinery required for enforcement of such regulations. Considerations such as these should lead us to decline to establish a new rule of law in the effort to redress a newly-disclosed wrong […].“1111
Die legal process-Schule baute auf diesem Gedanken institutioneller Kompetenz auf und betonte den unterschiedlichen Entscheidungsmodus der drei staatlichen Gewalten.1112 Die Legislative diene vor allem dem Ausgleich sozialer Präferenzen durch formalisierte Mehrheitsentscheidungen, während die Regierung und die Verwaltung ihre Entscheidungen auf eine sachbezogene Expertise stützen würden. Die Judikative schließlich zeichne sich durch eine Konfliktlösung mittels „reasoning“ aus, durch eine „leidenschaftslose Überlegung“ (dispassionate deliberation). Hieraus ergebe sich eine eigenständige Natur des Prozesses der richterlichen Rechtsfindung, des legal process. Diese Grundaussagen wurden erstmals in den unvollendeten Materialien ausgearbeitet, die Henry M. Hart und Albert M. Sacks unter dem Titel „The Legal Process: Basic Problems in the Making and Application of Law“ bis zum Jahr 1958 zusammenstellten.1113 Hart und Sacks sahen es als Charakteristikum der Rechtsprechung an, den retrospektiven mit dem prospektiven Blickwinkel zu verschmelzen. Zwar beeinflusse die Rechtsprechung, gerade in Gestalt des anglo-amerikanischen Präjudizienrechts, 1110
International News Service v. Associated Press, 248 U.S. 215, 262 ff. (1918), per Brandeis J., dissenting. 1111 International News Service v. Associated Press, 248 U.S. 215, 267 (1918), per Brandeis J., dissenting. 1112 Siehe Fisher, Legal Theory and Legal Education, 1920–2000, in: Grossberg/Tomlins (Hrsg.), The Cambridge History of Law in America, Band III, 2008, S. 34 (40 f.). 1113 Die Materialien zirkulierten zunächst mehrere Jahrzehnte als so genannte „Tentative Edition“ und wurden schließlich offiziell veröffentlicht als Hart/Sacks, The Legal Process, 1994; eingehend zur Entstehungsgeschichte Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2031 ff. (1994).
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auch die Zukunft, jedoch stets nur in Anknüpfung an ein reales, in der Vergangenheit liegendes Fallgeschehen.1114 Eine weiter gehende Zukunftsgestaltung könne von der Rechtsprechung nur indirekt ausgehen, nämlich dadurch, dass die Verwaltung oder die Gesetzgebung die Lösungen der Rechtsprechung zum Anlass nähmen, eine rein zukunftsbezogene Neuordnung des betreffenden Regelungsproblems zu treffen.1115 Verdeutlicht haben die Autoren diese Sichtweise, die auf eine Einheit aus Streitentscheidung und Normbildung abzielt, unter anderem durch eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des US Supreme Court in der Sache Halcyon Lines v. Haenn Ship Ceiling & Refitting Corp.1116 In diesem Fall ging es in einem schifffahrtsrechtlichen Kontext um den Haftungsausgleich zwischen mehreren Schädigern. Die Klägerin hatte die Beklagte mit Reparaturarbeiten auf einem ihrer Schiffe beauftragt. Ein Angestellter der Beklagten erlitt aufgrund unsicherer Arbeitsbedingungen auf dem Schiff Verletzungen und verklagte die Klägerin auf Schadensersatz. In diesem Prozess wurde für die Klägerin ein Verschuldensanteil an dem Unfall von 25 % festgestellt, für die Beklagte von 75 %. Die Klägerin wurde im Außenverhältnis gleichwohl zu einem vollen Schadensersatz gegenüber dem Angestellten verurteilt und begehrte nun von der Beklagten einen Ausgleich in Höhe von 75 % des geleisteten Ersatzes. Die Mehrheitsmeinung des Gerichts, vertreten durch Judge Black, legte zunächst dar, dass ein anteiliger Schadensausgleich zwischen mehreren Schädigern im Schifffahrtsrecht nach Lage der Präjudizien nur für den Fall von Schiffskollisionen gesichert sei und zwar im Sinne einer regelmäßig hälftigen Schadensteilung. In anderen Fällen existierten hinsichtlich des Regressrechts teilweise widersprüchliche Entscheidungen einzelner Bundesgerichte.1117 Das Mehrheitsvotum des US Supreme Court lehnte nun ein anteiliges Regressrecht außerhalb der Konstellation von Schiffskollisionen mit dem Verweis auf eine gesetzgeberische Prärogative ab: „We have concluded that it would be unwise to attempt to fashion new judicial rules of contribution and that the solution of this problem should await congressional action. Congress had already enacted much legislation in the area of maritime personal injuries. […] A legislative inquiry might show that neither carriers, shippers, employees, nor casualty insurance companies desire such a change to be made. The record before us is silent as to the wishes of employees, carriers, and shippers; it only shows that the Halcyon Line is in favor of such a change in order to relieve itself of a part of this burden in this particular lawsuit.“1118
1114
Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 163, 342. Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 163 f. 1116 342 U.S. 282 (1952). 1117 Siehe die Nachweise in Halcyon Lines v. Haenn Ship Ceiling & Refitting Corp., 342 U.S., 282, 284 (1952) in Fn. 3. 1118 Halcyon Lines v. Haenn Ship Ceiling & Refitting Corp., 342 U.S., 282, 286 f. (1952). 1115
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Dieses, dem Anschein nach allein auf Gesichtspunkte der richterlichen Selbstbeschränkung gestützte Urteil kritisierten Hart und Sacks scharf.1119 Sie hoben zum einen hervor, dass das Gericht nicht lediglich eine Umgestaltung des bestehenden Rechts unterlassen habe, sondern die Rechtsfrage des Schadensausgleichs in einer bestimmten Weise aktiv entschieden habe: Die Verneinung des Regressrechts stelle angesichts der widersprüchlichen Präjudizien nicht weniger einen konstitutiven Akt richterlicher Rechtsgestaltung dar, als es die Bejahung des Regressrechts gewesen wäre. An diese Feststellung anknüpfend, kritisierten Hart und Sacks die Art und Weise, in der das Gericht seine rechtsgestaltende Entscheidung in Beziehung zu dem konkreten Rechtsstreit gesetzt hatte. Das Gericht hatte die Interessen der Klägerin in der oben zitierten Urteilspassage gleichsam als Sonderinteressen abgetan und von den „objektiven“ Interessen anderer beteiligter Verkehrskreise abgegrenzt. Hart und Sacks wiesen demgegenüber darauf hin, dass die Aufgabe auch des höchsten Gerichts darin bestehe, den anhängigen Rechtsstreit unter den Prozessparteien einer zutreffenden Lösung zuzuführen, wenn auch mit Blick auf die Zukunftswirkungen der zu treffenden Entscheidung. Diese Aufgabe habe das Gericht in Halcyon verfehlt, indem es seine Entscheidung mit dem pauschalen Verweis auf eine angebliche gesetzgeberische Prärogative von vornherein nicht als die Entscheidung eines paradigmatischen Rechtsstreits begriffen habe, sondern ausschließlich als eine abstrakte Gestaltung des zukünftigen Rechts.1120 Sie sahen hierin eine verschärfte und kritikwürdige Ausprägung des Ermessensdenkens des US Supreme Court. Dieser verlängere in Halcyon seine Praxis, die Annahme eines Falls zur Entscheidung von dessen abstrakter Gemeinwichtigkeit abhängig zu machen,1121 nun auf den Inhalt der Entscheidung selbst.1122 Hierdurch gerate der klassische, fallbezogene Modus richterlicher Normbildung im common law in Gefahr. Neben Hart und Sacks wurden die Grundgedanken des legal process vor allem durch Lon Fuller in dem berühmten, posthum veröffentlichten Aufsatz „The Forms and Limits of Adjudication“1123 weiter entfaltet. In diesem Beitrag lehnte Fuller eine rein ergebnisorientierte, relativierende Sichtweise sozialer Ordnung ab. Vielmehr erfolge diese Ordnung durch verschiedene Institutionen, die sich jeweils durch bestimmte Charakteristika und ihnen eigene Legitimationsmuster auszeichnen würden. Diese Wesensmerkmale könnten nicht zur Disposition gestellt werden, ohne die jeweilige Institution zu zerstören.1124 In
1119 1120 1121 1122 1123 1124
Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 514 ff. Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 516 f. Näher hierzu unten § 5 A III 1 b, S. 371 ff. Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 518 f. 92 Harv. L. Rev. 353 ff. (1978). Siehe Fuller, The Morality of Law, 2. Aufl. 1969, S. 180.
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diesem Sinne gebe es ein Konzept der „true adjudication“.1125 Entsprechend dem dargelegten Grundgedanken der legal process-Schule verortete Fuller das Wesen der Rechtsprechung in einer argumentativen Entscheidungsfindung unter Beteiligung der betroffenen Parteien.1126 Dabei müsse die Argumentation, die zu der Entscheidung führt, auf Prinzipien aufbauen, weshalb der typische Gegenstand eines Gerichtsverfahrens nicht bloße Interessen, sondern strukturierte Rechte und Pflichten seien.1127 Vor allem sei die Rechtsprechung ungeeignet, polyzentrische soziale Probleme mit einer diffusen, vielschichtigen Interessenlage zu entscheiden. Denn derartige Probleme ließen sich nicht sinnvoll über die Anwendung von Rechten und Pflichten bewältigen, sondern bedürften eines holistischeren Ansatzes.1128 Ihre Lösung müsse daher der Gesetzgebung oder der expertengesteuerten Verwaltung vorbehalten bleiben.1129 Damit wendete sich Fuller dezidiert gegen das progressive Credo, nach dem die Rechtsprechung weit verzweigte soziale Herausforderungen soweit als möglich annehmen und neben der Gesetzgebung und der Verwaltung zu deren Lösung beitragen müsse. Vielmehr würde ein solches social engineering, eine „managerial attitude“, das Wesen der Rechtsprechung zerstören.1130 Die Rechtsprechung dürfe nicht zu weit vorausblicken, sondern müsse ihre Argumente stets fest in den Grenzen der tradierten Rechtsprinzipien verorten. Auch soweit Regeln fortzuentwickeln seien, müsse dies case-by-case in kleinen Schritten geschehen, wobei Fuller die Eckpfeiler des common law, wie insbesondere das Vertragsrecht und das private Eigentum, als Leitschnur für die Findung und Schöpfung des Rechts ansah.1131 Aus institutioneller Sicht bildete nach Fuller der adversarial orientierte Rechtsstreit den besten Rahmen für die Rechtsprechung. Dieser stelle sicher, dass sich der Richter bei seiner Entscheidungsfindung hinreichend an einem konkreten Lebenssachverhalt orientiere und nicht in den untauglichen Versuch einer weit ausgreifenden Sozialgestaltung verfalle.1132 Es ist das Bild des klassischen common law englischer Prägung, das in dieser Sichtweise eine Renaissance erlebt. Somit plädierten die Vertreter des legal process-Gedankens für eine Neubelebung der Unterscheidung zwischen der „privaten“ und der „öffentlichen“ Funktion des Rechts unter institutionellen Vorzeichen. Zwar akzeptierten sie, 1125
Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 355 ff. (1978). Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 363 ff. (1978). 1127 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 368 ff. (1978). 1128 Fuller hat diese Unterscheidung als eine solche zwischen der „morality of duty“, die für rechtliche Entscheidungen typisch ist, und der „morality of aspiration“, die auf die Verwirklichung wünschenswerter Ziele schlechthin abzielt, näher herausgearbeitet: Fuller, The Morality of Law, 2. Aufl. 1969, S. 5 ff. 1129 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 371, 394 ff. (1978). 1130 Fuller, The Morality of Law, 2. Aufl. 1969, S. 171. 1131 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 372 ff. (1978). 1132 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 382 ff. (1978). 1126
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dass selbst die Rechtsverhältnisse unter Privaten Gegenstand eines genuinen öffentlichen Regelungsinteresses seien können. Dieses Regelungsinteresse muss jedoch in der Form gesetzgeberischer oder verwaltungsmäßiger Entscheidungen befriedigt werden, während es die an eine konkrete Streitentscheidung anknüpfende Rechtsprechung in aller Regel institutionell überfordert. Obwohl die legal process-Schule bis in die 1960er Jahre hinein in den USA einen nicht unerheblichen Einfluss ausübte, gelang es ihr letztendlich nicht, die Schleusen, welche die rechtssoziologische und die rechtsrealistische Schule mit dem Ziel eines Funktionswandels der Rechtsprechung geöffnet hatten, wieder zu schließen.1133 Zwar gab es in den 1970er Jahren einige Reformen, die eine gewisse Wiederbelebung des klassischen Bildes von Privatrechtsstreitigkeiten bewirkten. Diese Reformen begrenzten zum Beispiel eine zu liberale Handhabung von Produkthaftungsklagen durch die Gerichte und damit zugleich eine immer weitere Verschärfung der Haftungsstandards.1134 Eine wirkliche Umkehr der Entwicklung erfolgte hierdurch jedoch nicht. Vielmehr blieb der Trend, in dem sich die Gedanken einer verstärkten bürokratischen Steuerung des Ablaufs von Zivilverfahren und einer verstärkten Regulierung sozialer Verhältnisse durch die obersten Gerichte verbinden, in seinem Kern unangetastet und lebt heute in neuen Formen fort.
IX. Die ökonomische Analyse des Rechts und der Rechtspragmatismus 1. Die ökonomische Analyse des Rechts Eine neue Dimension erlangte die Idee des social engineering durch richterliche Normbildung im Rahmen der so genannten law and economics movement. Die ökonomische Analyse des Rechts erhielt ihren maßgeblichen Auftrieb dabei durch den bahnbrechenden Artikel von Ronald Coase, „The Problem of Social Cost“,1135 aus dem Jahr 1960. In diesem Artikel entfaltete Coase die These, dass die Zuordnung rechtlicher Verantwortlichkeit durch Eigentumsrechte und Haftungsregeln dann für eine effiziente Ressourcennutzung unerheblich ist, wenn die Beteiligten ohne Transaktionskosten vertragliche Vereinbarungen treffen können. Umgekehrt erlangt der Zuschnitt privatrechtlicher Regelungen immer dann Auswirkungen auf die effiziente Ressourcennutzung, wenn Trans1133 Ausführlich zur Rezeptionsgeschichte des legal process-Gedankens Eskridge/Frickey, An Historical and Critical Introduction to The Legal Process, in: Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. XCVII ff. 1134 Marcus, Malaise of the Litigation Superpower, in: Zuckerman (Hrsg.), Civil Justice in Crisis, 1999, S. 71 (100 f.) m.w.N. 1135 3 J.L. & Econ. 1 ff. (1960).
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aktionskosten eine rein privatautonome Verhandlungslösung verhindern.1136 Ausgehend von diesem Befund bildete sich unter der Führung Richard Posners eine rechtsökonomische Schule heraus, die rechtliche Regelungen an dem Kriterium misst, ob diese Regelungen im Zusammenspiel mit den jeweils zu berücksichtigenden Transaktionskosten eine effiziente Ressourcenallokation ermöglichen.1137 Zur Aufgabe des common law-Richters wurde es danach in erster Linie, solche Regeln herauszubilden, die eine effiziente Allokation von Ressourcen im Privatrechtsverkehr fördern.1138 Soweit die jeweils widerstreitenden Interessen dabei einem reibungslosen Ausgleich durch den Marktmechanismus zugänglich sind, folgt aus diesem Gedanken eine Schranke für judikative Interventionen und es gilt vielmehr das Prinzip der Vertrags- und Eigentumsfreiheit. Soweit hingegen aufgrund von Transaktionskosten ein Marktversagen vorliegt, muss aus dieser Sicht die Rechtsordnung selbst Normen bereitstellen, die das Ergebnis perfekter Märkte „imitieren“ (market mimicking).1139 In diesem Bereich führt der wohlfahrtsökonomische Ansatz somit zu einem relativ weit gehenden Interventionsmandat des Normgebers unter Einschluss der richterlichen Normbildung.1140 Die Attraktivität dieses Ansatzes liegt dabei vor allem darin begründet, dass er durch die Fokussierung auf den einheitlichen rechtspolitischen Metazweck der ökonomischen Effizienz in der Lage ist, der Rechtsprechung einen inhaltlichen Leitfaden für eine folgenorientierte Normbildung vorzugeben.1141 Diese Fähigkeit hatte der rechtssoziologischen und der rechtsrealistischen Schule im Rahmen ihres Plädoyers für eine policy-orientierte Rechtsfindung noch gefehlt. Darüber hinaus kann die ökonomische Analyse des Rechts mit ihrem Anliegen der Förderung effizienter Verhaltensweisen durchaus auch an Traditionen in der amerikanischen Rechtsprechung anknüpfen. In der Tat stellt die ökonomische Analyse nach ihrem Selbstverständnis keine radikale Neuausrichtung des Rechts dar, sondern erhebt den Anspruch, das bereits bestehende Wesen des common law explizit zu machen.1142 Als Zeugnis der Verwurzelung ökonomi1136 Einführend zum Transaktionskostenmodell Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl. 2003, S. 55 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 100 ff. 1137 Grundlegend R. Posner, Economic Analysis of Law, 1. Aufl. 1972 und aktuell 7. Aufl. 2007. 1138 R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 31 ff.; ders., The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 298 ff. 1139 R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 249 ff.; ders., Frontiers of Legal Theory, 2001, S. 99; Shavell, Contracts, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Band I, 1998, S. 436 (438). 1140 Siehe Arrow, 21 Public Policy 303 ff. (1973); Mestmäcker, A Legal Theory without Law, 2007, S. 12; Vermeule, 1 Journal of Legal Analysis 1, 13 (2009). 1141 Fisher, Legal Theory and Legal Education, 1920–2000, in: Grossberg/Tomlins, The Cambridge History of Law in America, Band III, 2008, S. 34 (44). 1142 Statt aller R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 24 ff.
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schen Denkens in der amerikanischen Rechtsprechung gilt dabei insbesondere die Entscheidung des Richters Learned Hand in der Sache United States v. Carroll Towing Co.1143 aus dem Jahr 1947. In diesem Urteil hatte Hand zur Konkretisierung des Fahrlässigkeitsbegriffs im Rahmen des Deliktsrechts die Überlegung herangezogen, ob der Schädiger den Schadenseintritt mit einem Aufwand hätte vermeiden können, der geringer gewesen wäre als das Risiko, das aus der schädigenden Handlung für fremdes Eigentum entstanden war. Dabei sollte sich dieses Risiko wiederum als das Produkt aus Schadenswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe definieren. Von diesem Urteil ausgehend, erlangten wohlfahrtsökonomische Aspekte in der US-amerikanischen Rechtsprechung zum Zivilrecht eine immer größere Bedeutung.1144 Diese Entwicklung umfasste dabei nicht nur das Deliktsrecht, sondern in ähnlichem Maße auch das Vertragsund das Sachenrecht.1145 Die großangelegte Theorie der ökonomischen Analyse des Rechts konnte dabei auch für die Frage nicht ohne Einfluss bleiben, in welchem Verhältnis die Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits und die Bildung richterlicher Normen in einem Zivilprozess zueinander stehen. Die maßgebliche Weichenstellung erfolgt dabei dadurch, dass aus Sicht der ökonomischen Analyse bei jeder privatrechtlichen Streitigkeit stets eine gesamtgesellschaftliche Dimension notwendig mitzudenken ist, nämlich die Steigerung der Wohlfahrt.1146 Das Privatrecht erlangt danach eine genuin öffentliche Funktion. In diesem Punkt stimmt der rechtsökonomische Ansatz mit der rechtsoziologischen und der rechtsrealistischen Strömung überein.1147 Folgerichtig betrachtet auch die economic analysis of law die Appellationsrechtsprechung unter einem rein instrumentellen Blickwinkel. Danach kann die maßgebliche Aufgabe des Appellationsprozesses von vornherein nicht mehr in der retrospektiven Beurteilung von Streitfällen liegen. Vielmehr wendet sich der Blick rein prospektiv auf die Frage, wie die Rechtsprechung Anreize für eine effiziente Zuordnung von Ressourcen in der Zukunft setzen kann.1148 Somit besteht die hauptsächliche Funktion privater Klagemöglichkeiten aus Sicht der ökonomischen Analyse des Rechts nicht darin, bereits 1143
159 F. 2d 169 (2d Cir. 1947). Zur paradigmatischen Bedeutung des Urteils in Carroll Towing siehe Kelly, 45 St. Louis U. L.J. 731, 732 ff. (2001) und R. Posner, 1 J. Legal Stud. 29, 32 (1972). 1145 Hierzu im Überblick die entsprechenden Kapitel bei R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 31 ff. und 93 ff. 1146 R. Posner, The Economics of Justice, 2. Aufl. 1983, S. 69 ff.; Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law, 2004, S. 389 ff. 1147 Siehe oben § 3 C IV 2, S. 207 ff. und § 3 C IV 4, S. 211 ff.; zu diesem Zusammenhang auch Eidenmüller, AcP 197 (1997), 80 (89 ff.) und Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts in den U.S.A.: Verbindungslinien zur realistischen Tradition, in: Assmann/Kirchner/ Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, 1993, S. 1 ff. 1148 Siehe R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 561. 1144
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eingetretene Rechtsverstöße zu korrigieren, sondern vielmehr darin, potentielle zukünftige Rechtsverletzungen unattraktiv zu machen und damit von vornherein zu unterbinden.1149 In dieses Bild fügt es sich bruchlos ein, dass die Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts die unparteiische Organisation des richterlichen Entscheidungsprozesses nicht in erster Linie als Garant für eine angemessene Entscheidung des jeweiligen Rechtsstreits, sondern als ein Mittel betrachten, um den gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsbeitrag der widerstreitenden Interessen besser beurteilen zu können, als dies etwa in einem legislativen Verfahren der Fall sei.1150 Gerade die Leistungsfähigkeit der Gesetzgebung wird von den Vertretern der ökonomischen Analyse des Rechts grundsätzlich skeptisch beurteilt. Die Grundlage für diese Einschätzung bilden vor allem die Annahmen der so genannten public choice theory, nach denen die Legislative einerseits zu wenig gegen den Einfluss partikularer Interessengruppen immunisiert ist (interest group politics) und nach denen andererseits die Verteilung von Ressourcen durch die Gesetzgebung zu einem verschwenderischen Wettlauf um Einfluss auf diese Verteilung führt (rent seeking).1151 Folgerichtig werden die Gerichte als ein Refugium rational-effizienter Regelbildung angesehen und die Richter dazu angehalten, auch dann Erwägungen über die ökonomischen Konsequenzen einer Entscheidungsregel anzustellen, wenn ihnen für die Beurteilung dieser Konsequenzen zwar in dem konkreten Streitfall keine hinreichenden Informationen zur Verfügung stehen, eine bestimmte Regel aber im Hinblick auf die Gesamtheit ihrer möglichen Anwendungsfälle immerhin ökonomisch plausibel erscheint.1152 Aus dieser Perspektive kommt der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei der Normbildung im Zivilrecht geradezu eine Führungsrolle zu, während die Gesetzgebung nur eine ergänzende Rolle einnimmt. Die richterliche Normbildung stellt aus dieser Perspektive eine Art „Produktionsprozess“ dar, der – vergleichbar mit der kontinuierlichen Ersetzung und Aufbesserung des Anlagevermögens eines Unternehmens – dafür sorgt, dass der Bestand an rechtlichen Normen in einem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage sukzessive erneuert und sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst wird.1153 Hierbei bedarf es sowohl der Mitwirkung kon1149 Cabrillo/Fitzpatrick, The Economics of Courts and Litigation, 2008, S. 112 ff.; Shavell, 11 J. Legal Stud. 333 ff. (1982). 1150 Ehrlich/Posner, 3 J. Legal Stud. 257, 260 (1974); R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 560 ff. 1151 Hierzu im Überblick Macey, Public Choice and the Law, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Band III, 1998, S. 171 ff. sowie Pejovich, Law, Informal Rules and Economic Performance, 2008, S. 109, 149 ff. 1152 Siehe R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 593 f. 1153 Landes/Posner, 19 J.L. & Econ. 249, 262 ff. (1976); Pejovich, Law, Informal Rules and Economic Performance, 2008, S. 108 f.; R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 583 ff.; ders., The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 7 f.; Romano, 1 J.L. Econ & Org. 225 ff. (1985); siehe dazu auch Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 50 ff.
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kreter Prozessparteien, die geeignete Kontroversen vor den staatlichen Gerichten austragen, als auch der Mitwirkung der Richter, die ihre Entscheidungen insbesondere auf der Appellationsebene entsprechend sorgfältig begründen müssen, um werthaltige Präjudizien zu schaffen. Der Anreiz für die Prozessparteien zu einer derartigen Mitwirkung liegt aus ökonomischer Sicht vornehmlich in der Unsicherheit über die eigenen Rechte und Pflichten, die zunimmt, wenn in dem betreffenden Bereich keine neueren Präjudizien existieren.1154 Umgekehrt wird der Anreiz für die Richter zu einem Ausbau des richterlichen Normensystems in dem Einfluss gesehen, den sie damit auf die zukünftige Rechtsentwicklung nehmen können.1155 Trotz dieser notwendigen Abhängigkeit der richterlichen Normbildung von privaten Anreizen stellt die Normbildung aus Sicht des ökonomischen Modells in erster Linie einen Beitrag zu der Gesamtheit des Rechts als eine Form des öffentlichen Kapitals dar.1156 Dieses Kapital entfaltet seinen Wert weniger für die Parteien des jeweiligen Prozesses, in dessen Rahmen die Regelbildung erfolgt, als vielmehr nur für die Gesamtheit der Rechtsgemeinschaft und dies auch erst über einen längeren Zeitraum, in dem die gebildete Norm auf verschiedene Einzelfälle angewendet wird. Der Entscheidung eines abgeschlossenen Sachverhalts kommt daher nur insoweit eine Bedeutung zu, als sie auch einen Beitrag zu der effizienten Organisation der Zukunft leistet. Folgerichtig erscheinen die Parteien des konkreten Prozesses nicht mehr als Träger genuiner privatrechtlicher Rechte und Pflichten, sondern als bloße Repräsentanten gesamtgesellschaftlicher Belange, denen zwar aus Praktikabilitätsgründen die Rechtsdurchsetzung zugewiesen wird, die prinzipiell aber auch durch Vertreter des öffentlichen Interesses ersetzbar wären.1157 Auf dieser Linie liegt zum Beispiel auch die Annahme, die Möglichkeit der Parteien, gegen eine gerichtliche Entscheidung ein Rechtsmittel zu einem höheren Gericht einzulegen, habe ihre hauptsächliche Bedeutung nicht in den Fällen, in denen diese Einlegung tatsächlich erfolge und zu einer erneuten Beurteilung des Rechtsstreits führe. Vielmehr liege der Wert von Rechtsmitteln vor allem in ihrer Eigenschaft als Drohkulisse für die unteren und mittleren Gerichte aus der Sicht ex ante, wodurch diesen Instanzgerichten eine Art vorauseilender Gehorsam gegenüber dem obersten Gericht nahegelegt werde.1158 Die Aufgabe, eine korrekte Lösung für den jeweiligen Rechtsstreit zu finden, tritt in diesem 1154 Landes/Posner, 19 J.L. & Econ. 249, 271 f. (1976); R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 584 f. 1155 Landes/Posner, 19 J.L. & Econ. 249, 272 f. (1976); R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 569 ff., 585. 1156 Grundlegend Buchanan, The Limits of Liberty, 1975, S. 123 ff. 1157 Siehe zu diesem Muster für den Bereich des Deliktsrechts Schwartz, 75 Tex. L. Rev. 1801, 1816 (1997). 1158 Vgl. Songer/Segal/Cameron, 38 Am. J. Pol. Science 673, 689 f. (1994).
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Modell der Appellationsrechtsprechung somit vollkommen in den Hintergrund.1159 In diesem Sinne gehen Landes und Posner davon aus, dass die Ausrichtung des gerichtlichen Entscheidungsprozesses an der klassischen streitentscheidenden Funktion kein effizientes Maß an richterlicher Normbildung sicherstellen kann.1160 Vielmehr befriedigt die öffentliche Gerichtsbarkeit, im Gegensatz zu rein privaten Streitentscheidungsmechanismen, aus Sicht der ökonomischen Analyse gerade das Bedürfnis nach einer ausreichenden Normbildung.1161 Eine konsequente Fortentwicklung dieses Gedankens stellt es dar, wenn breit gehaltenen Präjudizien mit einer Vielzahl von Anwendungsfällen ein höherer „Kapitalwert“ für die Allgemeinheit zugeschrieben wird als eng zugeschnittenen Präjudizien, die sich stark an eine bestimmte Fallkonstellation anlehnen.1162 Die Regelbildung stellt aus diesem rein zukunftsorientierten Blickwinkel somit keinen natürlichen Ausfluss der Streitentscheidung mehr dar, sondern verdrängt diese zunehmend aus dem Zentrum der richterlichen Tätigkeit.
