Prozeßgrundrechte in Deutschland, Frankreich und England: Eine rechtsvergleichende Untersuchung [1 ed.] 9783428530601, 9783428130603

Ausgangspunkt der rechtsvergleichenden Arbeit sind die deutschen Prozeßgrundrechte. Darunter wurden nicht nur die ausdrü

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Prozeßgrundrechte in Deutschland, Frankreich und England: Eine rechtsvergleichende Untersuchung [1 ed.]
 9783428530601, 9783428130603

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Schriften zum Europäischen Recht Band 158

Prozeßgrundrechte in Deutschland, Frankreich und England Eine rechtsvergleichende Untersuchung

Von Silke Löhr

Duncker & Humblot · Berlin

SILKE LÖHR

Prozeßgrundrechte in Deutschland, Frankreich und England

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 158

Prozeßgrundrechte in Deutschland, Frankreich und England Eine rechtsvergleichende Untersuchung

Von Silke Löhr

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-13060-3 (Print) ISBN 978-3-428-53060-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83060-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Eltern in liebevoller Dankbarkeit

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2008 von der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als Dissertation angenommen. Die Arbeit befindet sich auf dem Stand von 2007, sie wurde für die Veröffentlichung jedoch in Teilen aktualisiert. An geeigneten Stellen wurden kurze Hinweise auf die zwischenzeitlich erfolgte Justizreform in England sowie die Verfassungsreform in Frankreich eingearbeitet. Besonders zu danken habe ich meinem Doktorvater, Herrn em. Univ.Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, für die Betreuung und Förderung der Arbeit, die hervorragenden Möglichkeiten, die ich als seine Forschungsreferentin am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer nutzen durfte und das ausgesprochen angenehme Miteinander. Herrn Univ.-Prof. Dr. Karl-Peter Sommermann danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und für viele wertvolle Anregungen im Laufe meiner Promotionszeit. Mein Dank gilt auch den Mitarbeitern der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften und des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung, die mich gerade auch dann unterstützten, als ich nicht mehr vor Ort war, insbesondere Frau Inge Patschull und Herrn Dr. Klauspeter Strohm. Frau Ministerialrätin Eugenie Ruppert danke ich für ihre Unterstützung und ihr Verständnis in meiner Anfangszeit als Referentin in der Verwaltung des Deutschen Bundestages. Mein ganz persönlicher Dank gilt darüber hinaus meinen Freunden, die mich bei meiner Arbeit und weit darüber hinaus unterstützt haben, insbesondere Herrn Dr. Frank Raue und Herrn Privatdozent Dr. Thorsten Siegel, für zahlreiche Diskussionen, viele wertvolle Hinweise und beständige Motivation auf meinem Weg zur Fertigstellung der Dissertation. Besonderen Dank schulde ich Herrn Kristian König. Während seiner Elternzeit hat er sich liebevoll um unsere kleine Tochter gekümmert und mir so den nötigen Freiraum für die Aktualisierung der Dissertation geschaffen. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, die mich stets mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützten und immer an mich geglaubt haben. Berlin, im August 2011

Silke Löhr

Inhaltsverzeichnis Einleitung

23

A. Anlaß und Gegenstand der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertrag von Lissabon und Grundrechtecharta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auswahl der zu untersuchenden Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlußfolgerung für den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 26 27 27

B. Methodisches Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erstes Kapitel Prozeßgrundrechte in Deutschland

30

A. Begriff der Prozeßgrundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

B. Einzelne Prozeßgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG) 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . b) Der Weg in das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 19 Abs. 4 GG als Element der Rechtsstaatlichkeit. . . . . bb) Verhältnis des Art. 19 Abs. 4 GG zum allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normgeprägter Schutzbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff der öffentlichen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Begriff der Verletzung eigener Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG). . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . b) Der Weg in das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 32 32 32 34 36 36 36 37 37 38 38 39 39 40 41 42 43 43 44 45 45 46

10

Inhaltsverzeichnis 3. Inhalt des Art. 101 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normgeprägter Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff des gesetzlichen Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Folgerungen für Legislative, Exekutive und Judikative . . . . . . . . . aa) Anforderungen an die Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anforderungen an die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anforderungen an die Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . b) Der Weg in das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bedeutung des Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Art. 103 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normgeprägter Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachlicher Geltungsbereich: „vor Gericht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Anforderungen aus dem Recht auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . IV. Nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . b) Der Weg in das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Gesetzesbegriff des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einzelne Elemente des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anforderungen an den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Problem rückwirkender Änderung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verbot der Bestrafung aufgrund Gewohnheitsrechts . . . . . . . . dd) Analogieverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 46 47 47 48 48 49 49 50 50 50 51 52 52 53 53 54 54 54 55 56 56 57 57 57 58 59 59 59 60 60 61 61 62 63 63 64 64 65 66 66

Inhaltsverzeichnis

11

a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . b) Der Weg in das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gemeinsamkeiten der strafrechtlichen Verfahrensrechte des Art. 103 Abs. 2 und Abs. 3 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Art. 103 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normgeprägter Schutzbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff „wegen derselben Tat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mehrfache Bestrafung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze. . . VI. Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begrifflichkeiten in Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rückgriff auf die Wurzeln des fair trial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rezeption des fair trial-Begriffs in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Position des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung und fehlende Homogenität der Begrifflichkeit . . . . . . 3. Inhalt des Rechts auf ein faires Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis zu den anderen Prozeßgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 67 69 69 70 70 71 71 72 73 73 74 74 75 76 78 79 79 81 81 84

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Grundrechtsbegriff des Grundgesetzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Historische Entwicklung des Grundrechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Merkmale des Grundrechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgerungen für die Prozeßgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Prozeßgrundrechte als Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätzliche Anwendbarkeit der allgemeinen Grundrechtslehren III. Verwurzelung im Rechtsstaatsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis der Prozeßgrundrechte zum Rechtsstaatsprinzip . . . . 2. Das Verhältnis des Rechts auf ein faires Verfahren zum Rechtsstaatsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 86 86 86 89 93 93 95 96 97

D. Ergebnis für Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

98

Zweites Kapitel Prozeßgrundrechte in Frankreich

101

A. Begriff der Prozeßgrundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

12

Inhaltsverzeichnis I.

Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung der Verwaltungskontrolle in Frankreich . . . 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ansätze einer Verankerung in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die droits de la défense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtliche Einordnung des Konzepts der droits de la défense. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Principes fondamentaux reconnus par les lois de la République (PFRLR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Principes généraux du droit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Inhaltliche Präzisierung der droits de la défense . . . . . . . bb) Art. 16 der Erklärung von 1789 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des droit au recours juridictionnel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Voraussetzung der „personnes intéressées“ . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Erfordernis eines „recours effectif“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Recht auf den gesetzlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansätze im Schrifttum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ansatz des Conseil Constitutionnel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des droit au juge naturel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung von Art. 34 der Verfassung von 1958 für die inhaltliche Konkretisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkretisierung durch Bezug auf das principe d’égalité devant la loi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anforderungen an die Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anforderungen an die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anforderungen an die Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausprägungen in der französischen Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . .

102 102 105 105 106 107 108 108 109 110 111 113 114 115 115 115 116 117 118 119 120 120 123 123 124 126 126 126 128 129 129 130 130 131 132 132 134 134

Inhaltsverzeichnis

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b) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Nulla poena sine lege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ideengeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung der Formulierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Grundsatzes nulla poena sine lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Gesetz als Rechtsquelle des Strafrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Folgerungen für Legislative und Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anforderungen an die Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anforderungen an die Judikative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Terminologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausdrückliche Verankerung auf einfachgesetzlicher Ebene . . . . . c) Einordnung durch die Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Verbots der Doppelbestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Identité d’objet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identité des parties . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Identité de cause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das droit à un procès équitable als Ausfluß verfassungsrechtlicher Prinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verankerung einzelner Elemente in geschriebenen Verfassungstexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Alternative Rechtsgrundlagen des französischen Rechts auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Rechts auf ein faires Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umsetzung für das Strafverfahren im Gesetz vom 15. Juni 2000 b) Beispiele konkreter Auswirkungen des Art. 6 EMRK auf die französische Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136 136 137 137 137 138 138 139 140 140 141 142 142 143 144 146 146 147 147 148 148 150 151 151 152 154 155 157 157 157 158 159 159 160 160 160 162 163

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Inhaltsverzeichnis aa) Kein einheitliches inhaltliches Konzept des procès équitable bb) Verfassungsrechtliche Besonderheiten und Unterschiede . . . . d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis: Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts? . . . . . . . . . . . .

C. Gemeinsame Merkmale der französischen Verfahrensgarantien und Vergleich mit den deutschen Prozeßgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Merkmale der französischen Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subjektive Rechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Normprägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis und Schlußfolgerung für den Fortgang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einordnung als Grundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Genese des Begriffs droits fondamentaux. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aussagen in den Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Interpretation durch den Conseil Constitutionnel und die Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kategorie der libertés publiques und Genese des Begriffs. . . . . . . . . . 3. Unterschied zwischen droits fondamentaux und libertés publiques . . a) Ansatz des Conseil d’État . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterscheidungskriterien der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Herausbildung einer neuen Kategorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Merkmale des französischen Grundrechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wesensgehaltsgarantie (contrôle de la non-dénaturation) . . . . . . . c) Das Erfordernis der verhältnismäßigen Grundrechtsbeschränkung d) Umfassende Bindung der drei Gewalten an die Grundrechte . . . . e) Die droits fondamentaux als principes objectifs . . . . . . . . . . . . . . . . f) Gerichtliche Durchsetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Schutz der Grundrechte bei Änderung der Verfassung . . . . . . . . . . h) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verhältnis der französischen Verfahrensrechte zum État de droit . . . . . . 1. Die französische Rechtsstaatskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff des État de droit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konzeption des État de droit vor der Verfassung von 1958 . . . . . c) Verwirklichung des État de droit unter der Verfassung von 1958? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktion französischer verfassungsrechtlicher Grundsätze im Vergleich zum deutschen Rechtsstaatsprinzip als „offenem Prinzip“. . . .

163 164 165 165 167 168 169 169 170 171 171 172 174 174 176 177 178 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 189 190 191 191 191 193 196 198 198

D. Ergebnis für Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

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Drittes Kapitel Prozeßgrundrechte in England A. Begriff der Prozeßgrundrechte und Grundprinzipien der englischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der englische Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Dogma der Parlamentssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen für den Schutz der Rechte des einzelnen. . . . . . . . . . . . . a) Rechtslage vor Inkrafttreten des Human Rights Act (HRA) . . . . . b) Mögliche Änderung durch den Human Rights Act (HRA) . . . . . . III. Das Verfassungsprinzip der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begrifflichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prägung der rule of law-Konzeption durch Dicey . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die drei Hauptbedeutungen der rule of law nach Dicey . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesen des right of access to the courts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wesen der gerichtlichen Kontrolle von Exekutiventscheidungen und Verhältnis zur rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt einer Rechtsschutzgarantie gegen Akte der Exekutive . . . . . . . a) Right of access to the courts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterscheidung zwischen appeal und judicial review . . . . . . . . . . c) Einzelheiten zur judicial review. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entwicklung der Kontrollausrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zweistufiges Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Anforderungen der judicial review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Erfordernis des ausreichenden Interesses (sufficient interest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kein alternatives Rechtsmittel (no alternative remedy) (3) Rechtswidrige Entscheidung durch die Exekutive. . . . . . dd) Entscheidungen der Gerichte bei Erfolg der judicial review d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Recht auf den gesetzlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Ansätze in der Magna Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Zeitalter der Tudors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

203 204 206 206 207 207 209 212 212 214 214 215 216 216 217 218 218 219 220 220 221 222 222 224 225 225 226 226 228 228 229 230 231 231 232

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Inhaltsverzeichnis c) Das Zeitalter der Stuarts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entwicklung bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt der vorhandenen Regelungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die besondere Stellung der Richterschaft in England . . . . . . . . . . . b) Das Postulat des unabhängigen und unparteiischen Richters. . . . . c) Die rule against bias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenhang mit dem Verbot von Ausnahmegerichten . . . . . . . 3. Verhältnis der festgestellten Garantien zur rule of law . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung vor der Entscheidung „Ridge v. Baldwin“ . . . . . . . . . b) Die Entscheidung „Ridge v. Baldwin“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesen des right to a fair hearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Recht auf rechtliches Gehör als Bestandteil des natural justice-Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis zur rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einzelanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verletzungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung des right to a fair hearing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Nulla poena sine lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Ansätze in der Magna Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Herausbildung von Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Forderungen nach einer Kodifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Terminologische Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Konzept der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des principle of legality. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestimmtheitsgebot (principle of maximum certainty) . . . . . . . . . . b) Das Rückwirkungsverbot (non-retroactivity principle) . . . . . . . . . . aa) Bedeutung des common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entwicklung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Entscheidung „Shaw v. DPP“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Entwicklung nach der Entscheidung Shaw. . . . . . . . . cc) Reichweite des Rückwirkungsverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Anforderungen unter dem Human Rights Act (HRA) . . . . . . .

232 234 236 236 237 238 240 241 241 242 242 242 245 246 246 247 247 248 248 249 250 250 251 251 251 253 253 254 254 255 256 256 258 258 258 258 259 261 263

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c) Analogieverbot (principle of strict construction). . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung des principle of legality 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Entwicklungsansätze im common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung ab dem Zeitalter der Tudors. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zum Konzept der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des ne bis in idem-Grundsatzes in England . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kodifiziertes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Offences against Person Act (OAPA). . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Interpretation Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richterrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entscheidung „Connelly v. DPP“ und ihre Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Thesen von Lord Morris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Ansicht Lord Devlins und der Mehrheit des House of Lords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Entscheidung „Beedie“ des Court of Appeal . . . . . . . . . . c) Einzelne Anforderungen aus der autrefois-Maxime . . . . . . . . . . . . aa) Voraussetzung des wirksamen Freispruchs oder der Verurteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Prozessuale Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Mögliche Einschränkungen des autrefois-Prinzips . . . . . . . . . dd) Auswirkungen auf die Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Law Commission Consultation Paper nº 156 und nº 267 . . . e) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung der autrefois-Maxime . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Faires Verfahren (fair trial) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis zum Konzept der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Inhalt des Rechts auf ein faires Verfahren in England . . . . . . . . . . . . . a) Der Habeas Corpus Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Elemente des fair trial aus dem natural justice-Konzept . . . . . . . c) Weitere Anforderungen an ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zwischenergebnis: Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts?. . . . . . . . . . . .

263 264 265 265 266 266 267 268 268 269 269 269 270 270 271 271 271 272 274 275 276 276 276 277 277 278 279 279 281 281 283 284 285 286 286 287 289 289 290

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Inhaltsverzeichnis

C. Gemeinsame Merkmale der untersuchten englischen Verfahrensgarantien und Vergleich mit den deutschen Prozeßgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Merkmale der englischen Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die besondere Bedeutung des common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verankerung in der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einordnung als subjektive Rechte?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einordnung der englischen Verfahrensgarantien als Grundrechte?. . . . . . 1. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterschiedliche Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konzept und Idee der fundamental laws. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzept der residualen Freiheit als Grundlage des englischen Grundrechtsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Merkmale des englischen Grundrechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbriefung der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frage der umfassenden Bindung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . c) Gerichtliche Durchsetzbarkeit gegenüber der Legislative. . . . . . . . d) Konzept der erschwerten Abänderbarkeit fundamentaler Rechte e) Grenzen der Beschränkung von fundamental rights . . . . . . . . . . . . aa) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhältnismäßigkeitsprüfung (proportionality) . . . . . . . . . . . . . f) Konzept der objektiven Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verhältnis der englischen Verfahrensgarantien zur rule of law . . . . . . . . . 1. Bedeutung des Konzepts der rule of law für die Suche nach Prozeßgrundrechten in England. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verankerung in der rule of law als Kriterium der materiellen Fundamentalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befund für die englischen Verfahrensrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Konzept der rule of law als offenes Prinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansatzpunkt in der Diskussion des materiellen Gehalts . . . . . . . . . b) Wandel der Rolle und weites Konzept der rule of law auf dem Weg ins 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291 291 291 292 292 293 293 293 295 297 300 300 300 301 301 302 303 303 304 305 307 309 309 309 310 311 311 311 313

D. Ergebnis für England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Inhaltsverzeichnis

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Viertes Kapitel Schlußfolgerungen – Möglichkeit eines gemeinsamen Prozeßgrundrechtsbegriffs

316

A. Inhaltlich vergleichbare verfahrensrechtliche Institute in allen drei Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 B. Rang innerhalb der Rechtsordnung und Verknüpfung mit grundlegenden Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 C. Gemeinsamer Prozeßgrundrechtsbegriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 D. Weitergehende Folgerungen für einen gemeinsamen Grundrechtsbegriff . . . . 320 E. Ausblick: Entwicklungstendenzen der Rechtsordnungen im Hinblick auf ein ius commune europaeum bezüglich der Verfahrensrechte . . . . . . . . . . . . . . 322 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. Abschn. AC A. d. V. AJDA AK ALJ All ER AN Anm. AöR Art. Aufl. Bd. BGH BK Bull. Crim. BVerfG BVerfGE Cass.Ass.Plén. CC C.Cass.Ch.Civ. C.Cass.Ch.Crim. Com. Cons. CP CPP Crim.L.R. DC DDR ders. DÖV Drs. EGMR

andere Ansicht Absatz Abschnitt Appeal Cases Anmerkung des Verfassers Actualité Juridique – Droit Administratif Alternativkommentar Australian Law Journal All England Law Reports Assemblée Nationale Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Band Bundesgerichtshof Bonner Kommentar Bulletin Criminel Bundesverfassungsgericht Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Cour de Cassation Assemblée Plénière Conseil Constitutionnel Cour de Cassation Chambre Civile Cour de Cassation Chambre Criminelle commission Considérant – Code Pénal – Consultation Paper Code de Procédure Pénale Criminal Law Revue déclaration de conformité Deutsche Demokratische Republik derselbe Die öffentliche Verwaltung Drucksache Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Abkürzungsverzeichnis EMRK EU EuGH EuGRZ f. ff. FN GG GVG H. d. V. HRA HRG Hrsg. ICLQ i. d. R. insb. i. V. m. JA JBl. JöR n. F. JORF JURA JuS JZ Kap. LCCP Lfg. Loseblattslg. LQR MLR m. w. N. Nº NCPC n. F. NJW Nr. NVWZ OAPA PFRLR QB R. RabelsZ

21

Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende fortfolgende Fußnote Grundgesetz Gerichtsverfassungsgesetz Hervorhebung des Verfassers Human Rights Act Handbuch der Grundrechte Herausgeber International and Comparative Law Quaterly in der Regel insbesondere in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart neue Folge Journal officiel de la République Franc¸aise Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Law Commission Consultation Paper Lieferung Loseblattsammlung Law Quarterly Review Modern Law Revue mit weiteren Nachweisen numéro Nouveau Code de Procédure Pénale neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Offences against person Act. Principes fondamentaux reconnus par les lois de la République Queen’s Bench Regina Zeitschrift für ausländisches und internationals Privatrecht

22 RDP Rec. Rev. Adm. Rev. Sc. Crim. RFDA RFDC RGBl. RGSt RN RTDC S. SavZRG (kan. Abt.) s. o. StPO St. Rspr. StV s. u. u. a. Übers. des Verf. umgearb. v. vgl. VIZ vol. Vorb. VVDStRL VwVfG WLR ZaöRV ZRP

Abkürzungsverzeichnis Revue de droit public Recueil Revue Administrative Revue de Science Criminelle Revue franc¸aise de droit administrative Revue franc¸aise de droit constitutionnel Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Randnummer Revue trimesterielle de droit civil Seite Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung siehe oben Strafprozessordnung Ständige Rechtsprechung Der Strafverteidiger siehe unten und andere; unter anderem Übersetzung des Verfassers umgearbeitet versus vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht volume Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsverfahrensgesetz Weekly Law Reports Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung „La justice est un besoin de tous et de chaque instant, comme elle doit commander le respect, elle doit inspirer la confiance.“ Mirabeau

A. Anlaß und Gegenstand der Untersuchung Nach den letzten Erweiterungsrunden der Europäischen Union um zwölf mittel- und osteuropäische Staaten, die zugleich eine Überwindung der Teilung des europäischen Kulturraums bedeuteten, wächst seit Jahren der politische Wille, auch zu einer vertieften sozialen, kulturellen und nicht zuletzt rechtlichen Integration zu gelangen, die weit über eine Rahmensetzung hinausgeht. Forderungen nach einer Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene oder die Anstrengungen um eine gemeinsame europäische Verfassung zeigten dies eindrücklich. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war die Verabschiedung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union1. Doch damit war und ist der Prozeß der Verfassungsbildung auf europäischer Ebene noch nicht abgeschlossen2. Die Charta war zunächst Gegenstand des nicht in Kraft getretenen Vertrages über eine Verfassung für Europa3; Ausdruck gemeinsamer Werte, deren normative Geltungskraft und dogmatische Struktur noch als verbesserungswürdig angesehen wurden4. Erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vom 1. Dezember 2009 haben die verschiedenen Entwicklungsstufen der Euro1

So in Bezug auf die Grundrechtecharta Karl-Peter Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 16 RN 89. Vgl. auch die Übersicht bei Christian Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreihieten, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 1, S. 14 f. 2 Ausführlich Christian Calliess, Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 2005, § 20, S. 531 ff. 3 Siehe Dieter Blumenwitz, Der Europäische Verfassungsvertrag: die Chancen und Gefahren des Entwurfs für das Gelingen von Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, Zeitschrift für Politik, 2004, S. 115 ff. 4 Calliess (FN 2), § 20 RN 19 ff.

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Einleitung

päischen Grundrechtecharta ihren vorläufigen Abschluss gefunden. Zwar hat die Charta keine Aufnahme in den Vertragstext selbst gefunden, ist aber ein rechtlich verbindlicher Text auf der Ebene des Primärrechts. Dies stellt Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 2. Halbsatz EUV klar. Durch die Erweiterungen der Europäischen Union hat die Heterogenität der Rechtsordnungen weiter zugenommen5. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um einen baldigen EU-Beitritt Kroatiens ist ein Ende der Erweiterung auch vorerst nicht abzusehen. Dabei verlangt ein gesamteuropäisches Rechtssystem eine Öffnung sowohl der neu hinzukommenden Rechtsordnungen gegenüber dem Unionsrecht als auch die Weiterentwicklung des bestehenden Unionsrechts selbst. Durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird der Anwendungsbereich der nationalen Grundrechte reduziert, was vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung geduldet wird, solange auf europäischer Ebene eine Grundrechtsgeltung gewährleistet wird, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt6. Zudem werden die Grundrechte auf europäischer Ebene durch die nationalen Grundrechte „inspiriert“. So leitet der EuGH die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft aus einem Verfassungsvergleich der Mitgliedstaaten ab7. Damit gewinnt eine Analyse der Vergleichbarkeit von Rechten, die aus unterschiedlichen Verfassungs- und Administrativsystemen erwachsen sind, auch aus Sicht der Rechtsentwicklung an Bedeutung. Gerade angesichts solcher Entwicklungen ist es notwendig, die Gemeinsamkeiten der Rechtsordnungen der bisherigen Mitgliedstaaten zu beleuchten, da das Ziel eines gemeinsamen europäischen Rechtssystems gerade nicht vor den nationalen Grundrechtssystemen haltmacht8. Die Forderung nach einem umfassenden Grundrechtsschutz9 für EU-Bürger entspricht diesen Gegeben5

Zu der Erklärung von Laeken zur Zukunft Europas vgl. Norbert K. Riedel, Der Konvent zur Zukunft Europas, ZRP 2002, S. 241 ff. Er hebt hervor, daß die politischen Ansichten der Beitrittsländer in jeden weiteren Entwicklungsschritt der EU einbezogen werden müssen, um die Basis für eine gemeinsame Verfassung zu legen. Hierzu auch Meinhard Schröder, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung – das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, Die Verwaltung 2002, S. 138 (140). 6 BVerfGE 37, 271 (280 ff.) (Solange I); 73, 339 (376 ff.) (Solange II); 89, 155 (182 ff.) (Maastricht); 123, 267 (335) (Lissabon). 7 Vgl. EuGH, Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, RN 3; Rs. 4/73 – Nold, Slg. 1974, S. 491, RN 13; hierzu auch Peter Häberle, Wechselwirkungen zwischen Verfassungen, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 7 RN 17. 8 Zur Frage, inwieweit Grundrechte vom Wandel der sie umgebenden Wirklichkeit betroffen und beeinflußt werden, siehe Hans Heinrich Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101, 1976, S. 161 ff. (speziell zum „due process – Gebot“ auf S. 186).

A. Anlaß und Gegenstand der Untersuchung

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heiten10. So sind die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, auch die Quellen der Grundrechtecharta11. Im Zuge dieses fortschreitenden Zusammenwachsens auf supranationaler Ebene findet ein zunehmender Kompetenztransfer von der mitgliedstaatlichen auf die Gemeinschaftsebene statt, so daß die Gemeinschaft in immer mehr Bereichen Rechtsetzungskompetenzen erhält. Damit wandelt sich zugleich die traditionelle Funktion des Staates, der auf Elemente der Ausübung seiner Souveränität zugunsten der Vergemeinschaftung verzichtet. Das nationale Recht wird durch europäisches Recht verdrängt, überlagert und ergänzt. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, daß der einzelne Bürger innerhalb der Gemeinschaft nicht länger nur von den Rechtsakten des jeweiligen Nationalstaates, sondern zunehmend auch direkt von denen der Europäischen Union betroffen ist. Damit ist auch die Frage des Rechtsschutzes des einzelnen virulent geworden12: Im Interesse der Gleichwertigkeit und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse und der Rechtssicherheit innerhalb der Union müssen hier mitgliedsstaatsübergreifend gleichwertige Instrumentarien zur Verfügung stehen. Zwar führt der Vertrag von Lissabon13 im begrenzten Maße zu einer Verbesserung der Klagemöglichkeiten des einzelnen gegen Akte der Gemeinschaft14, dies ändert jedoch nichts an der grundlegenden Prämisse des Unionsrechts, daß in erster Linie die Mitgliedstaaten immer noch dafür Sorge tragen müssen, daß dem einzelnen 9 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Die Entwicklung des Schutzes der Grundrechte in der EU, ZRP 2002, S. 329 ff. 10 Im einzelnen Jörg Gundel, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 20, S. 685 ff.; zu den Gemeinschaftsgrundrechten allgemein Dirk Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 14, S. 443 ff. (speziell zu den Verfahrensrechten auf S. 462). 11 Matthias Niedobitek, Die Grundrechtecharta der Europäischen Union, Entwicklung und allgemeine Grundsätze, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 159. Die Bedeutung der EMRK betont Gundel (FN 10), S. 685. 12 Eckart Klein, Von der Spaltung zur Einigung Europas, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 5 RN 27, der darauf hinweist, daß aber auch die Mitgliedstaaten nach wie vor für einen adäquaten Grundrechtsschutz mitverantwortlich bleiben. 13 Art. 263 Abs. 4 AEUV. 14 Ausführlich hierzu Wolfram Cremer, Zum Rechtsschutz des Einzelnen gegen abgeleitetes Unionsrecht nach dem Vertrag von Lissabon, DÖV 2010, S. 58 ff. (65 f.); Alexander Thiele, Das Rechtsschutzsystem nach dem Vertrag von Lissabon – (K)ein Schritt nach vorn?, EuR 2010, S. 30 (43 f.), der sogar von einem untauglichen Versuch, den Individualrechtsschutz zu verbessern, spricht (50); mit einer im Ergebnis positiveren Beurteilung Ulrich Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009, S. 71 (73 f.).

26

Einleitung

umfassend wirksame Rechtsschutzinstrumente zur Verfügung stehen, gerade wenn ihm der direkte Weg vor die Unionsgerichtsbarkeit versperrt ist15. Darüber hinaus erlangt auch die Rechtsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten zunehmenden Einfluß in den übrigen Staaten, ohne die Gemeinschaftsebene direkt zu berühren, so beispielsweise über eine Anerkennung ausländischer Rechtsakte auch im eigenen Nationalstaat16. Doch eine solche Anerkennung setzt nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen Mitgliedstaaten voraus, daß die dem Rechtsakt zugrundeliegenden Wertungen denen des eigenen Rechtsverständnisses zumindest ähneln, wenn nicht gleichwertig sind. Diese Überlegungen bieten den Anlaß für die vorliegende Untersuchung. Um zu einem gemeinsamen Rechtssystem zu gelangen, bedarf es einer vergleichbaren Basis in Legitimation und Werteverständnis. Diese sind in den nationalen Rechtsordnungen zu finden, die daher einer vergleichenden Analyse bedürfen. Einer solchen Analyse unterzieht die vorliegende Arbeit exemplarisch die elementaren Bestandteile eines gerichtlichen Verfahrens in den Rechtsordnungen dreier für den europäischen Einigungsprozeß zentralen Länder – Deutschland, Frankreich und England. Ausgangspunkt sind die deutschen Prozeßgrundrechte. Darunter werden die in Art. 19 Abs. 4, Art. 101, Art. 103 enthaltenen Rechte sowie das ungeschriebene Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren verstanden. Dafür ist zunächst ein Blick auf die Verfassungssystematik in den einzelnen Mitgliedstaaten erforderlich. Diese ist zwingend erster Adressat einer systematischen Rechtsvergleichung, da sie den unmittelbaren Bezugsrahmen des Bürgers darstellt. Zwar enthält die Grundrechtecharta jetzt auf europäischer Ebene erstmals eine systematische Erfassung der Verfahrensrechte, bezieht sich jedoch gleich mehrfach auf die „gemeinsamen Verfassungstraditionen“ der Mitgliedstaaten. Sie versteht sich als deren Bekräftigung (Präambel, Abs. 4), zieht sie als Auslegungsrichtlinie heran (Art. 52 Abs. 4) und verspricht, nicht hinter deren Schutzniveau zurückzufallen (Art. 53).

I. Vertrag von Lissabon und Grundrechtecharta Die Charta war zunächst vor allem eine politische Willenserklärung, die rechtlich unverbindlich blieb und dem EuGH als Auslegungshilfe diente17. Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, ist die Charta zwar ver15

Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 47 der Grundrechtecharta. Zur „vertikalen“ und „horizontalen“ Wechselwirkung von Grundrechten vgl. Sommermann (FN 1), § 16 RN 11 ff. 17 Speziell zur Interpretation der Grundrechtecharta siehe Yvonne Dorf, Zur Interpretation der Grundrechtecharta, JZ 2005, S. 126 ff. 16

A. Anlaß und Gegenstand der Untersuchung

27

bindlich, aber sie enthält nach wie vor den Bezug zu mitgliedstaatlichen Traditionen und bleibt insoweit ausfüllungsbedürftig. So enthält Art. 52 der Charta in Abs. 3 den Bezug auf Bedeutung und Tragweite auf die gleichlautende Rechte der EMRK sowie in Abs. 4 den Hinweis: „Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt.“ Art. 52 Abs. 7 adressiert sich an die Gerichte der Union und die Mitgliedstaaten, denen auferlegt wird, die aufgeführten Auslegungshinweise anzunehmen und umzusetzen. Die Charta in der Fassung des Vertrags von Lissabon sieht in dem Titel Justitielle Rechte Verfahrensrechte vor, die sich an der EMRK orientieren oder eine entsprechende Rechtsprechung des EuGH als Grundlage haben18. Verpflichtet durch die Verfahrensgrundrechte sind zwar zunächst die Gemeinschaftsorgane. Vollziehen die Mitgliedstaaten jedoch Gemeinschaftsrecht, so sind auch sie an die Vorgaben der Grundrechtecharta gebunden.

II. Auswahl der zu untersuchenden Rechtsordnungen Die ausgewählten Rechtsordnungen von Deutschland, England und Frankreich sind von unterschiedlichen Rechtstraditionen geprägt. Sie haben exemplarischen Charakter für den gesamten europäischen Raum und stellen daher den Bezugsrahmen für die vorliegende Untersuchung dar. Bei Deutschland und Frankreich handelt es sich um Gründungsstaaten der EU mit besonderer verfassungspolitischer Bedeutung, England hingegen ist repräsentativ für den angelsächsichen Rechtskreis. Somit vertreten die ausgewählten Rechtsordnungen die großen in der Europäischen Union vertretenen Rechtskreise.

III. Schlußfolgerung für den Untersuchungsgegenstand Vor diesem Hintergrund wird, ausgehend von dem deutschen System, die Bedeutung und Gestalt der prozessualen Grundrechte in den ausgewählten Mitgliedstaaten untersucht. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Garantie eines rechtsstaatlichen Verfahrens gelegt. Alle Mitgliedstaaten der EU haben sich zur Rechtsstaatlichkeit bekannt und Verfahrensgarantien in ihren Rechtsordnungen verankert, die jedoch in Rang und Geltungskraft variieren. 18 Siegfried Magiera, Bürgerrechte und justitielle Rechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 116 RN 3. Vgl. auch Stefanie Schmahl, Grundrechtsschutz im Dreieck von EU, EMRK und nationalem Verfassungsrecht, EuR 2008, S. 7 ff. (insb. S. 11 f.).

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Einleitung

Bislang existiert noch keine Untersuchung darüber, wie einzelne Bürger von unterschiedlichen verfahrensrechtlichen Schutzmechanismen betroffen werden19.

B. Methodisches Vorgehen Ausgangspunkt jedes Vergleichs sind die Systembegriffe der nationalen Rechtsordnung, die sowohl Ausdruck der nationalen historischen Entwicklung als auch häufig Produkt sich wechselseitig beeinflussender Verfassungsordnungen sind. Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, ist die Suche nach dem funktionalen Äquivalent in der fremden Rechtsordnung erforderlich. Dabei ist es von Bedeutung, nicht an der bloßen Begrifflichkeit zu haften, sondern die Institute, die hinter den Begriffen stehen, zu bewerten20. Denn die Suche nach einem Äquivalent gestaltet sich durch die Übersetzung in andere Sprachen häufig als problematisch, da die Bedeutung des geschriebenen Wortes je nach kultureller Einbettung unterschiedlich sein kann. Nur wenn dies berücksichtigt wird, kann eine Rechtsvergleichung auch Aufschluß über neue Lösungsansätze geben; denn vielfach stehen die nationalen Rechtsordnungen vor ähnlichen Problemen21. In Form eines Mikrovergleichs, verstanden als Betrachtung eines Teils eines Rechtssystems, werden mit vorliegender Arbeit ausgewählte Prozeßgrundrechte auf Funktion, Rang und Bedeutung untersucht, um beurteilen zu können, inwieweit Normen des ausländischen Rechts ähnliche Funktionen erfüllen wie im deutschen Recht. Hierzu wurden die relevanten Quellen in der Originalsprache herangezogen, um die wesentlichen Bedeutungszusammenhänge auch vor dem sprachlichen Hintergrund erfassen zu können. 19 Vgl. Nevil Johnson, Zur Frage der Aufnahme von Grundrechten in die britische Verfassung, in: Renger/Stern/Däubler-Gmelin (Hrsg.), Festschrift für Claus Arndt, 1987, S. 83 (98 f.), der es als wünschenswertes Zeichen der europäischen Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Ebene bezeichnet, wenn allmählich der notwendige Unterbau an Detailkenntnissen über die Auswirkungen besonderer Formen des Rechtsschutzes aus vergleichender Sicht zusammengebracht werde. 20 Gerade die juristische Begriffsbildung erfolgt innerhalb des nationalen Systems und dessen spezieller Bindungen. Insbesondere der Wortsinn unterliegt dem Wandel, so daß die Aussagekraft des Wortlautvergleichs gering ist, denn die jeweilige Formulierung kann nur innerhalb ihres Systems ihre Bedeutung entfalten. Hierzu Ulrike Seif, Recht und Justizhoheit, Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich, 2003, S. 37 f. 21 Heute geht die Rechtsvergleichung vielen Gesetzesvorhaben voraus. In England hat sie sogar in der Rechtsprechung des House of Lords an Bedeutung und Beachtung gewonnen; so stützt sich das House of Lords etwa in White v. Jones (1995) 2 AC 207 (239, insb. 249 ff.) etwa auf deutsche Rechtsprinzipien. Allgemein hierzu Hein Kötz, Alte und neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, JZ 2002, S. 257 (258).

B. Methodisches Vorgehen

29

Analysiert wird, inwieweit die in Deutschland unter dem Begriff der Prozeßgrundrechte subsumierten Rechte auch in England und Frankreich Verfassungsrang besitzen oder ob sie lediglich als entferntere rechtliche Deduktionen einzustufen sind. Aufgrund dieser Einordnung werden neue Impulse für die Einschätzung der Rechtsleistung des deutschen Systems abgeleitet. Dabei wird die funktionelle Leistungsfähigkeit der jeweiligen Rechtssysteme aufgezeigt, gleiche strukturelle Anforderungen zu bewältigen. Die Untersuchung konzentriert sich innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung in Auswahl und Darstellungsreihenfolge auf die für die Rechtsvergleichung zentralen Aspekte. Nach einer ersten begrifflichen Annäherung an den Begriff der Prozeßgrundrechte in der jeweiligen Rechtsordnung werden zunächst die einschlägigen Verfahrensgarantien der jeweiligen Rechtsordnung analysiert. In einem zweiten Schritt werden sodann gemeinsame Merkmale der festgestellten Verfahrensgarantien innerhalb der betreffenden Rechtsordnung herausgearbeitet. In einem dritten Schritt werden schließlich die innerhalb der einzelnen Rechtsordnungen gewonnenen Ergebnisse vergleichend untersucht. Soweit dies zum Verständnis der einzelnen Verfahrensgarantien erforderlich ist, wird eine kurze Darstellung der einschlägigen Verfassungsprinzipien der Analyse der Verfahrensgarantien vorangestellt. Durch diese Fokussierung wird es ermöglicht zu untersuchen, wie gut oder wie schlecht bestehende Normen in unterschiedlichen Rechtssystemen weitgehend gleiche Funktionen erfüllen.

Erstes Kapitel

Prozeßgrundrechte in Deutschland A. Begriff der Prozeßgrundrechte Obwohl Deutschland – anders als England und Frankreich – kein Geburtsland1 der Grundrechte ist, wird dennoch mit der Analyse der deutschen Rechtsordnung begonnen. Der Grund hierfür ist systematischer Art: Ausgangspunkt der Überlegungen ist die deutsche Kategorie der Prozeßgrundrechte2. Unter Prozeßgrundrechten werden überwiegend solche verfassungsrechtlich abgesicherten Rechte des einzelnen verstanden, die in einem Prozeß zum Tragen kommen und den rechtsstaatlichen Verfahrensablauf sichern. Hinzu treten die vom Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Anforderungen an ein faires Verfahren, die sich mittlerweile zu einem eigenen Prozeßgrundrecht verdichtet haben3. Im einzelnen werden unter Prozeßgrundrechten die in den Art. 101, 103 sowie Art. 104 GG und Art. 19 Abs. 4 GG aufgeführten Rechte verstanden. Nur Art. 19 Abs. 4 GG findet seinen Platz am Ende des I. Abschnitts, dem Teil des Grundgesetzes, der auch die Überschrift „Die Grundrechte“ trägt. Die Art. 101 ff. GG sind hingegen im IX. Abschnitt verankert, der die Überschrift „Die Rechtsprechung“ trägt. Das allgemeine Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren ist ungeschrieben und findet sich daher nicht ausdrücklich im Grundgesetz wieder. Die Aufnahme der klassischen Verfahrensgarantien in das Grundgesetz belegt den hohen Wert, der ihnen von Seiten des Verfassungsgebers beigemessen wurde4. Ihr Standard liegt über dem der Art. 105, 107 der Weimarer Reichsverfassung und bewirkt einen besonderen verfahrensrechtlichen Schutz für die materiellen Grundrechtsgaran1

Klaus Kübler, Über Wesen und Begriff der Grundrechte, 1965, S. 24. Zur Klassifizierung siehe Klaus Stern, Qualität und Bedeutung der Prozeßgrundrechte für die Grundrechtsbindung der Rechtsprechung, in: Blümel/Merten/ Quaritsch (Hrsg.), Verwaltung im Rechtsstaat, Festschrift für Carl Hermann Ule, 1987, S. 359 ff. 3 BVerfGE 57, 250 (274 ff.); 86, 288 (317 ff.). Zur Definition vgl. Ivo Appel, Grundrechtsgleiche Rechte, Prozeßgrundrechte oder Schranken-Schranken?, Zur grundrechtsdogmatischen Einordnung von Art. 103 Abs. 2 und 3 GG, JURA 2000, S. 571 (575). 4 Stern, Staatsrecht III/1, S. 1460. 2

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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tien5. Denn diese können ihre Geltungskraft nicht entfalten, wenn nicht bestimmte verfahrensrechtliche Mindestanforderungen garantiert sind6. Aus diesem Grund nehmen die Prozeßgrundrechte im Gesamtgefüge der Verfassung eine besondere Stellung ein. Dennoch ist ihre exakte terminologische wie dogmatische Einordnung in höchstrichterlicher Rechtsprechung und Lehre uneinheitlich und wird daher anhand der Einzelrechte genauer untersucht, um Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte Vor diesem Hintergrund zu untersuchende Einzelrechte sind die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG), das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG), ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) und das bereits erwähnte, nicht zu den ausdrücklich normierten Prozeßgrundrechten des Grundgesetzes zählende ungeschriebene und mittlerweile zum eigenständigen Prozeßgrundrecht erhobene Recht auf ein faires Verfahren7. Zunächst wird die deskriptive Darstellung der Einzelrechte als Untersuchungsgegenstand vorgenommen, um Klarheit über ihren Inhalt und Struktur zu gewinnen. In einem zweiten Schritt werden aus dieser Darstellung Aussagen über Gemeinsamkeiten und Wesen der Rechte in Rang und Schutzwirkung abzuleiten sein. Art. 19 Abs. 4 GG gilt in Deutschland als das prozessuale Hauptgrundrecht8 und steht deshalb am Anfang einer Erörterung der genannten Prozeßgrundrechte. Im Verhältnis zu den übrigen Prozeßgrundrechten klärt er die vorgelagerte Frage, ob überhaupt Zugang zum gerichtlichen Verfahren gewährt wird. 5 Stern, Staatsrecht III/1, S. 1460. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage der verfahrens- und organisationsrechtlichen Relevanz von Grundrechten, hierzu Herbert Bethge, Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, NJW 1982, S 1 (6 f.); Helmut Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, S. 48, 164 und 293; Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 19 RN 48; Hans-Jürgen Papier, Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 154 RN 14 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 RN 23. Zum Gedanken der Rechtfertigung einer Entscheidung durch die Durchführung von Prozeduren und nicht durch materiale Kriterien siehe Martin Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 1998, S. 320 ff. 6 Dreier, in: ders., GG I, Vorb. RN 77. 7 St. Rspr., BVerfGE 57, 250 (274 ff.); 78, 123 (126 f.); 89, 120 (129 ff.). 8 Dreier, in: ders., GG I, Vorb. RN 77; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Erstkommentierung zu Art. 1 RN 12 („prozessuales Hauptgrundrecht“); Friedrich Klein Tragweite der Generalklausel im Art. 19 Abs. 4 des Bonner Grundgesetzes, in: VVDStRL 8, 1950, S. 67 (88: „formelles Hauptgrundrecht“); Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Staatsrecht II – Grundrechte, 26. Aufl., 2010, S. 274 RN 1096.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

I. Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG) In jeder Rechtsordnung kommt der Rechtsschutzgarantie eine zentrale Bedeutung zu, denn alle dem einzelnen zukommenden Rechte können nur dann ihre Aufgabe erfüllen, wenn ihre Durchsetzung im Streitfalle garantiert ist. Wenn von einer Garantie des Rechtsschutzes die Rede ist, stellt sich zunächst die Frage, was überhaupt unter Rechtsschutz zu verstehen ist. Denn die Rechtsschutzgewährleistungen und Garantien werden durch den zugrundeliegenden Rechtsschutzbegriff des nationalen Rechts determiniert. Daher wird zunächst auf dieser Ebene eine Einordnung vorgenommen. 1. Historische Entwicklung Sicherung und Durchsetzung des Rechtsschutzes waren vormals in die Hand des Inhabers des Rechtes oder seiner Sippe gelegt. Dieses Verständnis ist abgelöst worden durch die Rechtsdurchsetzung mittels staatlich vorgesehener Verfahren und seiner Monopolisierung. Karl August Bettermann versteht den Begriff des Rechtsschutzes in einem doppelten Sinn: einerseits als Schutz sowohl der subjektiven Rechte als auch des objektiven Rechts, andererseits als Schutz durch die Gerichte9. Dies zeigt, daß der Begriff des Rechtsschutzes bereits auf nationaler Ebene mehrere Interpretationen erfährt. Im hier zu behandelnden spezifischen Kontext ist der Begriff zu verstehen als Schutz, den die Rechtsordnung dem einzelnen vor rechtswidrigem staatlichen Handeln gewährt. Zentral ist damit die Kontrolle des Verwaltungshandelns. Der heutige Art. 19 Abs. 4 GG ist Ergebnis eines langen Kampfes um eine derartige gerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns. Insoweit hängt er eng zusammen mit der Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die entsprechend im folgenden skizziert wird. a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes Nachdem sich nach französischem Vorbild zuerst eine Form der Verwaltungsselbstkontrolle durchgesetzt hatte10, wurden im Laufe des 19. Jahrhun9 Karl August Bettermann, Der Schutz der Grundrechte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/ 2, 1959, S. 779 f. 10 Hierzu ausführlich Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 3. Wolfgang Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, 1962, S. 131 ff. (146 ff.); Horst Sendler, 125 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit: Woher – wohin?, VBlBW 1989, S. 41 (42).

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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derts Forderungen nach einer Rechtskontrolle der Verwaltung durch unabhängige Gerichte laut. Diese manifestierten sich in § 182 Satz 1 der Paulskirchenverfassung: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“11 Damit sollte die bis dahin praktizierte Selbstkontrolle der Verwaltung durch eine gerichtliche und damit externe Kontrolle ersetzt werden. Zwar trat dieser Paragraph nie in Kraft; dennoch ging in der Folge die Herausbildung der gerichtlichen Kontrolle staatlichen Handelns Hand in Hand mit der Entwicklung der Rechtsstaatsidee in Deutschland. Der Gedanke des Individualschutzes gegenüber dem Staat war das maßgebliche Element der Rechtsstaatsidee des 19. Jahrhunderts und kennzeichnend für dieses Konzept des formalen Rechtsstaates. So lag für Robert von Mohl der Schwerpunkt des Rechtsstaatsverständnisses in der allgemeinen Sicherung und Gewährleistung der Freiheitsentfaltung des einzelnen12. Otto Mayer definierte den Rechtsstaat als „Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“13. Während Otto Bähr14 eine Kontrolle der Verwaltung durch die ordentliche Gerichtsbarkeit forderte15, favorisierte Rudolf von Gneist16 die Einführung einer gesonderten Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im Grundsatz bestand jedoch Einigkeit über die Notwendigkeit einer Verwaltungskontrolle durch Gerichte in einem Rechtsstaat. Schließlich führten u. a. Baden (1863), Preußen (1872) und Bayern (1878) eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ein17. Bezüglich des Deutschen Reiches in seiner Ge11 Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1848, RGBl. 1849, S. 101. 12 Robert von Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften,2., umgearb. Aufl., 1872, S. 324 ff.; ders., Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 3. Bd., 2., umgearb. Aufl., 1845, S. 5. 13 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Leipzig 1895/1896, S. 58 m. w. N.; vgl. hierzu insbesondere auch Lorenz von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, 3. Aufl. Stuttgart 1887, S. 135. 14 Otto Bähr, Der Rechtsstaat, Neudruck der Ausgabe von 1864, 1961, S. 54. Er sieht in der Abschaffung der Verwaltungsselbstkontrolle eine „wesentliche Bedingung des Rechtsstaates“. 15 Eine Forderung, die ihre Umsetzung lediglich in den Hansestädten fand. Hierzu Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 8. 16 Rudolf von Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 2. Aufl., 1879, S. 263 ff. Über den Einfluß französischer und englischer Entwicklungsströmungen auf Gneist siehe Caroula Argyriadis-Kervégan, Rudolf Gneist: La Justice administrative, institutions nécessaire de l’État de droit, in: Jouanjan (Hrsg.), Figures de l’État de droit – Le Rechtsstaat dans l’histoire intellectuelle et constitutionnelle de l’Allemagne, Straßburg 2001, S. 235 (249 ff.). 17 Ausführlich hierzu Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, Neudruck der 3. Aufl. aus dem Jahre 1931, 1966, S. 92 f. Zu den unterschiedlichen Rechtsschutzkonzeptionen in Süddeutschland und Norddeutschland siehe Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 5; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 11 f. Vgl. auch Klein (FN 8), S. 67 ff.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

samtheit blieb die Forderung nach einer Verwaltungsgerichtsbarkeit jedoch noch unerfüllt18. Die erhoffte Änderung ergab sich auch nicht durch Art. 107 der Weimarer Reichsverfassung19. Dieser postuliert zwar den Gesetzgebungsauftrag zur Begründung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber die Weimarer Reichsverfassung verstand unter Verwaltungsgerichten keine sachlich und persönlich unabhängigen Gerichte, sondern Behörden, die in Anlehnung an Gerichte organisiert sind und deren Mitglieder lediglich sachlich, nicht aber persönlich unabhängig waren20. Ein individuelles Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt wurde ebenfalls nicht begründet21. Zu diesem Zeitpunkt konnte daher noch immer nicht von der Existenz einer allgemeinen reichseinheitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit gesprochen werden22. Der Nationalsozialismus führte dann zu einer fast vollständigen Auflösung der bis dahin entwickelten Verwaltungsgerichtsbarkeit. Durch Erlaß des Führers und Reichskanzlers vom 28. September 1939 trat an Stelle des gerichtlichen Verfahrens das Verwaltungsbeschwerdeverfahren23. b) Der Weg in das Grundgesetz Erst durch das Grundgesetz wird mit Art. 19 Abs. 4 GG die gerichtliche Kontrolle der staatlichen Verwaltung auf Verfassungsebene verbürgt und in den Katalog der Grundrechte aufgenommen. Die Väter des Grundgesetzes haben der Rechtsschutzgarantie gegenüber der öffentlichen Gewalt eine besondere Bedeutung beigemessen. Dies zeigt sich insbesondere in der Diskussion um die passendste Platzierung innerhalb des Grundgesetzes24. Dem Vorschlag von Thoma25, die Rechtsschutzgarantie in den Abschnitt über die 18 Michael Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl., 2002, S. 485 RN 1. 19 Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, RGBl. 1919, S. 1383. Art. 107: „Im Reich und in den Ländern müssen nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte zum Schutze der Einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen.“ 20 Vgl. Rolf Grawert, Verwaltungsrechtsschutz in der Weimarer Republik, in: Festschrift Menger, 1985, S. 35 ff.; auch Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, RN 17 ff. 21 Hierzu Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, RN 17. 22 Es gab aber bereits einige Sondergerichte, so z. B. den Reichsfinanzhof. 23 Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Vereinfachung der Verwaltung, IV Abs. 1 und 2 (RGBl. 1939, Teil I, S. 1535). Vgl. zu dieser Entwicklung Michael Stolleis, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus, in: Festschrift Menger, 1985, S. 57 ff.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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Rechtsprechung aufzunehmen, wurde nicht gefolgt. Von Mangoldt betonte, diese Verschiebung erübrige sich, da die spezielleren Vorschriften der Rechtspflege den allgemeinen Bestimmungen des Grundgesetzes ohnehin vorgehen würden und die Verfassung als Ganzes gesehen, gelesen und ausgelegt werden müsse26. Während der Beratungen im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee wurde die Rechtsschutzgarantie zunächst in Art. 2 Abs. 4 verortet, direkt im Anschluß an die grundrechtliche Generalklausel des Art. 2. Der Allgemeine Redaktionsausschuß stellte die Garantie jedoch schließlich in den vorletzten Artikel des Grundrechtskatalogs, den damaligen Art. 20 Abs. 4 GG27. Er begründete diesen Vorschlag damit, an der bisherigen Stelle werde der Anschein erweckt, die Vorschrift beziehe sich nur auf die in Art. 2 garantierten Rechte. Da aber jeder Eingriff in ein Recht den Rechtsweg eröffnen solle, sei es angebracht, diese Vorschrift an den Schluß der Grundrechte zu stellen28. Süsterhenn betonte in der Beratung des Grundsatzausschusses die Vorzüge dieses Vorschlages, die darin lägen, „das Verfahren zu kennzeichnen, wodurch die materiellen Grundrechte verfahrensmäßig gesichert sind“29. In der vierten Lesung im Hauptausschuß stimmte Süsterhenn der vom Allgemeinen Redaktionsausschuß letztlich vorgeschlagenen Einordnung als Abs. 4 des Art. 19 am Ende des Grundrechtskatalogs schließlich zu30. Durch die Platzierung am Ende des Grundrechtskatalogs wird hervorgehoben, daß Rechtsschutz für jeden Grundrechtsartikel und für jede Verletzung gewährt wird31.

24 Siehe dazu Christian Pestalozza, Art. 19 IV GG – nur eine Garantie des Fachgerichtsweges gegen die Verletzung von Bundesrechten i. S. der Art. 1–17 GG, NVwZ 1999, S. 140 (140 f.). 25 Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, Bd. 2, Drs. 244, S. 4. Siehe auch JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 184. 26 JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 184. 27 Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, Bd. 2, Drs. 282, S. 13. Siehe auch JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 184. 28 JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 184. 29 Stenographisches Protokoll der 32. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 11. Januar 1949, S. 36. JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 185. 30 Fassung Hauptausschuss vierte Lesung, Drs. 850 vom 5. Mai 1949. Stenographisches Protokoll der 57. Sitzung des Hauptausschusses am 5. Mai 1949, S. 748. 31 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 19 Abs. 4 RN 10; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 54 f.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung a) Wesen Art. 19 Abs. 4 GG hat seinen Platz am Ende des Grundrechtskatalogs, und seine Grundrechtsqualität ist unumstritten32. Seine Platzierung unterstreicht zum einen seine besondere Bedeutung und ordnet ihn zum anderen formal den Grundrechten zu. Die Bezeichnung als „formelles Hauptgrundrecht“ unterstreicht diese Bedeutung, deren Funktion die Absicherung der materiellen Grundrechtsgehalte durch Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist. Insoweit haben die materiellen Grundrechte direkt Auswirkungen auf Inhalt und Maßstab des Art. 19 Abs. 4 GG. Als subjektives Grundrecht beinhaltet es einen Leistungsanspruch gegen den Staat auf Einrichtung des gerichtlichen Verfahrens zur Rechtsdurchsetzung. Damit handelt es sich um ein Grundrecht des status positivus33. Das Grundgesetz hat mit Art. 19 Abs. 4 GG eine deutliche Entscheidung für den Individualrechtsschutz getroffen. Zwar beinhaltet das Grundrecht auch eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle, der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem individuellen Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt und somit auf dem Bürger und dessen Rechtsposition. Damit schützt Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Freiheit des Bürgers im engeren Sinne, sondern die „rechtliche Anerkennung seines Willens im prozessualen Sinne“34. b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip Art. 19 Abs. 4 GG steht am Ende einer langen Entwicklung der rechtsstaatlichen Forderung nach einer Justizgewährleistung gegen staatliche Akte und ist heute ein Aspekt der rechtsstaatlichen Forderung nach der Verwirklichung von umfassendem Rechtsschutz unter dem Grundgesetz35. Für zivilrechtliche Streitigkeiten folgt aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Rechtsstaatsprinzip als objektivem Verfassungsgrundsatz ein Justizgewährleistungsanspruch36. Das Ziel des allgemeinen Justizgewährleistungsan32 Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 RN 113; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 33; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 RN 7. 33 Zu Statuslehre ausführlich Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck, 1960, S. 418 ff. Vgl. Hierzu auch Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 19 RN 32. 34 Ekkehart Stein/Götz Frank, Staatsrecht, 21. Aufl., 2010, § 53, S. 437 nennen dies als Charakteristik aller Prozeßgrundrechte. 35 In diesem Sinne auch Sachs (FN 18), S. 486 RN 3. 36 BVerfGE 54, 277 (291). Dazu ausführlich Wilhelm Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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spruchs besteht ebenso wie bei Art. 19 Abs. 4 GG in der Garantie effektiven Rechtsschutzes37. aa) Art. 19 Abs. 4 GG als Element der Rechtsstaatlichkeit Art. 19 Abs. 4 GG ist häufig als eine spezialgesetzliche Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und sogar als „Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaates“38 bezeichnet worden39. Die Forderung nach einer gerichtlichen Kontrolle staatlichen Handelns zur Verhinderung von Willkürakten war eine der elementaren Forderungen des 19. Jahrhunderts, welche die rechtsstaatliche Entwicklung in Deutschland prägten. Indem Art. 19 Abs. 4 einen individuellen Anspruch auf Rechtsschutz gegen staatliche Akte auf Verfassungsebene als Grundrecht garantiert, erfüllt er diese Forderung und vollendet damit eine langjährige Entwicklung. bb) Verhältnis des Art. 19 Abs. 4 GG zum allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch Unabhängig von der Regelung in Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip die Forderung nach ungehindertem Zugang zu den Gerichten40. Dies ist die logische Konsequenz aus dem Gewaltmonopol des Staates und dem grundsätzlichen Verbot der Selbsthilfe des einzelnen41. Während Art. 19 Abs. 4 GG die Rechtsschutzgarantie auf die Ebene einer selbständigen Grundrechtsgewährleistung hebt, ist dies bei dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch nicht der Fall. Er ist im Gegensatz zu Art. 19 Abs. 4 GG kein formelles Grundrecht42. Bezüglich der inhaltlichen Anforderungen an den zu gewährenden Rechtsschutz bestehen keine großen qualitativen Unterschiede, denn auch der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch erfordert ein Mindestmaß an effektivem Rechtsschutz43. Art. 19 37

Siehe BVerfGE 88, 118 (123 ff.). Richard Thoma, in: Wandersleb/Traumann (Hrsg.), Recht-Staat-Wirtschaft, Bd. 3, 1951, S. 9. 39 Günter Dürig, Kommentierung des Art. 19 Abs. 4 (1958), in: ders., Gesammelte Schriften 1952–1983, 1984, S. 197 ff. (197). 40 Vgl. aus neuerer Zeit BVerfGE 88, 118 (125). Ausführlich hierzu Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 27 ff. 41 BVerfGE 54, 277 (292); 81, 347 (356). 42 Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 28 f. 43 Wie hier Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 19 Abs. 4 RN 354; Hans-Jürgen Papier, Justizgewähranspruch, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 153 RN 16. A. A. wohl Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 72. 38

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

Abs. 4 GG gilt nur für Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt und ist insoweit lex specialis. Soweit er nicht zur Anwendung kommt, ist auf den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch zurückzugreifen. 3. Inhalt des Art. 19 Abs. 4 GG a) Schutzrichtung Art. 19 Abs. 4 GG weist nicht, wie die klassischen Freiheitsrechte, eine primär abwehrrechtliche Prägung, sondern einen leistungsrechtlichen Charakter auf44: Eine Verletzung des Grundrechts liegt dann vor, wenn kein effektiver Rechtsschutz gewährt wird. Die Verpflichtung, diesen zu gewähren, liegt bei den staatlichen Gerichten. Art. 19 Abs. 4 GG richtet sich damit primär nicht an den Teil der öffentlichen Gewalt, der eine etwaige Rechtsverletzung verursacht hat. Vielmehr obliegt dem Staat selbst die Pflicht sicherzustellen, daß die normativen Voraussetzungen für einen effektiven Rechtsschutz vorliegen45. Das Grundrecht erfordert insoweit den Erlaß bestimmter Verfahrensordnungen sowie die Garantie des Zugangs zu den Gerichten. In institutioneller Hinsicht erfordert Art. 19 Abs. 4 GG letztlich die Garantie einer Justiz, die zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes in der Lage ist46. Allerdings läßt sich die Schutzrichtung auch abwehrrechtlich formulieren als Unterlassungsanspruch des einzelnen. Dieser beinhaltet, daß der Gerichtsschutz nicht auf unzumutbare, sachlich nicht zu rechtfertigende Weise erschwert oder verkürzt werden darf47. Unabhängig davon, ob man die Schutzrichtung als Unterlassungs- oder Leistungsanspruch formuliert, darf der Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes für den einzelnen nicht unterlaufen werden. Es besteht in beiden Sichtweisen das grundsätzliche Erfordernis, effektiven Rechtsschutz vor willkürlichen Hoheitsakten zu gewährleisten. Entscheidend für Art. 19 Abs. 4 GG ist nicht die rein objektive Kontrolle des Verwaltungshandelns, sondern seine subjektive Orientierung an der Rechtsverletzung des Bürgers. Er enthält zudem das Prinzip des lückenlosen Rechtsschutzes48. Der Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG wird eröffnet durch eine eigene Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt. Die in44

Vgl. Sachs (FN 18), S. 486 RN 3. Ramsauer, in: AK-GG GW 2001, Art. 19 Abs. 4 RN 34. 46 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 RN 14; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 25; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 RN 134 ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 31, 364 (368). 47 BVerfGE 40, 272 (274 f.); 60, 253 (269); 69, 381 (385). 48 BVerfGE 58, 1 (40); 51, 176 (185). 45

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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haltliche Erfassung der Rechtsschutzgarantie setzt damit voraus, daß zunächst Klarheit sowohl über den Begriff der öffentlichen Gewalt als auch über das Erfordernis der Verletzung eigener Rechte besteht. b) Normgeprägter Schutzbereich Aufgrund des normgeprägten Schutzbereichs49 kann nicht in jeder gesetzlichen Ausgestaltung des Rechtsweges ein Eingriff gesehen werden. Denn die Existenz eines Rechtsweges setzt einfaches Verfahrensrecht voraus, dessen Ausgestaltung jedoch am Maßstab der Effektivität des Art. 19 Abs. 4 GG zu messen ist. So liegt etwa ein Eingriff vor, wenn der „Zugang zum Gericht [. . .] in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise“50 erschwert wird. c) Der Begriff der öffentlichen Gewalt Nach dem Wortlaut schützt Art. 19 Abs. 4 GG nur vor Akten der öffentlichen Gewalt51. Unter dem Begriff der öffentlichen Gewalt sind nach der Wertung des Grundgesetzes in anderem Zusammenhang Legislative, Exekutive und Judikative zu verstehen52, so daß die Staatsgewalt in allen ihren Ausprägungen erfaßt wäre. Während einige Autoren auch im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG eine weite Interpretation des Begriffs vertreten53, sind nach überwiegender Ansicht des Schrifttums und des Bundesverfassungsgerichts jedoch weder Judikative54 noch Legislative umfaßt55. Für 49

Speziell zu diesem Begriff Pieroth/Schlink (FN 8), S. 274 RN 1097. BVerfGE 81, 123 (126). 51 Ausführlich Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 167 ff. 52 Siehe den Wortlaut der Art. 1 Abs. 1 und Abs. 3, 20 Abs. 2 und 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Hierzu auch Jörn Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 12. Aufl., 2009, § 20 RN 879 ff.; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 44 ff. (46). 53 Dieter Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 162 (241 ff.); siehe auch die Darstellung bei Hartmut Maurer, Rechtsstaatliches Prozeßrecht, in: Badura/Dreier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts, 2001, S. 467 ff. (481 f.). 54 BVerfGE 11, 263 (265); 15, 275 (280), aus neuerer Zeit 103, 142 (156). Aus der Literatur Bettermann (FN 9), S. 790; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 RN 120; Hans-Jürgen Papier, Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 154, RN 37; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4, RN 55; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 275 ff. Ipsen (FN 52), RN 880, sieht darin die „Garantie eines unendlichen Instanzenzugs“. 55 BVerfGE 24, 33 (49), 25, 352 (365); 31, 364 (367); 45, 297 (334); 75, 108 (165). Aus der Literatur Karl August Bettermann, Zur Verfassungsbeschwerde gegen 50

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

diese zweite Ansicht sprechen die besseren systematischen Argumente, da das Grundgesetz für die gerichtliche Kontrolle der parlamentarischen Gesetze ausdrückliche Regelungen vorgesehen hat (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2; Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und b, Art. 100 Abs. 1 GG)56. Zudem kommt der Rechtsprechung nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes insbesondere die Aufgabe zu, Gesetze anzuwenden. Die Rechtsschutzgarantie wird durch die Herausnahme der Gesetzgebung aus dem Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG daher nicht verkürzt: Es wird ein umfassender Rechtsschutz gegen Ausführungsakte gewährt, innerhalb dessen die jeweilige Norm inzident geprüft wird57. Insoweit läuft diese Interpretation auch nicht dem Schutzweck des Art. 19 Abs. 4 GG zuwider. Der Einbeziehung der Judikative steht zum einen der Grundgedanke des Art. 19 Abs. 4 GG entgegen, der Schutz durch und nicht gegen den Richter gewähren soll58. Zum anderen widerspräche eine derartige Interpretation auch dem Grundsatz der Rechtssicherheit als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Es würde sich ein Kreislauf aus einem sich immer wieder erneuernden Anspruch auf Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der Gerichte entwickeln: In der Konsequenz wäre jedes Urteil wieder aufs Neue angreifbar. Der Begriff der öffentlichen Gewalt erfaßt daher nur Akte der vollziehenden Gewalt. d) Der Begriff der Verletzung eigener Rechte Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet den Rechtsweg nur demjenigen, der geltend machen kann, in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies erfordert zum einen Gesetze und zum Rechtsschutz des Bürgers gegen Rechtssetzungsakte der öffentlichen Gewalt, AöR 86, 1961, S. 129 (158 ff.); Konrad Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, 1956, S. 90; in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 RN 122 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 19 Abs. 4 RN 50. Für eine Einbeziehung der Gesetzgebung: Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 249 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 RN 93 ff.; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 54. 56 BVerfGE 24, 33 (49); Bettermann (FN 55), S. 155; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 150 RN 337; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 RN 122 ff.; in diesem Sinne auch BVerwG DÖV 1965, S. 169. Siehe auch Ernst Friesenhahn, Zur richterlichen Kontrolle von Rechtsverordnungen nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: Ermacora/Klecatzsky/Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, 1968, S. 103 ff. (125). 57 Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 RN 125. 58 Vgl. BVerfG NVwZ 1988, S. 523; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Erstkommentierung zu Art. 19 Abs. 4 RN 17; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 275; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 55.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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die Existenz von subjektiven Rechten und zum anderen deren Verletzung. Unter Rechten sind grundsätzlich alle subjektiven Rechte zu verstehen, auch einfachgesetzliche59. Damit stellt sich die Frage, wann ein Gesetz ein subjektives Recht verbürgt. Zu klären ist dies mit der von Bühler begründeten Schutznormtheorie60. Diese besagt, daß eine Norm dann ein subjektives Recht verbürgt, wenn sie zumindest auch den Interessen des einzelnen zu dienen bestimmt ist61. Damit wird das Gesetz zum Anknüpfungspunkt für die subjektiven Rechte62. Eine tatsächliche Verletzung wird nicht gefordert, sondern es reicht aus, wenn der Rechtsträger eine Verletzung als möglich geltend macht63. e) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes Das Bundesverfassungsgericht64 hat betont, daß durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht ein beliebiger Rechtsschutz garantiert wird, sondern ein effektiver65. Denn es reicht nicht aus, daß überhaupt ein Gericht angerufen werden kann, vielmehr ist eine tatsächlich wirksame Kontrolle erforderlich66. Dies gilt insbesondere für den Zugang zu den Gerichten und für den Ablauf des Verfahrens67. Damit wird dem Gesetzgeber ein Maßstab an die Hand gegeben, den er bei der Ausgestaltung der Verfahrensordnungen zu beachten hat. Unter dem Offenstehen des Rechtswegs sind drei Stufen zu verstehen: 59 Es liegt keine Beschränkung nur auf Grundrechte vor, siehe auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4, RN 8; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 RN 127; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4, RN 60; a. A. Pestalozza (FN 24), S. 140 unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 4. 60 Otto Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, S. 42 ff.; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 63; Rainer Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung-Kommentar, Vorb. § 42 Abs. 2 RN 17 ff. 61 St. Rspr. des BVerwG seit BVerwGE 1, 83; aus neuerer Zeit BVerwGE 80, 355 (366 f.). Ebenso BVerfGE 27, 297 (307). 62 Anders die Statuslehre Georg Jellineks, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1919, insb. S. 44. 63 BVerfGE 31, 364 (368). 64 BVerfGE 35, 263 (274); 35, 382 (401); und in einer neueren Entscheidung BVerfGE 101, 397 (407). 65 Ausführlich Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 RN 383 ff. 66 St. Rspr. des BVerfG, aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 101, 106 (122); 397 (407). 67 Es wird unterschiedlich beurteilt, ob es sich bei dem Effektivitätsgebot um ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 19 Abs. 4 GG oder um einen Bestandteil des Rechtsschutzes an sich handelt. So bezeichnet z. B. Maurer (FN 53), S. 487, das Effektivitätsgebot als „integralen Bestandteil“ des Rechtsschutzes und nicht lediglich als zusätzliches Tatbestandsmerkmal.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

erstens der Zugang zum Gericht68, zweitens das Verfahren vor Gericht und drittens die Entscheidung durch das Gericht69. Das dem Bürger offenstehende Gericht muß den Anforderungen der Art. 92 ff. GG genügen70. Ein bestimmter Rechtsweg wird durch Art. 19 Abs. 4 GG jedoch nicht festgelegt71. Ein effektiver Rechtsschutz verlangt zumindest, daß die Aufhebung des Exekutivaktes noch möglich ist und der Rechtsschutz in angemessenem zeitlichen Rahmen gewährt wird. Der Rechtsschutz des einzelnen darf also nicht durch gesetzliche Regelungen zu einer bloßen Illusion degradiert werden, so daß er ins Leere läuft72.