2. Der Rechtspragmatismus Trotz der großen Bedeutung, die die ökonomische Analyse des Rechts für die Rechtspraxis in den Vereinigten Staaten erlangt hat,1163 wäre es unzutreffend, das Kriterium der Effizienz als generelle Richtschnur anzusehen, der die Appellationsgerichte bei wichtigen Entscheidungen folgen. Mit ihrer Fokussierung auf die Gestaltung zukünftiger gesellschaftlicher Verhältnisse berührt dieser Ansatz jedoch einen Wesenszug, der durchaus typisch für die heutige US-amerikanische Rechtsprechung erscheint. Diesen Wesenszug hat vor allem Richard Posner in Fortentwicklung rechtsökonomischer Gedanken1164 unter dem Stichwort des Rechtspragmatismus (legal pragmatism) wissenschaftlich entfaltet. Das rechtspragmatische Konzept wird gegenwärtig als die dominierende Rechtsprechungstheorie in den Vereinigten Staaten angesehen.1165 Ihre intellektuellen Wurzeln findet diese Sichtweise in der breiter angelegten Konzeption des philosophischen Pragmatismus.1166 Nach einem der Hauptvertreter dieser Denkrichtung, John Dewey, existieren im Bereich der Philosophie 1159
Siehe Kornhauser, 68 S. Cal. L. Rev. 1605, 1612 (1995). Landes/Posner, 8 J. Legal. Stud. 235, 238 ff. (1979). 1161 Landes/Posner, 8 J. Legal. Stud. 235, 240 ff. (1979). 1162 Landes/Posner, 19 J.L. & Econ. 249, 268 f. (1976). 1163 Siehe Eidenmüller, AcP 197 (1997), 80 (87 f.). 1164 Zur Vereinbarkeit und Verwandtschaft der ökonomischen Analyse des Rechts mit dem Rechtspragmatismus siehe R. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 76 ff.; ders., 71 U. Chi. L. Rev. 683, 685 (2004). 1165 So neben R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 230 ff. auch Tamanaha, 56 DePaul L. Rev. 469, 490 (2007) als ein Kritiker dieser Entwicklung. 1166 Hierzu im Überblick R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 231 ff.; ders., Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 24 ff. 1160
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keine intrinsischen Wahrheiten, die es zu entdecken und zu befolgen gälte, sondern lediglich so genannte Arbeitsprogramme, die eine Vorhersage der Zukunft zum Gegenstand haben und die sich in ihrer Anwendung ständig neu bewähren müssen.1167 Diese Sichtweise führt von einem Richtigkeitsdenken weg und hin zu einem Zweckdenken, in dem sich der Wert einer Annahme danach bestimmt, ob diese Annahme für bestimmte Zukunftsplanungen nutzbar gemacht werden kann.1168 Übertragen auf die richterliche Entscheidungstätigkeit bedeutet dies, dass aus pragmatischer Sicht eine „Logik der Wirkungen“ (logic of consequences) an die Stelle einer „Logik der Vorgeschichte“ (logic of antecedent) tritt.1169 Aufgabe der Rechtsprechung ist es daher, durch ihre Entscheidungen einen Beitrag zu einem besseren Verlauf der Zukunft zu leisten. Dies geschieht, indem die Gerichte mit ihren Entscheidungen Konsequenzen befördern, die – trotz aller vorhandenen Wert- und Meinungsunterschiede – in der Gesellschaft Aussicht auf eine größtmögliche Zustimmung haben.1170 Die Verwertung von Umständen, die in der Vergangenheit liegen, wie sie beispielsweise in der Doktrin des stare decisis oder einer textgetreuen Interpretation von Gesetzen zum Ausdruck kommt, besitzt danach keinen Eigenwert. Ein solcher Blick zurück ist lediglich legitim, soweit er zu einer erfolgreicheren Zukunft beiträgt, etwa indem er das Vertrauen der Rechtsgemeinschaft in die Kontinuität der Rechtsprechung stärkt und damit Investitionen in die Zukunft ermöglicht.1171 In den Worten Posners: „[A] pragmatist judge always tries to do the best he can do for the present and the future, unchecked by any felt duty to secure consistency in principle with what other officials have done in the past […]. [He] is concerned with securing consistency with the past only to the extent that decisions in accordance with precedent may happen to conduce to producing the best results for the future.“1172
Dies bedeutet jedoch zugleich, dass der jeweils zu entscheidende Streitfall nicht den Kern der richterlichen Tätigkeit bildet, sondern lediglich deren Anlass. Da dieser konkrete Streitfall in der Vergangenheit liegt, spielt seine Entscheidung aus rechtspragmatischer Sicht nur insoweit eine Rolle, als die Gemeinschaft aus der Entscheidung Konsequenzen für die Zukunft ziehen wird. Zwar gebietet es der Grundgedanke des Pragmatismus, die Einleitung einer neuen rechtlichen Entwicklung durch die Rechtsprechung zunächst auf eine möglichst eng 1167
Dewey, 10 Cornell L.Q. 17, 26 (1924). Rorty, 74 U. Chi. L. Rev. 915, 916 f. (2007). 1169 Dewey, 10 Cornell L.Q. 17, 26 (1924). 1170 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 241 ff. 1171 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 80; ders., Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 95. 1172 R. Posner, Pragmatic Adjudication, in: Dickstein (Hrsg.), The Revival of Pragmatism, 1998, S. 235 (237); ähnlich ders., Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 59 ff., 71 ff. und ders., 71 U. Chi. L. Rev. 683, 684 (2004). 1168
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begrenzte Entscheidungsgrundlage zu stellen und nicht sogleich ein umfassendes, abstraktes Regelwerk auszuarbeiten.1173 Abstrakte normative Konstruktionen ohne einen hinreichenden Bezug zu den empirischen Auswirkungen einer Regelung bilden vielmehr geradezu einen Gegensatz zu den Grundannahmen des Rechtspragmatismus.1174 Hiermit ist aber nicht gemeint, dass sich die richterliche Normbildung stets möglichst eng an den Sachverhalt des jeweils zu entscheidenden Streitfalls anlehnen müsste, so wie dieser Sachverhalt in klassischer juristischer Weise verstanden wird. Vielmehr soll der Richter nicht nur den „juristischen Tatbestand“ (adjudicative facts) würdigen, der als Ergebnis der erstinstanzlichen Sachverhaltsermittlung vorliegt, sondern auch und gerade so genannte legislative facts, das heißt umfassende rechtspolitische Erwägungen anstellen, die für oder gegen eine bestimmte rechtliche Regelung eines Lebenssachverhalts sprechen.1175 Aus Sicht des Rechtspragmatismus fordert die rule of law in diesem Sinne nur, dass der Richter sich bei seiner Entscheidungsfindung nicht von persönlichen Vorlieben für eine der individuellen Prozessparteien leiten lässt, während die Gewichtung der Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen sowie der gesellschaftlichen Folgen rechtlicher Regelungen zu seinen legitimen Aufgaben zählen soll.1176 Nach diesem Verständnis verkörpert die Rechtsprechung sogar eine wesensmäßig politische Entscheidungsform.1177 Das spezifisch Juristische an der Tätigkeit der obersten Gerichte bestehe nicht in einer anderen Aufgabe, als sie die Gesetzgebung und die Verwaltung verfolgen, sondern nur in einem anderen Rahmen für die Erbringung derselben Aufgabe, nämlich der erfolgreichen Zukunftsgestaltung.1178 Zwar verkennt Posner nicht, dass einem Appellationsrichter tendenziell schlechtere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, als dem Gesetzgeber, um im Rahmen eines Zivilprozesses seriöse rechtspolitische Folgenerwägungen anzustellen: „Cases do not wait upon the accumulation of some critical mass of social scientific knowledge that will enable the properly advised judge to arrive at the decision that will have the best results.“1179
1173 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 246 f.; ders., Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 60, 80; ders., 71 U. Chi. L. Rev. 683, 684 (2004). 1174 R. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 77 ff. 1175 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 118 f.; ders., Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 75 f.; ders., Pragmatic Adjudication, in: Dickstein (Hrsg.), The Revival of Pragmatism, 1998, S. 235 (241). 1176 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 89 f., 93 ff. 1177 R. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 46. 1178 Schauer/Wise, 82 Cornell L. Rev. 1080, 1098 f. (1997). 1179 R. Posner, Pragmatic Adjudication, in: Dickstein (Hrsg.), The Revival of Pragmatism, 1998, S. 235 (242).
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Vor diesem Hintergrund dürfe aber nicht die zukunftsgerichtete Rechtsprechung zugunsten einer formal orientierten Streitentscheidung aufgegeben werden. Vielmehr müsse einerseits die Sensitivität der Appellationsrichter für legislative facts durch eine verbesserte Ausbildung der Richter und durch eine vermehrte Einbeziehung von Sachverständigen in Appellationsverfahren gestärkt werden.1180 Andererseits müssten die Richter auch bereits unter den gegenwärtigen Bedingungen ihrer Entscheidungstätigkeit danach streben, das bestmögliche Ergebnis aus ihrer Erfahrung und notfalls aus ihrer Intuition zu schöpfen: „Members of the legal profession have played a central role in the political history of the United States, and the profession’s institutions and usages are reflectors of the fundamental political values that have emerged from that history. Appellate judges in nonroutine cases are expected to express as best they can the reasons for their decision in signed, public documents (the published decisions of these courts) and this practice creates accountability and fosters a certain reflectiveness and self-discipline. None of these things guarantees wisdom, especially since the reasons given for a decision are not always the real reasons behind it. But at their best American appellate courts are councils of wise elders and it is not completely insane to entrust them with responsibility for deciding cases in a way that will produce the best results in the circumstances rather than just deciding cases in accordance with rules created by other organs of government or in accordance with their own previous decisions […].“1181
Das maßgebliche Kriterium erfolgreicher pragmatischer Rechtsprechung ist daher die Vernünftigkeit (reasonableness) ihrer Ergebnisse.1182 Da sich diese Vernünftigkeit aber nicht auf die zutreffende Lösung des jeweiligen Streitfalls als eine Form der Vergangenheitsbewältigung bezieht, sondern nur auf die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft, führt die Idee des Rechtspragmatismus zu einem starken, fallenthobenen Normbildungsmandat der Rechtsprechung. Richter sind danach, um die Worte Dworkins als Kritiker des Rechtspragmatismus aufzugreifen, „independent architects of the best future“.1183 Eine Grenze für ihr Normbildungsmandat folgt nach der rechtspragmatischen Auffassung letztlich nur aus dem Gedanken einer verbindlichen Arbeitsteilung mit der Gesetzgebung und der Exekutive, die gewisse Folgenüberlegungen vorwegnehmen und damit der Rechtsprechung abschneiden können.1184 Hingegen lehnt es der Rechtspragmatismus dezidiert ab, einen intrinsischen Arbeitsbereich der Judikative anzu-
1180
R. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 76. R. Posner, Pragmatic Adjudication, in: Dickstein (Hrsg.), The Revival of Pragmatism, 1998, S. 235 (243 f.). 1182 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 249; ders., Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 59, 64; ders., Pragmatic Adjudication, in: Dickstein (Hrsg.), The Revival of Pragmatism, 1998, S. 235 (241) sowie ders., 71 U. Chi. L. Rev. 683 (2004). 1183 Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 410. 1184 R. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 69 ff.; siehe auch Easterbrook, 31 Harv. J.L. & Pub. Pol’y 901 (2008). 1181
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§ 3 Entwicklungsgeschichtlicher Überblick
erkennen, in dessen Rahmen eine wesensmäßige Beziehung zwischen Streitentscheidung und Normbildung bestehen würde.
X. Zusammenfassung Im Staatsgefüge der USA nahm die richterliche Normbildung von Beginn an eine größere Rolle bei der Gesellschaftsgestaltung ein, als dies in der englischen Mutterrechtsordnung der Fall war. Nach einer kürzeren formalistischen Periode in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen dabei Tendenzen, das Institut des Zivilprozesses für eine aktive Rechtsgestaltung durch die Gerichte nutzbar zu machen und in diesem Rahmen das Band zwischen der streitentscheidenden und der normbildenden Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu lockern, endgültig die Oberhand. Vor allem unter dem Einfluss der rechtssoziologischen bzw. rechtsrealistischen Strömung, durch die Einwirkungen des Verfassungsrechts auf das Privatrecht sowie später durch die Denkrichtungen der ökonomischen Analyse des Rechts und des Rechtspragmatismus hat der Gedanke eines social engineering, der den höchstrichterlichen Zivilprozess auf eine Steuerungsfunktion verpflichtet, in den Vereinigten Staaten einen erheblichen Einfluss gewonnen. Besteht eine gewisse Hinwendung zu einer abstrakt-normbildenden Funktion der Zivilrechtsprechung zwar auch in Deutschland und – in begrenzterem Maße – in England,1185 so geht die Intensität dieser Entwicklung in den Vereinigten Staaten aber noch deutlich weiter. Denn den US-amerikanischen Appellationsgerichten geht es nicht nur darum, einen größtmöglichen Beitrag zu der immanenten Vervollkommnung des Zivilrechtssystems zu leisten, indem sie das rechtliche Normengefüge an eine bereits geänderte gesellschaftliche Wirklichkeit anpassen, sondern auch darum, solche gesellschaftlichen Veränderungen selbst anzustoßen. Eine Grundlage für diesen wichtigen Unterschied bildet die traditionelle Schwäche der legislativen und der exekutiven Gewalt in den USA, die ein gestalterisches Eingreifen der Rechtsprechung in vielen Fällen näher legt als in Europa. Dem vor allem zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die legal process-Schule unternommenen Versuch, eine genuin fallbezogene Funktion der Appellationsrechtsprechung zu vindizieren, die auf einer notwendigen Einheit von Streitentscheidung und richterlicher Normbildung aufbaut, war hingegen kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Vielmehr ist die Grenze zwischen der privaten und der öffentlichen Seite des Rechts in den Vereinigten Staaten nachhaltig erodiert. Die Institution Rechtsprechung nimmt somit nicht nur im Bereich des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, sondern auch im Privatrecht eine sehr aktive Rolle bei der Normbildung ein, die gesetzgebungsähnlich 1185
Siehe zu der Entwicklung in diesen Ländern oben § 3 A, S. 35 ff. und § 3 B, S. 123 ff.
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konstruiert wird. Zivilprozesse, zumal auf den höheren gerichtlichen Ebenen, werden dementsprechend als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und damit zugleich als ein Mittel der Sozialgestaltung begriffen. Vor diesem Hintergrund sehen die Appellationsgerichte des Bundes und der Einzelstaaten ihre Aufgabe weniger in der abschließenden Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits, die daneben auch normbildend wirkt, sondern konzentrieren sich vielmehr ganz unmittelbar auf eine Normbildung zu solchen Fragen, die eine möglichst große Wirkungsbreite haben. Hierauf wird zunehmend auch der prozessuale Rahmen des Appellationsverfahrens ausgerichtet. Während sich die Bundesgerichte seit der Erie-Doktrin weit gehend aus der Beurteilung klassischer privatrechtlicher Streitigkeiten zurückgezogen haben, setzt sich vor den einzelstaatlichen Gerichten auch für Zivilrechtsfälle ein so genanntes public law-Modell des Prozesses durch. In dessen Rahmen erfährt das traditionelle Denken in privaten Rechten und Pflichten eine Überformung durch gezielt herangezogene Gesichtspunkte der gesellschaftlichen Interessenlage. In das Zentrum rückt die Frage, welchen Beitrag die Rechtsprechung zur Lösung gesellschaftlicher Probleme leisten kann. Die klassische streitentscheidende Seite der Appellationsrechtsprechung schwindet auf diesem Wege zugunsten einer abstrakt-rechtsgestaltenden Seite.
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren Der entwicklungsgeschichtliche Überblick hat ergeben, dass die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung sich tendenziell immer weniger als eine organische Fortführung eines privaten Rechtsstreits versteht, die durch ihre Streitentscheidung zugleich auch normbildend wirkt. Vielmehr tritt im Sinne einer „vorsorgenden“ Rechtsprechung das Moment der abstrakten Rechtsgestaltung mit Wirkung für die Zukunft mehr und mehr in den Vordergrund, während das Moment der Entscheidung eines konkreten, in der Vergangenheit liegenden Konflikts demgegenüber verblasst. In besonderem Maße gilt dies für die Vereinigten Staaten und für Deutschland. In England besitzt das klassische Bild einer fallbezogenen Appellationsrechtsprechung zwar noch eine stärkere Wirkungskraft. Aber auch hier sind zunehmende Tendenzen zu einer Verselbstständigung der richterlichen Normbildung zu verzeichnen. Im Folgenden soll eine alternative Sichtweise der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Zivilrecht entwickelt werden, die – traditioneller orientiert – die Wahrung eines engen streitentscheidenden Bezugs als Grundlage einer legitimen und nachhaltigen richterlichen Normbildung ansieht. Den Ausgangspunkt für diese Sichtweise bilden die Überlegungen Hayeks zu den Erfolgsbedingungen staatlicher Regulierung und zu der Aufgabe, die der Rechtsprechung hierbei zukommt.
A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks Die höchstrichterliche Normbildung entwickelt rechtliche Vorgaben für die zukünftige Beurteilung von Sachverhalten und wirkt in diesem Sinne steuernd auf Lebensverhältnisse ein. Mit den Erfolgsbedingungen derartiger Steuerungen hat sich besonders intensiv Friedrich August von Hayek befasst. Seine Erkenntnisse hat Hayek dabei zu einem Plädoyer gegen eine umfassende staatliche Regulierung und für eine so genannte spontane Ordnung ausgearbeitet, die sich aus der Initiative Privater bildet und die der Staat nur in Gestalt einer Rahmenordnung moderiert.1 Für die vorliegende Frage der richterlichen Normbildung 1
Als Hauptwerke gelten: Der Weg zur Knechtschaft, hrsg. von Streit, 4. Aufl. 2004; Die
A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks
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erlangt ein Ausschnitt der Hayekschen Sichtweise besondere Bedeutung. Es handelt sich dabei um ein als „Wissensproblem“ bezeichnetes Phänomen, das als Argument für eine enge Rückkoppelung der richterlichen Normbildung an die Streitentscheidung in dem jeweils anhängigen Fall aufgegriffen werden soll.
I. Der Ausgangspunkt des Wissensproblems Bereits in seinem knappen, aber bahnbrechenden Artikel „The Use of Knowledge in Society“ aus dem Jahr 1945 hat Hayek dargelegt, dass die Steuerung von Lebensverhältnissen auf verschiedensten Wegen erfolgen kann, wobei die Planung durch eine zentrale Einheit und der dezentrale Interessenausgleich durch den Markt quasi an den entgegengesetzten Enden einer gleitenden Skala liegen. Diese Skala hält auch eine Vielzahl von Kompromissen und Mischformen zwischen diesen beiden Endpunkten bereit. Die Wahl der geeigneten Form der Regulierung hängt nach Hayek dabei davon ab, welche Einheit am besten in der Lage ist, die Informationen zu verarbeiten, die für die jeweilige Regulierungsentscheidung bedeutsam sind. 2 Dabei tritt neben das so genannte Expertenwissen, das bei zentralen Instanzen vorhanden ist und sich beispielsweise in bürokratisch organisierten Verwaltungshierarchien findet, ein unorganisiertes Wissen spezieller Umstände in Raum und Zeit. 3 Dieses Wissen ist unter einer Vielzahl von Personen verstreut und somit nicht ohne weiteres in gebündelter Form verfügbar. Der Erfolg einer komplexen Gesellschaft wächst folglich mit dem Maß, in dem sie der Allgemeinheit die Nutzung des dezentralen Wissens ermöglicht, das nur Einzelne entwickelt und erworben haben.4 „The peculiar character of the problem of a rational economic order is determined precisely by the fact that the knowledge of the circumstances of which we must make use never exists in concentrated or integrated form, but solely as the dispersed bits of incomplete and frequently contradictory knowledge which all the separate individuals possess. The economic problem of society is thus not merely a problem of how to allocate ‘given’ resources – if ‘given’ is taken to mean given to a single mind which deliberately solves the problem set by these ‘data.’ It is rather a problem of how to secure the best use of resources known to any of the members of society, for ends whose relative importance only these individuals know. Or, to put it briefly, it is a problem of the utilization of knowledge not given to anyone in its totality.“5
Verfassung der Freiheit, hrsg. von Bosch, 4. Aufl. 2005 und Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003. 2 Hayek, 35 A.E.R. 519, 520 f. (1945). 3 Hayek, 35 A.E.R. 519, 521 f. (1945). 4 Hayek, Die Verfassung der Freiheit, hrsg. von Bosch, 4. Aufl. 2005, S. 31 ff.; ders., The Political Ideal of the Rule of Law, 1955, S. 31. 5 Hayek, 35 A.E.R. 519 f. (1945).
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
Das dezentrale Wissen kann somit für eine zu treffende Sachentscheidung höchst nützlich sein, aber durch zentralisierte staatliche Instanzen nur unzureichend berücksichtigt werden.6 Denn diese Instanzen sind durch die ihnen eigenen Strukturen nur begrenzt fähig, verstreute Informationen aufzunehmen. Die Nutzbarmachung solchen Wissens erfolgt daher idealtypisch nicht durch eine zentrale Einheit, sondern über den Markt und den mit ihm verbundenen Preismechanismus.7 Dabei wird der Markt durch Hayek als eine Institution begriffen, die in einem evolutiven Prozess entsteht, wie dies beispielsweise auch bei handlungsleitenden Bräuchen der Fall ist.8 Der besondere Wert derartiger dezentraler Institutionen und ihr Beitrag zu einer freien Entwicklung der Gesellschaft bestehen darin, dass sie einerseits den Geist persönlicher Initiative aufnehmen, die widerstreitenden subjektiven Interessen aber andererseits durch einen unpersönlichen, objektiven Mechanismus koordinieren und moderieren.9
II. Die Bedeutung des Wissensproblems für Normbildungen im Recht Hayek selbst hat bereits frühzeitig darauf hingewiesen, dass das aufgeworfene Problem der Informationsverarbeitung nicht auf wirtschaftliche Zusammenhänge begrenzt ist, sondern einen zentralen Punkt aller sozialen Phänomene bildet.10 Die Implikationen, die hieraus für die Normbildung im Recht folgen, hat er insbesondere in seinem Werk „Recht, Gesetz und Freiheit“ dargelegt, das erstmals im Jahr 1982 vollständig publiziert wurde. Hayek greift hierbei wiederum den Gedanken auf, dass eine zentrale Regulierung nur schwerlich an dezentral vorhandenes, implizites Wissen anschließen kann.11 Auch im Recht sollten normschaffende Institutionen daher unter Bedingungen operieren, unter denen möglichst viel dezentrales Wissen verarbeitet und für die Zukunft nutzbar gemacht wird. Daraus leitet Hayek die Forderung ab, dass nicht eine zentrale, rational-planende Normbildung den Regelfall darstellen dürfe, sondern dass sich die Regeln aus einer Mischung von Erfahrungswissen und stetig neuen Impulsen ableiten sollten. Als vorbildhaft sieht er dabei die Prinzipien der historischen Rechtsschule und die fallgeprägte Normbildung des common law an.12
6 7 8 9 10 11 12
Hayek, 35 A.E.R. 519, 524 (1945). Hayek, 35 A.E.R. 519, 524 ff. (1945). Hayek, Die Verfassung der Freiheit, hrsg. von Bosch, 4. Aufl. 2005, S. 37. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, hrsg. von Bosch, 4. Aufl. 2005, S. 3 ff. Hayek, 35 A.E.R. 519, 528 (1945). Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 10 ff. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003. S. 24.