II. Das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG) Zahlreiche Monographien setzen sich mit der Entwicklung und dem Inhalt eines Rechts auf den gesetzlichen Richters und dem Verbot der Ausnahmegerichte, wie es Art. 101 Abs. 1 GG vorsieht, auseinander73. Das 68 Dieser umfaßt zum Beispiel Rechtsweg, Klagebefugnis, Fristen, Wiedereinsetzung. 69 Pieroth/Schlink (FN 8), S. 295 RN 1178. 70 Eine Behörde oder ein nichtrichterlicher Spruchkörper genügen insofern nicht. 71 Vielmehr kennt das Grundgesetz verschiedene Gerichtsbarkeiten, Art. 95, 96 GG. Die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte wird explizit in einigen Vorschriften genannt, vgl. Art. 14 Abs. 3 S. 4; Art. 34 S. 3, Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG. 72 So BVerfGE 101, 106 (123 f.). In diesem Zusammenhang ist der interpretationsoffene Begriff der Effektivität kritisiert worden, da er die Gefahr beliebiger prozessualer Gestaltung unter dem Deckmantel der Verfassung biete. Ob vor diesem Hintergrund auch der terminologische Wandel des Bundesverfassungsgerichts einzuordnen ist, bleibt fraglich. In seiner Rechtsprechung hat es von „Effektivität“ und „Wirksamkeit“ gesprochen; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 RN 5, sieht hierin das Zeichen einer verstärkten Rückkoppelung an die Verfassung. Allerdings läßt sich der Gebrauch der Begriffe durch das Bundesverfassungsgericht bei einer kursorischen Gesamtschau seiner Rechtsprechung keiner einheitlichen Linie zuführen. Siehe BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NStZ 2000, S. 44 (45); BVerfGE 60, 253 (269); 79, 69 f.; 81; 123 (126); 88, 118 (123 f.), sprechen von „effektivem Rechtsschutz“, wohingegen BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 1988, S. 523, von dem Recht auf einen „wirksamen Rechtsschutz“ spricht, aber im zweiten Leitsatz des Beschlusses von „effektivem Rechtsschutz“. Von einem „wirksamen Rechtsschutz“ spricht auch BVerfG, NJW 1982, S. 507 (511), das „Gebot eines wirkungsvollen Rechtsschutzes“ benennt BVerfG, NJW 1981, S. 1499 (1500). 73 Die aktuellste und rechtshistorisch umfassendste Monographie dürfte die Habilitationsachrift von Seif (FN 20 der Einleitung) sein. Zu erwähnen sind aus der älteren Literatur mit ebenfalls rechtshistorischem und vergleichendem Teil die Werke von Eduard Kern, Der gesetzliche Richter, 1927 (zu England insb. auf S. 11 ff., zu Frankreich auf S. 28 ff., zu Deutschland ausführlich auf S. 45 ff.); Walter Menzel,

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Recht auf den gesetzlichen Richter, das in Deutschland in Art. 101 Abs. 1 GG verankert ist, umfaßt zum einen die Unzulässigkeit von Ausnahmegerichten und zum anderen das Gebot, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Hierbei handelt es sich um die grundlegende Vorschrift für die Gestaltung der Gerichtsorganisation nach dem Grundgesetz. Auch wenn das Gebot der Gesetzlichkeit des Richters mittlerweile in Art. 6 Abs. 1 EMRK74 sowie in Art. 14 IPBürgPR kodifiziert ist, existiert auf europäischer Ebene noch kein allgemein anerkanntes Recht auf den gesetzlichen Richter. 1. Historische Entwicklung a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes Bis die Idee des gesetzlichen Richters Eingang in den Großteil der frühkonstitutionellen Verfassung fand, ging ihr eine vielfältige gedankliche Entwicklung voraus75, die im folgenden kurz dargestellt wird. Über § 2 des Nassau-Patents aus dem Jahr 1814 fand die Formulierung des Art. 62 der (französischen) Charte Constitutionnelle desselben Jahres Eingang in das deutsche Recht76. Ihr tatsächlicher Schutz beschränkte sich auf die Bindung des Monarchen, nicht nach seinem persönlichen Gutdünken Zuständigkeitsregelungen zu ändern77. Dem Recht auf den gesetzlichen Richter fehlte zu diesem Zeitpunkt sowohl der subjektive abwehrrechtliche Charakter als auch die Anerkennung als vorstaatliches Recht. Es handelte sich um staatlich verliehenes Recht, das auf keine vorstaatlichen Elemente gegründet war78. Anstoß für eine Änderung dieser Konzeption gab die Machtlosigkeit gegenüber den auf den Karlsbader Beschlüssen beruhenden Verfolgungsmaßnahmen in der Zeit der Restauration Metternichs79. Die Idee, einen Ausnahmegericht und „gesetzlicher“ Richter, Berlin 1925 (zu England auf S. 34 ff., zu Frankreich auf S. 49 ff. und zu Deutschland auf S. 65 ff.). 74 Hierzu Peukert, in: Frowein/ders., Art. 6 EMRK, RN 122 f. Allerdings ist Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht mit dem Gewährleistungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG identisch, so Degenhart, in: Sachs, GG, 2003, Art. 101 RN 3a. 75 Ausführlich Seif (FN 20 der Einleitung), S. 177 ff., 183 ff., 199., 205 ff., 217 ff. 76 Seif (FN 20 der Einleitung), S. 234 ff. 77 Vgl. auch Wassermann, in: AK-GG, Art. 101 RN 1. 78 Siehe Ulrike Seif, Recht und Gerechtigkeit: Die Garantie des gesetzlichen Richters und die Gewaltenteilungskonzeptionen des 17.–19. Jahrhunderts, Der Staat 42, 2003, S. 110 (132); Ulrike Müßig, Gesetzlicher Richter ohne Rechtsstaat? Eine historisch-vergleichende Spurensuche, in: Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 182, 2007, S. 25. 79 Seif (FN 20 der Einleitung), S. 234 ff.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

wirksamen Gegenpol zur Kabinettsjustiz zu setzen, gipfelte in der Forderung nach dem gesetzlichen Richter80. Ausdruck fand dieses Bestreben in Art. X § 75 der Paulskirchenverfassung81 sowie in Art. 7 Abs. 1 der revidierten, preußischen Verfassung mit dem Verbot von Sondergerichten und der Gewährleistung des gesetzlichen Richters82. Auch die Weimarer Reichsverfassung bestimmte in Art. 105 S. 1 und 2 das Verbot von Sondergerichten und das Gebot des gesetzlichen Richters83. Sie unterstrich damit die Bedeutung dieser Vorschrift über die ordentliche Gerichtsbarkeit hinaus für jeden Bereich84. Diese Bestimmung wurde jedoch unter den Nationalsozialisten pervertiert, die aufgrund einer Blankettermächtigung Sondergerichte nach Belieben einrichteten, insbesondere im Bereich der Strafjustiz. Auch auf Ebene der Gerichtsorganisation fanden während dieser Zeit vielfältige Durchbrechungen des Grundsatzes des gesetzlichen Richters statt85. b) Der Weg in das Grundgesetz Die Eingriffe des nationalsozialistischen Regimes in das Gebot des gesetzlichen Richters gaben Anlaß zur Einführung einer entsprechenden Vorschrift in das Grundgesetz. Art. 131 des Herrenchiemseer Entwurfs, der auf Art. 105 Weimarer Reichsverfassung zurückzuführen ist, fand daher fast wörtlich Eingang in das Grundgesetz86. Der heutige Art. 101 GG ist somit das Ergebnis der Erfahrungen unter der Kabinettsjustiz und der Diktatur der Nationalsozialisten.

80

Vgl. Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 101 RN 2. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849; Art. X § 75 lautete: „(1) Die richterliche Gewalt wird selbständig von den Gerichten geübt. Cabinetsund Ministerialjustiz ist unstatthaft. (2) Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte sollen nie stattfinden.“ 82 Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, abgedruckt bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl., 1978, S. 501 (502). 83 „Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die gesetzlichen Bestimmungen über Kriegsgerichte und Standgerichte werden hiervon nicht berührt. Die militärischen Ehrengerichte sind aufgehoben.“ Siehe zur Auslegung des Art. 105 Menzel (FN 73), S. 88 ff. 84 Hierzu auch JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 739. 85 Ausführlich und mit umfangreichen Nachweisen Seif (FN 20 der Einleitung), S. 234 ff. 86 Lediglich redaktionelle Abweichung in Abs. 2, siehe JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 739. 81

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2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung a) Wesen Art. 101 Abs. 1 GG findet sich im IX. Abschnitt des Grundgesetzes, der mit „Die Rechtsprechung“ überschrieben ist. Aus rein formaler Sicht ist also keine Zuordnung zu den Grundrechten des I. Abschnitts des Grundgesetzes „Die Grundrechte“ gegeben. Allerdings hatte Menzel in den Beratungen des Parlamentarischen Rates angeregt, die Vorschrift über den gesetzlichen Richter an die Spitze des Abschnitts über die Rechtspflege zu setzen, da dieser „eine Art von Grundrecht“ enthalte87. Einigkeit scheint heute in der Lehre darüber zu bestehen, daß es sich bei dem Recht auf den gesetzlichen Richter zumindest um ein „grundrechtsgleiches“ bzw. „grundrechtsähnliches Recht“ handelt88. Diese Schlußfolgerung wird mit seiner Nennung neben den Grundrechten in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet89. Das Bundesverfassungsgericht spricht dagegen nicht nur von einem grundrechtsgleichen Recht90, sondern auch von einem Grundrecht91. Art. 101 Abs. 1 GG stellt als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nicht nur objektive Grundsätze auf, sondern verleiht dem Bürger auch ein subjektives Recht92. Dies wird zum einen durch den Wortlaut „niemand“ betont und zum anderen durch die ausdrückliche Nennung der Vorschrift in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG bestätigt.

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JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 739. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 101 RN 1; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 101 RN 17; Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 101 RN 1; Hermann Hill, Verfassungsrechtliche Gewährleistungen gegenüber der staatlichen Strafgewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 156 RN 50; Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 101 RN 4; Sachs (FN 18), S. 513 RN 1; Pieroth/Schlink (FN 8), S. 290 RN 1157; Wassermann, in: AK-GG, Art. 101 RN 10. Siehe auch Stern, in: Staatsrecht III/1, S. 359 ff. (366), der zu einer Bezeichnung als grundrechtsgleich gewechselt hat. 89 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 101 RN 17, spricht in diesem Sinn davon, daß eine Verletzung der Rechte aus Art. 101 GG „jedenfalls“ durch Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können. Eine weitere Auseinandersetzung in der Sache nimmt er nicht vor, sondern verweist auf Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 101 RN 4, und Wassermann, in: AK-GG, Art. 101 RN 10, die den Rechtscharakter ebenfalls offen lassen. 90 BVerfGE 109, 13 (21). Daneben taucht auch die Bezeichnung als „grundrechtsähnliche Gewährleistung“ auf, siehe BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2003, S. 281; siehe zur Bezeichnung als „grundrechtsähnlich“ BVerfGE 61, 82 (104); 75, 192 (200); 82, 159 (194). 91 BVerfGE 14, 156 (161); 21, 139 (143); 28, 314 (323). 92 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 101 Abs. 1 RN 5. 88

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip Mit der Zielsetzung, dem einzelnen ein willkürfreies und an sachgerechten sowie vorhersehbaren Maßstäben ausgerichtetes gerichtliches Verfahren zu gewährleisten, ist Art. 101 Abs. 1 GG ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips93. Wenn die Vorschrift als „Ausprägung spezifisch deutschen Rechtsstaatsverständnisses“94 bezeichnet wird, so bezieht sich dies insbesondere auf die spezifischen justizinternen Anforderungen, die aus dem Gebot des gesetzlichen Richters abgeleitet werden95. Das Gebot des gesetzlichen Richters wird bestimmt durch das rechtsstaatliche Gebot klarer Entscheidungszuständigkeit gegenüber dem Bürger96. Insoweit ist das Gebot des gesetzlichen Richters die Umsetzung der rechtsstaatlichen Forderung nach Rechtssicherheit und Objektivität und gehört damit zum Kern rechtsstaatlicher Justiz97. 3. Inhalt des Art. 101 Abs. 1 GG a) Schutzrichtung Die Schutzrichtung des Rechts auf den gesetzlichen Richters richtet sich somit zum einen gegen richterliche Willkür und zum anderen gegen die Errichtung von Ausnahmegerichten. Dem einzelnen soll ein soweit wie möglich objektives und gerechtes, nach allgemeinen Maßstäben nachvollziehbares Verfahren garantiert werden. Das Recht auf den gesetzlichen Richter soll so das Vertrauen des einzelnen in die Rechtspflege stärken und ihm zudem ein an rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgerichtetes Verfahren garantieren. Das gerichtliche Verfahren soll frei von Willkür, sachfremden Einflüssen und Unsicherheit sein. Nach seinem Wortlaut wendet sich Art. 101 Abs. 1 GG hauptsächlich gegen die Entziehung des gesetzlich zuständigen Richters durch staatliche Akte und fordert die Einhaltung bestimmter Voraussetzungen für dessen Bestimmung, die unter c) dargelegt werden. 93 Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 101 RN 5 f.; Hill (FN 88), RN 50; Christoph Degenhart, Gerichtsorganisation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 75 RN 4, 17; BVerfGE 27, 355 (362); 40, 356 (360); 82, 159 (194). 94 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 101 Abs. 1 RN 2. 95 Hierzu unter rechtsvergleichender Perspektive Christoph Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, 2002, S. 127 f. 96 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 101 RN 3. 97 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 101 Abs. 1 RN 67. Vgl. aber auch Müßig (FN 20 der Einleitung), S. 10 f., mit dem Nachweis, das sich die Idee des gesetzlichen Richters in Europa zunächst unabhängig vom Rechtsstaatsbegriff entwikkelt habe.

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b) Normgeprägter Schutzbereich Ebenso wie Art. 19 Abs. 4 GG ist Art. 101 Abs. 1 GG durch einfache Gesetze zu konkretisieren und überträgt damit die inhaltliche Ausgestaltung auf den einfachen Gesetzgeber. Dieser darf einerseits ein Mindestmaß nicht unterschreiten98, hat andererseits aber bei der inhaltlichen Ausgestaltung einen weiten Spielraum. c) Der Begriff des gesetzlichen Richters Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert das Recht auf den gesetzlichen Richter. Damit stellt sich die Frage, was den gesetzlichen vom einfachen Richter unterscheidet, d. h. die Frage, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit von einem gesetzlichen Richter gesprochen werden kann. Richter ist generell nicht nur der zur Entscheidung im Einzelfall berufene, sachlich, örtlich und instanziell zuständige Richter, sondern auch das Gericht als organisatorische Einheit sowie als Spruchkörper99. Gesetzlicher Richter ist jedoch zunächst nur der gesetzlich zuständige Richter100. Damit ist die Bestimmung des gesetzlichen Richters in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers. Ihm obliegt die Regelung der grundlegenden Zuständigkeitsfragen hinsichtlich Ort, Materie und Instanz. Nur derjenige soll als Richter tätig werden, der nach den allgemeinen Vorschriften hierzu bestimmt wird. Die gesetzlichen Vorgaben werden insoweit durch Geschäftsverteilungspläne ergänzt, welche die Zuständigkeit der Richter und ihre Mitwirkung in den jeweiligen Spruchkörpern vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer vollständig, schriftlich und objektiv festlegen101. Danach sind Ermessensentscheidungen grundsätzlich unzulässig102. Gerade auch für den Fall 98 Hierzu näher Hans-Jürgen Papier, Justizgewährleistungsanspruch, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 153, RN 2; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG III, Art. 101 RN 38. 99 BVerfGE 17, 294 (298 f.); 82, 286 (296). Kritisch zu diesem weiten Ansatz im Hinblick auf die ursprüngliche Intention der Verfassungsväter, Karl August Bettermann, Der gesetzliche Richter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 94, 1969, S. 263 ff.; ders., Das Gerichtsverfassungsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 92, 1967, S. 496 ff.; Heinrich Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, Hamburg 1934, S. 164 ff. 100 Kern (FN 73), S. 160; Karl August Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzliche Richter, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 523 (562); BVerfGE 95, 322 (329). 101 Vgl. § 21g Abs. 2 GVG. Sinn dieser Vorschrift ist es zu verhindern, daß der Vorsitzende die Zusammensetzung der Spruchkörper ad hoc bestimmt. Hierzu auch Peter Gummer, in: Zöller, ZPO, 24. Aufl., 2004, § 21g GVG RN 3 ff.; Thomas Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, 2000, S. 182 ff. 102 Siehe Roth (FN 101), S. 193 m. w. N.

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der Krankheit eines Richters muß im voraus bestimmt sein, welcher Richter statt seiner an der Entscheidung mitwirkt103. Grundsätzlich muß sich die abstrakt-generelle Vorausbestimmung der Besetzung der Spruchkörper bis auf die letzte Stufe erstrecken, auf der es um die Person des konkret mitwirkenden Richters geht104. Damit soll ausgeschlossen werden, daß für bestimmte Einzelfälle spezifisch Richter ausgewählt werden105. Der zuständige Richter106 wird erst zum gesetzlichen Richter im Sinne des Grundgesetzes, wenn er weiteren Anforderungen genügt, die im Laufe der Zeit insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer weiter ausdezidiert wurden107. Danach ist ein gesetzlicher Richter nur derjenige, der auch in seiner Person die Anforderungen des Grundgesetzes erfüllt108: Er muß damit sowohl unabhängig und neutral sein als auch die nötige Distanz wahren, um diese Anforderungen zu erfüllen. Hierdurch werden in der Konsequenz die Anforderungen aus den Art. 92, 97 GG indirekt verfassungsbeschwerdefähig. Gleichzeitig wird die Verpflichtung für Gesetzgeber wie Gerichte statuiert, die Möglichkeit für einen Ausschluß oder eine Ablehnung eines Richters vorzusehen, der diese Anforderungen nicht erfüllt109. Dadurch soll der Gefahr vorgebeugt werden, daß die Justiz sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird110. Gesetzlicher Richter ist damit nicht schon derjenige, der gesetzlich zuständig ist, sondern erst der Richter, der zudem der gesetzmäßige ist111. d) Folgerungen für Legislative, Exekutive und Judikative aa) Anforderungen an die Legislative Der Gesetzgeber muß die Zuständigkeitsregelung entsprechend den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG treffen. Er hat daher auch Regelungen über die Auswahl, Ernennung und Dauer der Amtszeit der Richter 103

Zur Anforderung an die Geschäftsverteilung innerhalb überbesetzter Spruchkörper BVerfGE 95, 322 (329). 104 BVerfGE 95, 322 (329). 105 St. Rspr. des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 21, 139 (145). 106 Mit Beispielen aus der Rechtsprechung Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 101 RN 29 f. 107 BVerfGE 73, 339 (366 ff.). 108 St. Rspr. des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 10, 200 (213). 109 BVerfGE 21, 139 (146); 30, 149 (153); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 1998, 369. 110 BVerfGE 17, 294 (299). 111 Wassermann, in: AK-GG, Art. 101 RN 7 f.

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zu treffen112. Diese sind möglichst eindeutig113 zu bestimmen und haben den soeben dargelegten Anforderungen zu genügen. Besondere Anforderungen an das entsprechende Gesetz ergeben sich auch aus dem Zusammenspiel mit dem Verbot von Ausnahmegerichten des Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG. Ausnahmegerichte sind solche, „die in Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeit besonders gebildet und zur Entscheidung einzelner konkreter oder individuell bestimmter Fälle berufen sind“114. Die Errichtung von Ausnahmegerichten ad hoc oder ad personam ist dem Wesen des Art. 101 Abs. 1 GG fremd. Der Artikel stellt klar, daß Ausnahmegerichte selbst dann nicht zulässig sind, wenn sie auf einem Gesetz beruhen. Davon zu unterscheiden sind jedoch Gerichte für besondere Sachgebiete nach Art. 101 Abs. 2 GG, für deren Errichtung kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung ein formelles Gesetz erforderlich ist115. bb) Anforderungen an die Exekutive Obwohl die Justiz traditionell gerade vor dem Einfluß von Legislative und Exekutive geschützt werden sollte, ist die Beeinträchtigung des gesetzlichen Richters durch die Exekutive heute nicht mehr das Kernproblem116. Zum einen ist die Möglichkeit der Einwirkung auf die Zuständigkeit des konkreten Richters gering, denn die Justizverwaltung ist nach dem GVG an der Auswahlentscheidung nicht mehr unmittelbar beteiligt117. Denkbar wäre allenfalls eine Einflußnahme der Exekutive auf die Richterbestellung, wenn sie beispielsweise versuchen würde, das Auswahl- bzw. Ernennungsverfahren zielgerichtet zu manipulieren118. Die praktische Bedeutung dieser Schutzwirkung ist jedoch nur gering. cc) Anforderungen an die Judikative Damit das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht verletzt wird, müssen justizintern bestimmte Anforderungen erfüllt sein. Einige von ihnen sind bereits im Rahmen der Erläuterung der Gesetzlichkeit des Richters aufgegriffen worden. Grundsätzlich darf niemand durch Maßnahmen innerhalb der Gerichtsorganisation seinem gesetzlichen Richter entzogen wer112 113 114 115 116 117 118

BVerfGE 27, 355 (362 f.). St. Rspr. des BVerfG seit BVerfGE 6, 45 (50 f.). BVerfGE 3, 213 (223). Weiter hierzu Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 101 RN 24. Vgl. hierzu BVerfGE 82, 159 (194). Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 101 RN 30. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 101 RN 48.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

den119. Theoretisch wäre jedes Mal, wenn das Gericht selbst verfahrensrechtliche Bestimmungen falsch anwendet, eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richters denkbar120. Das Bundesverfassungsgericht ist diesem Gedanken jedoch nicht gefolgt, sondern hat eine Differenzierung vorgenommen121. Maßgeblich ist danach, ob es sich um einen bloßen Verfahrensirrtum, einen error in procedendo, handelt oder ob die Maßnahme bzw. Entscheidung des Gerichts auf Willkür beruht122. Das Vorliegen von Willkür ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Danach ist sie nicht schon bei jeder fehlerhaften Anwendung einer Zuständigkeits- oder Verfahrensnorm des einfachen Rechts zu bejahen. Vielmehr liegt sie erst vor, wenn die Entscheidung Grundsätze des gesetzlichen Richters derart verletzt, daß sie nicht mehr zu rechtfertigen ist und sie Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG daher grundlegend verkennt123.

III. Das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) Das Recht auf rechtliches Gehör vor Gerichten ist auf Verfassungsebene in Art. 103 Abs. 1 GG kodifiziert. Als Gegenstück zum Anspruch auf Zugang zu den Gerichten ist es eines der Verfahrensrechte, die sich am weitesten in der geschichtlichen Entwicklung zurückverfolgen lassen. Trotzdem existiert bis heute keine gesetzliche Legaldefinition des rechtlichen Gehörs124. 1. Historische Entwicklung a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes Das Recht des einzelnen, in einem Verfahren zu Wort zu kommen, das seine Rechte betrifft, war schon im römischen Recht verankert125. Diese 119

In diesem Sinne BVerfGE 4, 412 (416); 20, 39 (41). Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 101 RN 33. In Betracht kämen etwa die Regeln über die Zusammensetzung der Richterbank oder Vorlagepflichten an andere Gerichte. 121 Vgl. etwa BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2003, S. 281. 122 St. Rspr. des BVerfG seit BVerfGE 3, 359 (364 f.), aus jüngerer Zeit BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 2514 (2515). 123 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 2514 (2515). Bei der Mitwirkung eines wegen Befangenheit ausgeschlossenen Richters ist ein error in procedendo bereits begrifflich ausgeschlossen, denn der Sache nach ist ein Verfahrensirrtum nicht möglich. 124 Vgl. Hinrich Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren, 1976, S. 11. 120

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Lehre enthielt bereits der Richtereid des alten Athen und war dem ganzen Altertum geläufig. Der Prozeß der kirchlichen Inquisition lieferte sodann ein Beispiel für die Pervertierung der Anhörungsrechte126, das sich erst mit der Reformierung des Prozesses zum Besseren wandte. Zur erstmaligen juristischen Verwendung der lateinischen Formel „audiatur et altera pars“ bemerkt Rüping, daß es sich hierbei wohl eher um eine gewohnheitsrechtliche Regel handele, weniger um einen Satz der Rechtslehre127. In Deutschland dauerte es bis zum 19. Jahrhundert, bis sich der tradierte Grundsatz des rechtlichen Gehörs128 zu einem subjektiven Recht für den Verfahrensbeteiligten und zu einem Grundsatz mit Verfassungsrang entwickelte. b) Der Weg in das Grundgesetz Aufgrund der Erfahrungen im Nationalsozialismus wurde die Aufnahme des Anspruchs auf rechtliches Gehör in der neuen Verfassung als unabdingbar angesehen129. Die Geltung dieses Rechts wurde auch in den Beratungen des Herrenchiemseer Entwurfs nicht angezweifelt130. Mit der Aufnahme in Art. 103 Abs. 1 GG des Grundgesetzes bekannte man sich wieder zum libe125 Audiatur et altera pars, vgl. auch Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 2. Ausführlich Rüping (FN 124), S. 13 ff. 126 Rüping (FN 124), S. 51 ff. 127 Die Formulierung ist möglicherweise in Anlehnung an Augustinus Satz „Audi partem alteram“ entstanden. Weitere Nachweise dazu bei Rüping (FN 124), S. 29, dort FN 72, auch mit Bezug auf die Gepflogenheiten in England und Frankreich, die sich ebenfalls dieser Formulierung bedienen. 128 Franz-Ludwig Knemeyer, Rechtliches Gehör im Gerichtsverfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 155, RN 6 ff., mit einem kurzen Überblick über die Ausprägungen des rechtlichen Gehörs im „Gemeinen Prozeßrecht“ sowie im Strafprozeß, in dem von jeher die Bedeutung des rechtlichen Gehörs als zentrales Element anerkannt war. So enthielt bereits die StPO von 1877 Vorschriften, die Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs festschrieben. Das rechtliche Gehör selbst wurde jedoch nicht ausdrücklich niedergeschrieben. 129 Siehe Art. 2 Abs. 1 der Kontrollrats-Proklamation Nr. 3, aus dem Jahre 1945 sowie in den Länderverfassungen Bayerns vom 2. Dezember 1946 (Art. 91 Abs. 1) und Thüringens vom 20. Dezember 1946 (Art. 51), während 1947 Sachsen-Anhalt, Verfassung vom 10. Januar 1947 (Art. 66) und Mecklenburg, Verfassung vom 16. Januar 1947 (Art. 66) folgten. Die Verfassungen sind abgedruckt bei Erich Fischer/Werner Künzel, Verfassungen deutscher Länder und Staaten, 1989. Siehe ausführlich zur Praxis im Nationalsozialismus, die zur Aufnahme dieser Bestimmungen in die Länderverfassungen führte, Rüping (FN 124), S. 90 ff. m. w. N. 130 JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 741. Siehe allerdings die Anregung des Abgeordneten Strauß, der den Anspruch auf rechtliches Gehör als überflüssig streichen wollte, S. 742. Dem wurde jedoch nicht entsprochen: Achte Sitzung Rechtspflegeausschuss, Stenographisches Protokoll, S. 42 ff.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

ralen, rechtsstaatlichen Verfassungsstaat. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet das Recht auf rechtliches Gehör vor den Gerichten als „prozessuales Urrecht“131. 2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung a) Wesen Für Art. 103 Abs. 1 GG gilt die gleiche terminologische Unsicherheit wie für Art. 101 GG. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet Art. 103 Abs. 1 GG abwechselnd als Grundrecht132, grundrechtsgleiches133, grundrechtsähnliches134 oder auch als Prozeßgrundrecht135. In der Lehre wird überwiegend von einem „jedenfalls grundrechtsgleichen Recht“136 gesprochen, dessen Besonderheit sich durch die Bezeichnung als Verfahrensoder Prozeßgrundrecht137 ausdrücken lasse. Art. 103 Abs. 1 GG findet sich wie auch Art. 101 GG im IX. Abschnitt des Grundgesetzes über die Rechtsprechung und wird in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannt. Daher wird in der Lehre auch hier eine exakte Einordnung in die Begrifflichkeit überwiegend als unnötig angesehen138. Bei Art. 103 Abs. 1 GG handelt es sich um ein subjektives Recht des einzelnen, angezeigt durch den Wortlaut „jedermann“.

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BVerfGE 55, 1 (6); 70, 180 (188); 107, 395 (408); vgl. auch BVerfGE 6, 12 (14); 9, 89 (96). 132 BVerfGE 7, 275 (278); 9, 89 (95); 19, 93 (99); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 209 (210: „Grundrecht auf rechtliches Gehör“); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), STV 2003, S. 223. 133 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW-RR 2004, 1150 (1151); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2004, S. 3; dort findet sich zudem auch auf S. 4 die Bezeichnung „Prozeßgrundrecht“. 134 BVerfGE 75, 192 (200); BVerfG, NJW 1982, 2173 (2174). 135 BVerfGE 50, 32 (35); 53, 205 (206); 53, 219 (222); 60, 247 (249); 61, 14 (17); 65, 305 (307); 89, 381 (382). 136 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 2, der jedoch weiter von Verfahrensgrundrechten spricht; vgl. auch Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 103 RN 1; Pieroth/Schlink (FN 8), S. 295 RN 1176. 137 So Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 2; unter RN 3c spricht er jedoch von „(Justiz)-Grundrecht“. 138 Vgl. etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 12: „[. . .] kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, gleichgültig, ob als Grundrecht [. . .]“.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip Art. 103 Abs. 1 GG ist eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit139 und konkretisiert das Rechtsstaatsprinzip140. Das Recht auf Gehör soll zum einen verhindern, daß der einzelne zum bloßen Objekt des Verfahrens wird und über ihn ohne eine Möglichkeit der Einflußnahme seinerseits verfügt werden kann. Insoweit findet es seine Verankerung im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, das objektive Verfahrenssicherungen erfordert141. Der Verfahrensbeteiligte soll in jedem Stadium des Verfahrens über ein gesichertes Repertoire an Beteiligungsrechten verfügen, die er notfalls gerichtlich geltend machen kann, wenn er eine objektive Verhandlungsführung nicht mehr gewährleistet und darin eine Verletzung dieser Rechte sieht. Für das Verwaltungsverfahren bildet § 28 VwVfG die einfachgesetzliche Ausprägung des Rechts auf rechtliches Gehör142. Die Anhörung bezweckt den Schutz der im Verfahren betroffenen Grundrechte und Verfassungsgrundsätze und verwirklicht damit die Zielsetzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Das Anhörungsrecht wird in jeder Verfahrensart als ein Kernerfordernis des Rechtsstaates angesehen und daher entweder unmittelbar aus diesem selbst, aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder der Menschenwürde abgeleitet143. Im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit werden schließlich gegenseitige Anhörungsrechte aus § 242 BGB hergeleitet. Der Bundesgerichtshof begründet dies mit dem „Gebot der natürlichen Gerechtigkeit“144. c) Bedeutung des Art. 6 EMRK Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt jedermann, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird145. Im deutschen Recht hat die EMRK den Rang eines Bundesgesetzes und eröffnet daher nur die Möglichkeit einer anpassenden Auslegung146, soweit 139 So BVerfGE 9, 89 (95); 39, 156 (168). Von einem charakteristischen Element der Rechtsstaatlichkeit spricht Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 91. 140 BVerfGE 89, 28 (35). Vgl. auch BVerfGE 107, 395 (409). 141 Christoph Degenhart, Gerichtsverfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 76 RN 13. 142 Vgl. BVerfGE 7, 278 f. Siehe dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., 2005, § 28 RN 3a; Friedrich Schoch, Heilung unterbliebener Anhörungen im Verwaltungsverfahren durch Widerspruchsverfahren?, NVwZ 1983, 249 (251 f.). 143 BVerfGE 101, 397 (404 f.). 144 BGHZ 29, 352 (355). 145 Zur umfangreichen Rechtsprechung des EGMR hierzu siehe Peukert, in: Frowein/ders., EMRK, Art. 6 RN 71 ff.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

nationales Verfahrensrecht hinter den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK zurückbleiben sollte147. 3. Inhalt des Art. 103 Abs. 1 GG a) Schutzrichtung Das Grundrecht auf rechtliches Gehör hat einen ausgeprägten Doppelcharakter, der sowohl eine objektiv-verfahrensrechtliche als auch eine subjektive Komponente beinhaltet148. Art. 103 Abs. 1 GG legt den Fokus zunächst auf die subjektive Stellung des Betroffenen, denn gerade seine Stellung im Verfahren soll geschützt werden. Dies geschieht durch die Gewährleistung von Beteiligungsrechten einerseits und dem Schutz vor Übereilung andererseits. Damit liegt der Schutzzweck des Art. 103 Abs. 1 GG primär auf dem prozessualen Freiheitsrecht und der Würde des einzelnen149. Daneben steht allerdings auch die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch die Gerichte150. b) Normgeprägter Schutzbereich Grundsätzlich findet der Anspruch auf rechtliches Gehör seine inhaltliche Ausgestaltung durch einfaches Gesetzesrecht. Soweit der Gesetzgeber keine 146 Anders noch z. B. Rudolf Echterhölter, Die Europäische Menschenrechtskonvention im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, JZ 1955, S. 689 (692); Ulrich Klug, Das Verhältnis zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Grundgesetz, in: Conrad/Jahrreiss/Mikat (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Hans Peters, 1967, S. 434 (441). 147 Siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 6. Trotz des Wortlautes „zivilrechtliche Ansprüche“ gelten die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfassend und damit sowohl vor den ordentlichen als auch den Verwaltungsgerichten, BVerwGE 110, 203 (213). Soweit die Anwendungsbereiche eine gemeinsame Schnittmenge haben, stimmten die Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 im wesentlichen überein, siehe Wolfgang Peukert, Verfahrensgarantien und Zivilprozeß (Art. 6 EMRK), RabelsZ 63, 1999, S. 600 (613). 148 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 RN 2 ff., der hier Gleichwertigkeit annimmt. Den Vorrang des subjektiv-rechtlichen Aspektes betont jedoch Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 5. 149 Vgl. Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 4. 150 BVerfGE 9, 89 (95). Die Formulierung „darüber hinaus“ läßt darauf schließen, daß das Bundesverfassungsgericht die Garantie des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs durch die Gerichte als Primärfunktion des Art. 103 Abs. 1 GG einordnet, zudem der Schutz des einzelnen hinzutritt. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 RN 3, ordnet beide Zwecke als gleichwertig ein.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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spezifischen Regelungen getroffen hat, gewährt Art. 103 Abs. 1 GG unmittelbar ein Minimum an Verfahrensbeteiligung151. Der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs ist in Art. 103 Abs. 1 GG damit festgelegt. Seine Einzelheiten sind jedoch der Ausgestaltung des einfachen Verfahrensrechts überantwortet152, das eine wirksame Ausübung des rechtlichen Gehörs ermöglichen muß. Sofern es dies nicht gewährleistet, ist eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 möglich153. c) Der Begriff des rechtlichen Gehörs Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beinhaltet das rechtliche Gehör die Möglichkeit des Betroffenen, sich vor Erlaß einer Entscheidung in tatsächlicher sowie rechtlicher Hinsicht äußern zu können154. Daran werden je nach konkreter Konstellation unterschiedliche qualitative Anforderungen gestellt. So muß das Gericht zum einen den Beteiligten die Gelegenheit geben, sich zu allen entscheidungsrelevanten Tatsachen zu äußern155, zum anderen muß das Gericht diese Äußerungen auch zur Kenntnis nehmen156. Diese Verfahrensweise setzt voraus, daß die Beteiligten über den Verfahrensgegenstand informiert werden. Das Recht auf rechtliches Gehör ist damit auf drei Stufen zu verwirklichen157: Zuerst muß der Betroffene über den verfahrensrelevanten Stoff informiert werden158, damit er sich auf der zweiten Stufe dazu äußern kann. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht dann auf der dritten Stufe, sich mit dem Vorgetragenen auseinanderzusetzen159. Auf jeder Stufe können verschiedene Einzelbereiche des Rechts auf rechtliches Gehör 151 Vgl. hierzu Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 10 ff.; BVerfGE 9, 89 (95 f.). 152 Ohne die Art und Weise in den Einzelheiten vorzuschreiben, vgl. BVerfGE 31, 364 (370); 69, 145 (148). 153 Z. B. BVerfGE 74, 228 (233 f.). 154 BVerfGE 69, 145 (148 f.). 155 St. Rspr. des BVerfG seit BVerfGE 1, 418 (429). 156 St. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 11, 218 (220); aus neuerer Zeit BVerfGE 86, 133 (145). 157 Siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 11; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 29 ff.; Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 1 RN 24 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 RN 66 ff. 158 Im einzelnen BVerfGE 55, 95 (99), über die Pflicht, die Äußerungen der Gegenseite bekannt zu machen; BVerfGE 15, 214 (218) verpflichtet das Gericht, die Parteien zu allen eingeführten Tatsachen und Beweismitteln zu hören; vgl. auch BVerfGE 89, 28 (35). Ausführlich Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 16 ff. 159 Daraus ergibt sich zum Beispiel der Anspruch auf ausreichende Begründung der gerichtlichen Entscheidung, siehe Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 28 ff.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

beeinträchtigt werden160. Durch die Rechtsprechung wurden die Anforderungen an eine Gewährung rechtlichen Gehörs innerhalb der einzelnen Stufen immer weiter ausdezidiert, so daß sich letztlich eine nahezu unüberschaubare Kasuistik herausgebildet hat161. d) Sachlicher Geltungsbereich: „vor Gericht“ Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG besteht vor jedem Gericht i. S. d. Art. 92 GG. Beschränkungen auf bestimmte Verfahrensarten bestehen nicht, so daß alle Gerichtsverfahren und Instanzen von Art. 103 Abs. 1 GG erfaßt sind. Dabei ist nach Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 1 GG nicht auf das Gerichtsverfahren als solches abzustellen, sondern auf das Tätigwerden eines Richters162. Damit sind sowohl das Verwaltungsverfahren als auch das Verfahren vor dem Rechtspfleger163 vom Geltungsbereich ausgenommen164. e) Anforderungen aus dem Recht auf rechtliches Gehör Nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Verfahrensrechts stellt jedoch zugleich eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör dar165. Ob ein Verfahrensfehler einen Verfassungsverstoß begründet, ist damit vom Einzelfall abhängig166 und erfordert die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts167. Ein Eingriff in die Schutzsphäre ist nur dann als „Nichtein160

Vgl. etwa BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), STV 2003, S. 223 (224). Vgl. Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 15 ff. Uneinheitlich beurteilt wird, ob die Konsultation eines Rechtsanwalts von Art. 103 Abs. 1 GG umfaßt ist, bejahend wohl Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 52; a. A. die st. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 38, 105 (118); 39 156 (168). Etwas anderes gilt jedoch im Strafprozeß. Dort wird aus dem Recht auf eine Verteidigung als rechtsstaatliches Postulat das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes abgeleitet, so BVerfGE 39, 156 (168). 162 So folgerichtig BVerfGE 9, 89 (97). 163 BVerfGE 101, 397 (404 f.). 164 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 8; Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 4 f.; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 17 ff. 165 Siehe insbesondere den Überblick über die bisherige Rechtsprechung bei BVerfGE 75, 302 (312 ff.). 166 Im einzelnen Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 14; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 29 ff. Siehe auch die einzelnen Kriterien der Rechtsprechung, z. B. BVerfGE 59, 330 (333 ff.); 74, 228 (233 f.). 167 BVerfGE 75, 302 (312 ff.). 161

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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griff“ zu qualifizieren, wenn das „Nicht-Gewähren“ des rechtlichen Gehörs für die Entscheidung unerheblich war und sie in genau derselben Art und Weise auch bei ordnungsgemäßer Durchführung der Anhörung ergangen wäre168. Denkbar ist zudem eine Heilung des Verstoßes, indem das zunächst unterlassene Gehör nachgeholt wird169. Ein Verstoß gegen den verfassungsmäßigen Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs führt in der Konsequenz also nur dann zur Aufhebung der Entscheidung, wenn diese auf dem Fehler beruht170. Dies ist dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Anhörung des Beteiligten zu einer anderen, ihm günstigeren Entscheidung geführt hätte171.

IV. Nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG) Das Gebot, ausschließlich Taten, deren Strafbarkeit zum Zeitpunkt der Tatbegehung bereits gesetzlich bestimmt war, strafrechtlich zu ahnden, findet sich in Deutschland sowohl auf Verfassungsebene in Art. 103 Abs. 2 GG als auch auf einfachgesetzlicher Ebene in § 1 StGB. 1. Historische Entwicklung a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes Die früheste deutschsprachige Kodifikation ist im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 zu finden. An dessen Gestaltung war unter anderen Feuerbach beteiligt172, der darin die Umsetzung seiner Theorie vom psychologischen Zwang173 sah. Die latinisierte Bezeichnung nullum crimen, nulla poena sine lege wurde auch von ihm erstmals in dieser Form in den deut168

St. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 89, 381 (392). Dies muß allerdings in derselben oder der Rechtsmittelinstanz geschehen, die Heilung in einem neuen gerichtlichen Verfahren ist nicht möglich, vgl. BVerfGE 42, 172 (175). 170 Vgl. nur BVerfGE 86, 133 (147); 89, 381 (392). 171 BVerfGE 7, 239 (241). Siehe auch BVerfGE 89, 381 (392). 172 Siehe hierzu Joachim Bohnert, Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1982, S. 8 ff. mit weiteren Nachweisen in FN 16, auch unter Hinweis auf Kant, dessen Terminologie Feuerbach teilweise übernimmt, wenn er formuliert, daß das Bestimmtheitserfordernis des Strafgesetzes kategorisch und in dieser Hinsicht ein Grundsatz sei. 173 Danach ist nur eine präzise Strafandrohung in der Lage, ein entsprechendes Gegengewicht zu Verbrechensanreizen zu liefern. Diese Theorie wird laut Schünemann heute überwiegend als „naives Produkt eines überholten Rationalismus“ bezeichnet, siehe Bernd Schünemann, Nulla poena sine lege? – Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht, 1978, S. 11. 169

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

schen Sprachraum eingeführt174. Das preußische Strafgesetzbuch von 1851 kopierte die Formulierung des Art. 4 Code Pénal von 1810, die in der weiteren Entwicklung Eingang in § 2 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) von 1871 fand175. Durch die Aufnahme in Art. 116 WRV bekam das Prinzip „nulla poena sine lege“ Verfassungsrang zuerkannt. Während des Nationalsozialismus war das auf liberalem Gedankengut beruhende Verbot einer Strafe ohne Gesetz außer Kraft gesetzt worden176: In § 2 des RStGB177 wurde die ursprüngliche Formulierung so abgeändert, daß eine Tat auch dann strafbar ist, wenn sie „nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient“178. Schünemann spricht in Zusammenhang mit dieser Lockerung der Gesetzesbindung von der „Rechtsstaatsfinsternis des Dritten Reiches“179. b) Der Weg in das Grundgesetz Mit dem Grundgesetz erhielt der Grundsatz in Anknüpfung an die Formulierung in Art. 116 Weimarer Reichsverfassung unter dem Eindruck der Erfahrungen des Dritten Reiches neuerlich Verfassungsrang. Der genaue Wortlaut war bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat kaum strittig. Auf Anregung von Löwenthal wurde lediglich das Wort „Strafe“ durch den Ausdruck „Strafbarkeit“ ersetzt. Dies sollte der Klarstellung dienen, daß nicht nur die Strafe, sondern gerade die Strafbarkeit einer Handlung an sich gesetzlich bestimmt sein muß180. Ferner wurde gegenüber Art. 136 Abs. 1 Herrenchiemseer Entwurf „Handlung“ durch „Tat“ ersetzt. 174 Johann Anselm Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, I. Teil, Erfurt 1799, S. 148. 175 Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, RGBl. 1871, S. 127, auch abgedruckt bei Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, Bd. 1, 1870–1933, 1999, S. 1 (2). 176 So heißt es in einer Abhandlung aus dem Jahre 1934: „Dieser Gegner (der nationalsozialistischen Strafrechtsreform, A. d. V.) ist, wie auf allen anderen Gebieten, der Geist der Aufklärung. Es wird die geschichtliche Aufgabe des Nationalsozialismus sein, das Denken der Aufklärung in allen Beziehungen, so auch im Strafrechtsdenken, zu überwinden“, so Henkel (FN 99), S. 11. Henkel illustriert die Entwicklung durch die Gegenüberstellung der Parolen der Aufklärung „Weg mit der richterlichen Willkür“ und der von nationalsozialistischem Gedankengut geprägten Parole „Befreiung des Strafrichters von seinen Fesseln“. 177 RGBl. 1935, Teil I, S. 839. 178 Siehe hierzu Gerhard Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 172 ff.; Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 2 RN 9 ff.; Hans-Ludwig Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 191 ff. 179 Schünemann (FN 173), S. 3. 180 JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 743.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung a) Wesen Art. 103 Abs. 2 GG gewährt zumindest ein subjektives grundrechtsgleiches Recht181, wird jedoch auch als Prozeßgrundrecht182 oder vom Bundesverfassungsgericht auch als Grundrecht183 bezeichnet. Insoweit kann auf das bereits zu Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 101 GG Gesagte verwiesen werden [s. o. B. II. 2. a)]. Allerdings sind die Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG im Gegensatz zu denen des Abs. 1, der vorrangig im gerichtlichen Verfahren zu erfüllen ist, zweigeteilt: Sie bestehen einerseits aus einem Regelungsauftrag an den Gesetzgeber und andererseits darin, Schranken für die strafaussprechenden Richter aufzustellen. b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip Feuerbach stellte den Gedanken der Bestimmtheit des Strafgesetzes nicht in den rechtsstaatlichen Kontext. Vielmehr war für ihn maßgeblich, daß ein unbestimmtes Strafgesetz seine Abschreckungsfunktion nicht erfüllen könne. Der nulla poena sine lege-Satz ist jedoch die Folge der Forderung nach Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns und als solche die unmittelbare Umsetzung des Rechtsstaates auf dem Gebiet des Strafrechts184. Denn die im Rechtsstaat maßgebliche Rechtssicherheit bemißt sich nach Bestimmtheit, Klarheit und Verläßlichkeit der Rechtsnormen185. Die vier Gewährleistungen des Art. 103 Abs. 2 GG haben die gemeinsame Grundlage, daß sie dem einzelnen die Möglichkeit geben, im Bereich des Strafrechts sein Verhalten eigenverantwortlich so auszurichten, daß eine Strafbarkeit vermieden werden kann. Hierbei werden der Gesetzesvorbehalt, das Bestimmtheitsgebot sowie das Rückwirkungsgebots als Elemente des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips186 für den Bereich des Strafrechts gesondert normiert187. Art. 103 Abs. 2 GG ist daher als Ausprägung des allgemeinen Rechtsstaatsgedankens auf dem Gebiet des Strafrechts anzusehen188. 181

Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 RN 191; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 14; vgl. auch BVerfGE 105, 135 (im Tenor). 182 Vgl. Stern, Staatsrecht III/1, S. 1465 ff. 183 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2005, S. 74 (75). 184 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 14. 185 Wassermann, in: AK-GG, Art. 103 RN 44. 186 Vgl. BVerfGE 7, 89 (92). 187 BVerfGE 109, 133 (167 f.).

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

3. Inhalt des Art. 103 Abs. 2 GG a) Schutzrichtung Art. 103 Abs. 2 GG faßt auf Verfassungsebene verschiedene Einzelelemente einer rechtsstaatlichen Strafausübung durch den Staat zusammen. Sein Normzweck ist dabei die Gewährleistung eines erhöhten rechtsstaatlichen Schutzes gegenüber spezifisch strafrechtlichen Maßnahmen, mit denen der Staat auf schuldhaftes Unrecht antwortet189. Der einzelne Bürger soll, da er der Strafgewalt des Staates unterworfen ist, in der Lage sein zu erkennen, welche Handlungen mit Strafe bedroht sind und welche nicht190. Willkürliche Inhaftierung und Straftbestimmung werden ausgeschlossen191. Insoweit gewährt Art. 103 Abs. 2 GG einen Anspruch des einzelnen gegen den Staat, nicht bestraft zu werden, wenn zum Zeitpunkt der Tat diese nicht in einem Gesetz für strafbar erklärt war192. Daneben garantiert diese Bestimmung eine besondere Struktur der staatlichen Strafrechtsordnung193, indem sie Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips für die Ausübung der Strafgewalt vornimmt194. Art. 103 Abs. 2 GG kommt somit hauptsächlich abwehrrechtlicher Charakter zu. Denn dem Staat wird es untersagt, den Bürger ohne vorherige gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit zu belangen. Damit hat Art. 103 Abs. 2 GG freiheitsgewährleistende Funktion195 und bindet die Ausübung staatlicher Strafgewalt an grundlegende rechtsstaatliche Erfordernisse196. Leistungsrechtliche Elemente, wie sie sich bei Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 101 GG finden, weist Art. 103 Abs. 2 GG aber nicht auf197. 188 Siehe speziell zur Verwurzelung im Rechtsstaatsprinzip BVerfGE 7, 89 (92); 47, 109 (120); 78, 374 (382). Aus der Literatur ausführlich Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 RN 166 ff. 189 BVerfGE 109, 133 (167). 190 Vgl. BVerfGE 95, 96 (131); 109, 133 (171). 191 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 55. 192 BVerfGE 95, 96 (131). 193 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 15. 194 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 RN 190. 195 BVerfGE 109, 190 (217). 196 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 54; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 RN 191; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 14. 197 Siehe Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 RN 191; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 14, der jedoch den Charakter als Prozeßgrundrecht zuerkennt, „soweit“ formelle Rechtssicherung bei strafrechtlicher Verfolgung angesprochen wird. Schulze-Fielitz spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Grundrecht (H. d. V.), das Ausübung aller staatlichen Strafgewalt auf elementare rechtsstaatliche Grundsätze festlegt“.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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b) Der Gesetzesbegriff des Art. 103 Abs. 2 GG Art. 103 Abs. 2 GG lautet: „(. . .) wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war.“ Damit schreibt das Grundgesetz zunächst eine spezielle Rechtsquelle für die Strafvorschrift vor198: Die Strafbarkeit eines Verhaltens und die Art der Strafe199 muß gesetzlich, d.h. in einem Parlamentsgesetz geregelt sein200. Verordnungen oder andere Rechtsquellen sind generell nicht ausreichend, um eine Handlung als strafbar zu begründen. Hier zeigt sich die Bedeutung des dem Art. 103 Abs. 2 GG zugrunde liegenden Gesetzesbegriffs201. Ohne eine nähere Bestimmung dieses zentralen Begriffes ist eine rechtsvergleichende Analyse nicht möglich, da er die Anforderungen an die Qualität der Rechtsquelle klarstellt202. Grundsätzlich ist der Begriff des Gesetzes wandelbar und auf der Entwicklung der Verfassungswirklichkeit unterworfen203. c) Einzelne Elemente des Art. 103 Abs. 2 GG Der Garantiegehalt des nulla poena sine lege-Gebotes umfaßt vier Einzelelemente. Es handelt sich hierbei um das Bestimmtheitsgebot, das Rückwirkungsgebot, das Verbot einer Bestrafung aufgrund Gewohnheitsrechts sowie das Analogieverbot. Jedes der vier Einzelelemente oszilliert um den Begriff des Gesetzes in Art. 103 Abs. 2 GG.

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Der Gesetzesvorbehalt erfordert jedoch nicht, daß alle Einzelheiten im Gesetz umfassend geregelt sein müssen. Es ist somit zulässig, in Blankettstrafgesetzen auch auf andere Rechtsakte zu verweisen; hierzu besteht eine umfassende Rechtsprechung des BVerfG; zuletzt BVerfGE 87, 399 (407), vgl. auch hierzu Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 27 und m. w. N. in FN 105; Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 RN 183. 199 Die Väter des Grundgesetzes waren sich darüber einig, daß auch die Strafandrohung gesetzlich bestimmt sein muß, vgl. JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 743. 200 Vgl. BVerfGE 75, 329 (342); 87, 399 (411); nicht ganz deutlich Hill (FN 88), RN 59. 201 Ausführlich speziell zum Gesetzesbegriff des Art. 103 Abs. 2 GG, Georg Bopp, Die Entwicklung des Gesetzesbegriffs im Sinne des Grundrechts „nulla poena, nullum crimen sine lege“, 1966. 202 Zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Gesetz“, siehe Max Wenzel, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: VVDStRl 4, 1928, S. 136 (154 ff.). 203 Feuerbach hatte insbesondere in seinem Hauptwerk „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts“ von 1799 die Auffassung vertreten, daß ohne eine Bestimmtheit in Tatbestand und Rechtsfolge ein Strafgesetz gar nicht Gesetz genannt werden könne. Hierzu kritisch Bohnert (FN 172), S. 7 f.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

aa) Bestimmtheitsgebot Das Grundgesetz stellt nicht nur besondere Forderungen an die Rechtsquelle an sich, sondern auch an deren Inhalt, der hinreichend bestimmt sein muß. Bei dieser Voraussetzung handelt es sich nach allgemeiner Ansicht um eine Verschärfung des allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebotes204. Sie umfaßt die Strafbarkeit, den Tatbestand und die Strafandrohung. Der Gebrauch unbestimmter Rechtsbegriffe oder auszulegender Generalklauseln ist dem Gesetzgeber danach zwar nicht verwehrt, erforderlich ist aber, daß der Gesetzgeber feste Determinanten zu ihrer Konkretisierung vorgibt205. Fraglich bleibt dennoch, wie die Grenze zwischen hinreichend bestimmten und unbestimmten Strafgesetzen zu ziehen ist. Der Gesetzgeber hat hier die Pflicht, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß sich Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung zu ermitteln sind“206. Zum einen soll dadurch für jeden erkennbar sein, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist207. Zum anderen soll gewährleistet werden, daß der Gesetzgeber und nicht die Gerichte über Strafbarkeit eines Verhaltens entscheiden208. Letztendlich ist der Grad der Bestimmtheit auch an dem Gebot der Rechtssicherheit zu messen. Sowohl Erkennbarkeit als auch Vorhersehbarkeit würden parodiert, wenn die einzelnen Rechtsbegriffe der Norm nur mit dazu ergangener widersprüchlicher Rechtsprechung verstanden werden könnten209. Das Bestimmtheitsgebot erfordert in jedem Einzel204 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 67; Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 27; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 34. 205 Siehe im einzelnen BVerfGE 105, 135 (153 ff.). Mit Beispielen zu unbestimmten Rechtsbegriffen, die für verfassungsgemäß erachtet wurden, wie etwa „grober Unfug“, siehe Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 GG RN 36 f. 206 BVerfGE 105, 135 (152 f.). Hierbei ließe sich die Frage stellen, ob nicht auch jeder Form der Auslegung ein rechtsschöpferisches Element zukommt, das im Rahmen der strafbegründenden Gesetze gerade vermieden werden soll. 207 Für Schünemann (FN 173), S. 16, liegt in dem Aspekt der subjektiven Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts der Ansatzpunkt für das BVerfG zur Legitimation für die Aushöhlung des Bestimmtheitsgebots. Er bezeichnet das Bestimmtheitsgebot auch als „Tiefpunkt des nulla poena sine lege-Satzes“ (S. 6). 208 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 67; Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 29; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 33. 209 In diesem Sinne kritisch auch Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 29. Kunig kritisiert weiter den Ansatz des BVerfG, einen Zusammenhang zu sehen zwischen dem geforderten Grad der Bestimmtheit und der Schwere der Tat. Kunig ist insoweit zuzustimmen, als Art. 103 Abs. 2 GG keinen Hinweis darauf enthält, daß bei weniger schweren Taten weniger gesetzgeberische Präzision gefordert ist. Vielmehr sollte der Gesetzgeber in jedem Fall mit der maximalen Klarheit ein Strafgesetz verfassen.

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fall eine Prüfung, ob der Gesetzgeber seiner Aufgabe nach hinreichender Konkretisierung nachgekommen ist. Bislang wurden durch das Bundesverfassungsgericht erst wenige Normen wegen mangelnder Bestimmtheit für verfassungswidrig erklärt210. bb) Rückwirkungsverbot (1) Anforderungen an den Gesetzgeber Das Rückwirkungsverbot geht aus der Formulierung hervor „(. . .) bevor die Tat begangen wurde (. . .).“ Es beruht ideengeschichtlich auf dem in der Aufklärung entwickelten rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff, der Gesetze als Regelung einer unbestimmten Vielzahl von Fällen versteht. Damit wird zum einen geregelt, daß niemand aufgrund eines Gesetzes bestraft werden darf, das zum Zeitpunkt der Tat noch nicht in Kraft war, und zum anderen ist eine schärfere Bestrafung als die zur Tatzeit vorgesehene ausgeschlossen211. Es handelt sich um ein absolutes Rückwirkungsverbot für den Gesetzgeber, das keiner Abwägung zugänglich ist212. Erfaßt werden Straftatbestand und Straffolgen, nicht aber das Strafverfahrensrecht213 und die Strafverfolgungsvoraussetzungen214. Allgemein darf die Bewertung der Tat nicht nachträglich zum Nachteil des Täters geändert werden, so daß auch der nachträgliche Wegfall von Rechtfertigungsgründen umfaßt ist215.

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Hierzu und m. w. N. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 GG RN 38. 211 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 71; Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 32; siehe auch BVerfGE 109, 133 (168), zur Entstehungsgeschichte. 212 Problematisch ist der Konflikt zwischen rechtsstaatlichem Rückwirkungsverbot einerseits und dem rechtsstaatlichen Erfordernis materieller Gerechtigkeit andererseits. Dieser Konflikt tritt auf, wenn aufgrund des Rückwirkungsverbotes Verstöße gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit nicht geahndet werden dürfen, vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 71, insbesondere zu den Anwendungsfällen der Beurteilung nationalsozialistischen Unrechts und der DDR Kriminalität, RN 756 ff.; ablehnend zu einer Durchbrechung des Art. 103 Abs. 2 GG SchulzeFielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 43 f. 213 BVerfGE 24, 33 (55). 214 Als Beispiel seien die Verjährungsvorschriften genannt. Kritisch zur Verlängerung der Verjährungsfristen für die unter dem Regime der Nationalsozialisten begangenen Morde vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG, vgl. Schünemann (FN 173). S. 25. 215 Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 71; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 42.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

(2) Das Problem rückwirkender Änderung der Rechtsprechung Das Rückwirkungsverbot galt nach h. M. lange nicht für rückwirkende – auch höchstrichterliche – Rechtsprechungsänderungen216. An dieser Auffassung ist vielfach Kritik geübt und eine Differenzierung nach den Änderungsgründen gefordert worden217. Für diese Forderung spricht die hohe Bedeutung gesetzesergänzenden Richterrechts218. Das Bundesverfassungsgericht schlägt für die Differenzierung eine Unterscheidung danach vor, ob die Änderung der Rechtsprechung auf einer Veränderung der Tatsachenbasis beruhe oder ob sie das strafrechtliche Unwerturteil als solches modifiziere219. Im letzteren Fall soll Art. 103 Abs. 2 GG einschlägig sein. Ob diese Differenzierung angesichts der Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG angemessen ist, erscheint zweifelhaft. Zwar ist eine derartige Unterscheidung logische Konsequenz aus der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, daß das Vorhandensein einer feststehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung eine unbestimmte Strafvorschrift als hinreichend bestimmt erscheinen lassen könne. Allerdings erscheint eine Trennung von Feststellung und Bewertung der Tatsachenbasis kaum praktikabel. In Fortführung dieser Ansätze wäre der Richter als „Ersatzgesetzgeber“220 nicht mehr undenkbar. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist eine spezielle Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, so daß dessen Auslegung und Anwendung auch im Lichte des Rechtsstaatsgebotes des Grundgesetzes zu sehen ist. Insoweit kann eine völlige Freistellung der Rechtsprechung vom Verbot der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung nicht befürwortet werden. cc) Verbot der Bestrafung aufgrund Gewohnheitsrechts Nach den rechtsstaatlichen Grundsätzen des allgemeinen Gesetzesvorbehalts ist eine gewohnheitsrechtliche Eingriffsgrundlage in Rechtspositionen des Bürgers ausgeschlossen. Um so mehr muß dies für strafbegründendes Gewohnheitsrecht gelten. Das Verbot einer Bestrafung aufgrund Gewohnheitsrechts soll zum einen garantieren, daß nur aufgrund eines formellen Gesetzes ein Eingriff möglich ist. Zum anderen realisiert es generalpräventive Ziele, denn ein gewohnheitsrechtliches Verbot ist weniger als bekannt bei den Bür216 Vgl. statt aller Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 RN 44, und die dortigen Nachweise. 217 So Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 103 RN 53; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 RN 239 ff. 218 Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 73. 219 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1990, S. 3140. 220 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 73.

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gern vorauszusetzen als ein gesetzlich verbrieftes Verbot. Das Verbot bezieht sich jedoch nur auf das materielle Strafrecht und folgt aus der grundgesetzlich formulierten Anforderung „gesetzlich bestimmt“. Damit sind gewohnheitsrechtliche Einflüsse im Strafrecht insoweit ausgeschlossen, wie sie zu einer Begründung strafbaren Verhaltens führen oder strafschärfend wirken221. dd) Analogieverbot Jede Form der strafbegründenden oder strafverschärfenden Analogie ist durch Art. 103 Abs. 2 GG untersagt. Somit kann bei der Anwendung eines Gesetzes gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen werden, selbst wenn dieses den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes genügt. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer analogen Anwendung ist unabhängig von diesen Erwägungen das Bestehen einer Gesetzeslücke. Jedoch bestimmt Art. 103 Abs. 2 GG, daß die Strafgesetze eine abschließende Regelung darstellen und nicht analogiefähig sind. Zwar wird damit die Auslegung der jeweiligen Normen nicht untersagt, das Erfordernis der Bestimmtheit ist jedoch auch bei der Auslegung des Straftatbestandes zu beachten. Diese muß sich am Wortlaut orientieren und darf nicht in eine „unzulässig übertrieben extensive Interpretation“222 münden223. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 103 Abs. 2 GG nicht vor sachlich mißglückten Strafbestimmungen; sie besagt vielmehr, daß die Entscheidungen des Gesetzgebers hinzunehmen sind224. In solchen Fällen muß es der Richter hinnehmen, wenn die Auslegung einer Norm zu unbefriedigenden Ergebnissen führt;225 „denn jede Auslegung, die über den Wortsinn hinausgeht, ist in diesem Sinne unzulässig“226. Maßgeblicher Grundsatz für die Auslegung ist, daß sich die Tatbestandsauslegung nicht völlig vom allgemeinen Sprachgebrauch löst227, sondern für den Bürger – als Adressat der Norm – erkennbar bleibt. Insoweit wirkt Art. 103 Abs. 2 GG auch als ein Willkürverbot für die Strafgerichtsbarkeit228. 221 Vor diesem Hintergrund kritisch zur Garantenstellung aus Ingerenz und etwa der subjektiven Teilnahmetheorie, Schünemann (FN 173), S. 23 ff. 222 Winfried Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 162 ff. 223 Nicht ausgeschlossen ist hingegen die gewohntheits- bzw. richterrechtliche Geltung von Strafbarkeit ausschließenden Rechtfertigungsgründen bzw. Schuldoder Strafausschließungsgründen, BVerfGE 95, 96 (132). 224 BVerfGE 47, 109 (124 f.); 71, 108 (116). 225 Vgl. hierzu auch Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 70; Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 26. 226 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 70. 227 BVerfGE 73, 206 (244 f.), Sondervotum. 228 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 70, mit Beispielen.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

V. Ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) Das strafrechtliche Verfahrensrecht ne bis in idem findet seinen Platz in Art. 103 Abs. 3 GG und damit im Anschluß an das Prinzip nulla poena sine lege. Art. 103 Abs. 3 GG bestimmt, daß niemand wegen derselben Tat zweimal verurteilt werden darf. In Deutschland hat dieser alte Grundsatz des Verbots einer Doppelbestrafung im Laufe seiner Entwicklung unterschiedliche Verwirklichungsstufen durchlebt229. 1. Historische Entwicklung a) Entwicklung bis zur Entstehung des Grundgesetzes Überwiegend wird die Herkunft des Prinzips ne bis in idem auf das römische Recht230 zurückgeführt231, sein genauer terminologischer Ursprung ist allerdings noch ungeklärt232. Im deutschen Recht des 14. und 15. Jahrhunderts war dem Grunde nach die endgültige und den Prozeß beendende Wirkung des Urteils anerkannt233. Im Zuge der Inquisition ging dann zumindest auf dem Kontinent die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem verloren und wurde abgelöst durch den Grundsatz absolutio ab instantia234. Das Wesen dieses Grundsatzes bestand im wesentlichen in der „Perpetuierung des Anschuldigungszustandes“235. Dies bedeutet, daß die Untersuchung abge229

Hinrich Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1991, § 8, S. 77. In der Ausprägung des Corpus Iuris Justinians, hierzu Giesbert Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes „ne bis in idem“ im Strafprozeß, Zürich 1970, S. 14 ff.; allerdings wurden damals auch Ausnahmen anerkannt, abgesehen von diesen waren die Entscheidungen jedoch endgültig. 231 Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 3 RN 1 f.; W. Sellert, Ne bis in idem, in: HRG III, Spalte 940 ff., geht überwiegend auf die Rezeption des römischen Rechts durch die Kanonistik ein; hierzu auch Peter Landau, Ursprünge und Entwicklung des Verbotes doppelter Strafverfolgung wegen desselben Verbrechens in der Geschichte des kanonischen Rechts, SavZRG (kan. Abt. 56) 87 (1970), 124 (138 ff. sowie auf den Sachsenspiegel zurück (I, 53 Nr. 4). Siehe dazu Friedrich-Christian Schroeder, Die Rechtsnatur des Grundsatzes „ne bis in idem“, JuS 1997, S. 227 (228). 232 Vgl. Schroeder (FN 231), S. 228. 233 Siehe das Weistum von Liestal 1411 (Elsaß) und das Weistum des Jungholz Dinghofs zu Münster 1498 (Elsaß), abgedruckt bei, Jacob Grimm, Weisthümer, 1840–1878, 4. Bd., S. 470 und S. 194. 234 Die Instanzenentbindung ermöglichte als Ausdruck richterlichen Zweifels über die Schuldfrage des Angeklagten ein neues Verfahren. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde dieser Grundsatz praktiziert, vgl. Schwarplies (FN 230), S. 22 ff., 49 ff. 235 Schwarplies (FN 230), S. 54, zu den unterschiedlichen Meinungen zur Frage der rechtlichen Natur der „absolutio ab instantia“, S. 53 ff. 230

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schlossen und der Angeklagte freigelassen wurde, ohne daß eine abschließende Entscheidung über die Schuldfrage getroffen wurde. Damit wurde gezeigt, daß die vorhandenen Beweise für eine Verurteilung zwar nicht ausreichen, gleichwohl ein Tatverdacht gegen den Angeklagten weiter bestehen blieb. Sowohl dem älteren deutschen Recht als auch dem kanonischen Recht war dieses Rechtsinstitut unbekannt. Es war das Inquisitionsverfahren, das die Grundsätze des Anklageprozesses zunehmend verdrängte und somit immer mehr Elemente des inquisitorischen Verfahrens in den Strafprozeß einfließen ließ. Letztendlich mündete diese Entwicklung in der völligen Aufhebung des Grundsatzes ne bis in idem236 und prägte sowohl Fortbestand als auch weitere Entwicklung des Verbots der Doppelbestrafung. Unter dem Einfluß der Aufklärungsbewegung Ende des 18. Jahrhunderts wandte man sich gegen die lange Dauer und die drohende Wiederaufnahme der Prozesse und trat dafür ein, daß Urteile ab einem bestimmten Zeitpunkt unabänderlich werden. Mit der Herausbildung des Schutzbedürfnisses des einzelnen gegenüber der staatlichen Strafgewalt seit der Aufklärung237 fand der Grundsatz ne bis in idem neuen Nährboden. Der Gedanke der Sicherheit des einzelnen vor staatlichen Eingriffen führte zu einem wachsenden Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das in völligem Gegensatz zu den Prinzipien des Inquisitionsprozesses stand. Die Freiheit des einzelnen sollte nunmehr durch bestimmte, in einem Gesetz niedergelegte Prozeßformen gewahrt werden. Der Gedanke der Rechtskraftlehre fand seine Anerkennung damit letztlich aufgrund der verstärkten Forderung nach Rechtssicherheit. Ferner kam die Vermutung der Unschuld des Verdächtigen als eine der bedeutendsten Ideen der Aufklärung hinzu. Die Wiederentdeckung des Grundsatzes ne bis in idem fällt damit in eine Zeit, die den Strafprozeß als „Magna Charta des Individuums“238 verstand. b) Der Weg in das Grundgesetz Bis 1946 fand sich der Grundsatz ne bis in idem in keiner deutschen Verfassungsurkunde niedergelegt239. Erst durch Art. 103 Abs. 3 GG hat das 236

Vgl. Schwarplies (FN 230), S. 22 f. Der Gedanke der Aufklärung beruht auf dem Staatsvertrag zwischen dem einzelnen und der Obrigkeit mit dem Ziel, daß jeder nur soviel Freiheit opfern muß, wie dies für ein geordnetes Zusammenleben erforderlich ist. 238 Ernst Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht mit Einschluß des Strafgerichtsverfassungsrechts, Berlin 1928, S. 28. 239 Das badische Strafedikt von 1803 war damals die einzige Kodifikation in Deutschland, die eine Lossprechung von der Instanz nicht mehr zuließ, siehe Schwarplies (FN 230), S. 51; zu den Einzelheiten der Partikulargesetzgebung siehe Horst Rheingans, Die Ausbildung der strafprozessualen Rechtskraftlehre von der 237

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

Verbot der Doppelbestrafung Verfassungsrang erhalten. Allerdings haben sowohl Rechtsprechung als auch Wissenschaft dieses Grundprinzip seit Ende des 19. Jahrhunderts wieder anerkannt240. Schon in frühester Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde dem Angeklagten durch Anerkennung des ne bis in idem ein materielles Schutzrecht verliehen241. Nachdem im Nationalsozialismus dieser Grundsatz weitgehend aufgegeben wurde, da er die Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie verhinderte, bestand im Parlamentarischen Rat überwiegend Einigkeit über die Aufnahme in das Grundgesetz242. Der Grundsatz ne bis in idem war bereits in einigen Nachkriegsverfassungen der Länder verankert243, so daß diesen Vorschriften für die verfassungsrechtliche Garantie des Grundsatzes im Grundgesetz eine Vorbildfunktion zukam244. Über den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hielt das Verbot der Doppelbestrafung dann letztendlich Einzug in die neue Verfassung. Allerdings wäre die Aufnahme in das Grundgesetz in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates fast an den Differenzen über die genaue sprachliche Ausgestaltung gescheitert245. Der Rechtspflegeausschuß war der Überzeugung, daß nur die Aufnahme in die neue Verfassung die Möglichkeit einer dauernden Sicherung des Grundsatzes ne bis in idem darstellt246. Aufklärung bis zur Reichsstrafprozeßordnung von 1877, 1937, S. 95 ff. Erst als in der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 der Anklageprozeß verkündet wurde, war die Entscheidung gegen die Instanzenentbindung einheitlich gefallen. Dies war nach langer Zeit erstmals wieder ein Ausdruck für ein geändertes Bild des Strafverfahrens. Zur Weiterentwicklung nach 1848 siehe Rheingans, ebenda, S. 94 ff. 240 RGSt 2, 347 (348); 8, 135 (137); sowie für die Wissenschaft vgl. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, Einleitung Abschn. J RN 85. In der Strafprozeßordnung des Reiches von 1877 fand der Grundsatz „ne bis in idem“ keinen Niederschlag. 241 RGSt 35, 367, 369 f.; vgl. auch 41, 152, 153. 242 Der Redaktionsausschuß war gegen eine Aufnahme in das Grundgesetz, da er Meinungsverschiedenheiten über die parallele Anwendung von Disziplinarrecht neben Strafrecht verhindern wollte, Klaus-Berto v. Doemming, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Abschnitt IX: Die Rechtsprechung, JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 741 ff. 243 Vgl. Art. 104 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung, abgedruckt in: Karl Schultes, Die süddeutschen Länderverfassungen, 1948, S. 65 (83); Art. 22 Abs. 3 der Hessischen Verfassung, abgedruckt ebenda, S. 99 (102); Art. 4 Abs. 3 der Verfassung Württemberg-Badens, abgedruckt ebenda, S. 127 (128); Art. 17 Abs. 3 der Verfassung Württemberg-Hohenzollerns, abgedruckt ebenda, S. 149 (151). 244 Zu den Bedenken des Allg. Redaktionsausschusses JöR n. F. Bd. 1, 1951, S. 742. 245 Siehe JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 743 f. 246 Parlamentarischer Rat, Achte Sitzung des Rechtspflegeausschusses vom 7. Dezember 1948, Stenographisches Protokoll, S. 31 ff., 44.

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In den anschließenden Beratungen im Hauptausschuß setzte sich diese Ansicht mit dem Ergebnis durch, daß die Regel in der Form „Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“ in die neue Verfassung aufgenommen wurde.247 2. Verortung in der deutschen Rechtsordnung a) Wesen Art. 103 Abs. 3 GG ist sowohl subjektives Abwehrrecht des einzelnen248 als auch eine objektive Verfahrensnorm, soweit die Gestaltung des Strafverfahrens betroffen ist. Darauf weist zum einen die Formulierung des Art. 103 Abs. 3 GG „niemand“, die auf den einzelnen abstellt, zum anderen seine Stellung unter den „Justizgrundrechten“249 hin. Die Bezeichnung als Prozeßgrundrecht scheint in der Literatur zu überwiegen250. Teilweise wird es als ein „grundrechtsgleiches Recht in Gestalt eines Prozessgrundrechts“ erkannt251. Wie auch schon bei den anderen Verfahrensrechten des IX. Abschnitts zeigt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein einheitliches Bild252. Wie Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zeigt, ist unabhängig von seiner genauen Bezeichnung auch eine Verletzung des Art. 103 Abs. 3 GG verfassungsbeschwerdefähig.

247 Parlamentarischer Rat, 25. Sitzung des Hauptausschusses vom 25. Dezember 1948, Stenographisches Protokoll, S. 297 Drs. 340 (Erste Lesung); 38. Sitzung des Hauptausschusses vom 20. Januar 1949, Stenographisches Protokoll, S. 481 Drs. 535 (Zweite Lesung);. 50. Sitzung des Hauptausschusses vom 10. Februrar 1949, Stenographisches Protokoll, S. 669, Drs. 679 (Dritte Lesung). 248 Siehe Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 36. 249 So Rüping, in: BK-GG, Art. 103 RN 15, der im folgenden von einem „subjektiven Grundrecht“ und der „Doppelnatur als Grundrecht (H. d. V.) und als Verfahrenssatz“ spricht. 250 Kunig, in: v. Münch/ders., GG III, Art. 103 RN 35; Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 103 RN 56, der jedoch unter Bezugnahme auf BVerfGE 56, 22 (32), auch von einem grundrechtsgleichen Recht spricht, entsprechend Pieroth/Schlink (FN 8), S. 302 RN 1205; Sachs (FN 18), S. 523 RN 22. 251 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 3 RN 14. Für eine Bezeichnung als „grundrechtsgleich“ auch BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), VIZ 2002, S. 169. 252 Für Prozeßgrundrecht siehe etwa BVerfGE 56, 22 (32) wo es heißt: „(. . .) in den Rang eines Prozeßgrundrechts erhoben.“; siehe auch BVerfGE 3, 248 (252): „(. . .) dem überlieferten Rechtssatz [sollte] wegen seines grundrechtsähnlichen Charakters in dem Grundgesetz Ausdruck verliehen werden.“; Hill (FN 88), RN 68.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

b) Verhältnis zum Rechtsstaatsprinzip Die besondere Beziehung zwischen Strafprozeßrecht und Verfassungsrecht ist von jeher eine Facette einer rechtsstaatlich geprägten Ordnung253. Entsprechend kann Art. 103 Abs. 3 GG als Ausdruck einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege bezeichnet werden254. Einerseits unterwirft sich der Bürger der staatlichen Strafgewalt, dafür hat der Staat andererseits die Pflicht, die rechtsstaatlichen Mindestgarantien eines solchen Verfahrens zu gewährleisten. Dazu gehört insbesondere der Schutz der Würde des einzelnen. Daher ist der Strafanspruch des Staates in dem Moment verbraucht, in dem die Tat durch ein Urteil beschieden wurde255. In der Literatur überwiegend als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips charakterisiert und dem rechtsstaatlichen Element der Rechtssicherheit zugeordnet, erscheint Art. 103 Abs. 3 GG als notwendige Folge der Anerkennung der Rechtskraft eines Strafurteils. Die Begriffspaare „rechtsstaatliche Strafrechtspflege“ sowie „rechtsstaatliche Kernelemente“ werden häufig verwendet, um dem Gewährleistungsgehalt des Rechtsstaatsprinzips verfahrensrechtliche Gebote zuzuordnen. In der Regel handelt es sich dabei um Untergruppen bzw. Ausflüsse einzelner traditioneller Rechtsstaatselemente. Insoweit wird das Verbot der Doppelbestrafung überwiegend zwischen den Elementen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit angesiedelt256. Schmidt-Aßmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „charakteristischen Verschränkung rechtsstaatlicher Systemgedanken“257. c) Gemeinsamkeiten der strafrechtlichen Verfahrensrechte des Art. 103 Abs. 2 und Abs. 3 GG Bei beiden Garantien handelt es sich unbestritten um Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, die in Bezug auf die Besonderheiten des Strafrechts verdichtet wurden258. Beide Garantien betreffen die spezifische Situation, daß der Staat von seinem staatlichen Strafanspruch Gebrauch macht und le253 Claus Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., 1998, S. 9 ff. RN 1 ff.; Hinrich Rüping/Günter Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl., 2002, S. 94 ff. RN 234 ff.; Klaus Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 1 ff. 254 In diesem Sinne Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 RN 258 ff. 255 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 RN 258 f. 256 Hill (FN 88), RN 68. 257 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 RN 260. 258 Vgl. Ivo Appel, Grundrechtsgleiche Rechte, Prozeßgrundrechte oder Schranken-Schranken?, Zur grundrechtsdogmatischen Einordnung von Art. 103 Abs. 2 und 3 GG, JURA 2000, S. 571.

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gen zwingende Ordnungsprinzipien fest, an die er sich bei Ausübung dieses Strafanspruchs halten muß. Dabei haben sich allgemeine rechtsstaatliche prozessuale Sicherungen (allgemeiner Bestimmtheitsgrundsatz, Rückwirkungsverbot sowie strafrechtsspezifische Konkretisierung von Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit259) für die Anwendung staatlichen Strafrechts in Art. 103 Abs. 2 und 3 GG als besondere Anforderungen an ein rechtsstaatliches Strafverfahren konkretisiert260. 3. Inhalt des Art. 103 Abs. 3 GG Zu einer inhaltlichen Bestimmung des Grundsatzes ne bis in idem ist die jeweilige nationale Konzeption des Strafklageverbrauchs zu berücksichtigen. Das Verbot der Doppelbestrafung ergibt sich auch als logische Folge aus diesem Institut. Dieses Prinzip ist insoweit auch Bestandteil der ne bis in idem-Maxime. Da es aber immer auch ein inhärenter Bestandteil des Prinzips selbst ist, ist es stets im Lichte des Art. 103 Abs. 3 GG auszulegen. a) Schutzrichtung Das Strafrecht als eine Materie, die in besonders einschneidender Weise in die Freiheit des einzelnen eingreift, muß in einem rechtsstaatlich geprägten System durch die Verfassung begrenzt und gesteuert werden261. In diesem Sinne zeigt Art. 103 Abs. 3 GG der staatlichen Strafverfolgung Grenzen und die Trennlinie zur Abgrenzung des Interesses der Allgemeinheit an der Strafverfolgung und dem Schutz des einzelnen auf. Er untersagt eine nochmalige Verurteilung und dient damit dem Schutz der Freiheit vor staatlicher Willkür.

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Vgl. Appel (FN 258), S. 571. Die Übertragung der grundrechtsdogmatischen Kategorien auf die Art. 103 Abs. 2 und Abs. 3 wird teilweise kritisch gesehen, vgl. Appel (FN 258), S. 575. Er weist darauf hin, daß der Begriff des Prozeßgrundrechts die eigentliche Wirkung von Art. 103 Abs. 2 und 3 nicht erfasse. Dies manifestiere sich u. a. darin, daß den Art. 103 Abs. 2 und 3 GG die bei anderen Prozeßgrundrechten wie dem gesetzlichen Richter und dem rechtlichen Gehör üblichen leistungsrechtlichen Elemente fehlten. Als zusätzliches Argument führt er die enge Verknüpfung der beiden Garantien mit den allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien an, die grundrechtsdogmatisch als Schranken-Schranke zu prüfen seien, deren spezielle Konkretisierungen in Art. 103 Abs. 2 und 3 GG jedoch als grundrechtsgleiche Rechte eingestuft würden. 261 Walter Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann/Nipperdey/ Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 909 (966 ff.). 260

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

b) Normgeprägter Schutzbereich Der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG ist normgeprägt und findet seine inhaltliche Ausgestaltung insofern hauptsächlich durch die Regeln des Strafprozeßrechts. Da er bereits lange vor seinem Einzug ins Grundgesetz im einfachen Strafverfahrensrecht verankert war, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von einfachen Verfahrensrecht und der verfassungsrechtlichen Garantie. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts knüpft Art. 103 Abs. 3 GG inhaltlich an den Stand des Strafprozeßrechts an, der vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes bestand262. Diese Fokussierung auf die bis zur Entstehung des Art. 103 Abs. 3 GG von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze wurde in der Literatur vielfach kritisiert263. Allerdings kann das Bundesverfassungsgericht wohl nicht so verstanden werden, daß es die inhaltliche Ausgestaltung des Art. 103 Abs. 3 GG unabänderbar an den Stand des Prozeßrechts und der Rechtsprechung vor Inkrafttreten des Grundgesetzes binden wollte. Vielmehr sollte sich auf Basis der bestehenden Inhalte ein eigenständiger Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Garantie entwickeln. Art. 103 Abs. 3 GG sollte zunächst nur den Kernbestand des bis zu seinem Inkrafttreten von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatzes gewähren264. Die weitere Entwicklung sollte sich an der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes ausrichten265. Die Bezugnahme auf das „vorverfassungsrechtliche Gesamtbild“ ist dahingehend zu verstehen, daß Art. 103 Abs. 3 GG die bis zu diesem Zeitpunkt herauskristallisierten Kerngehalte garantiert, aber nicht jede Einzelausprägung des einfachen Rechts umfaßt266. Art. 103 Abs. 3 GG stellt somit eine eigenständige Garantie dar, deren Inhalt sich aus der Wechselbeziehung von verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Ebene bestimmt.

262 BVerfGE 3, 248 (252). Vgl. auch BVerfGE 9, 89 (96), mit der viel zitierten Formel, daß sich die inhaltliche Bestimmung des Art. 103 Abs. 3 GG am „vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild des Prozeßrechts“ zu orientieren habe; siehe auch BVerfGE 56, 22 (27 f.). 263 Siehe etwa die Nachweise bei Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 RN 263. 264 Deutlich insoweit BVerfGE 56, 22 (27 f. und 34 f.). 265 BVerfGE 23, 191 (202): „(. . .) dieses bestehende ältere Recht mit Inkrafttreten des Grundgesetzes inhaltlich auf die objektive Wertordnung Grundgesetzes ausgerichtet wird.“ 266 Würde die gesamte bestehende Dogmatik auf Verfassungsebene gehoben werden, hätte dies zur Folge, daß sie damit verfassungsmäßig festgeschrieben und nicht mehr anpassungsfähig wäre.

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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c) Der Begriff „wegen derselben Tat“ Für eine genaue Begriffsklärung ist zunächst der verfassungsrechtliche Begriff der Tat von seinem strafprozeßrechtlichen Pendant zu trennen267. Der verfassungsrechtliche Tatbegriff knüpft zwar an denjenigen des Strafprozesses an, von einer Rezeption kann jedoch nicht die Rede sein. Bereits der strafprozeßrechtliche Tatbegriff wird in der Literatur weder einheitlich beurteilt noch immer im selben Kontext verwendet268. Der verfassungsrechtliche Tatbegriff steht vielmehr selbständig neben dem strafprozeßrechtlichen269. Entscheidend für die Beurteilung im verfassungsrechtlichen Kontext ist die natürliche Lebensauffassung über einen bestimmten Lebensvorgang270. Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der Tat bezeichnet als „geschichtliche(n) Vorgang, auf welchen Anklage- und Eröffnungsbeschluß hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll“271. d) Mehrfache Bestrafung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze Das Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG greift nur, wenn es sich um eine Bestrafung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze handelte, nicht aber bei vorherigen Sanktionen aufgrund des Ordnungswidrigkeitenrechts, des Dienststrafrechts272 und auch des Disziplinarrechts273. Art. 103 Abs. 3 GG wird nicht nur als Verbot der mehrfachen Bestrafung, sondern einstimmig auch als Verbot der wiederholten Strafverfolgung angesehen mit der Folge, daß Art. 103 Abs. 3 GG auch bei einem Freispruch Anwendung findet274. Die Folge der Sperrwirkung ist das Verbot erneuter Strafverfolgung und steht 267

Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 3 RN 17 f., mit Beispielen. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, Einleitung Abschn. J RN 59 ff., 69 ff. 269 So auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 RN 283. Dennoch nimmt Art. 103 Abs. 3 den strafprozessualen Tatbegriff als Ausgangspunkt, ohne jedoch mit ihm bis in alle Einzelheiten identisch zu sein, so BVerfGE 45, 434 (435). 270 So u. a. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 77; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 3 RN 17. 271 BVerfGE 23, 191 (202). 272 BVerfGE 21, 391 (401 f.); 66, 337 (357). 273 BVerfGE 66, 337 (357); vgl. auch Rüping, in: BK-GG, Art. 103 Abs. 3 RN 29 ff., der eine differenzierende Sicht vertritt. 274 BVerfGE 12, 62 (66); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 RN 295. 268

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

als Verfahrenshindernis bereits der Einleitung eines erneuten Strafverfahrens entgegen275. Nicht ausgeschlossen ist jedoch die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten nach den §§ 362 ff. StPO. Sie ist unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen möglich; eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe wird jedoch überwiegend kritisch gesehen276. Vor diesem Hintergrund sind die Gründe für eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens grundsätzlich restriktiv zu gebrauchen. Soll ausnahmsweise kein Strafklageverbrauch eintreten, verlangt Art. 103 Abs. 3 GG eine genaue Normierung der Voraussetzungen277. Im übrigen sind Änderungen des einfachen Verfahrensrechts nicht ausgeschlossen. Nicht jede einfachgesetzliche Ausprägung gehört zur verfassungsrechtlichen Mindestgarantie des Art. 103 Abs. 3 GG, sondern es besteht ein Ermessensspielraum des Gesetzgebers278. Ergeht unter Verstoß gegen den Kerngehalt des Art. 103 Abs. 3 GG ein Urteil, so ist dieses unwirksam279. Seine Beseitigung kann jedoch nur durch ein Wiederaufnahmeverfahren erreicht werden280.

VI. Recht auf ein faires Verfahren 1. Terminologie Das Recht auf ein faires Verfahren, das auf internationaler Ebene auch als fair trial bezeichnet wird, findet im Grundgesetz keine ausdrückliche Erwähnung. Der Begriff „faires Verfahren“ ist vom Bundesverfassungsgericht in den 50er Jahren herausgebildet worden281. Die Bezeichnung taucht 275

Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 RN 83. Julio B. J. Maier, Rechtsstaatliches Denken und Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten, in: Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 789 (793 f.). 277 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 3 RN 33 f. 278 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 RN 268. So stellen Regelungen über Fristen oder die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, von denen der Eintritt der Rechtskraft eines Urteils abhängt, keinen Eingriff in Art 103 Abs. 3 dar. 279 Es ist möglich, seine Unvollstreckbarkeit nach § 458 StPO festzustellen, vgl. OLG Koblenz JR 1981, 520 ff. 280 Ausführlich hierzu Christian Fahl, Aus der Praxis: Der doppelte Strafbefehl, JuS 1996, S. 63 (64 f.). 281 BVerfGE 7, 53 (57); 9, 89 (95); 70, 297 (308). Aus neuerer Zeit siehe etwa BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), JZ 2005, S. 411, wo sogar von einem „Recht auf ein faires disziplinargerichtliches Verfahren“ die Rede ist; auf S. 412 spricht das Bundesverfassungsgericht jedoch wieder von einem allgemeinen Prozeßgrundrecht; ebenso BVerfGE 109, 13 (34). Siehe auch BVerfGE 101, 397 (404: „Recht auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren“); BVerfGE 110, 339 (342: „Recht auf ein faires Verfahren“). 276

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explizit erstmals im Gerichtsbeschluß vom 3. Juni 1969 auf282 und ist vermutlich in Anlehnung an die englische Terminologie vom due process oder fair trial entstanden283. Auch die Formulierungen internationaler Verträge könnten bei der Begriffsbildung in Deutschland eine Rolle gespielt haben. Zu denken wäre insbesondere an Art. 6 EMRK284, der in der deutschen Fassung den Titel trägt „Recht auf ein faires Verfahren“. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu selbst keine explizite Erklärung gegeben. a) Begrifflichkeiten in Art. 6 Abs. 1 EMRK In der französischen Fassung der Vorschrift wird das Recht auf ein faires Verfahren auch als „droit à un procès équitable“ sowie „entendue équitablement“ bezeichnet, während in der englischen Fassung von „right to a fair trial“ sowie „fair and public hearing“ die Rede ist. Eine Definition, was unter dem englischen Begriff „fair“ bzw. dem französischen Pendant „équitable“ zu verstehen ist, erfolgt im Konventionstext nicht. Mit Hilfe des Wörterbuchs erhält man für den Begriff „fair“ mehrere mögliche Übersetzungen, die über „tadellos“, „redlich“, „gerecht“ bis zu „gefällig“ oder „mittelmäßig“ reichen285. Unter dem Begriff „fair hearing“ findet sich die Übersetzung „rechtliches Gehör“, und sowohl „fair play“ als auch „fair trial“ werden häufig286 mit „redliches Verfahren“ übersetzt. Auch die Definition von „fair“ in Black’s Law Dictionary287 stellt nicht viel mehr als einen untauglichen Versuch einer näheren Bestimtung dar288. Im Schrifttum wird teilweise davon ausgegangen, daß der Begriff des „fair hearing“ alle Verfahrensgarantien des „fair trial“ umfasse289. Dies könne u. a. daraus geschlossen werden, daß der Begriff „fair trial“ in der englischen Literatur kaum gebraucht werde290. Das französische Wort „équitable“ wird mit „bil282 BVerfGE 26, 66 (71); vgl. auch die Anfänge bei BVerfGE 7, 53 (57 f.); 9, 89 (95 f.) mit den entsprechenden Argumentationslinien. 283 Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1999, Einleitung Abschn. H RN 99; Klaus Rogall, SK-StPO, Loseblattslg. Stand: 2000, Vor § 133 RN 102. Vgl. Dieter Dörr, Faires Verfahren, 1984, S. 5 ff. 284 Art. 14 IPBürgPR oder auch Art. 8 AMRK. 285 von Beseler/Jacobs-Wüstefeld, Law Dictionary, Englisch-Deutsch, 4. Aufl., 1986, S. 692. 286 „Fair trial“ wird weiter mit „ordentliches Gerichtsverfahren“ und „unparteiische Untersuchung“ übersetzt. 287 Black’s Law Dictionary, 7. Aufl., St. Paul/Minnesota 1999, definiert „fair“ als „impartial, just, equitable, disinterested“ bzw. „free of bias or prejudice“. Der Ausdruck „fair trial“ wird definiert als „trial by an impartial and disinterested tribunal in accordance with regular procedures“. 288 Vgl. Jean Nicolas Druey, Recht und Fairness, Recht 1998, S. 137 (138). 289 Näher hierzu Dörr (FN 283), S. 72.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

lig“, „angemessen“, „recht und billig“ oder „gerecht“ übersetzt291. Interessanterweise findet sich die Übersetzung des deutschen Wortlauts „faires Verfahrens“ ins Französische durch ein Wörterbuch als „procédure correcte“ oder „respectueuse des règles“ wieder292. Dies verdeutlicht einmal mehr die Problematik der Mehrdeutigkeit mehrsprachiger Verträge und die Tatsache, daß sich Rechtsbegriffe nicht ohne weiteres in eine andere Rechtsordnung transferieren lassen293. Insoweit ist es umso bedeutsamer, die Wurzeln und damit die Ursprungsbedeutung zu erläutern, den sie in ihrer Heimatrechtsordnung besitzen. b) Rückgriff auf die Wurzeln des fair trial Der Begriff „fair trial“ hat seine Wurzeln im englischen common law294. Erste Ansätze einer Forderung nach einem fairen Verfahren sind in der Magna Charta295 zu finden296; sie enthielt eine Begrenzung der Rechte des Kö290 So Dörr (FN 283), S. 72; hierzu auch Thomas Braitsch, Gerichtssprache für Sprachunkundige im Lichte des „fair trial“, 1991, S. 118 f. 291 So Doucet/Fleck, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, Französisch–Deutsch, 4. Aufl., 1988, S. 257; der Begriff „juge équitable“ wird mit „unparteiischer“ oder „unvoreingenommener Richter“ übersetzt. 292 Doucet/Fleck, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, Deutsch-Französisch, 6. Aufl., 2002, S. 248. Das Fairneßgebot wird hier mit „obligation de se comporter loyalement“ widergegeben. 293 Zu dem Unterschied zwischen den Begriffen „trial“ und „procès“, der häufig nicht beachtet werde, siehe A. Garapon, Procès et Trial, Institut des Hautes Études sur la Justice, 10. Januar 2002, 20 Seiten, http://www.ihej.org. Mit der Schwierigkeit der mehrdeutigen Übersetzungen der Wörterbücher sah sich auch Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 3. Aufl., 1956, S. 15, konfrontiert: „Das Wörterbuch gibt eine Fülle von Bedeutungen: von schön und anmutig über anständig und ritterlich bis zu gerecht und billig. Mann kann das Wort auch nicht in diese verschiedenen Bedeutungen auflösen, vielmehr verschmelzen sie in ihm, es bedeutet nicht das eine bald das andere, alle seine Bedeutungen schwingen bei jedem Gebrauch des Wortes gleichzeitig mehr oder minder mit. Schon aber beginnt ‚fair‘ ein in die deutsche Sprache aufgenommenes Fremdwort zu werden, dessen vielfältige Bedeutungen auch für uns zu vielfältig nuancierter Einheit sich verbinden. Es ist uns insbesondere in seiner Anwendung auf den Sport geläufig im Sinne des ‚fair play‘.“ 294 Siehe die Ausführungen von Franz Matscher, The Right to a fair trial in the case-law of the organs of the European Convention on Human Rights, in: European Commission for Democracy through law, The right to a fair trial, Straßburg 2000, S. 10, der auch darauf hinweist, für den Engländer sei „(. . .) the concept of fair trial is but the incorporation into procedural law of the idea of fair play in sport.“ 295 Erst im Jahre 1237 bekam das Schriftstück offiziell den Namen „Magna Carta“, vgl. Albert B. White, The name Magna Carta, England Historical Review 30, 1915, S. 472 ff. 296 Ausführlich Dörr (FN 283).

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nigs zugunsten des Hochadels (barons). Damit liegt ihre historische Bedeutung darin, daß sie dem Handlungsspielraum des Königs Grenzen zog. Allerdings sind in ihr nicht, wie bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts angenommen, die Rechte des Bürgers geschützt297, die sie in einem Aufstand gegen den König erstritten hatten298, sondern lediglich Rechte, die den Adligen zugute kommen299. Von besonderer Bedeutung für den Grundsatz des fair trial insoweit die Bestimmung des Kapitel 39300 und dort der Ausdruck „per legem terrae“ in den englischen Übersetzungen „by the law of the land“ und „by lawful judgement of his peers“. Eine genaue Definition der Bedeutung des Kapitels 39 ist im 13. Jahrhundert jedoch nicht erfolgt301. In der weiteren Entwicklung tauchte der Begriff due process of law erstmals im 14. Jahrhundert auf302; bei der Änderung der Magna Charta 1354 unter König Edward III. wird der Ausdruck „by the law of the land“ durch „par due proces del lei“ ersetzt303. Diese Formulierung ist Ausdruck der Ablehnung willkürlicher Herrschaftsform. Nachdem die Magna Charta dann bis zum 17. Jahrhundert eher eine geringe Bedeutung hatte, erhielt sie unter dem Einfluß des Richters Edward Coke neue Aufmerksamkeit, der sie kommentierte und damit ihre grundlegende Bedeutung als Dokument der Freiheit aller englischen Bürger festigte. Im besonderen widmete sich Coke der Kommentierung von Kapitel 29304: Den Ausdruck „per legem terra“ übersetzt er mit „by the common law, statute law, or custom of England“, wobei 297

Unter dem Begriff „liber homo“ waren damals nur die „barons“ und die Kronvasallen zu verstehen. Alle anderen Bürger waren Leibeigene oder halbfrei. Es lag damals auch nicht im Interesse des Adels, Rechte des einfachen Bürgers in einem geschriebenen Dokument zu verbriefen. 298 Dörr (FN 283), S. 6. 299 Grundlegend auch Kurt Kwasny, Die Entwicklung des geschriebenen Grundrechts in England und im englischen Kolonialreich und Commonwealth. Eine Untersuchung von der Magna Charta bis zu den Unabhängigkeitsverfassungen der Gegenwart, 1968, S. 53 ff. 300 Henry III. änderte 1216 und 1225 die Magna Charta, nachdem König John gestorben war. Die endgültige Fassung enthielt nur noch 37 Kapitel und das ursprüngliche Kapitel 39 findet sich nun im 29. Kapitel. Edward I. erließ 1297 die Fassung der Magna Charta von 1225 als Gesetz. 301 Verschiedene Ansätze finden sich bei Richard L. Perry/John Cobb Cooper, Sources of our Liberties: documentary origins of individual liberties of the United States Constitution and bill of rights, 4. Aufl., New York 1964, S. 6 ff. 302 Siehe Dörr (FN 283), S. 7 mit dem Hinweis, daß es sich ursprünglich um einen französischen Rechtsbegriff gehandelt habe: „proces de lei“. 303 Nunmehr heißt es auch nicht mehr „liber homo“, sondern „no man“; damit ist die Bezugnahme auf „freie Menschen“ gestrichen, und die Bestimmungen finden sowohl auf Leibeigene wie auch freie Männer Anwendung; grundlegend Kwasny (FN 299), S. 65. 304 Nach der neuen Nummerierung, früher Kapitel 39.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

die Bedeutung im Kern „due process of law“ sei305. Coke betont sowohl die prozessuale wie auch die materiell-rechtliche306 Seite der Anforderung des due process of law. Erstaunlicherweise taucht der Ausdruck due process im heutigen englischen Recht kaum auf307, statt dessen finden sich Begriffe wie natural justice, fair trial, fair hearing, fair procedure308, duty to act fairly, die es auseinanderzuhalten gilt. c) Rezeption des fair trial-Begriffs in Deutschland Ein Blick in die einschlägige deutsche Literatur macht deutlich, daß sich der Anglizismus fair trial in Deutschland durchgesetzt hat309; eine vollständige Übersetzung des Begriffs fand bisher nicht statt. Der englische Begriff fair trial wurde entweder insgesamt übernommen, oder es wurde der einfach zu übersetzende Bestandteil trial mit Verfahren übersetzt und zugleich der unbestimmte Begriff fair hingegen unverändert rezipiert310. Im deutschen Recht ist der Begriff der Fairness bereits mehrfach sowohl unter rechtlichen311 als auch unter kriminalsoziologischen Aspekten untersucht worden312. Während in der Literatur wie auch in der Rechtsprechung der letzten 305 Edward Coke, Second Part of the Institutes of the Laws of England, 4. Aufl., London 1671, S. 46 und 50. 306 Coke (FN 305), S. 47. 307 Während er in der amerikanischen Verfassung über den Einfluß der Magna Charta und Cokes seinen festen Platz hat, wird der Begriff im Land seiner Herkunft kaum verwendet, vgl. zur Entwicklung in Amerika Dörr (FN 283), S. 8 ff. Vgl. auch Black’s Law Dictionary, 7. Aufl., St. Paul/Minnesota 1999, S. 516, zu „due process“ mit Zitaten, welche die Abstammung des Begriffs „due process“ aus der Magna Charta belegen. Ausführlich Ronald Banaszak, Fair Trial Rights of the Accused, London 2002, S. Xi ff. 308 Dieser Ausdruck wurde von den Gerichten eingeführt, um ein Substitut für den Standard der natural justice-Grundsätze zu bezeichnen. Letzten Endes konnte der Begriff „fair procedure“ jedoch nur die Umsetzungsanforderung an bereits existierende gesetzliche Verfahrensregeln ausdrücken. Soweit keine gesetzlichen Vorgaben existierten, lieferte auch der Ausdruck „fair procedure“ keine Alternative zur natural justice-Konzeption. 309 Es wird sogar vom Einzug in die deutsche Verfassungsdogmatik gesprochen, siehe Michael Reinhardt, Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJW 1994, S. 93 (96, FN 19). Kritisch hierzu Dirk Steiner, Das Fairneßprinzip im Strafprozeß, 1995, S. 119. 310 Rogall (FN 283), RN 101, sieht im Recht auf ein faires Verfahren nach deutschen Verfassungs- und Prozeßrecht eine allgemeine „due-processs“-Klausel, der er nur eine begrenzte Operationalität zuspricht. 311 Siehe hierzu Peter J. Tettinger, Fairness als Rechtsbegriff im Deutschen Recht, Der Staat 36, 1997, S. 575 ff. 312 Ausführlich hierzu Dorothea Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 320 ff.

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Jahre ein nahezu inflationärer Gebrauch des Begriffs des „fairen Verfahrens“ auffällt, sticht es im Gegenzug ins Auge, daß sich eine konkrete Begriffsdefinition nur schwerlich finden läßt313. Auch das Bundesverfassungsgericht verweist darauf, daß der Inhalt des Grundsatzes des fairen Verfahrens im Einzelfall zu bestimmen und insoweit durch die Formulierung lediglich ein ausfüllungsbedürftiger Rahmen vorgegeben sei314. Alternativ zum fairen Verfahren wird auch häufig vom rechtsstaatlichen oder justizförmigen Verfahren gesprochen315; in der Sache bestehen jedoch kaum Unterschiede316. 2. Verfassungsrechtliche Ableitung Zunächst existiert im deutschen Recht kein geschriebener Grundsatz, der das Recht auf ein faires Verfahren ausdrücklich anerkennt. Während im Schrifttum teils Art. 6 EMRK, teils Normen des Grundgesetzes oder beides kumulativ zur Begründung eines Rechts auf ein faires Verfahren herangezogen werden, leitet das Bundesverfassungsgericht es überwiegend aus dem Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ab317. a) Position des Bundesverfassungsgerichts In einem sich inhaltlich näher mit dem Recht auf ein faires Verfahren auseinandersetzenden Beschluß des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1969 äußert sich das Gericht zur Rechtsgrundlage des fairen Verfahrens nur insoweit, als es dieses zu den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zählt318. Der zweite Senat sieht in seiner 313

Ausführlich hierzu Jean Nicolas Druey, Recht und Fairness, Recht 1998, S. 137 ff., der sich auch mit der Vertragstheorie der Gerechtigkeit von John Rawls auseinandersetzt. 314 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), JZ 2005, S. 411 (412). Zu Versuchen, u. a. unter Rückgriff auf Art. 6 EMRK, das Rechtsstaatsprinzip sowie die Prozeßgrundrechte den Inhalt näher zu bestimmen, Steiner (FN 309), S. 119 ff. 315 Von einem „Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren“ spricht Lutz Meyer-Goßner, StPO Kommentar, 47. Aufl., 2004, RN 19, und setzt damit die Begriffe „fair“ und „rechtsstaatliche“ auf eine Ebene. 316 Rzepka (FN 312), S. 320. 317 St. Rspr. des BVerfG seit BVerfGE 26, 66 (71). Speziell zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Anmerkung Hinrich Rüping JZ 1983, S. 663 (664). 318 BVerfGE 26, 66 (71). In der Literatur gilt diese Entscheidung als Beginn der umfangreichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu dem Recht auf ein faires Verfahren, vgl. Rzepka (FN 312), S. 117 m. w. N. Den Geltungsgrund über die Verankerung des fairen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 EMRK hinaus noch nicht geklärt sieht Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1999, Einleitung Abschn. H RN 100.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

darauf folgenden Rechtsprechung die Grundlage des Prinzips in Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip319. Den Ansatz einer näheren Begründung zur Herleitung des Rechts auf ein faires Verfahren hat das Gericht mit folgenden Ausführungen versucht: „Die Wurzel dieses allgemeinen Prozeßgrundrechts findet sich in den in einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundrechten und Grundfreiheiten des Menschen, insbesondere in dem durch ein Strafverfahren bedrohten Recht auf Freiheit der Person (. . .), dessen freiheitssichernde Funktion auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert; ferner in Art. 1 Abs. 1 GG, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens herabzuwürdigen, und von daher einen Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen des Angeklagten voraussetzt.“320

Der erste Senat dagegen sah in Anknüpfung an ältere Entscheidungen das Recht auf ein faires Verfahren ursprünglich als Ausfluß spezieller Freiheitsrechte an321. Dies bedeutet, daß bereits aus dem jeweiligen Grundrecht selbst die Pflicht folgt, bei einem Eingriff fairen Rechtsschutz zu gewährleisten. Insoweit wirkt sich die Garantiefunktion der Grundrechte nicht nur auf das materielle, sondern auch auf das Verfahrensrecht aus. Dieser Ansatz beruht auf der Entscheidung des Gerichts vom 25. Februar 1975322. In dieser Entscheidung wurde nicht nur der abwehrrechtliche Charakter der Grundrechte betont, sondern vielmehr hervorgehoben, daß sie dem Staat aufgrund ihres objektiv-rechtlichen Charakters die Verpflichtung auferlegen, zu ihrem Schutz aktiv beizutragen. Bereits in dem jeweiligen Grundrecht selbst ist nach dieser Ansicht die Pflicht zu grundrechtsschützenden Verhalten des Staates verankert, von dem ein Verfahren gefordert wird, welches die Grundrechte so gut wie möglich schützt. Mittlerweile geht jedoch auch der erste Senat von der Verankerung in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip aus323.

319 BVerfGE 38, 105 (111 ff.), war der Beginn einer langen Reihe von Entscheidungen des Gerichts, die diese Rechtsgrundlage betonten; siehe aus neuerer Zeit BVerfGE 109, 13 (34). Umfassende weitere Nachweise bei Rzepka (FN 312), S. 117 Anm. 6. 320 BVerfGE 57, 250 (275). Hierzu auch Edzard Schmidt-Jortzig, Grenzen staatlicher Strafgewalt, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2: Klärung und Fortbildung des Verfassungsrecht, 2001, S. 505 (522). Ausführlich auch Rzepka (FN 312), S. 117 ff. 321 BVerfGE 46, 325 (333 ff., insbesondere 334) zu Art. 14 GG; 52, 380 (389 f.) zu Art. 12 GG. 322 BVerfGE 39, 1 (42 ff.). 323 BVerfGE 101, 397 (404); 103, 44 (64); 110, 339 (341 f.).

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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b) Bewertung und fehlende Homogenität der Begrifflichkeit In der Praxis des Gerichts hat sich damit Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Rechtsstaatsprinzip als Grundlage durchgesetzt324. Die vom ersten Senat ins Spiel gebrachte Möglichkeit, das Recht auf die Gewährung eines fairen Verfahrens aus dem Garantiegehalt des jeweils direkt betroffenen Grundrechts abzuleiten, hat sich nicht durchsetzen können. Erkennt man den Geltungsgrund325 somit im Rechtsstaatsprinzip und in Art. 2 Abs. 1 GG, so ergibt sich aufgrund der terminologischen Unklarheiten ein dogmatisches Problem. Wenn – wie häufig – der Begriff fair mit rechtsstaatlich gleichgesetzt oder auf einer entsprechenden Wertungsebene gebraucht wird, kann das Rechtsstaatsprinzip schwerlich als Rechtsgrundlage herangezogen werden. Soweit beide Begriffe gleichwertig oder gar synonym gebraucht werden, läßt sich eine Überordnung des Rechtsstaatsbegriffs dogmatisch sauber nicht mehr konstruieren326. Nach hier vertretener Ansicht erfolgt die Ableitung des Rechts auf ein faires Verfahren am geeignetesten aus dem Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Der häufig unklare Sprachgebrauch birgt ansonsten die Gefahr, das Verhältnis von übergeordnetem Grundsatz und Ableitung zu verwischen. 3. Inhalt des Rechts auf ein faires Verfahren Im deutschen Recht besteht eine Vielzahl von Gewährleistungen mit Verfassungsrang, die ein mit der Verfassungsbeschwerde einklagbares Recht auf ein faires Verfahren gewähren. Deren Schutzrichtung ist die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens und der Schutz des einzelnen vor willkürlichen Maßnahmen in einem Verfahren, in dem er Beteiligter ist. Einfachgesetzliche Ausgestaltungen des fairen Verfahrens finden sich insbesondere in der Strafprozeßordnung. Aber auch für den Zivilprozeß gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren elementare Verfahrensregeln. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt es grundsätzlich umfassend in allen Prozeßordnungen327. Im übrigen ist der Inhalt des Rechts auf ein faires 324

Teilweise heißt es auch, das Recht auf ein faires Verfahren sei dem Rechtsstaatsprinzip immanent, BVerfGE 38, 105 (111: „unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit“); in diesem Sinne auch BVerfGE 66, 313 (318). Zur Verfahrensweise des Bundesgerichtshofs vgl. Rzepka (FN 312), S. 121 f. 325 Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Geltungsgrund siehe Horst Heubel, Der „fair trial“ – ein Grundsatz des Strafverfahrens?, 1981, S. 40. Er sieht Art. 6 Abs. 1 EMRK als sedes materiae des fair trial-Grundsatzes, S. 32 ff. 326 Diesbezüglich unklar Steiner (FN 309), S. 35 ff. 327 Vgl. BVerfG (4. Kammer des Zweiten Senats), DVBl. 2001, S. 118.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

Verfahren nicht konkret normativ bestimmt328. Die Rechtsprechung orientiert sich an dem Begriff „fair“, um den Inhalt näher zu konkretisieren. Eine Auseinandersetzung mit den anglo-amerikanischen Inhalten des Begriffs hat dabei anscheinend nicht stattgefunden, obgleich ein Rechtsvergleich nahe liegend wäre, um den Inhalt eines dem deutschen Recht weniger bekannten Rechtsinstituts zu bestimmen. Die formelhafte Gewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren bedarf damit der Konkretisierung durch den Gesetzgeber sowie im Rahmen der geltenden Gesetze der Ausformung durch die Gerichte329. Eine umfassende Darstellung bislang herausgearbeiteter verfahrensrechtlicher Anforderungen, die aufgrund der Komplexität nötig wäre, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Es soll daher lediglich auf die Voraussetzungen für die Ableitung eines „neuen“ verfahrensrechtlichen Erfordernisses eingegangen und einige Elemente exemplarisch dargestellt werden, die von der Rechtsprechung bisher anerkannt wurden. Als allgemeine Anleitungsformel gilt in der Regel, daß der einzelne nicht bloßes Objekt des Verfahrens werden darf330, sondern daß ihm sowohl die Mittel als auch die Möglichkeit zu geben sind, auf Ablauf und Ausgang des Verfahrens Einfluß zu nehmen331. Ob diese vage Formulierung tatsächlich ein Hilfsmittel zur Inhaltskonkretisierung ist, bleibt zweifelhaft. Es scheint im Rahmen einer solchen Formulierung vielmehr nur eine Frage der Argumentation zu sein, eine verfahrensrechtliche Anforderung unter diese Definition zu fassen oder nicht. Darüber hinaus bleibt es weitgehend offen, inwieweit und in welcher Form die mit dieser Formel verbundenen Ziele erreicht werden sollen. Zudem muß berücksichtigt werden, daß es angesichts der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers ist, die Alternativen bei der normativen Ausgestaltung eines Verfassungsgrundsatzes zu wählen332. Erst dann, wenn sich im Einzelfall eindeutig ergibt, daß rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind333, können aus dem Rechtsstaatsprinzip konkrete 328 BVerfG (4. Kammer des Zweiten Senats), DVBl. 2001, S. 118; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 209 (211). Rogall (FN 283), RN 104 ff. sieht sowohl allgemeine als auch konkrete Inhalte des Rechts auf ein faires Verfahren. Unter allgemeinen Inhalten versteht er zum einen die Sicherung prozessualer Rechte und zum anderen die Abwehr von Übergriffen der Strafverfolgungsorgane. Als Einzelausprägungen benennt er u. a. die Waffengleichheit, verschiedene Belehrungs- und Hinweispflichten sowie den Beschleunigungsgrundsatz. 329 BVerfG (4. Kammer des Zweiten Senats), DVBl. 2001, S. 118; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 209 (211). 330 Vgl. auch die Formulierung in BVerfGE 57, 275; 101, 397 (405). 331 BVerfGE 65, 171 (174/175); 66, 313 (318). Auch BVerfGE 26, 66 (71) unter Hinweis auf BVerfGE 9, 95. 332 BVerfG (4. Kammer des Zweiten Senats), DVBl. 2001, S. 118; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 209 (211).

B. Einzelne Prozeßgrundrechte

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Folgerungen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens im Rahmen der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens gezogen werden334. Im einzelnen wurden von der Rechtsprechung etwa anerkannt: das Recht, sich von einem Anwalt des Vertrauens verteidigen zu lassen335, bei Mittellosigkeit der Anspruch auf Pflichtverteidigung336 sowie die angemessene Beschleunigung des Verfahrens337. Diese kurze und bewußt lückenhafte Aufzählung soll nur beispielhaft zeigen, welche konkreten Anforderungen die Rechtsprechung dem generalklauselartigen Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren entnommen hat. Allgemein handelt es sich bei diesen Einzelanforderungen um Vorkehrungen zur Ermittlung des wahren Sachverhalts sowie um einen Mindestbestand an verfahrensrechtlichen Mitwirkungsbefugnissen338. Somit bleibt auch derzeit offen, wie weit das Recht auf ein faires Verfahren geht und wann es welches Verhalten im Prozeß vorschreibt339. Die von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Formeln zur näheren Bestimmung des Garantiegehaltes geben dabei nur ein unzureichendes Hilfsmittel an die Hand, da auch sie sich ihrerseits auf die formelhafte Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe zurückziehen. Es ist also nur möglich, anhand der Kasuistik Rückschlüsse auf die grundlegenden Gehalte des Prinzips zu schließen. Problematisch ist hierbei das Verharren in einem circle vicieux, da die Ableitung konkreter Einzelinhalte unter Berücksichtigung der allgemeinen Formel geschieht und wiederum versucht wird, mit Hilfe der Untersuchung der Einzelinhalte allgemeine Linien auf eine abstraktere Ebene zu ziehen. 333 Das BVerfG spricht häufig auch von im Rechtsstaatsprinzip angelegten Gegenläufigkeiten, vgl. BVerfGE 57, 250 (275 f.); BVerfG (4. Kammer des Zweiten Senats), DVBl. 2001, S. 118; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 209 (211). Hierzu auch Werner Beulke, Strafprozeßrecht, 8. Aufl., 2005, RN 28; Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1999, Einleitung Abschn. H RN 108; Rzepka (FN 312), S. 133 ff. 334 BVerfGE 57, 250 (276); 70, 297 (309); 86, 288 (317 f.); BVerfG (4. Kammer des Zweiten Senats), DVBl. 2001, S. 118; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 209 (211). 335 BVerfGE 26, 66 (71); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2002, S. 546 (549). 336 BVerfGE 39, 238 (243). 337 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2000, S. 797. Insgesamt handelt es sich um Grundsätze, die sich vielfach auch anderweitig zuordnen lassen, in diesem Sinne auch Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1999, Einleitung Abschn. H RN 102. 338 So BVerfGE 107, 339 (367 f.). 339 Vgl. auch Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, Einleitung Abschn. H RN 105, der dies dem formalen Charakter des Fairnessgrundsatzes zuschreibt.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

4. Verhältnis zu den anderen Prozeßgrundrechten Das Recht auf ein faires Verfahren grenzt sich von den anderen Prozeßgrundrechten zum einen durch seinen generalklauselartigen Charakter und zum anderen durch die Tatsache ab, daß es sich um ein ungeschriebenes, nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankertes Recht handelt340. Aufgrund seines hohen Abstraktionsgrades ist eine Inhaltsbestimmung des Rechts auf ein faires Verfahren häufig nur durch Rückgriff auf andere Prinzipien des Grundgesetzes möglich341. Der Anwendungsbereich des Rechts auf ein faires Verfahren wird insoweit durch immanente Grenzen begrenzt, die vielfach auch als im Rechtsstaatsprinzip angelegte Gegenläufigkeiten bezeichnet werden342. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet als solches Minimalgarantien zum Schutz des einzelnen im Verfahren343; allerdings führt die Verletzung objektiver Garantien nicht automatisch zu einem subjektiven und einklagbaren Recht des Betroffenen. Durch die Kombination in der Rechtsgrundlage von Rechtsstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 1 GG ebnet das Bundesverfassungsgericht den Weg zu einem individuell einklagbaren Recht des Bürgers. Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren sind daher auf verfassungsrechtlicher Ebene mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. Das allgemeine Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren ist damit sowohl subjektives Recht als auch objektives Grundprinzip eines jeden Verfahrens. Die Prozeßgrundrechte, die ausdrücklich im Grundgesetz genannt sind, gehen der aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V. m Art. 2 Abs. 1 GG entwickelten Generalklausel des fairen Verfahrens als speziellere Regelungen vor344. Eine vorschnelle Korrektur des einfachen Rechts durch Rückgriff auf den Grundsatz des fairen Verfahrens, um verfassungspolitische Zielvorstellungen umzusetzen, ist daher kritisch zu beurteilen345. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht mit dem allgemeinen Prozeßgrundrecht des Rechts auf ein faires Verfahren die Möglichkeit geschaffen, die speziellen Prozeßgrundrechte zu ergänzen346. Dem Grundsatz eines fairen Verfahrens kommt 340 Von einem allgemeinen prozessualen Recht mit Auffangcharakter spricht Rogall (FN 283), RN 101. 341 Vgl. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, Einleitung Abschn. H RN 101. Teilweise wird sogar die Existenzberechtigung des Rechts auf ein faires Verfahren selbst in Frage gestellt, siehe Heubel (FN 325), S. 30 ff. und 60 ff., mit der Begründung, daß es im Einzelfall nicht über das bereits bestehende Prozeßrecht hinausginge. Hierzu auch Rogall (FN 283), RN 102. 342 BVerfG (4. Kammer des Zweiten Senats), DVBl. 2001, S. 118; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2004, S. 209 (211). 343 BVerfGE 109, 13 (34). 344 BVerfGE 109, 13 (34). 345 Vgl. Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 378 ff.

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte

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insoweit ein besonderer Charakter zu, da sich aus ihm häufig nur schwer konkrete Ergebnisse zur Lösung von Einzelfällen ableiten lassen. Da es grundsätzlich der Zuständigkeit des Gesetzgebers obliegt, die Einzelheiten eines fairen Verfahrens zu bestimmen, liegt die besondere Bedeutung der „prozessrechtlichen Generalklausel“347 im Bereich von gesetzlich nicht ausführlich geregelten Bereichen des Verfahrens348.