A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks
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Die historische Schule mit ihrer Ausrichtung auf Regeln und Institute, die über lange Zeiträume entstanden und gefestigt seien, ermögliche es, das Wissen vergangener Generationen nutzbar zu machen, auch ohne es unmittelbar präsent zu haben. Solche Regeln und Institute vereinen für Hayek einen Anspruch auf Richtigkeitsgewähr in sich, der unabhängig davon ist, ob man sie abstraktrational begründen kann.13 Daher verbindet ihn mit dem Rechtsverständnis Savignys die Vorstellung, dass Recht sich seinem Wesen nach auf die Überlieferung einer Gesellschaft stützt und kein umfassend planbares Konstrukt darstellt. Das Fallrecht des common law besitze wiederum eine inhärente Dynamik. Diese folge aus der stetigen Konfrontation geltender Regeln mit neuen Fallkonstellationen, die bei der Regelsetzung noch nicht vollständig bedacht worden seien.14 Hierin erkennt Hayek den Idealtypus einer Rechtsentwicklung, die nicht auf einer rationalen Planung, sondern auf tradierten Regeln beruht, die im Wege von Analogie- und Umkehrschlüssen auf neue Situationen übertragen werden, ohne von vornherein als allgemeine Regeln verbalisiert zu sein.15 Zwar wohnt dieser Form der Regelbildung nach Hayek durchaus auch eine Gefahr inne, nämlich das Problem einer eingeschränkten Vorhersehbarkeit des Rechts und damit einer teilweisen Kompromittierung der rechtsstaatlichen Begrenzung der Staatsmacht.16 Im Ergebnis plädiert er aber gleichwohl dafür, die Normbildung in einem kontinuierlichen Anpassungsprozess vorzunehmen, der sich in Form eines „trial and error“ vollzieht.17 An beiden Ansätzen, nämlich demjenigen der historischen Rechtsschule und demjenigen des common law, hebt Hayek dabei das Prinzip der immanenten Kritik vor. Nach diesem Prinzip geht es bei der Entwicklung von Regeln um eine stetig fortwährende Verbesserung auf der Grundlage des vorhandenen Normenbestands.18 Die Idee der Regelbildung als ein in der Vergangenheit fundiertes und neue Anregungen aufgreifendes Entdeckungsverfahren bildet für Hayek einen scharfen Kontrast zu dem Modell, das er als so genannten konstruktivistischen Rationalismus bezeichnet.19 Dieses alternative Modell beruht auf der Vorstellung, dass Normen am besten durch Verstandes- und Vernunftanstrengungen generiert werden. Nach diesem Ansatz ist ein Staat in der Lage, bei gehöriger Anstrengung seiner führenden Köpfe das Recht abstraktrational zu konstruieren, wie es etwa das Credo der französischen Kodifikation 13
So bereits Hayek, 35 A.E.R. 519, 528 (1945). Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 68. 15 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 79 ff. 16 Hayek, The Political Ideal of the Rule of Law, 1955, S. 19. 17 Hayek, Die Verfassung der Freiheit, hrsg. von Bosch, 4. Aufl. 2005, S. 68 ff., insbesondere S. 75; hierzu auch Eckardt, 9 German Law Journal 437, 446 ff. (2008). 18 Siehe Hayek, Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde, in: ders., Die Anmaßung von Wissen, 1996, S. 16 (33 f.). 19 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 11 ff., 31 ff. 14
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
unter Napoleon oder der philosophischen Schule in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts war. 20 Derartige Versuche sind aus Hayekscher Sicht aufgrund der Außerachtlassung dezentralen Wissens langfristig nicht tragfähig bzw. auf eine erhebliche Ergänzung durch erfahrungsbezogene Normbildungsprozesse angewiesen. Die skizzierte Deutung der historischen Rechtsschule und des common law durch Hayek ist allerdings unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert worden. So wurde ihm vorgeworfen, zu stark das gewohnheitsmäßige Moment des common law zu betonen und dabei den Anteil an bewusst-steuernder Normbildung zu vernachlässigen, welche die englischen Richter betreiben. 21 Dieser Anteil hat sich insbesondere seit dem 19. Jahrhundert durch die Ausweitung der Präjudizienbindung und die verstärkte Rationalisierung des common law-Prozesses erhöht. In der Literatur findet sich diese Kritik zu der Einsicht verdichtet, Hayek verfehle die Unterscheidung zwischen dem „klassischen“ und dem „modernen“ common law: „The common-law judge no longer acts merely as a referee overseeing the adversarial process to ensure that the disputed issues are properly framed for submission to the jury, but also as the arbiter of the substance of the law. No longer merely a discoverer of customs, the judge is now an intellectual craftsman, charged with sculpting the rules into a consistent and coherent body of law while ensuring that the whole does not lose touch with the normative ends it is designed to serve. In every appellate decision, the judge must consider not merely what is fair to the parties of the dispute, but how the decision will impact the law’s twin goals of maintaining a reasonable consistency with past rulings and advancing good public policy.“22
Parallel zu dieser Kritik ließe sich in Bezug auf die historische Schule ergänzen, dass Hayeks Lesart dieser Schule die Bedeutung der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Rechts durch einen spezialisierten Juristenstand ausblendet, die das Bild eines bloßen Aufgreifens impliziten Wissens zweifelhaft erscheinen lässt.23 Schließlich hatte gerade Savigny darauf hingewiesen, dass der Juristenstand in einer ausdifferenzierten Gesellschaft das bereits bestehende Recht nicht nur ordne, sondern dem Rechtsstoff mit seiner wissenschaftlichen Methode ein „neues organisches Leben“ gebe. 24 Nur aufgrund dieser besonderen Bedeutung, die Savigny der gelehrten Überformung des Rechtsstoffs beimaß, war es ihm überhaupt möglich, die Rezeption des römischen Rechts als Grundlage ei20
Siehe oben § 3 A I, S. 35 ff. Hasnas, 1 NYU Journal of Law & Liberty 79, 89 ff. (2005); Vermeule, 1 Journal of Legal Analysis 1, 12 ff. (2009); ähnlich Cole, 1 NYU Journal of Law & Liberty 111, 123 ff. (2005). 22 Hasnas, 1 NYU Journal of Law & Liberty 79, 96 (2005). 23 Vgl. Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders. u.a. (Hrsg.), Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, 1965, S. 9 ff.; im Sinne Hayeks aber das evolutive Moment der historischen Rechtsschule betonend Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 18 ff. 24 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 46 f. 21
A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks
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ner aus dem deutschen Volksgeist geborenen Rechtsordnung anzusehen.25 Denn nur weil die Wissenschaft die Rechtsinstitute und Rechtsregeln des klassischen römischen Rechts als eine Ordnung aufarbeitete, die auch den deutschen Lebensverhältnissen angemessen war, konnte diese in den Volksgeist Eingang finden.26 In diesem Sinne ging die spezialisierte Ordnung der rechtlichen Regeln ihrer Verankerung in der Lebenswirklichkeit voraus. Folgerichtig spielte auch im Rahmen der historischen Schule das gezielt eingesetzte Expertenwissen eine zentrale Rolle, was das Bild einer rein schrittweisen Akkumulation von Wissen relativiert. Somit sprechen gute Gründe dafür, dass Hayek die Kraft des Tradierten für die Normbildung im Recht überschätzt und die Bedeutung rationaler Vorausplanung unterschätzt hat. 27 In diesem Sinne vermochte sich auch eine radikale Lesart der Hayekschen Gedanken nicht durchzusetzen, die den Prozess der richterlichen Normbildung als ein strenges Abbild des biologischen Evolutionsmodells zu deuten sucht. Diese vor allem in den Vereinigten Staaten ausgearbeitete Theorie geht davon aus, dass die Richter keinen bewussten Beitrag zu der Vervollkommnung des Rechts leisten können, weil sie keinen hinreichenden Überblick zu den jeweiligen Regelungsgegenständen und Regelungszusammenhängen haben. 28 Vielmehr deuten die Vertreter dieser Theorie die Fortentwicklung des Rechts im Wege des Rechtsprechungsprozesses als einen evolutiven Selektionsvorgang. 29 Während es rein zufällig bleiben soll, ob ein bestimmtes höchstrichterliches Judikat eine sinnvolle Regelung erzeugt oder nicht, sollen die Rechtsunterworfenen durch ihr Prozessverhalten für die Herausbildung effizienter Regeln sorgen. Denn – so die Annahme des Modells – wenn ein Gericht ein „schlechtes“ Präjudiz erlasse, so soll dieses in Folgeprozessen einem erhöhten Selektionsdruck durch die Rechtsunterworfenen ausgesetzt sein und dementsprechend wahrscheinlich wieder abgeändert werden.30 Demgegenüber böten „gute“ Präjudizien weniger Angriffsfläche für Versuche, sie im Zuge nachfolgender Verfahren wieder zu überwinden, was zu einer Stabilisierung 25
Dazu Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 78 ff., 85 ff. Siehe Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, 1840, S. 79. 27 So etwa R. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003, S. 279 ff.; ders., 1 NYU Journal of Law & Liberty 147 ff. (2005). Zu den Divergenzen zwischen Hayek und Posner näher Mestmäcker, A Legal Theory without Law, 2007 und auch Beaulier/Boettke/Coyne, 1 NYU Journal of Law & Liberty 209 ff. (2005). 28 Vgl. Aranson, 3 Constitutional Political Economy 289, 299 ff. (1992); Rizzo, 8 Hofstra L. Rev. 641 ff. (1980). 29 In dieser Richtung insbesondere Cooter/Kornhauser, 9 J. Legal Stud. 139 ff. (1980); Priest, 6 J. Legal Stud. 65 ff. (1977); Rubin, 6 J. Legal Stud. 51 ff. (1977) und Terrebonne, 10 J. Legal Stud. 397 ff. (1981); aus jüngerer Zeit Miceli, 38 J. Legal Stud. 157 ff. (2009) sowie Yee, Common Law Efficiency under Haphazard Adjudication, Working Paper, 2005, S. 4 ff. 30 Goodman, 7 J. Legal Stud. 393 ff. (1978); Katz, 8 Intl. Rev. L. & Econ. 127 ff. (1988); Priest, 6 J. Legal Stud. 65 ff. (1977); Rubin, 13 Sup. Ct. Econ. Rev. 19, 21 (2005); Terrebonne, 10 J. Legal Stud. 397, 400 ff. (1981). 26
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
dieser Präjudizien führe. Die Grundaussage dieses Modells ist daher, dass die Qualität des richterlichen Entscheidungsprozesses selbst rein zufällig bleibt, weil die Gerichte die Vor- und Nachteile einer bestimmten rechtlichen Regelung nicht einschätzen können. Die richterlichen Festlegungen bilden danach, vergleichbar mit den genetischen Mutationen in der Natur, nur das zufällige Rohmaterial, aus dem erst ein prozessinduzierter Selektionsvorgang ein sinnvolles Regelungsgefüge formt. Diese Theorie zeichnet sich jedoch durch zwei erhebliche Schwächen aus. Zum einen geht sie irrigerweise davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, ob ein Präjudiz in einem späteren Verfahren aufgehoben wird oder nicht, in etwa gleich hoch ist. Dies trifft jedoch gerade im common law aufgrund des Prinzips des stare decisis nicht zu.31 Zwar lassen die Techniken des overruling und des distinguishing eine spätere Änderung zu, gleichwohl ist eine Verfestigung des Präjudizes in Folgeprozessen aber immer noch wahrscheinlicher als seine Überwindung. In Deutschland gilt aufgrund der zumindest faktischen Bindungswirkung von Präjudizien durchaus Vergleichbares.32 Zum anderen hängt die Frage, wie oft ein Präjudiz in späteren Verfahren angegriffen wird, nicht nur von der Qualität seines Inhalts ab, sondern auch davon, welche Interessengruppen jeweils von ihm betroffen sind. In diesem Sinne können beispielsweise gut organisierte Interessengruppen eine wirkungsvollere Prozessaktivität entfalten als eine breite Gruppe von Bürgern, die mit der betreffenden Regelung nicht ständig, sondern nur gelegentlich oder einmalig in Berührung kommt. 33 Die tatsächlich angestrengten Prozesse bilden somit die betroffenen Interessen und deren Intensität nicht fehlerfrei ab, was den Selektionsdruck quasi verzerrt. 34 Aus diesem Grund führt ein rein biologisch-evolutiv verstandener Prozess der richterlichen Normbildung nicht zwangsläufig zu sachgerechten Ergebnissen, sondern tendenziell eher zu der Durchsetzung gut organisierter Partikularinteressen.35 Somit lässt sich die richterliche Normbildung nur dann als ein akzeptabler Modus der Fortentwicklung des Rechts begreifen, wenn man auch das Moment der bewussten richterlichen Entscheidung einkalkuliert und darauf vertraut, dass durch diese bewussten Entscheidungen angemessene Regelungen entste31 Cooter/Kornhauser, 9 J. Legal Stud. 139, 154 ff. (1980); Landes/Posner, 8 J. Legal Stud. 235, 259 ff. (1979); R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 604. 32 von Wangenheim, Die Evolution von Recht, 1995, S. 77 ff. 33 Priest/Klein, 13 J. Legal Stud. 1 ff. (1984); R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 604; siehe auch bereits Rubin, 6 J. Legal Stud. 51, 53 ff. (1977). 34 Hadfield, 80 Geo. L.J. 583, 594 ff. (1992). 35 Komesar, Imperfect Alternatives, 1994, S. 136 ff.; von Wangenheim, Die Evolution von Recht, 1995, S. 90 f. Allgemein zu dem Phänomen der Durchsetzungsstärke wohlorganisierter Partikularinteressen in staatlichen Entscheidungsprozessen Macey, Public Choice and the Law, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Band III, 1998, S. 171 ff. und Rubin, 11 J. Legal Stud. 205 ff. (1982).
A. Das Wissensproblem im Sinne Hayeks
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hen können.36 Dies hat jedoch auch Hayek keineswegs verkannt und einer Gleichsetzung seines Normbildungsverständnisses mit dem biologischen Evolutionsprozess vielmehr eine deutliche Absage erteilt.37 In diesem Sinne spricht er dem Moment der bewussten Regelsetzung im Recht keineswegs seine Berechtigung ab. Ihm geht es vielmehr darum, dass diese Setzung nicht dem Ideal einer umfassenden Planung nachstreben darf, sondern auf einen Rahmen begrenzt sein muss, in dem die regulierende Instanz ein überlegenes Sachwissen für sich in Anspruch nehmen kann. Dieses Sachwissen erlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung nun gerade durch die Anstöße, die ihr das jeweils zu entscheidende Fallmaterial gibt. Die Fälle bilden in diesem Sinne einen „Wissensschatz“, der einem abstrakt orientierten Normgeber nicht zur Verfügung steht und der es der Rechtsprechung daher ermöglicht, den tradierten Rechtsbestand sinnvoll fortzuentwickeln. Richter sind nach Hayek daher nicht auf den reinen Vollzug des Tradierten begrenzt, sondern müssen das Normengefüge auch ergänzen, wenn es unklar ist oder aufgrund neu eingetretener Lebenskonflikte nicht mehr als tauglich erscheint.38 Den Erfolg versprechenden Weg bildet hierbei jedoch nicht die abstrakte Sichtweise, die direkt danach fragt, welche Regel aus rein systematischer Sicht am passendsten erscheint. Vielmehr geht es darum, anhand immer neuer Fallkonstellationen aus dem tradierten Bestand den tieferen Sinn rechtlicher Regeln herauszuschälen und diesen damit zugleich eine überzeugende Fassung zu geben: „Die beständige Notwendigkeit, Regeln in Worte zu fassen, um in den ihn leitenden Präzedenzfällen zwischen Relevantem und Nebensächlichem unterscheiden zu können, dürfte im Richter, der Gewohnheitsrecht anwendet, eine Fähigkeit zur Auffindung allgemeiner Grundsätze entwickeln, wie sie ein Richter, der anhand eines angeblich erschöpfenden Katalogs anwendbarer Regeln zu entscheiden hat, selten erlangt. Wenn die Verallgemeinerungen nicht gebrauchsfertig geliefert werden, erhält sich offenbar eine Fähigkeit zur Formulierung von Abstraktionen, die im mechanischen Gebrauch verbaler Formeln verloren zu gehen pflegt. Der Richter, der Gewohnheitsrecht anwendet, kann nicht umhin, sehr genau zu wissen, daß Worte immer nur ein unvollkommener Ausdruck für das sind, was zu formulieren sich seine Vorgänger abmühten.“39
36
Lampe, Genetische Rechtstheorie, 1987, S. 26 ff.; R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 604; allgemein für soziale Phänomene auch Witt, Individualistische Grundlagen der evolutorischen Ökonomik, 1987, S. 83 ff. m.w.N. 37 Hayek, Die Verfassung der Freiheit, hrsg. von Bosch, 4. Aufl. 2005, S. 78. Ähnlich schon Gschnitzer, ÖJZ 1946, 504 (508): „Wenn wir im Recht von Ahnenreihen, Urtypen, Mutationen, Selektion, Adaption, Senilismen sprechen, kann das nur im übertragenen Sinn gemeint sein, weil sich alle diese Vorgänge nur unter Dazwischenkunft des Menschen vollziehen, der die Rechtsinstitute ererbt oder erzeugt. Nicht Vererbung, sondern Tradition finden wir vor.“ 38 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 122. 39 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 90.
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Entscheidend ist somit nicht in erster Linie der Wille des Richters, Regelungslücken zu schließen und damit die Rechtsordnung für die Zukunft zu verbessern, sondern dass er die in den konkreten Lebenskonflikten verstreuten Informationspartikel aufgreift und im Wege eines fortgesetzten Entscheidens aggregiert.40 In diesem Sinne geht es nicht um einen rein prospektiv orientierten Gestaltungsprozess, sondern um eine kontinuierliche Fortschreibung auf der Grundlage der bestehenden Normen und der geschehenen Fälle. Eine zentrale Rolle für diese fortwährende Erhaltung und Verbesserung der Rechtsordnung bildet dabei die Einpassungsfähigkeit einer neuen, richterlich geschaffenen Regelung in den vorhandenen Rechtsbestand. Getreu seinem Grundmodell beurteilt Hayek diese Einpassungsfähigkeit aber nicht nur danach, ob sich die neue Regel rechtssystematisch einfügt, sondern vor allem danach, ob das durch sie geregelte Verhalten sinnvoll mit anderen rechtmäßigen Verhaltensformen harmoniert.41 Die Antwort hierauf ergibt sich nur aus der Anschauung konkreter Fälle. Somit hat die Bildung neuer Normen durch die Rechtsprechung immer dann eine große Aussicht auf Erfolg, wenn sie in einer direkten Anschauung der zu regelnden Lebenssachverhalte erfolgt. Denn gerade in Gestalt des Fallbezugs mit seiner Anknüpfung an tatsächlich geschehene, quasi handgreifliche Sachverhalte steht dem normbildenden Richter eine andere Informationsgrundlage zur Verfügung als dem normbildenden Gesetzgeber.42 Eine fallbezogene Normbildung durch die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung entspricht daher in nahezu idealer Weise dem Hayekschen Paradigma, nach dem persönliche Initiativen – hier in Gestalt der Prozessparteien, die konkrete Fallgestaltungen in den Rechtsprechungsprozess einspeisen – durch einen unpersönlichen Mechanismus – hier: die richterliche Entscheidung – koordiniert werden.43 Dies setzt allerdings voraus, dass die obersten Zivilgerichte ihre Aufgabe nicht primär darin sehen, als wünschenswert angenommene gesellschaftliche Zwecke zu verwirklichen, wie dies beispielsweise die rechtspragmatische Schule annimmt.44 Vielmehr muss es ihnen in erster Linie darum gehen, anhand konkreter Fälle den bestehenden Ordnungsrahmen für privates Verhalten fortzuentwickeln. In Rede steht somit weniger die progressive Verwirklichung von Werten durch die Gerichte selbst, sondern vielmehr die Unterstützung und Formung privater Initiativen, indem ein sicherer Rahmen für individuelle Aktivitäten geschaffen wird.45 40 Zu der Aggregation verstreuter Informationen als Grundlage des Hayekschen Modells näher Sunstein, Infotopia, 2006, S. 134 ff. 41 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 109. 42 Cole, 1 NYU Journal of Law & Liberty 111, 112 (2005). 43 Siehe allgemein zu diesem Koordinationsprozess Hayek, Die Verfassung der Freiheit, hrsg. von Bosch, 4. Aufl. 2005, S. 3 ff. 44 Dazu oben § 3 C IX 2, S. 246 ff. 45 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanverg, 2003, S. 97 ff., 121 ff.
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„Die Bemühungen des Richters gehören somit zu jenem Vorgang der Anpassung der Gesellschaft an sich wandelnde Umstände, in dem die spontane Ordnung wächst. Er wirkt am Selektionsprozeß mit, indem er an solchen Regeln festhält, die ebenso wie jene, die in der Vergangenheit gute Dienste leisteten, wahrscheinlicher machen, dass Erwartungen übereinstimmen, nicht einander widersprechen. Er wird somit zu einem Organ dieser Ordnung. Aber sogar dann, wenn er in Ausübung dieser Funktion neue Regeln schafft, ist er nicht Schöpfer einer neuen Ordnung, sondern Diener, der eine bestehende Ordnung zu erhalten und zu verbessern trachtet. Und das Ergebnis seiner Bemühungen wird ein typisches Beispiel für jene »Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht irgend eines menschlichen Planes« sein, in denen durch die Erfahrung des Experimentierens von Generationen mehr Wissen verkörpert ist, als es je ein einzelner besaß.“46
Maßgeblich für eine gesunde Fortentwicklung des Rechts ist nach Hayek daher weniger der Regelungswille, den ein Gericht mit der Entscheidung eines einzelnen Falls durchsetzen möchte, sondern vielmehr das Gesamtgefüge, das sich aus einer fortgesetzten und aufeinander bezogenen Entscheidungspraxis ergibt.47 Aus dieser Perspektive stehen die richterlichen Fallentscheidungen, obwohl mit ihnen nicht der Anspruch eines umfassenden gesellschaftlichen Planungsprozesses verbunden ist, gleichwohl nicht unverbunden nebeneinander, sondern dienen alle dem einheitlichen Ziel der Verbesserung des Privatrechts als eine aus Erfahrung gespeiste Rahmenordnung. In diesem Sinne kann der Ertrag, den Hayeks Überlegungen für die heutige Diskussion um die richterliche Normbildung im Zivilrecht ergeben, mit Hasnas am besten dahingehend zusammengefasst werden, dass sich in dieser Normbildung die bewussten Entscheidungen der Gerichte stets mit den spontanen Anstößen durch das jeweilige Fallmaterial verbinden sollten: Das Richterrecht ist „judge-made law“, bleibt aber doch „case-generated“.48
B. Das Bild einer fallbezogenen Wissensakkumulation in der zivilprozessualen Literatur Die Folgerungen, die sich aus der Wissensproblematik und den Grenzen rationaler Planung für die normbildende Rechtsprechung ergeben, werden in der prozessrechtlichen Literatur sowohl in Deutschland als auch im anglo-amerikanischen Recht bereits seit Langem thematisiert. Diese Erörterungen stimmen mit dem Modell Hayeks insoweit überein, als auch sie davon ausgehen, dass ein enger Fallbezug der richterlichen Normbildung wertvolle Informationen auf-
46
Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 122 f. La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, 46 J. Econ. Lit. 285 ff. (2008); Mahoney, 30 J. Legal Stud. 503 ff. (2001); Zywicki/Sanders, 93 Iowa L. Rev. 559, 579 ff. (2008). 48 Hasnas, 1 NYU Journal of Law & Liberty 79, 96 (2005). 47
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greift und dieses neu erworbene Wissen in einem Prozess der sukzessiven Konturierung von rationes decidendi für die Zukunft perpetuiert.
I. Deutschland So wies bereits Grünhut in seiner Kritik an „allgemeinverbindlichen Richtersprüchen“ auf die Gefahren hin, die aus einer fallenthobenen Tätigkeit der Gerichte entstehen können.49 Auch er sah den größten Gewinn in einer höchstrichterlichen Rechtsprechung, die ihre Normbildung nicht als einen selbstständigen Auftrag, sondern als einen integralen Bestandteil der Streitentscheidung betreibt. In diesem Sinne komme es weniger auf den Regelungszweck an, der mit einzelnen Präjudizien verbunden sei, als vielmehr auf die positiven Effekte, die aus einer kontinuierlichen und schrittweisen Entscheidungspraxis resultieren würden: „Der Wert einer Verfahrensart hängt mehr von ihrem indirekten Einfluß auf das Rechtsleben ab als von den ihr unmittelbar zugedachten Wirkungen.“50
Dies entspricht dem Hayekschen Verständnis einer richterlichen Normbildung, die gleichsam aus der streitentscheidenden Tätigkeit fließt, auch wenn die Normbildung aus Sicht der Gesamtgesellschaft im Ergebnis die wichtigere Seite der höchstrichterlichen Tätigkeit darstellen mag. Später ist eine zu starke Loslösung der normbildenden von der streitentscheidenden Funktion vor allem im Zusammenhang mit der Einführung einer reinen Grundsatzrevision kritisiert worden, die sich seit den 1950er Jahren immer stärker abzeichnete.51 Dabei wies Paulus bereits frühzeitig auf die positive Bedeutung hin, die eine freie Streitwertrevision für die richterliche Normbildung habe.52 Denn eine sinnvolle Normbildung vollziehe sich nur selten in einem abschließenden Grundsatzurteil, sondern in der Regel in einem langwierigen Prozess des fortgesetzten Entscheidens verwandter, aber nicht identischer Fälle, bei dem sich die Konturen der Entwicklung und die grundsätzliche Bedeutung häufig erst ex post in hinreichender Klarheit ergäben: „Aus unauffälligen, zunächst kaum wahrgenommenen neuen Nuancen, die die weitere Rechtsprechung aufnimmt, ergänzt und ausbaut, kann sich allmählich eine Linie von erheblicher Tragweite abzeichnen. Im Gegensatz zum Gesetz ist die richterliche Normbildung kein Akt der Zukunftsplanung, sondern das Resultat abgeschlossener Erkenntnis.“53 49
Siehe oben § 3 A VIII, S. 74 ff. Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, 1929, abgedruckt in: Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 143 (155). 51 Siehe oben § 3 A X 3, S. 92 ff. 52 Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (220 f.). 53 Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (221). 50
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Daher sei es erforderlich, die Revisionsebene nicht nur für solche Fälle zu öffnen, die bereits ex ante durch den iudex a quo oder den iudex ad quem als grundsätzlich erkannt worden seien. Vielmehr müsse neben diesem Bereich der bewussten Planung, das heißt der Grundsatzrevision, durch das Institut der Wertrevision auch ein gleichsam unbegradigter, dem Parteiinteresse anheim gestellter Zufluss an Fallmaterial erhalten bleiben, dessen Bedeutung sich erst in einer späteren Phase der Entwicklung herauskristallisiere. Dieser Gedanke ist in der prozessrechtlichen Literatur auch durchaus immer wieder aufgegriffen und wiederholt worden.54 Eine besondere Hervorhebung verdienen in diesem Zusammenhang auch die folgenden Ausführungen des Bundesrichters Jagusch aus dem Jahr 1953, die dem Thema „Revision oder Grundsatzentscheidung?“ gewidmet sind: „Das Material [für höchstrichterliche Erkenntnisse] erwächst nun aber nicht aus wenigen, zufälligen Vorlagefällen; es stammt vielmehr aus dem breiten Strom der Fälle, der die Schleuse des höchsten Gerichts kraft breiter gesetzlicher Zuständigkeit durchfließt. Er allein erlaubt es ihm, das Grundsätzliche in der Form geeigneter Fälle aufzugreifen, herauszuarbeiten, zu entscheiden und auch die Wirkung solcher Entscheidungen weiterhin zu überwachen. Die lange Tätigkeit des RG bietet für diese nicht immer berücksichtigte Eigenart höchstrichterlicher Wirksamkeit […] ein ragendes Beispiel. Gerade diese allmähliche, vorsichtige Rechtsfortbildung an Hand zahlreicher Fälle und ihre praktische Bewährung bestimmt auf lange Sicht die Güte und Überzeugungskraft der Rechtssprüche eines höchsten Gerichts.“55
In ähnlicher Weise hob wenig später Esser hervor, wie wichtig es ist, dass sich die höchstrichterliche Rechtsprechung eng an das Fallmaterial anlehnt, das ihr im Zuge der einzelnen Streitverfahren vorgelegt wird: „Die Fallgerechtigkeit, aufgebaut auf einer optimalen Sachverhaltsermittlung, ist eine unverzichtbare, ja nach angelsächsischer Überzeugung die einzig wirksame Steuerung für eine vernünftige Richterrechtsbildung. Keine Grundsatzfrage kann anders als Schritt für Schritt aus der Zusammenschau einer längeren Reihe von Einzelentscheidungen gut und dauerhaft etabliert werden. Die vielfach herrschende Vorstellung, eine Fortentwicklung des Rechts durch Richterspruch bedürfe nur grundsätzlicher Entscheidungen im Stile gesetzesähnlicher Aussprüche, ist von der Rechtsvergleichung klar als Mißverständnis erkannt. Auch die Grundsatzentscheidung erhält ihre Richtigkeitsgewähr nur aus der Gerechtigkeit der Fallentscheidung selbst. […] Die Parteien, deren Anträge nach wie vor den Umfang der Nachprüfung bestimmen, und die die Kosten des Revisionsverfahrens tragen, bringen mit ihren Interessen und ihrem Schutzbedürfnis die Frage, so wie sie in ihrem Fall liegt, vor den BGH und dieser kann und darf auch bei Beachtung der Breitenwirkung seiner Entscheidung nichts anderes, als diesen ihren ‚Fall‘ gerecht entscheiden. […] In der Idee mag ein Modellfall eine ein für allemal nachahmenswerte Idealentscheidung 54 Siehe Arndt, NJW 1963, 1273 (1282); Jagusch, NJW 1953, 161 (162 f.); Kaempfe, NJW 1979, 1134 (1138); Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, 1993, S. 82 f.; Möhring, NJW 1962, 1 (3 f.); G. Pfeiffer, NJW 1999, 2617 (2618). 55 Jagusch, NJW 1953, 161 (162 f.).
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provozieren, in Wahrheit besteht das richterliche Rechtsdenken im langsamen Herausschälen des Typischen und (relativ) Bleibenden gegenüber dem Einmaligen, Besonderen und Variablen.“56
Hiermit wird die Notwendigkeit eines breiten und stetig neu zufließenden Anschauungsmaterials unterstrichen, das als ein unabdingbares Schmiermittel im Getriebe der richterlichen Normbildung wirkt, aber durch eine frühzeitige und stark abstrahierende Grundsatzbildung verloren geht.57 In diesem Sinne stellt die richterliche Normbildung einen niemals endenden Lernprozess dar, der die Erkenntnisse der Vergangenheit nutzbar macht, jedoch nicht versucht, abstrakte Gewissheiten unabhängig davon festzuschreiben, ob und wie sie sich in zukünftigen Fallkonstellationen immer wieder neuerlich bewähren: „Grundsätze, die das Weiterbilden der Erkenntnis am Einzelfall erschweren, bedeuten für das Rechtsleben eine Hemmung; und dies um so mehr, je dichter diese Grundsätze werden und je mehr sie das in den Zwischenräumen weiter wachsende Recht einengen.“58
Hierbei kritisierte Esser unter anderem auch die „Leitsatzkultur“ des Bundesgerichtshofs, die selbst bei sorgfältiger Abfassung der Leitsätze die verhängnisvolle Tendenz provoziere, den Aussagegehalt einer Entscheidung von dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt abzulösen.59 Hierdurch verkehre sich der Gedanke einer besonderen Beurteilungskompetenz der obersten Gerichte durch Fallanschauung geradezu in sein Gegenteil. Selbst bei wichtigen Präjudizien gehe es nicht um die Festlegung generellen Rechts, sondern um ein Glied in einer Kette, das einerseits an ältere Entscheidungen anknüpfe und andererseits für die zukünftigen Entscheidungen zwar einen wichtigen Impuls gebe, diese aber nicht zu bloßen Anwendungen des nun gefundenen Leitsatzes degradieren dürfe.60 Vor diesem Hintergrund sei die Rückkehr zu der Praxis des Reichsgerichts vorzugswürdig, den Entscheidungen bloße Stichworte oder Fragesätze als Form einer Überschrift voranzustellen, die den Aussagegehalt einer Entscheidung indiziere, aber nicht in eine abstrakte Formel zu fassen suche.