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte Die Untersuchung der Einzelrechte hat gezeigt, daß bestimmte Gemeinsamkeiten bestehen. Sie sind überwiegend im gerichtlichen Organisationsund Verfahrensrecht konkretisiert und haben ihren gemeinsamen Bezugspunkt im gerichtlichen Verfahren. Zum Teil überschneidet sich ihr Regelungsgehalt; grundsätzlich ergänzen sich jedoch ihre Inhalte. Der aus ihnen Berechtigte wird in seiner Stellung als Prozeßsubjekt durch die Gewährung von Verteidigungs- und Mitwirkungsrechten geschützt. In der Gruppe der Verfahrensrechte, die sowohl auf einfachgesetzlicher Ebene als auch mit Verfassungsrang existieren, ist es neben der Verankerung in der Verfassung der enge Bezug zu den Grundrechten, der die dargestellten Prozeßgrundrechte von den lediglich einfachgesetzlich verbürgten Verfahrensrechten abgrenzt. Da es sich bei dem Begriff des Grundrechts um einen historisch gewachsenen Begriff handelt, eröffnet seine Entstehungsgeschichte Anhaltspunkte für eine genauere Einordnung der Prozeßgrundrechte. Während Art. 19 Abs. 4 GG unstreitig zu den Grundrechten zählt, ist – wie bei den einzelnen Rechten dargelegt – bereits die Terminologie bei den weiteren dargestellten Rechten des IX. Abschnitts uneinheitlich. Daneben wird deren exakte Einordnung durch Lehre und Rechtsprechung überwiegend wegen der Nennung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG für entbehrlich gehalten. Daher könnten die unterschiedlichen Bezeichnungen mit dem Einwand ignoriert werden, daß es sich lediglich um eine terminologische Feinheit handele: Die Nennung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG löse die praktisch wichtigste Frage und erübrige somit eine weitere Erörterung der dogmatischen Einordnung der Prozeßgrundrechte349. Diesem Gedanken kann aber gerade in einer rechtsvergleichenden Arbeit nicht gefolgt werden. Denn für 346 Vgl. BVerfGE 101, 397 (405), dort hat das Bundesverfassungsgericht Art. 103 Abs. 1 GG auch auf Entscheidungen eines Rechtspflegers für anwendbar erklärt. 347 Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 103 Abs. 1 RN 93. 348 Vgl. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, Einleitung Abschn. H RN 103. 349 Mit kritischem Unterton Stern, Staatsrecht III/1, S. 1463.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

die Suche nach dem funktionalen Äquivalent zu den deutschen Prozeßgrundrechten in der englischen und französischen Rechtsordnung nach Inhalt, Rang und Schutzwirkung ist es notwendig, das Wesen der deutschen Prozeßgrundrechte zu präzisieren. Nur dann kann eine sichere Vergleichsbasis aufgebaut werden, die zu tragfähigen Ergebnissen führt. Für eine solche Präzisierung kann der Weg der in Frage stehenden Grundrechte in das Grundgesetz Aufschluß geben. Zu klären ist auf diese Weise, ob auch Rechte außerhalb des I. Abschnitts des GG den dort genannten Grundrechten in Struktur und Geschichte gleichstehen.

I. Der Grundrechtsbegriff des Grundgesetzes 1. Terminologie Indem der I. Abschnitt des Grundgesetzes die Überschrift „Die Grundrechte“ trägt, scheint das Grundgesetz diejenigen Rechte, die als Grundrechte zu bezeichnen sind, abschließend festlegen zu wollen350. Danach wären Grundrechte nur diejenigen Rechte, die das Grundgesetz selbst als solche nennt. Es handelt sich dabei jedoch nur um eine formale Gruppierung, die keinen Rückschluß auf das Wesen der Grundrechte zuläßt. Denn das Grundgesetz selbst enthält keine Definition der „Grundrechte“ und entbehrt zudem nicht einer gewissen terminologischen Ambivalenz. Der Begriff des Grundrechts wird in Art. 1 GG neben dem Begriff des Menschenrechts genannt351. Zudem ist er stets an das Grundgesetz gebunden. Darüber hinaus spricht Art. 1 Abs. 3 GG von den „nachfolgenden Grundrechten“, was die in Art. 1 GG enthaltenen begrifflich ausschlösse352. In Art. 1 Abs. 2 GG wiederum ist von dem Bekenntnis des deutschen Volkes zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ die Rede353. 2. Historische Entwicklung des Grundrechtsbegriffs Auch aus der Entwicklungsgeschichte des Grundrechtsbegriffs läßt sich keine eindeutige Schlußfolgerung ziehen. Im Jahr 1848 wurde erstmals der Begriff „Grundrechte“354 in einem Verfassungsdokument erwähnt – der 350

Vgl. Stern, Staatsrecht III/1, S. 349 (351). Stern, Staatsrecht III/1, S. 349, hierzu auch Karl Eckhart Heinz, Über den Charakter von „Grundrechten“ und „Menschenrechten“, DÖV 1978, S. 398 (400). 352 Stern, Staatsrecht III/1, S. 351. 353 Hierzu vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 RN 72 ff. 354 Abschnitt VI, Die Grundrechte des deutschen Volkes, Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849, RGBl. 1849, S. 101 f. Die Bezeichnung „Grund351

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte

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Paulskirchenverfassung355. Eingedenk der unterschiedlichen Vorstellungen, die sich zu dieser Zeit mit dem Grundrechtsbegriff356 verbanden, bleibt fraglich, welche Ideen und Konzeptionen von Grundrechten mit diesem Dokument umgesetzt werden sollten. Fest steht, daß der Ausdruck „Grundrechte“ erstmals 1824 von Carl Josef Anton Mittermaier357 gebraucht wurde, dem späteren Präsidenten des Vorparlaments. Seit 1846 ist er lexikalisch nachweisbar358, wird zu dieser Zeit jedoch meistens unter den Begriff „Bürgerrecht“ subsumiert, so daß eine eigenständige Bedeutung noch nicht erkennbar ist. Obwohl im Vorparlament im Zusammenhang mit „allgemeinen Menschenrechten“ und „bürgerlich und politischen Rechten“ auf die Verfassungsurkunden von Nordamerika und Frankreich Bezug genommen wurde359, ist wenig wahrscheinlich, daß es sich bei dem Begriff „Grundrecht“ um die reine Übersetzung des Begriffs droits fondamentaux oder des Begriffes fundamental rights aus dem englischen Sprachraum handelt. In den Verhandlungen zur Paulskirchenverfassung tauchten weitere Begriffe wie „Volksrechte“360, „Freiheitsrechte“361, „allgemeine Menschenrecht“ ist die Subjektivierung der Übersetzung der „leges fundamentales“, der „Grundgesetze“, näher hierzu Hasso Hofmann, Die Grundrechte 1789–1949–1989, NJW 1989, S. 3177 (3179); ders., Recht-Politik-Verfassung, 1986, S. 275 ff. 355 Ausführlich zur Begriffsgeschichte Gerd Kleinheyer, Grundrecht – zur Geschichte eines Begriffs, 1977, S. 1 ff. 356 Zu den verschiedenen Bedeutungen, die dem Wort „Grundrecht“ gegeben wurden, vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, 4. Bd. I Abt. 6. Teil, 1938, S. 881 f. dort unter dem Begriff „Grundrecht“. 357 Carl Josef Anton Mittermaier, Bürgerrecht, in: Ersch/Gruber (Hrsg.), Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Kuenste, 13. Theil, Leipzig 1824, S. 366 (367): „Buergerrecht kann endlich noch als ein teutsches Buergerrecht insofern in Betrachtung kommen, als die teutschen Bundesstaten jedem ihrer Buerger gewisse Grundrechte zusichern, welche Jedem schon vermoege der Bundesakte zustehen, und ihm nicht durch Landesgesetze entzogen werden koennen.“ 358 Siehe Kleinheyer (FN 355), S. 20; Otto Wigand (Hrsg.), Wigand’s Conversationslexikon, Bd. 2, Leipzig 1846, S. 847 f. (auch dort aber unter „Bürgerrecht“), stellt aber einen unmittelbaren Bezug von Bürgerrechten zu Grundrechten her: „Deutsches Bürgerrecht bezieht sich auf die Grundrechte, welche die deutschen Bundesstaaten jedem ihrer Bürger zusichern, und welche jedem schon vermöge der Bundesacte zustehen und ihm nicht durch Landesgesetze entzogen werden können.“ Der Begriff des „Bürgerrechts“ wird darin gesehen als „Inbegriff der Befugnisse, welche einem Mitgliede einer Stadtgemeinde vermöge seines Gemeinderechts zustehen, wobei häufig das kleine (das Recht des Aufenthaltes und der Betreibung offener Gewerbe im Kirchspiele) und das große (alle politischen und Ehrenvorrechte eines Bürgers) Bürgerrecht unterschieden wurde.“ 359 Siehe Leue, in: Verhandlungen des deutschen Parlaments, Frankfurt 1848, 1. Lfg., S. 147. 360 Biedermann, in: Verhandlungen des deutschen Parlaments, Frankfurt 1848, 1. Lfg., S. 130, spricht wörtlich von einer „(. . .) Erklärung der Rechte des Volkes eine Art Magna Charta für das deutsche Volk (. . .).“

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

rechte“362, „Rechte der Menschen und Bürger“ sowie die Vorstellung „unveräußerlicher Volksrechte“363 auf. Offen bleibt, weshalb sich letztlich der Begriff der „Grundrechte“ gegenüber anderen Begriffen wie Bürgerrechten oder Volksrechten durchsetzte. Möglicherweise war der Begriff „Grundrecht“ derjenige, der allen Seiten am annehmbarsten erschien und daher Eingang in die Paulskirchenverfassung fand364: Er enthielt keine negativen Konnotationen und kann daher als salomonisches Ergebnis eines politischen Kompromisses gelten. Welche genauen Vorstellungen sich mit ihm letztlich verbanden, läßt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen365. Die Genese der Grundrechte des Grundgesetzes war maßgeblich beeinflußt von den Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Reichsverfassung und dem Eindruck des Nationalsozialismus, sowie dem Bestreben, sowohl Bestand als auch Geltung der Grundrechte abzusichern366. So wurde bei den Beratungen367 über das Grundgesetz und der Überprüfung der Frage, welche Grundrechtsformulierungen durch die vorausgegangene Entwicklung obsolet geworden waren und einer Neuformulierung bedurften368, die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung sowie der Paulskirchenverfassung kritisch beleuchtet. Justizielle Garantien fanden sich in der Weimarer 361 Aus dem „Officiellen Bericht über die Verhandlungen zur Gründung eines deutschen Parlaments, Programm der ersten Sitzung am 31. März 1848“, IV, 5, „Verbürgung der nationalen Freiheitsrechte“, in: Verhandlungen des deutschen Parlaments, Frankfurt 1848, 1. Lfg., S. 1. 362 M. Mohl, in: Verhandlungen des deutschen Parlaments, Frankfurt 1848, 1. Lfg. S. 145 f., wobei dieser Begriff im Zusammenhang mit der amerikanischen und französischen Erklärung genannt wird (Beginn S. 145): „Es wird gewiß bei keiner Nation, weder in Amerika noch in Frankreich, wo Erklärungen der allgemeinen Menschen- oder Volksrechte erlassen worden sind (. . .).“ Deutlich wird somit auch hier wieder der Bezug zu der nordamerikanischen und der französischen Erklärung. 363 Proklamation des Fünfziger-Ausschusses vom 6. April 1848, in: Verhandlungen des deutschen Parlaments, Frankfurt 1848, 2. Lfg., S. 503. 364 Ausführlich Alfred Voigt, Geschichte der Grundrechte, 1948, S. 82 ff. 365 Verschiedene Möglichkeiten andenkend: Gerd Kleinheyer, Grundrechte, Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, E-G, 1975, S. 1047 (1077 f.). 366 Durch die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 wurden die wesentlichen Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung ausdrücklich aufgehoben. Vgl. auch Otto Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, 3. Aufl., Berlin 1938, S. 89 ff.: „liberale Grundrechte, also in diesem Sinne ‚echte Grundrechte‘ könne es im deutschen Führerstaat nicht geben“. 367 Näher Klaus Stern, Altes und Neues aus der Genese der Grundrechte des Grundgesetzes, JA 1984, S. 642, speziell zur Beratung der justiziellen Grundrechte auf S. 643; siehe auch Hofmann (FN 354), S. 3183 f. 368 Vgl. Hermann von Mangoldt, Die Grundrechte, DÖV 1949, S. 261 ff.; JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 41 ff.

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte

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Reichsverfassung in den Art. 102–108 im VII. Abschnitt „Die Rechtspflege“ vor dem 2. Hauptteil über „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“369. Eingang in das Grundgesetz fanden letztlich nur die klassischen Grundrechte370. Die zuvor bestehenden sozialen oder wirtschaftlichen Grundrechte wurden aufgrund der Erfahrungen in der Weimarer Reichsverfassung nicht aufgenommen. Denn in der Verfassung verbürgte Rechtspositionen, denen in der Umsetzung keine Geltung verschafft werden konnte, trugen letztlich über einen Vertrauensverlust mit zum Scheitern der Demokratie bei. Das Bestreben war daher nicht mehr – wie noch in der Weimarer Verfassung – eine möglichst weitgehende Formulierung, sondern gerade eine Konkretisierung der Rechte. Die neuen Grundrechte sollten so präzise formuliert sein, daß sie insgesamt unmittelbar geltendes Recht werden konnten371. Sie sind Grenze und Maßstab staatlichen Handelns und sollten als Grundstein der Verfassung vorangestellt werden372. Die Art. 1–19 GG finden sich entsprechend dieser Grundsatzentscheidung im ersten Abschnitt des Grundgesetzes unter der Überschrift „Die Grundrechte“ wieder. 3. Merkmale des Grundrechtsbegriffs Ergiebiger als die terminologische Klärung ist im Rahmen der Bestimmung der Charakteristika des deutschen Grundrechtsbegriffs die Anknüpfung an gemeinsame Wesensmerkmale, insbesondere formeller Art373. Ein wesentliches Element des deutschen Grundrechtsverständnisses ist neben der Verbürgung in einer geschriebenen Verfassung374, die im Rang oberhalb des einfachen Gesetzes steht, die Grundrechtseffektivität durch die Mög369 Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, RGBl. 1919, S. 1383 f. Siehe auch den Überblick der Entwicklung der justiziellen Garantien bei Stern, Staatsrecht III/1, S. 1454 ff. 370 Hofmann (FN 354), NJW 1989, S. 3184; JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 43–45. 371 JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 42 f. Daher finde sich auch der Begriff „Grundpflichten“ kaum, so von Mangoldt (FN 368), S. 263. 372 Siehe die Begründung des Abgeordneten Schmid, JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 47. Siehe auch Stern (FN 367), S. 643, zu dem Erfordernis, die Grundrechte in einem besonderen Teil der Verfassung darzustellen, und nicht wie in der französischen Verfassung von 1946 in der Präambel. 373 Robert Alexy fordert, daß eine Definition von Grundrechten die Berücksichtigung struktureller, inhaltlicher und formaler Elemente erfordere, vgl. ders., Theorie der Grundrechte, 1985, S. 53 ff. 374 Zu berücksichtigen ist hier jedoch die Tendenz des BVerfG, Grundrechte aus einer Gesamtschau der Verfassung herzuleiten und nicht mehr auf den konkreten Wortlaut eines Grundrechts Bezug zu nehmen, vgl. für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 65, 1 ff.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

lichkeit des Rechtsschutzes nach Art. 100 Abs. 1, 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG375. Zudem sind die deutschen Grundrechte durch besondere Mechanismen der Verfassung geschützt. Grundsätzlich regelt Art. 79 GG die Änderung der Verfassung einschließlich einer Änderung der Grundrechte, für die Abs. 2 einen breiten politischen Konsens fordert und Abs. 3 die materiellen Grenzen festlegt. Änderungen der Grundrechte sind danach nur möglich, soweit eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Drittel der Stimmen des Bundesrates zustandekommt und die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG nicht berührt werden. Die umfassende Grundrechtsgebundenheit aller Staatsgewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG376 hebt speziell für die Grundrechte die grundsätzliche Bindung jeder Staatsgewalt an Verfassung und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG hervor377. Darüber hinaus qualifiziert die Klarstellung der Verbindlichkeit der Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG sie als unmittelbar geltendes Recht, das nicht der „interpositio legislatoris“378 bedarf. Damit gehören zu den formellen Kennzeichen des deutschen Grundrechtsbegriffs die Sicherungen der Art. 1 Abs. 3; Art. 79 Abs. 2, Abs. 3; Art. 19 Abs. 2 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG. Stern sieht die Charakteristika der Grundrechte in ihrer Fundamentalität, Positivität und Konstitutionalität379. Mit der Fundamentalität tritt ein materielles Element hinzu, das sich auch darin zeigt, daß es sich nicht um beliebige, sondern um „Grundrechte“ handelt. Damit läßt sich der materielle Charakter insoweit präzisieren, daß nur fundamentale Rechte erfaßt sind, also solche, die den „Grundstein“ bzw. die Basis der freiheitlichen und friedlichen Existenz des einzelnen bilden. Dies unterstreicht einmal mehr, daß nicht jedes beliebige Recht Grundrechtscharakter haben kann, sondern eine bestimmte inhaltliche Qualität erforderlich ist. Der Begriff der Fundamentalität wirft jedoch das Problem auf zu ermitteln, was fundamental ist und was nicht. Der Verfassungsgesetz375 Siehe hierzu auch die Wertung des BVerfG zur Einklagbarkeit von Rechten: BVerfGE 39, 276 (294), sieht als Charakteristika eines verfassungsmäßigen Rechts dessen Durchsetzbarkeit an: „Eine effektive Durchsetzung ist aber nur gewährleistet, wenn das Verlangen nach Erfüllung dieses Rechts gegenüber einem bestimmten Verpflichteten geltend gemacht werden kann und dem Rechtsinhaber nicht ein Verpflichteter präsentiert wird, der seinerseits zur Erfüllung außerstande ist.“ Zum ganzen Stern, Staatsrecht III/2, S. 1273 unter Verweis auf den Darstellenden Teil des Berichts über den Herrenchiemseer Konvent. 376 Von Stern, Staatsrecht III/1, S. 1178, zu Recht als „Schlüsselnorm“ bezeichnet. 377 Allerdings enthält Art. 1 Abs. 3 GG selbst keinen Verfassungssatz, an dessen Inhalt eine Bindung bestehen könnte; er spricht sich ausschließlich über das „Ob“ der Bindung aus; so BVerfGE 61, 126 (137). Das Ausmaß der Bindung im Einzelfall ergibt sich damit aus dem betroffenen Grundrecht. 378 Sachs (FN 18), S. 24 RN 2. 379 Stern, Staatsrecht III/1, S. 43 ff.

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte

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geber hat diese Bestimmung durch die Entscheidung für den bestehenden Grundrechtskatalog des Grundgesetzes getroffen. Eng damit zusammen hängt die Idee von der objektiven Wertordnung, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Lüth-Entscheidung näher ausgeführt hat380. Es hat dabei betont, daß die Grundrechte nicht nur in ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte gegen den Staat zu sehen sind, sondern auch als objektive Wertordnung, als Wertsystem. Daher seien die Grundrechte auch Ausdruck einer hinter den Abwehrrechten stehenden Wertordnung. Insoweit sind ist das einfache Recht durch seine Rückbindung an die Grundrechte charakterisiert, die Grundrechte selbst jedoch durch ihre Rückkoppelung an die ihnen zugrundeliegenden Werte381. Das Bundesverfassungsgericht hat mittlerweile seine Terminologie selbst modifiziert und gebraucht häufiger die etwas neutraleren Bezeichnungen der „Elemente objektiver Ordnung“382 oder spricht etwa von der „objektivrechtlichen Seite“383. Damit ist der zunächst gebrauchte werttheoretische Begriff einer sachnäheren Bezeichnung gewichen384. Die Abkehr von der werttheoretischen Untermauerung ändert jedoch nichts daran, daß die LüthRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Startschuß für die Ausbildung der objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte war. Diese folgten aus der Einordnung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen bzw. Wertentscheidungen385. Durch die objektiv-rechtlichen Gehalte haben die Grundrechte neue Facetten und Bedeutungsschichten zuerkannt bekommen. Ob nun die daraus resultierende Multifunktionalität der Grundrechte mit der „objektiven Wertordnung“ in Verbindung steht oder die Multifunktionalität Ausfluß der Stellung der Grundrechte als verfassungsrechtliche Fundamentalnormen ist, bedarf nicht der abschließenden Klärung. Denn unbestritten sind die Grundrechte des Grundgesetzes Ausdruck bestimmter gemeinsamer 380

BVerfGE 7, 198 (204 f.). Die Lüth-Entscheidung war von der Integrationslehre Smends beeinflußt, hierzu näher Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 1955, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (260 f.), insbesondere die Ausführungen unter der Überschrift: „Integrierender Sachgehalt der Verfassungen – Insbesondere die Grundrechte“. 381 Vgl. hierzu Alexy (FN 373), S. 125 ff. 382 BVerfGE 39, 1 (42); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 57, 295 (319 f.). 383 BVerfGE 20, 162 (175). Zur Entwicklung der Begrifflichkeiten des Bundesverfassungsgerichts siehe Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, 2004, § 19 RN 8 m. w. N. 384 Siehe aber auch die uneinheitliche Begriffswahl des BVerfG in Bezug auf Grundrechte: BVerfGE 31, 58 (70: „Leitnorm“); BVerfGE 21, 73 (85: „Maßstabsnorm“); BVerfGE 31, 58 (69 f.: „Grundprinzipien“ und „Strukturprinzipien“). 385 Hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29, 1990, S. 1 (3).

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

grundlegender Prinzipien, die die Rechtsordnung insgesamt prägen386. Die Grundrechte sind insoweit die verfassungsrechtliche Leitlinie innerhalb der gesamten Rechtsordnung, die einen Zustand größtmöglicher Freiheit sichern soll. Einen weiteren wichtigen materiellen Maßstab bildet zudem die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG387. Danach ist die Beeinträchtigung eines Grundrechts in seinem „Wesensgehalt“ verboten388. Auf diese Weise wird ein Kernbereich der Grundrechte als absolut festgelegt389. Hinzu tritt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der eine Grenze für die Beschränkung der Grundrechtsausübung enthält, die nur so weit zulässig ist, als es zum Schutze öffentlicher Interessen unerläßlich ist390. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt ihn aus dem Rechtsstaatsprinzip391; sieht ihn jedoch zugleich als Ausfluß aus dem Wesen der Grundrechte selbst392. Insoweit kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine „die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu“393. Damit können Grundrechte bezeichnet werden als fundamentale, in der Verfassung positivierte Rechte, die alle drei Gewalten binden, deren Geltung durch besondere Schutzmechanismen gesichert ist und die zudem gegen die Legislative gerichtlich durchsetzbar sind. Daneben kommt ihnen ein Doppelcharakter zu: zum einen in ihrer traditionellen Funktion als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat und zum anderen als „objektive Grundsatznormen“394.

386 Böckenförde spricht in diesem Zusammenhang von „flächendeckenden Prinzipien der Rechtsordnung“ (FN 385), S. 2; siehe auch Jörg Paul Müller, Zur sog. subjektiv- und objektiv-rechtlichen Bedeutung der Grundrechte, Der Staat 29, 1990, S. 33 ff.; Robert Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und objektive Normen, Der Staat 29, 1990, S. 49 ff. 387 Der deutsche Grundrechtsbegriff zeichnet sich durch weitere Merkmale aus, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. 388 Zur der problematischen Frage der Bestimmung des Wesengehalts, Stern, Staatsrecht III/1, S. 164 und S. 837 ff. (insbesondere zur inhaltlichen Reichweite S. 864 ff.). 389 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muß dieser für jedes Grundrecht unter Berücksichtigung der Verfassungssystematik ermittelt werden, BVerfGE 30, 47 (53). 390 BVerfGE 19, 342 (348 f.). 391 BVerfGE 61, 126 (134). Kritisch hierzu jedoch Detlef Merten, Zur verfassungsrechtlichen Herleitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Für Staat und Recht, Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S. 349 ff. 392 BVerfGE 19, 342 (348 f.). 393 BVerfGE 81, 310 (338).

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte

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II. Folgerungen für die Prozeßgrundrechte 1. Die Prozeßgrundrechte als Grundrechte Daß sich die Art. 101, 103 GG nicht im I. Abschnitt über die Grundrechte, sondern im IX. Abschnitt über die Rechtsprechung befinden, verdeutlicht, daß sie über eine formal verselbständigte Stellung in der Verfassung verfügen. Allerdings wurde bereits im Parlamentarischen Rat darauf hingewiesen, daß der Grundrechtsteil des Grundgesetzes nicht abschließend ist395 und sich auch an anderer Stelle Grundrechte finden396. Zum einen wurde von den „Grundrechtsartikeln des neunten Abschnitts“397 gesprochen und betont, daß die Art. 101, 103 GG „das Verhältnis des einzelnen Staatsbürgers gegenüber der rechtsprechenden Gewalt angehen“ und „im Kern grundrechtsartigen Charakter tragen“398. Zum anderen hält das Grundgesetz seine Einteilung selbst nicht stringent durch; so finden sich entgegen der Überschrift auch im I. Abschnitt des Grundgesetzes nicht nur Grundrechte, sondern auch andere Bestimmungen, wie etwa Art. 7 Abs. 1 und Art. 15 GG399. So wird auch von einer „Ergänzung des Grundrechtskatalogs durch die in Art. 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte“400 gesprochen. Insbesondere schließt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Art. 142 GG entgegen seinem Wortlaut nicht nur die Art. 1–18 GG, son394 Hierzu Sachs (FN 18), S. 46 RN 46, jedoch kritisch in RN 47 in Bezug auf mögliche Verknüpfungen von subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Wirkungen. 395 Vgl. die Äußerung von Berichterstatter Hermann von Mangoldt in seinem Schriftlichen Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen Nr. 850, 854), Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 6. 396 Hermann von Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, AöR 75, 1949, S. 273 (278); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG I, Art. 1 Abs. 3 RN 149. Grundlegend zur Aussagekraft des Grundrechtskatalogs für die Einordnung als Grundrechte Detlef Merten, Begriff und Abgrenzung der Grundrechte, in: ders./Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 35 RN 71 ff. 397 JöR n. F. Bd. 1 (1951), S. 739. 398 So der Abgeordnete Georg August Zinn in seinem „Schriftlichen Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland“ (Drucksachen Nr. 850, 854), Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, S. 49. 399 Vgl. Kunig, in: v. Münch/ders., GG I, Vorb. Art. 1–19 RN 48; Merten (FN 396), RN 72. 400 Ingo von Münch, Staatsrecht, Bd. 2, 5. Aufl. 2002, RN 629, der im übrigen von „prozessualen Grundrechten (Prozeßgrundrechte)“ spricht; vgl. auch ders., Staatsrecht, Bd. 1, 6. Aufl., 2000, RN 419.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

dern auch die Prozeßgrundrechte des IX. Abschnitts ein401 und liefert damit eine weitere Unterstützung dieser Interpretation. Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang sowohl von grundrechtsgleichen Rechten als auch von Prozeßgrundrechten sowie Grundrechten402. Aber auch eine vertiefte Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt keine letztendliche Klarheit über den Charakter der hier dargestellten verfahrensrechtlichen Garantien des Grundgesetzes403. Seine ambivalente Rechtsprechung zu den einzelnen Garantien deutet darauf hin, daß das Gericht sie schwerpunktmäßig als grundrechtsähnliche Rechte ansieht404. In der Lehre wird ebenfalls überwiegend ein Unterschied zwischen den prozessualen Garantien des Grundgesetzes und den Kataloggrundrechten des I. Abschnitts angenommen405, wobei die Rechte der Art. 101, 103 GG häufig als grundrechtsgleiche Rechte bezeichnet werden406. Nach hier vertretener Auffassung erscheint der Begriff Prozeßgrundrechte vorzugswürdig. Zwar ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG von einer Verletzung 401 BVerfGE 22, 267 (271), erwähnt es explizit für den Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht. Vgl. auch Merten (FN 396), RN 71. 402 Bezeichnung als „Grundrecht“ in BVerfGE 19, 93 (99). Bezeichnung als „Prozeßgrundrecht“ in BVerfGE 53, 205 (206); 56, 22 (32); 60 247 (249); BVerfG, NJW 2003, S. 1655. Bezeichnung als „grundrechtsgleich“ in BVerfGE 109, 13 (23); BVerfG, NJW 2004, S. 1371 (1373), (auf S. 1371 auch als „Verfahrensgrundrecht“ bezeichnet; so auch BVerfG, NJW 2002, S. 3533). 403 Siehe Hans Heinrich Rupp, Vom Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der Eigenbindung an Prozeßgrundrechte, in: Dörr/Fink/Hillgruber/Kempen/Murswiek (Hrsg.), Die Macht des Geistes, Festschrift für Hartmut Schiedermair, 2001, S. 431 ff. 404 Bezeichnung als „grundrechtsähnliche Rechte“ in BVerfGE 61, 82 (104): „Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (und Art. 103 Abs. 1 GG) gehören formell nicht zu den Grundrechten im Sinne von Art. 19 GG; sie gewährleisten auch nach ihrem Inhalt keine Individualrechte wie die Art. 1 bis 17 GG, sondern enthalten objektive Verfahrensgrundsätze, die für jedes gerichtliche Verfahren gelten und daher auch jedem zugute kommen müssen (. . .)“ BVerfGE 3, 359 (363), spricht in Bezug auf Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG von „verfassungsmäßige(n) Rechte(n)“. Hierzu aus jüngerer Zeit BVerfG, NJW 2003, S. 1924 (1926: „Die Verfahrensgrundrechte sichern in Form eines grundrechtsgleichen Rechts . . .“). 405 Vgl. Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 101, Abs. 1 RN 6; Ingo von Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I, 6. Aufl., 2000, S. 427; Thomas Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, 2000, S. 13 FN 4 m. w. N. Pieroth, in: Jarass/ ders., GG, Art. 101 RN 1, spricht davon, daß Art. 101 GG ein „einheitliches Grundrecht“ enthalte, um dann das „grundrechtsgleiche Recht“ Art. 101 Abs. 1 Satz 2 anzufügen. Nach Stern, Staatsrecht III/1, S. 1468, wäre die Aufzählung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a obsolet, wenn es sich bei Art. 101, 103 GG um Grundrechte handeln würde; dabei geht er von einer „weitgehenden Gleichstellung der Prozeßgrundrechte mit materiellen Grundrechten“ aus. 406 Siehe auch die Darstellung der Einzelrechte.

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte

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„(. . .) durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte“ die Rede. Diese Formulierung läßt jedoch nicht zwingend darauf schließen, daß die verfassungsrechtlich verbürgten Verfahrensrechte der Art. 101 und 103 von den Grundrechten verschieden sind407. Sie deuten vielmehr auf eine Gleichwertigkeit hin408. Zudem verdeutlicht der Begriff der Prozeßgrundrechte, daß diese Gruppe von Rechten den Prozeß als gemeinsamen Anknüpfungspunkt hat. Zum anderen wird durch die Verwendung des Begriffs klargestellt, daß es sich nicht etwa um Grundrechte „minderer Qualität“409 handelt. Außerdem findet sich das Kernelement der prozessualen Garantien mit Art. 19 Abs. 4 GG im Grundrechtskatalog410. Ein weiteres Indiz für die Grundrechtsqualität der Rechte der Art. 101, 103 ist die Tatsache, daß sie – soweit das Grundgesetz sie nicht erstmals auf Verfassungsebene verbürgt – bereits „im früheren deutschen Staatsrecht auch Aufnahme in die Grundrechtskataloge der Verfassungen gefunden hatten“411. Schließlich haben die Prozeßgrundrechte einerseits individualrechtssichernde und andererseits über den Einzelfall hinausreichende objektiv-rechtliche Bedeutung412, so daß es treffend ist, sie mit Dürig als „spezielle Grundrechte auf bestimmte verfahrensmäßige Behandlung“413 einzuordnen. 2. Grundsätzliche Anwendbarkeit der allgemeinen Grundrechtslehren Die besonderen Sicherungen, die das Grundgesetz für die Grundrechte vorsieht, sind grundsätzlich auch für die Prozeßgrundrechte anzuwenden. 407 So aber die wohl überwiegende Ansicht so etwa Stern, Staatsrecht III/1, S. 1460 ff. 408 In diesem Sinne Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG I, Art. 1 Abs. 3 RN 149: Er spricht in Bezug auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 GG von „wesensmäßig und deshalb auch positiv-verfassungsrechtlich gleichgestellten Rechten“ und benutzt in RN 199 einheitlich für die Art. 19 Abs. 4, 101 und 103 GG den Begriff „Justizgrundrechte“. Kritisch zur Eignung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG für eine Begriffsabgrenzung aufgrund seiner Eigenschaft als nachkonstitutionnelles Verfassungsrecht Merten (FN 396), RN 72 f. 409 So auch Dreier, in: ders., GG I, Vorb. RN 65. 410 Stern, Staatsrecht III/1, S. 366, zieht hieraus den Schluß, daß gerade die ausdrückliche Nennung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG dafür spreche, daß es sich nicht um „echte“ Grundrechte, sondern um grundrechtsartige, grundrechtsgleiche oder grundrechtsähnliche Rechte handele. 411 Hesse (FN 56), S. 125 RN 277. Unter Bezugnahme auf diese Aussage von Hesse spricht Dreier, in: ders., GG I, 2. Aufl., 2004, Vorb. RN 63, davon, daß die Prozeßgrundrechte „materiell als Grundrechte anzusehen“ seien. 412 Zuletzt BVerfGE 107, 395 (401 ff.). 413 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Erstkommentierung zu Art. 1 Abs. 3 RN 119.

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

Zum einen wurde ihre Gleichartigkeit mit den Grundrechten des I. Abschnitts festgestellt, zum anderen ist kein Grund ersichtlich, weshalb das formelle Hauptprozeßgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG einem anderen Regime unterliegen sollte oder gar ein qualitativ „höherwertiges“ oder bedeutsameres Recht sein sollte als die Rechte der Art. 101, 103 GG414. Beides spricht dafür, daß die Prozeßgrundrechte des IX. Abschnitts auch bei der Anwendbarkeit der formellen Sicherungsmechanismen des Grundgesetzes den „echten“ Grundrechten des I. Abschnitts nicht nachstehen415. Insoweit gelten für die Prozeßgrundrechte sowohl Art. 19 Abs. 2 GG416 und die umfassende Bindung jeder staatlichen Gewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG417 als auch die Erfordernisse des Art. 79, Abs. 2 und Abs. 3. Die Bezeichnung als Prozeßgrundrechte bildet damit keinen Indikator für eine Einordnung als „Grundrechte zweiter Klasse“, sondern beschreibt Grundrechte, die als ihren besonderen Anknüpfungspunkt den gerichtlichen Prozeß haben418.

III. Verwurzelung im Rechtsstaatsgedanken Alle dargestellten Prozeßgrundrechte sind Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips419. Für den hier zusätzlich zu den ausdrücklich im Grundgesetz verankerten Prozeßgrundrechten untersuchten Sonderfall des ungeschriebenen „Rechts auf ein faires Verfahren“ stellt das Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG sogar den unmittelbaren Geltungsgrund dar420. Es handelt sich bei den Prozeßgrundrechten damit immer um Grundbausteine des Rechtsschutzsystems und Kennzeichen rechtsstaatlicher Justiz. Somit besteht eine untrennbare Beziehung zwischen den Prozeßgarantien und dem Rechtsstaatsprinzip, die zugleich charakteristisch für die deutschen Prozeßgrundrechte ist. Dies wirft die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen Rechtsstaatsprinzip und Prozeßgrundrechten auf.

414

Merten (FN 396), RN 77. Dreier, in: ders., GG I, 2. Aufl., 2004, Vorb. RN 63. 416 Hesse (FN 56), S. 125 RN 277; Pieroth/Schlink (FN 8), S. 19 RN 65 f. 417 Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 1 RN 20; Kunig, in: v. Münch/ders., GG I, Art. 1 Abs. 3 RN 48 und Vorb. 1–19 RN 8; Merten (FN 396), RN 74; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG I, Art. 1 Abs. 3 RN 131; BVerfGE 52, 203 (207). 418 „Das Grundrechtssystem als Niederschlag des Wertsystems der Verfassung ist vielmehr eine Einheit, die durch Grundrechtslokalisierungen im organisatorischen Teil nicht unterbrochen wird.“, so Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Erstkommentierung von Art. 1 Abs. 3 RN 92. 419 Vgl. Stern, Staatsrecht III/1, S. 1444. 420 BVerfGE 93, 99 (107). 415

C. Gemeinsame Merkmale der deutschen Prozeßgrundrechte

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1. Das Verhältnis der Prozeßgrundrechte zum Rechtsstaatsprinzip Die Prozeßgrundrechte stellen die Kehrseite zum Gewaltmonopol des Staates dar. Der Bürger muß vom Staat die erforderlichen und geeigneten Mittel für die Geltendmachung seiner Rechte erhalten, da er diese nicht selbst und zwangsweise durchsetzen darf. Die Forderung nach einem grundsätzlich effektiven Rechtsschutz ist damit essentieller Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips421. Es ist nicht ausreichend, daß die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung besteht, vielmehr muß das gesamte Verfahren rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen422. Die Bindung der Staatsgewalt an das Recht als ein Kernelement des Rechtsstaats423 ist nur dann sinnvoll, wenn ihre Einhaltung durch eine unabhängige Instanz kontrolliert und zugleich garantiert wird. Allerdings werden die Gerichte zur Kontrolle der rechtmäßigen Ausübung der Staatsgewalt nicht im Rahmen eines Amtsermittlungsgrundsatzes tätig, sondern nur aufgrund einer Handlung des Betroffenen. Die Möglichkeit zu dieser Handlung erhält der Betroffene gerade durch die Prozeßgrundrechte zugesprochen424. Vor dem Hintergrund, daß Gesetze nur dort umgesetzt werden können, wo Mechanismen zu ihrer Durchsetzung bestehen, kann die Existenz von prozessualen Verfahrensgarantien als Grundvoraussetzung des Rechtsstaates angesehen werden. Auf diese Weise garantieren die Prozeßgrundrechte eine effektive Umsetzung der Grundrechtsgarantien im gerichtlichen Verfahren. Das Bundesverfassungsgericht betont, daß die Idee des Rechtsstaates beim Schutz der Grundrechte omnipräsent sei425. Der Ausbau des Grundrechtsschutzes ist somit von entscheidender Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit des Grundgesetzes. Art. 19 Abs. 4 GG zeigt dabei die Rechtsschutzmöglichkeiten des einzelnen auf. Soweit es sich nicht um Akte der öffentlichen Gewalt im Sinne dieser Bestimmung handelt, findet der Rechtsschutz eine Entsprechung in dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch, der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 421 Zuletzt in BVerfGE 107, 395 (401), „Die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaates.“ 422 Vgl. Maurer (FN 53), 468 f. 423 Dies entspricht der ursprünglichen Idee des Rechtsstaates als Begrenzung staatlicher Macht, so wie sie vor allem von Immanuel Kant geäußert wurde, der allerdings den Begriff Rechtsstaat nicht verwandte, aber als einer der „Väter der deutschen Rechtsstaatskonzeption“ gilt. Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, in: Weischedel (Hrsg.), Werksausgabe, T.VIII, § 45 S. 431. 424 Hier ließe sich ein Bezug zum Demokratieprinzip konstruieren, geht man davon aus, daß das Recht auf dem Willen der Volksvertretung beruht und seine Durchsetzung damit zugleich der Verwirklichung des Demokratieprinzips dient. 425 BVerfGE 42, 212 (222); 45, 187 (246 ff.).

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

GG hergeleitet wird426. Dabei ist die Herausstellung der Judikative bei der Gewährleistung des Rechtsstaates nicht begriffsnotwendig vorgegeben, sondern spezifisches Element des Rechtsstaatsprinzips nach dem Grundgesetz. 2. Das Verhältnis des Rechts auf ein faires Verfahren zum Rechtsstaatsprinzip Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ist Staatsstrukturprinzip des Grundgesetzes427. Die Einordnung als Staatsstrukturprinzip reicht alleine zwar nicht für die Ableitung eines allgemeinen Prozeßgrundrechts auf ein faires Verfahren aus. Andererseits schließt sein Charakter als Staatsstrukturprinzip es aber nicht aus, daß das Rechtsstaatsprinzip auch subjektiv-rechtliche Elemente aufweist, die ähnlich strukturiert sind wie die Art. 101, 103 GG428. Jedenfalls durch die Verknüpfung mit Art. 2 Abs. 1 GG können rechtsstaatliche Elemente einen subjektiv-rechtlichen Einschlag erlangen. Auf diese Weise kann dem Rechtsstaatsprinzip eine Lückenschließungsfunktion zukommen. Soweit das Bundesverfassungsgericht rechtsstaatliche Mindestanforderungen nicht mehr gewahrt sieht, erfolgt häufig ein Rückgriff auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip, um diese Lücke zu schließen. Das entwickelte allgemeine Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren ist Ausdruck und Ergebnis dieser Praxis. Auf der Ebene der Prozeßgrundrechte stellt es eine Art „Auffangprozeßgrundrecht“429 dar. Diese Flexibilität des Rechtsstaatsprinzips ist charakteristisch für das Rechtsstaatsprinzip deutscher Prägung430. Das Rechtsstaatsprinzip zeigt sich also anpassungsfähig und erlaubt es, auf der Grundlage eines Kernbestandes situationsbedingt neue Ausprägungen zu entwickeln. In der Entwicklungsgeschichte wurden immer wieder neue Untergrundsätze aus dem Rechtsstaatsprinzip deduziert, die als weitere Facette die Konkretisierung des Begriffes erschweren431. Gerade im Bereich des Verfahrensrechts ist seine An426

Hierzu näher unter B. I. 2. b) bb). Ausführlich Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Abs. 3 RN 226 ff. 428 In diesem Sinne vgl. Stern, Staatsrecht III/1, S. 370. Vgl. etwa auch BVerfGE 95, 96 (130: „Bestandteile von unterschiedlicher normlogischer Qualität“). 429 Zum Begriff „Auffanggrundrecht“ im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 1 GG siehe Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 2 RN 2 m. w. N. 430 Insbesondere das BVerfG weist immer wieder darauf hin, daß wegen der „Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips mit Behutsamkeit vorzugehen“ sei, BVerfGE 57, 250 (276); 70, 297 (308). 431 Kunig (FN 345) S. 85 ff., sieht die Öffnung des Rechtsstaatsprinzips als unnötig an, da sich dies ins gesamt unter Rückgriff auf Ausprägungen im Grundgesetz lösen ließe. 427

D. Ergebnis für Deutschland

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passungsfähigkeit geeignet, seiner in der historischen Entwicklung bereits angedeuteten „Reservefunktion“432 gerecht zu werden. Auf diese Weise wird auch durch die Rechtsprechung433 des Bundesverfassungsgerichts Rechtsstaatlichkeit konkretisiert434.

D. Ergebnis für Deutschland Aus der Untersuchung der deutschen Prozeßgrundrechte lassen sich für den weiteren Gang der Arbeit folgende Definitionen und Schlußfolgerungen ableiten: Die Prozeßgrundrechte des Grundgesetzes sind mit Dürig als „spezielle Grundrechte auf bestimmte verfahrensmäßige Behandlung“435 anzusehen. Der Unterscheidung zwischen grundrechtsgleichen und Grundrechten wird somit aus den dargelegten Gründen nicht gefolgt. Die Bezeichnung als Prozeßgrundrechte betont dieses Verständnis durch die Kombination des gemeinsamen Anknüpfungspunktes der Rechte („Prozeß“) mit dem Begriff des Grundrechts. Auf diese Weise werden zugleich sowohl ein inhaltlicher Rahmen als auch ihre Struktur und Eigenart charakterisiert. Besonderheiten gelten jedoch für das ungeschriebene Recht auf ein faires Verfahren, das zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als allgemeines Prozeßgrundrecht zu bezeichnen ist, aber keine eigenständige, ausdrückliche Kodifizierung im Grundgesetz vorweisen kann. Seinen Verfassungsrang erhält es durch die Verankerung im Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Auf diese Weise bleibt es jedoch selbst stets an das Rechtsstaatsprinzip gebunden. Die Prozeßgrundrechte sind einerseits selbst Ausprägung und Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, andererseits sichern sie rechtsstaatliche Kernelemente, so daß ihnen insgesamt ein „Sicherungscharakter“436 für das Rechtsstaatsprinzip zukommt. Durch ihre besondere Verknüpfung mit dem Rechtsstaatsprinzip und dessen Handhabung als „offenes 432

Siehe hierzu Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 RN 45. So geht das Gebot des effektiven Rechtsschutzes über den Wortlaut der spezialgesetzlichen Ausprägung des Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG hinaus, vgl. BVerfGE 53, 115 (127). Zum Verbot, Richter in eigener Sache zu sein, siehe BVerfGE 3, 377 (381). 434 Zur Trennung und zum Verhältnis der Prozeßgrundrechte zu den abgeleiteten verfahrensrechtlichen Grundsätzen aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie von den einfachgesetzlichen Verbürgungen zur den verfassungsrechtlichen Vorgaben hat das BVerfG – soweit ersichtlich – bislang keine eindeutige Stellungnahme abgegeben; als Ansatz kann möglicherweise BVerfGE 60, 305 (310 f.) gelten. 435 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Erstkommentierung zu Art. 1 Abs. 3 RN 119. 436 So Stern, Staatsrecht III/1, S. 370. 433

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1. Kap.: Prozeßgrundrechte in Deutschland

Prinzip“ ergibt sich die Möglichkeit, auftretende Lücken im verfahrensrechtlichen Grundrechtsschutz zu schließen. Diese Charakteristika bilden Anknüpfungspunkte und Vergleichsmaßstäbe der Rechtsvergleichung mit England und Frankreich. Die Suche nach vergleichbaren Rechtsinstituten in diesen beiden Ländern erfolgt im Hinblick auf Inhalt, Rang und Schutzwirkung. Dabei sind in einer ersten Stufe Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts in diesen Ländern zu identifizieren und darzustellen. Auf der zweiten Stufe wird ihr Rang im Vergleich zu den deutschen Prozeßgrundrechten untersucht und insbesondere Wert auf die Analyse gelegt, ob sich hinter möglicherweise inhaltlich vergleichbaren Verfahrensrechten ein entsprechendes Verständnis von Grundrechten verbirgt. Einer möglichen Rückbindung der festzustellenden Verfahrensrechte an grundlegende Prinzipien, wie etwa in Deutschland an das Rechtsstaatsprinzip, wird auf der dritten Stufe nachgegangen.

Zweites Kapitel

Prozeßgrundrechte in Frankreich A. Begriff der Prozeßgrundrechte Einen dem deutschen Begriff der Prozeßgrundrechte entsprechenden Begriff kennt das französische Recht nicht1. Bei einem ersten Blick in die geltende Verfassung von 1958 finden sich keine Hinweise auf grundlegende verfassungsrechtliche Verfahrensrechte. Dies könnte daran liegen, daß Frankreich wie kaum ein anderer europäischer Staat einen Wechsel der Verfassungen und politischen Regime durchlebt hat, so daß die Entwicklung einer einheitlichen Systematik unter einem Mangel an Verfassungskontinuität litt. Jede neue Verfassung stand im Zeichen einer anderen politischen und rechtlichen Konzeption der Verfassungsväter. Den französischen Erklärungen wird auch oft der Vorwurf gemacht, sie bestünden zwar aus prägnanten Formulierungen, sähen aber keine wirksamen Garantien der verbrieften Rechte vor. Entsprechend finden etwa das Erfordernis des rechtlichen Gehörs oder auch der Rechtsschutzanspruch gegen Akte der öffentlichen Gewalt auf der Ebene des geltenden geschriebenen Verfassungsrechts in Frankreich ebenso wenig eine ausdrückliche Verankerung wie das Recht auf ein faires Verfahren oder auf den gesetzlichen Richter. Sowohl die geltende Verfassung von 1958 als auch die über Verweisung in deren Präambel einbezogene Erklärung von 1789 und die Präambel der Verfassung von 1946 schweigen sich hierzu aus2. Allerdings enthält die Verfassung von 1958 Vorschriften, die sich mit dem Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens auseinandersetzen. So finden sich in ihrem XIII. Titel Regelungen, die die Gerichtsverfassung betreffen, so etwa Art. 64 Abs. 1, der die Unabhängigkeit der Rechtspflege betrifft, sowie das Verbot willkürlicher Haft in Art. 66 Abs. 1. Darüber hinaus las1 Zum Begriff „droits fondamentaux de procédure“ und zu dessen Bezug zur Grundrechtecharta siehe Serge Guinchard, Menaces sur la justice des droits de l’homme et les droits fondamentaux de procédure, in: Justice et Droits Fondamentaux, Études offertes à Jacques Normand, Paris 2003, S. 209 ff. 2 Abs. 1 der Präambel der Verfassung von 1958 lautet: „Le peuple franc ¸ ais proclame solennellement son attachement aux Droits de l’homme et aux principes de la souveraineté nationale tels qu’ils ont été définis par la Déclaration de 1789, confirmée et complétée par le préambule de la Constitution de 1946, ainsi qu’aux droits et devoirs définis dans la Charte de l’environnement de 2004.“

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

sen sich den Art. 7, 8 und 16 der Erklärung von 1789 verfahrensrechtliche Anforderungen entnehmen, auf die später näher einzugehen sein wird. Ergänzt wird dieser erste Befund durch die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel (Verfassungsrat) und auch des Conseil d’État (Staatsrat). In diesem Kontext spielt das ungeschriebene Konzept der droits de la défense (Verteidigungsrechte) eine zentrale Rolle, das neben dem principe d’égalité devant la loi (Gleichheit vor dem Gesetz) aus Art. 1 der Verfassung von 1958 näher zu untersuchen sein wird. Es besteht somit auch in Frankreich ein buntes Bild an prozessualen Garantien unterschiedlicher Herkunft. Es ist nunmehr in einem ersten Schritt zu untersuchen, ob die angesprochenen Verfahrensrechte als Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts zu den deutschen Prozeßgrundrechten gelten können. Im nächsten Schritt wird dann darauf einzugehen sein, ob sie in Rang, Schutzwirkung und Geltungskraft das funktionale Äquivalent darstellen.

B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts I. Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt Eine Art. 19 Abs. 4 GG entsprechende Vorschrift findet sich im geschriebenen französischen Verfassungsrecht nicht3. Diese Formulierungslücke ist Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung der Verwaltungskontrolle und der Rolle der Richter in Frankreich4, auf die daher kurz einzugehen ist. 1. Historische Entwicklung der Verwaltungskontrolle in Frankreich Als Ausdruck des strengen französischen Gewaltenteilungsverständnisses war die Kontrolle der Verwaltung in Frankreich ursprünglich eine rein interne Angelegenheit5 und dem Zugriff der ordentlichen Gerichte entzogen. Das französische Verständnis der Gewaltenteilung zielte darauf ab, die Verwaltung vor einer Einmischung durch die ordentliche Gerichtsbarkeit zu bewahren. Der Gedanke einer Kontrolle der Verwaltung durch Gerichte blieb daher zunächst gegenüber den Bestrebungen zur Gewährleistung der Eigen3 Vgl. auch Michael Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, S. 73 ff. 4 Ausführlich Johannes Koch, Verwaltungsrechtsschutz in Frankreich, 1998, S. 20 ff.; Peter Becker, Der Einfluß des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, 1963, S. 7 ff. 5 Vgl. René Chapus, Droit Administratif Géneral, Bd. 1, 15. Aufl., Paris 2001, S. 747 (771 f.).

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ständigkeit der Verwaltung ein fremdes Element6. Deshalb genossen die französischen Verwaltungsbehörden bei der Klärung streitiger Fälle völlige Freiheit. Eine unabhängige Instanz außerhalb der Verwaltung, an die sich der Bürger mit einem Rechtsschutzersuchen wenden konnte, gab es nicht. Vor diesem Hintergrund wurde 1799 von Napoleon der Conseil d’État ins Leben gerufen7. Dessen Arbeit wurde jedoch über das gesamte 19. Jahrhundert durch die Tatsache erschwert, daß Minister für die Beschwerden einzelner gegen die Verwaltung zuständig waren8 und der Conseil d’État selbst erst dann tätig wurde, wenn das Urteil des Ministers angegriffen wurde. Selbst dann konnte der Conseil d’État lediglich dem Staatsoberhaupt einen Entscheidungsvorschlag unterbreiten, aber kein eigenes Urteil fällen. Erst 18729 erhielt er eigenständige Entscheidungsgewalt und wurde ein unabhängiges Kontrollorgan10. Der Conseil d’État hat auch heute noch eine Doppelfunktion als verwaltungsrechtliches Kontrollorgan zum einen und als Beratungsorgan der Regierung zum anderen11. Darüber hinaus besteht seit der französischen Revolution sowohl seitens der Politik als auch seitens der Rechtslehrer ein starkes Mißtrauen gegenüber der Justiz12, das bis heute noch nicht völlig überwunden wurde. Dieses 6 Siehe Art. 10, 12 und 13 des Gesetzes vom 16. August 1790. Art. 13 lautet: „Les fonctions judiciaires sont distinctes et demeuront toutjours séparées des fonctions administratives. Les juges ne pourront, à peine de forfaiture, troubler de quelques manières que ce soit les opérations des corps administratifs ni citer devant eux les adminsitrateurs pour raison de leurs fonctions.“ Aus diesen Vorschriften leiteten die Franzosen das principe de la séparation des autorités administratives et judiciaires ab und begründen ihr besonderes Gewaltenteilungsverständnis. 7 Ausführlich hierzu Chapus (FN 5), S. 749. 8 Praxis des ministre-juge, die ihr Ende erst durch das Urteil Cadot des Conseil d’État vom 13. Dezember 1889 fand, siehe hierzu Koch (FN 4), S. 29; Elisabeth Zoller, Droit constitutionnel, 2. Aufl., Paris 1999, S. 596. 9 Durch Gesetz vom 24. Mai 1872. 10 Vgl. Claus Dieter Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit: eine vergleichende Untersuchung zum deutschen, französischen und europäischen Verwaltungsprozeßrecht, 1996, S. 13 ff. 11 Siehe Art. 37, 38 und 39 der Verfassung von 1958. Er ist zwar Teil der Exekutive, aber trotzdem unabhängig, ohne jedoch zur autorité judiciaire zu gehören, wie sie in Art. 64 der Verfassung von 1958 genannt wird. Im einzelnen Volker Schlette, Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich, 1991, S. 42 ff. 12 Vgl. hierzu Luc Heuschling, État de droit, Rechtsstaat, Rule of Law, Paris 2002, S. 369 ff., insb. S. 372 ff. zur Frage einer gerichtlichen Kontrolle und dem Vorschlag von Sieyès, eine „jurie constitutionnaire“ einzuführen. Diese sollte über Beschwerden der Bürger wegen Verletzung der Verfassung durch die Gesetzgebung entscheiden. Der Vorschlag fand 1795 jedoch keine Mehrheit und wurde erst von Napoleon wieder aufgegriffen, hierzu auch Rainer Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126, 2001, S. 10 (42).

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

Mißtrauen ist das Ergebnis der Erfahrungen mit den parléments13 der vorrevolutionären Zeit. Die parléments waren Provinzgerichte, die in erster Linie für Streitigkeiten zwischen Bürgern im Bereich des Zivil- und Strafrechts zuständig waren. Die Richter übten ihr Amt unabhängig vom König aus, dessen Position im Verlauf der Vorgeschichte der französischen Revolution immer schwächer wurde14. Zwar hatte er den parléments jede Einmischung in Streitigkeiten der Bürger mit der königlichen Verwaltung untersagt, konnte aber das Erstarken ihrer Machtposition in der turbulenten Vor-Revolutionszeit nicht verhindern. Dies führte zu einem kontinuierlichen Machtzuwachs der parléments, die ihre Chance ergriffen und die Grenze zur gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung überschritten15. Um fortan jede Form der Einmischung zu unterbinden, wurde die radikale Trennung der Gerichtsbarkeiten mit der Folge eingeführt, daß die Verwaltung jeder unabhängigen gerichtlichen Kontrolle entzogen wurde; sie wurde zu ihrem eigenen Richter. Rechtsmittel erhielt der Bürger in Form des recours gracieux16 und des recours hiérarchique17 zugestanden, die auch heute noch existieren. Daraus resultiert in Frankreich ein grundsätzliches Mißtrauen gegen die Richterschaft und – damit einhergehend – ein großes Vertrauen in Gesetze als Regelungsinstrumente. Entsprechend wurde auch eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für die Verwaltungskontrolle abgelehnt18. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Conseil d’État und der politischen Situation in der Dritten Republik entwickelte sich das droit administratif19, dessen Fokus nicht länger auf der Abschottung der Verwaltung gegen die Rechtsprechung lag, sondern vielmehr die Aufstellung von Regeln anstrebte, die der Verwaltungstätigkeit einen einheitlichen Rahmen vorgeben sollten. Auf diese Weise entwickelte sich der Gedanke einer Kontrolle der 13 Näher Mauro Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, Oxford 1989, S. 124 f.; vgl. auch Gabriele Knoll, Grundzüge eines europäischen Standards für den einstweiligen Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, 2002, S. 59; Koch (FN 4), S. 21. 14 Michel Fromont, La protection juridictionelle du particulier contre le pouvoir executive en France, in: Mosler (Hrsg.), Gerichtsschutz gegen die Exekutive, 1969, S. 221 (223). 15 Siehe Franc ¸ ois Monnier, La naissance du contentieux administratif moderne, Rev. Adm. Bd. 286, 1995, S. 348 ff. 16 Der Adressat hat die Möglichkeit, sich an die Behörde zu wenden, die den Rechtsakt erlassen hat. 17 Der Adressat erhält die Möglichkeit, sich mit seiner Beschwerde an die nächst höhere Behörde zu wenden. Zu den beiden Möglichkeiten siehe Zoller (FN 8), S. 596. 18 Ausführlich hierzu Chapus (FN 5), S. 747. 19 Die Vorgeschichte für die Entstehung des droit administratif wird in dem Zeitraum von 1799 bis 1872 angesiedelt.

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Verwaltung durch eine spezielle Gerichtsbarkeit anhand spezifischer Regeln. Das Dogma der verwaltungsinternen Kontrolle wurde auf diesem Weg kontinuierlich aufgeweicht. Dennoch hat sich das Konzept einer Rechtsschutzgewährleistung gegen Akte der öffentlichen Gewalt in der französischen Rechtsentwicklung nicht in dem dezidierten Maße herausgebildet, wie es etwa in Deutschland der Fall ist. 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung a) Terminologie Die Terminologie zur möglichen Lokalisierung eines Rechtsschutzanspruchs in Frankreich schwankt zwischen droit au juge20, droit d’agir en justice21, droit d’accès à la justice22, droit d’accéder au juge, droit au recours23 und droit au recours juridictionnel24. Besonders häufig ist der Ausdruck droit au recours juridictionnel anzutreffen. Renoux spricht in Zusammenhang mit dieser Terminologie von einem „droit primordial“25, ohne jedoch aus dieser Bezeichnung Konsequenzen für die Verortung in der französischen Rechtslandschaft abzuleiten. Im Rahmen dieser verschiedenen Ausdrücke sind zwei grundlegende Termini zu unterscheiden: das droit au recours und das droit au recours juridictionnel26. Unter droit au recours ist 20 Dominique Rousseau, Droit du contentieux constitutionnel, 5. Aufl., Paris 1999, S. 262. 21 Chapus (FN 5), S. 57, der jedoch in der Überschrift auch von „droit aux recours juridictionnels“ spricht (S. 56). 22 Zur Terminologie accès au droit und accès à la justice siehe Yvon Desdevises, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2003, S. 1 ff. Vgl. auch Zoller (FN 8), S. 595, die im droit d’accès á la justice die notwendige Voraussetzung zur effektiven Wahrnehmung des recours juridicitionnel und des recours administratif sieht. 23 Norbert Foulquier, Les droits publics subjectifs des administers, Paris 2003, S. 644; Zoller (FN 8), S. 595, die jedoch auch von droit au juge spricht. 24 Ausführlich Thierry Renoux, Le droit au recours juridictionnel, La Semaine Juridique (JCP), Nº 19, 1993, S. 211 ff. (213); siehe auch Foulquier (FN 23), S. 644. 25 Renoux (FN 24) S. 211; auf S. 212 betont er jedoch die Bedeutung dieses Rechts für jede Gesellschaft, die auf der Basis des Rechts begründet sei. 26 So spricht Zoller (FN 8), S. 595, denn auch vom droit d’être entendu. Sie unterscheidet dann den recours administratif von dem recours juridictionnel, wobei sie ersteren als „réclamation qu’adresse le particulier à l’Administration aux fins d’être maintenu ou retabli dans ses droits“ definiert. Dieses Prinzip läßt sich historisch darauf zurückführen, daß der recours administratif [über den letztendlich der Minister entschied (justice retenue)] dem recours juridictionnel [über den der Conseil d’État entschied (justice déléguée)] vorausging. Die Gleichwertigkeit von recours administratif und recours juridictionnel ist nicht mehr gewahrt, wenn die liberté individuelle (siehe Art. 66 der Verfassung von 1958) bedroht wird.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

der Rechtsschutz durch die Verwaltung selbst zu verstehen, unter droit au recours juridictionnel der Rechtsschutz durch die Gerichtsbarkeit. Fraglich ist jedoch, wo dieses Recht in der französischen Rechtsordnung verankert ist und ob sich hinter ihm ein Art. 19 Abs. 4 GG vergleichbares Konzept verbirgt, das es rechtfertigt, von einem vergleichbaren Institut zu sprechen. b) Wesen Grundsätzlich können in Frankreich alle von der Verwaltung erlassenen Rechtsakte vor Gericht angefochten werden27; dies hat der Conseil d’État in dem Urteil „Dame Lamotte“ ausdrücklich festgestellt28. Diesem Grundsatz kommt allerdings nur der Rang eines einfachen Gesetzes zu, so daß sich die Frage nach einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt stellt29. Der Conseil Constitutionnel hat in seiner Entscheidung „Maîtrise de l’immigration“30 die Möglichkeit, Widerspruch gegen eine Verwaltungsentscheidung einzulegen, als „droit fondamental à caractère constitutionnel“31 bezeichnet. In einer Entscheidung vom 22. April 1997 bestätigte der Conseil Constitutionnel32, daß es ausreichend sei, wenn dem Bürger eine nicht-gerichtliche Instanz33 für sein Rechtsersuchen zur Verfügung gestellt wird34. Die GleichSiehe zur Position des Conseil Constitutionnel zunächst CC 93-325 DC vom 13. August 1993, cons. 84 und 86; CC 97-389 DC vom 22. April 1997, cons. 30. Danach handelt es sich beim droit au recours um ein absolutes Recht in dem Sinne, daß von ihm nur durch eine Verfassungsänderung abgewichen werden kann, wohingegen das droit au recours juridictionnel Gegenstand von „atteintes“ sein kann, solange diese nicht substantiell sind, siehe CC 96-373 DC vom 9. April 1996, cons. 83. 27 Mit dieser Feststellung auch Classen (FN 10), S. 15. Die Hauptklage ist der recours pour excès de pouvoir (vergleichbar mit der deutschen Anfechtungsklage, die Übersetzung mit „Amtsüberschreitungsklage“ wäre jedoch treffender). Untersuchungsgegenstand können hier nur behördliche Handlungen sein, Gesetze werden auch nicht inzident überprüft. 28 Conseil d’État, Entscheidung vom 17. Februar 1950, Rec. S. 111. 29 Louis Favoreu, Du déni de justice en droit public francais, Paris 1964, hat sich bereits in den sechziger Jahren mit der Frage der gerichtlichen Kontrolle der öffentlichen Gewalt in Frankreich beschäftigt. 30 CC 93-325 DC vom 13. August 1993. 31 CC 93-325 DC vom 13. August 1993, cons. 84 und 86. 32 CC 97-389 DC vom 22. April 1997, cons. 30. 33 „Une autorité de nature non juridictionnelle“ CC 97-389 DC vom 22. April 1997, cons. 30. 34 In CC 89-261 DC vom 28. Juli 1989, cons. 29, erklärt der Conseil Constitutionnel, daß die effektive Gewährleistung des Rechte des einzelnen von der ordentlichen Gerichtsbarkeit genauso gut wie von den Verwaltungsgerichten erfüllt werden

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wertigkeit von gerichtlichem und außergerichtlichem Rechtsschutz wird nur im Falle des Art. 66 Satz 2 der Verfassung von 1958 aufgehoben35. Dort ist für den Fall der Bedrohung der liberté individuelle die ordentliche Gerichtsbarkeit ausdrücklich als deren Hüterin genannt36. In Art. 11 des Verfassungsprojekts vom 19. April 1946 war vorgesehen: „. . . la loi assure à tous les hommes le droit de se faire rendre en justice et l’insuffisance des ressources ne saurait y faire obstacle.“ Damit wurde der Gedanke der sozialen Gleichheit der Justizgewährleistung („. . . tous les hommes . . .“) ebenso angesprochen wie die Justizgewährleistung selbst. Diese Bestimmung wurde jedoch durch Referendum zurückgewiesen und fand somit weder Eingang in die Verfassung vom 27. Oktober 1946 noch in die aktuelle von 195837. Eine über Art. 66 Satz 2 hinausgehende Garantie des speziellen Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt wird nicht statuiert38. c) Ansätze einer Verankerung in der Verfassung Möglicher Ansatz einer Verankerung auf Verfassungsebene könnte Art. 16 der Erklärung von 1789 sein, der lautet: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée ni la séparation des pouvoirs déterminé, n’a point de Constitution.“ Diese Bestimmung betont die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes, einer garantie des droits, und bietet damit einen möglichen Ansatzpunkt für die Konstruktion eines Justizgewährleistungsanspruchs39. Zudem hat der Conseil Constitutionnel in seiner Entscheidung vom 23. Januar 1987 ausgeführt: „. . . le droit pour le justiciable formant un recours contre une décision de cet organisme de demander et d’obtenir, le cas échéant, un sursis à l’exécution de la décision attaqué constitue une garantie essentielle des droit de la défense.“40 Damit liefert kann: „(. . .) que la bonne administration de la justice commande que l’exercice d’une voie de recours appropriée assure la garantie effective des droits des intéressés; que toutefois cette exigence, qui peut être satisfaite aussi bien par la juridiction judiciaire que par la juridiction administrative, ne saurait à elle seule autoriser qu’il soit porté atteinte à un principe de valeur constitutionnelle.“ 35 „L’autorité judiciaire, gardienne de la liberté individuelle, assure le respect de ce principe (bezieht auf Art. 66 Satz 1, A. d. V.) dans les conditions prévues par la loi.“ 36 Ausführlich hierzu Rousseau (FN 20), S. 260 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des CC 89-261 DC vom 28. Juli 1989, in der er ausführt: „La garantie effective des droits des intéressés peut être satisfaite aussi bien par la juridiction judiciaire que par la juridiction administrative.“ 37 Hierzu Jean Vincent/Serge Guinchard, Procédure Civile, 26. Aufl., Paris 2001, S. 105. 38 Vgl. auch Chapus (FN 5), S. 760. 39 Zoller (FN 8), S. 599.