56
Esser, JZ 1962, 513 (514 f.). Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 241; ähnlich auch R. Bruns, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1979, Rdnr. 274d; Jagusch, NJW 1953, 161 (162); Jungmann, JZ 2009, 830 (835); Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 255 und Paulus, ZZP 71 (1958) 188 (220 f.). 58 Esser, JZ 1962, 513 (515). 59 Esser, JZ 1962, 513 (516); ähnlich Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 273 ff.; Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 40 ff.; positiver in der Beurteilung der Leitsatzpraxis des Bundesgerichtshofs, aber zugleich auch die genannte Gefahr betonend, von Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den Bundesgerichtshof, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Band III, 1983, S. 137 (157 f.). 60 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 268, 280 ff.; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 185. 57
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In diesem Sinne müsse es darum gehen, auch das Revisionsverfahren als einen „echten Prozess“ zu bewahren, in dessen Rahmen das Ziel einer richterlichen Normbildung mit dem Ziel einer gerechten Streitentscheidung untrennbar verbunden sei.61 Nur auf diesem Wege könnten die Natur und die Grenzen der richterlichen Rechtsschöpfungsmöglichkeiten gegen die irrige Idee einer quasi-legislatorischen Tätigkeit bewahrt werden: „Die Garantien haltbarer richterlicher Rechtsfortbildung liegen nicht in der Intensivierung höchstrichterlicher Zielsetzungen, sondern in der Pflege der vorhandenen Traditionen.“62
Die Gedanken Essers gehen im Einklang mit der Hayekschen Sichtweise somit dahin, dass der genuine Beitrag der Rechtsprechung zu der Entwicklung des Rechts nicht in einzelnen Grundsatzurteilen liegt, in denen sie über den konkreten Fall hinaus das Recht als solches zu gestalten versucht, sondern vielmehr darin, dass sie mit einer fortgesetzten, fallbezogenen Entscheidungspraxis den institutionellen Rahmen für eine schrittweise Anpassung und Vervollkommnung des Rechts bietet.63 In der Folge war es dann Schlüter, der in seiner kritischen Auseinandersetzung mit obiter dicta als Mittel der richterlichen Normbildung eindringlich darauf hingewiesen hat, dass nur die „Erprobung der richterlichen Rechtsfindung am Einzelfall“ eine hinreichende „Richtigkeitsgewähr“ nach sich zieht, und der auf dieser Grundlage die Idee einer abstrakten Rechtsgestaltung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung verworfen hat.64 Selbst den obersten Bundesgerichten stünden weder die personellen noch die sachlichen noch die zeitlichen Ressourcen zur Verfügung, um anlässlich der von ihnen zu beurteilenden konkreten Rechtsstreite in gesetzesähnlicher Manier allgemeingültige Normen herauszubilden. Vielmehr sei es in erster Linie die Auseinandersetzung mit den Rechtsproblemen eines konkreten Falls und den hierzu durch die Parteien vorgetragenen Rechtsauffassungen, die der schöpferischen Tätigkeit der Gerichte eine hinreichende Expertise sichere, um als verbindlich entscheidende Staatsgewalt legitimiert zu sein.65 In diesen Erwägungen klingt deutlich das Kriterium der institutionellen Kompetenz an, das für eine fallbezogen-schrittweise Normbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung spricht. Schließlich hat Grunsky im Zusammenhang mit der Diskussion um den Zweck der Revision betont, dass trotz des Zulassungsfilters einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Fortentwicklung und Vereinheitlichung 61
Esser, JZ 1962, 513 (517). Esser, JZ 1962, 513 (517). 63 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 283 ff. 64 Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 29 ff.; ähnlich Picker, JZ 1984, 153 (156 f.). 65 Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 35 ff. 62
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des Rechts entgegen der wohl überwiegenden Auffassung66 nicht als ein selbstständiger oder gar vorrangiger Zweck der höchstrichterlichen Rechtsprechung verstanden werden dürften, der von den Bedürfnissen einer abschließenden Entscheidung des anhängigen Einzelverfahrens emanzipiert wäre.67 Die öffentlichen Funktionen der Revision seien vielmehr nur Nebenprodukte eines kontinuierlichen Prozessgeschehens, das der Verwirklichung privater Rechte diene. 68 Zur Begründung verweist Grunsky darauf, dass es sich auch bei der Revision um ein echtes Rechtsmittel handele, dessen Einlegung in der Hand der Partei(en) liege, das eine individuelle Beschwer voraussetze und das auf Kosten der Parteien durchgeführt werde. Daher sei es nicht auf reine Gemeinschaftsinteressen reduzierbar, sondern bilde den Schlusspunkt des parteibezogenen Zivilprozesses.69 Das Herzstück der normbildenden Rechtsprechung verbleibt nach dieser Sichtweise stets ein konkreter Fall, während das ex ante feststellbare Allgemeininteresse an einer Rechtssache lediglich eine negative Begrenzungsfunktion erfüllt, um diejenigen Einzelfälle zu selektieren, die eine erneute und abschließende Beurteilung durch das Revisionsgericht rechtfertigen.70 Aus dieser Perspektive besteht nicht nur eine „unaufhebbare Antinomie“,71 sondern vielmehr eine notwendige Synthese zwischen den Funktionen der Streitentscheidung und der Normbildung.72
II. Common Law Im anglo-amerikanischen Raum waren es wiederum vor allem die Vertreter der legal process-Schule, die eine fallbezogene, an ein adversariales Streitverfahren anknüpfende Tätigkeit der Gerichte als Voraussetzung für eine tragfähige Fortentwicklung des Rechts durch die Rechtsprechung ansahen. Aus Sicht der legal process-Schule galt, vergleichbar mit Hayeks Folgerungen aus dem Wissensproblem, eine Vermutung zugunsten der kleineren, dezentralen Einheit, die eine Problemlösung auf konkrete, für sie unmittelbar erkennbare Informationen stützt. So gingen zum Beispiel Hart und Sacks von der Annahme aus, dass der Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen in einer 66
Siehe hierzu oben § 3 A X 3, S. 92 ff. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. 1974, S. 5 f.; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl. 1994, vor § 545 Rdnr. 4 ff. 68 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. 1974, S. 6. 69 Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl. 1994, vor § 545 Rdnr. 5; ähnlich Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (196 f.); im Ausgangspunkt zustimmend auch Fasching, Probleme des Revisionsverfahrens, 1971, S. 7 f. 70 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. 1974, S. 6.; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl. 1994, vor § 545 Rdnr. 5 f. 71 So die Formulierung von Paulus, ZZP 71 (1958), 188 (196). 72 Vgl. R. Bruns, Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1979, Rdnr. 275b. 67
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modernen dynamischen Gesellschaft in erster Linie durch einen Prozess privater Ordnung, insbesondere in Gestalt des Markts, erfolgen müsse, weil nur ein derart dezentraler Mechanismus der unvorhersehbaren Vielfalt der Lebensverhältnisse gerecht werden könne.73 Soweit es eines stärker gebündelten Steuerungsmechanismus’ bedürfe, komme zunächst das klassische common law als richterliches Fallrecht in Betracht.74 Mit dieser Grundlinie stimmt es überein, dass die Autoren auch auf die Bedeutung von Verkehrsbräuchen (customs) für die Entwicklung des Richterrechts hinwiesen. Wenn customs auch keine zwingenden Vorgaben für die Konkretisierung und Fortentwicklung des common law enthalten würden, so seien sie doch ein „Wissensreservoir“ und damit ein prima facie beachtlicher Ausgangspunkt der Rechtsprechung.75 Das Wesen der richterlichen Normbildung erscheint in diesem Sinne als eine rechtliche Verarbeitung organisch-evolutiver Prozesse. Folgerichtig entwarfen Hart und Sacks als Idealbild der Appellationsrechtsprechung eine Einheit aus Normbildung und Streitentscheidung.76 Reiche hingegen eine rein fallbezogene Koordinierung nicht aus, sondern bedürfe es einer komplexeren Steuerung, so ende die Kompetenz der Rechtsprechung und beginne diejenige des Gesetzgebers oder der Verwaltungsbehörden, die mit ihren eigenen Informations- und Entscheidungsstrukturen komplexere Regelungsgegenstände in Angriff nehmen könnten als die Gerichte.77 Gleichwohl seien die Legislative und die planende Verwaltung der Rechtsprechung bei der Normbildung keineswegs generell überlegen, weil sie eine gewisse Ferne zu den konkreten Lebensverhältnissen aufweisen würden, die es jeweils zu regeln gelte. Der besseren Informationsverarbeitungskompetenz in Bezug auf vielschichtige Interessenkonflikte stehe somit eine Schwäche bei der Informationsbeschaffung über konkret-individuelle Anwendungsfälle gegenüber. Auch die Problemlösung durch die Gesetzgebung und Verwaltung darf nach Hart und Sacks daher nicht als eine strikte Alternative zu dezentralen, fallorientierten Problemlösungsmechanismen begriffen werden, sondern baut immer auf diesen auf: „For the function of law is the function of settling the problems of people who are living together in a condition of interdependence. These problems first make their appearance at the level of everyday life, and the shape of the problems as they present themselves for official settlement is the shape which has been given them by the successes or failures of the manifold processes of private adjustment. Governmental action may and constantly does alter the conditions of collaboration among the people in a society. […] But what the gov73
Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 159 ff. Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 163. 75 Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 423 ff. 76 Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 630 ff. 77 Siehe hierzu vor dem Hintergrund des „New Deal“ auch Frankfurter, 75 U. Pa. L. Rev. 614, 617 ff. (1927); Landis, The Administrative Process, 1938, S. 6 ff. 74
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ernment never can do […] is to change the way in which the problems keep coming to it, emerging at the level of private activity with the gloss of private adjustments and maladjustments already put on them. […] Official law must do more than ‘eliminate the negative’ of undue disparity between the criteria of official and of private action. It must ‘accentuate the positive’ of so guiding and channeling the processes of private autonomy and adjustment as to release to the utmost the enormous potential of the human abilities in the society – its ultimate and most significant resource.“78
Auch Fuller erblickte in der Fallbezogenheit ein Gegengewicht zu dem Risiko, dass Gerichte bei einer zu abstrakten Anschauungsweise geneigt sein könnten, rechtliche Generalisierungen von Lebenssachverhalten vorzunehmen, die sie nicht voll überblicken.79 Erforderlich sei es vielmehr, alle „peculiarities and nuances“ der Fälle zu erforschen und zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang setzte Fuller sich auch mit dem Einwand auseinander, bei einer rein fallinduzierten Tätigkeit würden die obersten Gerichte defekten Uhren gleichen, die erst „geschüttelt“ werden müssten – nämlich durch die Vorlage entsprechender Rechtsstreitigkeiten seitens der Parteien –, um in Gang zu geraten.80 Eine solche Kritik war vor allem durch die progressive Bewegung der rechtssoziologischen und der rechtsrealistischen Schule aufgekommen, die nach stärker durchrationalisierten Methoden der richterlichen Normbildung suchte.81 So hatten zum Beispiel Llewellyn und Hoebel die Vermutung geäußert, dass die egoistische Motivationslage privater Rechtsubjekte in der Zukunft nicht mehr ausreichen könnte, um durch ein System freier Verträge und ihre streitige Beurteilung durch Gerichte einen sinnvollen Güteraustausch zu bewirken. In diesem Fall plädierten sie für eine stärkere Intervention des Staates unter Einschluss der Gerichte, nicht nur um konkrete Ungleichgewichtslagen in bestimmten Fällen zu korrigieren, sondern um die Institution des Vertrags insgesamt zu stärken und auf neue Füße zu stellen.82 Fuller hingegen sah in derartigen Ansätzen eine ernste Gefahr für die Integrität der Judikative als eine unabhängige Gewalt. Ihr Wesen, nur anhand eines konkreten Streitfalls und unter Beteiligung der Prozessparteien ein neutrales und verallgemeinerbares, nicht durch Planungsziele verzerrtes Urteil zu fällen, dürfe nicht angetastet werden.83 Jede weiter gehende Form der Regulierung, die sich nicht auf einen einschlägigen Streitfall und dessen Beurteilung nach Rechtsprinzipien stützt, kann nach Fuller daher nicht von der Rechtsprechung, sondern nur von der Gesetzgebung oder der Verwaltung wahrgenommen werden. Hierbei handele es sich keineswegs um eine willkür78
Hart/Sacks, The Legal Process, 1994, S. 159 f. Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 383 (1978). 80 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 385 (1978). 81 Siehe oben § 3 C IV, S. 203 ff. 82 Llewellyn/Hoebel, The Cheyenne Way: Conflict and Case Law in Primitive Jurisprudence, 1941, S. 48. 83 Fuller, 92 Harv. L. Rev. 353, 385 ff. (1978). 79
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liche Unterscheidung, sondern um die Einsicht, dass für solche weiter gehenden Regulierungsprobleme das Legitimationskriterium des Mehrheitsprinzips bzw. des bürokratischen Expertenwissens angemessen sei und damit eine ganz andere Entscheidungslogik als diejenige der Judikative. Diese, durch Hart und Sacks einerseits und Fuller andererseits herausgearbeitete Grundlinie des Appellationsverständnisses der legal process-Schule findet schließlich auch einen Widerhall in der jüngsten anglo-amerikanischen Diskussion. So hat sich vor allem Oldfather84 mit der Funktion der Appellationsrechtsprechung in den USA befasst und hierbei explizit an die Grundgedanken der legal process-Schule angeknüpft.85 Aus seiner Sicht besteht die Aufgabe der Appellationsrechtsprechung weniger in der Überwachung und Gestaltung des Rechts an sich, sondern vorrangig in der Lösung des konkreten Rechtsstreits in der Gestalt, in der er durch die Parteien zum Verfahrensgegenstand gemacht wurde. Deshalb müsse die höchstrichterliche Tätigkeit wesensmäßig immer auch ein Moment der Korrektur oder der Bestätigung der bisher ergangenen Entscheidungen in dem konkreten Verfahren aufweisen und dürfe sich nicht einseitig auf die Normbildung kaprizieren. Aus dieser Perspektive folgt die öffentliche, normbildende Funktion im parteibetriebenen Zivilprozess immer akzessorisch der privaten, streitentscheidenden Funktion: „In operation, these two functions often work in tandem. Every appeal necessarily involves at least one claim that the trial court erred. As a consequence, appellate courts can only create or refine law in the context of exercising the error correction function because absent an assertion of error there is no basis for appellate action. The nature of the claimed error will vary, and with it the opportunity for lawmaking. Sometimes the appellant will argue that the trial court wrongly applied established law. In other cases the argument will be that the trial court answered an open question of law in the wrong way. In the former case the error-correction role is apparent. In the latter one could plausibly argue that it is inappropriate to characterize the trial court as having erred. Given the expectation that courts will decide the issues presented to them, however, in operation courts treat both situations as though each has a clear answer such that no matter what the basis of the appellant’s claim a trial court’s determination will be treated as erroneous by an appeals court that resolves it the other way.“86
Gebe man diese Einheit der Normbildung mit der Fehlerkorrektur auf, so würden die Gerichte entgegen der ihnen institutionell zugewiesenen Aufgabe nicht mehr den anhängigen Rechtsstreit entscheiden, sondern ein bloßes „Schattenbild“ (rough facsimile) desselben.87 Folgerichtig könne nur eine enge Anlehnung an den konkreten Rechtsstreit die gebotene Begrenzung der öffentlichen Funktion der Appellationsrechtsprechung gewährleisten. 84 85 86 87
94 Geo. L.J. 121 ff. (2005); ders., 85 Ind. L.J. 49 ff. (2010). Oldfather, 94 Geo. L.J. 121, 139 ff. (2005); ders., 85 Ind. L.J. 49, 81 (2010). Oldfather, 85 Ind. L.J. 49, 64 (2010). Oldfather, 85 Ind. L.J. 49, 82 (2010); siehe auch dens., 94 Geo. L.J. 121, 140 (2005).
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In eine ähnliche Richtung weisen schließlich die Erwägungen Jolowicz’ zu den „öffentlichen und privaten Zwecken“ der Rechtsmittel. 88 Er unterscheidet dabei aus rechtsvergleichend-historischer Sicht den Idealtypus der Appellation, der in erster Linie dem Parteiinteresse an einer korrekten Entscheidung ihres Rechtsstreits diene, und den Idealtypus einer Kassation, der zum Wohle der Allgemeinheit die Einheitlichkeit und Fortentwicklung des Rechts gewährleiste.89 Dabei weist Jolowicz darauf hin, dass sich diese Idealtypen in ihrer realen Ausgestaltung in den Ländern des civil law und des common law seit Langem vermischt haben.90 Vor diesem Hintergrund stelle das Problem, ob dem privaten oder dem öffentlichen Zweck der Vorrang gebühre, keine kategoriale, sondern eine graduelle Frage dar. Hierbei werde der Gedanke der Klarstellung und der Fortentwicklung des Rechts, in dem Maße, in dem der jeweilige Prozess in den Instanzen aufsteige, immer bedeutsamer.91 Gleichwohl dürfe die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht ausschließlich als eine normbildende Institution angesehen werden. Sie stelle zugleich immer auch einen Modus der Streitentscheidung dar. Dies sei schon deshalb unvermeidlich, weil selbst ein höchstrichterliches Verfahren von der Rechtsmitteleinlegung durch eine betroffene Partei abhängig sei und dieser Modus bei der Bestimmung des Zwecks des Rechtsmittelverfahrens sinnvoller Weise nicht außer Acht gelassen werden könne.92 Die privaten und die öffentlichen Zwecke der höchstrichterlichen Rechtsprechung müssen daher nach Jolowicz immer verschränkt bleiben.
III. Zusammenfassung Die Auffassung, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht primär die Aufgabe einer abstrakten Fortentwicklung des Rechts hat, sondern von Fall zu Fall auf den Einfallsreichtum des Rechtsverkehrs reagieren muss,93 findet auch jenseits der Hayekschen Argumentation durchaus einen Rückhalt in der juristischen Literatur. Es handelt sich hierbei um den essentiellen Grundgedanken, dass richterliches Entscheiden selbst dann, wenn es wie im Fall der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine normative Prägekraft für zukünftige Fälle erlangen soll, nur dann mit einer hohen Nachhaltigkeits- und Richtigkeitsgewähr versehen ist, wenn es die bestehende Rechtsordnung gerade aufgrund eines konkreten Anschauungsfalls weiterentwickelt. Aus den Grenzen der Streitent-
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Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 316 ff. Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 298 ff. Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 306 f., 316 ff. Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 319. Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 306. Rüthers, ZRph 2005, 1 (4 f.).
C. Mögliche Einwände gegen den Stellenwert des Fallbezugs
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scheidung folgen somit zugleich auch die Grenzen der sachgerechten richterlichen Normbildung.
C. Mögliche Einwände gegen den Stellenwert des Fallbezugs Gegenüber der hier vorgetragenen Sichtweise, nach der eine enge Rückkoppelung zwischen der streitentscheidenden Funktion und der normbildenden Funktion höchstrichterlicher Judikate erforderlich ist, um eine Richtigkeitsgewähr ihres Inhalts sicherzustellen, sind jedoch auch Einwände denkbar, die sich auf eine stärkere Betonung der öffentlichen Funktion der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung stützen. In diesen Zusammenhang zählen erstens Bedenken, die dahin gehen, dass der Fallbezug häufig eher eine verzerrende als eine heilsame Wirkung auf die Normbildung habe (I.). Zweitens bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem Gedanken, eine weiter ausgreifende Judikatur ermögliche die Befriedigung sozialer Interessen, die bei einem strengen Fallbezug der höchstrichterlichen Entscheidung ausgespart bleiben müssten (II.). Und drittens wird argumentiert, dass eine verstärkte abstrakte Normbildung durch die Rechtsprechung in den jeweiligen Lebensbereichen für Rechtssicherheit sorge, was einen nicht zu unterschätzenden Eigenwert darstelle (III.).
I. Fallbezogenes Entscheiden als Quelle möglicher Verzerrungen 1. „Do cases make bad law?“ Der Fragestellung, ob Fälle „schlechtes Recht“ generieren, hat sich in jüngerer Zeit Schauer eingehend gewidmet und ist zu einer grundsätzlich bejahenden Antwort gelangt.94 Aus seiner Sicht wirkt es auf Normbildungsprozesse mehr verzerrend als erhellend, wenn sie anhand eines konkreten Anschauungsfalls erfolgen. Diese Einschätzung stützt er, unter Rückgriff auf neuere kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse der Heuristikforschung,95 vor allem auf zwei miteinander verbundene Phänomene: 94
Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883 ff. (2006). Zu deren Grundlagen und zu ihrer Bedeutung für die Strategien von Parteien, die von Rechtskonflikten betroffen sind, eingehend G. Wagner, ZZP 121 (2008), 5 ff.; zu der Bedeutung von Heuristiken im Prozess richterlichen Entscheidens in jüngerer Zeit auch Guthrie/ Rachlinski/Wistrich, 93 Cornell L. Rev. 1, 6 ff. (2007) und Sunstein/Kahneman/Schkade/Ritov, 54 Stan. L. Rev. 1153 ff. (2002). 95
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Zum einen soll die suggestive Kraft eines konkreten Anschauungsbeispiels in den Richtern die häufig verfehlte Annahme nähren, das jeweilige Beispiel mit seinen Besonderheiten stehe repräsentativ für die gesamte Klasse an Fällen, die von der zu bildenden Norm erfasst werden müssen.96 Hierin manifestiere sich die menschliche Tendenz, unmittelbar erkennbare Informationen in Entscheidungsprozessen unverhältnismäßig stärker zu gewichten als andere Gesichtspunkte, die ebenfalls bedeutsam sind, jedoch nur im Rahmen hypothetischer Erwägungen zugänglich werden.97 Zum anderen wecke der konkrete Fall unweigerlich Emotionen, die rationale Erwägungen, die bei der Entscheidungs- und Normbildungsfindung maßgeblich sein sollten, verdrängen würden. Hierbei bezieht sich Schauer ausdrücklich auf die Einsicht der Rechtsrealisten, dass „judges [are] incapable of ignoring the immediate equities of the case before them“.98 In diesem Sinne hatte bereits Llewellyn die These vertreten, dass eine konkrete Fallanschauung häufig zu rühriger „Kamin-Gerechtigkeit“ (fireside equities) Anlass gebe.99 In ähnlicher Weise soll der konkrete Fall nach Schauer eine „hypnotisierende“ Wirkung auf die Gerichte haben und die entscheidungstragenden Gesichtspunkte daher in problematischer Weise verengen.100 Mit diesen Argumenten zweifelt Schauer die Grundannahme des klassischen common law an, dass eine fallbezogene Herausarbeitung der maßgeblichen Rechtsregeln einen hohen Grad an Richtigkeitsgewähr nach sich zieht. Er kritisiert dabei auch Holmes’ berühmtes Diktum, nach dem es gerade zu den Vorzügen des common law zählt, „that it decides the case first and determines the principle afterwards“.101 Vielmehr hält er es mit der folgenden, nahezu ebenso bekannten Formulierung Holmes’: „Great cases, like hard cases, make bad law. For great cases are called great, not by reason of their importance in shaping the law of the future, but because of some accident of immediate overwhelming interest which appeals to the feelings and distorts the judgment.“102
Die Kritik Schauers geht freilich insoweit über Holmes hinaus, als verzerrende Effekte aus seiner Sicht nicht nur mit einer besonderen, wie auch immer abzugrenzenden, Gruppe der great cases verbunden sind, sondern mit dem fallbezo96 Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 884 ff. (2006); in ähnlicher Richtung bereits Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 41 ff. sowie in Deutschland Classen, JZ 2007, 53 (57). 97 Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 896 (2006). 98 Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 899 (2006); zu dieser Annahme des legal realism bereits oben § 3 C IV 4, S. 211 ff. 99 Llewellyn, The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 121. 100 Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 894 (2006); siehe auch Rachlinski, 73 U. Chi. L. Rev. 933, 940 ff. (2006). 101 Holmes, 5 Am. L. Rev. 1 (1870). 102 Northern Securities Co. et al. v. United States, 24 S.Ct. 436, 468 (1904), per Holmes J., dissenting.
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genen Entscheidungsmodus generell. Konsequenz der Kritik ist daher ein Plädoyer für eine stärker abstrakt-rationale Normbildung im Recht. Dies könnte zunächst dafür sprechen, das Regelungsmandat des Gesetzgebers gegenüber demjenigen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu stärken, auch wenn Schauer selbst zu bedenken gibt, dass diese Schlussfolgerung eine noch eingehendere Untersuchung der relativen Stärken und Schwächen des legislatorischen und des judikativen Prozesses erfordern würde.103 Daneben wäre es als Konsequenz der skizzierten Argumentation aber auch denkbar, die Rechtsprechung selbst dazu anzuhalten, ihre Normbildungen stärker von dem jeweiligen Fall abzulösen und mehr nach Art eines Gesetzgebers zu agieren: „A court could, after all, reach the wrong result in the case before it in order to announce the right rule for future controversies.“104
Die These Schauers geht somit dahin, dass das konkrete Streitverfahren und seine Lösung nicht den wesentlichen Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausmachen sollten, sondern nur den Anlass für eine abstrakter konstruierte Normbildung darstellen dürften. Seine Argumentation stellt daher eine beachtenswerte Herausforderung für die hier befürwortete enge Anlehnung der richterlichen Normbildung an die konkrete Streitentscheidung dar. Allerdings wurde das mögliche verzerrende Moment einer Einzelfallbetrachtung nicht erst durch den US-amerikanischen Rechtsrealismus, sondern bereits durch die deutsche Freirechtsschule thematisiert. So haben vor allem Isay und Ehrlich das Besondere an der Beziehung zwischen dem entscheidenden Richter und dem zu entscheidenden Fall hervorgehoben, das aus ihrer Sicht notwendig zu einer intuitiven Rechtsschöpfung führt.105 Auch jenseits der freirechtlichen und der rechtsrealistischen Strömungen ist sowohl für den angloamerikanischen Rechtskreis als auch für Deutschland anerkannt, dass sich die höchstrichterliche Rechtsprechung tatsächlich nicht nur durch die Aspekte der Vereinheitlichung und Weiterentwicklung des Rechts motivieren lässt, sondern auch durch das Bedürfnis, den jeweiligen besonderen Fall einer gerechten Entscheidung zuzuführen.106
103 Siehe Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 917 f. (2006); ein solcher Vergleich findet sich im kritischen Anschluss an Schauer bei Rachlinski, 73 U. Chi. L. Rev. 933 ff. (2006). 104 Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 900 (2006). 105 Dazu oben § 3 A VI, S. 62 ff. 106 R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 27; Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 7 ff. und Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 339.
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2. Die positiven Aspekte der Verkoppelung von Fall und Norm Es ist jedoch keine notwendige Schlussfolgerung aus dem vorstehend geschilderten Befund, dass die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung den Einzelfallbezug ausblenden und zu einer stärker abstrahierenden Normbildung übergehen muss, um dem wünschenswerten Maß an rationaler Rechtsfindung zu genügen. Eine Alternative, die auch Schauer in Betracht zieht,107 ist es gerade, aufgrund der zentralen Rolle, die der konkrete Fall für den judikativen Entscheidungsprozess spielt, die zu bildenden Normen eher enger als weiter zu fassen und damit eine hinreichende Rückkoppelung an das vorliegende Entscheidungsmaterial zu gewährleisten.108 Auf diesem Wege bleibt es durchaus eine Tugend des case law, den Fall vor der Regel zu bedenken, nämlich insoweit, als die Regel nicht in einer möglichst breit ausgreifenden Grundsatzentscheidung ausgearbeitet wird, sondern anhand einer Mehrzahl verschiedener Fälle erst in einer Kette von Entscheidungen. Dadurch kann vor allem dem Problem begegnet werden, dass ein einziger Fall – mag es auch ein great case sein – nur selten alle Aspekte eines Regelungsproblems repräsentiert.109 Auch das durch Schauer hervorgehobene Moment der emotionalen Affektion angesichts eines konkreten Anschauungsbeispiels spricht im Ergebnis nicht gegen eine fallbezogene richterliche Normbildung. Nach Schauer „we live in an era of glorification of the particular and celebration of the immediate factual context“.110 In ähnlicher Weise spricht Vermeule davon, dass sich die Rechtsprechung allzu oft der „distorting force of the particulars“ hingebe.111 Ob dieser Befund mit Blick auf die normbildende Rechtsprechung zutrifft, wird in der Literatur allerdings auch bezweifelt. Beispielsweise vertritt Richard Posner in seiner Diskussion der richterlichen Psyche, die auf seinen eigenen Erfahrungen als Appellationsrichter beruht, die genau entgegengesetzte Position: „Just as doctors tend to be callous about sick people, judges tend to be callous about pathetic litigants because they have seen so many of them. This is true of liberal as well as conservative judges, because setting aside one’s natural sympathies is a big part of playing the judicial game. Judges really do internalize the slogan ‘Hard cases make bad law,’ and they do not want to make bad law.“112
Unabhängig von dieser Kontroverse erscheint der Gesichtspunkt der emotionalen Ansprache durch bestimmte Fälle aber nur dann problematisch, wenn er die einzige und damit unkontrollierte Grundlage der Entscheidungsfindung ist. 107 Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 900 (2006) im Anschluss an Sunstein, One Case at a Time, 1999, S. 5. 108 Sherwin, 73 U. Chi. L. Rev. 919, 923 (2006). 109 Sherwin, 73 U. Chi. L. Rev. 919, 926 (2006). 110 Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 918 (2006). 111 Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 6. 112 R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 119.