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der Conseil Constitutionnel zum einen den Hinweis auf die Zuordnung der Rechtsschutzgewährleistung zu dem insoweit noch nicht näher bestimmten Konzept der droits de la défense41. Zum anderen gibt er einen Hinweis auf einen möglichen invidualschützenden Charakter („. . . le droit pour le justiciable . . .“). Damit ergeben sich zwei mögliche Verankerungen für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt im französischen Verfassungsrecht: eine geschriebene in Art. 16 der Erklärung von 1789 und eine ungeschriebene im Konzept der droits de la défense. aa) Die droits de la défense (1) Konzept Um die Entwicklung der Verteidigungsrechte in Frankreich zu verstehen, müssen einige Besonderheiten der französischen Geschichte berücksichtigt werden. Ursprünglich aus dem Bereich des Strafrechts als dem klassischen Anwendungsbereich der Verteidigungsrechte des Angeklagten vor Gericht kommend42, haben die droits de la défense schnell umfassendere Geltung beansprucht43. Zunächst im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens entwikkelt, wurden sie auch auf das einfache Verwaltungsverfahren ausgedehnt. Für diese Entwicklung von Bedeutung war die Praxis der fiches44 und der damit einhergehende politische Skandal, der den Erlaß des Finanzgesetzes vom 22. April 1905 nach sich zog. Dieses führte – soweit ersichtlich – erstmalig zur Ausdehnung der Anforderungen der droits de la défense auf das Verwaltungsverfahren45. In seinem Artikel 65 enthielt das Gesetz von 1905 das Recht aller Verwaltungsbeschäftigten, Kenntnis von allen relevanten Dokumenten zu erhalten („communication du dossier“), bevor sie Gegenstand disziplinarischer Maßnahmen werden konnten. Die wesentlichen Entscheidungen des Conseil d’État in der weiteren Fortentwicklung waren: „Dame veuve Trompier-Gravier“46 sowie „Ministre 40

CC 86-224 DC vom 23. Januar 1987, cons. 22. Zur Schwierigkeit der genauen Inhaltsbestimmung siehe Geneviève GiudicelliDelage, Droits de la Défense, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2003, S. 364 ff. 42 Siehe Zoller (FN 8), S. 576 (579 f.). 43 Siehe Giudicelli-Delage (FN 41), S. 364; ausführlich zur Entwicklung auch Chapus (FN 5), S. 1118 ff. 44 Anlegung von Akten über religiöse und politische Gesinnung näher Zoller (FN 8), S. 590. 45 Charles Debbasch, Droit Administratif, 6. Aufl., Paris 2002, S. 490. Das Finanzgesetz von 1905 wurde insoweit als „point d’appui“ bezeichnet, Nachweis bei Zoller (FN 8), S. 590. 41

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des P.T.T. c/sieur Garysas“47. Im ersten Fall wurde einer Zeitungsverkäuferin wegen eines Fehlverhaltens die Genehmigung für den Verkauf der Zeitungen entzogen, ohne ihr die Verweigerungsgründe mitzuteilen. Obwohl es sich nicht um eine Verwaltungsangestellte handelte, wandte der Conseil d’État die Prinzipien des Art. 65 des Finanzgesetzes entsprechend an. Auch in dem anderen Fall kam es zu einer Mißachtung von Verteidigungsrechten. Vor diesem Hintergrund führte der Conseil d’État das Konzept der droits de la défense und damit zugleich verschiedene Mindestanforderungen an das Verfahren in den Bereich des Verwaltungsrechts ein. Im Lauf der Zeit wurde der Anwendungsbereich der droits de la défense weiter ausgedehnt. Heute ist davon auszugehen, daß die Beachtung der droits de la défense in jeder Verfahrensart zwingend ist48. (2) Rechtliche Einordnung des Konzepts der droits de la défense Der Conseil Constitutionnel hat den droits de la défense inzwischen ausdrücklich Verfassungsrang zugesprochen49. Er ordnet sie als „principe à valeur constitutionnelle, rattaché aux principes fondamentaux reconnus par les lois de la République“ (PFRLR) ein50. Bei den PFRLR handelt es sich um eine eigenständige Kategorie innerhalb des französischen Verfassungsrechts, die in der Präambel der Verfassung von 1956 genannt wird und über die Verweisung in der Präambel der aktuellen Verfassung von 1958 auch heute zum geltenden Verfassungsrecht gehört. Sowohl vom Conseil d’État51 als auch von der Cour de Cassation52 (Kassationshof) wurde und wird das 46

Conseil d’État, Entscheidung vom 5. Mai 1944, Rec. S. 133. Conseil d’État, Entscheidung vom 9. Dezember 1955, Rec. S. 585. 48 So auch Zoller (FN 8), S. 592. Dies hatte zur Folge, daß sich auch das Verhältnis der Verwaltung zum Bürger gewandelt hat. Siehe auch Thierry Renoux, Droits de la défense, in: Duhamel/Mény (Hrsg.), Dictionnaire Constitutionnel, Paris 1992, S. 331 m. w. N. 49 Siehe die erstmalige Zuordnung zu dem PFRLR in CC 76-70 DC vom 2. Dezember 1976, cons. 2; CC 80-127 DC vom 19/20. Oktober 1981, cons. 52. Vgl. auch CC 97-389 DC vom 22. April 1997, cons. 16: „principe constitutionnel des droits de la défense“ und CC 93-325 DC vom 13. August 1993, cons. 84: „les droits de la défense constituent . . . un droit fondamental à caractère constitutionnel“. Siehe auch Chapus (FN 5), S. 1118, Rousseau (FN 20), S. 422. 50 Vgl. nur CC 76-70 DC vom 2. Dezember 1976, cons. 2; CC 88-248 DC vom 17. Januar 1989, cons. 29, und aus jüngerer Zeit CC 89-260 DC vom 28. Juli 1989, cons. 44. 51 Conseil d’État, Entscheidung vom 13. Dezember 2004, nº 274757, cons. 7. 52 Vgl. nur C. Cass. Ch. Crim., Entscheidung vom 6. Juli 1993, Bull. Crim. Nº 242, S. 605. Cass. Ass. Plén., Entscheidung vom 30. Juni 1995, Bull. Crim. Nº 4, S. 7, spricht sogar von „droit fondamental à caractère constitutionnel“. 47

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Konzept der droits de la défense als principe général du droit anerkannt53. Dieser Befund erfordert es, näher die Kategorie der principes généraux du droit und der PFRLR zu erläutern, um eine Einordnung innerhalb des französischen Normengefüges treffen zu können. (3) Principes fondamentaux reconnus par les lois de la République (PFRLR) Die PFRLR finden in der Präambel der Verfassung von 1946 Erwähnung54, die in die Präambel der nachfolgenden Verfassung von 1958 Eingang fand55. Sie bekräftigt zunächst die Rechte der Erklärung von 1789, bezieht sich dann auf die PFRLR56, um im Anschluß einige politische, wirtschaftliche und soziale Grundsätze aufzuführen57. Die Kategorie der PFRLR wird dabei genannt, ohne daß ihr einzelne Rechte zugeordnet werden. Ihr Inhalt bleibt damit auf den ersten Blick schemenhaft. Die Rechtsgewinnung und Zuordnung zur Ebene der PFRLR durch den Conseil Constitutionnel erfolgt unter Rückgriff auf die Gesetzgebung der III. Republik58 und insoweit unter Rückgriff auf einfachgesetzliche Regelungen59. Diese Verfahrensweise eröffnet dem Conseil Constitutionnel einen beträchtlichen Spielraum bei der Beurteilung, welche Prinzipien die Voraussetzungen eines PFRLR erfüllen. So wurden beispielsweise die droits de la défense im Strafverfahren60 und 53 Auch der Conseil Constitutionnel spricht in CC 90-287 DC vom 16. Januar 1991, cons. 28, von principes généraux du droit und zählt die droit de la défense dazu. 54 Instruktiv zur Struktur der Präambel der Verfassung von 1946 Jacques Chevallier, Essai d’analyse structurale du péambule, in: Le Préambule de la Constitution de 1946, Antinomies juridiques et contradictions politiques, Paris 1996, S. 13 ff. (insbesondere die Übersichten auf S. 20 und 23 sowie zum Verhältnis zur Erklärung von 1789 auf S. 27 ff.). 55 Siehe Zitat in FN 2. 56 Zur Begrifflichkeit Bruno Genevois, Une catégorie des principes de valeur constitutionnelle: Les principes fondamentaux reconnus par les lois de la République, in: Avril/Verpeaux (Hrsg.), Les règles et principes non écrits en droit public, Paris 2000, S. 21 (23). 57 Speziell zur Frage des Verfassungsrangs der ökonomischen und sozialen Grundsätze in der Verfassung von 1946 Claude Devès, Der französische Conseil Constitutionnel (Verfassungsrat) und die soziale Republik, DÖV 1989, S. 249 f. 58 Genevois (FN 56), S. 25, sieht in diesem retrospektiven Charakter der PFRLR ein Handicap, das die Anerkennung und Verbreitung der Kategorie negativ beeinflußt habe; speziell zur Bedeutung des Adjektivs fondamental im Zusammenhang mit der Anerkennung des Verfassungsrangs auf S. 29. 59 Zu dieser Besonderheit Constance Grewe, Die Grundrechte und ihre richterliche Kontrolle in Frankreich, EuGRZ 2002, S. 209 (210). 60 CC 76-70 DC vom 2. Dezember 1976, cons. 2, wobei diese Einordnung nicht als Beschränkung auf den Bereich des Strafrechts zu verstehen ist.

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die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichte61 als PFRLR charakterisiert und erhielten auf diese Weise Verfassungsrang zuerkannt. Nachdem der Conseil Constitutionnel anfänglich zahlreiche Entscheidungen zur Bestimmung der PFRLR erlassen hat, agiert er seit 1971 zurückhaltender und hat seitdem nur neun solcher Prinzipien anerkannt62. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1971 hat der Conseil Constitutionnel die PFRLR in den bloc de constitutionnalité aufgenommen63. Dieser von Favoreu64 geprägte Begriff bezeichnet die Gesamtheit des französischen Verfassungsrechts, das als Maßstab für die präventive Kontrolle von Gesetzen durch den Conseil Constitutionnel herangezogen wird65. Damit hat sich zugleich auch dessen Prüfungsmaßstab erweitert, der sich auf die Verfassung von 1958 und die über deren Präambel einbezogenen Rechtstexte und Rechtsquellen bezieht. (4) Principes généraux du droit Von den PFRLR abzugrenzen sind die principes généraux du droit (allgemeine Rechtsgrundsätze), die ursprünglich der Conseil d’État entwickelt hat und die häufig mit den PFRLR verwechselt werden66. Bei diesen principes 61

CC 80-119 DC vom 22. Juli 1980, cons. 6. Siehe die Aufzählung bei Guillaume Drago, Contentieux constitutionnel franc¸ais, 2. Aufl., Paris 2006, S. 262 ff. (264); Grewe (FN 59), S. 210, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß zwar der Conseil Constitutionnel die Rechte aus den unterschiedlichen Rechtsquellen grundsätzlich auf einer Hierarchieebene ansiedelt, aber sie dennoch nicht immer gleich behandelt und insbesondere zwischen unmittelbar gültigen und konkretisierungsbedürftigen Rechten unterscheidet. Da dies von Fall zu Fall entschieden werde, leide die Präzision des Grundrechtsbegriffs. In diesem Sinne auch Georges Vedel, La place de la Déclaration de 1789 dans le „bloc de constitutionnalité“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen et la jurisprudence, Colloque des 25 et 26 mai 1989 au Conseil Constitutionnel, Paris 1989, S. 35 (52). Zur begrenzten Bedeutung der Kategorie heute auch Genevois (FN 56), S. 30. 63 Ausführlich Drago (FN 62), S. 262 ff. 64 Soweit ersichtlich, hat Louis Favoreu diese Bezeichnung erstmals in seinem Aufsatz, Le principe de constitutionnalité: Essai de définition d’après la jurisprudence du Conseil constitutionnel, in: Mélanges Eisenmann, Paris 1974, S. 33 ff., verwendet. Hierzu auch die Groupe d’Études et de Recherches sur la Justice Constitutionnelle, Länderbericht Frankreich, in: Weber (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe and North America, Loseblattslg., Stand: August 2002, S. 13; zu den vom Conseil Constitutionnel entwickelten Kriterien für die Charakterisierung als PFRLR siehe S. 14 und dem Hinweis, daß sich der Conseil Constitutionnel seit den 80er Jahren verstärkt bemühe, möglichst genaue geschriebene Grundlagen für die Entwicklung bzw. Verankerung einzelner Rechte zu finden. 65 Siehe auch die Ausführungen hierzu bei Pierre Pactet/Ferdinand Mélin-Soucramanien, Droit Constitutionnel, 27. Aufl., Paris 2008, S. 79 f. 66 „La confusion entre les principes (non qualifiés ou qualifiés de généraux ou de ‚fondamentaux reconnus par les lois de la République‘) invoqués par le Conseil 62

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généraux du droit67; handelt es sich nicht um positiviertes Recht, sondern um Prinzipien, die sich aus rechtlichen Traditionen ableiten lassen und eine Lückenfüllungsfunktion besitzen. Die principes généraux du droit dienen auch dem Schutz der Rechte des einzelnen und waren insofern ihr Schutzschild gegen die Bedrohung durch das Vichy Régime68. Erstmals 194569 als Argumentationshilfe herangezogen, kann ihre Herausbildung als Ausfluß des Gerechtigkeitsgedankens gesehen werden70. Sie sollten damals die bestehenden Lücken bei der effektiven Gewährung individuellen Rechtsschutzes vor willkürlichen Maßnahmen der Verwaltung schließen71. Zu klären ist zudem, auf welcher Normenstufe diese allgemeinen Rechtsgrundsätze einzuordnen und ob möglicherweise innerhalb dieser Kategorie noch weitere Abstufungen notwendig sind72. Die principes généraux du droit sind in der Hierarchie unterhalb der Verfassung und oberhalb des einfachen Gesetzes anzusiedeln. Damit gehören sie nicht zum bloc de constitutionnalité und werden insoweit nicht bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes vom Conseil Constitutionnel herangezogen. Dieser hat allerdings einige der principes généraux in Verfassungsrang erhoben73, so daß sich insgesamt ein uneinheitliches Bild seiner Rechtsbezüge ergibt. Da die vorgelegte Rechtsvergleichung ihren Ausgangspunkt in den deutschen Prozeßgrundrechten nimmt, sind für den Fortlauf der Arbeit constitutionnel et les ‚principes généraux du droit‘ posés par le Conseil d’État doit être évitée“, so Vedel (FN 62), S. 51. Darüber hinaus existieren die principes à valeur constitutionnelle, die principes fondamentaux des Art. 34 der Verfassung von 1958 sowie die principes particulièrement nécessaires à notre temps, die sich gegenseitig widerspiegeln und beeinflussen, auch Franck Moderne, Actualité des principes généraux du droit, in: Avril/Verpeaux (Hrsg.), Les règles et principes non écrits en droit public, Paris 2000, S. 47 (50). 67 Ausführlich Chapus (FN 5), S. 94 ff.; hierzu auch Laurent Pech, Rule of Law in France, in: Peerenboom (Hrsg.), Asian discourses of the rule of law, London 2004, S. 79 (88). 68 Claude-Albert Colliard, Libertés publiques, 6. Aufl., Paris 1982, S. 113 ff. 69 Conseil d’État, Entscheidung vom 26. Oktober 1945, Rec., S. 213, hierzu auch Moderne (FN 66), S. 52. 70 Moderne (FN 66), S. 47 (51), beschäftigt sich u. a. damit, inwieweit das Konzept der allgemeinen Rechtsgrundsätze noch zeitgemäß ist. Kritisch zu der Kombination der Ausdrücke „principe“ und „généraux“ auf S. 48 f. 71 Ausführlich Grote (FN 12), S. 27, Moderne (FN 66), S. 47 ff. So auch Christian Tomuschat, Das Recht auf Familieneinheit, EuGRZ 1979, S. 191 (194). 72 Denkbar wäre etwa, diese Prinzipien oberhalb der Verordnung, aber unterhalb des einfachen Gesetzes, auf Gesetzesebene oder gar auf Verfassungsebene einzuordnen. Zur geringen Bedeutung einer solchen Einteilung für die Rechtspraxis, Tomuschat (FN 71), S. 195. 73 So beispielsweise die droits de la défense, für den Bereich des Strafrechts siehe CC 76-70 DC vom 2. Dezember 1976, cons. 2. Insgesamt hierzu auch Moderne (FN 66), S. 54 f., 56; Genevois (FN 56), S. 33.

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unter den principes généraux du droit vorrangig nur diejenigen mit Verfassungsrang von Bedeutung. Von diesen wiederum werden nur solche weiter berücksichtigt, die eine den Prozeßgrundrechten vergleichbare Ausrichtung aufweisen. Beide Kriterien erfüllt das Konzept der droits de la défense. (5) Inhaltliche Präzisierung der droits de la défense Die inhaltliche Präzisierung bereitet einige Schwierigkeiten, denn eine klare Definition des Prinzips der Beachtung der Verteidigungsrechte ist in der einschlägigen Rechtsprechung nicht zu finden. In der Literatur existieren mehrere Definitionsversuche, die jedoch keine klare Zuordnung von Prinzipien ermöglichen74. Zum einen werden die droits de la défense sehr weit interpretiert, zum andern werden oft weitere Prinzipien hinzugerechnet, so das principe du contradictoire (Kontradiktorisches Verfahren) und das principe d’égalité des armes (Waffengleichheit)75. Das Prinzip der droits de la défense kann darüber hinaus auch Basis für die Formulierung und Herausbildung sowie Ergänzung weiterer Prinzipien sein76. Auf diese Weise bildet das Konzept der Beachtung der Verteidigungsrechte ein Prozeßmodell, an dem sich die öffentliche Gewalt ebenso wie die Justiz zu orientieren hat77. Da den droits de la défense übergesetzlicher Rang zukommt, wenden sie sich sowohl an die Legislative, an die Exekutive als auch an die Judikative78. Als ein weiteres Element der droits de la défense hat der Conseil Constitutionnel mit seiner Rechtsprechung das droit au recours juridictionnel abgeleitet. Damit hat er die verfassungsrechtliche Lücke im Hinblick auf die Rechtschutzgarantie insbesondere gegen Akte der öffentlichen Gewalt geschlossen, die die geltende Verfassung von 1958 aufweist. Ausdrücklich in Erscheinung getreten ist dieses abgeleitete Recht jedoch erst in der Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 25. Februar 199279, die am 13. August 199380 bestätigt wurde. 74

Siehe auch die Beispiele bei Giudicelli-Delage (FN 41), S. 364 f. Giudicelli-Delage (FN 41), S. 365 f. 76 Das principe du double degré de juridiction erhält vom Conseil Constitutionnel keinen Verfassungsrang zuerkannt, wird von ihm aber bei der Untersuchung, ob die droits de la défense beachtet wurden, eingebaut, vgl. CC 80-127 DC vom 19./20. Januar 1981, cons. 44. 77 Für die Verwaltung betont dies CC 97-395 vom 30. Dezember 1997, cons. 38: „(. . .) que le principe constitutionnel des droits de la défense s’impose à l’autorité administrative sans qu’il soit besoin, pour le législateur, d’en rappeler l’existence (. . .)“. 78 Chapus (FN 5), S. 1118. 79 CC 92-307 DC, cons. 30, wo es heißt: „. . . toute décision infligeant une sanction peut faire l’objet devant la juridiction administrative d’un recours de pleine juridiction“. Dann spricht der Conseil Constitutionnel von „le droit de recours“. 80 CC 93-325 DC vom 13. August 1993, cons. 84 (86). 75

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

bb) Art. 16 der Erklärung von 1789 Die verfassungsrechtliche Verankerung eines Justizgewährleistungsanspruchs gegen Akte der öffentlichen Gewalt über das Konzept der droits de la défense wurde durch den Conseil Constitutionnel in seiner Entscheidung vom 21. Januar 1994 erweitert, indem er ausdrücklich auch eine Verankerung in Art. 16 der Erklärung von 1789 sah81. Damit hat der Conseil Constitutionnel in seiner Rechtsprechung aus Art. 16 eine veritable Verpflichtung zur Gewährung von Rechtsschutz herausgebildet82. Allerdings überrascht der Rückgriff auf Art. 16 der Erklärung bei näherem Hinsehen. Denn Art. 16 steht unter dem Titel „garantie des droits“ und gibt zwar einen Hinweis auf den Richter und seine konstitutive Rolle, stand jedoch wie die gesamte Erklärung von 1789 weitgehend unter dem Einfluß des Naturrechts. Es handelt sich bei ihr nicht um eine Erklärung, durch die Rechte konstituiert werden, sondern um eine Erklärung bereits existierender Rechte, die lediglich in einem Dokument zusammengefaßt und öffentlich zugestanden werden83. Diese Verankerung in Art. 16 der Erklärung ist Ergebnis des Bestrebens des Conseil, den Verwaltungsrechtsschutz verfassungsrechtlich abzusichern. Mittlerweile ist das droit au recours juridictionnel Gegenstand ständiger Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel und etablierter Überprüfungsmaßstab84. Der Justizgewährleistungsgedanke findet auf diese Weise in Art. 16 der Erklärung von 1789 eine Verankerung im geschriebenen Verfassungsrecht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Conseil Constitutionnel damit die Verankerung im Konzept der droits de la défense aufgegeben hätte. Vielmehr behält er die gleichzeitige Einordnung als Element der droits de la défense bei. In seiner Entscheidung vom 23. Juli 1999 führt er dementsprechend aus, daß die Beachtung des droit au recours durch den Gesetzgeber gleichzeitig auch die Respektierung der droits de la défense bedeute85. Damit ist das droit au recours juridictionnel sowohl über die droits de la défense als auch über Art. 16 Teil des Prüfungsmaßstabs des bloc de constitutionnalité. 81 CC 93-335 DC vom 21. Januar 1994, cons. 4; CC 96-373 DC vom 9. April 1996; cons. 83; CC 99-416 DC vom 23. Juli 1999, cons. 38. 82 Differenziert hierzu Classen (FN 10), S. 13 f. 83 So bestimmt die Präambel der Erklärung von 1789: „Les représentants du peuple francais constitués en Assemblée nationale (. . .) ont résolu d’exposer dans une déclaration solennelle, les droits naturels, inaliénables et sacrés de l’Homme.“ 84 Vgl. etwa Entscheidung 2003-484 DC vom 20. November 2003 – Saisine AN – Loi relativeà la maîtrise de l’immigration, au séjour des étrangers en France et à la nationalité (abrufbar unter www.conseil-constitutionnel.fr), dort unter II.4. Siehe auch Chapus (FN 5), S. 56 f. 85 CC 99-416 DC vom 23. Juli 1999, cons. 38.

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cc) Ergebnis Der Conseil Constitutionnel hat durch seine Rechtsprechung Ansätze entwickelt, die sich in einer Gesamtschau als ein verfassungsrechtliches Recht auf Gewährleistung von Rechtsschutz gegen Verwaltungshandeln interpretieren lassen. Zudem existiert nach der Rechtsprechung des Conseil d’État das principe généraux du droit, gegen jede Verwaltungsentscheidung den Weg der recours pour excès de pouvoir (Amtsüberschreitungsklage86) beschreiten zu können87. Dies ist auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung der Fall88. 3. Inhalt des droit au recours juridictionnel a) Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber Der Conseil Constitutionnel gibt dem Gesetzgeber die Verpflichtung auf, die Ausübung des droit au recours juridictionnel zu unterstützen89. Damit obliegen die Bedingungen der Umsetzung des droit au recours juridictionnel oder – wie Renoux es nennt das droit d’agir en justice – dem Gesetzgeber90. Daraus folgt zunächst, daß das Recht auf einen recours juridictionnel nicht absolut ist91, sondern durchaus beschränkt werden kann, solange diese Beschränkung nicht substantiell ist. Diesbezüglich führt der Conseil Constitutionnel aus: „En principe il ne doit pas être porté d’atteintes substantielles au droit des personnes intéressées d’exercer un recours effectif devant une juridiction.“92 Dieser Ausspruch, der auf Basis des Art. 16 der Erklärung von 1789 ergangen ist, geht auch inhaltlich einen Schritt weiter als die Aussage des Conseil d’État im Urteil „Dame Lamotte“93. Dieses Urteil postulierte das 86

Näher hierzu Chapus (FN 5), S. 98 m. w. N. und S. 786 f. Sogar der Conseil d’État hat in einer Entscheidung vom 29. Juli 1998, nº 188715, cons. 5 von einem „principe de valeur constitutionnelle du droit d’exercer un recours juridictionnel“ gesprochen. 88 Vgl. Chapus (FN 5), S. 98; Tonne (FN 3), S. 74. 89 Hierzu Vincent/Guinchard (FN 37), S. 112 ff. 90 Renoux (FN 24), S. 214. 91 Es sei denn, es handelt sich um einen Fall des Art. 66 der Verfassung von 1958, vgl. auch Zoller (FN 8), S. 598. 92 CC 96-373 DC vom 9. April 1996, cons. 83; CC 99-416 DC vom 23. Juli 1999, cons. 38. 93 „(. . .) le recours pour excès de pouvoir devant le Conseil d’État contre l’acte de concession, recours qui est ouvert même sans texte contre tout acte administratif, et qui a pour effet d’assurer, conformément aux principes généraux du droit, le res87

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

allgemeine Rechtsprinzip, daß gegen jede Entscheidung der Verwaltung der recours pour excès de pouvoir gegeben ist, und damit zugleich den weitergehenden Grundsatz, daß auch ohne eine ausdrückliche Rechtswegeeröffnung immer ein Rechtsweg eröffnet sein muß. Der Conseil Constitutionnel setzt jedoch mit seiner weitergehenden Aussage der ausgestaltungs- und inhaltskonkretisierenden Befugnis des Gesetzgebers Grenzen und gibt zugleich das Ziel vor, einerseits die Rechtsschutzmöglichkeiten durch die Gesetzgebung zu effektivieren und andererseits auch nicht wesentlich zu verkürzen94. Dies verdeutlicht die Formulierung des Verbotes substantieller Beschränkungen (atteintes substantielles). Darüber hinaus lassen sich aus der zitierten Formulierung die Voraussetzungen eines droit au recours juridictionnel95 entnehmen, da es sich bei den Berechtigten um „personnes intéressées“96 handeln muß, denen ein „recours effecif“ gewährt wird. b) Die Voraussetzung der „personnes intéressées“ Die Anforderung der personnes intéressées drückt aus, daß nicht jeder beliebig das droit au recours juridictionnel in Anspruch nehmen kann, sondern ein besonderes Interesse des Inanspruchnehmenden gefordert wird. Die mögliche Verletzung eines subjektiven Rechts ist nicht nötig; denn während im französischen Zivilrecht die Idee des subjektiven Rechts fest verankert ist, ist dies im öffentlichen Recht nicht der Fall97. Vielmehr ist es von einem tiefen Mißtrauen gegen das subjektive Rechtsverständnis geprägt. Damit sind Ausmaß und Form der Betroffenheit zu klären, die die Voraussetzung für eine Inanspruchnahme des droit au recours juridictionnel im öffentlichen Recht erfüllen. Grundsätzlich soll der Weg zu den Gerichten jedem Rechtssubjekt offen stehen98, was sich als Konsequenz aus dem principe d’égalité devant la loi (Gleichheit vor dem Gesetz) ergibt99. Im Bereich des Rechtsschutzes gegen Verwaltungshandeln100 sind die Anforderungen an dieses qualifizierte Interesse daher weit gefaßt und greifen damit bereits ab einer pect de la légalité (. . .)“, Conseil d’État, Entscheidung vom 17. Februar 1950, Rec. S. 111. 94 Vgl. Renoux (FN 24), S. 214. 95 Ausführlich Zoller (FN 8), S. 598. 96 Renoux (FN 24), S. 214, spricht hier von „existence d’un droit lésé“ (Vorliegen eines verletzten Rechts, Übers. des Verf.), eine Formulierung, die weiter greift als die des Conseil Constitutionnel. 97 Ausführlich hierzu jetzt Fouquier (FN 23); siehe auch Tonne (FN 3), S. 75. 98 Diese Position spiegelt sich in Art. 14 und 15 des Code Civil wider. 99 Renoux (FN 24), S. 215. 100 Zu Rechtsschutz im Bereich des Strafrechts und des Zivilrechts siehe Zoller (FN 8), S. 600 und S. 601.

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niedrigen Eingriffsschwelle. Grundsätzlich reicht ein intérêt pour agir aus, eine konkrete Rechtsverletzung wird nicht gefordert101. Renoux spricht in diesem Zusammenhang von „droits subjectifs constitutionnels“102 und begibt sich damit auf ein umstrittenes Terrain103. Die weitere Entwicklung in der französischen Konzeption bleibt insoweit abzuwarten. Nach der bisherigen Rechtsprechung genügt bereits eine generelle „rechtliche Betroffenheit“104. Diese Schlußfolgerung fügt sich in den Gesamtkontext des Verwaltungsrechtsschutzes in Frankreich ein, der grundsätzlich geringere Anforderungen als die mögliche konkrete Verletzung eines eigenen Rechts stellt105. c) Das Erfordernis eines „recours effectif“ Neben der vergleichsweise niedrigen Schwelle des qualifizierten persönlichen Interesses ist auch in Frankreich nicht jeder beliebige Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt ausreichend. Vielmehr hat dieser Rechtsschutz den Anforderungen der Effizienz und Effektivität zu genügen.106 Daraus folgen mehrere zu erfüllende Aspekte: Der Zugang zu den Gerichten muß allen Bürgern gleichermaßen offenstehen, und der Staat hat eine funktionierende Justiz zur Verfügung zu stellen und zu garantieren, daß alle Bürger von ihren Rechten Gebrauch machen können107. Der Conseil Constitutionnel hat daher das droit au recours juridictionnel nicht nur natürlichen, sondern auch juristischen Personen zugesprochen108. Darüber hinaus ist dieses Recht nicht an die Staatsangehörigkeit geknüpft, so daß französische Staatsbürger ebenso wie Ausländer sich hierauf berufen können. Nach 101 Chapus (FN 5), S. 795, bezeichnet es so und erklärt, daß es sich um eine „intérêt personnel à obtenir ce qu’il demande“ handeln müsse. 102 Renoux (FN 24), S. 214. 103 Aufgrund des auf Léon Duguit zurückgehenden Skeptizismus bezüglich des subjektiven öffentlichen Rechts hat sich diese Figur in Frankreich kaum durchgesetzt, ausführlich zu dieser Figur Maurice Hauriou, Précis de Droit Constitutionnel, 2. Aufl., Paris 1929, S. 618 ff. 104 Vgl. die Einstufung bei Chapus (FN 5), S. 795, als „(. . .) elle est (. . .) fort libéralement interprétée, l’intérêt invoqué étant jugé suffisant dès lors qu’il n’est pas lésé de fac¸on exagérément incertaine ou exagérément indicrecte.“ 105 Kritisch Renoux (FN 24), S. 214, der sich an der deutschen Konzeption des Art. 19 Abs. 4 GG anzulehnen scheint und es als bedenklich ansieht, daß der Gesetzgeber die Reichweite der Rechte bestimmen soll mit der Folge, daß er dann letztendlich über die Reichweite des droit au recours juridictionnel entscheidet. 106 Speziell zur Anforderung der effectivité des Rechtsschutzes und ihren Folgen Desdevises (FN 22), S. 3. 107 Renoux (FN 24), S. 216, bezeichnet dies als „caractère effectif du droit au recours juridictionnel“. Von einem „droit à un recours juridictionnel effectif“ spricht u. a. CC 99-416 DC vom 25. Juli 1999, cons. 36. Vgl. auch Zoller (FN 8), S. 606. 108 Z. B. CC 89-257 DC vom 25. Juli 1989, cons. 24.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

ständiger Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel gehört zu der Effektivität des recours juridictionnel auch das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen109 und einen Dolmetscher in Anspruch zu nehmen110 sowie die Existenz eines Prozeßkostenhilfesystems111. Dieses ermöglicht jedem Berechtigten, über das droit au recours juridictionnel auch ohne ausreichende eigene finanzielle Mittel Rechtsschutz zu erlangen112. All diese Aspekte sind Ausdruck des Grundsatzes, daß jeder Bürger gleichermaßen Zugang zu den Gerichten erhalten muß und damit letztendlich Ausdruck des Prinzips der „égalité devant la loi“113, das Verfassungsrang genießt. d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Das droit au recours juridictionnel gewährt die Garantie des ungehinderten Zugangs zu den Gerichten; soweit Zugangsbeschränkungen erforderlich sind, müssen diese für alle betroffenen Personengruppen im gleichen Maße gelten. Der Staat darf insoweit den Rechtsschutz nicht willkürlich verkürzen. Durch das Erfordernis der Effektivität des zu gewährenden Rechtsschutzes werden Gesetzgeber und Richter zudem verpflichtet, die Verfahrensordnungen im Sinne bestmöglicher Ergebnisse zu gestalten und anzuwenden. Die Verpflichtung zu einer effektiven Rechtsschutzgewähr wurde durch den Conseil Constitutionnel zugestanden, wenn auch nicht ausdrücklich anerkannt. Aus der Rechtsprechung läßt sich insoweit auch ableiten, daß eine substantielle Beschränkung des droit au recours juridictionnel nicht zulässig wäre. 109

Seit CC 79-109 DC vom 9. Januar 1980, cons. 3. Dieser Aspekt würde in Deutschland eher unter das Recht auf rechtliches Gehör fallen, da dieses die Gestaltung des Verfahrens selbst betrifft und nicht den Zugang zu Gerichten wie Art. 19 Abs. 4 GG. 111 „. . . mécanisme d’aide juridictionnelle légale“, vgl. Renoux (FN 24), S. 216, der einen Bezug zum État de droit herstellt: „. . . un progrès de l’État de droit, les dispositions de la loi du 10 juillet 1991, qui instituent une aide à l’accès au droit, prise en charge financièrement par l’État . . .“ Hierzu auch Desdevises (FN 22), S. 5 (speziell zum Gedanken der effectivité auf S. 3); Zoller (FN 8), S. 607. 112 Dies gilt auch für juristische Personen, die nicht über ausreichende eigene finanzielle Mittel verfügen. 113 CC 75-56 DC vom 23. Juli 1975, cons. 4, erklärt der Conseil: „(. . .) le principe d’égalité devant la justice qui est inclus dans le principe d’égalité devant la loi proclamé dans la Déclaration des Droits de l’homme de 1789 et solennellement réaffirmé par le préambule de la Constitution“, um im nächsten considérant zu erklären, daß „(. . .) le respect de ce principe fait obstacle à ce que des citoyens se trouvant dans des conditions semblables et poursuivis pour les mêmes infractions soient jugés par des juridictions composées selon des règles différentes“. Somit muß das, was für die égalité devant la justice gilt, auch für das principe de l’égalité d’accès à la justice gelten. Hierzu auch Vincent/Guinchard (FN 37), S. 106. 110

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4. Bewertung Die neuere Entwicklung der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel114 und die Tendenzen einer constitutionalisation115 des einfachen Rechts in Frankreich führen zu dem Ergebnis, daß in Frankreich eine verfassungsrechtliche Verankerung der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns besteht116. Es handelt sich dabei zwar nicht – wie in Deutschland – um eine Fokussierung auf den Individualrechtsschutz117, und der einzelne hat auch keine Möglichkeit, eine Verletzung des droit au recours juridictionnel selbst vor dem Conseil Constitutionnel einzuklagen. Dies ist auch nach der Reform vom 23. Juli 2008, in Kraft seit dem 1. März 2010, der Fall118. Anders als in Deutschland, wo der Individualrechtsschutz an vorderster Stelle steht, dient die Verwaltungskontrolle in Frankreich traditionell der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle119. Dennoch ist der Rechtsschutz gegen Exekutivakte in Frankreich verfassungsrechtlich gewährleistet, und zudem zeichnet sich eine Versubjektivierung des Verfahrens durch die beständige Weiterentwicklung in der Rechtsprechung ab120. Darüber hinaus ist der Bürger auch auf dieser Ebene nicht schutzlos: Er114 CC 96-373 DC vom 9. April 1996; CC 99-441 DC vom 16. Juni 1999; CC 99-416 DC vom 23. Juli 1999; CC 99-422 DC vom 21. Dezember 1999, wo in cons. 64 ausdrücklich von einem „droit à un recours juridictionnel effectif qui découlent de l’art. 16“ die Rede ist. 115 Hierzu Nicolas Molfessis, Constitutionalisation, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2003, S. 236 ff. 116 Vgl. etwa Vincent/Guinchard (FN 37), S. 97 ff. 117 Michel Fromont, La justice administrative franc ¸ aise se rapproche de la justice administrative allemande, in: Schack (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Alexander Lüderitz, 2000, S. 173 ff. 118 Vgl. die ausführlichen Informationen auf der Internetseite des Conseil Constitutionnel: http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/laquestion-prioritaire-de-constitutionnalite/la-question-prioritaire-de-constitutionnaliteqpc.47106.html#questions; Stand: 14. August 2011. 119 Ausführlich hierzu Yves Gaudemet, Traité de Droit Administratif, Bd. I, 16. Aufl., Paris 2001, S. 457, RN 987 ff. (insbesondere RN 990). Klassische Klage ist der recours pour excès de pouvoir, etwas anders ist der Befund jedoch für den recours en pleine juridiction, der an eine behauptete Rechtsverletzung anknüpft und somit eine stärkere Beteiligung des Klägers im Verfahren fordert. In dieser Klage macht der Kläger subjektive Rechte geltend, die er aufgrund seiner besonderen, durch Rechtsakt begründeten Stellung gegenüber anderen hat. Es handelt sich dabei um Ansprüche, die sich aus dem Verwaltungsrecht ergeben und damit um eine ähnliche Anspruchskonstruktion wie im Zivilrecht. Zu den beiden Ansätzen siehe auch Chapus (FN 5), S. 786 ff. der den recours pour excès de pouvoir insoweit als „homogène“, bezeichnet und en recours en pleine juridiction als „hétérogène“; siehe auch Debbasch (FN 45), S. 786 f. 120 Fromont (FN 117), S. 180.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

stens ergeben sich aus der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle individualschützende Reflexe. Zweitens besteht seit der Verwaltungsreform durch das Gesetz vom 30. Juni 2000121, das am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist, u. a. die Möglichkeit, ein référé-liberté zu erhalten122. Dieses dient dem Schutz des einzelnen bei schweren und offenkundigen Verstößen gegen Freiheitsrechte und berechtigt das Verwaltungsgericht zu entsprechenden Schutzmaßnahmen. Dies belegt eine verstärkte Orientierung in Richtung individualschützender Vorgaben. Vergleichbare Ansätze finden sich vereinzelt auch in der Lehre123. Ob sich damit eine schrittweise Abkehr vom Konzept der primär objektiven Rechtsmäßigkeitskontrolle abzeichnet, bleibt abzuwarten. Unter der inhaltlichen Anforderung des recours effectif sowie im Bereich der Verpflichtungen des Gesetzgebers, die es zu beachten gilt, wenn er das droit au recours juridictionnel nicht verletzen will, zeigen sich vergleichbare inhaltliche Anforderungen wie in Deutschland bei Art. 19 Abs. 4 GG. Maßgeblicher inhaltlicher Unterschied bleibt insoweit die Fokussierung auf die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle in Frankreich.

II. Das Recht auf den gesetzlichen Richter Die aktuelle Verfassung Frankreichs enthält keine expliziten Vorschriften über ein Recht auf den gesetzlichen Richter124. Dieser Befund erstaunt, da eine erste Formulierung dieser Garantie bereits in einem Verfassungstext aus dem Jahr 1791 verbrieft ist. Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu klären, warum die Garantie des gesetzlichen Richters nicht in die aktuelle französische Verfassung aufgenommen wurde. 1. Historische Entwicklung Bis zur französischen Revolution ernannte der König nach Belieben Einzelrichter zur Entscheidung eines bestimmten Falles oder ordnete durch die 121

Gesetz Nr. 2000-597 vom 30. Juni 2000, JORF vom 1. Juli 2000, S. 9948 f. Zur Reform Gaudemet (FN 119), S. 470, speziell zu référé-liberté in RN 1020: „(. . .) l’institution du référé-liberté est la remarquée de la réforme.“ Vgl. auch Serge Pugeault, Le juge administrative des référés, gardien des libertés, in: Justice et Droits fondamentaux, Études offertes à Jacques Normand, Paris 2003, S. 401 ff., speziell zu dem Problem der Definition von „liberté fondamentale“ auf S. 408 f. 123 Siehe Foulquier (FN 23), S. 643 f., der von dem „droit au recours jurdictionnel als droit subjectiv fondamental“ spricht (mit Nachweisen in FN 534). 124 Einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung der Formulierungen in französischen Verfassungstexten gibt Thomas Janville, Petite histoire des principes généraux de droit processuel dans les constitutions de la france, Les petites affiches nº 57, 2005, S. 6 ff. 122

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lettres de cachet ohne Untersuchung und Angabe eines Grundes Verhaftungen an125. Aus dieser Zeit stammt auch der viel zitierte Satz: „Toute justice émane du roi“126. Ähnlich wie in England sandte auch in Frankreich der Monarch besondere Kommissionen aus, die mit ihrer willkürlichen Rechtsprechung und Bestrafung, jeder modernen Vorstellung eines gesetzlichen Richters widersprachen127. Dieser Justizpraxis entgegengerichtet war die Forderung nach dem juge naturel128, die übersetzt nicht der „gesetzliche“, sondern der „natürliche“ Richter bedeutet. Aus dieser Formulierung eines juge naturel wird deutlich, daß diese Form der Justizausübung als gegen die Naturgesetze sprechend angesehen wurde129. Die erste verfassungsrechtliche Formulierung des gesetzlichen Richters enthielt dann Art. 4 der Verfassung von 1791 mit folgendem Wortlaut: „Les citoyens ne peuvent être distraits des juges que la loi leur assigne, par aucune commission, ni par d’autres attributions et évocations que celles qui sont déterminées par les lois.“

Diese Formulierung deutet darauf hin, daß das Gebot der Gesetzlichkeit des Richters als Oberbegriff postuliert wird, denn nach dem ersten Halbsatz erfolgt nur noch eine Aufzählung der verbotenen gerichtlichen Formen. Unabhängig von dem Erfordernis einer verfassungsrechtlichen Verankerung fand sich der Ausdruck juges naturels schon im Jahre 1759130. Doch auch in diesem Zusammenhang findet sich keine Definition dessen, was unter dem natürlichen Richter zu verstehen ist. Ebenso wenig ist in den Cahiers der einzelnen Provinzen eine Definition zu finden, die den Verhandlungen der französischen Nationalversammlung zugrunde lagen und die die damals herrschenden Zustände anprangerten. Allerdings ist ihnen die Forderung nach dem juge légale, dem gesetzlichen Richter, zu entnehmen131. 125 Ausführlich Eduard Kern, Der gesetzliche Richter, 1927, S. 28. Speziell zur Praxis der lettres de cachet auch Walter Menzel, Ausnahmegericht und gesetzlicher Richter: zur Auslegung des Art. 105 der Reichsverfassung vom 11. August 1919; zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Gleichheit vor dem Gesetz, 1925, S. 55 f. 126 Dieser findet sich wörtlich in § 57 der Charte Constitutionelle vom 4. Juni 1814, wobei er durch den Anschlußsatz relativiert wird: „Elle s’administre en son nom par des juges qu’il nomme et qu’il institue.“ 127 M. w. N. und Beispielen Menzel (FN 125), S. 52 ff. 128 Ausführlich mit Nachweisen Adolphe-Emile Lair, Des hautes cours politiques en France et à l’étranger et de la mise en accusation du président de la république et des ministres, Paris 1889, S. 121 ff.; speziell zu dem Begriff und mit dem Versuch einer Analyse der Begriffsbestandteile, Hélène Gaudemet-Tallon, L’introuvable juge naturel, in: Nonagesimo anno, Mélanges en hommage à Jean Gaudemet, Paris 1999, S. 591 ff. 129 Ausdrücklich keinen Bezug zum Naturrecht sieht Thomas Clay, „Juge naturel“, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2004, S. 680. 130 Nachweis bei Menzel (FN 125), S. 51 FN 93.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

Die Forderung nach dem natürlichen Richter wurde in den Cahiers in engem Zusammenhang mit der Gleichheit vor dem Gesetz gesehen132. Bezüglich des Verbotes von Ausnahmegerichten lassen sich darin Belege finden, daß die Errichtung eines besonderen Gerichtsstandes für eine bestimmte Person oder Personengruppe verboten war133. In der Verfassung vom 22. August 1795 sind in den Art. 207 ff. die Grundprinzipien des Gerichtsverfassungsrechts verankert. So enthält Art. 204 das Verbot, den gesetzlich zugewiesenen Richter zu entziehen134. Obgleich sich in den unmittelbaren nachrevolutionären Jahren Garantien des gesetzlichen Richters fanden, ging die Verbürgung dieses Rechts im weiteren Verlauf wieder unter. Erst in der Verfassung vom 6. April 1814 findet sich das Gebot des gesetzlichen Richters wieder135. Art. 62136 und 63137 der darauf folgenden Charte Constitutionelle vom 4. Juni 1814 enthalten dann sowohl das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters 131

Art. 9: „La liberté individuelle étant le premier des biens, comme le plus inviolable des droits, les lettres de cachet sont abolies, en sorte qu’aucun citoyen ne pourra être privé de sa liberté que pour être remis aussitôt dans un prison légale, entre les mains de ses juges légales“, abgedruckt in: Archives parlementaires, Bd. II, S. 33. 132 Archives parlementaires, Bd. II, S. 132; Bd. VI S. 166 f.; Bd. V, S. 374. 133 Vgl. Archives parlementaires Bd. I, S. 298 f. (299): „Sa Majesté reconnait hautement que la destitution personnelle d’un juge, pour en substituer un autre, ou, ce qui serait la même chose, la suppression d’un tribunal pour le remplacer par un autre, exige une forfaiture préalablement jugée“, oder Art. 17 des Loi sur l’organisation judiciaire: „L’ordre constitutionnel des juridictions ne pourra être troublée, ni les justiciables distraits de leurs juges naturels, par aucune commissions, ni par d’autres attributions ou évocations que celles qui seront déterminées par la loi“. Vgl. auch Art. 16 desselben Gesetzes, der lautete: „Tout privilège en matière de juridiction, est aboli; tous les citoyens, sans distinction, plaideront en la même forme et devant les mêmes juridictions, dans les mêmes cas.“ 134 „Nul ne peut être distraits des juges, que la loi lui assigne par aucune commission, ni par d’autres attributions que celles qui sont déterminées par une loi antérieure.“ 135 Siehe dort Art. 17: „L’indépendance du pouvoir judiciaire est garantie. Nul ne peut être distrait de ses juges naturels. L’institution des jurés est conservé, ainsi que la publicité des débats en matière criminelle. La peine de la confiscation des biens est abolie. Le roi a le droit de faire grâce“ und Art. 18: „Les cours et tribunaux ordinaires actuellement existants sont maintenus; leur nombre ne pourra être diminué ou augmenté qu’en vertu d’une loi. Les juges sont à vie et inamovibles à l’exception des juges de paix et des juges de commerce. Les commissions et tribunaux extraordinaires sont supprimés et ne pourront être rétablis.“ 136 „Nul ne pourra être distrait des ses juges naturels.“ 137 „Il ne pourra en conséquence être crée des commissions et tribunaux extraordinaires. Ne sont pas comprises sous cette dénomination les jurisdictions prévôtales, si leur retablissement est jugé nécessaire.“ Zu den Prevotalgerichten siehe Kern (FN 125) S. 38.

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als auch das Verbot von Ausnahmegerichten. Die Verfassung vom 4. November 1848 schließlich ist von besonderer Bedeutung, da sie in ihrem Art. 4 im zweiten Kapitel unter der Überschrift „droits des citoyens garantis par la constitution“ das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters sowie das Verbot der Ausnahmegerichte statuiert138. Besonders interessant ist diese Kodifizierung aufgrund ihrer neuen Systematik. Hier erscheint das Gebot des gesetzlichen Richters erstmals unter dem Abschnitt der Rechte des Bürgers und nicht im Abschnitt über die Rechtspflege, wie dies bislang in den Verfassungstexten der Fall war. Trotz dieser neuen Zuordnung, die auf eine andere Schwerpunktsetzung hindeuten könnte, tauchten in der darauf folgenden Verfassung vom 14. Januar 1852 keine ähnlichen Normierungen auf. Allerdings lautet Art. 56, daß die bisherigen Bestimmungen weiterhin fortgelten sollen, soweit sie mit der neuen Verfassung nicht im Konflikt stehen. Vor diesem Hintergrund behielt die Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 4 der Verfassung von 1848 ihre Geltung. Jedoch hat es bis heute keine ausdrückliche Verankerung des Gebots des gesetzlichen Richters oder des Verbots von Ausnahmegerichten in einem französischen Verfassungstext mehr gegeben139. 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung a) Ansätze im Schrifttum Die Verfassung von 1958 erkennt das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht explizit an. Auch in den einschlägigen Verfahrensordnungen sucht man vergeblich eine Verbürgung des Rechts auf den gesetzlich vorherbestimmten Richter. Für eine direkte Ableitung eines Rechts auf den gesetzlichen Richter kommt der bloc de constitutionnalité in Betracht. Dieser umfaßt jedoch weder das o. g. Gesetz vom 16.–24. August 1790 noch eine der alten Verfassungen. Diese gelten vielmehr mit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1958 als derogiert, soweit keine expliziten Ausnahmen vorgesehen sind. Eine solche Ausnahme wurde für die Garantie des gesetzlichen Richters nicht vorgesehen, so daß folgerichtig ein Geltungsgrund aus diesen Quellen nicht abgeleitet werden kann. In Betracht kommt alternativ zunächst die Ableitung eines PFRLR [s. o. B. I. 2. b) aa) (3)]. So existiert auch in der französischen Lehre die Ansicht, daß es sich bei der Garantie 138 Dazwischen fand sich sowohl in Art. 60 der Verfassung von 1815 als auch in Art. 53 der Verfassung von 1830 das Gebot des gesetzlichen Richters verankert. 139 Thierry Renoux, Le droit au juge naturel, droit fondamental, RTDC (Revue trimesterielle de droit civil), 1993, S. 33 (35), zu den zahlreichen Ausnahmegerichten seit der französischen Revolution.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

des gesetzlichen Richters zumindest um ein PFRLR handeln könnte140. Allerdings sind die oben genannten Texte keine Gesetze der Republik (lois de la République), die für die Begründung eines PFRLR erforderlich sind. Damit steht diese Ansicht also vor dem Problem, daß es sich bei den Art. 16 und 17 des Gesetzes von 1790 nicht um Gesetze der III. Republik141 handelt und insoweit die Anerkennung als PFRLR nicht möglich ist142. Nach Auffassung von Kern143 sind das Gebot des gesetzlichen Richters und das Verbot der Ausnahmegerichte zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die keiner ausdrücklichen Verankerung mehr bedürfen, sondern stillschweigend Geltung beanspruchen. Daher gelten sie seiner Ansicht nach als ungeschriebenes Recht fort, wenn auch Verfassung und einfache Gesetze schweigen. Bezeichnend ist insoweit die Aussage: „(. . .) que la notion du juge naturel naturel n’existait en France qu’à l’état homéopathique, c’est à dire, de traces infinitésimales (. . .) Et l’homéopathie, on y croit ou on n’y croit pas (. . .).“144 Um das Gebot des gesetzlichen Richters nicht auf eine Glaubensfrage zu reduzieren, ist erneut ein Rückgriff auf den bloc de constitutionnalité zu erwägen. Zwar sind das fragliche Gesetz von 1790 sowie die alten Verfassungen von ihm nicht umfaßt, jedoch die Prinzipien der Erklärung von 1789. Damit kann diese als Grundlage für die Garantie des gesetzlichen Richters in Betracht gezogen werden145. b) Ansatz des Conseil Constitutionnel Der Conseil Constitutionnel hat sich in seiner Entscheidung „juge unique“ aus dem Jahre 1975 auf das „principe constitutionnel d’égalité devant 140 Renoux (FN 139), S. 38; ders., Le droit au juge naturel, Les Épisodiques n. 7, 1995, S. 9 (10); ders., Le pouvoir judiciaire en France et Europe continentale: approche comparative, RDP 1999, S. 965 (980), wo er betont, daß das Gesetz von 1790 aus seiner Sicht immer noch „valeur juridique“ in Frankreich besitze, eine Auffassung, die sich aus der naturrechtlichen Konzeption erklärt. Die Positivierung des Rechts auf den juge naturel war nicht konstitutiv, sondern nur deklaratorisch mit der Folge, daß es unabhängig von einem geschriebenen Text Geltung beansprucht. 141 Genevois (FN 56), S. 25, sieht in diesem retrospektiven Charakter der PFRLR ein Handicap, das die Anerkennung und Verbreitung der Kategorie negativ beeinflußt habe (speziell zur Bedeutung des Adjektivs fondamental im Zusammenhang mit der Anerkennung des Verfassungsrangs auf S. 29). 142 Näher zu den PFRLR unter B. I. 2. c) aa) (3). 143 Kern (FN 125), S. 45. 144 Hubert Dalle, A la recherche du juge naturel francais, Les Épisodiques 7, 1995, S. 21. 145 Im Ergebnis so auch Renoux (FN 139), S. 38.

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la justice“ gestützt. Dieses ist im Verfassungsprinzip der égalité devant la loi inbegriffen, wie es in Art. 6 der Erklärung von 1789 ihren Niederschlag gefunden hat146. Die Gleichheit vor dem Richter ist damit eine notwendige Folge der Gleichheit vor dem Gesetz und hat insoweit an deren Verfassungsrang teil. Die Ableitung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz erklärt sich aus der Bedeutung dieses Grundsatzes der nachfolgend kurz dargestellten französischen Verfassungsentwicklung147. Die Verfahrensweise während des Ancien Régime war synonym für Ungleichbehandlung und Willkür; daher sah die Revolution von 1789 eine Abkehr hiervon vor148. Ein Ziel war es dabei, die „privilèges de juridiction“149 zu beseitigen. Die Forderung nach der Gleichheit aller Bürger wurde zu einem Kernelement der Revolutionsbewegung, das seinen Stellenwert in der französischen Rechtsentwicklung behauptet hat. So wurde es immer in engem Zusammenhang mit der Freiheit des einzelnen gesehen. Der Gedanke der Gleichheit vor dem Gesetz impliziert die Idee der Gleichheit vor dem Richter, wie sie in Art. 6 der Erklärung von 1789 zum Ausdruck kommt150. Die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz war geprägt durch das besondere Gesetzesverständnis der Revolutionäre, die das Gesetz als Ausdruck der „volonté générale“ sahen. Die Gleichheit vor dem Gesetz erfordert nach diesem noch heute akzeptierten Grundsatz ein gleiches Verfahren vor dem gleichen Richter für gleich gelagerte Sachverhalte Eine Grundlage dieses Rechtsverständnisses findet sich in Art. 6 der Erklärung von 1789 i. V. m. der Präambel der Verfassung von 1958. Es bleibt festzuhalten, daß sich aufgrund der Erwägungen des Conseil Constitutionnel als Rechtsgrundlage für das Recht auf den gesetzlichen Richter Art. 6 der Erklärung von 1789, der den Gleichheitssatz postuliert, i. V. m. der Präambel der Verfassung von 1958 ergibt151. Das Gebot des gesetzlichen Richters gilt damit in Frankreich als ungeschriebenes Verfassungsprinzip, das Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes ist. 146 CC 75-56 DC vom 23. Juli 1975, cons. 4: „(. . .) est inclus dans le principe d’égalité devant la loi proclamé dans la Déclaration des droits de l’homme de 1789 et solennellement réaffirmé par le Préambule de la Constitution.“ Allgemein zum principe d’égalité, siehe Guy Braibant, Le principe d’égalité dans la jurisprudence du Conseil Constitutionnel et du Conseil d’État, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen et la jurisprudence, Colloque des 25 et 26 mai 1989 aux Conseil Constitutionnel, Paris 1989, S. 97 ff. 147 Renoux (FN 139), S. 36. 148 Vgl. auch Dalle (FN 144), S. 25 f. 149 Renoux (FN 139), S. 37. 150 Clay (FN 129), S. 680. 151 Renoux (FN 139), S. 39; hierzu auch Gaudemet-Tallon (FN 128), S. 592.

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3. Inhalt des droit au juge naturel a) Bedeutung von Art. 34 der Verfassung von 1958 für die inhaltliche Konkretisierung Art. 34 der Verfassung von 1958 bestimmt, daß durch Gesetz unter anderem das Strafverfahren, die Amnestie, die Schaffung neuer Gerichtsbarkeiten und die Rechtsstellung der Richter und Staatsanwälte geregelt werden müssen. Obwohl vom Wortlaut des Art. 34 nur das Strafverfahren erfaßt wird, legen sowohl der Conseil Constitutionnel als auch der Conseil d’État diese Vorschrift extensiv aus152. Demnach werden von dem Gesetzesvorbehalt sowohl die wesentlichen Grundsätze des Zivilprozesses als auch die gesamte Gerichtsbarkeit und das einzelne Gericht als organisatorische Einheit umfaßt153. Lediglich die örtliche Zuständigkeit154 sowie die Einrichtung der Spruchkörper kann im Wege der Verordnung geregelt werden; diese muß jedoch die von Gesetzgeber gesetzten Vorgaben beachten. Bei der Besetzung der Spruchkörper kommt dem Gerichtspräsidenten die zentrale Rolle zu155. Soweit die Exekutive die gezogenen Grenzen nicht einhält, verstößt sie gegen den Gesetzesvorbehalt des Art. 34 und damit gegen das Prinzip der Gesetzmäßigkeit allen staatlichen Handelns. b) Konkretisierung durch Bezug auf das principe d’égalité devant la loi Der Inhalt des Rechts auf den juge naturel wird durch seine Wurzel im principe d’égalité devant la loi bzw. in der Ausprägung der égalité devant la justice determiniert156. Aus dem Erfordernis der égalité folgt, daß die Richter im Einvernehmen mit den gesetzlichen Regeln bestimmt werden müssen, die für jeden in gleichem Maße gelten. Das Prinzip der égalité devant la justice fordert nicht nur, daß jeder Rechtsschutzsuchende vor 152

Renoux (FN 139), S. 49 m. w. N.; ders., RDP 1999 (FN 140), S. 976 f. Ausführlich m. w. N. Ulrike Seif, Recht und Justizhoheit, Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich, 2003, S. 362 f.; Renoux (FN 139), S. 49 ff. 154 Renoux (FN 139), S. 51. 155 Vgl. Art. R 812 – 1 Code de l’Organisation Judiciaire; Art. L 710 – 1 Code de l’Organisation Judiciaire. 156 Siehe Formulierung bei Renoux (FN 139), S. 39: „(. . .) tous le justiciables ont droit à être jugé de manière égale, devant les mêmes juridictions, statuant selon les mêmes règles de procédure, appliquant les mêmes règles de droit“. Nach seiner Ansicht garantiert das Prinzip: „(. . .) un égal accès et un égal traitement devant les tribunaux“. 153

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den gleichartigen juge naturel kommt, sondern auch daß er dans les mêmes formes vortragen kann. Dies dient zugleich der Gewährleistung der Waffengleichheit zwischen den Parteien. Darüber hinaus müssen alle Bürger demselben Recht und derselben Auslegung dieses Rechts unterworfen sein157. Damit wird die Errichtung von Ad-hoc-Gerichten zur Verhandlung eines konkreten Einzelfalls verboten158 und zugleich das Erfordernis begründet, die Zuständigkeit im voraus allgemein zu bestimmen. Die Änderung der Zuständigkeit kann jedoch auch noch nach Verfahrensbeginn erfolgen, wenn nicht – wie beispielsweise im Strafrecht – das Rückwirkungsverbot entgegensteht159. Grundsätzlich darf diese Änderung dann nicht nur für den Einzelfall gelten, sondern hat auch alle anderen gleichgelagerten Fälle zu erfassen. Die Anforderungen aus der Gleichheit vor dem Richter lassen sich damit in drei Punkten zusammenfassen: Es muß zunächst gewährleistet sein, daß gleichgelagerte Fälle vor das gleiche Gericht gelangen. Damit wird die Errichtung von Ausnahmegerichten ausgeschlossen. Es müssen weiterhin die gleichen Verfahrensregeln gelten. Dies ist etwa dann nicht mehr gewährleistet, wenn es sich um einen parteiischen Richter handelt, dessen Unabhängigkeit nicht mehr garantiert ist. Denn auch nach diesem Verständnis kann nur der unabhängige und unparteiische Richter ein gesetzlicher Richter sein160. Hinzu kommt schließlich das Erfordernis der gleichen Anwendung des materiellen Rechts. Aus diesen Postulaten ergeben sich bestimmte Anforderungen an Legislative, Exekutive und Judikative161.

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Vgl. Clay (FN 129), S. 681 f. Möglich ist jedoch die Einrichtung von Sondergerichtsbarkeiten, solange sie nicht an personenbezogene Merkmale anknüpfen („l’identité de juridiction n’interdit pas la diversification“). Es muß sich um sachlich unterscheidbare Rechtsgebiete handeln, so Renoux (FN 139), S. 41, mit Beispielen. 159 Renoux (FN 139), S. 44, 46 und 56; vgl. auch Seif (FN 153), S. 360. 160 Clay (FN 129), S. 681; Rousseau (FN 20), S. 254. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist als principe constitutionnel durch den Conseil Constitutionnel anerkannt, CC 80-119 DC vom 22. Juli 1980, cons. 6. Für die ordentliche Gerichtsbarkeit findet es seine Fundierung in Art. 64 der Verfassung und gilt als PFRLR für die Verwaltungsgerichte. Die Unabhängigkeit des einzelnen Richters ist seit 1970 durch den Conseil Constitutionnel anerkannt und basiert auf Art. 34 der Verfassung, CC 70-40 DC vom 9. Juli 1970: „principe d’indépendance des juges tel qu’il résulte des dispositions de l’article 34 de la Constitution“. Es ist zwar heute auch für die Verwaltungsrichter grundsätzlich anerkannt, findet aber keine ausdrücklich Ausdehnung, hierzu vgl. Rousseau (FN 20), S. 255. Zur Ablehnung eines befangenen Richters siehe etwa die einfachgesetzlichen Möglichkeiten in Art. 339, 341 NCPC und Art. 297, 668 CPP. 161 Im einzelnen auch Renoux (FN 139), S. 45 ff. 158

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aa) Anforderungen an die Legislative Für den Gesetzgeber ergibt sich grundsätzlich die Verpflichtung, sowohl das Verfahren als auch die Gerichtsorganisation so zu regeln, daß die Gleichbehandlung der Rechtssuchenden garantiert wird162. Eine Verletzung der Gleichheit im Gesetz liegt dann vor, wenn der Gesetzgeber ohne einen sachlichen Grund eine Ungleichbehandlung vornimmt163. Zu gewährleisten ist damit, daß alle Rechtssachen gleicher Natur innerhalb derselben Gerichtsbarkeit vor Gerichten gleicher Art und gleichen Aufbaus verhandelt werden164. Zudem dürfen Differenzierungen der gesetzlichen Ausgestaltung der Gerichtsstrukturen nur objektiv-generelle, jede Willkür ausschließende Kriterien zugrunde liegen165. Es ist zwar ohne weiteres möglich, daß sowohl Verfahren als auch Zusammensetzung der Richterbank sich im nachhinein ändern. Dies setzt jedoch voraus, daß nicht ein konkreter Einzelfall betroffen ist, sondern daß die nachträglichen Änderungen auf alle gleich gelagerten Verfahren Anwendung finden166. Von besonderer Bedeutung ist die Leitentscheidung des Conseil Constiutionnel im Fall „juge unique“, in der er ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte, das den Gerichtspräsidenten ermächtigte, nach seinem Ermessen die Größe der Spruchkörper entweder als Kammer oder als Einzelrichter festzulegen167. Der Conseil Constitutionnel kritisierte die fehlende gesetzliche Vorausbestimmung der konkret entscheidenden Richter, die allen Rechtssuchenden von Anfang an bekannt sein sollte168. Die im Gesetz enthaltene Unbestimmtheit, die dem Gerichtspräsidenten freies Ermessen ohne eine Leitlinie bei der Ausübung belasse, verstoße gegen das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Von Bedeutung ist die Entscheidung u. a. auch deshalb, da sie die Machtlosigkeit des Rechtssuchenden berücksichtigt: Dieser kann sich gegen die konkrete Zusammensetzung nicht wehren, da sie als Maßnahme der Gerichtsverwaltung innerhalb des uneingeschränkten Ermessens des Gerichtspräsidenten keinem Rechtsmittel unterliegt169. 162 Siehe Clay (FN 129), S. 681 (mit Beispielen); Renoux (FN 139), S. 52 f.; ders., RDP 1999 (FN 140), S. 976. 163 Vgl. Seif (FN 153), S. 364 f. (mit Beispielen). 164 Renoux (FN 139), S. 54. 165 Renoux (FN 139), S. 52, spricht von „paramètres objectifs“ und betont auf S. 56, daß der Gesetzgeber den Richtern insoweit keinen zu großen Spielraum lassen dürfe. 166 Renoux (FN 139), S. 47. 167 CC 75-56 DC vom 23. Juli 1975. 168 Renoux (FN 139), S. 56. 169 Renoux (FN 139), S. 57, spricht von „une mésure d’administration judiciaire, non susceptible de recours“; siehe auch Dalle (FN 144), S. 26. Zur Verfassungskon-

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In einer Entscheidung aus dem Jahre 1980 erklärte der Conseil Constitutionnel ein Gesetz für verfassungswidrig, das dem ersten Präsidenten eines Cour d’Appel die Möglichkeit gewährt hatte, nach eigenem Ermessen über die Verteilung der Richter auf die Untergerichte im Bezirk des Cour d’Appel zu entscheiden170. Objektive Leitlinien der Ermessenausübung sah das Gesetz nicht vor. Der Grund für die Verfassungswidrigkeit wurde jedoch nicht in dem Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Richter gesehen, sondern in dem Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit171. Diese Forderungen sind wesensmäßig verschieden, aber eng mit der Forderung nach der Gesetzlichkeit des Richters verwandt172. bb) Anforderungen an die Exekutive Für die Exekutive bedeutet das principe du juge naturel als Element der égalité devant la loi das Verbot, Ausnahmegerichte einzusetzen. Nur der Gesetzgeber ist befugt, Gerichte zu errichten, da nur Gesetze als Ausdruck der volonté générale und damit als unfehlbar gelten. Für die Exekutive besteht jedoch die Möglichkeit, im Rahmen der Ermächtigung des Art. 38 Abs. 1 der Verfassung tätig zu werden. An die Überprüfung der Zulässigkeit dieser Ermächtigung sind jedoch hohe Anforderungen zu stellen173. cc) Anforderungen an die Judikative Das principe d’égalité devant la loi in Ausprägung der Garantie des gesetzlichen Richters erfordert sowohl die Vorausbestimmung des Spruchkörpers und seiner Besetzung als auch der Geschäftsverteilung174. Weder der Gerichtspräsident noch die Richter selbst können über die konkrete Besetzung ad hoc entscheiden175. Die Besetzung der Spruchkörper (Anzahl der Richter) wird ebenso wie die Geschäftsverteilung176 für ein Jahr im formität der Regelung L. 311 – 10 Abs. 1 Code de l’Organisation Judiciaire siehe Seif (FN 153), S. 381. 170 CC 80-123 DC vom 24. Oktober 1980. 171 Näher hierzu Dalle (FN 144), S. 21; Thierry Renoux, Autorité Judiciaire, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2004, S. 92; Rousseau (FN 20), S. 257. 172 Näher Renoux (FN 139), S. 58. 173 Im einzelnen Renoux (FN 139), S. 50. 174 Ausführlich zu den einzelnen Punkten Seif (FN 153), S. 379 ff.; Renoux (FN 139), S. 46. 175 Renoux (FN 139), S. 58.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

voraus durch den Gerichtspräsidenten festgelegt177. Nicht erforderlich ist jedoch, daß die Besetzung personenbezogen vorherbestimmt sein muß178. Als kritisch ist insbesondere die Möglichkeit des Gerichtspräsidenten eines Cour d’Appel sowie des Präsidenten eines Tribunal de Grande Instance anzusehen, die im Rahmen einer Ermessensentscheidung ad hoc in einer Kammer für die Verhandlung einer konkreten Angelegenheit den Vorsitz übernehmen können179. c) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Die Garantie des gesetzlichen Richters umfaßt in Frankreich das Verbot der Errichtung von Ausnahmegerichten sowie das Erfordernis, die Zuständigkeit der einzelnen Gerichte gesetzlich und nach dem ausgeführten Gebot der égalité devant la justice zu regeln. Nicht gefordert wird hingegen die Vorausbestimmung des konkret zuständigen Richters im jeweiligen Spruchkörper, vielmehr bestehen in zahlreichen einfachgesetzlichen Vorschriften Variationsmöglichkeiten180. In der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel besteht jedoch die Tendenz, das droit au juge naturel auf die subjektive Stellung des einzelnen auszurichten, für den erkennbar sein soll, welche Richter für seinen Fall zuständig sind. 4. Bewertung Im französischen Schrifttum wurde der juge naturel teilweise als unauffindbar bezeichnet181. Dem kann nach den oben gemachten Ausführungen 176

Näher hierzu Seif (FN 153), S. 383 ff. m. w. N., die die Grenze bei der Ausübung des Ermessens des Gerichtspräsidenten in der Willkür sieht. Grundsätzlich sind Verstöße gegen die gerichtsinterne Spruchkörperregelung nicht angreifbar, da es sich lediglich um interne Maßnahmen handelt. Die gerichtsinterne Organisationshoheit erlaube insoweit das Bestehen von Ermessenspielräumen und unbestimmten Rechtsbegriffe bei der Spruchkörperbesetzung und Geschäftsverteilung, wenn diese für einen reibungslosen Geschäftsablauf notwendig seien. Erlaubt wären somit Ermessensspielräume, die auf Willkür überprüfbar sind. Soweit die Besetzungsregeln auf Willkür beruhen, müsste ein Verstoß gegen die Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters vorliegen. 177 Art. R. 311-23 Code d’organisation judiciaire; hierzu Renoux (FN 139), S. 57; Dalle (FN 144), S. 22 f. 178 Renoux (FN 139), S. 46. 179 Hierzu Dalle (FN 144), S. 23, mit dem Hinweis, daß von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch gemacht werde (mit Beispiel). 180 Nachweise und Kritik bei Dalle (FN 144), S. 24. 181 So heißt der Titel des Aufsatzes von Gaudemet-Tallon „L’introuvable juge naturel“ (FN 128), S. 591.

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nicht zugestimmt werden. Das droit au juge naturel genießt als Ausprägung des Gleicheitssatzes des Art. 6 der Erklärung von 1789 über die Päambel der Verfassung von 1958 Verfassungsrang. Zwar werden an die Vorausbestimmung des konkret im Einzelfall zuständigen Richters weniger strenge Anforderungen als in Deutschland gestellt. Von einer Nichtexistenz der Garantie des gesetzlichen Richters zu sprechen, erscheint dennoch nicht angemessen. Nachdem bei einem ersten Blick in die französischen Bestimmungen der Eindruck entsteht, die Garantie des gesetzlichen Richters sei – wenn überhaupt – nur rudimentär verankert oder seine Existenz werde zwar hingenommen, gebe aber keinen Anlaß für größere Ausführungen, relativiert sich dies bei einem genaueren Hinschauen. Es existieren zwar nicht so detaillierte Vorgaben zur Vorausbestimmung des konkret zuständigen Richters im Einzelfall. Aber auch das französische droit au juge naturel kennt das Erfordernis des gesetzlich bestimmten zuständigen Richters. Die Konkretisierung dieses Erfordernisses obliegt ausschließlich dem Gesetzgeber; dieser kann jedoch im Einzelfall dem Bürger ein Wahlrecht belassen, welches Gericht und damit auch welcher Richter zuständig sein soll182. Die Einhaltung der Garantie des gesetzlichen Richter wird durch den Conseil Constitutionnel im Rahmen seiner Zuständigkeit durch eine grundlegende Vorabkontrolle der gesetzlichen Umsetzung gewährleistet. Eine Kontrolle im Einzelfall ist ihm jedoch verwehrt. Dem Conseil Constitutionnel ist es nicht möglich, Gerichtsurteile aufzuheben, die unter Verletzung der Garantie des juge naturel ergangen sind. Teilweise wird das droit au juge naturel sogar ausdrücklich als „droit subjectif“ bezeichnet183, was die bereits in anderem Zusammenhang festgestellten Versubjektivierungstendenzen aufgreift184. Das Verbot der Errichtung von Ausnahmegerichten gilt in Frankreich ebenso wie in Deutschland.

III. Das Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs In der aktuellen Verfassung von 1958 findet sich keine dem Art. 103 Abs. 1 GG ähnelnde Vorschrift, obwohl bereits 1790 der Grundsatz des Gehörs schriftlich verbrieft war. In den einzelnen Gerichtsverfahrensordnungen existieren heute jedoch eine Vielzahl von Bestimmungen, die Einzelfragen des rechtlichen Gehörs regeln185. Diese Einzelausprägungen wurden vom 182 Clay (FN 129), S. 682 f., der insoweit eine Relativierung des droit au juge naturel annimmt, diese aber durch das Erfordernis der „bonne administration“ als gerechtfertigt ansieht. 183 Clay (FN 129), S. 681. 184 Vgl. hierzu Fromont (FN 117), S. 173 ff.

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Conseil d’État in der Vergangenheit als Ausdruck eines allgemeinen Prinzips angesehen, das näher zu erörtern sein wird186. In Frankreich tauchen Ausprägungen des Instituts des rechtlichen Gehörs unter zwei Begriffen auf: zum einen unter dem Begriff der droits de la défense187 und zum anderen als principe du contradictoire188. 1. Historische Entwicklung Im französischen Recht findet sich bereits sehr früh eine schriftliche Verankerung des Rechts auf Gehör. So lautete etwa das Gesetz von 1790: „Tout citoyen aura le droit de défendre lui-même sa cause.“ Die französische Erklärung von 1793 formulierte dann in ihrem Art. 14: „Nul ne doit être jugé et puni, qu’après avoir été entendu ou légalement appelé“, der von Art. 11 in der Erklärung von 1795 sinngemäß wiederholt wurde189. Die damaligen Ansätze finden sich jedoch heute in keinem französischen Verfassungstext wieder. 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung Eine Einordnung in die nationale Rechtsordnung erfordert nach dem eingangs Gesagten die Klärung des Verhältnisses der möglichen Rechtsgrundlagen der droits de la défense und principe du contradictoire. Auf das Konzept der droits de la défense und seine Einordnung in die französische Normenhierarchie wurde bereits unter B. I. 2. c) aa) eingegangen. Danach war die Ausdehnung der droits de la défense auf das Verwaltungsverfahren eng 185 So etwa der neue L. 522-1 seit der Reform vom 1. Januar 2001: „Le juge des référés statue au terme d’une procédure contradictoire écrite ou orale“ (insbesondere Art. 14); Art. 338-5 und Art. 338-7 des Nouveau Code de Procédure Civile; Art. 19 Gesetz vom 13. Juli 1983; Art. L 52-15 Code électoral. Siehe auch Chapus (FN 5), S. 1120 m. w. N.; Yves Gaudemet, Droit administratif général, Tome 1, 16. Aufl., Paris 2001, S. 620, der auf geschriebene und ungeschriebene Verankerungen hinweist. 186 Entscheidung „Téry“ vom 20. Juni 1913, Rec., S. 735. Hier wurde die Gewährleistung der procédure contradictoire auch für den Fall verlangt, daß eine entsprechende gesetzliche Grundlage nicht besteht, hierzu Georges Dupuis/Marie-José Guédon/Patrice Chrétien, Droit Administratif, 8. Aufl., Paris 2002, S. 144. 187 Zu dem Konzept der droits de la défense siehe unter B. I. 2. c) aa). 188 Chapus (FN 5), S. 812. Zu beiden Begriffen siehe Debbasch (FN 45), S. 490; Olivier Schrameck, Quelques observations sur le principe du contradictoire, in: Mélanges en l’honneur de Guy Braibant, Paris 1996, S. 629. 189 Ausführlich hierzu sowie zu dem Einfluß des englischen Rechts auf die französischen Formulierungen Hinrich Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren, 1976, S. 87 f.

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mit dem Gedanken der Gewährung rechtlichen Gehörs verbunden, der sich insbesondere in Art. 95 des Finanzgesetzes von 1905 manifestierte190. Das Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs kann damit zumindest als ein Element der droits de la défense angesehen werden, das in jedem Verfahren Geltung beansprucht. Allerdings ist das Verhältnis der möglichen Rechtsgrundlagen der droits de la défense zu dem principe du contradictoire noch nicht abschließend geklärt191. Während das Konzept der droits de la défense, insbesondere für den Bereich des Verwaltungsrechts, seine tragende Rolle in der unmittelbaren Nachkriegszeit erhielt192, lassen sich Ansätze des principe du contradictoire in der Rechtsprechung etwa um 1918 nachweisen193. So wurde im Urteil „Téry“ des Conseil d’État die Einhaltung der Erfordernisse des principe du contradictoire als „règle de procédure fondamentale“ im gerichtlichen Verfahren angesehen194. Während einige Autoren die Ausdehnung der droits de la défense auf das Verwaltungsverfahren als Umsetzung des principe du contradictoire ansehen195, qualifiziert der Conseil Constitutionnel die droits de la défense als PFRLR196 und führt aus, daß das „principe du caractère contradictoire (. . .) qui en est que le corollaire“197 sei. Er vertritt damit die Ansicht, daß es sich bei dem principe du contradictoire nur um die logische Folge der droits de la défense handelt198. Teilweise wird von 190 Siehe Conseil d’État, Entscheidung vom 5. Mai 1944, Rec. S. 133; hierzu auch Chapus (FN 5), S. 1122 m. w. N. 191 Siehe nur Giudicelli-Delage (FN 41), S. 364 f. 192 Speziell zur Bedeutung für das französische Verwaltungsrecht, Xavier Lauréote, Le procès équitable devant le juge administratif francais, in: Ruiz-Fabri (Hrsg.), Procès équitable et enchevêtrement des espaces normatifs, Paris 2003, S. 89 (105 f.). 193 Ausführlich hierzu Lauréote (FN 192), S. 105 f. 194 Conseil d’État, Entscheidung vom 20. Juni 1913, Rec. S. 735. Siehe hierzu die Kommentierung in: Long/Weil/Braibant/Delvolvé/Genevois (Hrsg.), Les grands arrêts de la jurisprudence administrative, 11. Aufl., Paris 1996, S. 157 ff.; vgl. auch Chapus (FN 5), S. 812. 195 So etwa Debbasch (FN 45), S. 490 („Le respect des droits de la défense est l’expression de la règle du contradictoire“); Dupuis/Guédon/Chrétien (FN 186), S. 441 („Aussurer le respect des droits de la défense est l’objectif de la procédure contradictoire“). Vgl. auch Gaudemet (FN 185), S. 620, der beide Begriffe synonym verwendet. 196 Siehe unter B. I. 2. c) aa) (3). 197 CC 89-268 DC vom 29. Dezember 1989, cons. 58, dazu auch note Bruno Genevois, RFDA 1990, S. 143. 198 So wohl auch CC 2003-484 DC vom 20. November 2003, cons. 33. Als gleichwertig neben den droits de la défense wird das principe du contradictoire jedoch bei CC 2003-473 DC vom 26. Juni 2003, cons. 22, aufgezählt. Dabei bekräftig der Conseil Constitutionnel den Verfassungsrang beider Grundsätze.

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dem principe du contradictoire auch als „élément essentiel“ der droits de la défense gesprochen199. Die in diesem Ansatz deutlich werdende fehlende eigenständige Identität hatte zwar keinen namhaften Einfluß auf die Geltung des Grundsatzes, warf aber ein negatives Licht auf seine Anerkennung als selbständiges Recht. Eine andere Bewertung könnte sich unter Berücksichtigung der EMRK ergeben, der in Frankreich übergesetzlicher Rang zukommt und die in bestimmten Bereichen der französischen Rechtsordnung durch eine Rezeption der durch den EGMR präzisierten Grundsätze bereits eine Änderung des Verfahrens bewirkt hat. Aber auch die Einbeziehung der EMRK hat insoweit keine unmittelbare Klärung herbeigeführt. Sie hat jedoch im Laufe der Zeit gemeinsam mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK zur Stärkung der Position des principe du contradictoire im französischen Recht beigetragen200. Die Struktur des Konzepts der droits de la défense spricht dafür, in den droits de la défense den Oberbegriff zu sehen und das principe du contradictoire als eine unmittelbare Umsetzung der Anforderungen aus den droits de la défense201 zu qualifizieren. Die Verpflichtung, rechtliches Gehör zu gewähren, ist damit ein Element der droits de la défense in der speziellen Ausprägung des principe du contradictoire202. Insoweit kommt ihm als ein Bestandteil der droits de la défense, deren Verfassungsrang unbestritten ist, ebenfalls Verfassungsrang zu und ist in jedem Verfahren zu beachten. Dieses Ergebnis entspricht auch der Einordnung durch den Conseil Constitutionnel203. 3. Inhalt des rechtlichen Gehörs a) Ausprägungen in der französischen Rechtsordnung Art. 14 des Nouveau Code de Procédure Civile definiert unter der Überschrift Chapitre I „Les principes directeurs du procès“, Section „La contradiction“ den Kern des principe du contradictoire: „Nulle partie ne peut être 199

Etwa Dupuis/Guédon/Chrétien (FN 186), S. 144 f. In diesem Sinne Lauréote (FN 192), S. 107, der dies unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Conseil d’État vom 16. Januar 1976 feststellt und insoweit den Hinweis auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs durch das Décret vom 22. Januar 1992 gibt. 201 In diesem Sinne auch Georges Vedel/Pierre Delvolvé, Le système franc ¸ ais de protection des administrés contre l’administration, Paris 1991, S. 230 RN 552. 202 Marie-Anne Frison-Roche, Contradiction, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2003, S. 236 (241). 203 Vgl. Debbasch (FN 45), S. 490 m. w. N. 200

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jugée sans avoir été entendue ou appelée“. Unabhängig davon, ob das Prinzip der droits de la défense im Rahmen eines gerichtlichen oder eines einfachen Verfahrens zur Anwendung kommt, sind – soweit keine spezialgesetzlichen Vorgaben bestehen204 – die grundsätzlichen Anforderungen gleich. Das Prinzip der droits de la défense in der Ausprägung des principe du contradictoire fordert, daß der Betroffene umfassend in einer ihm geläufigen Sprache über den Gegenstand des Verfahrens informiert wird. Dafür muß ihm etwa Zugang zu den ihn betreffenden Akten gewährt werden, und er muß die Möglichkeit erhalten, sich vor Erlaß einer belastenden Maßnahme schriftlich oder mündlich äußern zu können. Darüber hinaus muß dem Betroffenen ein angemessener Zeitraum für seine Verteidigung zur Verfügung gestellt werden, in dem er die Gelegenheit haben muß, einen Rechtsbeistand zu konsultieren205. Damit umfaßt das principe du contradictoire nicht nur das Erfordernis, sich während des Prozesses tatsächlich verteidigen zu können, sondern auch die Modalitäten, wie der Betroffene in die Lage versetzt wird, diese Verteidigung effektiv wahrnehmen zu können206. Letztendlich lassen sich die Anforderungen der droits de la défense in zwei Stufen fassen: Auf der ersten Stufe muß der Betroffene hinreichend über die beabsichtigte Entscheidung sowie die ihm gemachten Vorwürfe informiert werden. Die Beteiligten eines Verfahrens haben grundsätzlich das gleiche Recht, ihre Argumente vorzubringen und Kenntnis der Unterlagen zu erhalten, die dem Gericht vorliegen. Auf der zweiten Stufe tritt die Verpflichtung des Richters hinzu, die vorgebrachten Argumente auch in die rechtliche Bewertung mit einzubeziehen. Anderenfalls wäre dem Erfordernis des „Gehörs“ (être entendu207) nicht Genüge getan208, wie dies etwa in Art. 16 Abs. 1 des Nouveau Code de Procédure Civile Ausdruck findet209. Die Beachtung der droits de la défense führt damit auch zu zahlreichen Verpflichtungen der Verwaltungsbehörden gegenüber dem Bürger210. Soweit es sich um eine 204 Zu den Ausnahmen siehe Chapus (FN 5), S. 1118 f. m. w. N.; Vedel/Delvolvé (FN 201), S. 136 RN 287. 205 Zu den einzelnen Anforderungen siehe auch Frison-Roche (FN 202), S. 236 ff. 206 Vgl. Frison-Roche (FN 202), S. 237. 207 Mit dieser Terminologie Zoller (FN 8), S. 595. 208 Frison-Roche (FN 202), S. 237. 209 „Le juge doit, en toutes circonstances, faire observer et observer lui-même le principe de la contradiction. Il ne peut retenir, dans sa décision, les moyens, les explications et les documents invoqués ou produits par les parties que si celles-ci ont été à même d’en débattre contradictoirement. Il ne peut fonder sa décision sur les moyens de droit qu’il a relevés d’office sans avoir au préalable invité les parties à présenter leurs observations.“ 210 Ausführlich Vedel/Delvolvé (FN 201), S. 137 RN 289 ff. Siehe auch die Übernahme der Anforderungen des Décret vom 28. November 1983 durch das Gesetz vom 12. April 2000 „loi relative aux droits du citoyens dans leurs relations avec les

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Disziplinarmaßnahme handelt, besteht ein Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts. Falls eine Übermittlung der Akte vorgesehen ist, muß diese vollständig erfolgen. b) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Das Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs hat in der französischen Rechtsordnung über die Verankerung in den droits de la défense Verfassungsrang. Damit wird dem Gedanken der égalité devant la loi Rechnung getragen, der es erfordert, daß die Beteiligen eines Verfahrens gleiche Möglichkeiten der Verteidigung haben müssen. Eine Grundvoraussetzung hierfür sind die Kenntnis der relevanten Aktenvorgänge und das Recht, eigene Argumente vorzubringen. Die durch die Rechtsprechung entwickelten Einzelanforderungen weisen eine Fokussierung auf die Stellung des Betroffenen im Verfahren auf. Ihm sollen ausreichende Beteiligungsrechte gewährt werden, damit er vor Übereilung geschützt und ein nachvollziehbarer und gleichberechtigter Verfahrensablauf garantiert wird. Erforderlich ist hierfür auch, daß die Gerichte ihre Aufgabe im Prozeß ordnungsgemäß wahrnehmen und insbesondere die Argumente der Parteien in ihre Urteilsfindung einbeziehen. 4. Bewertung Die Anforderungen, die in Deutschland aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeleitet werden, finden sich in der französischen Rechtsordnung in einer Zusammenschau zahlreicher Einzelelemente wieder211. Dies erklärt, weshalb der Inhalt des rechtlichen Gehörs nicht deduktiv aus dem Geltungsgrund näher bestimmt werden kann212. Vielmehr besteht das allgemeine Erfordernis der Beachtung der droits de la défense und des principe du contradictoire neben speziellen gesetzlichen Formulierungen213. Ein allgemeiner Grundsatz oder gar ein verfassungsmäßiges Recht im geschriebenen Verfassungsrecht existiert nicht. Dennoch finden sich inhaltlich vergleichbare Anforderungen administrations“, in dessen Art. 24 für den Fall einer Begründung der Entscheidungen nach dem Gesetz vom 11. Juli 1979 bestimmt wird, daß diese erst erfolgen dürfen, wenn „qu’après que la personne intéressé a été mise à même de présenter des observations écrites et, le cas échéant, sur sa demande, des observations orales“. 211 Siehe in diesem Kontext die Bezüge zwischen deutschem und französischem Recht bei Frison-Roche (FN 202), S. 237. 212 Zur Charakteristik dieser Methode für die deutsche Systematik, vgl. Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 162. 213 Hierzu Sylvie Caudal, Les procédure contradictoires en dehors du contentieux, RFDA 2001, S. 13.

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an das gerichtliche Verfahren, wie sie in Deutschland aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeleitet werden. Als Element der droits de la défense haben die erörterten Ableitungen im Bereich des rechtlichen Gehörs Verfassungsrang und weisen zudem eine Verankerung im grundlegenden Prinzip der égalité devant la loi auf. Soweit beispielsweise die Verwaltung die Anforderungen aus den droits de la défense nicht respektiert, kann der einzelne im Wege des recours pour excès de pouvoir eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle des Verwaltungshandelns bewirken. Soweit im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens seine beschriebenen Gehörsrechte verletzt werden, ist er auf die Rechtsmittelmöglichkeiten vor den ordentlichen bzw. Verwaltungsgerichten angewiesen. Er hat keine Möglichkeit, sie gegebenenfalls verfassungsgerichtlich einzuklagen.

IV. Nulla poena sine lege 1. Historische Entwicklung a) Ideengeschichtlicher Hintergrund Die ideengeschichtlichen Hintergründe des Grundsatzes nulla poena sine lege sind in der Lehre bereits ausführlich dargestellt worden. An dieser Stelle wird daher nur ein kurzer Überblick gegeben214. Die umfassende Kompetenz des Richters im Ancien Régime sowohl hinsichtlich der Bestimmung der Strafbarkeit des Verhaltens als auch hinsichtlich der Festsetzung der Strafe war Ausdruck einer nahezu unbeschränkten richterlichen Macht215. Dies kennzeichnete ein von Willkür geprägtes System, das der Interpretation und Auslegung des einzelnen Richters unterworfen war. Vor diesem Hintergrund verband sich die Forderung nach einem präzise gefaßten geschriebenen Gesetz mit der Idee der Gewaltenteilung. Die Richter sollten sowohl im Hinblick auf Tatbestand als auch auf Rechtsfolgen genau an den Wortlaut des Gesetzes gebunden sein. Die richterliche Auslegung des Gesetzes sollte verboten werden, so daß sich dessen Funktion in der eines normvollziehenden Organs erschöpfen sollte. Die Richterwillkür des Ancien Régime führte zu der Konsequenz, daß der Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit im Strafrecht und damit einhergehend das strafrechtliche Rückwirkungsverbot in den Verhandlungen der Nationalversammlung und schließlich in der Erklärung von 1789 aufgenommen wurde. 214

Ausführlich hierzu Hans-Ludwig Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 68 ff. 215 Frédéric Desportes/Francis Le Gunehec, Le nouveau Code Pénal, Tome 1, 7. Aufl., Paris 2000, S. 146 RN 209.

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b) Entwicklung der Formulierungen Der nulla poena sine lege-Grundsatz fand seinen ersten Niederschlag in der französischen Erklärung für Menschenrechte vom 26. August 1789, in der er unter die unveräußerlichen Menschenrechte aufgenommen wurde. Der Marquis de Lafayette hatte bereits am 11. Juli 1789 der Nationalversammlung einen Entwurf für die Erklärung der Menschenrechte vorgelegt, der das Rückwirkungsverbot enthielt und ein Bestimmtheitserfordernis für Gesetze postulierte216. Während die Art. 4, 7, 8 der Erklärung von 1789 grundsätzlich festlegen, daß nur das Gesetz die Grenzen der Freiheit des einzelnen festlegen kann, kodifizieren die Art. 7217 und 8218 zudem die Anwendung dieser Grundsätze auf das Strafrecht. Die Verfassungen von 3. September 1791 und vom 24. Juni 1793 lehnten sich eng an diese Bestimmungen an219. Das Rückwirkungsverbot wird in der Verfassung von 1793 dann sogar in einem eigenständigen Artikel explizit festgeschrieben220. Über die Verfassung vom 22. August 1795 findet der nulla poena sine lege-Grundsatz Eingang in Art. 4 des Code Pénal von 1810221, der nicht zuletzt die damalige deutsche Gesetzgebung wesentlich beeinflußt hat. 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung In Frankreich tauchen die Grundsätze des nulla poena sine lege-Gebotes unter der Bezeichnung principe de légalité (Legalitätsprinzip) auf. Es be216 „Nul homme ne peut être soumis qu’à des lois consenties par lui où par ses représentants, antérieurement promulguées et légalement appliquées“ und „Les lois doivent être claires, précises, uniformes pour tous les citoyens.“, in: Archives parlamentaires, Bd. VIII, S. 222. Dies wird von Schreiber (FN 214), S. 71, auf amerikanischen Einfluß zurückgeführt. 217 Art. 7 lautet: „Nul homme ne peut être accusé, arrêté, ni déténu que dans les cas déterminés par la loi et selon les formes, qu’elles a prescrites. Leux qui, sollicitent, expedient, exécutent ou font exécuter des ordres arbitraieres, doivent être punis: mais tout citoyen, appelé ou saisi en vertu de la loi, doit obéir à l’instant; il se rend coupable par la résistance.“ 218 Art. 8 lautet: „La loi ne doit établir, que des peines strictement et évidemment nécessaires, et nul ne peut être puni en vertue d’une loi établie et promulguée antérieurement au délit et légalement appliquée.“ 219 Die Verfassung von 1791 übernahm die Vorschriften wörtlich; während die Verfassung von 1793 sich nur eng an sie anlehnte. 220 Vgl. den Art. 14: „Nul ne doit etre jugé et puni, qu’après avoir été entendu où légalement appelé et qu’en vertu d’une loi promulguée antérieurement au délit. La loi, qui punierait des délits commis avant qu’elle existêt serait une tyrannie; l’effet retroactif donné à la loi serait un crime.“ 221 „Nulle contravention, nul délit, nul crime, ne peuvent être punis des peines, qui n’étaient pas prononcées par la loi avant qu’ils fussent comis.“

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inhaltet auf verfassungsrechtlicher Ebene zum einen die Verpflichtung und zugleich die Zuständigkeit des Gesetzgebers, die Voraussetzungen eines strafbaren Handelns zu bestimmen. Diese Regelung findet sich grundsätzlich bereits in Art. 34 der Verfassung von 1958, von dem Art. 37 die Ausnahmen bestimmt. Zum anderen beinhaltet das principe de légalité die qualitative Anforderung, daß Gesetze Straftatbestände klar und präzise definieren müssen und die Strafbarkeit nur für solche Handlungen gelten darf, die vor ihrem Inkrafttreten stattgefunden haben. Heute ist das Verbot der Bestrafung ohne Gesetz zweifach verankert: Zum einen basiert es noch immer auf der französischen Menschenrechtserklärung, die über die Präambel der Verfassung von 1958 geltendes Verfassungsrecht ist, zum anderen auf Art. 111-3 des Code Pénal222 (CP). Art. 111-3 CP ist das Produkt der verfassungsrechtlichen Evolution und unterscheidet sich von Art. 4 des CP223 von 1810 in zwei wesentlichen Punkten224. Erstens beschränkt sich Art. 111-3 CP auf das principe de légalité im engeren Sinne, während Art. 4 auch das Rückwirkungsverbot umfaßte. Zweitens benennt die aktuelle Bestimmung deutlich sowohl das Erfordernis der vorherigen gesetzlichen Bestimmtheit des Tatbestandes als auch der Rechtsfolge, was der alte Art. 4 nicht mit gleicher Deutlichkeit tat. 3. Inhalt des Grundsatzes nulla poena sine lege Für die Väter der französischen Revolution war es eine Selbstverständlichkeit, daß nicht nur eine präzise Definition der Tatbestände und ihrer Rechtsfolgen in einem geschriebenen Text erfolgen, sondern es sich bei dieser Niederschrift auch um ein Parlamentsgesetz handeln mußte225.

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„Nul ne peut être puni pour un crime ou pour un délit dont les éléments ne sont par définis par la loi, ou pour une contravention dont les éléments ne sont pas définis par le règlement. Nul ne peut être puni d’une peine qui n’est pas prévue par la loi, si l’infraction est un crime ou un délit, ou par le règlement, si l’infraction est une contravention.“ 223 „Nulle contravention, nul délit, nul crime, ne peuvent être punis de peines qui n’étaient pas pronconcées par la loi avant qu’ils fussent commis.“ 224 Hierzu auch Desportes/Le Gunehec (FN 215), S. 148 RN 211. 225 In der III. Republik wurde diese Anforderung durch die gängige Praxis der décrets-lois weitgehend mißachtet. Zwar wurde dem Erfordernis der Rückkoppelung an das Parlaments genüge getan, da die Exekutive mit der Ermächtigung des Parlaments handelte, das im übrigen die Akte ratifizieren mußte. Die parlamentarische Kontrolle war jedoch häufig nur eine rein theoretische.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

a) Das Gesetz als Rechtsquelle des Strafrechts Die grundsätzlich erforderliche Rechtsquelle eines Straftatbestandes ist auch im heutigen französischen Recht ein Gesetz im engeren formellen Sinne (loi au sens étroit). Das Gesetz muß Tatbestand und Rechtsfolge genau definieren. Im Bereich der Ordnungswidrigkeiten (matière contraventionnelle) hingegen kommt der Rechtsverordnung (règlement) verfassungsrechtlich eine eigenständige Rolle zu. Damit durch die insoweit verbundene Erweiterung der Befugnisse der Exekutive kein Verstoß gegen das Legalitätsprinzip eröffnet wird, hat es der Gesetzgeber vorgezogen „élargir la notion classique de légalité pour lui permettre d’englober, outre la loi stricto sencu, les textes règlementaires“226. Durch diese Regelungstechnik erscheint die Verordnungszuständigkeit im Bereich der Ordnungswidrigkeiten nach französischem Verständnis nicht mehr als Abweichung vom Legalitätsprinzip, sondern als neuer Aspekt desselben. Vor diesem Hintergrund ist auch Art. 111-3 CP („. . . ou pour une contravention“) zu verstehen. Ausgehend von der ratio legis der Art. 34 und 37 der Verfassung von 1958 ist dennoch nicht davon auszugehen, daß Strafen allein per Gesetz anzuordnen sind. Vielmehr enthält Art. 34 der Verfassung von 1958 enumerativ aufgezählte Bereiche, die durch den Gesetzgeber zu regeln sind, wobei Art. 34 insoweit umfassend verstanden wird227. Art. 37 derselben Verfassung bestimmt, daß Bereiche durch eine Verordnung geregelt werden können, die nicht ausdrücklich durch Gesetz geregelt werden müssen228. Die Befugnisse des Gesetzgebers zur Delegation werden allerdings zum einen durch das principe de la liberté individuelle begrenzt, das für das Strafrecht seinen Niederschlag in Art. 66 der Verfassung von 1958 gefunden hat. Zum anderen durch die weite Auslegung des Art. 34. b) Folgerungen für Legislative und Judikative Die hieraus resultierenden Anforderungen an die Judikative und die Legislative lassen sich durch die Worte von Portalis charakterisieren, als er den Code Pénal von 1810 präsentierte: „En matière criminelle, il faut des lois précises, point de jurisprudence.“229 226

Zitiert nach Desportes/Le Gunehec (FN 215), S. 148 RN 211. Vgl. hierzu die Ausführungen unter C.II.5.a. 228 Entsprechend diesen Anforderungen wird für den Conseil Constitutionnel dem principe de légalité genüge getan, wenn die Straftat „dans des conditions qui permettent au juge, auquel le principe de légalité impose d’interpréter strictement la loi pénale, de se prononcer sans que son appréciation puisse encourir la critique d’arbitraire“ definiert wird, siehe CC 96-377 DC vom 16. Juli 1996, cons. 11. 229 Zitiert nach Desportes/Le Gunehec (FN 215), S. 151 RN 215. 227

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aa) Anforderungen an die Legislative Den Gesetzgeber trifft demnach die Verpflichtung, Gesetze klar und präzise abzufassen230. Grundsätzlich bestimmt Art. 34 der Verfassung von 1958, daß nur das Gesetz „fixer les règles concernant (. . .) la détermination des crimes et délits ainsi que les peines qui leur sont applicables“ vornehmen darf. Dies steht im Einklang mit Art. 7 der Deklaration von 1789, der bestimmt: „nul homme ne peut être accusé, arrêté ni détenu que dans les cas déterminés par la loi et dans les formes qu’elle a prescrites“. Diese Anforderungen wurden wiederholt vom Conseil Constitutionnel aufgegriffen. So hat er – erstmals allerdings in Bezug auf Art. 8 der Erklärung von 1789 – die Verpflichtung für den Gesetzgeber statuiert, Straftatbestände „en termes suffisamment clairs et précis“ zu definieren231. Wesentlich ist, daß die konstitutiven Elemente des Straftatbestandes durch das Gesetz in ausreichend klaren Worten bestimmt werden232. Die alleinige Zuständigkeit des Gesetzgebers mit den Ausnahmen aus den Art. 34 und 37 der Verfassung von 1958 hat der Conseil Constitutionnel dann im Zusammenhang mit dem principe de nécessité des peines bestätigt233. Damit hat der Conseil Constitutionnel eine strenge redaktionelle Kontrolle der Gesetze eingeführt234. Die von ihm genannten Rechtsgrundlagen sind Art. 34 der Verfassung von 1958235 und Art. 8 der Erklärung von 1789236. 230 Ausführlich zu diesen Anforderungen auch für die Exekutive, siehe André Vitu, Le principe de la légalité criminelle et la nécessité de textes clairs et précis, Observations sous C. Cass. Ch. Crim., 1. Februar 1990, Rev. Sc. Crim. 1991, S. 555. 231 So die Grundsatzentscheidung CC 80-127 DC vom 19./20. Februar 1981, cons. 7: „(. . .) la nécessité pour le législateur de définir les infractions en termes suffisamment claris et précis pour exclure l’arbitraire (. . .).“ 232 Siehe Entscheidung des CC 82-145 DC vom 10. November 1982, cons. 4 f. 233 CC 80-127 DC vom 19./20. Februar 1981, cons. 12 f.: „Considérant que l’article 61 de la Constitution ne confère pas au Conseil constitutionnel un pouvoir général d’appréciation et de décision identique à celui du Parlement, mais lui donne seulement compétence pour se prononcer sur la conformité à la Constitution des lois déférées à son examen. Considérant que dans le cadre de cette mission, il n’appartient pas au Conseil cconstitutionnel de substituer sa propre appréciation à celle du législateur en ce qui concerne la nécessité des peines attachées aux infractions définies par celui-ci (. . .).“ 234 Vgl. CC 84-183 DC vom 18. Januar 1985; CC 86-213 DC vom 3. September 1986; CC 96-377 DC vom 16. Juli 1996. In der Entscheidung CC 98-399 DC vom 5. Mai 1998 hat er ausdrücklich in cons. 7 erklärt, daß der Gesetzgeber das principe de légalité des délits et des peines und Art. 34 der Verfassung verletzt habe. 235 Hierzu etwa CC 2003-467 DC vom 13. März 2003, cons. 54: „Considérant que les dispositions constestées sont formulées en termes assez clairs et précis pour satisfaire aux prescriptions de l’article 34 de la Constitution (. . .)“; siehe auch CC 2004-492 DC vom 2. März 2004, cons. 5, wo der Conseil beide Rechtsgrundlagen

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bb) Anforderungen an die Judikative Der nulla poena sine lege-Grundsatz hat für den Richter auch im französischen Recht zur Folge, die Gesetze eng am Wortlaut interpretieren zu müssen. Er soll verhindern, daß dem Richter eine rechtsschöpfende Funktion zuwächst. Für das Strafrecht konkretisiert Art. 111-4 CP auf einfachgesetzlicher Ebene diesen Fakt und erfordert, daß das Strafgesetz nur einen strengen und engen Interpretationsspielraum zuläßt237. So dürfen die Richter die Strafgesetze weder im Wege der Ausweitung (extension) noch der über die Analogie oder Induktion auslegen. Bei Ungenauigkeiten in den Bestimmungen des Strafgesetzes ist der Richter gehalten, den Gesetzeswortlaut im Sinne der allgemeinen Rechtsgrundsätze und der dem Gesetz vorangegangenen parlamentarischen Debatten auszulegen. Damit besteht auch in der französischen Rechtsordnung im Bereich des Strafrechts das Verbot der strafbegründenden und strafverschärfenden Analogie. c) Rückwirkungsverbot Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (non-rétroactivité des lois repressives) wurde zuerst in Art. 8 der Deklaration von 1789 angesprochen („. . . promulguée antérieurement au délit . . .“). Ebenso verbrieft ist es in Art. 14 der Verfassung von 1793: „La loi qui punirait des délits commis avant qu’elle existât serait une tyrannie; l’effet rétroactif donné à la loi serait un crime“. Auch Art. 4 des Code Pénal von 1810 spricht das Rückwirkungsverbot an238. Auf einfachgesetzlicher Ebene findet sich das Verbot rückwirkender Strafgesetze in Art. 112-1 CP 239. Der Conseil Constitutionnel dehnt einerseits das Rückwirkungsverbot über das Strafrecht hinaus aus, so daß jedes loi repressive vom Verbot der nennt: „Considérant, enfin, que le législateur tient de l’article 34 de la Constitution, ainsi que du principe de légalité des délits et des peines (das er in ständiger Rechtsprechung aus Art. 8 der Erklärung von 1789 ableitet, so etwa CC 2004-504 DC vom 12. August 2004, A. d. V.), l’obligation de fixer lui-même le champ d’application de la loi pénale et de définir les crimes et délits en termes suffisamment clairs et précis (. . .).“ 236 Siehe auch CC 2003-467 DC vom 13. März 2003, cons. 60 und 61. 237 „La loi pénale est d’interprétation stricte.“ 238 Auch im Code Civil findet sich in Art. 2 findet sich ein Rückwirkungsverbot: „La loi ne dispose que pour l’avenir, elle n’a point d’effet rétroactif.“ 239 Während in Art. 112-1 Absatz 1 und 2 sich das Verbot der Rückwirkung des strengeren Strafgesetzes findet, so erfaßt Art. 112-1 Absatz 3 die zulässige Rückwirkung des milderen Strafgesetzes, soweit es noch nicht zu einer abschließenden Verurteilung gekommen ist, die nach dem Conseil Constitutionnel als Umkehrschluß aus Art. 8 der Erklärung von 1789 folgt. Hierzu CC 80-127 DC vom 19./20. Januar 1981.

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Rückwirkung erfaßt wird. Nach dieser Rechtsprechung soll es damit für „toute sanction ayant le caractère d’une punition“240 gelten. Andererseits grenzt der Conseil die lois de validation sowie rückwirkende lois fiscales aus dem Geltungsbereich des Rückwirkungsverbotes aus. Diese Ausgrenzung steht jedoch stets unter der Bedingung, daß keine wesentlichen verfassungsrechtlichen Garantien verletzt werden. Zu den insoweit zu beachtenden verfassungsrechtlichen Garantien zählt nach Auffassung des Conseil insbesondere auch das „principe de sécurité juridique“241 (Rechtssicherheit). Im Bereich der Strafgesetze kommt dem Rückwirkungsverbot Verfassungsrang zu und richtet sich damit zwingend an den Gesetzgeber. In anderen Rechtsgebieten handelt es sich bei dem Rückwirkungsverbot um ein allgemeines Rechtsprinzip mit Gesetzesrang mit der Folge, daß es durch einfaches Gesetzesrecht begrenzt werden kann. d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Das Gebot nulla poena sine lege wendet sich in Frankreich primär an den Gesetzgeber und stellt Anforderungen an die Formulierung von Strafgesetzen, um den Gerichten keine Möglichkeit zur willkürlichen Handhabe zu geben. Die Gesetzestexte müssen die strafbewehrten Handlungen eindeutig definieren und den möglichen Strafrahmen vorgeben. Nur in diesem vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen dürfen sich die Gerichte bei ihrer Rechtsprechung bewegen. Der Conseil Constitutionnel hat erstmals im Jahr 1981 die Anforderung der Klarheit und Präzision aufgestellt, um Willkür zu verhindern, und dies in einer Entscheidung aus dem Jahre 2004 bekräftigt242. Damit soll sowohl eine willkürliche Bestrafung ausgeschlossen als auch dem einzelnen die Möglichkeit gegeben werden, den Grund der Anklage gegen ihn zu kennen243. Hinzu kommt der generalpräventive Aspekt, 240

So CC 82-155 DC vom 30. Dezember 1982, cons. 24. So auch für die drei Erfordernisse, die aus Art. 8 der Deklaration abgeleitet werden, nämlich der légalité, non-rétroactivité und nécessité des peines, denen der Conseil Constitutionnel besondere Aufgaben beim Schutz der Freiheiten des einzelnen beigemessn hat. Der Conseil Constitutionnel hat diesbezüglich ausgeführt: „s’étendent à toute sanction ayant le caractère d’une punition même si le législateur a laissé le soin de la prononcer à une autorité de nature non juridictionnelle“, CC 93-325 DC vom 13. August 1993, cons. 48. 241 Differenzierend Franck Moderne, La sécurité juridique en droit constitutionnel franc¸ais et espagnol, in: Essays in Honour of Georgios I. Kasssimatis, Athen 2004, S. 673 ff. 242 CC 2004-492 DC vom 2. März 2004, cons. 5. 243 Vitu (FN 230), S. 555. Siehe C. Cass. Ch. Crim. 30. Oktober 1995, Bull. crim. Nº 329 S. 954: „Une infraction la règlementation communautaire ne peut être pénalement poursuivie que lorsqu’un texte de droit interne le prévoit et à la condi-

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daß die Bürger die Grenzen ihrer Freiheit klar erkennen können müssen und somit auch etwaige Straftäter abgeschreckt werden244. 4. Bewertung Das Verbot einer Strafe ohne Gesetz wird in Frankreich als grundlegende Garantie für die Freiheit des einzelnen und der Rechtssicherheit bezeichnet. Ein direkter Bezug auf den État de droit findet sich im Zusammenhang mit Verfahrensrechten selten. Auch im Standardwerk von Merle/Vitu245 erfolgt lediglich der Hinweis, daß das principe de légalité des délits et des peines nur ein Aspekt des Legalitätsprinzips im allgemeinen sei, das den État de droit im Gegensatz zum État de police auszeichne. Teilweise wurde in der französischen Literatur der nulla poena sine legeGrundsatz bezeichnet als Teil des „droit coutumier franc¸ais, droit supérieur à la loi elle-même et auquel il ne peut être porté atteinte“246. Unbestritten ist heute der Verfassungsrang des principe de légalité und seiner Einzelelemente, die zum bloc de constitutionnalité und damit zum geltenden Verfassungsrecht in Frankreich gehören, das der Überprüfung durch den Conseil Constitutionnel unterliegt247. Eine Herleitung aus französischem Gewohnheitsrecht ist wegen der ausdrücklichen Verankerung in der Erklärung von 1789 unnötig248. In der französischen Literatur findet sich folgerichtig die Einordnung „au premier rang des principes de valeur constitutionnelles“249. Damit ist der nulla poena sine lege-Grundsatz von allen staatlichen Akteuren zu beachten. Diese Feststellung des Verfassungsrangs des Prinzips führt zu folgendem Ergebnis: Verstößt ein Gesetz nach Ansicht eines Richters gegen die Garantien des nulla poene sine lege, so müßte er befugt sein, dieses wegen Verfassungswidrigkeit nicht anzuwenden, bzw. die Frage der Verfassungstion, en outre, que l’incrimination qui en résulte soit définie en des termes clairs et précis pour exclure l’arbitraire et permettre au prévenu de connaître exactement la nature et la cause de l’accusation portée contre lui.“ 244 Siehe Vitu (FN 230), S. 555. 245 Roger Merle/André Vitu, Traité de Droit Criminel, Tome 1, 3. Aufl., 1982, S. 220 RN 146. 246 So zitiert bei Merle/Vitu (FN 245), S. 224 RN 149, vgl. dort auch die weiteren Nachweise. 247 So auch die ständige Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel, vgl. etwa die Grundsatzentscheidung CC 80-127 DC vom 19./20. Januar 1981, cons. 6. Hierzu Michel de Villiers, Rev. Adm. (201), 1981, S. 266; Lo¿c Philip, RDP 1981, S. 651. 248 Vgl. Nachweise bei Merle/Vitu (FN 245), S. 224 RN 149 FN 2. 249 Desportes/Le Gunehec (FN 215), S. 207 RN 273.

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widrigkeit abschließend klären zu lassen. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von formellen Gesetzen obliegt in Frankreich jedoch dem Conseil Constitutionnel250. Dieser hat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2004 insoweit auch die Verpflichtung der ordentlichen Gerichte betont, die Einhaltung der nulla poena sine lege-Grundsätze zu überwachen und ihnen gemäß zu handeln. Dabei hebt er deren Aufgabe als Hüter der individuellen Freiheit gemäß Art. 66 der Verfassung von 1958 hervor251. Allerdings hat der ordentliche Richter die Vorgaben des nulla poena sine lege-Gebotes in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu beachten252. Auf diese Weise wird der einzelne vor willkürlicher Verurteilung geschützt. Ist ein Gesetz erst einmal in Kraft getreten besteht seit dem 1. März 2010 für die Partei eines Rechtsstreits die Möglichkeit, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens die question prioritaire de constitutionnalité (vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit) aufzuwerfen. Über die Cour de Cassation oder den Conseil d’Etat kann auf diese Weise die verfassungsrechtliche Überprüfung eines Gesetzes durch den Conseil Constitutionnel erreicht werden. Die ordentlichen Gerichte können diese Frage jedoch nicht von Amts wegen stellen. Der französische nulla poena sine lege-Grundsatz umfaßt weitgehend inhaltlich dieselben Elemente und vergleichbare Anforderungen wie im deutschen Recht. Zwar kann der einzelne einen Verstoß dagegen nicht mit einer Verfassungsbeschwerde rügen. Sein Schutz vor willkürlicher Verurteilung ist dennoch gewahrt, da der ordentliche Richter die Vorgaben des nulla poena sine lege-Gebotes in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu beachten hat253.

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Merle/Vitu (FN 245), S. 224 RN 149, sehen die Zuständigkeit des Conseil Constitutionnel für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen kritisch, da sie keine effektive Sanktion darstelle. Sie schließe vielmehr ein Einschreiten anderer Richter aus, selbst wenn aufgrund eines akuten Falles die Notwendigkeit bestehe. Dies ändere jedoch nichts an der Qualität „supra-légale“, das Prinzip habe zumindest den Charakter einer „règle de conduite gouvernementale“. 251 CC 2004-492 DC vom 2. März 2004, cons. 6. 252 Siehe C. Cass. Ch. crim. 12. Juni 1989, Bull. crim. Nº 252, S. 630, siehe insbesondere C. Cass. Ch. crim. 27. April 2004 Bull. crim. Nº 98, S. 379: „Le principe selon lequel nul peut être puni d’une peine qui n’est pas prévue par la loi est d’ordre public, et constitue une exception péremptoire qui doit être relevée par le juge à tous les stades de la procédure.“ 253 Siehe C. Cass. Ch. crim. 12. Juni 1989, Bull. crim. Nº 252, S. 630 und insbesondere C. Cass. Ch. crim. 27. April 2004 Bull. crim. Nº 98, S. 379: „Le principe selon lequel nul peut être puni d’une peine qui n’est pas prévue par la loi est d’ordre public, et constitue une exception péremptoire qui doit être relevée par le juge à tous les stades de la procédure.“

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

V. Ne bis in idem 1. Historische Entwicklung Das französische Strafverfahren zur Zeit Ludwigs XIV. kannte keine gesetzliche Aufzählung der Wiederaufnahmegründe. Die Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgte durch das Verfahren der lettres de révision, die zum Bereich der justice retenue und damit zur königlichen Justizausübung gehörten254. Die Zulassung einer Wiederaufnahme stand allein im Ermessen des Königs und seines Rates und war damit offen für politische und willkürliche Erwägungen. Erst durch die Bemühungen einzelner Philosophen der Aufklärung, insbesondere von Voltaire, hielten die Ideen der Aufklärung im Strafverfahren Einzug und vertrieben Elemente des inquisitorischen Strafverfahrens. Ein Aspekt war dabei die Niederschlagung der justice retenue255, da sie das nunmehr verhaßte, absolutistische System verkörperte. Insoweit wurde das Verbot der Doppelbestrafung durch die Gedanken der Aufklärung wiederbelebt, nachdem zuvor während der Inquisition eine extensive Handhabung der Wiederaufnahmepraxis praktiziert worden war256. Nach der Revolution versuchte man, das Gedankengut der Aufklärung in die neuen gesetzlichen Regelungen einfließen zu lassen257. Dementsprechend fand das Verbot der Doppelbestrafung Eingang in die Verfassung von 1791258 (Art. 9, Titel III, Kap. V) sowie in die Strafprozeßordnung von 254

Adhémar Esmein, Cours Élementaire d’histoire du droit franc¸ais, Paris 1925, S. 424 ff. 255 Esmein (FN 254), S. 421 ff. 256 Zur Mißachtung des Prinzip im Ancien Régime vgl. Michèle-Laure Rassat, Traité de procédure pénal, 1. Aufl., Paris 2001, S. 833 RN 516. 257 Interessanterweise haben sich die revolutionären Gesetzgeber wohl als Vorbild das englische Rechtssystem auserkoren, das kein Wiederaufnahmeverfahren kannte, so daß man aufgrund der Verbesserungen das Wiederaufnahmeverfahren für entbehrlich erachtete. Die völlige Abschaffung des Wiederaufnahmeverfahrens stellte sich jedoch alsbald als Fehler heraus und wurde daher durch Dekret im Jahr 1793 wieder eingeführt, vgl. hierzu ausführlich Gerhardt Grebing, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens in Frankreich, in: Jescheck/Meyer (Hrsg.), Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im deutschen und ausländischen Recht, 1974, S. 304 (313 ff.). 258 Art. 9 der Verfassung von 1791 lautet: „En matière criminelle, nul citoyen ne peut être jugé que sur une accusation rec¸ue par des jurés, ou décrétée par le Corps législatif, dans les cas où il lui appartient de poursuivre l’accusation. – Après l’accusation admise, le fait sera reconnu et déclaré par des jurés. – L’accusé aura la faculté d’en récuser jusqu’à vingt, sans donner des motifs. – Les jurés qui déclareront le fait, ne pourront être au-dessous du nombre de douze. – L’application de la loi sera faite par des juges. – L’instruction sera publique, et l’on ne pourra refuser aux accusés le secours d’un conseil. – Tout homme acquitté par un juré légal, ne peut plus être repris ni accusé à raison du même fait.“

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1808 und hat seitdem kontinuierlich seinen Platz in der französischen Rechtsordnung259. 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung In der französischen Literatur wird das Verbot der Doppelbestrafung heute wie folgt definiert: „L’autorité de la chose jugée, dont elles sont investies, entraîne l’impossibilité de poursuivre à nouveau pour les mêmes faits, la personne qui, pour ces faits, a déjà été l’objet d’une décision irrévocable de condamnation, d’exemption de peine, d’acquittement ou de relaxe (non bis in idem).“260

a) Terminologie In Frankreich wird das Verbot der Doppelbestrafung überwiegend nicht als ne bis in idem, sondern als „non bis in idem“ bezeichnet261. Das mit dem Verbot der Doppelbestrafung eng zusammenhängende Prinzip der Rechtskraft wird in Frankreich unter der Bezeichnung „autorité de la chose jugée“ (Rechtskraftwirkung) geführt262. Dabei handelt es sich um das Pendant der materiellen Rechtskraft im deutschen Recht: die Akzeptanz der Entscheidung als in einem anderen Prozeß unabänderlich263. Im Zusammenhang mit dem ne bis in idem-Grundsatz wird häufig auch auf das principe de non-cumul des peines (Verbot der kumulativen Strafzumessung) Bezug genommen264, das jedoch nicht mit dem Verbot der Doppelbestrafung identisch ist, sondern einen anderen, verwandten Regelungsgegenstand hat265. 259

Siehe den Überblick bei Roger Merle/André Vitu, Traité de droit criminel, Procédure pénale, Bd. II, 5. Aufl., Paris 2001, S. 1042 RN 885. 260 Gaston Stefani/Georges Levasseur/Bernard Bouloc, Procédure pénale, 18. Aufl., Paris 2001, S. 900 RN 973. 261 Siehe Paul Johann Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, Neudruck der 14. Aufl. aus dem Jahre 1847, 1973, § 617 Anm. 1: „Fast alle auswärtigen Gesetzgebungen, namentlich die englische, französische, italienische, erkannten ebenfalls von jeher obigen Grundsatz an, welcher in der französischen Jurisprudenz durch die Paroemie: Non bis in idem, ausgedrückt wird.“ 262 Siehe Merle/Vitu (FN 259), S. 1042 RN 885: „L’adage non bis in idem est couramment utilisé pour exprimer ce principe d’autorité de la chose jugée au criminel.“ 263 Zur weitergehenden Frage, ob und inwieweit Verurteilung oder Freispruch in einem Staat einer erneuten Verfolgung in einem anderen Staat entgegensteht, vgl. Gerhard Dannecker, Die Garantie des Grundsatzes „ne bis in idem“ in Europa, in: Hirsch/Wolter/Brauns (Hrsg.), Festschrift für Günter Kohlmann, 2003, S. 593 ff. 264 Vgl. nur Renée Koering-Joulin/Jean-Franc ¸ ois Seuvic, Droits fondamentaux et droit criminel, AJDA 1998 spécial, S. 106 (121).