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Dies ist jedoch gerade auf der höchstrichterlichen Ebene kaum zu befürchten.113 So verfügen Appellationsrichter in der Regel über ein in langjähriger Tätigkeit herausgebildetes berufliches Ethos, das emotionale Reaktionen zwar nicht vollständig nivelliert, wohl aber einer Kontrolle anhand juristischer Kategorien zugänglich macht.114 Einen Beleg für diesen Kontrollmechanismus bildet beispielsweise die in anglo-amerikanischen Appellationsgerichten verbreitete Praxis, im Rahmen der Urteilsfindung nicht ausschließlich den anhängigen Streitsachverhalt, sondern auch abgewandelte, hypothetische Alternativfälle zu erwägen, um hierdurch die Tragfähigkeit der befürworteten ratio decidendi abzusichern.115 Von einem blinden Hingerissensein durch die Eigenheiten des jeweiligen Falls kann folglich nicht die Rede sein. Die emotionale, fallbezogene Komponente der richterlichen Entscheidungsfindung muss vielmehr als ein Teil des Problemkomplexes verstanden werden, der als richterliches Vorverständnis beschrieben wird. Den Ausgangspunkt bildet hierbei die bekannte Formulierung Engischs, nach der sich die richterliche Erkenntnis immer aus einem Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Norm und Sachverhalt ergibt.116 Dieses Phänomen hat in Deutschland vor allem Esser zu der These weiterentwickelt, dass der Richter aus der Anschauung des jeweiligen Falls und der für seine Lösung vermutlich einschlägigen Regelungsmuster ein „Vor-Urteil“ schöpft, das den Ausgangspunkt für die Herstellung des endgültigen, normativ abgesicherten Urteils bildet.117 Richterliches Entscheiden ist danach nicht durch die rein einseitige Anwendung normativer Vorgaben auf eine Fallkonstellation möglich, sondern erst durch ein Wechselspiel, bei dem der Fall seinerseits die Konkretisierung der Normen leitet.118 In ähnlicher Weise berichtet Robertson aus dem Bereich des common law davon, dass die Richter des House of Lords ihre Ergebnisse nach eigenem Bekunden häufig „bottom up“ fänden, das heißt ausgehend von einem intuitiven Gefühl für die korrekte Falllösung, an das sich dann die Frage der juristischen Rationalisierbarkeit dieses Ergebnisses anschließe.119 Ein delegitimierender Effekt entsteht aus dieser Entscheidungsstruktur nur dann, wenn es sich um ein irreversibles Vorver113
So in Reaktion auf Schauer bereits auch Rachlinski, 73 U. Chi. L. Rev. 933, 952 (2006). Eingehend R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 93 ff. 115 Hierzu Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 99 ff.; G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3/66 und Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 288 f. 116 Grundlegend Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 14 f.; siehe auch dens., Einführung in das juristische Denken, hrsg. von Würtenberger/ Otto, 10. Aufl. 2005, S. 75 mit Fn. 4 sowie Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 206 ff. 117 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 40 ff.; im Grundsatz, aber mit stärkerer Betonung der normativen Vorprägung, auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 207 ff. 118 G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 7/21 ff. 119 Robertson, Judicial Discretion in the House of Lords, 1998, S. 17, 75. 114
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ständnis bzw. eine ungehemmte emotionale Betrachtung handelt. Sofern hingegen mäßigende Gegengewichte hinzutreten, die sich insbesondere aus der Einpassungsfähigkeit des Ergebnisses in juristische Begründungskategorien ergeben, kann das fallgeprägte Vorverständnis als unabdingbare Voraussetzung richterlichen Entscheidens und Normbildens begriffen werden.120 Dieses Faktum hat wiederum Holmes bereits treffend umschrieben, nämlich mit dem folgenden Satz: „General propositions do not decide concrete cases.“121
Auch die emotionale Komponente wird hierbei zu einem legitimen Moment der richterlichen Tätigkeit. Wenn im Rahmen der vorliegenden Darstellung das Wissensproblem der höchstrichterlichen Rechtsprechung betont wird, geht es folgerichtig nicht ausschließlich um die Verfügbarkeit von faktischen Informationen im engeren Sinne. Denn da es sich bei der richterlichen Regelbildung um eine normative Tätigkeit handelt, wird neben faktischen Informationen über den Regelungsgegenstand selbstverständlich auch die Gewinnung wertender Momente relevant.122 Und diese wertenden Momente können in einem gewissen Maße gerade auch aus der emotionalen Komponente einer bestimmten Fallkonstellation abgeleitet werden. Dass auf diesem Wege das richterliche Urteil nicht mehr vollkommen von der konkreten Person des jeweiligen Richters loslösbar ist, wird nur denjenigen beunruhigen, der von der illusorischen Annahme ausgeht, rechtliche Regelungen seien nur dann legitim, wenn sie ausschließlich auf objektiven Kategorien wie etwa einer universellen juristischen Methode beruhen, in der die Person des jeweiligen Entscheidungsträgers und seine Eigenschaften vollständig aufgehen. Richter sind aber, wie Oldfather kürzlich wieder in Erinnerung gerufen hat, Menschen und können diese Eigenschaft auch im Rahmen ihrer amtlichen Entscheidungsfindung nicht vollständig abstreifen.123 Richtigerweise beruht die Qualität der juristischen Entscheidungsfindung daher nicht nur auf objektiven Vorgaben, sondern in ganz zentralem Maße gerade auch auf der Integrität der Richterpersönlichkeit und der durch sie eingenommenen Haltung.124 Damit ist eine strenge Trennung der intellektuell-informatorischen und der emotionalwertenden Grundlagen der Entscheidungsfindung gar nicht möglich:
120 van Dunné, ARSP-Beiheft 69 (1998), 194 ff.; G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 7/21 ff.; Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 193 ff. 121 Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 76, per Holmes J., dissenting. 122 Mestmäcker, A Legal Theory without Law, 2007, S. 59. 123 Oldfather, 36 Hofstra L. Rev. 125 ff. (2007); siehe auch McKee, 35 Hofstra L. Rev. 1709 ff. (2007). 124 G. Hager, Rechtmethoden in Europa, 2009, 7/39 ff. und Thomas, The Judicial Process, 2005, S. 245 ff.
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„Emotion can be a form of thought, though compressed and inarticulate. It is triggered by, and more often than not produces rational responses to, information.“125
In diesem Sinne kann die Veranschaulichung durch einen konkreten Fall eine Rechtsfrage sowohl in intellektueller als auch in wertender Hinsicht verständlicher machen und hierdurch die Regelungsqualität steigern.126 Konkrete Fälle, verstanden als ein Gegensatz zu rein abstrakten Regelungsproblemen, sind daher kein Hindernis, sondern vielmehr ein Garant für die angemessene Normbildung durch Gerichte.127 Sie stellen die unentbehrlichen Mittler dar, anhand derer allgemeine Rechtsprinzipien in das richterliche Bewusstsein eingehen. Esser ging sogar noch einen Schritt weiter und nahm an, dass derartige Rechtsprinzipien ohne ihre fortgesetzte Erprobung an konkreten Anschauungs- und Anwendungsfällen nicht nur unerkannt bleiben müssten, sondern gar nicht existieren würden.128 Folglich seien Rechtsprinzipien „immer unterwegs“, weil sie ständig neu an exemplarischen Einzelfällen zu überprüfen und zu verfeinern seien.129 Ein positiver Effekt lässt sich dabei wiederum vor allem dann erzielen, wenn plastische Fallbeispiele im Rahmen eines nicht einmaligen, sondern fortgesetzten Entscheidens zu einer differenzierten rechtlichen Behandlung führen. Hierbei leisten die case law-Methoden des analogical reasoning und des distingushing wertvolle Dienste, um abgesicherte Rechtsprinzipien herauszuarbeiten, die einen unbotmäßigen Einfluss rein emotionaler Momente verhindern.130 Ein plastisches Beispiel hierfür bildet die Entwicklung der englischen Rechtsprechung zur Ersatzfähigkeit von Schockschäden, die eintreten, weil der Geschädigte von der Tötung oder Verletzung einer ihm nahestehenden Person erfährt. Rein emotionale Gesichtspunkte mögen hier für einen uneingeschränkten Ersatzanspruch gegen denjenigen sprechen, der für die Tötung oder Verletzung verantwortlich ist. Aus rein rationaler Sicht sind aber auch Gegenargumente denkbar, etwa die Gefahr fraudulöser Klagen, eine unbotmäßige Überlastung der Gerichte oder eine Ausuferung der Haftung und damit der Versicherungsprämien.131 Die Rechtsprechung des House of Lords hat hierbei jedoch nicht einseitig die eine oder die andere Position eingenommen, sondern eine vermit-
125
R. Posner, How Judges Think, 2008, S. 106. Siehe Rachlinski, 73 U. Chi. L. Rev. 933, 938 ff. (2006). 127 Heiner, 15 J. Legal Stud. 227, 250 f. (1986). 128 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 284. 129 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990, S. 280. 130 Rachlinski, 73 U. Chi. L. Rev. 933, 960 ff. (2006); Sherwin, 73 U. Chi. L. Rev. 919, 927 ff. (2006). 131 Siehe hierzu die Entscheidung des Court of Appeal in der Sache McLoughlin v. O’Brian and Others, [1981] Q.B. 599, 613 ff., per Stephenson L.J. 126
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telnde Lösung herausgearbeitet. Dies geschah überdies nicht in einer einmaligen Grundsatzentscheidung, sondern in einer Reihe von Fällen.132 So ging es in der Entscheidung McLoughlin v. O’Brian133 um einen Fall, in dem ein Familienvater mit seinen drei Kindern in einen Verkehrsunfall verwickelt war. Die Ehefrau und Mutter wurde zwei Stunden später von dem Unfall benachrichtigt und eilte sofort ins Krankenhaus. Dort erfuhr sie von dem Tod einer Tochter, hörte die Schmerzensschreie der anderen, schwer verletzten, Kinder und sah ihren verzweifelten Ehemann. Hierdurch erlitt sie einen Schock. Das House of Lords sprach ihr einen Schadensersatz gegen den Unfallverursacher zu. In der Sache Alcock v. Chief Constable of South Yorkshire134 ging es um einen Fall, in dem aufgrund einer Massenpanik in einem Fußballstadion zahlreiche Personen getötet wurden. Nun war, unter anderem, die Frage zu klären, ob den Angehörigen einzelner Getöteter, welche die Panik im Fernsehen verfolgt und daraufhin Schocks erlitten hatten, ebenfalls ein Schadensersatz zustand. Die Richter des House of Lords verneinten dies, da die Situation der Fernsehzuschauer nicht mit derjenigen der Ehefrau in McLoughlin vergleichbar sei. Wie sich aus den Ausführungen in Alcock ergibt, hat bei dieser Beurteilung auch ein emotionales Moment mitgespielt, das durch den konkreten Eindruck der beiden Fallkonstellationen hervorgerufen wurde. In McLoughlin erlitt die Klägerin den Schock, weil sie in relativer zeitlicher Nähe im Krankenhaus direkt mit dem Leid ihrer Familienmitglieder konfrontiert wurde. In Alcock hingegen erlebten die Angehörigen das Geschehen nur über das Medium des Fernsehens und konnten auch nur die Massenpanik als solche, nicht das konkrete Schicksal ihrer Angehörigen unmittelbar verfolgen. Lord Keith fasste diesen Unterschied wie folgt zusammen: „[The plaintiffs] watched scenes from Hillsborough on television, but none of these depicted suffering of recognisable individuals, such being excluded by the broadcasting code of ethics […]. In my opinion the viewing of these scenes cannot be equiparated with the viewer being within ‘sight or hearing of the event or of its immediate aftermath’ […]“.135
Die Urteile bleiben jedoch keineswegs bei einer rein emotionalen Betrachtung stehen, sondern stützen das Ergebnis auch auf eine klassische juristische Kategorie, nämlich die Frage, ob der Schockschaden des Angehörigen als Folge des Unglücks jeweils hinreichend vorhersehbar (resonable foreseeable) war, wofür die Art der kausalen Verknüpfung zwischen dem Unfall und dem Schock maß132 Näherer Überblick zu der Entwicklung bei G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 3/32 ff.; Manchester/Salter, Exploring the Law, 3. Aufl. 2006, 15–001 ff. und Markesinis/Deakin, Tort Law, 6. Aufl. 2008, S. 142 ff. 133 [1983] 1 A.C. 410; hierzu bereits oben § 3 B VI 1, S. 156 f. und § 3 B VI 2 d, S. 166 ff. 134 [1992] 1 A.C. 310. 135 Alcock v. Chief Constable of South Yorkshire, [1992] 1 A.C. 310, 398, per Lord Keith.
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gebliche Bedeutung erlangt. Diese Vorhersehbarkeit im juristischen Sinne verneinte Lord Oliver für den Fall Alcock in Abgrenzung zu McLoughlin: „In my opinion, the necessary proximity cannot be said to exist where the elements of immediacy, closeness of time and space, and direct visual or aural perception are absent.“136
Die Behandlung der Schockschäden durch das House of Lords bildet daher ein gutes Beispiel, wie fallbezogen-emotionale und juristisch-rationale Gesichtspunkte bei der richterlichen Normbildung zusammenspielen können.
3. Das Gebot gleichheitsgerechten Entscheidens Die vorstehenden Ausführungen lassen zugleich erkennen, dass eine stark fallbezogene Normbildung auch nicht in Konflikt mit dem Gebot geraten muss, dass der Prozess höchstrichterlichen Entscheidens nicht zu willkürlichen Ungleichbehandlungen führen darf. Dieses Gebot, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, besitzt in allen hier betrachteten Rechtsordnungen einen zentralen Stellenwert. Es folgt in Deutschland aus Art. 3 Abs. 1 GG und in den Vereinigten Staaten aus dem 14. Verfassungszusatz. Auch in England gehört es trotz des Fehlens einer geschriebenen Verfassung zum gesicherten Bestand der Bindungen staatlicher Gewalt.137 So hat Lord Hoffmann den Grundsatz der Gleichbehandlung gar als ein „Axiom rationalen Verhaltens“ bezeichnet.138 Die Hauptschwierigkeit bei der Konkretisierung des Gleichheitssatzes besteht aber gerade darin, dass nicht von vornherein feststeht, welche Konstellationen aus normativer Perspektive als wesentlich gleich anzusehen sind und daher nicht willkürlich differenziert werden dürfen.139 Bei diesem Konkretisierungsprozess vermag im Hinblick auf die richterliche Normbildung ein fallbezogener Ansatz wertvolle Dienste zu leisten. Gerade durch den Vergleich konkreter Fallkonstellation mit ihren jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschieden lässt sich schrittweise herausarbeiten, wo die Grenze des „wesentlich Gleichen“ liegt und wie weit daher eine bestimmte Norm gefasst sein sollte. Hierbei müssen sich die Erwägungen nicht zwingend auf den Vergleich des jeweils zu entscheidenden Sachverhalts mit den Sachverhalten aus vergangenen Urteilen beschränken, sondern es kommt auch ein Vergleich mit hypothetischen Alternativfällen in Betracht, wie ihn common law-Gerichte häufig an136
Alcock v. Chief Constable of South Yorkshire, [1992] 1 A.C. 310, 416 f., per Lord Oliver. Grundlegend zum Prinzip der Rechtsanwendungsgleichheit als Bestandteil der rule of law Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. 1959, S. 193 ff. sowie zum Gebot der Rechtssetzungsgleichheit Jowell/Birkinshaw, English Report, in: Schwarze (Hrsg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1996, S. 273 (278 ff.) und Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 541 f. 138 Matadeen v. Pointu (Privy Council), [1999] 1 A.C. 98, 109. 139 Hierzu für das common law British Coal Corp. v. Smith and Others, [1996] I.C.R. 515, 525 ff., sowie für das deutsche Recht BVerfGE 9, 334 (337) und dazu Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, 53. Aufl. 2009, Art. 3 Anh. Rdnr. 22. 137
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
stellen.140 Ein solches Vorgehen ist dabei besonders dann fruchtbar, wenn die Alternativerwägungen ihrerseits konkret-plastisch ausgelegt sind und sich nicht zu weit von dem Sachverhalt entfernen, der aktuell zur Entscheidung ansteht.141 Hingegen steht ein stärker abstrahierender Ansatz, der die richterliche Normbildung auf ein Rechtsproblem als solches fokussiert, stets in der Gefahr, die ratio decidendi zu eng oder zu weit zu fassen und somit das Gleichheitsgebot zu verfehlen. Ein schönes Beispiel hierfür bildet wiederum die soeben angeführte Entwicklung der englischen Rechtsprechung zu Schockschäden.142 Das House of Lords versuchte hierbei nicht, das Problem der Ersatzfähigkeit in einem einmaligen Grundsatzurteil zu entscheiden, sondern erarbeitete seine Lösung anhand verschiedener Fallkonstellationen und bediente sich hierbei der Techniken des distinguishing und des analogical reasoning. Gerade auf diesem Wege kristallisierte sich heraus, welche Konstellationen eine gleiche bzw. eine unterschiedliche Behandlung verdienen. In diesem Sinne unterminiert das Modell einer fallweisen, iterativen Herausbildung richterlicher Normen somit das Gleichbehandlungsgebot nicht, sondern verbürgt gerade seine Verwirklichung.
4. Zwischenergebnis Es kann nicht davon gesprochen werden, dass eine fallbezogene Normbildung zwingend zu verzerrten Resultaten führt und dass die Gerichte deshalb einen stärker abstrahierenden Ansatz verfolgen müssten. Zwar würde es die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der Tat konterkarieren, wenn sie sich von dem jeweiligen Fall nahezu blind hinreißen ließe. Dem stehen aber verschiedene Korrekturmechanismen entgegen wie zum Beispiel die professionelle richterliche Ethik oder das Gebot gleichheitsgerechten Entscheidens. In diesen Grenzen können die konkrete Anschaulichkeit und die emotionale Dichte eines Falls vielmehr positive Impulse für eine sinnvolle richterliche Normbildung geben.
II. Fallbezogenes Entscheiden als mögliche Vernachlässigung sozialer Partizipation und politischer Integration In allen westlichen Rechtsordnungen ist die Struktur des Zivilprozesses, insbesondere auch diejenige des höchstrichterlichen Prozesses, immer wieder dahingehend kritisiert worden, dass sie für bestimmte Kreise der Bevölkerung nicht 140
Dazu bereits oben § 4 C I 2, S. 275. Siehe Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 150 f.; Köbl, JZ 1976, 752 (753); Kötz, AcP 175, 361 (364); Picker, JZ 1984, 153 (155 f.). 142 Siehe oben § 4 C I 2, S. 277 ff. 141
C. Mögliche Einwände gegen den Stellenwert des Fallbezugs
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hinreichend offen sei und damit dem Gedanken sozialer Partizipation bzw. der staatsbürgerlichen Integration in das Rechtssystem widerspreche. Dem könnte durch eine Loslösung des höchstrichterlichen Zivilprozesses von der klassischen streitentscheidenden Funktion und durch eine stärkere Fokussierung auf abstrakte Normbildungen im Dienste der Allgemeinheit unter Umständen begegnet werden.
1. Das sozial-politische Funktionsverständnis des Zivilprozesses Die Rolle, die der Zivilprozess für die Gewährleistung sozialer und staatsbürgerlicher Teilhabe einerseits faktisch spielt und andererseits unter normativen Aspekten spielen sollte, ist in der Literatur seit langer Zeit eingehend thematisiert worden. Mit Blick auf England stellte beispielsweise bereits Max Weber fest, dass der elitäre Hintergrund der englischen Richter- und Anwaltschaft sowie die hohe Kostenlast, die mit Prozessen vor den königlichen Gerichten traditionellerweise verbunden war, schon immer einen Großteil der Bevölkerung von dem Zugang zur Rechtspflege ausgeschlossen habe: „Für die Entfaltung des Kapitalismus kam […] ein Doppeltes begünstigend in Betracht: einmal der Umstand, daß die Rechtsbildung dem Schwerpunkt nach in der Hand der Anwälte lag, aus denen die Richter sich rekrutierten, – also in der Hand einer Schicht, welche im Dienst der begüterten, speziell der kapitalistischen, Privatinteressen tätig wird und materiell direkt von ihnen lebt. Und ferner, in Verbindung damit, der Umstand, daß die Konzentration der Rechtspflege bei den Reichsgerichten in London und ihre gewaltige Kostspieligkeit der Sache nach einer Justizverweigerung für die Unbemittelten sehr nahe kam.“143
Dementsprechend fungiert der Gerichtszug aus High Court, Court of Appeal und House of Lords typischerweise als Forum für so genannte Eliterechtsstreitigkeiten, die häufig einen wirtschaftsrechtlichen Hintergrund aufweisen.144 Die englische Zivilprozessreform des Jahres 1998 hat deshalb das Problem eines verbesserten „access to justice“ für alle Bevölkerungskreise auch zu ihrem Hauptanliegen gemacht.145 In den Vereinigten Staaten wurde das Spannungsverhältnis zwischen der adversarialen Struktur des Zivilprozesses und dem Gedanken eines gleichberechtigten Zugangs zur Rechtspflege bereits seit dem Aufkommen der rechtssoziolo143
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 511. Kritzer, Courts, Justice, and Politics in England, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 81 (153 ff.). Zu der hohen Kostenlast in Verfahren vor dem Court of Appeal und dem House of Lords auch Andrews, ZZPInt 2 (1997), 3 (7); BlomCooper/Drewry, Final Appeal, 1972, S. 118 f. und Leipold, Die Rechtsmittel des Zivilprozesses im europäischen Vergleich, in: Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Rechtsstaat – Rechtsmittelstaat?, 1999, S. 66 (67). 145 Siehe oben § 3 B VII 3, S. 183 ff. 144
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gischen und der rechtsrealistischen Schule zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv diskutiert.146 Neuen Auftrieb erhielt diese Diskussion vor allem in den 1970er und 1980er Jahren. Den Proponenten der Idee einer sozial-distributiven Gerechtigkeit erschien dabei der klassische Zivilprozess mit seiner auf juridisch-kommutative Gerechtigkeit ausgerichteten Struktur wenig geeignet, die Interessen sozial Schwacher zu schützen.147 Dabei unternahm vor allem die so genannte critical legal studies movement den Versuch, die normbildende Rechtsprechung als eine Gewalt zu dekonstruieren, durch die eine gesellschaftliche Elite unter dem Anschein der Neutralität ihre Interessen wahrt.148 Während das US-amerikanische Rechtssystem symbolisch auf den Gedanken der Gleichheit und Universalisierbarkeit beruhe, führe es auf der praktischen Ebene zu Ungleichheiten und zu egoistischem Partikularismus.149 Diesem Grundgedanken folgend, analysieren die Vertreter der critical legal studies movement die Appellationsrechtsprechung weniger als einen Mechanismus fortgesetzter Streitentscheidung, sondern vielmehr als ein Mittel der Ressourcenverteilung.150 Hierbei bezieht sich der Begriff der zu verteilenden Ressourcen nicht nur auf ökonomische Güter im engeren Sinne, sondern auch auf rechtlich garantierte Handlungsspielräume. Bei diesem Verteilungsspiel durch Richterspruch schneiden aus Sicht der critical legal studies „begüterte“ Gesellschaftsgruppen mit einem leichten und häufigen Zugriff auf die Appellationsebene systematisch besser ab als soziale Randgruppen.151 Dabei soll das klassische, auf einen Individualstreit bezogene Rechtsfindungsmodell vor allem im Eigentums- und Vertragsrecht dazu führen, dass bereits bestehende wirtschaftliche Macht juristisch flankiert und damit potenziert wird.152 Einen maßgeblichen Grund hierfür sehen die Kritiker in der Fokussierung der (Zivil-)Rechtsprechung auf subjektive Rechte der Beteiligten.153 Denn hierdurch werde die soziale Wirklichkeit nicht in ihrer gesamten Breite wahrgenommen, sondern würden typischerweise nur die Interessen derjenigen Bevölkerungskreise in justiziable Rechtspositionen transformiert, die aufgrund ihrer starken Stellung in der Gesellschaft den Rechtsprechungsprozess für sich zu nutzen verstünden:
146
Hierzu oben § 3 C IV, S. 207 ff. So etwa Fiss, 6 Law & Hum. Behav. 121, 122 f. (1982); Galanter, 9 Law & Soc’y Rev. 95, 119 ff. (1974) und Hazard, 36 U. Chi. L. Rev. 699, 706 ff. (1969). 148 Eine eingehende Summe dieser Bemühungen zieht Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997. 149 Galanter, 9 Law & Soc’y Rev. 95, 147 f. (1974). 150 Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 65 ff. 151 Galanter, 9 Law & Soc’y Rev. 95 ff. (1974); Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 68. 152 Kennedy, 89 Harv. L. Rev. 1685, 1760 ff. (1976). 153 Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 315 ff.; ähnlich Galanter, 9 Law & Soc’y Rev. 95, 123 f. (1974). 147
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„When people want to claim things from the legal system, they put their demands into rights language, as they once put them in religious language. But rights are more than just a language – or we might say that, like any language, rights talk does more and less than translate a clear and constant meaning from one medium into another. Rights talk was the language of the group – the white male bourgeoisie – that cracked open and reconstituted the feudal and then mercantilist orders of Western Europe, and did it in the name of Reason. The mediating power of the language, based on the presupposition of fact/value and law/politics distinctions, and on the universal and factoid character of rights, was a part of the armory of this group, along with the street barricade, the newspaper, and the new model family.“154
Das Petitum der critical legal studies movement besteht somit im Kern darin, dass der Rechtsprechungsprozess nicht um ein parteibezogenes Streitverfahren zentriert werden dürfe, sondern dass die Aufgabe der Gerichte darin bestehe, durch die Pflege vorhandener Normen und die Schaffung neuer Normen im Interesse der Allgemeinheit öffentliche Werte durchzusetzen, aber auch neu zu definieren.155 In Deutschland schließlich entstand erstmals an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert eine intensive Diskussion über die soziale Aufgabe des Privatrechts. Selbst wenn diese Diskussion vornehmlich das materielle Privatrecht in Gestalt des neu zu schaffenden Bürgerlichen Gesetzbuchs betraf, bezog sie sich in der Folge auch auf die sozialen Implikationen des Prozesses der richterlichen Rechtsgewinnung. Dies schlug sich insbesondere in der Prozesstheorie Kleins nieder, der den Zivilprozess nicht als eine Form der Schlichtung privater Konflikte, sondern als eine soziale Anstalt entwarf.156 Neuen Auftrieb erhielt diese Debatte nach der Einführung des Grundgesetzes, auf dessen Grundlage das Sozialstaatsprinzip und die effektive Verwirklichung von Grundrechten auch für das Zivilrecht und den Zivilprozess eine Leitfunktion erlangt haben.157 Dabei vertrat Pawlowski bereits in den 1960er Jahren im Rahmen einer Abhandlung über die „Aufgabe des Zivilprozesses“ die Ansicht, dass die Prozessparteien weniger in ihrer Eigenschaft als Individuen betrachtet werden dürften, die ihre Eigeninteressen durchsetzen, sondern als vernünftige Wesen, welche die „Rechtserkenntnis als solche“ suchen.158 Hiermit bewegte er sich durchaus auf einer gedanklichen Linie weiter, die im 19. Jahrhundert bereits Jhering eröffnet hatte. Jhering hatte nämlich als Grundlage der Bewährung und der Erneuerung des Rechts eine Pflicht der jeweiligen Rechtsinhaber zur Durchsetzung ihrer Rechte postuliert, wobei diese Pflicht den Berechtigten nicht nur gegenüber sich
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Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 334. So deutlich Fiss, 93 Harv. L. Rev. 1, 28 ff. (1979). 156 Dazu oben § 3 A IV, S. 53 ff. 157 Siehe § 3 A X, S. 82 ff. 158 Eingehend Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 (357 ff.) unter Anknüpfung an den Kantischen homo noumenon (a.a.O., 370 ff.). 155
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selbst, sondern auch gegenüber dem Gemeinwesen treffen sollte.159 Diese Auffassung kulminierte in dem Bild, dass das Verhältnis des objektiven Rechts zum subjektiven Recht dem Kreislauf des Blutes entspreche, „das vom Herzen ausströmt und zum Herzen zurückströmt“.160 Setzte Jhering damit aber durchaus noch eine Gleichberechtigung der Individualzwecke mit dem Ziel der objektiven Rechtsverwirklichung und Rechtsgestaltung voraus, gewann für Pawlowski nun ganz die objektive, gesellschaftliche Dimension des Zivilprozesses die Oberhand. Er definierte den Prozess nicht als ein Mittel zur Durchsetzung subjektiver Rechtspositionen, sondern vielmehr als einen staatsbürgerlichen Akt, durch den sich der Einzelne in den Dienst des Rechts an sich stellt.161 War hierin bereits der Gedanke des Zivilprozesses als eine Form der Integration in das Gemeinwesen angelegt, erlangte die Idee des „sozialen Zivilprozesses“ auch in Deutschland in den 1970er Jahren ihren Kulminationspunkt. Vor allem Wassermann knüpfte dabei an den Umstand an, dass das Sozialstaatsprinzip nicht nur dem Gesetzgeber, sondern allen Staatsgewalten einen sozialen Ausgleich gebiete, der über eine rein formale Gleichbehandlung hinausgehen müsse und eine Auflösung sozialer Konflikte durch Richterspruch erfordere.162 Hieraus folgerte er auch eine Neubewertung der Aufgabe und der Struktur des Zivilprozesses: „Der Richter, der im Zivilprozeß den sozialen Rechtsstaat zu konkretisieren hat, muß infolgedessen die juristischen Abstraktionen durchbrechen, in die das liberale Denken den Prozeß gezwängt hat […]. Es muß sichtbar gemacht werden, was man die sozialen Bezüge des Prozesses nennen kann.“163
Vor dem Hintergrund dieser kritischen Ansätze hat Cappelletti als eines der wichtigsten zivilprozessualen Themen der Gegenwart die Frage ausgemacht, wie ein angemessener „access to justice“ für alle Bürger gewährleistet werden könne.164 Dabei hat er auf rechtsvergleichender Grundlage eine Abkehr von dem klassischen Bild des Zivilprozesses ausgemacht, in dem der Staat einen privaten Rechtsstreit durch die Rechtsprechung nur neutral entscheide, aber kaum aktiv gestalte. Die Aufgabe der Zukunft sieht er folglich darin, das Gerichtsverfahren offener für die Durchsetzung öffentlicher Interessen zu gestalten.165 Dieses Thema aufgreifend, gelangt auch eine neuere Studie zu dem Ergebnis, dass die drängendsten Probleme der Durchschnittsbevölkerung auf den Gebieten des 159
Jhering, Der Kampf ums Recht, 7. Aufl. 1989, S. 17 ff. sowie dazu oben § 3 A IV, S. 50 ff. Jhering, Der Kampf ums Recht, 7. Aufl. 1989, S. 25. 161 Vgl. Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 (385). 162 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 68 ff.; ähnlich E. Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie, 1973, S. 38. 163 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 76. 164 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 213 ff.; ders., 69 Mich. L. Rev. 847, 870 ff. (1971). 165 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 268 ff.; ders., 160
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Familien-, Nachbarschafts-, Eigentums- und Vertragsrechts im Rahmen der tradierten Strukturen des Zivilprozesses nicht adäquat gelöst würden.166 In eine ähnliche Richtung weist schließlich die Analyse Shapiros, der die sozial-integrative und die politisch-integrative Funktion des Zivilprozesses betont. Der Appellationsprozess dürfe weniger als ein Mittel ausgleichender Gerechtigkeit im Sinne der rechtsförmigen Entscheidung privater Streitigkeiten begriffen werden, sondern vielmehr als ein Mittel der distributiven Gönnerschaft der Staatsgewalt.167 Der Staat befördere durch seine obersten Gerichte die Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen. Über die soziale Integration durch Richterspruch werde dabei zugleich die politische Integration gefördert. Shapiro erkennt hierin eine neue Variation des Urthemas der Rechtsprechung, das bereits in der Entstehung der königlichen Gerichtsbarkeit in England angelegt gewesen sei, nämlich durch eine integrative Funktion friedensstiftend zu wirken.168 Aus diesen Ansätzen, die Gesichtspunkte der sozialen Partizipation und der politischen Integration betonen, lässt sich nun zugleich ein Argument ableiten, das für eine weit greifende Normbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung und gegen den hier geforderten, möglichst engen Fallbezug sprechen könnte. Nur auf diesem Wege, so die denkbare Sichtweise, fänden auch diejenigen Bevölkerungskreise hinreichend Beachtung, die aufgrund ihrer sozialen und gesellschaftlichen Stellung typischerweise nicht selbst als Parteien vor den höchstrichterlichen Instanzen auftreten und die ihre Interessen daher nicht aktiv in den Prozess der richterlichen Rechtsgestaltung einbringen können. Danach müsste sich neben der Gesetzgebung und der Verwaltung auch die Rechtsprechung in quasi stellvertretender Weise den Interessen dieser Bevölkerungskreise annehmen und daher verstärkt einen Beitrag zu der angemessenen Gestaltung von Lebensverhältnissen leisten, der über ein rein fallbezogenes Vorgehen hinausreicht. In diesem Sinne hat Damaska es als ein Wesensmerkmal des „aktivistischen Staates“ beschrieben, dass dessen Rechtsprechung nicht bei der Lösung konkreter Streitverfahren stehen bleibt, sondern jeden Fall nur als – mehr oder weniger vollkommenes – Symbol für ein abstrakteres Regelungsproblem begreift, zu dem es vorzudringen gelte.169 Aus diesem Blickwinkel gehört es zu den maßgeblichen Aufgaben der Zivilrechtsprechung, nicht nur bereits aufgetretene Konflikte unter Privaten einer Lösung zuzuführen, sondern mit Blick auf die Zukunft sozial-integrativ zu wirken und dadurch den Zusammenhalt der Ge69 Mich. L. Rev. 847, 883 f. (1971); siehe auch Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 76 ff., 97 ff. 166 Barendrecht/Kamminga/Verdonschot, Priorities for the Justice System, Tilburg University Legal Studies Working Paper 002/2008, 2008, S. 39 f. 167 Shapiro, 14 Law & Soc’y Rev. 629, 634 ff. (1980). 168 Vgl. Shapiro, 14 Law & Soc’y Rev. 629, 637 (1980). 169 Damaska, The Faces of Justice and State Authority, 1986, S. 84 ff.
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sellschaft zu fördern.170 Einmal mehr geht es dabei um den Versuch, die als überholt eingeschätzte Trennung der privat-individuellen und der öffentlich-sozialen Seite des Rechts und des Gerichtsprozesses zu überwinden und alle Bereiche des Rechts unmittelbar auf die Förderung des Gemeinwohls zu verpflichten.171 Der mittelbare Beitrag, den eine zurückhaltende, an die klassische streitentscheidende Funktion anknüpfende Normbildung auf lange Sicht für die Allgemeinheit leistet, erscheint aus dieser Perspektive unzureichend. Vielmehr wird eine immer aktivere sozialpolitische Funktion der Rechtsprechung angemahnt, beispielsweise in der folgenden Einschätzung Wassermanns: „Der Terminus ‚Politischer Richter‘ bringt diese sozialgestaltende Tätigkeit des Richters auf den Begriff; er besagt, daß er sich des politischen Charakters seiner sozialgestaltenden Tätigkeit bewußt sein und die Folgen seiner Entscheidung verantworten muß.“172
In ganz ähnlicher Weise nimmt für den Bereich des common law auch Kennedy eine gestaltende Aufgabe des Zivilprozesses an, bei der die beteiligten Parteien weniger als mit subjektiven Rechten ausgestattete Individuen, sondern vielmehr als Repräsentanten sozialer Gruppen erscheinen, deren Interessen durch den Richterspruch gewichtet werden. Deshalb sei der Gesichtspunkt der Sozialgestaltung im Rahmen des richterlichen Entscheidungsprozesses gegenüber den individuellen Interessen der Beteiligten in den Vordergrund zu rücken: „Good judging, in this view, means the creation and development of values, not just the more efficient attainment of whatever we may already want. The parties and the judge are bound together, because their disputes derive an integral part of their meaning from his participation, first imagined, later real. It is desirable rather than not that they should see their negotiations as part of a collective social activity […].“173
2. Die Schwächen des sozial-politischen Funktionsverständnisses Bei näherer Betrachtung vermögen die Gedanken sozialer Partizipation und politischer Integration jedoch keine Entkoppelung der normbildenden von der streitentscheidenden Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu tragen. Zwar erscheint der Befund durchaus zutreffend, dass der komplexe, häufig kostenintensive und auf private Rechte und Pflichten zugeschnittene Entscheidungsmodus der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung nicht die gesamte Breite der Interessenlage aller Bevölkerungsschichten adäquat zu verarbeiten vermag. Richter haben, selbst auf der höchstrichterlichen Ebene, im Rahmen des Zivilprozesses typischerweise keinen repräsentativen Zugriff auf einen Querschnitt aller politischen, sozialen und wirtschaftlichen
170 171 172 173
Siehe Siegel, 86 Tex. L. Rev. 959, 975 (2008). Vgl. Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 99. Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 79. Kennedy, 89 Harv. L. Rev. 1685, 1772 (1976).
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Problemzusammenhänge.174 Dies liegt jedoch zu einem wesentlichen Teil in der Natur dieses Prozesses als eine Auseinandersetzung zwischen privaten Bürgern begründet. Ein solcher Modus kommt denknotwendig den Bedürfnissen mancher Segmente der Gesellschaft stärker entgegen als anderen.175 Denn eine um subjektive Rechte zentrierte Entscheidung kann das öffentliche Wohl regelmäßig nicht in seiner ganzen Breite widerspiegeln, sondern nur, soweit die jeweiligen Interessen sich zu einer justiziablen Position verdichten lassen.176 Derartige Positionen beruhen regelmäßig auf dem Gedanken individueller Verantwortlichkeit und weniger auf der sozialen Stellung bestimmter Bevölkerungskreise.177 Ein äußeres Pendant findet diese Einschätzung in dem Umstand, dass der klassische Zivilprozess auf Fragen zugeschnitten ist, die unter Beteiligung von lediglich zwei oder doch zumindest wenigen Parteien gelöst werden können. Mit einer gesteigerten Zahl involvierter Personen sinkt somit die Aussicht, dass der betreffende Konflikt durch ein Zivilgericht angemessen bewältigt werden kann.178 Darüber hinaus trifft auch die Einschätzung Galanters zu, dass im Rahmen gerichtlicher Auseinandersetzungen diejenigen Gesellschafts- und Wirtschaftskreise einen Chancenvorteil genießen, die als so genannte repeat players ihre Interessenkonflikte regelmäßig und häufig auf der höchstrichterlichen Ebene austragen.179 Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil diese Parteien ein überproportional großes Interesse an der Fortentwicklung des Rechts auf den sie interessierenden Gebieten haben. Sie können sich daher eine größere Expertise in der langfristigen, strategischen Prozessplanung aneignen und die Kosten langwieriger Gerichtsverfahren besser abfedern als Parteien, die nur singulär oder überhaupt nicht in Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden. So hat beispielsweise aus historischer Sicht Epp nachgezeichnet, wie es in dem Zeitraum zwischen 1870 und 1910 den großen Kapitalgesellschaften, insbesondere den Eisenbahngesellschaften, möglich war, durch die gezielte Planung und Durchführung von Appellationsprozessen die Entwicklung des Rechts zu ihren Gunsten zu beeinflussen.180 Die Nachteile, die wegen der Organisationsstärke der repeat players umgekehrt den „prozessfernen“ Bevölkerungsteilen aufgrund ihrer geringen Partizi174
Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 47 f., 65 f. Siehe H. Jacob, Introduction, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 1 (13). 176 Rachlinski, 73 U. Chi. L. Rev. 933, 934 f. (2006). 177 Vgl. Rachlinski, 73 U. Chi. L. Rev. 933, 947 ff. (2006). 178 Komesar, Imperfect Alternatives, 1994, S. 21 ff. Zu dem Problem der Justiziabilität verstreuter Interessen auch noch unten § 4 C II 2 a, S. 290 f. 179 Galanter, 9 Law & Soc’y Rev. 95, 97 ff. (1974); siehe auch Cross, Decision Making in the U.S. Courts of Appeals, 2007, S. 127 ff. und G. Wagner, ZEuP 2008, 6 (10). 180 Epp, External Pressure and the Supreme Court’s Agenda, in: Clayton/Gillman (Hrsg.), Supreme Court Decision-Making, 1999, S. 255 (262 ff.). 175
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pation am richterlichen Normbildungsprozess drohen, können jedoch aus verschiedenen Gründen kaum sinnvoll dadurch ausgeglichen werden, dass auf der höchstrichterlichen Ebene die Funktion der Streitentscheidung im Dienste der Prozessparteien zugunsten einer Normbildung im Dienste aller zurückgedrängt wird. Denn hierdurch würden einerseits die immanenten Wirkungsgrenzen des Zivilprozesses verkannt (dazu unter a)) und würde andererseits die Integrität des Rechtsprechungsprozesses beschädigt (dazu unter b)).
a) Die immanenten Wirkungsgrenzen des Zivilprozesses Zunächst erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die Rechtsfragen, die selbst bei einer großzügigen Handhabung „anlässlich“ konkreter höchstrichterlicher Prozesse abgehandelt werden können, in einem relevanten Maße mit den Interessen der weniger privilegierten Bevölkerungskreise zusammenhängen, deren Konflikte selbst nicht in hinreichendem Maße das staatliche Gerichtssystem erreichen. Selbst eine aktivistisch eingestellte Rechtsprechung kann nicht im Stile eines Catoschen „ceterum censeo“ beliebige Entscheidungen treffen, sondern es muss jedenfalls ein Mindestmaß an sachlichem Zusammenhang mit dem konkreten Rechtsstreit vorliegen, will die Rechtsprechung nicht aus der ihr verfassungsmäßig zugedachten Rolle ausbrechen. Eine Hauptproblematik des umfassenden access to justice für alle Bürger besteht gerade darin, dass die Art der Rechtsprobleme, die für weite Bevölkerungskreise bedeutsam sind, eine relativ geringe Schnittmenge mit den Streitigkeiten aufweist, die besser situierte und rechtlich fundiert beratene Bürger und juristische Personen typischerweise austragen. Eine Lockerung zwischen der streitentscheidenden und der normbildenden Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung verspricht vor diesem Hintergrund nur einen äußerst geringen Ertrag für den Gedanken sozialer und politischer Partizipation im Rechtsstaat. Darüber hinaus stellen sich einer Rechtsprechung, die gewillt ist, in hohem Maße Rechtssätze herauszuarbeiten, die auf eine soziale Integration abzielen, zwei weitere maßgebliche Probleme: Zum einen kann die Judikative die wirtschaftlichen und sozialen Fernwirkungen eines beabsichtigten social engineering mit noch viel weniger Gewissheit abschätzen, als dies im Rahmen des klassischen Gesetzgebungsprozesses ohnehin schon der Fall ist.181 Sie droht daher ihre Regelungsziele mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit zu verfehlen. Zum anderen schließt sich das Problem an, wie richterliche Vorgaben, die als eine Form des sozialen Ausgleichs nicht auf relative Rechtsverhältnisse unter zwei oder wenigen Beteiligten begrenzt bleiben, sondern die in multipolaren Rechtsbeziehungen 181 Siehe F. Baur, JZ 1957, 193 (196); G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, 7/91; Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 284 ff.; Prütting, Festschrift Universität Köln, 1988, S. 305 (317); Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 86 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 165 ff.
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wirken sollen, überhaupt effektiv durchgesetzt und überwacht werden können.182 Die klassischen Mittel, die der Umsetzung rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen dienen, wie insbesondere das Vollstreckungsrecht, erscheinen in diesem Zusammenhang weit gehend untauglich. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur davon gesprochen, dass höchstrichterliche Urteile, die komplexe multipolare Beziehungen betreffen, die zukünftige Entwicklung nicht determinieren, sondern nur „beeinflussen“.183 Hierbei bleibt das Maß dieses Einflusses häufig deutlich hinter dem normativen Anspruch eines höchstrichterlichen Urteils zurück. Beispielsweise vermochte das oben geschilderte Urteil des US Supreme Court in der Sache Shelley v. Kraemer 184 zur Verfassungswidrigkeit diskriminierender covenants die tatsächliche Praxis der Benachteiligung farbiger Bürger bei dem Erwerb attraktiven Wohnraums nur beschränkt abzumildern. Eine wirkliche Verbesserung trat vielmehr erst ein, als auch die anderen Staatsgewalten massive Bemühungen zugunsten der Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen in gemeinsamen Wohngebieten entfalteten.185 In einem erheblichen Umfang lässt sich das Ziel sozialer Integration daher nicht durch prozessbezogene Maßnahmen verwirklichen, sondern nur durch ein Handeln der Gesetzgebung und der sozial fürsorgenden Verwaltung.186 Soweit darüber hinaus auch ein verbesserter Zugang zur Rechtsprechung geschaffen werden soll, muss dies sinnvollerweise primär auf den unteren Ebenen der Rechtsprechung gewährleistet werden. Hierbei haben sich in der Diskussion vor allem zwei Punkte als wesentlich herauskristallisiert:187 Der erste Punkt betrifft dabei ganz allgemein die Reduzierung der Verfahrenskosten für Parteien mit beschränkten Vermögensverhältnissen und die Verbesserung ihrer rechtlichen Beratung.188 Dabei kann es auch darum gehen, dass das Tatsachengericht selbst eine verstärkte Verantwortung dafür übernimmt, 182 Skeptisch hierzu insbesondere Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 284 ff. und Rosenberg, 24 Journal of Supreme Court History 201 ff. (1999). 183 Vgl. Murphy/Pritchett/Epstein/Knight, Courts, Judges, & Politics, 6. Aufl. 2006, S. 692: Urteile in stark rechtspolitisch geprägten Kontroversen werden nicht strikt „befolgt“ (compliance), sondern haben nur „Einfluss“ (impact). 184 Dazu § 3 C VI, S. 232 ff. 185 Siehe Pritchett, Shelley v. Kraemer, in: Gilles/Goluboff (Hrsg.), Civil Rights Stories, 2008, S. 5 (21 ff.). 186 In dieser Richtung auch das Gedankenspiel bei Kennedy, A Critique of Adjudication, 1997, S. 215 ff., nach dem sich an jede höchstrichterliche Entscheidung potentiell ein weiteres „Rechtsmittel“ zum Parlament anschließen soll, in dessen Rahmen die parteibezogene Struktur eines Gerichtsverfahrens aufgehoben und das jeweilige Sachproblem holistischer behandelt werden soll. 187 Vgl. Cappelletti/Garth, Access to Justice and the Welfare State: An Introduction, in: Cappelletti (Hrsg.), Access to Justice and the Welfare State, 1981, S. 1 (4 ff.); Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 130. 188 Galanter, 9 Law & Soc’y Rev. 95, 139 ff. (1974); Wassermann, Der soziale Zivilprozess, 1978, S. 89 f., 155 ff., 186 ff.
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dass der Prozess zu den eigentlichen Konfliktfragen des jeweiligen Rechtsstreits vordringt und diese einer material-befriedigenden und nicht nur formal-erledigenden Lösung zuführt.189 Diese Aspekte waren beispielsweise Hauptpunkte der englischen Zivilprozessreform des Jahres 1998, die sich der Schaffung eines verbesserten access to justice für breite Bevölkerungskreise verpflichtet sah.190 Der zweite Punkt betrifft die speziellere Frage, wie breit gestreute Interessen einer Vielzahl von Bürgern, die in ihrer Summe ein erhebliches Gewicht haben, sich aber in dem jeweiligen Einzelfall nicht zu einem sinnvollerweise justiziablen Konflikt verdichten, effektiv geschützt werden können.191 Hierbei hat in Deutschland bisher der Gedanke einer Verbandsklage, insbesondere durch Verbraucherverbände, dominiert. In diesem Rahmen werden nicht die Ansprüche einzelner Privater gebündelt, sondern es wird eine originäre Interventionskompetenz eines Verbands begründet.192 Demgegenüber basiert die US-amerikanische Lösung des geschilderten Diffusionsproblems auf class actions, mittels derer unternehmerisch agierende Rechtsanwälte eine Vielzahl von individuellen Einzelansprüchen bündeln und, motiviert durch Erfolgshonorare (contingency fees), einer kumulierten Durchsetzung zuführen.193 In England schließlich ist für die Bündelung verstreuter Interessen bisher keine befriedigende zivilprozessuale Lösung gefunden worden.194 Insbesondere wird das Instrument einer representative action, „where more than one person has the same interest in a claim“ (jetzt: Rule 19.6 CPR), von der Rechtsprechung äußerst restriktiv gehandhabt.195 Zwar kann es zu verbindlichen Interpretationsvorgaben für Klauseln in Formularverträgen führen, so zum Beispiel bei der Auslegung von standardmäßig verwendeten Versicherungspolicen.196 Hingegen kommt es nach der 189
Dazu Jolowicz, The Active Role of the Court in Civil Litigation, in: Cappelletti/ders., Public Interest Parties and the Active Role of the Jugde in Civil Litigation, 1975, S. 248 ff. und R. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, S. 62 ff. 190 Hierzu oben § 3 B VII 3, S. 183 ff. 191 Siehe Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 279 ff.; ders., The Role of the Ministère Public, the Procuratura, and the Attorney General in Civil Litigation, in: ders./Jolowicz, Public Interest Parties and the Active Role of the Jugde in Civil Litigation, 1975, S. 13 ff.; Galanter, 9 Law & Soc’y Rev. 95, 141 ff. (1974). 192 Zu den Grundlagen Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, 2006, S. 5 ff., 43 ff. und Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 354 ff.; im Überblick R. Stürner, Festschrift Baur, 1981, S. 647 (652 f.) sowie ders., Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 545 (547 f.). 193 Eingehend zu den Grundgedanken der class action Mulheron, The Class Action in Common Law Legal Systems, 2004, S. 47 ff.; zur Übertragbarkeit des Modells der aggregate litigation auf europäische Verhältnisse jüngst Issacharoff/Miller, 62 Vand. L. Rev. 179 ff. (2009). 194 Siehe Kritzer, Courts, Justice, and Politics in England, in: Jacob u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 81 (165 f.) m.w.N. 195 Näher Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 14.04 ff.; Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 195 ff. und Mulheron, The Class Action in Common Law Legal Systems, 2004, S. 78 ff. jeweils m.w.N. 196 Dazu Equitable Life Assurance Society v. Hyman, [2002] 1 A.C. 408.
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Rechtsprechung grundsätzlich nicht in Betracht, wenn eine Vielzahl von Personen jeweils Schäden in individuell unterschiedlicher Höhe geltend macht, mögen diese Ansprüche auch auf inhaltlich identischen Vertragsverhältnissen oder auf einer einheitlichen schädigenden Handlung beruhen.197 Darüber hinaus hemmt der Umstand, dass der repräsentierende Kläger die Mit-Repräsentierten, die formell keine Parteien des Rechtsstreits sind, nicht zu einer Beteiligung an den Kosten des Verfahrens verpflichten kann, den Anreiz für representative actions.198 Immerhin ist im Zuge der Zivilprozessreform des Jahres 1998 mit Rule 19.10 CPR aber das Instrument einer group litigation order eingeführt worden, die auf der Grundlage eines opt in-Systems ein effektiveres case management bei einer Mehrzahl von Klagen ermöglicht, „which give rise to common or related issues of fact or law“.199 Im Übrigen bremst jedoch das klassische Ideal des Zivilprozesses als eine rein relative Streitsache zwischen Kläger und Beklagtem die Ausweitung des privatrechtlichen Schutzes bei multipolaren Konflikten in England noch immer. Bei diesen Fragen des Schutzes „verstreuter“ Interessen handelt es sich um hoch kontroverse Probleme der Gestaltung des Zivilprozesses in den unteren Instanzen, die an dieser Stelle nicht näher zu erörtern sind. Sofern durch ihre kluge Lösung der access to justice verbessert wird, kann dies selbstverständlich auch Rückwirkungen auf der höchstrichterlichen Ebene zeitigen, nämlich dadurch, dass dann auch andere Arten von Rechtsstreitigkeiten durch den Instanzenzug auf die oberen Entscheidungsebenen gelangen werden. In diesem Fall bedarf es aber keiner Entkoppelung zwischen Streitentscheidung und Normbildung mehr, sondern diese Verfahren bieten dann ein valides Anschauungsmaterial für die Klärung der durch sie aufgeworfenen Rechtsfragen.
b) Die Wahrung der Integrität des Rechtsprechungsprozesses Schließlich wäre das Postulat einer Entkoppelung von Streitentscheidung und Normbildung zur Gewährleistung sozialer Partizipation und politischer Integration nicht nur, wie soeben dargelegt, wenig effektiv, sondern auch für die Integrität des Rechtsprechungsprozesses äußerst schädlich. Denn wenn maßgeblicher Fixpunkt einer Entscheidung weniger der konkrete Rechtsstreit und die in ihm geltend gemachten subjektiven Rechte als vielmehr die Bedürfnisse der Gesellschaft als solche sind, gerät zunächst die Subjektrolle der Prozessparteien in Gefahr. So erscheint es, um auf die oben referierten 197 Grundlegend für diese Beschränkung war der Fall Markt and Co. Ltd. v. Knight Steamship Co. Ltd., [1910] 2 K.B. 1021; hierzu Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 14.06 und Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 132. 198 Andrews, English Civil Procedure, 2003, 41.63; ders., The Modern Civil Process, 2008, 14.08. 199 Umfassend hierzu Mulheron, The Class Action in Common Law Legal Systems, 2004, S. 94 ff. sowie im Überblick Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 14.09 ff.