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

b) Ausdrückliche Verankerung auf einfachgesetzlicher Ebene Der Grundsatz, daß die Rechtskraft eine erneute Strafverfolgung in derselben Sache verhindert, findet sich heute im französischen Recht in Art. 368 Code de Procédure Pénale (CPP)266: „Aucune personne acquittée légalement ne peut plus être reprise ou accusée à raison des mêmes faits, même sous une qualification différente.“

Wie die umfangreiche Literatur bestätigt, ist das Problem der Rechtskrafterstreckung in Frankreich wegen der neben der öffentlichen Strafklage (action publique) gleichzeitig bestehenden Möglichkeit der Zivilklageausführlich diskutiert worden267. Insoweit wird unterschieden zwischen der autorité de la chose jugée au criminel sur le criminel und der autorité de la chose jugée au criminel sur le civil sowie der autorité de la chose jugée au civil sur le criminel. c) Einordnung durch die Rechtsprechung Der Conseil Constitutionnel selbst hat dem ne bis in idem-Grundsatz bislang keinen Verfassungsrang zuerkannt. Er beschränkt sich vielmehr darauf, im Zusammenhang mit dem Aufeinandertreffen von strafrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Sanktion festzustellen, daß diese „Doppelbestrafung“ nicht zwangsläufig gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoße (principe de proportionalité)268. Dies gelte jedoch nur unter der Voraussetzung, daß das Höchstmaß der möglicherweise zu verhängenden Strafe nicht die höchstmögliche Einzelstrafe übertreffe. Auf den ne bis in idem-Grundsatz geht er in diesem Zusammenhang nicht ein. 265 Durch den Conseil Constitutionnel wurde die Regel des non-cumul des peines im Zusammenhang mit dem principe de nécessité anläßlich der zunehmenden Sanktionen aus dem Bereich des Verwaltungsrechts besonderer Würdigung unterzogen. Bei einem Zusammentreffen von strafrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Sanktion ist nur das Maximum der höchsten Einzelstrafe insgesamt zulässig („le principe de proportionalité implique, qu’en tout état de cause, le montant global des sanctions éventuellement prononcés ne dépasse pas le montant le plus élevé de l’une des sanctions encourues“, so CC 89-260 DC vom 28. Juli 1989, cons. 18). Im Anschluß hat der Conseil ausgeführt: „(. . .) l’exercice de ces pouvoirs de mesures destinées à sauvegarder les droits et libertés constitutionnellement garantis: qu’en particulier une sanction administrative de nature pécuniaire ne peut se cumuler avec une sanction pénale“, so CC 96-378 DC vom 23. Juli 1996, cons. 15. Hierzu siehe auch Koering-Joulin/Seuvic (FN 264), S. 121 (dort Anm. 147 m. w. N.). 266 Rassat spricht in diesem Zusammenhang von einer „avarice des textes“ (FN 256) S. 833 RN 516. 267 Vgl. hierzu Grebing (FN 257), S. 305 m. w. N. 268 CC 89-260 DC vom 28. Juli 1989, cons. 5 f.; CC 97-395 DC vom 30. Dezember 1997, cons. 34 ff. (insbesondere cons. 41).

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Der Conseil d’État hingegen hat in einem Avis269 aus dem Jahre 1996270 dem ne bis in idem-Grundsatz ausdrücklich Verfassungsrang zuerkannt, indem er ihn als Teil des principe de la nécessité des peines eingeordnet hat271. Dieses Prinzip ist bereits in Art. 8 der Erklärung von 1789 niedergelegt: Es gibt dem Gesetzgeber die Verpflichtung auf, ein angemessenes Verhältnis von Strafzumessung und strafbarer Handlung zu beachten272. Es ist insoweit eng verbunden mit dem principe de légalité des peines. Der Conseil d’État hatte seine Einschätzung in dem Avis von 1996 ausdrücklich vorbehaltlich einer abweichenden Einordnung durch den Conseil Constitutionnel abgegeben. Eine Zuordnung des ne bis in idem-Grundsatzes zu dem principe de nécessité des peines durch den Conseil Constitutionnel selbst ist jedoch bislang noch nicht erfolgt. Der Verfassungsrang des principe de la nécessité des peines wird in ständiger Rechtsprechung jedoch auch vom Conseil Constitutionnel bestätigt273. Insoweit findet es seinen Platz im bloc de constitutionnalité und ist damit Teil des materiellen Verfassungsrechts, anhand dessen der Conseil Constitutionnel die Gesetze auf ihre Verfassungskonformität überprüft. Aufgrund der hohen Bedeutung des ne bis in idem-Grundsatzes ist es nach hier vertretener Ansicht gerechtfertigt, mit dem Conseil d’État vom Verfassungsrang des ne bis in idem-Grundsatzes auszugehen. Diese Wertung wird durch die Stellungnahme der Delegation der Assemblée Nationale für die Europäische Union gestützt, in der zum einen der Grundsatz ne bis in idem als fundamentaler Rechtsgrundsatz hervorgehoben und zum anderen die Einschätzung des Conseil d’État übernommen wird274. 269

Kann mit „Stellungnahme“ übersetzt werden. Zu den Avis des Conseil d’État siehe Yves Gaudemet, Traité de Droit Administratif, Bd. I, 16. Aufl., Paris 2001, S. 354 f. 270 Avis nº 358.597 vom 29. Februar 1996, abrufbar auf der offiziellen Internetseite des Conseil d’État unter http://www.conseil-etat.fr/ce/rappor/index_ra_cg03_ 05.shtml, Stand: 23. Juli 2006. 271 „. . . elles meconnaissent la règle ‚non bis in idem‘ qui fait partie du principe à valeur constitutionnelle de la nécessité des peines.“ 272 Hierzu Louis Favoreu, La constitutionnalisation du droit pénal et de la procédure pénale, in: Droit Pénal Contemporain, Mélanges en l’honneur d’André Vitu, Paris 1989, S. 169 (187 f.); Koering-Joulin/Seuvic (FN 264), S. 119 f. 273 Erstmalig in CC 80-127 DC vom 19./20. August 1981 und seitdem ständige Rechtsprechung, siehe die neueren Entscheidungen: CC 2003-467 DC vom 13. März 2003, cons. 60; CC 2004-504 DC vom 12. August 2004, cons. 74. 274 Assemblée Nationale, Constitution du 4 Octobre 1958, Douzième Législature, Enregistré à la Présidence de l’Assemblée nationale le 19 novembre 2003, Rapport d’information, déposé par la Délégation de l’Assemblée Nationale Pour l’Union Européenne sur des textes soumis à l’Assemblée nationale en application de l’article 88-4 de la constitution du 16 octobre au 17 novembre 2003 (nos E 2402, E 2404, E 2407 à E 2413, E 2416, E 2417, E 2423, E 2427, E 2428, E 2434 et E 2439) et

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

3. Inhalt des Verbots der Doppelbestrafung Die Wirkung der chose jugée (rechtskräftig entschiedene Sache) wird in der Literatur überwiegend in einen „aspect négatif“ und einen „aspect positif“ unterteilt275. Als negative Wirkungsrichtung wird der Ausschluß jeder weiteren öffentlichen Strafanklage interpretiert. Der positive Aspekt manifestiert sich in der Anregung einer Zivilklage, die sich jedoch nicht in Widerspruch zu dem setzen darf, was der Strafrichter über die Anklage entschieden hat276. In diesem Zusammenhang wird in Frankreich regelmäßig auf Art. 4 des siebten Zusatzprotokolls zur EMRK verwiesen sowie auf Art. 14 Abs. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, die das Verbot der Doppelbestrafung beinhalten. Ausgehend von diesen geschriebenen Texten und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die sich analog zu Art. 1351 Code Civil (CC)277 zur Rechtskraft im Zivilrecht entwikkelt haben, bildeten sich Konzeption und Voraussetzungen des Verbots der Doppelbestrafung im französischen Strafverfahrensrecht heraus278. Auf sur les textes nos E 1774, E 2221, E 2224-7, E 2236, E 2244, E 2291, E 2391, E 2394 et E 2395 et présenté par M. Pierre Lequiller et MM. Daniel Garrigue, Guy Lengagne, Thierry Mariani,et Didier Quentin, Députés, Stand: 23. Juli 2006, http:// www.assemblee-nationale.fr/12/europe/rap-per/p1239.asp. Siehe auch die Einstufung bei Pierre Fauchon, Justice et affaires intérieures, Communication des M. Pierre Fauchon sur le projet de décision-cadre rélative à l’application du principe ‚non bis in idem‘, Texte E 2236, hinterlegt auf der Internet Seite des französischen Senats unter www.senat.fr/ue/pac/E2236.html, Stand: 23. Juli 2006, wo es heißt: „On peut, en effet, penser qu’une éventuelle révision constitutionnelle ne devrait pas être exclue d’office s’agissant d’un principe aussi fondamental que celui du ‚non bis in idem‘ “, um dann fortzufahren: „Je vous proposerai donc d’adopter une proposition de résolution qui inviterait notamment le Gouvernement à œuvrer au sein du Conseil afin que les exceptions au principe du ‚non bis in idem‘ soient les plus reduites possibles et qui lui demanderait de saisir le Conseil d’État . . .“ 275 Zu dieser Terminologie vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 896 RN 970. 276 Hierzu Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 896 RN 970, mit folgender Beschreibung: „(. . .) l’autorité de la chose jugée au criminel sur le civil, qui s’exerce incontestablement dans le cas où c’est une juridiction civil qui statue sur l’action civil après la décision de la juridiction répressive sur l’action publique, a pour conséquence d’imposer la décision répressive au juge civil.“ 277 „L’autorité de la chose jugée n’a lieu qu’à l’égard de ce qui a fait l’objet du jugement. Il faut que la chose demandée soit la même; que la demande soit fondée sur la même cause; que la demande soit entre les mêmes parties, et formée par elles et contre elles en la même qualité.“ 278 Philippe Conte/Patrick Maistre du Chambon, Procédure pénale, 3. Aufl., Paris 2001, S. 398 RN 665; Merle/Vitu (FN 259), S. 1043 RN 886; Stefani/Levasseur/ Bouloc (FN 260), S. 898 RN 971; differenzierend Rassat (FN 256), S. 833 RN 516: „(. . .) il serait cependant inexact de ne considérer l’autorité pénale que sous cet

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diese Weise lassen sich die drei folgend behandelten Voraussetzungen für das Verbot einer erneuten Strafverfolgung und Bestrafung ableiten279. a) Identité d’objet Erste Voraussetzung ist die identité d’objet (Identität der Sache). Hierunter wird der Zweck und damit das Ziel des Strafverfahrens verstanden. Dies ist in der Regel die Verhängung einer Strafe über die angeklagte Person. Es ist insbesondere nicht von Bedeutung, ob die Ermittlung aufgrund einer Anzeige des Ministère Public oder aufgrund der des Opfers aufgenommen wurde; das Ziel und der Zweck des Verfahrens sind in jedem der Fälle identisch280. Diese Voraussetzung ist in einem Strafverfahren im Unterschied zu einem zivilrechtlichen Verfahren in der Regel als unproblematisch zu bejahen. b) Identité des parties Mit der identité des parties (Identität der Parteien) als weitere Voraussetzung wird gefordert, daß sowohl der strafverfolgende als auch der verfolgte Beteiligte des ersten abgeschlossenen Prozesses mit dem des möglichen zweiten Prozesses identisch sind. Damit wird dem relativen Charakter der Rechtskraft Rechnung getragen. In Bezug auf die strafverfolgende Partei ist diese Voraussetzung immer erfüllt, da Hauptpartei des Verfahrens immer das Ministère Public ist, selbst dann, wenn das Verfahren auf Initiative des Opfers angestrengt wurde. Für die Partei, die aufgrund ihrer Handlung Beteiligte des Strafverfahrens ist, gilt, daß sie sowohl im ersten als auch im zweiten Prozeß identisch sein muß. Personen, die nicht Partei des ersten Prozesses waren, können sich nicht auf die Rechtskraft berufen281. aspect comme l’a fait longtemps la doctrine analysant l’autorité au pénal comme une application particulière de l’article 1351 du Code Civil“, um dann fortzufahren: „l’autorité pénale (. . .) paraît reposer essentiellement en démocratie sur l’idée d’un contrat social qui fonde aussi la prescription pénale.“ 279 Conte/Chambon (FN 278), S. 398 RN 665, sprechen von der „l’exigence de la triple identité“. Vgl. auch Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 901 dort Anmerkung 1 mit weiteren Nachweisen; kritisch Merle/Vitu (FN 259), S. 1043 RN 886. 280 Zu Beispielen, bei denen keine identité d’objet vorliegt, Stefani/Levasseur/ Bouloc (FN 260), S. 901, RN 974. 281 Ebenso gilt für den Komplizen, dessen Partner bereits wegen des gemeinsam verübten Delikts verurteilt wurde, kein Verbot der Doppelbestrafung; dies war seit 1952 wiederholt Gegenstand der Rechtsprechung, Nachweise bei Stefani/Levasseur/ Bouloc (FN 260), S. 902 Anmerkung 4.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

c) Identité de cause Von besonderer Bedeutung und zugleich dritte Voraussetzung ist auch im französischen Recht die Frage nach der identité de cause (Identität der Tat) und somit nach dem Tatbegriff282. Auch im französischen Recht bereitet die Bestimmung des „idem“ Probleme: Es stellt sich die Frage, ob es sich bei der Bestimmung der Tat nur um ein rein äußeres Geschehen handelt oder ob der Begriff bereits rechtliche Wertungen beinhaltet. Diese Überlegung war in der Vergangenheit Gegenstand einer Kontroverse zwischen Cour de Cassation und Lehre283. Dieselbe Person soll nicht zweimal für „le même fait délictueux“284 (die gleiche deliktische Handlung, Ü. d. V.) verfolgt werden285. Allerdings ist dies sehr wohl möglich, wenn es sich um zwei unterschiedliche Tatgeschehen handelt, die lediglich durch Konnexität oder Kausalität verknüpft sind. Daraus resultierte die Frage, inwieweit nachträgliche Änderungen eines rechtskräftigen Urteils – außerhalb der révision (Wiederaufnahme des Verfahrens) – wegen nachträglich anderer rechtlicher Qualifizierung der Handlung möglich sind. Es käme dann insoweit nicht auf dieselbe Tat, sondern nur auf ihre identische rechtliche Charakterisierung an. Aus Sicht der Cour de Cassation war die identité de cause nur gegeben, wenn es sich bei der zweiten Strafverfolgung um dieselbe rechtliche Würdigung der Tat handelte286. Unter dieser Voraussetzung war es zulässig, dieselbe Tat später aufgrund einer anderen rechtlichen Würdigung erneut zu verfolgen und gegebenenfalls Irrtümer zu korrigieren287. Damit sollte der Erkenntnis Rechnung getragen werden, daß Strafgerichte in ihrer rechtlichen Würdigung korrekturbedürftigen Fehlern unterliegen können288. Diese Auffassung stützte sich im wesentlichen auf den Wortlaut des alten Art. 360 Code d’Instruction Criminelle (CIC) von 1808, in dem von „mêmes faits“ die Rede war289. Er regelte die Voraussetzungen für den Eintritt 282

Vgl. C. Cass. Ch. Crim., 2. Juni 1992, Bull. crim. Nº215, S. 597. Ausführlich mit Beispielen siehe Rassat (FN 256), S. 836 RN 518 ff. 284 Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 902 RN 976. 285 Unter Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 1 CPP vgl. C. Cass. Ch. Crim., 13. Dezember 1990, Bull. crim. Nº 433, S. 1075: „Il est également de principe qu’un même fait ne peut donner lieu contre le même prévenu à deux actions pénales distinctes.“ 286 Vgl. hierzu Desportes/Le Gunehec (FN 215), S. 244 RN 309 f. 287 Hierzu Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 903 RN 976 (m. w. N. zur Rechtsprechung in Anmerkung 1). 288 Vgl. Desportes/Le Gunehec (FN 215), S. 244 RN 308 m. w. N. Hierzu auch Ernst Roskothen, Französisches Strafverfahrensrecht, 1951, Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft n. F., S. 97. 289 „Toute personne acquittée légalement ne pourra plus être reprise ni accusée à raison du même fait.“ Vgl. auch Art. 246: „Le prévenu à l’égard duquel la cour 283

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der Rechtskraft, die darin bestanden, daß eine Entscheidung in der Sache vorliegen mußte und es sich um dieselbe Tat handelte (mêmes faits). Bereits zu dieser Zeit bestand Uneinigkeit, wie der Begriff derselben Tat zu verstehen war. Nach der Rechtsprechung sollte die rechtliche Einordnung maßgeblich sein. Dieser Ansatz wurde jedoch als „correctionnalisation judiciaire a posteriori“290 oder „repêchage après acquittement“291 kritisiert. Im Gegensatz zur Auffassung der Cour de Cassation trat nach der Lehre das Verbot der Doppelbestrafung bereits bei einer Identität des historischen Tatgeschehens ein. In Art. 368 findet sich nunmehr jedoch der Zusatz: „même sous une qualification différente“292. Der Gesetzgeber hat sich damit der Auffassung der Lehre angeschlossen. Unter „les mêmes faits“ ist damit das historische Tatgeschehen zu verstehen, unabhängig von seiner rechtlichen Qualifizierung293. Ab dem Augenblick der Aburteilung der Tat kann sie nicht mehr unter einen anderen rechtlichen Würdigung Gegenstand eines Strafprozesses mit denselben Beteiligten sein294. Allerdings scheint die Cour de Cassation ihre ursprüngliche Auffassung der Möglichkeit einer kumulativen Strafverfolgung in dem Urteil „Laurent“295 royale aura décidé qu’il n’y a pas lieu au renvoi à la cour, d’assises; ne pourra plus y être traduit à raison du même fait, à moins qu’il ne survienne de nouvelles charges.“ und Art. 443 Abs. 2: „Lorsque, après une condamnation pour crime ou délit, un nouvel arrêt ou jugement aura condamné pour le même fait un autre accusé ou prévenu et que, les deux condamnations ne pouvant se concilier, leur contradiction sera la preuve de l’innocence de l’un ou de l’autre condamné.“ 290 Conte/Chambon (FN 278), S. 399 RN 667. 291 So bei Rassat (FN 256), S. 837 RN 518 (dort Anmerkung 3). 292 Kritisch unter Aufzeigen von zwei unklaren Bereichen Conte/Chambon (FN 278), S. 399 f. RN 668. 293 C. Cass. Ch. Crim., 6. Januar 1999, Bull. crim. Nº 6, S. 12, stellt mit folgenden Erwägungen eine Verletzung des Prinzips non bis in idem fest: „(. . .) un même fait ne peut entraîner une double déclaration de culpabilité ni être retenu comme élément constitutif d’un crime et comme circonstance aggravante d’une autre infraction.“; ebenso bereits in früheren Entscheidungen, so etwa C.Cass. Ch. Crim., 3. März 1966, Bull. crim. Nº 79: „(. . .) un même fait autrement qualifié ne peut entraîner une double déclaration de culpabilité“. 294 Nicht verletzt ist das Prinzip non bis in idem hingegen „par des poursuites concomitantes relatives au même article de presse, des chefs de diffamation et d’infraction à la loi du 2 juillet 1931, la cour d’appel a répondu sans insuffisance aux conclusions dont elle était saisie; qu’un fait unique constituant un cumul ideal d’infractions peut recevoir plusieurs qualifications pénales différentes, dès lors que celles-ci ne présentent entre elles aucune incompatibilité et sont susceptibles d’être appliquées concurremment“, C. Cass. Ch. Crim., 19. März 1996, Bull. Crim. Nº 117, S. 340. Zu Disziplinarstrafen und Strafverfolgung C. Cass 1.Ch. Civ., 2. April 1997, Bull. 1997 I Nº115, S. 77. 295 C. Cass. Ch. Crim., 19 Mai 1983, Bull. Crim. Nº149. Kritisch Rassat (FN 256), S. 839 f. RN 520. In diesem Urteil hat die Cour de Cassation eine pour-

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wieder aufgreifen zu wollen: Die Zulässigkeit einer erneuten Verurteilung wurde in diesem Urteil mit dem Auftauchen neuer Tatsachen (faits nouveaux) begründet296. Durch diese Konstruktion hat die erfolgte Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung eine nochmalige Verurteilung wegen Mordes nicht verhindert. Denn es hatte sich nachträglich herausgestellt, daß der Tod des Opfers nicht auf eine Fahrlässigkeit zurückzuführen, sondern vorsätzlich herbeigeführt worden war297. Die Literatur hat sich dieser Möglichkeit zum Teil mit der Bewertung angeschlossen, es habe sich hierbei nicht um eine nachträglich andere rechtliche Würdigung gehandelt, sondern um neue Tatsachen, die für sich genommen zwar keinen anderen Straftatbestand erfüllen, aber in Kombination mit dem im ersten Urteil festgestellten Tatgeschehen eine neue Verletzung ergäben298. Abgesehen von dieser Ansicht besteht jedoch inzwischen überwiegend Einigkeit über den historischen Tatbegriff299. d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Auch im französischen Recht ist der ne bis in idem-Grundsatz als Ausdruck des Gebotes der Rechtssicherheit nach Ausschöpfung des Unrechtssuite für homicide volontaire für korrekt erklärt, obwohl derjenige aufgrund derselben Handlung schon für eine homicide involontaire verurteilt worden war. Kritisch auch Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 904 RN 976: „(. . .) elle (la Cour de Cassation A. d. V.) a consacré à nouveau l’identité de ‚fait juridique‘ ce qui permet de retenir deux qualifications dont les éléments constitutifs sont distincts, à propos d’une seule et même action, ce qui est évidemment très contestable“. Weitere Beispiele bei Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 904 Anmerkung 5. 296 So zumindest und im Endergebnis wohl zustimmend Conte/Chambon (FN 278), S. 400 RN 668. 297 Es stellt sich insoweit die Frage, ob diese Konstruktion auch gilt, wenn ein Freispruch von einem Tribunal correctionel oder einem Tribunal de police ausgesprochen wurde. Art. 368 CPP gilt für die Cour d’assises, die nach Art. 351 CPP verpflichtet sind, den Sachverhalt unter allen möglichen bzw. denkbaren rechtlichen Qualifikationen zu bewerten und zu durchleuchten. Es existiert keine eine entsprechende Pflicht begründende Vorschrift für die tribunaux correctionnels und die tribunaux de police. Allerdings besteht auch für diese beiden die Pflicht, den Sachverhalt auf alle möglichen Verletzungen hin zu untersuchen (Art. 540 und 469) und sich gegebenenfalls, soweit ihre Prüfung das Vorliegen eines schwereren Delikts, für das sie nicht zuständig sind, ergibt, sich für unzuständig zu erklären, hierzu Conte/ Chambon (FN 278), S. 399 RN 668; differenzierend Rassat (FN 256), S. 836 ff. 298 Merle/Vitu (FN 259), S. 1050 f. RN 894 m. w. N. Kritisch Rassat (FN 256), S. 840 f. RN 520, die diese Argumentation als „juridiquement inopérante“ bezeichnet mit dem Hinweis, daß die einzige rechtlich zulässige Möglichkeit, ein endgültiges Urteil zu ändern, die Revision sei. Sie zieht daraus die Schlußfolgerung, daß das Ergebnis der Chambre criminelle „lato sensu, contra legem“ sei. 299 Darstellung der Entwicklung bei Jean Pradel, Procédure Pénal, 9. Aufl., Paris 1997, RN 715; Merle/Vitu (FN 259), S. 1051 f. RN 895 f.

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und Schuldgehalts durch eine Verurteilung verankert. Es besteht das Bewußtsein, daß eine doppelte Bestrafung unverhältnismäßig wäre. Dieser Grundsatz wird jedoch von der Cour de Cassation in Ausnahmefällen zugunsten des Gebots der materiellen Gerechtigkeit relativiert. Das Prinzip, daß niemand wegen derselben Tat zweimal bestraft werden darf, war bereits in Art. 360 des alten CIC verankert und gilt als klassisches Prinzip des französischen Strafverfahrensrechts300. Insoweit wird auch in Frankreich das Verbot der Doppelbestrafung im Spannungsverhältnis zwischen dem Erfordernis der Gerechtigkeit einerseits und dem der Rechtssicherheit andererseits diskutiert301. Auch in der französischen Rechtsordnung wurde dieses Spannungsverhältnis zugunsten der Rechtssicherheit aufgelöst. Der einzelne, der nicht zum Spielball staatlicher Sanktionen werden soll, und das Erfordernis der materiellen Gerechtigkeit im Interesse der Allgemeinheit liegen auch dem Art. 368 CPP zugrunde. Ein Verstoß gegen den ne bis in idemGrundsatz ist ein in allen Instanzen von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis302. 4. Bewertung Das Verbot der Doppelbestrafung findet sich im geschriebenen französischen Recht nur auf einfachgesetzlicher Ebene, obwohl es ursprünglich einen Platz in der Verfassung von 1791 hatte. Übergesetzliche Geltung hat in Frankreich das Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK. Hierauf bezog sich etwa die Chambre Criminelle der Cour de Cassation am 7. September 2004 in ihrer Entscheidung, daß eine strafrechtliche Verurteilung keine nachfolgenden Disziplinarstrafen ausschließe303. Damit beschränkt sich das Doppelbestrafungsverbot auch in Frankreich im wesentlichen auf das Kernstrafrecht. Der Conseil d’État hat, wie gezeigt, dem ne bis in idem-Grundsatz Verfassungsrang zuerkannt, eine Wertung, die bis jetzt noch nicht durch eine entgegenstehende Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel widerlegt wurde. Die ordentliche Gerichtsbarkeit bezieht sich bei ihrer Überprüfung von Urteilen regelmäßig auf die EMRK und die Zusatzprotokolle, eine 300

Siehe hierzu die Ausführungen von Pierre Fauchon, Justice et affaires intérieures, Communication des M. Pierre Fauchon sur le projet de décision-cadre rélative à l’application du principe „non bis in idem“, Texte E 2236, hinterlegt auf der Internet Seite des französischen Senats unter www.senat.fr/ue/pac/E2236.html, Stand: 23. Juli 2006. 301 So Fauchon (FN 300). 302 Siehe Merle/Vitu (FN 259), S. 1044 RN 887; Marco Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafverfahrensrecht, 2004, S. 66. 303 C. Cass. Ch. Crim., 7. September 2004, Bull.crim. nº 200, S. 717.

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Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit erfolgt durch sie nicht. Grund hierfür ist, daß hierzu nach der Wertung der Verfassung von 1958 ausschließlich der Conseil Constitutionnel zuständig ist. Der Grundsatz ne bis in idem wird als „règle procédurale“ bezeichnet304. Er führt dazu, daß der Betroffene nach Rechtsprechung der Cour de Cassation zu jedem Zeitpunkt die Nichtigkeit (nullité) einer Strafverfolgung geltend machen kann, die den ne bis in idem-Grundsatz mißachtet305. Insoweit wird durch die ordentliche Gerichtsbarkeit das Recht des einzelnen vor einer erneuten Bestrafung und Strafverfolgung gewährleistet, auch wenn er keine Möglichkeit hat, sich gegen eine Mißachtung des ne bis in idemGrundsatzes verfassungsgerichtlich vor dem Conseil Constitutionnel zu wehren. Die Schutzrichtung des französischen ne bis in idem-Grundsatzes deckt sich damit mit der des Art. 103 Abs. 3 GG306. Während jedoch der Bezug zum Rechtsstaatsprinzip gerade auch bei den strafrechtlichen Garantien in Deutschland betont wurde, findet sich in Frankreich insoweit kaum eine Bezugnahme auf das Konzept des État de droit. Sowohl die Rechtssicherheit als auch die materielle Gerechtigkeit, die bei dem ne bis in idem-Grundsatz in Konflikt geraten, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassunsgerichts gleichberechtigte Elemente des Rechtsstaatsprinzips307. In der französischen Diskussion über den Grundsatz ne bis in idem werden diese Elemente zwar angesprochen, aber nur ausnahmsweise im Konzept des État de droit verankert. So wird zur Begründung des Verbotes der Doppelbestrafung auf den Grundsatz der Rechtssicherheit (sécurité juridique308) Bezug genommen309. Während sich in Deutschland somit Grenzen mehrfacher Sanktionierungen durch nicht unter Art. 103 Abs. 3 GG fallende Fälle unter Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip ergeben können310, wird in Frankreich dieses Problem teilweise unter dem principe de non cumul des peines abgehandelt. Trotz dieser Unterschiede in Erklärung und Verankerung findet sich in Frankreich eine vergleichbare Verortung des Verbots der Doppelbestrafung im Grundsatz der Rechtssicherheit311. 304

Koering-Joulin/Seuvic (FN 264), S. 121. C. Cass. Ch. Crim., 13. November 1989, Bull. Crim. Nº 408, S. 983. 306 Siehe hierzu 1. Kapitel, B. V. 3. a). 307 BVerfGE 3, 225 (237); 41, 323 (326). 308 Kritisch zur Einordnung des principe de sécurité juridique als Verfassungsprinzip und zur Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel, Moderne (FN 241), S. 685 f. und 692 f. 309 „Il a pour fondement un besoin impérieux de sécurité juridique, tant collectif qu’individuel“, vgl. Conte/Chambon (FN 278), S. 397 RN 664, unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des EGMR. 310 Hierzu Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 103 RN 59. 305

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VI. Das Recht auf ein faires Verfahren 1. Historische Entwicklung Die Forderung nach einem fairen Verfahren – dem procès équitable – findet sich in fast jeder Rechtsordnung und beruht auf der Idee eines gerechten und justizförmigen Verfahrens. Die Verankerung eines fairen Verfahrens findet sich besonders häufig in internationalen Texten. Beispiele hierfür sind Art. 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, Art. 10 und 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und insbesondere Art. 6 Abs. 1 der EMRK312. Auch das europäische Recht gewährt einen Anspruch auf ein faires gerichtliches Verfahren, das als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts gilt und in Art. 47 der Grundrechtecharta niedergeschrieben ist313. Im Gegensatz hierzu weisen die nationalen Rechtsordnungen selten eine ausdrückliche Kodifikation auf. Diese vielfältigen Grundlagen und Verankerungen auf internationaler Ebene legen die Vermutung nahe, daß ein gemeinsamer Mindeststandard über verfahrensrechtliche Grundpositionen existiert. Dennoch gehört Frankreich zu den Ländern, die keine ausdrückliche Verankerung des Rechts auf ein faires Verfahren in der Verfassung kennen. Weder die Verfassung von 1958 noch die einfachgesetzlichen Texte weisen diese Begrifflichkeit auf. Einzige Ausnahme ist seit 2000 die Präambel des Code de Procédure Pénale314. 2. Verortung in der französischen Rechtsordnung Gerade bei der Suche nach der Verankerung eines Rechts auf ein faires Verfahren in der französischen Rechtsordnung ist es von Bedeutung, nicht an der Begrifflichkeit zu haften, sondern die Institute und insbesondere den Kerngedanken des procès équitable in die Analyse mit einzubeziehen.

311 Siehe für Deutschland die Rechtsprechung des BGH, die jetzt auch eine ausdrückliche Verankerung im Vertrauensgrundsatz sieht, so etwa BGH, NJW 2004, S. 375. 312 Hierzu insbesondere Christoph Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Eine Studie zu Art. 6 EMRK auf der Grundlage einer rechtsvergleichenden Untersuchung der Verwaltungsgerichtsbarkeit Frankreichs, Deutschlands und Österreichs, 1997, S. 707 ff. 313 Eckhard Pache, Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozeß, NVwZ 2001, S. 1342 (1344). 314 Dort heißt es: „La procédure pénale doit être équitable et contradictoire . . .“

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a) Bedeutung der EMRK Schwerpunkt vorliegender Untersuchung ist die nationale Ebene und die Frage, inwieweit dort das Recht auf ein faires Verfahren verankert ist. Dennoch muß im französischen Kontext Bezug auf internationales Recht genommen werden, insbesondere in Gestalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Denn zum einen verweisen Erörterungen zum procès équitable im französischen Schrifttum häufig auf Abhandlungen zu Art. 6 Abs. 1 EMRK einschließlich der Rezeption seiner durch die Rechtsprechung des EGMR ausdifferenzierten Voraussetzungen durch französische Gerichte. Zum anderen kommt der EMRK in Frankreich im Gegensatz zu Deutschland ein Rang zu, der oberhalb des einfachen Gesetzes anzusiedeln ist. Im Bereich des geschriebenen Rechts sind in Frankreich damit das Völkerrecht und dabei insbesondere die EMRK als Quelle für Verfahrensrechte von Bedeutung315. Gemäß Art. 55 der Verfassung von 1958 haben völkerrechtliche Verpflichtungen Frankreichs Vorrang vor zeitlich nachfolgendem einfachem Recht. Der Conseil Constitutionnel hat es jedoch abgelehnt, die völkerrechtlichen Verpflichtungen Frankreichs in den bloc de constitutionnalité aufzunehmen316 und hat somit der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Gesetzen am Maßstab der völkerrechtlichen Verträge eine Absage erteilt317. Der Rang der EMRK ist oberhalb des einfachen Gesetzes, aber unterhalb der Verfassung einzustufen318. Auf diese Weise erhält der Begriff des procès équitable von einer eigenständigen normativen Ebene Einzug in die französische Rechtsordnung. Der Rückgriff auf Art. 6 Abs. 1 EMRK entbindet trotz allem nicht von der Aufgabe, in der französischen Rechtsordnung ein Recht auf ein faires Verfahren auf Verfassungsebene zu suchen.

315

Hierzu allgemein jüngst Michel Fromont, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention in der französischen Rechtsordnung, DÖV 2005, S. 1 ff. 316 CC 74-54 DC vom 15. Januar 1975. 317 Siehe Dirk Bornemann, Die Bedeutung der Grundrechtsquellen für den Grundrechtsschutz und für Grundrechtskollisionen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: eine Analyse der Struktur des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes, 2001, S. 135 f., mit der Feststellung, es sei insoweit auch durchaus ein Wandel der völkerrechtsunfreundlichen französischen Rechtsprechung festzustellen, an dessen Ende die Rechtsprechung zu einer durchgehenden direkten Anwendung der EMRK auch als Maßstab für Parlamentsgesetze kommen werde. 318 Woraus sich die grundsätzliche Zuständigkeit der Fachgerichte ergibt, hierzu Grewe (FN 59), S. 212, mit dem Hinweis, daß seit den 90er Jahren insoweit insbesondere die Berufung auf die EMRK zugenommen habe.

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b) Das droit à un procès équitable als Ausfluß verfassungsrechtlicher Prinzipien Um ein Recht auf ein faires Verfahren auf Verfassungsebene zu identifizieren, sind zum einen das Konzept der droits de la défense319, zum anderen die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen mit Verfassungsrang (PFRLR) heranzuziehen. Aus dem Konzept der mit Verfassungsrang garantierten droits de la défense320 hat der Conseil Constitutionnel die Anforderung „d’une procédure juste et équitable garantissant l’équilibre des droits des parties“321 abgeleitet. Damit hat er das Erfordernis eines gerechten und fairen Verfahrens als Element der droits de la défense postuliert und zugleich in Zusammenhang mit der Idee der Waffengleichheit der Parteien gesetzt („équilibre des droits des parties“). Zwar kommt mangels eindeutiger geschriebener Regeln in Frankreich der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel zur Verankerung verfassungsrechtlicher Grundsätze und Rechte eine besondere Bedeutung zu. Doch auch in der Rechtsprechung der anderen Gerichte, insbesondere derjenigen des Conseil d’État, wurden Grundsätze herausgebildet, die die Gewährleistung eines fairen Verfahrens zum Ziel haben. Hierzu zählen u. a. einige der principes généraux du droit wie das droit à un recours oder das principe de loyauté322. Teilweise wurden diese principes généraux du droit vom Conseil Constitutionnel zu grundlegenden verfassungsrechtlichen Grundsätzen (principes à valeur constitutionnelle) aufgewertet. c) Verankerung einzelner Elemente in geschriebenen Verfassungstexten Daneben stellt auch die Verfassung von 1958 einige prozessuale Grundregeln auf, die dem Ziel eines fairen Verfahrens dienen. So enthält ihr Art. 1 das principe d’égalité devant la loi, das Prinzip der Unabhängigkeit 319

Siehe die Ausführungen unter B. I. 2. c) aa). Der Conseil Constitutionnel leitet die droits de la défense in ständiger Rechtsprechung direkt aus den „principes fondamentaux reconnus par les lois de la République“ ab; umfangreiche Nachweise zur Rechtsprechung bei Serge Guinchard, Le procès équitable: droit fondamental?, AJDA spécial 1998, S. 191 (201) FN 86. 321 CC 95-360 DC vom 2. Februar 1995, cons. 5; CC 89-260 DC vom 28. Juli 1989, cons. 44; CC 2002-461 DC vom 29. August 2002, cons. 23. In CC 2003-484 DC vom 20. November 2003 nennt der Conseil Constitutionnel die droits de la défense und das droit à un procès équitable nebeneinander, cons. 80 (vgl. auch cons. 83); hierzu auch Rousseau (FN 20), S. 422. 322 Siehe Paul Mathonnet, Le procès équitable dans l’éspace normatif pénal franc¸ais, in: Ruiz-Fabri (Hrsg.), Procès équitable et enchevêtrement des espaces normatifs, Paris 2003, S. 119 (122 f.). 320

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der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Art. 64, deren Garant der Präsident der Republik ist323, sowie das Prinzip des Schutzes der individuellen Freiheit und der garantie judiciaire in Art. 66. Ebenso enthalten die Art. 2, Art. 6, Art. 7 und Art. 9 der Erklärung von 1789 Bestimmungen, die ein faires Verfahren insbesondere im Bereich des Strafprozesses garantieren. Eine Generalklausel, die ausdrücklich mit Recht auf ein faires Verfahren betitelt wurde, findet sich jedoch nicht. d) Zwischenergebnis: Alternative Rechtsgrundlagen des französischen Rechts auf ein faires Verfahren Das Recht auf ein faires Verfahren ruht damit auf zwei Säulen: Zum einen besteht die Möglichkeit des direkten Rückgriffs auf Art. 6 EMRK mit der Folge, daß die Cour de Cassation und der Conseil d’État die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit internationalen Rechtsvorschriften feststellen können, was jedoch für die innerstaatliche Geltung dieses Gesetzes zunächst unerheblich ist. Zum anderen finden sich Bestandteile eines Rechts auf ein faires Verfahren im einfachen Recht, in der Rechtsprechung der obersten Gerichte sowie ausdrücklich in der Verfassung von 1958 und in den PFRLR. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Konzept der droits de la défense zu324. Damit läßt sich der Geltungsgrund des Rechts auf ein faires Verfahren in der französischen Rechtsordnung sowohl auf europäisches als auch auf nationales Recht zurückführen. Häufig überwiegt dabei die Bedeutung des nationalen Rechts, da die meisten Ausprägungen der Gewährleistung eines fairen Verfahrens bereits vor der Ratifikation der EMRK im Jahr 1974 und sogar vor Unterzeichnung der EMRK im Jahr 1950 im nationalen Recht fest etabliert waren. 3. Inhalt des Rechts auf ein faires Verfahren a) Umsetzung für das Strafverfahren im Gesetz vom 15. Juni 2000 Das Gesetz über den besseren Schutz der Unschuldsvermutung vom 15. Juni 2000325 greift wesentliche Prinzipien des strafrechtlichen Verfah323 Vgl. auch Renée Koering-Joulin, Le Juge impartial, Justices – Revue générale de droit processuel, 1998, S. 1 ff., mit der Darlegung von Heilungsmöglichkeiten, wenn eine Verurteilung auf Parteilichkeit des Richters zurückzuführen war. 324 Speziell zur Bedeutung für das französische Verwaltungsrecht, Lauréote (FN 192), S. 105 f. 325 Gesetz vom 16. Juni 2000, JORF vom 16. Juni 2000, Loi nº 2000-516.

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rens auf und stellt sie in der Präambel dem Code de Procédure Pénale (CPP) vorweg326. Die Unschuldsvermutung ist die Grundvoraussetzung eines fairen Verfahrens im Strafprozeß327. Allerdings ist sie keine formelle Regel, die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens erfüllt sein muß, sondern vielmehr ein Postulat, an dem sich die Prozeßgestaltung auszurichten hat. Sie taucht bereits in Art. 9 der Erklärung von 1789 als eines der wesentlichen Prinzipien auf, weshalb ihr unbestritten Verfassungsrang zukommt. Die Präambel des CPP ist in drei Paragraphen unterteilt. Bereits im ersten Paragraphen ist folgende Formulierung anzutreffen: „La procédure pénale doit être équitable et contradictoire et préserver l’équilibre des parties“328. In dieser finden sich die Worte des Conseil Constitutionnel aus einer Entscheidung vom 2. Januar 1995 wieder329. Sie ist vielfach kritisiert worden330, da sie auf der Ebene unbestimmter Begrifflichkeiten stecken bleibe, ohne konkrete Leitlinien auszusprechen. Zudem wiederhole die Präambel nur die einzelnen Vorgaben des Art. 6 EMRK, und ihr komme insoweit keine eigenständige Bedeutung zu331. Zutreffend ist, daß sie lediglich pauschal die Beachtung grundlegender strafverfahrensrechtlicher Prinzipien vorschreibt. So beinhaltet sie auch den Grundsatz der Waffengleichheit, wonach zwischen den Rechten der Prozeßbeteiligten ein Gleichgewicht bestehen muß, und nimmt insoweit wieder Bezug auf die entsprechende Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel332 sowie zugleich auf Art. 6 EMRK, der ebenfalls den Gedanken der Waffengleichheit beinhaltet. Insoweit greift die Präambel einige Erfordernisse heraus, ohne jedoch klarzustellen, ob und inwieweit sich daraus Rechte für den einzelnen ableiten lassen oder welche Kriterien für die Auswahl maßgeblich waren. Es handelt sich hier um eine einfache Zusammenstellung von Anforderungen, die über326 Zu den Gründen für die Einführung des Gesetzes Mathonnet (FN 322), S. 128 f. Vgl. auch eine der jüngeren Entscheidungen des CC 2003-467 DC vom 13. März 2003. 327 Zur Bedeutung der Unschuldsvermutung im französischen Recht vgl. Dominique Allix, Le droit à un procès pénal équitable, Justices-Revue générale de droit processuel, 1998, S. 19 (28 f.). 328 Zu weiteren Einzelheiten vgl. Mathonnet (FN 322), S. 128 f. 329 CC 89-260 DC vom 28. Juli 1989, cons. 44; CC 95-360 DC vom 2. Februar 1995, cons. 5. 330 Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 95 f. (siehe auch S. 102 zu konkreten Ausprägungen des neuen Gesetzes). Kritisch auch Mathonnet (FN 322), S. 130. 331 Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 96. 332 Im französischen Strafrecht gehören der Grundsatz der Waffengleichheit und die Freiheit vom Selbstbezichtigungszwang eng zusammen. So konkretisiert sich die Waffengleichheit in der Verpflichtung des französischen Polizisten, den Beschuldigten über sein Schweigerecht aufzuklären.

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wiegend ihre Wurzeln bereits vor der Ratifikation der EMRK im französischen Recht fanden, sowie von hinzukommenden Aspekten des Art. 6 EMRK. Die Präambel ist auch nicht als abschließende Zusammenfassung für den Bereich des Strafverfahrens anzusehen, sondern gibt vielmehr nur einen Mindeststandard wieder333. b) Beispiele konkreter Auswirkungen des Art. 6 EMRK auf die französische Rechtsordnung Die EMRK hat in Frankreich zu einigen Änderungen und Ausweitungen des geltenden Rechts geführt334. Der Rechtsprechung des EGMR kommt dementsprechend bei der Inhaltsbestimmung des nationalen Konzepts des procès équitable eine große Rolle zu335. Aufgrund ihrer Stellung als übergesetzliches Vertragswerk hat die Chambre Criminelle der Cour de Cassation (Strafkammer des Kassationshofes) die Anwendung des Art. 546 CPP abgelehnt, da er nicht mit dem Prinzip der Waffengleichheit vereinbar sei336. Während sowohl im Straf- als auch im Zivilverfahren die Öffentlichkeit des Verfahrens unbestritten war, bestand sie im Verwaltungsverfahren lediglich fakultativ337. Allerdings stellt die Öffentlichkeit traditionell auch nur ein Zusatzelement des fairen Verfahrens dar338. Unter dem Einfluß der EMRK hat die Öffentlichkeit des Verfahrens nunmehr einen festen Platz in den formellen Garantien erhalten339. Darüber hinaus wurde Frankreich bereits mehrfach durch den EGMR wegen Verletzung einer angemessenen Ver333 Mit Gesetz vom 4. März 2002, JORF nº 54 vom 5. März 2002, wurde das Gesetz vom 15. Juni 2000 ergänzt, um ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Gewährleistung der Verteidigungsrechte und dem Interesse an der Strafverfolgung, vgl. auch Mathonnet (FN 322), S. 139 mit weiteren Beispielen. 334 Mit zahlreichen Beispielen Mathonnet (FN 322), S. 131 (dort FN 38), auch ausführlich zur Ausweitung des Begriffs des „déni de justice“ in Art. L. 781-1 des Code de l’organisation judiciaire. 335 In diesem Sinne Rousseau (FN 20), S. 422. 336 C. Cass. Ch. Crim., 6. Mai 1997, Bull.crim. Nº 170, S. 566. Siehe auch Andrée Brunet, Droit au procès équitable et contrôle de la motivation des décisions de la Cour de Cassation, in: Justice et Droits fondamentaux, Études offertes à Jacques Normand, Paris 2003, S. 51 ff. 337 „La publicité des audiences n’est exigée, devant les juridictions administratives, qu’à condition qu’un texte législatif ou réglementaire impose l’observation de cette règle de procédure“, Conseil d’État, Entscheidung vom 25. Juni 1948, Rec., S. 292. 338 Sie beruht auf dem Gedanken der indirekten Beteiligung der Öffentlichkeit bei dem Rechtsprechungsakt, die diesen bezeugen soll. 339 Lauréote (FN 192), S. 107, spricht von einem „procéssus d’adhésion à la conception anglo-saxonne de visibilité de la justice: ‚Justice must be seen to be done‘.“

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fahrensdauer verurteilt340. Der Conseil d’État hat daher der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer bis zum Erhalt eines Urteils den Rang eines principe général du droit zuerkannt. Damit ermöglicht seine Verletzung einen Rückgriff auf die Staatshaftung341. Ebenso hat die Rechtsprechung des EGMR bewirkt, daß das Aussageverweigerungsrecht in den CPP aufgenommen wurde342. Lauréote spricht in diesem Zusammenhang von einer „européanisation larvée du droit constitutionnel franc¸ais“343. Hervorzuheben ist in diesem Kontext auch Art. 89 des Gesetzes vom 15. Juni 2000344, der die Neubewertung einer strafrechtlichen Entscheidung anläßlich eines Urteils des EGMR erlaubt. Danach kann unter den Voraussetzungen des Art. 626 Abs. 1 CPP ein Verurteilter eine Überprüfung der Entscheidung verlangen. Dies belegt ein weiteres Mal die große Rolle, die der Rechtsprechung des Straßburger Gerichts in Frankreich beigemessen wird345. c) Zwischenergebnis aa) Kein einheitliches inhaltliches Konzept des procès équitable In der französischen Rechtsordnung existiert kein einheitliches Konzept des Rechts auf ein faires Verfahren. Vielmehr finden sich zahlreiche Einzelgewährleistungen sowohl auf einfachgesetzlicher Ebene als auch auf verfassungsrechtlicher Ebene, die teilweise geschrieben oder ungeschrieben sind, aber alle das Ideal eines fairen Verfahrens zum Ziel haben. Dazu zu zählen wären auch die bereits unter B.I.2.c)aa) und B.III.2. erläuterten Ele340

Vgl. Lauréote (FN 192), S. 108 m. w. N. in FN 92. Ausführlich Conseil d’État, Garde des Sceaux, Ministre de la Justice c/Magiera, Entscheidung vom 28. Juni 2002, nº 239575. 342 Art. 61 CPP enthält nun ausdrücklich ein Schweigerecht des Beschuldigten. 343 Lauréote (FN 192), S. 111. 344 Art. 89 Abs. 2 lautet: „A titre transitoire, les demandes de réexamen présentées en application des articles 626-1 et suivants du code de procédure pénale et motivées par une décision rendue par la Cour européenne des droits de l’homme rendue avant la publication de la présente loi au Journal officiel de la République franc¸aise peuvent être formées dans un délai d’un an à compter de cette publication. Pour l’application des dispositions de ces articles, les décisions du Comité des ministres du Conseil de l’Europe rendues, après une décision de la Commission européenne des droits de l’homme, en application de l’article 32 (ancien) de la convention de sauvegarde des droits de l’homme ou de l’article 5 (paragraphe 6) de son protocole nº 11, sont assimilés aux décisions de la Cour européenne des droits de l’homme.“ 345 Hierzu auch Frédérique Ferrand, Procès équitable, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2003, S. 1093 (1094). 341

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mente der droits de la défense: das droit au recours juridictionnel und die procédure contradictoire. Diese hängen eng zusammen mit dem Erfordernis der Waffengleicheit, das vom Conseil Constitutionnel häufig in einem Atemzug mit den droits de la défense und dem Erfordernis eines fairen Verfahrens beziehungsweise einer procédure équitable genannt wird. Hinzu tritt noch die – im Vergleich zu Deutschland – häufige Bezugnahme auf Art. 6 EMRK insbesondere durch die Cour de Cassation und den Conseil d’État. Denn der französische Richter, der nicht die Kompetenz hat, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu überprüfen, erhält durch die monistische Prägung des französischen Rechts die Möglichkeit, in Anlehnung an die Anforderungen des Art. 6 EMRK einen prozessualen Standard herauszubilden. bb) Verfassungsrechtliche Besonderheiten und Unterschiede Soweit eine Mißachtung der Grundsätze des procès équitable vorliegt, sind zunächst die Rechtsmittelwege eröffnet346. Hier allerdings zeigt sich die Bedeutung der Normenhierarchie: Vor den ordentlichen oder Verwaltungsgerichten kann weder die Verletzung eines principe générale noch die Verletzung eines principe à valeur constitutionnelle zur Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes führen. Letzteres deshalb, weil der einfache Richter zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nicht befugt ist. Sowohl die Cour de Cassation als auch der Conseil d’État können das Gesetz jedoch anhand internationaler Rechtsvorschriften überprüfen. Dies führt dazu, daß diese beiden Gerichte aus internationalen Normen, insbesondere der EMRK, subjektive Rechte ableiten, die teilweise mit bereits existierenden verfassungsmäßigen Rechten übereinstimmen. Dem Conseil Constitutionnel stehen nur die Möglichkeiten der a priori Kontrolle sowie die der inzidenten Normenkontrolle im Rahmen der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit zur Verfügung, die Kontrolle anhand der EMRK hat er selbst ausgeschlossen347. Daher erfolgt keine Kontrolle von Gesetzen am Maßstab des Art. 6 EMRK, sondern der Conseil stützt sich auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen der internen Rechtsordnung.

346

Nach Mathonnet (FN 322), S. 133, müßte das Gleiche für die Prinzipien gelten, die in der Präambel des CPP genannt sind. 347 Es tritt etwa die Folge der Nichtigkeit einer konkreten Verfahrenshandlung nur dann ein, wenn diese im konkreten Fall im Gesetz vorgesehen ist oder von dem befaßten Gericht als substanziell anerkannt wurde. Zu den beschränkten Anwendungsmöglichkeiten Mathonnet (FN 322), S. 134.

B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts

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d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Der Gedanke eines Prozesses, der durch faire Verhandlungsführung und gleiche Verteidigungsrechte der Parteien gekennzeichnet ist, steht auch in der französischen Rechtsordnung hinter vielen Einzelvorschriften. Auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen findet er seinen Niederschlag in dem Konzept der droits de la défense mit seinen Unterprinzipien, deren Einhaltung einen fairen Verfahrensablauf garantieren. Weitere Verankerung findet das Prinzip in den genannten Artikeln der Erklärung von 1789, von denen insbesondere auch Art. 16 von Bedeutung ist. Die Schutzrichtung der dargestellten Rechte ist immer die Vermeidung willkürlicher Prozeßführung in jedem Verfahrensstadium. 4. Bewertung Während der EMRK in Frankreich für die Ausgestaltung des Rechts auf ein faires Verfahren eine große Bedeutung zukommt348, ist dies in Deutschland nicht in gleichem Maße der Fall. Eine mögliche Erklärung bieten die ausführliche Verankerung der Prozeßgrundrechte im Grundgesetz und die umfassende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Beides erübrigt scheinbar den Rückgriff auf die EMRK349. Zudem kommt der EMRK in Deutschland nur der Rang eines einfachen Gesetzes zu, was zur Folge hat, daß sie sich zwar an den Richter350 und die vollziehende Gewalt wendet, aber keine direkten zwingenden Anforderungen an den Gesetzgeber stellen kann. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluß aus dem Jahre 2004 betont, daß unter bestimmten Voraussetzungen die Gerichte 348 Die Cour de Cassation hat sich ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützt, um Lücken des Gesetzes bei der Anforderung der Unparteilichkeit zu schließen. C. Cass. Ch. Crim. Entscheidung vom 10. Januar 1996, Dr. pén. 1996, comm. 122; C. Cass. Ch. Crim. Entscheidung vom 20. Oktober 1999, Dr. pén. 2000, comm. 38, wobei klargestellt wird, daß der Rückgriff auf Art. 6 EMRK nicht nötig ist, soweit das französische Gesetz eine Lösung bietet. 349 Das BVerfG hat in einem Beschluß aus dem Jahr 2004 jedoch die Bedeutung der EMRK und der Entscheidungen des EGMR für die deutsche Rechtsordnung hervorgehoben, BVerfG, NJW 2004, S. 3407 ff. Das Gericht führt insbesondere aus, die Gewährleistungen der Konvention würden die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen. So dienten der Konventionstext und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen, soweit dies nicht zu Verkürzung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt. 350 Siehe hierzu insbesondere BVerfG, NJW 2004, S. 3407 (3408).

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

und Behörden der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet seien, die EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen351. Demgegenüber praktizieren die französischen Richter der ordentlichen und Verwaltungsgerichtsbarkeit häufig eine Kontrolle der conventionalité. In der französischen Rechtsprechung erfolgte insoweit bislang eine häufigere Bezugnahme auf die EMRK als in der deutschen. Zudem kommt dem Conseil Constitutionnel eine Überprüfung von Gerichtsurteilen nicht zu; seine Befugnis erschöpft sich darin, ein Gesetz entweder für non-conforme à la Constitution erklären oder für conforme sous réserve d’intérpretation. Letztere Entscheidung richtet sich an die Richter, das Gesetz so anzuwenden, daß die verfassungsrechtlichen Vorgaben gewahrt bleiben. Die Cour de Cassation und der Conseil d’État dürfen hingegen die Urteile selbst überprüfen, wobei sie primär das Gesetz als Maßstab heranziehen und häufig erst in zweiter Linie auf die Verfassung zurückgreifen352. Das Äquivalent zu dem deutschen Recht auf ein faires Verfahrens findet sich im französischen Recht in den droits de la défense und den weiteren von der Rechtsprechung entwickelten Prinzipien sowie in Art. 16 der Erklärung von 1789. Damit können zwei Quellen für die Verankerung eines Rechts auf ein faires Verfahren herangezogen werden: zum einen die Umsetzung der Anforderungen des Art. 6 EMRK als übergesetzliches Recht und zum anderen die originär aus der französischen Rechtsordnung entwikkelten Prinzipien mit Verfassungsrang und sonstigen Gewährleistungen. Es finden sich zwar nicht alle von Art. 6 EMRK geforderten Garantien im nationalen Recht wieder353, aber die Kombination der gesamten dargestellten Elemente rechtfertigt die Feststellung eines insoweit inhaltsgleichen Rechts auf ein faires Verfahren in der französischen Rechtsordnung. Im Gegensatz zu dem Recht auf ein faires Verfahren, wie es die deutsche Rechtsordnung kennt, findet sich in Frankreich kein Bezug zu rechtsstaatlichen Grundlagen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ergibt sich nach herrschender Meinung das Recht auf ein faires Verfahren in Deutschland. Demgegenüber ist weder in der französischen Lehre noch in der Rechtsprechung ein ausdrücklicher Bezug der Anforderungen des procès équitable zu rechtsstaatlichen Grundlagen zu finden. Der Conseil Constitutionnel nimmt zur Herleitung des Erfordernisses auf ein faires Ver351

BVerfG, NJW 2004, S. 3407. Michel Fromont, La justice constitutionnelle en France ou l’exception franc¸aise, in: Le nouveau constitutionnalisme, Mélanges en l’honneur de Gérard Conac, Paris 2001, S. 167 (175). 353 Davon zeugen die zahlreichen Verurteilungen Frankreichs durch den EGMR, hierzu auch Stefani/Levasseur/Bouloc (FN 260), S. 90. 352

B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts

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fahren Bezug auf die droits de la défense und nutzt damit ihre inhaltlichen Offenheit und weitgehende Unbestimmtheit zur Weiterentwicklung verfahrensrechtlicher Mindestanforderungen. Ihnen kommt insoweit eine Auffangfunktion zu. Trotz der Unterschiede in der Verankerung ist damit beiden Rechtsordnungen die Zielsetzung eines idealen Prozesses gemeinsam, die sie mit den Mitteln der nationalen Rechtsordnung umzusetzen versuchen. In beiden Fällen führt dies zu einem Rückgriff auf verhältnismäßig unbestimmte Grundsätze, in Deutschland auf das Rechtsstaatsprinzip und in Frankreich auf das Konzept der droits de la défense.

VII. Zwischenergebnis: Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts? Als Ergebnis der Darstellungen auf der ersten Untersuchungsebene zeigt sich, daß die behandelten französischen Verfahrensrechte Ähnlichkeiten zu ihrem deutschen Pendant aufweisen. So weisen sie entweder eine dem jeweiligen deutschen Prozeßgrundrecht vergleichbare Schutzrichtung auf oder tendieren zumindest in die gleiche Richtung. Beispiel hierfür ist etwa die zunehmende Betonung des subjektiven Rechtsschutzes beim Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Dieses Ergebnis ist nicht zuletzt auf die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel zurückzuführen, die zu einer fortschreitenden Konstitutionalisierung von einfachem Verfahrensrecht geführt hat. Es sind neben der Feststellung der Existenz von Äquivalenten jedoch auch Unterschiede zu finden. So existiert das Konzept der droits de la défense in dieser Form nicht im deutschen Recht. Es beinhaltet jedoch dem deutschen Recht vergleichbare Anforderungen wie das rechtliche Gehör und Elemente des fairen Verfahrens. Zu erwähnen ist hier auch das droit au recours juridictionnel, das als Äquivalent zu Art. 19 Abs. 4 GG seine verfassungsrechtliche Verankerung in dem Konzept der droits de la défense in Verbindung mit Art. 16 der Erklärung von 1789 findet. Gerade in diesem Gesamtkontext ist der Einfluß der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR hervorzuheben. So zeigen insbesondere die Elemente der droits de la défense in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel das Bemühen auf, die Anforderungen der EMRK in den bloc de constitutionnalité zu integrieren. Diese Integrationsbemühungen lassen sich vor allem daraus ersehen, daß der Conseil aus den droit de la défense das Erfordernis einer „procédure juste et équitable garantissant l’équilibre des droit des parties“ ableitet. Ebenso hat er in einer anderen Entscheidung das „droit d’exercer un recours devant une juridiction“ betont. Die Maßstäbe des Conseil Constitutionnel können insoweit den Bezug zu Art. 6

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

EMRK nicht verleugnen354. Unter dem Begriff des principe de légalité finden sich die nulla poena sine lege-Grundsätze wieder, die ihre verfassungsrechtliche Verankerung überwiegend in der Erklärung von 1789 finden. Auch in Frankreich werden die Strafgesetze einer strengen Kontrolle durch den Conseil Constitutionnel unterzogen, der hierbei insbesondere überprüft, ob die Straftatbestände ausreichend präzise formuliert sind. Das Verbot der Doppelbestrafung wird in Frankreich entweder unter der autorité de la chose jugée oder unter der Bezeichnung non bis in idem behandelt. Auch im französischen Recht wurde die Frage nach dem Tatbegriff kontrovers diskutiert. Ebenso wie im deutschen Recht wird in Frankreich unter derselben Tat nunmehr das historische Tatgeschehen verstanden. In Frankreich existieren somit den deutschen Prozeßgrundrechten inhaltlich vergleichbare Verfahrensrechte. Häufig treten diese auch unter Berücksichtigung der Übersetzungen unter einem anderen Begriff auf, erfüllen aber im wesentlichen gleiche Funktionen in der Rechtsordnung. Die inhaltliche Vergleichbarkeit der französischen Verfahrensrechte bezieht sich zwangsläufig nicht auf jede Einzelausprägung der Rechte, sondern auf ihre Schutzrichtungen und den Gewährleistungsumfang des Rechtsinstituts in der jeweiligen Rechtsordnung. Die Frage nach inhaltlich vergleichbaren Rechtsinstituten in der französischen Rechtsordnung wäre demnach mit einem klaren „Ja“ zu beantworten.

C. Gemeinsame Merkmale der französischen Verfahrensgarantien und Vergleich mit den deutschen Prozeßgrundrechten Ebenso wie die deutschen Prozeßgrundrechte weisen auch die erarbeiteten französischen Verfahrensgarantien untereinander gemeinsame Merkmale auf. Diese können in Merkmalsausprägungen zusammengefaßt werden, die im folgenden darzustellen sind. Die Untersuchung der gemeinsamen systeminternen Merkmale der französischen Verfahrensgarantien erfolgt dabei mit Blick auf die bei den deutschen Prozeßgrundrechten festgestellten Charakteristika. Auf diese Weise können weitere Aussagen über die Vergleichbarkeit der französischen Verfahrensgarantien mit den deutschen Prozeßgrundrechten getroffen werden.