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
Ausführungen Shapiros zurückzukommen, 200 fraglich, ob die friedensstiftende Funktion der königlichen englischen Gerichte ihre Wurzel wirklich in dem Gedanken einer distributiven Gönnerschaft des Staates fand oder nicht vielmehr in der unparteilichen Durchsetzung privater Rechte. 201 Gerade in einer solchen Konzentration auf die individualrechtlichen Positionen liegt der spezifische Beitrag, den Zivilgerichte zur Identifikation der Bürger mit dem Staatswesen leisten können. Unabhängig von dieser historischen Frage ist der Gedanke, dass der Zugang zu einer höheren Instanz als ein staatlich verliehenes Privileg zu begreifen sei, jedenfalls aus heutiger rechtsstaatlicher Sicht überholt. 202 Auch im Rechtsmittelprozess müssen die Parteien vielmehr als Subjekte des Verfahrens begriffen werden und nicht als bloß passive Destinatäre einer staatlichen Sozialleistung. In diesem Sinne ist es eine zentrale Vorbedingung für die Legitimität verbindlicher richterlicher Entscheidungen, dass die Beteiligten vor dem Erlass des Urteils die Gelegenheit erhalten, in einem neutralen Prozess für ihre jeweilige individuelle Sicht zu werben. 203 Sie dürfen auch auf der höchstrichterlichen Ebene nicht nur die Randfiguren eines objektiven, gesellschaftlich-sozialen Regelungsproblems sein. Dies setzt aber voraus, dass die Entscheidung des jeweiligen Rechtsstreits und nicht eine abstrakte Sozialgestaltung im Zentrum des Verfahrens steht.204 Folgerichtig sollte, wie Stürner zu Recht betont, das Ziel einer Schlichtung bzw. Befriedung sozialer Konflikte in einem freiheitlichen Rechtsstaat niemals an die Stelle des Schutzes subjektiver Rechte treten, sondern muss diese Hauptaufgabe der Zivilgerichte in ihrem Kern unangetastet lassen und kann sie nur ergänzen.205 Somit zieht die beteiligtenbezogene Natur des Rechtsprechungsprozesses seiner Tauglichkeit zur Lösung allgemeinheitsbezogener Probleme feste Grenzen. Aber der Ansatz, die Entscheidung privatrechtlicher Streitigkeiten durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu einem Mittel sozialer Gestaltung umzuwidmen, bedroht nicht nur die Subjektrolle der Prozessparteien, sondern auch die Unparteilichkeit des Gerichts. Den Zusammenhang zwischen der streitentscheidenden Funktion der Rechtsprechung und der richterlichen Unparteilichkeit haben dabei sowohl Vertreter des kontinentaleuropäischen Rechts206 als auch Vertreter des common law herausgearbeitet.207 Demgegenüber besteht 200
Siehe § 4 C II 1, S. 285. Dazu oben § 3 B II, S. 130. 202 Leipold, Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzung oder Entscheidungskontrolle, in: Gilles u.a. (Hrsg.), Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1985, S. 285 (287). 203 Eingehend Ackerman, Social Justice in the Liberal State, 1980, S. 347 ff. 204 Picker, JZ 1984, 153 (156). 205 R. Stürner, Festschrift Baumgärtel, 1990, S. 545 (547 ff.). 206 F. Baur, JZ 1957, 193 (196); Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 30 ff.; R. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, S. 55. 207 Siehe für England Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 3 f.; MacCormick, Institutions of Law, 201
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zwischen ambitionierten rechtspolitischen Zielvorstellungen und der Rolle des unabhängigen Richters ein inhärentes Spannungsverhältnis: „The creative lawmaker is the squire of the social reformer and the quality they both need is enthusiasm. But enthusiasm is rarely consistent with impartiality and never with the appearance of it.“208
Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Impetus einer möglichst weit reichenden Gesellschaftsgestaltung und der richterlichen Unparteilichkeit erklärt sich daraus, dass Letztere nicht nur dann fehlt, wenn der Richter ein eigenes Interesse an dem unmittelbaren Entscheidungsgegenstand hat oder wenn er mit einer der Prozessparteien verflochten ist. Vielmehr kann er auch dann nicht mehr als ein unabhängiger Konfliktlöser gelten, wenn er seinen Blick im Wesentlichen auf abstrakte Fragen der Rechtsgemeinschaft und weniger auf das konkrete, ihm zur Entscheidung vorgelegte Lebensverhältnis richtet. 209 Denn in diesem Fall wird der Richter zu einem politischen Agenten und verstrickt sich damit in politische Interessenkonflikte. Lord Reid hat dieses Problem in folgende Worte gefasst: „Everyone agrees that impartiality is the first essential in any judge. And that means not only that he must not appear to favour either party. It also means that he must not take sides on political issues. When public opinion is sharply divided on any question – whether or not the division is on party lines – no judge ought in my view to lean to one side or the other if that can possibly be avoided.“210
Je mehr sich die Gerichte hingegen als Katalysatoren sozialer Partizipation und politischer Integration begreifen und einer diesbezüglichen Agenda verschreiben, umso mehr werden sie auch der Beeinflussung durch verschiedenste gesellschaftliche Interessengruppen unterliegen. 211 Dies zieht nach den Erkenntnissen der public choice theory wiederum die Gefahr nach sich, dass wohlorganisierte Partikularinteressen einen unangemessenen Einfluss auf den richterlichen 2007, S. 180 ff. und Reid, [1972] 23 Journal of the Society of Public Teachers of Law 22, 23 sowie für die USA Burbank, 95 Geo. L.J. 909, 915 ff. (2006); Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 38 f. und die Vertreter der legal process-Schule: dazu oben § 3 C VIII, S. 236 ff. 208 Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 16. 209 Burbank, 95 Geo. L.J. 909, 915 ff. (2006); Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 7; ähnlich auch Schilken, Der Zweck des Zivilprozesses und der kollektive Rechtsschutz, in: Meller-Hannich (Hrsg.), Kollektiver Rechtsschutz im Zivilprozess, 2008, S. 21 (26 f.). 210 Reid, [1972] 12 Journal of the Society of Public Teachers of Law 22, 23; ähnlich R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 32 f. und Steyn, [2002] 118 L.Q.R. 382 (383). 211 Vgl. Cabrillo/Fitzpatrick, The Economics of Courts and Litigation, 2008, S. 64 f., die eine Verbindung zwischen der richterlichen Spezialisierung auf bestimmte Sachgebiete und einer möglichen Einflussnahme von außen annehmen. O’Hara/Ribstein, The Law Market, 2009, S. 25, gehen davon aus, dass an Gerichtsverfahren beteiligte Interessengruppen den Richtern bei der Abschätzung möglicher Implikationen überlegen sind und auf diese Weise einen erheblichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess nehmen können.
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Entscheidungsprozess ausüben können. 212 Gerade für die supreme courts in den Vereinigten Staaten lässt sich in diesem Sinne bereits seit einiger Zeit beobachten, dass organisierte Interessengruppen durch die strategische Planung von Verfahren bzw. durch die Intervention als amicus curiae einen erheblichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess nehmen, wenn Fragen von großer sozialer oder ökonomischer Relevanz anstehen. 213 Je mehr sich die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung diesem Schema unterwirft und sich als social engineer betätigt, um so mehr droht somit ihre Legitimität als unabhängige Gewalt im Staatsgefüge Schaden zu nehmen.
3. Zwischenergebnis Das Anliegen sozialer Partizipation und politischer Integration rechtfertigt, so legitim es an sich auch sein mag, keine Entkoppelung der normbildenden von der streitentscheidenden Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Denn einerseits würde der Zivilprozess hierdurch institutionell überfordert und andererseits in seiner Integrität als ein unabhängiger Konfliktlösungsmechanismus nachhaltig geschädigt.
III. Fallbezogenes Entscheiden als mögliche Preisgabe von Rechtssicherheit 1. Rechtssicherheit als Eigenwert Eine weitere Argumentationslinie, die an dem Gedanken des Fallbezugs der normbildenden Rechtsprechung Kritik übt, stützt sich hierbei auf den Aspekt der Rechtssicherheit. So findet sich die Auffassung, der entscheidende Beitrag der Normbildung durch die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung bestehe weniger in dem „richtigen“ Inhalt der gebildeten Regeln, das heißt in der Überzeugungskraft ihrer Konsequenzen für den zu entscheidenden Fall oder für vergleichbare zukünftige Rechtsstreitigkeiten, sondern vielmehr in dem Umstand, dass nun überhaupt eine normative Vorgabe existiere, an der sich die Instanzgerichte sowie die Privatrechtssubjekte orientieren könnten und die damit Planungssicherheit böte.214 Gerade der Rechtsverkehr dränge in den modernen, komplexen Verkehrswirtschaften in zunehmendem Maße auf eine rechtliche 212 Näher zu dem Phänomen der Durchsetzungsstärke wohlorganisierter Partikularinteressen in staatlichen Entscheidungsprozessen Macey, Public Choice and the Law, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Band III, 1998, S. 171 ff. und Rubin, 11 J. Legal Stud. 205 ff. (1982). 213 Hierzu im Überblick Murphy/Pritchett/Epstein/Knight, Courts, Judges, & Politics, 6. Aufl. 2006, S. 268 ff. 214 Vgl. Gerland, Probleme des englischen Rechtslebens, 1929, S. 22; Heusinger, Rechts-
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Generalisierung, die kaum noch Raum für eine Berücksichtigung des Konkreten und des Besonderen lasse. 215 Vor diesem Hintergrund wird eine strenge Anlehnung der richterlichen Normbildung an das jeweils vorliegende Fallmaterial und die daraus folgenden Erkenntnisse als unzureichend empfunden, um das wünschenswerte Maß an normativer Vergewisserung für die Zukunft zu erzielen. 216 Ganz deutlich geht es nach dieser Sichtweise in erster Linie um die abstrakte, quasi-legislative Lenkung zukünftiger Entscheidungen und weniger um die fallbezogene, adjudikative Seite der richterlichen Tätigkeit. 217 Denn es wird zur Schaffung einer prospektiv orientierten Rechtsklarheit in Kauf genommen, dass die gebildete Norm aufgrund ihrer Entkoppelung von einem anschaulichen Streitfall, der gleichsam die Leitlinien für den konkreten Gehalt der zu bildenden Norm vorgibt, inhaltlich unbefriedigend ausfällt. Besonders nahe liegt dieses Petitum für ein lückenloses Regelungssystem dabei im deutschen Recht, in dem der Gedanke einer möglichst großen Geschlossenheit immer noch wirkungsmächtig ist.218 Sah man es im Sinne des Kodifikationsgedankens ursprünglich noch als alleinige Aufgabe des Gesetzgebers an, diese Geschlossenheit herzustellen, besteht heute hingegen die Auffassung, dass die zunehmende Überforderung der legislativen Gewalt eine weit reichende und zum Teil quasi-gesetzgeberische Normbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung unausweichlich mache.219 So hat sich beispielsweise Hanack unter dem Aspekt der Vereinheitlichung der Rechtsprechung grundlegend dafür ausgesprochen, die Frage, ob eine ausgleichungsbedürftige Abweichung zwischen zwei Judikaten vorliegt, nicht danach zu beurteilen, ob die in Rede stehenden, divergierenden Rechtsauffassungen für die jeweiligen Fallentscheidungen zentral (insbesondere: entscheidungserheblich) waren, sondern danach, ob aus Sicht der zukünftigen Rechtsentwicklung ein allgemeines Bedürfnis nach einer vereinheitlichenden Klärung zu bejahen ist. 220 Hierin spiegelt sich der Gedanke eines hohen Eigenwerts höchstrichterlicher Normbildung wider, der von seinem konkreten Inhalt und seiner Erprobung am Einzelfall unabhängig ist. findung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 90; zu dieser Sichtweise auch Siltala, A Theory of Precedent, 2000, S. 80 ff. 215 R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 23 ff. 216 Siehe Köbl, JZ 1976, 752 (754 f.) und Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 168 f. 217 Siltala, A Theory of Precedent, 2000, S. 82. 218 Grundlegend Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 16 ff. sowie aus neuerer Zeit Herresthal, Die Einheit des Privatrechts in der europäischen Integration – Palladion oder Relikt einer vergangenen Epoche, in: Domej u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2008, 2009, S. 139 ff. 219 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 16 ff.; Zeidler, DÖV 1975, 797 (801). 220 Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 247 ff.
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Die Idee eines Eigenwerts der richterlichen Regelbildung unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit findet sich jedoch nicht nur in Deutschland als Weiterentwicklung des Kodifikationsgedankens, sondern auch im anglo-amerikanischen Raum. Zwar gewährleistet nach dem klassischen Verständnis des common law gerade die Begrenzung der bindenden ratio decidendi eines Präjudizes auf Rechtsfragen, die der zu entscheidende Fall wirklich aufwirft und damit plastisch vor Augen führt, die Qualität der richterlichen Rechtsschöpfung. 221 In jüngerer Zeit werden aber Zweifel an diesem Grundsatz geäußert. So hat sich zum Beispiel Sunstein dezidiert gegen den Gedanken eines „richterlichen Minimalismus“ (judicial minimalism) ausgesprochen, nach dem die Appellationsrechtsprechung ihre Urteile im Zweifel auf eine enge, möglichst fallbezogene ratio decidendi stützen soll. Demgegenüber betont er, dass bei vielen Rechtsfragen unter pragmatischen Gesichtspunkten das Bedürfnis nach einer möglichst endgültigen und damit abstrakten Klärung bestehe, das nicht durch ein zögerliches Voranschreiten case-by-case kompromittiert werden dürfe.222 In diesem Zusammenhang sei die erhöhte Richtigkeitsgewähr, die aus einer fallweisen Erprobung folge, zugunsten des Gewinns an Rechtssicherheit durchaus verzichtbar. Dieses Argument hatte der Richter am US Supreme Court Brandeis in seiner dissenting opinion zu der Entscheidung Burnet v. Coronado Oil & Gas Co. bereits im Jahr 1932 zu der folgenden, plastischen Formulierung verdichtet: „[I]n most matters it is more important that the applicable rule of law be settled than that it be settled right.“223
2. Die Schwächen einer rein rechtssicherheitsbezogenen Argumentation Der Effekt einer erhöhten Rechtssicherheit, auf den die hier diskutierte Argumentationslinie abzielt, ist sicherlich grundsätzlich als ein Gewinn zu betrachten. Es schließt sich jedoch die Frage an, ob und inwieweit dieser Gesichtspunkt zugleich für eine weit ausgreifende abstrakte Normbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung spricht. Hierbei geht es um verschiedene Aspekte: Zum einen folgt aus einer abstrakten Regelbildung nicht notwendig ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit (dazu unter a)). Selbst soweit aber eine Steigerung der Rechtssicherheit durch eine abstrakte Normbildung zu konstatieren ist, stellt sich die Frage, welches Gewicht dieser positive Aspekt im Verhältnis zu den Risiken hat, die der abstrakte Modus der richterlichen Normbildung für die 221 Siehe Hathaway, 86 Iowa L. Rev. 601, 658 f. (2001); R. Posner, The Federal Courts: Crisis and Reform, 1985, S. 247 ff. 222 Sunstein, Beyond Judicial Minimalsim, Harvard University Law School Public Law & Legal Theory Research Paper No. 08–40, 2008, S. 14 ff. 223 Burnet v. Coronado Oil & Gas Co., 285 U.S. 393, 406 (1932), per Brandeis J., dissenting.
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inhaltliche Überzeugungskraft der Normen in sich birgt (dazu unter b)). Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass ein zu hohes Maß an normativer Festlegung auch die Gefahr einer Versteinerung des Rechts bewirken kann (dazu unter c)).
a) Kein notwendiger Zusammenhang zwischen abstrakter Regelbildung und Erhöhung der Rechtssicherheit Zunächst steigert die Schaffung abstrakter Normen durch die Rechtsprechung nicht notwendig die Rechtssicherheit. Hieran fehlt es zum Beispiel, wenn die Normbildung nicht erstmals eine Regelung für ein bestimmtes Sachproblem schafft und somit ein rechtliches Vakuum auffüllt, sondern wenn es sich um eine Modifizierung des geschriebenen Gesetzesrechts oder um eine Abänderung bereits bestehender Vorgaben aus früheren Judikaten handelt. Eine derartige Regeländerung mag zwar aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sein. Die Planungssicherheit wird durch sie jedoch gerade nicht befördert, sondern geschwächt. 224 Zudem hat Schlüter zu Recht darauf hingewiesen, dass eine rabulistische, abstrakte Festlegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung im Gegensatz zu einem vorsichtigen, tastenden Voranschreiten case-by-case später häufig einen erheblichen Korrekturbedarf nach sich zieht und damit der Rechtssicherheit gerade abträglich sein kann.225 Dieses Phänomen wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter anderem bei der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum so genannten nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch beobachtet, 226 aber auch bei verschiedenen jüngeren englischen Appellationsentscheidungen, die auf eine möglichst abstrakte und endgültige Problemlösung abzielten, diesen Anspruch jedoch nicht nachhaltig einzulösen vermochten. 227 Sofern die Rechtsprechung ein Mandat zu umfassender Normbildung wahrnimmt, sorgt dies somit allenfalls im „Mikrobereich“ für Rechtssicherheit, nämlich nur in Bezug auf den konkret geregelten Handlungsbereich und auch für diesen nur vorläufig. Im darüber hinausgehenden „Makrobereich“ ist hingegen eine Zunahme an Rechtsunsicherheit die Folge, weil die Bürger nun stets mit einer Änderung der ihnen geläufigen Normen durch die Rechtsprechung rechnen müssen und somit weniger auf das Rechtssystem in seiner Gesamtheit vertrauen können.228 Auf dieses Dilemma reagiert das Prinzip des stare decisis im common law, das eine Planungssicherheit für die Rechtsgemeinschaft gerade durch die Einschränkung des richterlichen Normbildungspotentials erzeugt, 224
Siehe Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 79 sowie Rüthers, JZ 2008, 446
(448). 225 226 227 228
Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 56 f. Dazu oben § 3 A XI 2 a, S. 104 ff. Hierzu oben § 3 B VII 1, S. 171 ff. Siehe Stevenson, 34 Ohio N.U. L. Rev. 191, 202 ff. (2008).
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die mit der Verbindlichkeit der Präjudizien einhergeht. 229 Folgerichtig vollzieht sich eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung im anglo-amerikanischen Recht in der Regel gerade nicht durch ein abstraktes overruling, sondern lediglich im Wege eines fallbezogenen distinguishing. 230 Dementsprechend wies Brandeis im Zusammenhang mit dem oben angeführten Zitat231 auf die Bedeutung der Regelklarheit und Regelsicherheit bezeichnenderweise auch nicht hin, um eine abstrakte judikative Neuschöpfung von Regeln zu legitimieren, sondern um die Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung bereits bestehender Präjudizien hervorzuheben.
b) Das unterschiedliche Gewicht der Rechtssicherheit im formalen Ordnungsrecht und im materialen Regulierungsrecht Nach der hier vertretenen Sichtweise bietet gerade der Fallbezug einer richterlichen Normbildung die Gewähr dafür, dass diese Normbildung inhaltlich überzeugend ausfällt. Umgekehrt steigt bei einer abstrakten, nicht hinreichend am Fall vermittelten richterlichen Normbildung die Gefahr inhaltlicher Fehlgriffe. Vor diesem Hintergrund setzt die Auffassung, dass es im Dienste der Rechtssicherheit weniger auf die inhaltliche Überzeugungskraft einer privatrechtlichen Regelung ankomme als auf das Vorliegen einer Regelung schlechthin, implizit die Annahme voraus, dass dieses Risiko für die inhaltliche Qualität im Ergebnis nicht ins Gewicht fällt. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn die rechtliche Regelung nicht das „letzte Wort“ darstellt, sondern wenn den Teilnehmern am Rechtsverkehr gerade durch die Klarheit einer Regelung die wirksame eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Verhältnisse ermöglicht wird. Diese unterstützende Funktion von Normen, die sich weniger aus ihrem Inhalt als vielmehr aus ihrem bloßen Vorhandensein ergibt, hat insbesondere auch Hayek hervorgehoben.232 Für ihn bildet es geradezu die Essenz eines Rechtsstaates, dass dieser seine Macht in der Form allgemeiner Regeln ausübt, die für die Rechtssubjekte vorhersehbar sind und die ihnen einen sicheren Rahmen für ihre individuellen Aktivitäten bieten, diese Aktivitäten aber nicht selbst ersetzen.233 Dieser Grundansatz schlägt jedoch nicht bei allen Formen privatrechtlicher Regelungen durch. Vielmehr muss hierbei zwischen dispositivem Recht, Ordnungsvorschriften und zwingendem Regulierungsrecht unterschieden werden: Seine volle Kraft entfaltet der Gedanke nämlich nur im Bereich desjenigen Rechts, das keine zwingenden Vorgaben für den Inhalt des Verhaltens Privater macht, sondern lediglich einen Ordnungsrahmen vorgibt, der die privaten Ge229 230 231 232 233
Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 48 f. Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 70 ff. Siehe oben § 4 C III 1, S. 296. Siehe Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 183 und 196. Hayek, The Political Ideal of the Rule of Law, 1955, S. 31 ff.
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staltungsmöglichkeiten unterstützt und ergänzt. Dies gilt zum einen für Normen, die zwar auf die konkreten Inhalte privater Rechtsverhältnisse einwirken, die aber zur Disposition der Parteien stehen und ihnen also die Möglichkeit geben, eine aus ihrer Sicht unpassende Regel privatautonom zu modifizieren. Das nachgiebige Recht stellt keine absolut verbindliche Vorgabe dar, sondern begründet lediglich eine Art „Verhandlungslast“ für denjenigen, der von ihm abweichen möchte. 234 Daneben besitzt der Aspekt der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Verhältnis zur inhaltlichen Überzeugungskraft der Regelung auch dann überragende Bedeutung, wenn es um Ordnungsvorschriften wie etwa Formerfordernisse oder Verjährungsregelungen geht. Diese Ordnungsvorschriften sind zwar für die Parteien häufig nicht oder nur in bestimmten Grenzen derogierbar. Sie versuchen jedoch nicht, die privatautonom verfolgten Zwecke der Bürger inhaltlich zu überformen, sondern bilden für diese nur einen formalen Rahmen. Eine andere Lage besteht jedoch, sofern es um Normen geht, die einerseits zwingend sind und die andererseits inhaltlich regulierend auf privatrechtliche Verhältnisse einwirken. Dies gilt beispielsweise für die Erweiterung der außervertraglichen Haftung durch richterliche Normbildungen oder im Bereich des Vertragsrechts für die Ableitung neuer, nicht abdingbarer Rechte und Pflichten aus dem Gedanken von Treu und Glauben. Sofern derartiges zwingendes Regulierungsrecht in Rede steht, spielt die Vorhersehbarkeit der einschlägigen Regeln zwar natürlich weiterhin eine wichtige Rolle. Doch kann es sich hierbei für Normen, die nicht durch die Rechtsunterworfenen derogierbar sind, eben nur um eine Mindestbedingung der Legitimität handeln. Denn hier erlaubt die Erkennbarkeit des maßgeblichen Norminhalts den interessierten Verkehrskreisen eben keine abweichende Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse durch individuelle Abreden. Vielmehr können die Rechtssubjekte einen zwar klar, aber inhaltlich unbefriedigend regulierten Rechtsbereich allenfalls gänzlich meiden, worin sich wiederum das Scheitern der betreffenden Regulierung manifestieren würde. Gerade im Bereich der zwingenden inhaltlichen Regulierung hat das Risiko einer Fehlsteuerung durch abstrakte richterliche Normbildungen gegenüber dem positiven Aspekt der Steigerung der Rechtssicherheit somit ein erhebliches Gewicht. Dies ist deswegen umso relevanter, als ein nicht unerheblicher Teil der normbildenden höchstrichterlichen Rechtsprechung heute nicht mehr den Bereich des dispositiven Rechts betrifft, sondern die Setzung zwingender inhaltlicher Vorgaben für bestimmte Privatrechtsverhältnisse. Dieser Bedeutungszuwachs des zwingenden Rechts spiegelt die Tendenz zu einer verstärkten Materialisierung des Privatrechts wider, die sowohl das deutsche Recht als auch das com234 Siehe Katz, 90 Va. L. Rev. 2187, 2201 ff. (2004); Shavell, Contracts, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Band 1, 1998, S. 436 (438) sowie Maultzsch, AcP 207 (2007), 530 (538 ff.).
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mon law erfasst.235 Dabei gehört es zum Wesen dieser Entwicklung, dass eine immer größere Zahl an gesellschaftlichen und sozialen Problemen, die traditionellerweise keiner juristischen Lösung zugeführt wurden, nun von dem Anspruch einer rechtlich verbindlichen und damit justiziablen Regelung erfasst wird.236 Auf diesem Wege wird die Eigenschaft des Privatrechts als ein neutraler Ordnungsrahmen für privatautonomes Handeln weit gehend zugunsten der Idee zurückgedrängt, das Zivilrecht müsse auch selbst angemessene Ergebnisse sicherstellen und deshalb die Folgen privatautonomen Verhaltens verstärkt überformen und korrigieren.237 Die Quellen dieser Entwicklung sind dabei ein gewandeltes Gesellschaftsverständnis im Allgemeinen und der Einfluss verfassungs- und europarechtlicher Vorgaben im Besonderen.238 In diesem Bereich der materialisierenden Juridifizierung stehen typischerweise keine dispositiven, sondern zwingende Regelungsvorgaben in Rede, bei denen der Aspekt der inhaltlichen Richtigkeit, wie dargelegt, im Verhältnis zu der reinen Rechtssicherheit eine besonders große Rolle spielt. Ergänzend sei angefügt, dass auch solches Privatrecht, das formell dispositiv ist, praktisch eine zwingende Wirkung entfalten kann und daher auch in diesem Fall die inhaltlichen Risiken einer richterlichen Normbildung gegenüber dem Rechtssicherheitsargument besonders relevant sind. So ist in der Literatur seit Langem erkannt worden, dass eine klare Regelung nur dann einen funktionierenden Rahmen für privatautonome Gestaltungen „im Schatten des Rechts“239 bildet, dessen Wert unabhängig von der zutreffenden inhaltlichen Gestaltung der Regel ist, wenn abweichende privatautonome Vereinbarungen problemlos möglich sind. Die Fähigkeit der Parteien, für ihre jeweilige Rechtsbeziehung einen vollständigen Vertrag auszuhandeln, der den gemeinsamen Konsens für alle möglicherweise auftretenden Streitfragen festhält, soweit eine entsprechende Regelung nicht schon im dispositiven Recht enthalten ist, wird jedoch kritisch beurteilt. 240 Neben bloßen Nachlässigkeiten der Beteiligten stehen dabei häufig Transaktionskosten und Informationsasymmetrien einer vollständigen ver-
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Siehe Bernstein, 21 U.C. Davis L. Rev. 587, 597 f. (1988). Galanter, [1992] 55 M.L.R. 1 ff.; Lampe, Genetische Rechtstheorie, 1987, S. 52 f. 237 Grundlegend hierzu im deutschen Schrifttum Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 530 ff., 620 ff. sowie aus neuerer Zeit Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 22 ff.; J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, S. 219 ff.; kritisch Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 78 ff. und Fastrich, Festschrift Canaris, Band II, 2007, S. 1071 ff. 238 Dazu oben § 3 A X, S. 82 ff., XII, S. 112 ff., § 3 B VII 2, S. 179 ff. und § 3 C VI, S. 232 ff. 239 Näher zu dem Gedanken des dispositiven Rechts als einer Drohkulisse Cooter/Marks/ Mnookin, 11 J. Legal Stud. 225 ff. (1982); Craswell, 17 J. Legal Stud. 401 ff. (1988); G. Wagner, AcP 206 (2006), 352 (424). 240 Im Überblick Schwartz, Incomplete Contracts, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Band II, S. 277 ff. m.w.N. 236
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traglichen Regelung entgegen.241 Je gravierender diese Hindernisse sind, desto mehr nähert sich eine formal dispositive Regelung materiell einer zwingenden Vorgabe an. Unter solchen Voraussetzungen werden die gewünschten Anreizeffekte für selbstverantwortliches Handeln nicht bereits durch eine beliebige Regel gesetzt, sondern nur dann, wenn diese Regel diejenige Partei dazu anhält, eine privatautonome Gestaltung anzustoßen, die ein größeres Wissen über den zu regelnden Gegenstand hat.242 Folglich kommt es neben der Regelklarheit verstärkt auch auf die Qualität des Regelinhalts an. Diese wird aber nach der hier vertretenen Sichtweise gerade nicht durch ein abstraktes, sondern durch ein schrittweise-fallbezogenes Vorgehen sichergestellt.
c) Die Gefahr einer normativen Versteinerung durch abstrakte Normbildung Unabhängig von dem Gewicht, das der Aspekt der Rechtssicherheit im Verhältnis zur inhaltlichen Richtigkeit der jeweiligen Norm aufweist, gilt es auch das Risiko zu berücksichtigen, das aus zu weit gehenden normativen Festlegungen für die Offenheit und die Vitalität der Rechtsordnung entsteht. In diesem Sinne droht die Idee eines geschlossenen Leitungs- und Lenkungssystems243 stets in eine Überregulierung der Lebensverhältnisse umzuschlagen. Durch eine solche Überregulierung und die daraus folgende Überkomplexität des Rechts werden einerseits private Initiativen, andererseits aber auch flexible Anpassungsmechanismen innerhalb der Judikative selbst gehemmt. Was dabei den Einfluss auf die Handlungsspielräume und die Initiativkraft der Rechtsunterworfenen anbetrifft, werden diese mit zunehmender Regelungsdichte eingeschränkt. Der Gedanke einer möglichst lückenlosen Regulierung widerspricht folglich dem klassischen Bild des Privatrechts als eine Ordnung, die privates Handeln nicht determiniert, sondern die sich am Grundgedanken der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung orientiert und deshalb für privatautonomes Handeln nur einen äußeren Rahmen vorgibt und dieses im Übrigen subsidiär unterstützt. 244 Aber auch die Responsivität der normbildenden Rechtsprechung selbst kann durch den Gedanken eines möglichst abschließenden und lückenlosen Regelungssystems ermatten. Denn je größer die bereits bestehende Regelungsdichte ausfällt, desto weniger Spielraum verbleibt der 241 Zu dem Einfluss dieser Faktoren Schwartz, Incomplete Contracts, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Band II, S. 277 (279 ff.). 242 Ayres/Gertner, 99 Yale L.J. 87 ff. (1989); dies., 101 Yale L.J. 729 ff. (1992); Bebchuk/Shavell, 7 J.L. Econ. & Org. 284 ff. (1991) und Maultzsch, AcP 207 (2007), 530 (548 ff.). 243 Siehe Zeidler, DÖV 1975, 797 (801). 244 Grundlegend hierzu Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, II. Band, 4. Aufl. 1992, § 1; Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, hrsg. von Vanberg, 2003, S. 37 ff., 97 ff. und Mestmäcker, Regelbildung und Rechtsschutz in marktwirtschaftlichen Ordnungen, 1985, S. 5 ff., 9 f.
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
Rechtsprechung, um anhand neuartiger Fallkonstellationen auf die Besonderheiten bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen zu reagieren. 245 In diesem Sinne sichert der Fallbezug der höchstrichterlichen Rechtsprechung gerade auch das dynamische Moment in der richterlichen Normbildung. Vor diesem Hintergrund kann ein gewisses Maß an verbleibender Offenheit, das die Privatrechtssubjekte zu einer stärkeren Eigenverantwortlichkeit anhält und der zukünftigen Rechtsprechung einen Entwicklungsspielraum offenlässt, nicht pauschal als Übel begriffen werden. Verdeutlicht wird diese Skepsis gegenüber einer Sichtweise, die den Wert der höchstrichterlichen Rechtsprechung in einer möglichst flächendeckenden Beseitigung von Lücken und Brüchen im Gesamtsystem des Rechts erblickt, auch durch die folgenden Worte Lord Porters: „I do not think it possible to say that a change in the outlook of the public, however great, must inevitably be followed by a change in the law of this country. The common law is a historical development rather than a logical whole, and the fact that a particular doctrine does not logically accord with another or others is no ground for its rejection.“246
Dabei mag diese Bereitschaft, mögliche Lücken und Brüche im Recht zu tolerieren, stärker im anglo-amerikanischen Recht verwurzelt sein als im deutschen Recht. Für Letzteres werden die Gesichtspunkte der Widerspruchsfreiheit und der Wertungseinheit als Postulate der „Idee des Rechts“ begriffen.247 Dies erklärt auch die zentrale Bedeutung, welche die traditionelle deutsche Methodenlehre der Auffindung und Schließung von Gesetzeslücken beimisst. 248 Hierbei geht es nicht nur um die Vermeidung willkürlicher Ungleichbehandlungen, die in allen der hier betrachteten Rechtsordnungen als unannehmbar gelten,249 sondern um eine möglichst weit reichende Systematisierung und Ordnung des Rechtsstoffs. Der Gleichheitssatz wird hier als Grundlage einer bruchlosen Harmonisierung des Rechts herangezogen. 250 Hingegen sind aus Sicht des common law eine gewisse Unvollständigkeit der Rechtsordnung und damit zugleich auch ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit ein durchaus positives Zeichen für die Entwicklungsfähigkeit der Rechtsordnung. Das case law vermag dabei bereits deshalb nur ein beschränktes Maß an Konsistenz zu gewährleisten, weil 245
Siehe Siltala, A Theory of Precedent, 2000, S. 84. Best v. Samuel Fox & Co., [1952] A.C. 716, 727, per Lord Porter. 247 Grundlegend Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 16 ff. sowie aus neuerer Zeit Herresthal, Die Einheit des Privatrechts in der europäischen Integration – Palladion oder Relikt einer vergangenen Epoche, in: Domej u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2008, 2009, S. 139 (166 ff.); kritisch aber Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 38 ff. 248 Grundlegend Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983 sowie Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 370 ff. 249 Dazu oben § 4 C I 3, S. 279 f. 250 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 71 ff. 246
C. Mögliche Einwände gegen den Stellenwert des Fallbezugs
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es nicht durch einen Prozess bewusster Planung, sondern aus der sukzessiven Auseinandersetzung mit einzelfallbezogenen Problemen entsteht. 251 Wenngleich das Fallrecht somit in gewisser Weise immer etwas „zufällig“ (casual) bleibt, 252 berührt dies aus anglo-amerikanischer Sicht nicht seine Dignität. Denn das Vertrauen in die Rechtsordnung folgt hier weniger aus der systematischen Geschlossenheit der Regelgesamtheit, sondern vielmehr aus der Akzeptanz des institutionellen Prozesses, in dem diese Regeln herausgebildet und angewendet werden. 253 Deutlich wird diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung beispielsweise an der deutschen Vorstellung des dispositiven Vertragsrechts einerseits und der anglo-amerikanischen Konzeption der default rules andererseits. Hier zielt der Grundgedanke des deutschen dispositiven Rechts darauf ab, für jede nicht vertraglich geregelte Frage eine Auffanglösung bereitzuhalten und somit für eine umfassende und geschlossene Ordnung der Rechtsbeziehung zwischen den Vertragsparteien zu sorgen. Diese Ordnung kann dann zugleich – etwa im Rahmen der AGB-Kontrolle – als allgemeines Leitbild für entsprechende Transaktionen dienen. 254 Hingegen wohnt der anglo-amerikanischen Konzeption der default rules weder der Anspruch eines Leitbilds für vertragliche Vereinbarungen noch der Anspruch einer möglichst erschöpfenden Ergänzung lückenhafter Verträge inne. 255 Vielmehr zielt diese Konzeption lediglich auf die Vermeidung eines besonders gravierenden „Vertragsversagens“ ab. Vice versa führt dies zu einer gesteigerten Verantwortlichkeit der Vertragsparteien für eine möglichst präzise privatautonome Ausgestaltung ihrer Vertragsbeziehung, die sich nicht zuletzt in der besonderen Detailversessenheit der anglo-amerikanischen Vertragspraxis niederschlägt. 256 Langbein hat die umfassenden, zum Teil redundanten Festlegungen in US-amerikanischen Verträgen dabei nicht nur aus materiellrechtlicher Sicht auf die vergleichsweise geringe Dichte des dispositiven Vertragsrechts zurückgeführt, sondern darüber hinaus aus institutioneller Sicht auch auf das geringere Maß an Verantwortung, das der Richter in dem adversarialen Prozessgefüge für das Gelingen einer Vertragsbeziehung übernimmt. 257 An welchem Punkt dabei zwischen den Konzeptionen einer weit gehenden Hilfestellung durch die Rechtsordnung einerseits und einer Betonung der Eigen251 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 350; siehe auch Gerland, Probleme des englischen Rechtslebens, 1929, S. 21. 252 Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 11. 253 Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 157 ff.; kritisch aber Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 35 f. 254 Statt aller Kieninger, MünchKomm. BGB, 5. Aufl. 2007, § 307 Rdnr. 60 ff. m.w.N. 255 Kötz, Festschrift Heldrich, 2005, S. 771 (774); Merkt, ZHR 171 (2007), 490 (495); R. Stürner, AcP 210 (2010), 105 (122). 256 Hierzu aus jüngerer Zeit Kötz, Festschrift Heldrich, 2005, S. 771 ff.; Merkt, ZHR 171 (2007), 490 ff. 257 Langbein, 35 Am. J. Comp. L. 381, 385 ff. (1987).
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verantwortung der Rechtssubjekte andererseits ein gesundes Gleichgewicht erreicht ist, kann an dieser Stelle dahinstehen. Wichtig ist aber, dass der positive Aspekt der Rechtssicherheit und der negative Aspekt der Überregulierung als zwei Seiten derselben Medaille erscheinen. Dass diese Problematik durchaus nicht nur in der Rechtstradition des common law, sondern auch in der eher systematisch geprägten deutschen Zivilistik gesehen wird, belegen die folgenden Ausführungen Larenz’ zu den „Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen“: „Rechtfertigt Rechtssicherheit aber ‚willkürliche‘ Festsetzungen durch ein Gericht? Abgesehen von der Zulässigkeit, die hier nur schwer zu begründen sein dürfte, meine ich, daß eine richterliche Rechtsfindung nur dann als geglückt betrachtet werden kann, wenn die gefundene Regel sich auch mit rechtlichen Erwägungen rechtfertigen lässt. […] Zwischen den Klippen allzu engmaschiger Kasuistik hier und einer allzu weiten Generalisierung dort muß nicht nur der Gesetzgeber, sondern, wenn er rechtsschöpferisch tätig wird, auch der Richter seinen Weg suchen. Es ist nicht Sache des Richters, dem Gesetzgeber gleich für hypothetische Fälle Normen auszustellen. Wenn er eine Regel aufstellt, sollte er doch so nahe wie möglich am entschiedenen Fall bleiben, die Regel an ihm ablesen.“258
Folgerichtig besteht in der Methodenlehre eine berechtigte Skepsis gegenüber der Vorstellung, die Rechtssicherheit rechtfertige im Zivilrecht auch eine Form der Normbildung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, die in dem Sinne dezisionistisch ist, dass ihre Inhalte nicht in Ansehung des konkreten Streitfalls aus Rechtsprinzipien abgeleitet werden, sondern dass die neue Regelung nahezu ausschließlich zur Klärung der künftigen Rechtslage „festgesetzt“ wird.259 Denn eine solche Festsetzung kann nur anhand des Kriteriums der Mehrheitsentscheidung und damit durch den Gesetzgeber erfolgen. 260
D. Der Fallbezug der normbildenden Rechtsprechung und deren Wechselspiel mit äußeren Rahmenbedingungen Wurden vorstehend mögliche Einwände gegen den Wert einer inneren Verkoppelung von Normbildung und Streitentscheidung diskutiert und abgelehnt, so soll im Folgenden dargelegt werden, dass auch die institutionelle Einbettung der höchstrichterlichen Zivilrechtsprechung in das Gesamtgefüge des Norm258 Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 12; ähnlich ders., Festschrift Henkel, 1974, S. 31 (35 ff.). 259 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 260 f.; H. Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 39. 260 Für einen (hypothetischen) Mehrheitswillen als Legitimationskriterium auch der normbildenden richterlichen Tätigkeit aber Calabresi, A Common Law for the Age of Statutes, 1982, S. 109 ff.
D. Fallbezug und äußere Rahmenbedingungen
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bildungsprozesses einen engen Fallbezug als sinnvoll erscheinen lässt. Dieser Gesichtspunkt knüpft daran an, dass die richterliche Normbildung nicht isoliert erfolgt, sondern in Wechselwirkung mit verschiedenen Rahmenbedingungen steht: Solche Rahmenbedingungen bilden einerseits die Entscheidungen der Bürger darüber, auf welchem Wege sie ihre privatrechtlichen Konflikte lösen (I.), sowie andererseits die Regelungsentscheidungen des Gesetzgebers (II.).
I. Die Relevanz der privaten Rechtsmittelinitiative im Zivilprozess Ein höchstrichterliches Zivilverfahren kommt in den hier behandelten Rechtsordnungen nur in Betracht, wenn private Parteien ein Streitverfahren anhängig machen und über die Instanzen fortführen. Die Zivilrechtsprechung kann daher, anders als die Gesetzgebung oder die regulierende Verwaltung, auch allgemein bedeutsame Rechtsfragen nur anhand eines konkreten Rechtsstreits oder, im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch, anhand eines „case or controversy“261 klären. Durch die Verknüpfung der Rechtsprechungsbefugnis der höchstrichterlichen Ebene mit einer Parteiinitiative macht sich der Staat dabei das private Wissen des Rechtsmittelführers über mögliche Fehler oder Desiderate in unterinstanzlichen Entscheidungen zunutze und erspart sich damit eine wenig effektive Kontrolle aller Urteile von Amts wegen. 262 Die private Initiative fördert in diesem Sinne zugleich auch die öffentliche Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Neben diesem pragmatischen Argument bildet die Abhängigkeit des Rechtsmittelverfahrens von einer autonomen Entscheidung der betroffenen Prozesspartei aber auch einen rechtskulturell fundierten Wesenszug der Zivilrechtsprechung.263 Kirchhof hat in diesem Zusammenhang die treffende Formulierung von der Rechtsprechung als „mitwirkungsbedürftiges Staatshan261
Siehe Art. III Sec. 2 der Verfassung der USA. Cabrillo/Fitzpatrick, The Economics of Courts and Litigation, 2008, S. 66 ff.; Duske, Die Aufgaben der Revision, Diss. Marburg 1960, S. 92; Shavell, 24 J. Legal Stud. 379, 381 ff. (1995); ähnlich Shapiro, 14 Law & Soc’y Rev. 629, 641 ff. (1980). 263 Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, S. 31 f.; Chase, Law, Culture, and Ritual, 2005, S. 53; Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 11; R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (30); Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, 1966, S. 19 ff.; Horowitz, The Courts and Social Policy, 1977, S. 38 ff.; Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 20 f.; Mestmäcker, Regelbildung und Rechtsschutz in marktwirtschaftlichen Ordnungen, 1985, S. 16 f.; Meyer-Mickeleit, Revision, Kassation und Final Appeal, Diss. Tübingen 1996, S. 32 ff.; M. Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, S. 137; R. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, 1976, S. 53. 262
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deln“ geprägt. 264 Folgerichtig wurde der Gedanke, neben der privaten Rechtsmitteleinlegung auch eine Art Amtsrevision durch einen „Staatsanwalt in Zivilsachen“ zur Klärung wichtiger Rechtsfragen zuzulassen, in Deutschland 265 und England266 zwar zu verschiedenen Zeiten diskutiert, vermochte sich aber nicht durchzusetzen. Gleiches gilt für den Gedanken, jedwede grundsätzliche Rechtsfrage, die in einem instanzgerichtlichen Zivilverfahren auftritt, solle im Wege einer Vorlage automatisch an das höchste Gericht weitergeleitet werden.267
1. Konsequenzen für das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung Die zentrale Rolle der Parteien bei der Initiierung höchstrichterlicher Verfahren hat auch Konsequenzen für das Verhältnis von Streitentscheidung und Normbildung. Zwar wird in der Regel das Problem einer Überlastung der Obergerichte mit einer zu großen Zahl an Streitverfahren problematisiert und zum Anlass für Maßnahmen genommen, den Zugang zu den normbildenden Instanzen in verschiedener Weise zu beschränken.268 Die Funktion der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann aber auch umgekehrt durch ein Versiegen des Zuflusses an Streitmaterial beeinträchtigt werden.269 Die richterliche Normbildung lebt in diesem Sinne von der Bereitschaft der Rechtsunterworfenen, auf der höchstrichterlichen Ebene Prozesse zu führen und damit ein entsprechendes Fallmaterial bereitzustellen. Sofern diese Bereitschaft, aus welchen Gründen auch immer, nicht gegeben ist, bleiben die betreffenden Rechtsfragen richterlich ungeklärt oder können mittlerweile als unbefriedigend angesehene Präjudizien keiner erneuten Überprüfung unterzogen werden, sondern behalten ihre Autorität. 270 In diesem Zusammenhang sei beispielhaft noch einmal auf den langen Zeitraum von über zwanzig Jahren verwiesen, die der Bundesgerichtshof auf ein geeignetes Revisionsverfahren warten musste, um seine Rechtsprechung zur Rechtsnachfolge in Personengesellschaftsanteile bei Erbfällen zu korrigieren.271 Einen noch weitaus extremeren Fall berichtet Allen aus England, wo die Gerichte erst ca. 230 Jahre nach Erlass des Landlord and Tenant Act 1709 durch ein 264
P. Kirchhof, Festschrift Universität Heidelberg, 1986, S. 11 (29). Siehe oben § 3 A VIII, S. 73 ff. sowie F. Baur, Festschrift Lent, 1957, S. 1 (6 f.). 266 Siehe zu dem dahingehenden Vorschlag Lord Woolfs im Vorfeld der englischen Zivilprozessreform des Jahres 1998 oben § 3 B VII 3, S. 186. 267 Siehe hierzu – im Ergebnis ablehnend – Rimmelspacher, Festschrift Schumann, 2001, S. 327 (349 f.). 268 Näher unten § 5 A, S. 334 ff. 269 Lederman, 75 Notre Dame L. Rev. 221, 223 ff. (1999); Siltala, A Theory of Precedent, 2000, S. 81 f. 270 Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 313. 271 Oben § 3 A XI 1, S. 102 f. 265
D. Fallbezug und äußere Rahmenbedingungen
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entsprechendes Verfahren die Gelegenheit erhielten, eine zentrale Frage des Vermieterpfandrechts zu klären. 272 Mag dies auch ein exzeptioneller Fall gewesen sein, vertrat Lord Devlin angesichts des Erfordernisses geeigneter Streitverfahren generell die Auffassung, dass „half a century is not an unreasonable estimate of the time that is likely to elapse before a doubtful point is settled“. 273 Zwar gibt es gewisse Mittel, durch welche die Richter an den normbildenden Instanzen die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, dass ein bestimmtes Rechtsproblem ihr Gericht erreicht. So können Hinweise darauf, dass das Gericht seine Haltung zu einer bestimmten Rechtsfrage erstmals artikulieren bzw. überdenken möchte, in anderen Urteilen, in richterlichen Stellungnahmen in der wissenschaftlichen Literatur oder auf Fachtagungen gegeben werden. 274 Auch hierbei sei wiederum an die Stellungnahme des damaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Robert Fischer, im Jahr 1975 erinnert, nach der das Gericht gerne seine Rechtsprechung zur Rechtsnachfolge in Personengesellschaftsanteile bei Erbfällen korrigieren würde. 275 Doch sind solchen Signalen verschiedene Grenzen gesetzt.276 Eine erhebliche Schranke bildet dabei die Würde der höchsten Gerichte, mit der ein aktives Einwerben von Verfahren nur in Grenzen vereinbar ist. Zudem gibt ein Signal über das Interesse an einem bestimmten Verfahren regelmäßig zugleich auch Anhaltspunkte dafür, in welcher Richtung das Gericht die betreffende Rechtsfrage vermutlich entscheiden wird. Dies verträgt sich nur schwer mit den Gedanken eines fairen Verfahrens und der richterlichen Unparteilichkeit. Darüber hinaus schreckt es wiederum alle diejenigen potentiellen Rechtsmittelführer ab, die mit einem Unterliegen in der Sache rechnen müssen und untergräbt damit zu einem gewissen Grad gerade das Ziel, ein höchstrichterliches Verfahren anzustoßen. Die Verknüpfung der richterlichen Entscheidungsmöglichkeit mit privaten Rechtsmittelinitiativen führt deshalb dazu, dass selbst eine solche höchstrichterliche Rechtsprechung, die ihre Aufgabe maßgeblich in der Normbildung im Dienste der Rechtsgemeinschaft sieht, schon aus Klugheitsgründen nicht die spezifische Interessenlage der Prozessparteien aus den Augen verlieren darf. Denn in der Regel bezwecken die Parteien nicht die Bildung allgemeiner Normen, sondern eine – in ihrem Sinne günstige – Entscheidung des jeweiligen Rechtsstreits.277 In diesem Fall werden sie die Frage, ob ein Verfahren über272
Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 314 unter Verweis auf Hickman v. Potts, [1940] 1 K.B. 29. 273 Devlin, Samples of Lawmaking, 1962, S. 14. 274 Siehe Perry, Deciding to Decide, 1991, S. 213 ff. 275 Hierzu § 3 A XI 1, S. 103. 276 Vgl. Perry, Deciding to Decide, 1991, S. 214. 277 Siehe Devlin, [1976] 39 M.L.R. 1, 12; R. Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung heute – am Beispiel des Bundesgerichtshofes –, in: Verhandlungen des 52. Deutschen Juristentages Wiesbaden 1978, Band II, 1978, H 5 (12); Jolowicz, On Civil Procedure, 2000, S. 21 f.; Schafft, Selektion von Rechtsmittelverfahren durch gesetzliche Zugangsbeschränkungen,
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§ 4 Richterliche Normbildung als fallbezogenes Entdeckungsverfahren
haupt die staatlichen Gerichte und insbesondere die höchstrichterliche Ebene erreicht, daher davon abhängig machen, ob sie hierbei eine hinreichende Berücksichtigung ihres streitbezogenen Interesses im Verhältnis zu dem Interesse der Allgemeinheit an einer Normbildung erwarten können. 278 In dem Maße, in dem dies nicht der Fall ist, werden sie vielmehr alternative Streitlösungsmechanismen in Betracht ziehen. Als solche Alternativen sind in diesem Zusammenhang vor allem die private Schiedsgerichtsbarkeit und die Formen alternativer Streitbeilegung, wie insbesondere Mediation und vergleichsweise Streitbeilegung (negotiation), zu nennen. 279 Alle diese Mittel verlagern die Streitlösung zu einem gewissen Grad in die Privatrechtsgesellschaft und entziehen sie daher einer staatlich-justizförmigen Entscheidung.280 Darüber hinaus muss in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit der Parteien berücksichtigt werden, ihren Rechtsstreit im Wege von Rechtswahlvereinbarungen und Prorogationsvereinbarungen sowohl in materiellrechtlicher als auch in prozessualer Hinsicht in eine fremde Rechtsordnung zu verlagern, 281 wenn sie durch diese eine bessere Umsetzung ihrer Interessen erwarten als durch ihre eigene Rechtsordnung. Dies führt in zunehmendem Maße zu einem Wettbewerb der Rechtssysteme, in dem das materielle Recht und seine Durchsetzung in einem bestimmten nationalen Gerichtssystem nicht mehr als unhinterfragte Ordnungsrahmen für privatautonome Aktivitäten fungieren, sondern in dem das Recht selbst zum Gegenstand von Angebot und Nachfrage wird.282 Eine solche Unterwerfung des Rechts und der Gerichtssysteme unter Marktgesetze lässt sich in den USA bereits seit geraumer Zeit beobachten 283 und gewinnt auch in Europa zunehmend an Bedeutung. 284 Mag man diese Entwick-
2005, S. 29; Thiere, Die Wahrung überindividueller Interessen im Zivilprozeß, 1980, S. 16 f. Zu dem Sonderfall eines Musterprozesses siehe unten § 4 D I 2, S. 310 ff. 278 Lederman, 75 Notre Dame L. Rev. 221, 223 ff. (1999); Oldfather, 94 Geo. L.J. 121, 164 (2005); Schauer, 73 U. Chi. L. Rev. 883, 909 f. (2006) sowie Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 91 jeweils m.w.N. 279 Ausführlicher Überblick zu diesen Mechanismen bei Goldberg/Sander/Rogers/Cole, Dispute Resolution, 4. Aufl. 2003, S. 15 ff. 280 G. Wagner, ZEuP 2008, 6 (7). 281 Hierzu zählt in den Vereinigten Staaten auch die Wahl des Rechts bzw. der Gerichte eines anderen Bundesstaates; vgl. hierzu O’Hara/Ribstein, The Law Market, 2009, S. 56 ff. und 70 ff. 282 Eingehend O’Hara/Ribstein, The Law Market, 2009 und Dammann/Hansmann, 94 Cornell L. Rev. 1, 10 ff. (2008) sowie dies., A Global Market for Judicial Services, Yale Law & Economics Research Paper No. 347, 2007. Zur Kritik an dieser Entwicklung statt aller R. Stürner, Markt und Wettbewerb über alles?, 2007, S. 31 f. und passim. 283 Landes/Posner, 19 J.L. & Econ. 249, 262 ff. (1976); Pejovich, Law, Informal Rules and Economic Performance, 2008, S. 108 f.; R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007, S. 583 ff.; Romano, 1 J.L. Econ & Org. 225 ff. (1985). 284 Im Überblick zum Prozessrecht Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 13.24 ff. und zum materiellen Recht Eidenmüller, JZ 2009, 641 ff. m.w.N.
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lung auch mit guten Gründen kritisieren, 285 so muss man sie jedoch gleichwohl in Rechnung stellen. Sie gibt den Parteien potentieller Rechtsstreitigkeiten ein weiteres Mittel an die Hand, um ihre Rechtsbeziehungen dem Heimatrecht und seiner Anwendung im inländischen Zivilprozess zu entziehen. Dabei mag die „Flucht aus dem Zivilprozess“, die sowohl für Deutschland, 286 England287 als auch die Vereinigten Staaten 288 zunehmend konstatiert wird, zwar in vielen Fällen durch Gesichtspunkte der Verfahrenskosten, der Beschleunigung und der Geheimhaltung motiviert sein. In diesem Bereich geht es nicht darum, dass die (höchstrichterliche) Zivilrechtsprechung den Aspekt der Streitentscheidung zu stark gegenüber der Normbildung im Interesse der Allgemeinheit vernachlässigen würde, sondern es stehen immanente Wirkungsgrenzen des Zivilprozesses in Rede, die den Ausschlag für die Wahl alternativer Streitlösungsmechanismen geben. Gerade in wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten besteht ein mögliches Motiv für die Meidung des staatlichen Gerichtssystems aber auch darin, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zu stark den normbildenden Charakter ihrer Urteile im Blick hat und demgegenüber die Lösung des konkreten Rechtsstreits in den Hintergrund rücken lässt. In diesem Sinne werden private Schiedsgerichte häufig auch deshalb angerufen, weil sie mit größerer Rücksicht auf die Geschäftssitten der betroffenen Verkehrskreise entscheiden, als dies die (höchstrichterliche) staatliche Rechtsprechung tut.289 Deren Fokus ist vielmehr häufig auf einen Beitrag zur Ordnung des Rechts an sich gerichtet. Darüber hinaus müssen sich die Motive, aus denen die Parteien auf einen hinreichenden Fallbezug der höchstrichterlichen Rechtsprechung Wert legen, keineswegs in einem rein instrumentellen Interessenkalkül erschöpfen. Vielmehr existiert auch ein intrinsisch motivierter Anspruch der Prozessparteien, in dem jeweiligen Verfahren eine Subjektrolle einzunehmen, die durch eine Fokussie285 Hierzu statt aller R. Stürner, Markt und Wettbewerb über alles?, 2007, S. 31 f. und passim; ders., AcP 210 (2010), 105 (139 ff.). 286 Gaul, AcP 168 (1968), 28 (52); G. Hager, Konflikt und Konsens, 2001, S. 52 ff.; einschränkend R. Stürner, AcP 210 (2010), 105 (137). 287 Andrews, The Modern Civil Process, 2008, 1.13 ff.; Cornish, Referat zum englischen Recht, in: Fischer/Adams/Sperl/Cornish, Das Entscheidungsmaterial der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1975, S. 41 (42). 288 Galanter, 1 J. Empirical Legal Studies 459 ff. (2004); H. Jacob, Courts and Politics in the United States, in: ders. u.a., Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 16 (52 ff.); Murray, ZZPInt 12 (2007), 283 ff. Insbesondere besteht die anfängliche Zurückhaltung der US-amerikanischen Rechtsprechung gegenüber der Verbindlichkeit von Schiedsklauseln spätestens seit den 1980er Jahren nicht mehr: siehe Resnik, 81 Chi.-Kent L. Rev. 521, 549 ff. (2006) m.w.N. 289 Cabrillo/Fitzpatrick, The Economics of Courts and Litigation, 2008, S. 212; O’Hara/ Ribstein, The Law Market, 2009, S. 88 ff. Murray, ZZPInt 11 (2006), 295 (304), merkt insoweit jedoch kritisch an, dass der Aspekt der „Sachnähe“ im Schiedsverfahrensrecht auch leicht in eine Parteilichkeit zugunsten wirtschaftlich mächtiger repeat players umschlagen kann.
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rung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf abstrakte Normbildungsfragen gerade gefährdet wird.290 Je mehr den potentiellen Verfahrensbeteiligten somit der Eindruck vermittelt wird, sie seien – um die oben angeführte Formulierung Cardozos291 erneut aufzugreifen – nur die „algebraic symbols“, aus denen die obersten Gerichte ihre abstrakt-normativen Konstruktionen schöpfen, desto mehr werden sie das Vertrauen in die höchstrichterliche Rechtsprechung verlieren und sich alternativen Streitlösungsmechanismen zuwenden. Aus diesen Gründen erscheint eine möglichst weit gehende Synchronisierung des öffentlichen Interesses der Rechtsgemeinschaft an einer Normbildung einerseits und des privaten Interesses der Prozessbeteiligten an einer Streitentscheidung andererseits geboten, um einen hinreichenden Zufluss an Entscheidungsmaterial aus allen Bereichen des Rechts zu den normbildenden Instanzen zu gewährleisten. Daraus folgt keineswegs, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung lediglich als ein „Service“ für die privaten Interessen der Prozessbeteiligten begriffen werden müsste. Ein solches Verständnis wäre mit der Aufgabe der Rechtsprechung, als eine staatliche Gewalt das Recht zu artikulieren und fortzuentwickeln, unvereinbar.292 Demgegenüber ist es aber nicht ausgeschlossen, diese öffentliche Funktion eng mit der streitentscheidenden Funktion zu verbinden. Dies setzt eine hinreichende Gewichtung der konkreten Fallbeurteilung im Verhältnis zu dem Normbildungsinteresse voraus. Fehlt es hieran, droht die Judikative sich einen hinreichenden Entsch