354 Dies belegen die Ausführungen der Abgeordneten, zur Entscheidung CC 2003-484 DC vom 20. November 2003, unter Punkt X.2., abrufbar unter www. conseil-constitutionnel.fr., Stand: 23. Juli 2006.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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I. Merkmale der französischen Verfahrensgarantien 1. Verfassungsrang Die untersuchten französischen Verfahrensrechte haben ebenso wie die deutschen Prozeßgrundrechte Verfassungsrang und sind damit nicht nur von Exekutive und Judikative, sondern auch von der Legislative zu beachten. Allerdings sind nicht alle diese Rechte in Verfassungsurkunden dokumentiert. Daher läßt sich ihr Verfassungsrang nicht immer auf den ersten Blick feststellen; häufig ergeben sich die einzelnen Garantien als Bestandteil bzw. Ausprägung eines „Rahmenprinzips“. So wurde zwar dem Prinzip der droits de la défense durch den Conseil Constitutionnel ausdrücklich Verfassungsrang zuerkannt, allerdings bedeutet diese Einordnung nicht zwangsläufig, daß jede seiner Einzelausprägungen ebenfalls Verfassungsrang besitzt. Für die hier untersuchten Bestandteile – procédure contradictoire, droit au recours juridictionnel und procès équitable – ist dies jedoch nach der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel der Fall. Als Ausnahme kann der ne bis in idem-Grundsatz angesehen werden, für den auf den ersten Blick keine verfassungsrechtliche Verankerung zu finden ist. Der Conseil Constitutionnel hat diesem Prinzip keinen Verfassungsrang zuerkannt, diesen jedoch auch nicht ausdrücklich abgelehnt. Daher wird hier der Ansicht des Conseil d’État gefolgt, nach der dem ne bis in idem-Grundsatz als Element des principe de nécessité des peines Verfassungsrang zukommt. Diese Ansicht wird zudem gestützt durch die Überlegung, daß die Schutzrichtung des Verbots einer Doppelbestrafung auch dem Schutz der liberté individuelle zuzuordnen ist, zu deren Teilbereich auch der Aspekt der sûreté (Sicherheit) gehört. Der einzelne soll im Rahmen der liberté individuelle nicht willkürlich seiner Freiheit beraubt werden können, sondern auf ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren vertrauen können. Die besondere Bedeutung, die der Verfassungsgeber der liberté individuelle zugemessen hat, wird durch Art. 66 der Verfassung von 1958 ausgedrückt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Bejahung des Verfassungsrangs gerechtfertigt. Der nulla poena sine lege-Grundsatz findet sich ausdrücklich in der Erklärung von 1789, der nach ständiger Rechtsprechung über die Bezugnahme in der Präambel der Verfassung von 1958 Verfassungsrang zukommt. Durch die Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit trägt der Conseil Constitutionnel zudem zum Schutz der liberté individuelle bei sowie zu einem hohen Garantiestandard von Rechtssicherheit gegenüber dem Staat. Soweit das droit au juge naturel angesprochen ist, findet dieses nach hier vertretener und durch die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel gestützter Auffassung seine Verankerung in dem principe d’égalité devant la loi und damit in Art. 6 der Erklärung von 1789 i. V. m. der Präambel der Verfas-

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

sung von 1958. Die französischen Verfahrensrechte finden sich somit zum Teil im positivierten Verfassungsrecht, zum Teil in ungeschriebenem Verfassungsrecht, wie etwa den PFRLR355. 2. Subjektive Rechte? Obwohl häufig im Zusammenhang mit den einzelnen Verfahrensrechten von einem „droit“ die Rede ist, bleibt zu klären, ob es sich dabei um subjektive Rechte handelt. Erforderlich ist hierzu zunächst die Bestimmung der für ein subjektives Recht typischen Merkmale. Das subjektive Recht ist nach deutschem Verständnis die „Rechtsmacht, die dem einzelnen von der Rechtsordnung zur Wahrung seiner Interessen verliehen worden ist“356. Es zeichnet sich im Unterschied zu einem objektiven Rechtssatz dadurch aus, daß den durch das subjektive Recht Begünstigten die Befugnis verliehen wird, dieses Recht geltend zu machen.357 Für die Effektivität eines subjektiven Rechts muß demnach die Möglichkeit seiner (gerichtlichen) Durchsetzung hinzutreten, denn sonst hätte die staatliche Gewalt bei einem Verstoß keine Konsequenzen zu befürchten. Zunächst ist es somit auf einer ersten, gleichsam materiellen Stufe erforderlich, daß die entsprechende Norm den einzelnen begünstigt und gerade diese Besserstellung von ihr auch bezweckt ist. Auf der zweiten Stufe kommt hinzu, daß dem einzelnen auch die Rechtsmacht verliehen wird, diese bezweckte Begünstigung durchzusetzen (formelles Element). In den bisherigen Ausführungen zu den französischen Verfahrensgarantien konnte nachgewiesen werden, daß entgegen der ursprünglichen Tendenz nun auch subjektiv-rechtliche Elemente anerkannt werden, etwa beim Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Verwaltung. Dort scheint sich die Fokussierung auf die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle langsam aufzuweichen. Dies eröffnet dem aus diesen Rechten Begünstigten jedoch nicht automatisch die Möglichkeit, diese gegebenenfalls auch verfassungsgerichtlich durchsetzen zu können. Seit der Verfassungsreform vom 23. Juli 2008, in Kraft seit dem 1. März 2010, besteht für die Partei eines anhängigen Rechtsstreits die Möglichkeit, vorzutragen, eine gesetzliche Bestimmung verletze die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten358. Al355 Vgl. auch Shirley Leturcq, Standards et droits fondamentaux devant le Conseil Constitutionnel franc¸ais et la Cour Européenne des droits de l’homme, Paris 2005, S. 239 f. 356 Bernd Rüthers, Rechtstheorie – Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 1999, RN 64. 357 Volker Epping, Grundrechte, 2004, S. 49. 358 Art. 61-1 der Verfassung von 1958.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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lerdings bleibt dem einzelnen weiterhin der direkte Weg zum Conseil Constitutionnel verschlossen. Er kann die Frage der Verfassungsmäßigkeit nur im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens vor den ordentlichen Gerichten aufwerfen. Vor den ordentlichen und Verwaltungsgerichten besteht jedoch auch die grundsätzliche Möglichkeit, im Rahmen der gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Verletzungen der Verfahrensrechte vorzugehen (siehe die entsprechenden Ausführungen bei den Einzelrechten). Zweifelhaft ist jedoch, ob die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzbarkeit ein zwingendes Merkmal für die Einordnung als subjektives Recht ist. Läßt man den Schutzzweck und damit die erste Stufe genügen, so kann auch ohne die Möglichkeit effektiver gerichtlicher Durchsetzung ein subjektives Recht vorliegen. Möglich ist es, insoweit von subjektiven Rechten der ersten Stufe zu sprechen, die zwar das „materielle Element“, den Schutz eines individuellen Interesses, nicht aber das „formelle Element“, die effektive verfassungsgerichtliche Durchsetzbarkeit, aufweisen. 3. Normprägung Die Eigenschaft als normgeprägte Rechte, deren effektive Wahrnehmung erst durch weitere rechtliche Regelungen möglich wird, ist auch den festgestellten französischen Verfahrensrechten eigen. Sie entspricht sogar der französischen Tradition, die sich insbesondere in Art. 34 der Verfassung von 1958 äußert, der klarstellt, daß die den Staatsbürgern zur Ausübung ihrer Grundrechte gewährten grundlegenden Garantien durch Gesetz zu regeln sind. Erst entsprechende Gesetze ermöglichen eine effektive Wahrnehmung des zunächst unbestimmten und abstrakten Rechts. Gerade die festgestellten Verfahrensrechte werden durch die Bestimmungen der einzelnen Verfahrensordnungen für die Praxis handhabbar und ermöglichen dem einzelnen so ihre effektive Wahrnehmung. 4. Zwischenergebnis und Schlußfolgerung für den Fortgang der Arbeit In Frankreich wie in Deutschland bestehen verfassungsmäßige Rechte, die den Gerichtsprozeß als gemeinsamen Bezugspunkt haben. Während die untersuchten Prozeßgrundrechte in Deutschland bis auf das Recht auf ein faires Verfahren ausdrücklich im Grundgesetz aufgeführt sind, finden sie in Frankreich ihre Verankerung teilweise in der Erklärung von 1789, die über die Präambel der Verfassung von 1958 Verfassungsrang hat, sowie teilweise in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel zu den PFRLR. Somit existieren in beiden Rechtsordnungen sowohl geschriebene als auch unge-

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

schriebene verfassungsmäßige Verfahrensrechte, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen. Diese festgestellten Rechte weisen vergleichbare Eigenschaften, wie etwa Normprägung und Verfassungsmäßigkeit auf. Nicht zweifelsfrei bejahen läßt sich für die französischen Rechte die Einordnung als subjektive Rechte im deutschen Sinne. Möglich erscheint aber nach der dargelegten zweistufigen Einordnung die Bezeichnung der französischen Verfahrensrechte als subjektive Rechte der ersten unter I. 2. dargelegten Stufe. Für die weitere Untersuchung bleibt nunmehr zu klären, ob es sich bei den festgestellten französischen Verfahrensrechten um Grundrechte handelt beziehungsweise ob sich hinter ihnen ein konzeptionell ähnliches Grundrechtsverständnis verbirgt wie in Deutschland. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der Begriff des Grundrechts eng verbunden ist mit dem Grundgesetz und damit mit der deutschen Systematik und Dogmatik, die nicht ohne weiteres auf ein fremdes System übertragbar ist. Daher erfolgt die Untersuchung anhand der für die deutschen Prozeßgrundrechte herausgearbeiteten Charakteristika359. Anhand derer wird versucht aufzuzeigen, ob bei den französischen Verfahrensrechten von Grundrechten gesprochen werden kann. Dies bedingt zunächst die Herausarbeitung des französischen Grundrechtsbegriffs, da ansonsten eine entsprechende Einordnung nicht getroffen werden kann.

II. Einordnung als Grundrechte? Das Grundrechtsverständnis ist in Frankreich immer noch wesentlich durch den Contrat Social von Rousseau geprägt und durchweg von einer Gratwanderung zwischen modernem Naturrecht und Rechtspositivismus gekennzeichnet360. Zudem ist der Inhalt der Begriffe libertés publiques361 oder libertés fondamentales nicht mit dem des deutschen Grundrechts identisch. Ein einheitlich anerkannter Grundrechtsbegriff findet sich in Frankreich nicht, so daß Formulierungen wie libertés publiques, droits de l’homme und droits fondamentaux gleichermaßen benutzt werden wie der Terminus libertés fondamentales362. Der Begriff der droits fondamentaux, 359

Siehe 1. Kapitel, C. Eric Savoie, Länderbericht Frankreich, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und USA, Bd. I: Strukturen nationaler Systeme, 1986, S. 203 (207), mit einem kurzen Überblick über die Grundrechtsgeschichte in Frankreich. 361 Jean-Jacques Israel, Droit des Libertés Fondamentales, Paris 1998, S. 25, der diese Bezeichnung als typisch für das französische Recht ansieht. 362 Louis Favoreu, Réflexions sur la Notion de Liberté Fondamentale, in: Essays in Honour of Georgios I. Kassimatis, Athen 2004, S. 383 ff. 360

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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wie die gängige Übersetzung für den Begriff Grundrechte lautet363, taucht erst seit den letzten Jahren vermehrt in der Lehre auf364. Der zuvor weithin übliche Ausdruck libertés publiques bleibt bei einigen Autoren parallel oder auch ausschließlich365 bestehen, und bei anderen bildet sich gar eine dritte Kategorie, die der liberté fondamentale, heraus366. Die Lehre ist uneinheitlich und die Rechtsprechung zu den droits fondamentaux noch zurückhaltend. Darüber hinaus wird die Identifikation der Grundrechte durch die unterschiedlichen in Betracht kommenden Rechtsquellen erschwert, da nicht nur die Verfassung als Grundrechtsquelle367 erscheint. Der Begriff droits fondamentaux ist in Abgrenzung zu dem am häufigsten verwandten Begriff der libertés publiques derjenige, der dem deutschen Begriff der Grundrechte am ehesten zu entsprechen scheint368. Um diese These auch zu belegen, ist zunächst zu untersuchen, wie beide Begriffe Eingang in die französische Rechtsordnung gefunden haben, um dann zu untersuchen, in363 Grundlegend zur Einordnung des Begriffs droits fondamentaux in Frankreich im Verhältnis zur deutschen Grundrechtsdogmatik die Dissertation von Thomas Meindl, La notion de droit fondamental dans les jurisprudences et doctrines constitutionnelles franc¸aises et allemandes, Paris 2003, der bereits in seiner Einleitung (S. 1 ff.) einen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand in Frankreich betreffend den Begriff droits fondamentaux gibt und sich auf S. 98 ff. speziell zur Begrifflichkeit äußert. 364 Jérôme Favre/Boris Tardivel, Recherches sur la catégorie jurisprudentielle de „libertés et droits fondamentaux de valeur constitutionnelle“, RDP 2000, S. 1411 (1413 f.); Marie-Luce Pavia, Élements de réflexion sur la notion de droit fondamental, Les Petites Affiches nº 54, 1994, S. 6 ff.; Bruno Genevois, Le préambule et les droits fondamentaux, in: L’écriture de la Constitution des 1958: Actes du colloque du XXXe anniversaire, tenu à Aix-en-Provence le 8–10 septembre 1988, Aix-enProvence/Paris 1992, S. 492 ff.; Véronique Champeil-Desplats, La notion de droit „fondamental“ et le droit constitutionnel francais, Recueil Dalloz, Chronique, 1995, S. 323 ff.; Etienne Picard, L’emergence des droits fondamentaux en France, AJDA nº spécial 1998, S. 6 ff. 365 So etwa Patrick Wachsmann, Libertés publiques, 5. Aufl., Paris 2005, S. 4, der in den droits fondamentaux nur eine Untergruppe der libertés publiques sieht und der Übernahme eines Begriffs aus der deutschen Terminologie kritisch gegenübersteht. 366 Vgl. die Buchtitel von Jacques Robert: „Libertés publiques et droits de l’homme“ (4. Aufl., Paris 1988); anders hingegen in der 7. Aufl., Paris 1999: „Droits de l’homme et libertés fondamentales“. Entsprechend auch Dominique Turpin, dessen Werk in der 3. Aufl. von 1996 noch „Les libertés publiques“ heißt und in der Ausgabe Paris 2004 dann „Libertés publiques et droits fondamentaux“. 367 Vgl. z. B. Art. 1 (Gleichheitsgrundsatz), Art. 3 (Wahlrecht und gleicher Zugang von Männern und Frauen zu Wahlmandaten und -ämtern), Art. 66 (persönliche Freiheit und Sicherheit). 368 In diesem Sinne Klaus Stahl, Die Sicherung der Grundfreiheiten im öffentlichen Recht der Fünften französischen Republik, 1970, S. 4 f. Wohl auch Champeil-Desplats (FN 364), S. 323 ff.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

wieweit das französische Konzept der droits fondamentaux Merkmale aufweist, die mit denen der deutschen Grundrechte vergleichbar sind. 1. Genese des Begriffs droits fondamentaux a) Aussagen in den Verfassungen In der französischen Wissenschaft wurde die deutsche Begriffssystematik zu den Grundrechten erstmals durch die Arbeit von Michel Fromont369 weithin bekannt. Beeinflußt war die Einführung der Bezeichnung droits fondamentaux zudem durch den Gebrauch des Terminus fundamental right im internationalen Recht370. Die Einführung sollte vor diesem Hintergrund nicht zuletzt die Orientierung am internationalen Recht unter Beweis stellen371. Soweit ersichtlich, taucht dieser Begriff selbst in keiner der französischen Verfassungen, einschließlich der Verfassung von 1958, auf372. Obwohl er schon weitaus früher im allgemeinen französischen Sprachgebrauch existierte, war der Begriff droits fondamentaux bis 1970 in Frankreich kaum verbreitet. Erste Spuren finden sich in der Abhandlung des Physiokraten373 Jean Paul le Mercier de la Rivière aus dem Jahre 1770374. Er gebrauchte diesen Begriff im Zusammenhang mit dem Ziel des Wirtschaftsliberalismus und der natürlichen Wirtschaftsordnung, in der ein freier Warenverkehr ohne Regelungen stattfinden sollte375. Dieser Befund wird durch die zusätzliche Benutzung des Begriffs der loix fondamentales in seinem Werk gestärkt. Erwähnung findet der Ausdruck droits fondamentaux auch in Le pro369 Michel Fromont, Les droits fondamentaux dans l’ordre Juridique de la République Fédérale de l’Allemagne, in: Recueil d’études en Hommage à Charles Eisenmann, Paris 1977, S. 49 ff. 370 Siehe auch Favoreu (FN 362), S. 383. 371 In diese Richtung argumentierend jetzt auch Dominique Rousseau, Droits fondamentaux, in: Cadiet (Hrsg.), Dictionnaire de la Justice, Paris 2004, S. 372. 372 Eine Übersicht über Autoren, die bewußt keinen Begriff nennen, der in ihrer Rechtsordnung nicht positiv verankert ist, siehe Favre/Tardivel (FN 364), S. 1416. 373 Zur Rolle der deutschen Physiokraten bei der theoretischen Untermauerung der Idee der Menschen- und Bürgerrechte, siehe Klaus Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland – von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 1998, S. 6. 374 Jean Paul le Mercier de la Rivière, L’intérêt général de l’État ou la Liberté du commerce des Blés, Amsterdam/Paris 1770, S. 26 f.: „Le droit naturel que tous les hommes ont à l’existence & aux moyens d’exister, est tellement le premier de nos droits fondamentaux, que sans lui nous ne pourrions plus en reconnaître aucun autre: nous aurions peut- être des Lois très anciennes, mais non-pas des Loix fondamentales.“ 375 Siehe zur Auffassung der Physiokraten und ihrem Einfluß auf die Erklärung von 1789 Israel (FN 361), S. 72 f.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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jet de déclaration de Gouges-Cartou376. In seinem Entwurf führt GougesCartou aus: „(. . .) j’ai cru encore indispensable d’exposer les droits fondamentaux des Sociétés: j’ai pensé qu’une Constitution étant (comme le dit très-bien M. Rabaut de Saint-Etienne) une forme précise adoptée pour le gouvernement d’un Peuple, cette forme étoit déterminée & par des principes qui ne changent jamais, & par des principes qui sont sujets à varier, parce qu’ils émanent des mœurs & des préjugés des siècles & même des Législateurs. Sous ce point-de-vue, on doit considérer une Déclaration de droits comme la collection des principes inaltérables (. . .).“377

Bereits hier taucht im Zusammenhang mit der Idee einer Verfassungsurkunde der Gedanke von Rechten auf, die gegen Veränderungen geschützt sind („droits immuables“378 – unveränderliche Rechte). Allerdings wird der Begriff droits fondamentaux in den weiteren Beratungen zur Erklärung von 1789 nicht mehr aufgegriffen und konnte sich letztlich auch nicht durchsetzen. Die Verwendung des Terminus droits fondamentaux bereits zu diesem Zeitpunkt379 ist um so bemerkenswerter, da man in der wissenschaftlichen Diskussion der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zunächst davon ausging, er sei erst als Ergebnis einer vergleichenden Begriffsanalyse entstanden380. So wurde im Rahmen des Kolloquiums Cours constitutionnelles européennes et droits fondamentaux381 der Begriff droits fondamentaux wiederholt in die Diskussion eingebracht382. Während dieses Kolloquiums wurde das Bewußtsein gestärkt, daß die Verwendung gemeinsamer Begriffe den Ausgleich von Rückständen des eigenen Verfassungsrechts erleichtern und insofern eine Bezugnahme auf die Begrifflichkeiten anderer Staaten hilfreich sein kann. Unter diesem Stern stand auch die weitere Auseinandersetzung mit den droits fondamentaux sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Lehre. 376 Abgedruckt bei Stéphane Rials, La déclaration des droits de l’homme et du citoyen, 1988, S. 703 f. 377 Rials (FN 376), S. 705. 378 Rials (FN 376), S. 705: „Il est donc essentiel de traiter des droits immuables (. . .).“ 379 Siehe Meindl (FN 363), S. 101 m. w. N., zum Auftauchen des Begriffs während der Verhandlungen zur Erklärung von 1789. 380 In diesem Sinne auch Favoreu (FN 362), S. 383 ff.; Rousseau (FN 371), S. 372 ff. 381 Unter der Leitung von Louis Favoreu, siehe ders. (Hrsg.), Cours constitutionnelles européennes et droits fondamentaux, actes du 2. colloque d’Aix-en-Provence 19.–20. et 21 février 1981, Paris 1982. 382 Insbesondere S. 394, 398, 503, 513. In einigen Aufsätzen ist der Begriff droits fondamentaux auch aufgetaucht, ohne daß mit ihm ein besonderes Konzept verknüpft wurde, vgl. R. Bonnard, Les droits publics subjectifs des administrés, RDP 1932, FN 1, S. 710; R. Pelloux, Le préambule de la Constitution du 27 octobre 1946, RDP 1947, S. 357.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

b) Die Interpretation durch den Conseil Constitutionnel und die Lehre In der Rechtsprechung erscheint der Begriff fondamental im Kontext mit droit erstmals im Jahre 1982. Der Conseil Constitutionnel hat in seiner Entscheidung vom 16. Januar 1982383 den „caractère fondamental du droit de propriété“ betont, ohne jedoch näher auf den Begriffsinhalt einzugehen. In der üblichen Kürze qualifiziert der Conseil Constitutionnel zwar einige Rechte als fondamental, gibt aber weder eine Definition noch eine Auflistung der unter dieses Adjektiv zu fassenden Rechte. Bei einer genaueren Betrachtung der Begrifflichkeit ist zwischen dem qualifizierenden Adjektiv fondamental384 und dem vollständigen Begriff droits fondamentaux zu unterscheiden. Während fondamental häufiger in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel benutzt wird, findet der vollständige Terminus erstmals in einer Entscheidung des Conseil Constitutionnel aus dem Jahre 1990 Erwähnung385. In der Wissenschaft ist sein Gebrauch uneinheitlich386. In der französischen Verfassung hat der Begriff droits fondamentaux weder die Funktion, Rechte zu qualifizieren oder einzuordnen, noch taucht er selbst im Verfassungstext auf. Die Definition des Begriffsinhaltes könnte sich über die notwendigen Charakteristika erschließen lassen, die ein Recht als fondamental387 kennzeichnen388. Gerade im Zusammenhang mit den Verfahrensrechten, denen er Verfassungsrang zuerkennt, hat der Conseil Constitutionnel häufig auf das Adjektiv „fondamental“ zurückgegriffen, um die besondere Bedeutung dieser Rechte hervorzuheben. Als Höhepunkt der terminologischen Evolution in der Rechtsprechung können die Entscheidungen des Conseil Constitutionnel ab den 90er Jahren 383

CC 81-132 DC vom 16. Januar 1982, cons. 16. In dieser Entscheidung wurde ursprünglich die Einführung einer Hierarchie unter den Rechten der Erklärung von 1789 und der Verfassungspräambel von 1946 gesehen. Diese Interpretation wurde schnell zurückgezogen, da sie auf einer ungenauen Lektüre der Entscheidung beruhte und im Widerspruch zu der nachfolgenden Rechtsprechung stand, siehe Louis Favoreu, Droit de la Constitution et constitution du droit, RFDC 1990, S. 71 ff. 384 Das Adjektiv fondamental kommt im Gegensatz zu dem Begriff droits fondamentaux auch häufig in der Verfassung von 1958 vor, insbesondere in Art. 34. 385 CC 89-269 DC vom 22. Januar 1990, cons. 33. Zu den Definitionsproblemen des Begriffs „fondamental“ siehe Rousseau (FN 371), S. 373 f. 386 Ein Teil der Lehre scheint dem Begriff eine vereinheitlichende und übergreifende Wirkung zuzuschreiben, was ihn einer genauer Definition unzugänglich macht, vgl. auch Meindl (FN 363), S. 2; Israel (FN 361), S. 31 ff. 387 Hierzu die Äußerung Guy Braibants, in: Jean-Paul Costa, Les libertés publiques en France et dans le monde, Paris 1985 (Vorwort): „(. . .) le fondamental, c’est le ‚noyau dur‘ des libertés publiques qui doit être sauvegardé en tous lieux et en toutes circonstances“. Siehe auch Favre/Tardivel (FN 364), S. 1435. 388 Kritisch hierzu Rousseau (FN 371), S. 373.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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gesehen werden389, die häufig auf libertés- und droits fondamentaux Bezug nehmen. Gerade in den letzten Jahren wird der Begriff droits fondamentaux immer häufiger verwendet und ist zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen390. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, der Dialog zwischen Conseil Constitutionnel und Wissenschaft habe die Herausbildung einer neuen Kategorie im französischen Verfassungsrecht bewirkt391. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie die traditionellen libertés publiques im Verhältnis zu den eben gemachten Ausführungen einzugruppieren sind. 2. Kategorie der libertés publiques und Genese des Begriffs Die Bezeichnung libertés publiques wurde bis zum 18. Jahrhundert nur zögerlich benutzt. Ihre Wiedergeburt hatte sie während der französischen Revolution und zu Beginn des 19. Jahrhunderts392. Bis 1928 existierte weder eine anerkannte Definition der libertés publiques, noch gab es eine Abhandlung, die eine Zusammenstellung der „allgemeinen Grundrechtslehren“ enthielt393. Die libertés publiques sind somit keineswegs als neue Kategorie 389

Vgl. nur die Entscheidungen CC 93-325 DC vom 13. August 1993; CC 98401 DC vom 10. Juni 1998; CC 2003-467 DC vom 13. März 2003; CC 2004-504 DC vom 12. August 2004. 390 Diese Frage ist u. a. Gegenstand der Arbeit von Meindl (FN 363) sowie mehrfach auch in Aufsätzen abgehandelt worden, siehe die Aufzählung in FN 364; vgl. auch Leturcq (FN 355), S. 10 ff. m. w. N. 391 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der letztendlich abgelehnte Vorschlag des Comité consultatif für eine Verfassungsänderung Anfang 1993. Es wurde die Einführung eines neuen Art. 61 Abs. 1 vorgeschlagen, der folgenden Wortlaut haben sollte: „Les dispositions de loi qui portent atteinte aux droits fondamentaux reconnus à toute personne par la Constitution peuvent être soumises au Coonseil Constitutionnel à l’occasion d’une instance en cours devant une juridiction“. Siehe die Propositions pour une révision de la Constitution, 15. Februar 1993, La documentation franc¸aise, Rapports officiels 1993. 392 Dies belegen sowohl Art. 9 der Verfassung vom 24. Juni 1793 und die Charte vom 4. Juni 1814, die beide den Begriff liberté publique benutzen. Ausführlich hierzu auch Philippe Braud, La notion de liberté publique en droit francais, Paris 1968, S. 4 ff. Siehe auch Art. 25 und die Präambel der Verfassung vom 14. Januar 1852; wo von der Einrichtung eines „Sénat“, der „gardien de pacte fondamental et des libertés publiques“, die Rede ist. Von Beginn der 3. Republik an setzte sich das heutige Verständnis der libertés publiques durch. Der Gebrauch der Bezeichnung setzte sich dann insbesondere in der 4. Republik weiter durch, siehe auch Art. 72 der Verfassung von 1946. Vgl. hierzu auch Israel (FN 361), S. 26. 393 Ausführlich m. w. N. Michael Bachmann, Das System der Grundrechte im französischen Recht unter besonderer Berücksichtigung der Religionsfreiheit, 1956, S. 12 f. Jean Rivero weist auf das grundsätzliche Problem in der französischen Rechtsordnung hin, eine allgemeingültige Definition des Begriffs libertés publiques

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

einzuordnen, da dieser Begriff in der Lehre bereits weit verbreitet ist und darüber hinaus ausdrücklich in der Verfassung von 1958 genannt wird. Die Verfassung selbst spricht in Art. 34 von den „(. . .) garanties fondamentales accordées aux citoyens pour l’exercice des libertés publiques“394, Eine genauere Bestimmung der als libertés publiques zu qualifizierenden Rechte findet sich an dieser Stelle jedoch nicht. 3. Unterschied zwischen droits fondamentaux und libertés publiques Folglich fällt es der Judikative zu, die unter die libertés publiques fallenden Rechte zu definieren. Gerade der Conseil d’État hat häufig in seiner Rechtsprechung auf die libertés publiques Bezug genommen. a) Ansatz des Conseil d’État In seinem Avis395 (Stellungnahme) vom 13. August 1947 hat der Conseil d’Etat eine solche Definition entwickelt: „Le terme libertés publiques comprend indépendamment de la liberté individuelle, les grandes libertés, qui n’étant pas limitées à l’individu seul se manifestent au dehors et comportent l’action de coparticipants ou l’appel au public: en conséquence, rentrent notamment dans cette catégorie des libertés publiques la liberté de réunion, la liberté d’association et avec elle la liberté syndicale, la liberté de la presse et d’une manière générale, de diffusion de la pensée, la liberté de conscience et des cultes, la liberté de l’enseignement.“396

Diese Aufzählung ist nicht abschließend und schließt sich an die Freiheiten in der Erklärung von 1789 und die der Verfassung von 1946 an. Sie gibt lediglich einen Hinweis darauf, welchen Rechten durch den Conseil d’État eine besondere Wertigkeit mit der Folge zuerkannt wird, daß er sie auf die Ebene der libertés publiques hebt. Seine Ausführungen zu dieser zu entwickeln, die eine klare Einordnung der dazugehörigen Rechte ermöglicht. In vielen Rechtsordnungen gebe es dieses Problem nicht, da deren Verfassungen Kataloge dieser Rechte enthielten, vgl. Jean Rivero, Les libertés publiques, Tome 1, 6. Aufl., Paris 1991, S. 19. 394 Teilweise wird libertés publiques direkt mit Grundrecht übersetzt, siehe Übersetzung der Verfassung von 1958, in: Autexier (Hrsg.), Die Verfassung der französischen Republik/Constitution du 4 octobre 1958 – édition synoptique bilingue, 1. Aufl., 1988, S. 34 f. 395 Zur Einordnung der Avis des Conseil d’État, siehe Michel Fromont, Die Reform der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 49, 1989, S. 487 (496). 396 Zitiert bei Israel (FN 361), S. 31, der auch darauf hinweist, daß der Conseil d’État immer nur von „libertés“ spreche und nicht von „droit à“.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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Aufstellung ermöglichen ebenfalls noch keine klare Abgrenzung der Begriffe von libertés publiques und droit fondamentaux. b) Unterscheidungskriterien der Lehre Auch in der Lehre wurde versucht, die droits fondamentaux und die libertés publiques eindeutig und unterscheidungsfähig zu charakterisieren. Favoreu sieht einerseits die wesentlichen Merkmale der droits fondamentaux in „qualifie des libertés protégées contre l’executif ou le législatif, en vertu de textes constitutionnels ou internationaux, par le juge constitutionnel (ou le juge international)“, andererseits die der libertés publiques in „désigne essentiellement des libertés protégées contre l’exécutif, en vertu de la loi, et par le juge ordinaire (administratif ou judiciaire)“397. Anknüpfungspunkt der Unterscheidung sind damit zum einen der zuständige Richter (Verfassungsrichter oder ordentlicher bzw. Verwaltungsrichter) und zum anderen die Wertigkeit der jeweiligen Norm (Verfassung oder einfaches Gesetz). Die libertés publiques sollen im wesentlichen vor dem Zugriff der Exekutive schützen und beruhen entweder auf einfachem Gesetz oder auf den principes généraux du droit. Die droits fondamentaux wiederum resultieren aus der Anwendung von Verfassungsrecht. Gelten die libertés publiques in erster Linie vertikal, so können die droits fondamentaux auch horizontal Wirkung entfalten398. Demnach unterscheidet Favoreu weiter: „Les libertés publiques correspondent à l’etat légal c’est-à-dire au règne de la loi et de ce qu’Hauriou appelait le ‚régime administratif‘. Les droits et libertés fondamentaux correspondent à l’Etat de droit et à la suprématie des normes supra-législatives.“399

Constance Grewe etwa sieht das Spezifikum der libertés publiques darin, daß damit die Rechte bezeichnet werden, die ehemals nur durch Gesetz garantiert waren und nunmehr aber durch die Entscheidung des Conseil Constitutionnel aus dem Jahr 1971 in Verfassungsrang erhoben wurden400. Andere ziehen eine der Bezeichnungen vor und weiten ihre Definition so weit 397

Louis Favoreu (FN 383), S. 81 f. Hierzu auch die Definition des bloc de constitutionnalité von Louis Favoreu, in: Duhamel/Mény (Hrsg.), Dictionnaire constitutionnel, Paris 1992, S. 87: „(. . .) expression désigne l’ensemble des principes et règles à valeur constitutionnelle dont le respect s’impose au pouvoir législatif comme au pouvoir exécutif, et d’une manière générale à toutes les autorités administratives et juridictionnelles ainsi, bien sûr, qu’aux particuliers.“ 399 Louis Favoreu u. a., Droit constitutionnel, 12. Aufl., Paris 2009, S. 873 ff. RN 1222; ders. (FN 362), S. 387. 400 Grewe (FN 59), S. 209. 398

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

aus, daß alle anderen Begriffsinhalte mit umfaßt werden401. Wieder andere kritisieren die Bezeichnung libertés publiques grundsätzlich und lehnen sie ab402. Diese Unterscheidungsmöglichkeiten sollten jedoch nicht überbewertet werden, da einige Autoren die Begriffe auch synonym verwenden und eine Unterscheidung für überflüssig halten. Bei aller angestrebten Exaktheit in der Begriffsdefinition und -herleitung darf der Sinn einer Unterscheidung nicht vergessen werden: Sie erfolgt nicht als Selbstzweck, sondern um durch ihre Gegenüberstellung den für eine Analyse unterschiedlicher Rechtssysteme am besten geeigneten Begriff zu identifizieren. Vor diesem Hintergrund zeigen die bisherigen Ausführungen, daß beide Konzepte einander nicht ausschließen. Beide sind rechtlich anerkannt und bislang noch nicht eindeutig definiert403. Ein Recht kann sowohl ein droit fondamental als auch eine liberté publique sein; dies ist sogar bei den meisten Rechten der Fall. 4. Herausbildung einer neuen Kategorie? Diese Schlußfolgerung hat Konsequenzen sowohl für die Begriffsgebung selbst als auch für die Einordnung des französischen Rechtsverständnisses. Im zunehmenden allgemeinen Gebrauch des Begriffs droits fondamentaux und seiner – wenn auch weniger umfassenden – Verwendung durch den Conseil Constitutionnel läßt sich eine Veränderung der klassischen Doktrin der libertés publiques erkennen404. Es handelt sich damit nicht nur um eine 401 Siehe die entsprechenden Nachweise bei Israel (FN 361), S. 36. In diesem Sinne auch die Ausführungen bei Leturcq (FN 355), S. 12: „La notion de droit fondamental est donc entendue comme un terme unificateur dépassant les clivages droits/libertés ou droit interne/droit international.“ 402 Jacques Mourgeon, Les droits de l’homme, Que sais-je?, Paris 1978, S. 8: „Depuis une réforme de 1954, les programmes universitaires incluent l’étude des ‚libertés publiques‘, expression que, jusqu’alors, la doctrine utilisait parfois; que la jurisprudence accepte mal (elle lui préfère celle de ‚libertés fondamentales‘); que le législateur mentionne à l’occasion; mais qui est consacrée dans la Constitution de 1958 (art. 34). Elle ne désigne que les droits relatifs au corps et à la pensée, affirmés par la règle constitutionnelle et envisagés dans les relations entre la personne et le Pouvoir (les libertés ‚privées‘ pouvant être les mêmes, mais considérées dans les relations entre personnes). Si donc les libertés publiques sont des droits de l’homme, cette dernière catégorie est beaucoup plus étendure et extensible que la précédente.“ 403 Vgl. die Nachweise bei Israel (FN 361), S. 274 FN 304.“ 404 Siehe insbesondere die Beurteilung von Xavier Bioy, Le concept de personne humaine en droit public, Recherche sur le sujet des droits fondamentaux, Paris 2003, S. 776, der sogar von den droits fondamentaux als „catégorie juridique“ spricht. Allerdings ist die Beurteilung in der Lehre unterschiedlich, siehe Israel (FN 361), S. 31 ff.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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Modeerscheinung oder um eine bloße Konzession an das moderne Vokabular405. Die sich abzeichnende terminologische Wandlung ist vielmehr Ausdruck einer Öffnung des französischen Rechts sowie einer strukturellen Änderung des traditionellen Grundrechtsverständnisses, die mit der Änderung des juristischen Systems selbst zusammenhängt406. Das Primat der Legalität wird durch die Verfassungsmäßigkeit ersetzt und stellt den wesentlichen Baustein des neuen Systemverständnisses dar407. Der Conseil Constitutionnel hat bisher zwölf408 droits fondamentaux anerkannt. Seiner Ansicht nach umfassen die droits fondamentaux einen Teil der droits de l’homme à valeur constitutionnelle; er zählt einige dieser Rechte in seinen Entscheidungen auf409. Es ist jedoch bisher noch nicht möglich, der Rechtsprechung oder Literatur ein verallgemeinerungsfähiges Konzept der droits fondamentaux zu entnehmen410. Jedoch kann anhand der für den deutschen Prozeßgrundrechtsbegriff charakteristischen Merkmale herausgearbeitet werden, inwieweit diese auch auf die französische Grundrechtskonzeption zutreffen. Auf diese Weise kann ein Grundstock für die Beurteilung der Einordnung der französischen Verfahrensrechte als Prozeßgrundrechte gelegt werden. 5. Merkmale des französischen Grundrechtsbegriffs Aus der bloßen Unterscheidung zwischen libertés publiques und droits fondamentaux lassen sich nur bedingt Wesensmerkmale des französischen Grundrechtsbegriffs ableiten411. Es handelt sich jedoch in beiden Fällen um 405 Leturcq (FN 355), S. 11. Anders aber die Tendenz bei Rousseau (FN 371), S. 373, der aus der Veränderung der Bezeichnungen keine rechtlichen, politischen oder philosophischen Konsequenzen ziehen will, sondern lediglich aus soziologischer Sicht einen möglichen Verlust des Einflusses des französischen Rechts und der französischen Sprache zugunsten der deutschen Terminologie konstatiert. 406 In diese Richtung argumentierend auch Leturcq (FN 355), S. 11 ff. 407 In diesem Sinne jetzt auch Favoreu (FN 362), S. 387. 408 Siehe die Übersicht bei Meindl (FN 363), S. 16 ff. 409 Siehe die Entscheidungen CC 93-325 DC vom 13. August 1993, cons. 3; CC 97-389 DC vom 22. April 1997, cons. 10 f. und CC 98-401 DC vom 10. Juni 1998, insbesondere dort cons. 3, die allesamt den Begriff „libertés et droits fondamentaux“ benutzen. 410 Siehe aber Meindl (FN 363). 411 Meindl (FN 363), S. 468 f., definiert die deutsche Grundrechtskonzeption folgendermaßen: „Les droits fondamentaux sont des droits constitutionnels à la fois subjectifs et objectifs qui traduisent effectivement dans le droit positif le principe des droits de l’homme, concrétisant ainsi la séparation gouvernés-gouvernants, en exigeant la mise en place d’un contrôle de constitutionnalité contre les actes infraconstitutionnels et la loi constitutionnelle de révision.“ Sodann stellt er im nächsten

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

Kategorien von Rechten, die durch besondere Mechanismen geschützt werden. Daher können beide Begriffskonzeptionen gleichberechtigt bei der Ableitung grundrechtlicher Kernelemente herangezogen werden. In anderem Zusammenhang (s. o. C. I.) wurden bereits der den französischen Verfahrensrechten gemeinsame Prozeßbezug, ihr Verfassungsrang sowie die sich teilweise durch die Rechtsprechung abzeichnende Versubjektivierungstendenz festgestellt. Daher bleibt an dieser Stelle die Untersuchung der Merkmale des französischen Grundrechtsverständnisses im Hinblick auf die im 1. Kapitel unter C. I. herausgearbeiteten Merkmale des deutschen Grundrechtsbegriffs. a) Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage Art. 34 der Verfassung von 1958 bestimmt, daß die Bürgerrechte und die den Staatsbürgern zur Ausübung ihrer Grundrechte gewährten grundlegenden Garantien durch Gesetz zu regeln sind412. Diese Bestimmung läßt zunächst eine Dogmatik vermuten, die nach verfassungsgegebenem Schutzbereich einerseits und vom Gesetzgeber zu ziehenden Schranken andererseits unterscheidet. Allerdings läßt sich diese aus der deutschen Systematik kommende Unterteilung nicht undifferenziert auf die französische Rechtsordnung übertragen. Auch dem französischen Gesetzgeber kommt die Aufgabe zu, den Wirkungsbereich der Grundrechte zu bestimmen, der sowohl eingeschränkt wie auch erweitert werden kann. Diese Befugnis darf er auch nicht ohne weiteres auf die Exekutive delegieren, soweit wesentliche Grundrechtsinhalte betroffen sind413. Denn dieser kommt nach Art. 37 Abs. 1 die Regelungsbefugnis nur für solche Gegenstände zu, die nicht in den Bereich der Gesetzgebung fallen414. Die weiteren Bestimmungen des Art. 34 beinhalten zudem einen Gesetzesvorbehalt für den Bereich der Grundrechte. Die MögSatz fest, daß es in Frankreich kein vergleichbares Konzept gebe. Er schließt seine Arbeit jedoch u. a. mit dem Hinweis, daß beide „conceptions ont tendance à converger“. Siehe in diesem Zusammenhang auch Bioy (FN 404), S. 775 ff. 412 So der Wortlaut der Übersetzung der Verfassung von 1958 von Adolf Kimmel und Christiane Kimmel, in: Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 5. Aufl., Stand: 1. Juni 2000. Im Original heißt es: „la loi fixe les règles concernant les garanties fondamentales accordées aux citoyens pour l’exercice dees libertés publiques“. 413 Groupe d’Études et de Recherches sur la Justice Constitutionnelle (FN 64), S. 25 ff. (mit Beispielen): „La répartition entre la loi et le règlement en matière de droits fondamentaux aboutit de la sorte à un cantonnement par l’importance. La loi est ainsi appelé à régir l’essentiel des droits fondamentaux. De plus, l’article 34 de la Constitution impose au législateur l’exercice effectif de sa compétence. Le Parlement ne peut renvoyer trop largement au pouvoir réglementaire, sous peine de commettre une ‚incompétence négative‘, la loi en cause étant alors censurée.“

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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lichkeit einer Einschränkung von Grundrechten ist bereits in Art. 11 der Erklärung von 1789 angelegt415. Dort heißt es in der Übersetzung: „Jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den Mißbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen.“416 Entscheidend ist der Umkehrschluß, der aus Art. 34 Ziff. 1 zu ziehen ist: Er belegt, daß der Gesetzgeber den Kern der verfassungsmäßigen Grundrechte nicht antasten darf, da er die für ihre Ausübung notwendigen Garantien vorsehen muß417. b) Wesensgehaltsgarantie (contrôle de la non-dénaturation) Der französische Gesetzgeber kann damit grundsätzlich Einschränkungen der Grundrechte durch Gesetz vorsehen. Diese werden insbesondere vorgenommen, wenn eine Kollision mit anderen Verfassungswerten vorliegt, besonders häufig wird in Frankreich auf den ordre public (öffentliche Ordnung) Bezug genommen. Allerdings ist die Möglichkeit der Beschränkung nicht grenzenlos anerkannt. Die französische Rechtsordnung sieht einen Schutz davor vor, daß das einschränkende Gesetz den Kernbereich des Grundrechts antastet und sinnentleert. Der Conseil Constitutionnel überprüft daher die Gesetze darauf, ob der Gesetzgeber das Prinzip der non-dénaturation (nicht im Wesen verändert) beachtet hat. Gegenstand dieser Prüfung ist, ob der Gesetzgeber der Ausübung des Grundrechts nicht solche inhaltlichen Beschränkungen auferlegt hat, daß der Sinn des betroffenen Grundrechts verfälscht wird418. Die ausgeübte Kontrolle ist somit im wesentlichen eine Überprüfung der Intensität einer Grundrechtsbeschränkung um festzustellen, ob diese zum Substanzverlust des Grundrechts führt419. Das Erfor414 Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, daß der Gesetzgeber nur die Garantien vorsehen muß, die als „fondamentales“ bezeichnet werden, und der Verordnungsgeber alles andere regeln darf; vielmehr die der Regelungsauftrag an den Gesetzgeber umfassender zu verstehen. 415 Hierzu Juliane Kokott, Grundrechtliche Schranken und Schrankenschranken, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2003, § 22 RN 48. 416 So die Übersetzung bei Kimmel (FN 412), S. 160. 417 Dies erinnert an den Begriff der „Schutzpflichten“. 418 Mit Beispielen Groupe d’Études et de Recherches sur la Justice Constitutionnelle (FN 64), S. 52 ff. (56): „. . . il est loisible au législateur d’y apporter des limitations exigées par l’intérêt général à la condition que celles-ci n’aient pas pour conséquence d’en dénaturer le sens.“ Siehe die zahlreichen Rechtsprechungsnachweise dort in FN 33. 419 Vgl. die bildhafte Erklärung von M. Favoreu „(. . .) un droit ‚artichaut‘: le législateur peut lui ôter, une à une, les feuilles, pourvu qu’en l’effeuillant, il n’atteigne pas le cœur, c’est à dire ne porte pas atteinte à sa substance“, zitiert bei

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

dernis des Respekts des „contenu essentiell“, wie die Übersetzung von Wesensgehalt lauten würde420, ist im französischen Recht nicht vorhanden; ein äquivalenter Schutz wird jedoch durch das beschriebene Konzept der nondénaturation bewirkt. Somit besteht in Frankreich ein dem deutschen Gedanken der Wahrung des Wesensgehaltes eines Grundrechtes vergleichbarer Ansatz. Die Befugnis des Gesetzgebers, der Grundrechtsausübung Grenzen zu setzen, stößt jedoch noch auf weitere Grenzen. c) Das Erfordernis der verhältnismäßigen Grundrechtsbeschränkung Während in der deutschen Rechtsordnung die Verhältnismäßigkeitsprüfung systematisch auf drei Stufen (Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) durchgeführt wird, ist dies in der französischen Rechtsprechung nicht der Fall. Vielmehr bestand lange Zeit Unklarheit darüber, ob etwa der Conseil Constitutionnel eine Verhältnismäßigkeitsprüfung überhaupt durchführt. Ansätze für die Verortung des Verhältnismäßigkeitsgedankens im französischen Recht finden sich bereits in der Erklärung von 1789421. Dort heißt es in Art. 8 „nécessaires“ (notwendig) und in Art. 11 „abus“ (Mißbrauch), daneben findet sich die Idee der „nécessité“ (Notwendigkeit) an verschiedenen Stellen (Art. 8, 9, 14, 17) sowie im zehnten Absatz der Präambel der Verfassung von 1946422. Der Conseil Constitutionnel arbeitet inzwischen mit anderen Begriffen, führt aber in der Sache eine Prüfung der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Grundrechtsbeschränkung durch. So spricht er etwa in einer Entscheidung aus dem Jahre 2003 davon, daß die notwendige Abwägung zwischen der Privatsphäre des einzelnen und der öffentlichen Ordnung „n’est pas manifestement déséquilibrée“ sein dürfe423. Eine Beurteilung über die Ziele des Groupe d’Études et de Recherches sur la Justice Constitutionnelle (FN 64), S. 53 FN 22 (m. w. N. aus der Rechtsprechung auf S. 54 ff.). Vgl. insbesondere CC 98403 DC vom 29. Juli 1998, cons. 31 (cons. 40): „(. . .) de telles limitations apportées à l’exercice du droit de propriété revêtent un caractère de gravité tel que l’atteinte qui en résulte dénature le sens et la portée de ce droit“; CC 98-401 DC vom 10. Juni 1998, cons. 27. 420 Kokott (FN 415), RN 82, spricht hier jedoch von einer „garantie de substance“. 421 Ausführlich hierzu Leturcq (FN 355), S. 305 ff. 422 So setzt etwa Bruno Genevois, La jurisprudence du Conseil Constitutionnel, Principes directeurs, Paris 1988, S. 258, principe de proportionalité und nécessité gleich, wenn er von Art. 8 spricht. 423 CC 2003-467 DC vom 13. März 2003, cons. 27. Eine ähnliche Abwägung wurde in CC 2001-450 DC vom 11. Juli 2001, cons. 18, vorgenommen.

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Gesetzgebers nimmt der Conseil eher selten vor. Falls ja, so arbeitet er mit der Terminologie des motif d’intérêt général, das er etwa in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 verneint hat424. Eine Überprüfung im Sinne des deutschen Kriteriums der Erforderlichkeit dahingehend, ob der Gesetzgeber sein Ziel auch auf anderem Wege hätte erreichen können, führt der Conseil nicht durch425. Er stellt lediglich fest, daß „les modalités retenues ne doivent pas être manifestement inappropriées à l’objectif poursuivi“426. Der Conseil Constitutionnel überprüft damit auch, ob der Gesetzgeber zwei kollidierende Verfassungswerte nachvollziehbar gegeneinander abgewogen und ihrer Gewichtung entsprechend in Einklang gebracht hat427. Häufig spricht der Conseil auch von einer disproportion manifeste, die nicht bestehen dürfe428. Damit praktiziert er eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit unter umgekehrten Vorzeichen und mit dem Ziel, die Beschränkungen durch den Staat so gering wie möglich zu halten. d) Umfassende Bindung der drei Gewalten an die Grundrechte Nach Art. 62 Abs. 2 der Verfassung binden ferner die Entscheidungen des Conseil Constitutionnel jede öffentliche Gewalt. Damit ist sowohl für Exekutive als auch Judikative die Bindung an die grundrechtsrelevante Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel gewährleistet. Die Legislative ist ebenfalls an die Rechte des bloc de constitutionnalité gebunden. Dies hat der Conseil Constitutionnel in einer Entscheidung aus dem Jahre 1982 bestätigt429, um drei Jahre später nochmals zu bekräftigen: „La loi n’exprime la volonté générale que dans le respect de la Constitution.“430 Damit 424

CC 2001-453 DC vom 18. Dezember 2001, cons. 28. Zumindest nicht, solange der Weg des Gesetzes nicht „manifestement inappropriées“ ist, so jedenfalls CC 98-401 DC vom 10. Juni 1998, cons. 28. 426 CC 2003-468 DC vom 3. April 2003, cons. 42: „(. . .) la conciliation ainsi opérée n’est pas entachée d’erreur manifeste (. . .).“ So auch bereits in CC 98-401 DC vom 10. Juni 1998, cons. 28: „(. . .) dès lors que les modaliltés retenues par la loi ne sont pas manifestement inappropriées à l’objectif visé.“ 427 Zur Zufriedenheit des Conseil hat dies der Gesetzgeber vorgenommen im Fall CC 2001-457 DC vom 27. Dezember 2001, cons. 9; siehe auch CC 2003-468 DC vom 3. April 2003, cons. 42. Insgesamt hierzu vgl. auch Michel Fromont, Le principe de proportionalité, AJDA 1995, S. 156 (164). 428 Siehe die Nachweise bei Leturcq (FN 355), S. 310. 429 CC 81-132 DC vom 16. Juni 1982, cons. 18, darin hat der Conseil ausgeführt, daß der Gesetzgeber nicht befreit ist „dans l’exercice de sa compétence, du respect des principes et des règles de valeur constitutionnelle qui s’imposent à tous les organes de l’État“. 430 CC 85-196 DC vom 1. August 1985. 425

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

ist nicht nur der Rang der Verfassung, sondern auch der verfassungsmäßigen Rechte über dem Gesetz bestätigt. Deren Durchsetzung gegenüber dem Gesetzgeber ist jedoch durch das Fehlen einer repressiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch den Conseil Constitutionnel ebenso beschränkt wie durch die fehlende Möglichkeit eines der deutschen Verfassungsbeschwerde gleichwertigen Rechtsbehelfs des Grundrechtsträgers. Im Ergebnis ist damit auch in Frankreich die Verbindlichkeit von Grundrechten für alle drei Gewalten grundsätzlich anerkannt. e) Die droits fondamentaux als principes objectifs „Cette notion (principes objectifs, E. d. V.) serait une ‚laïcisation‘ ou ‚juridicisation‘ de la notion de ‚valeur‘ de laquelle découle différentes fonctions des droits fondamentaux, fonctions qui déterminent des obligations pour le législateur.“431

Für die deutschen Grundrechte wurde der Doppelcharakter als subjektive Rechte einerseits und objektiv-rechtliche Grundsatznormen andererseits als Merkmal herausgearbeitet. Der Conseil Constitutionnel hat sich bislang nicht der Bezeichnung principes objectifs bedient. Für die Klärung, ob auch die französischen droits fondamentaux als objektiv-rechtliche Grundsatznormen eingeordnet werden können, liefern die Elemente des bloc de constitutionnalité erste Anhaltspunkte (Erklärung von 1789/Präambel der Verfassung von 1946 und Verfassung von 1958). Hinzu tritt die häufige Benutzung der Begriffe „valeur“, „garantie essentielle“ und „substance“ in der Rechtssprechung des Conseil Constitutionnel, welche dafür sprechen, daß man in den französischen Grundrechten eine Wertordnung sieht432. Eine Parallele zum objektiv-rechtlichen Gehalt der deutschen Grundrechte findet sich ferner in dem von der Rechtsprechung geprägten Begriff des objectif de valeur constitutionnelle. Mit ihm wird der verfassungsmäßige Zweck bezeichnet, der die Konkretisierung des jeweiligen Grundrechts ermöglicht433. 431 Dominique Rousseau/Thomas Meindl, Fonction et Interpretation des droits fondamentaux, Länderbericht: Frankreich in: Weber (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe and North America, Loseblattslg. Stand: August 2002, S. 91 f. 432 CC 90-284 DC vom 16. Januar 1991, cons. 3 („substance“); CC 93-329 DC vom 13. Januar 1994, ab cons. 6; CC 96-373 DC vom 9. April 1996, ab cons. 17 („valeur“); CC 86-224 DC vom 23. Januar 1987, cons. 22; CC 2003-485 DC vom 4. Dezember 2003, ab cons. 6 („garantie essentielle“). 433 Zu weiteren objektiv-rechtlichen Funktionen der droits fondamentaux siehe Rousseau/Meindl (FN 431), S. 93. Für die Meinungsfreiheit wäre das objectif de valeur constitutionnelle der Pluralismus. Ausführlich hierzu auch Bertrand Faure, Les objectifs de valeur constitutionnelle: une nouvelle catégorie juridique?, RFDC 1995, S. 47 ff., insbesondere S. 77: „D’abord parce que les objectifs de nature constitutionnelle n’ont pas d’existence ‚en soi‘ mais toujours par rapport à la Constitution au sein de laquelle ils puisent leur existence, fût-ce implicitement, et leur légitimité.“

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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Diese Ansätze sprechen für die Einordnung der droits fondamentaux als objektiv-rechtliche Grundsatznormen. f) Gerichtliche Durchsetzbarkeit Als ein wesentliches Merkmal des deutschen Grundrechtsbegriffs wurden die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung und ihr Charakter als subjektive Rechte festgestellt. Das materielle Element, der Schutz eines individuellen Interesses, findet sich auch bei den droits fondamentaux des bloc de constitutionnalité. Allerdings fehlt den französischen Grundrechten das Merkmal der formellen Durchsetzbarkeit durch den Grundrechtsträger. Der Conseil Constitutionnel führte lange Jahre nur eine a priori-Kontrolle der ihm vorgelegten Gesetze durch, Anwendungsfragen blieben dabei außer Betracht434. Durch die Verfassungsreform vom 23. Juli 2008, in Kraft seit dem 1. März 2010, besteht jedoch für den einzelnen die Möglichkeit, in einem anhängigen Rechtsstreit, vorzutragen, eine gesetzliche Bestimmung verletzte, seine von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten. Diese Verbesserung gilt jedoch nur im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens und führt ein Verfahren der inzidenten Normenkontrolle in die französische Rechtsordnung ein. Weiterhin besteht jedoch keine Möglichkeit, den Conseil Constitutionnel direkt – etwa in einem der Verfassungsbeschwerde ähnlichen Verfahren – anzurufen. Die Überprüfung der Verfassungswidrigkeit eines bereits in Kraft getretenen Gesetzes ist nunmehr gegeben, soweit ein Bürger sich im Verfahren darauf beruft. Die Verfassungsreform von 2008 hat zwar zu einer Verbesserung des Grundrechtsschutzes geführt, bleibt in ihrem Anwendungsbereich jedoch auf laufende Gerichtsverfahren, die Vorlage durch den Conseil d’Etat oder die Cour de Cassation und das Fehlen einer Vorlage von Amts wegen beschränkt. Die Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte verfügen über keine unmittelbare Zuständigkeit für die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und haben auch weiterhin keine Möglichkeit, bei diesbezüglichen Bedenken eine Überprüfung herbeizuführen435. Eine mögliche 434

Michel Fromont, Le contrôle de constitutionnalité exercé par les juridictions ordinaires franc¸aises, in: Der Verfassungsstaat vor neuen Herausforderungen, Festschrift für Yvo Hangartner, 1998, S. 183 ff. 435 Ausführlich hierzu siehe Kommentar der Entscheidung Nr. 2009-595 DC vom 3. Dezember 2009 Verfassungsergänzungsgesetz über die Durchführung von Artikel 61-1 der Verfassung, einzusehen unter: http://www.conseil-constitutionnel.fr/con seil-constitutionnel/root/bank_mm/allemand/de2009_595dc_ccc.pdf; Stand: 14. August 2011. Vgl. http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/ bank_mm/allemand/de2009_595dc.pdfFromont (FN 434), auf S. 184 ff. Siehe auch ders. (FN 352), S. 175.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

übergesetzliche Prüfungsebene eröffnet jedoch die EMRK, da die genannten Gerichte Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK überprüfen436. Diese Überprüfungsmöglichkeit ist im Zusammenhang mit der fortlaufenden Weigerung des Conseil Constitutionnel seit 1975 zu sehen, trotz Art. 55 der Verfassung von 1958 Gesetze am Maßstab internationaler Verträge zu überprüfen437. Dies hat zur Folge, daß die ordentliche Gerichtsbarkeit seither diese Lücke ausfüllt und die Verwaltungsgerichtsbarkeit sich dem seit 1989 angeschlossen hat438. Auf diese Weise hat sich eine a posteriori-Kontrolle der Gesetze durch die Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK eingebürgert, die sich zugunsten des Rechtsschutzes des einzelnen niederschlägt439. Allerdings dürfen die Gerichte die Gesetze nur EMRK-konform auslegen. Soweit dies nicht möglich ist und der Betroffene seine Konventionsrechte verletzt sieht, ist ihm zunächst der Rechtsweg zur Cour de Cassation bzw. zum Conseil d’État eröffnet und danach der Weg zum EGMR. Der einzelne kann sich insbesondere nicht unmittelbar an den Conseil Constitutionnel wenden, um seine Grundrechte geltend zu machen440. Daher werden die französischen Grundrechte häufig auch nicht als subjektive Rechte, sondern als „principes objectifs“441 bezeichnet. Sieht man in einer umfassenden Justiziabilität von Grundrechten, wie es für die deutschen Grundrechte typisch ist, ein Merkmal des Grundrechtsbegriffs, ist in Frankreich von einer Abweichung sowohl im Verständnis als auch in der Wirkungsstärke von Grundrechten auszugehen. Denn aufgrund des dargestellten begrenzten Zuständigkeitsbereichs des Conseil Constitutionnel verbleibt immer noch ein großer Bereich des gerichtlichen Schutzes der Grundrechte bei 436 Wird bestätigt in: Kommentar der Entscheidung Nr. 2009-595 DC vom 3. Dezember 2009 Verfassungsergänzungsgesetz über die Durchführung von Artikel 61-1 der Verfassung, S. 7, einzusehen unter: http://www.conseil-constitutionnel.fr/con seil-constitutionnel/root/bank_mm/allemand/de2009_595dc_ccc.pdf; Stand: 14. August 2011. 437 Ständige Rechtsprechung seit CC 74-54 DC vom 15. Januar 1975, cons. 2 ff. Hierzu auch Pactet/Mélin-Soucramanien (FN 65), S. 576 ff. Allerdings mit dem Hinweis, daß es keine Möglichkeit gibt, den CC anzurufen, um Gesetze anhand von Art. 55 zu überprüfen. 438 Siehe Fromont (FN 434), S. 191; speziell zur Kontrolle durch den Conseil d’État siehe Israel (FN 361), S. 36 und S. 275. 439 Vgl. Fromont (FN 434), S. 194. 440 Rousseau/Meindl (FN 431), S. 92. 441 Rousseau/Meindl (FN 431), S. 92; Grote (FN 12), S. 26 ff., der als Ausgangspunkt die Erklärung von 1789 nimmt, in der die Grundrechte als philosophische Prinzipien formuliert worden seien, die der Gesetzgeber als Leitlinie zu akzeptieren hatte, die aber nicht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab für die Prüfung der Rechtmäßigkeit staatlicher Maßnahmen herangezogen werden konnten; auch Hasso Hofmann, Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, JuS 1988, S. 841 (846 f.).

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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den ordentlichen und Verwaltungsgerichten und kann auch nur durch diese abgedeckt werden442. Dieser Anforderung kommen sie im Wege der Überprüfung von Rechtsanwendungsakten, die auf einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruhen, auf ihre Verfassungsmäßigkeit nach. Das zugrundeliegende Gesetz selbst unterliegt jedoch nicht dieser Kontrolle. Hier besteht nur die Möglichkeit, daß der einzelne im laufenden Verfahren die vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit stellt oder – tut er dies nicht – der verfassungskonformen Auslegung, deren Spielraum jedoch durch die Stringenz der Formulierung des Gesetzeswortlauts begrenzt sein kann. Hinzu tritt die Kontrollmöglichkeit am Maßstab der EMRK. Diese unterliegt keiner internen Beschränkung und kann daher bis zur Erklärung der Unvereinbarkeit (nonconformité) führen. Durch dieses System kommt den einfachen Richtern eine größere Macht zu, wenn sie die EMRK als Überprüfungsmaßstab einsetzen. Auf diese Weise hat sich ein gerichtliches Schutzkonzept für die Grundrechte entwickelt, wobei den Grundrechten des bloc de constitutionnalité aufgrund dieser Zuständigkeitsverteilung letztendlich ein weniger effektiver Schutz zukommen kann als den Rechten der EMRK443. Diese Wertung hat sich durch die Einführung der vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit zwar etwas relativiert, da die Möglichkeiten der Anrufung des Conseil Constitutionnel aber weiterhin eng begrenzt sind, kann sie aufrecht erhalten werden. g) Schutz der Grundrechte bei Änderung der Verfassung Es finden sich in der geltenden Verfassung selbst nur wenige Grundrechte, über die Präambel finden jedoch die Präambel der Verfassung von 1946 und die Erklärung von 1789 als Grundrechtsquellen Berücksichtigung. Art. 89 Abs. 5 der Verfassung von 1958 bestimmt, daß die republikanische Staatsform nicht durch eine Verfassungsänderung abgeschafft werden darf444. Bei einer engen Interpretation erfaßt diese Bestimmung lediglich die Staatsform als solche. Ein weitergehender Interpretationsansatz bezieht jedoch auch die Werte und rechtlichen Grundlagen ein, auf denen die republikanische Staatsform beruht445. Nach dieser Interpretation wäre zumindest 442 Speziell zur Rolle des Conseil d’État siehe Guy Braibant, Le contrôle de la constitutionnalité des lois par le Conseil d’État, in: Le nouveau constitutionnalisme, Mélanges en l’honneur de Gérard Conac, Paris 2001, S. 185 ff. 443 Insgesamt kritisch Fromont (FN 435), S. 172. 444 Ausführlich zur Rolle des Art. 89 bei einer Verfassungsänderung Heuschling (FN 12), S. 609 ff. Siehe hierzu CC 92-312 DC vom 2. September 1992, cons. 19. Allgemein zum Verfahren bei einer Verfassungsänderung in Frankreich, Pactet/Mélin-Soucramanien (FN 65), S. 548 ff. 445 Zu beiden Ansätzen Groupe d’Études et de Recherches sur la Justice Constitutionnelle (FN 64), S. 42 f.

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auch der wesentliche Gehalt der Grundrechte veränderungsfest. Für ein solch weites Verständnis sprechen die historischen Erfahrungen und das Verhältnis des Art. 89 Abs. 5 insbesondere zu Art. 16 der Erklärung von 1789 sowie zu Art. 1 der Verfassung von 1958446. Der Conseil Constitutionnel hat dazu jedoch noch keine eindeutige Position bezogen, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, daß die meisten Grundrechte sich nicht ausdrücklich in der Verfassung von 1958 finden. h) Ergebnis Die überwiegende Anzahl der Grundrechte des bloc de constitutionnalité ist gekennzeichnet durch ihre Ausgestaltungsbedürftigkeit durch den Gesetzgeber. Das macht sie aufgrund ihrer fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit deutschen Staatszielbestimmungen vergleichbar. Es handelt sich um wenig konkretisierte Regelungen, was jedoch teilweise durch die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel aufgefangen wird. Aus dem bloc de constitutionnalité läßt sich ein Gesetzesvorbehalt für die Regelung der droits fondamentaux ableiten447. Ebenso finden sich der deutschen Wesengehaltsgarantie und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vergleichbare Ansätze. Über Art. 89 Abs. 5 der Verfassung von 1958 erscheint es möglich, einen veränderungsfesten Kern der droits fondamentaux zu konstruieren. Die droits fondamentaux besitzen auch in Frankreich Verfassungsrang und verfügen über besondere regulative Mechanismen zu ihrem Schutz. Anwendungsreichweite, Gestalt und Struktur dieser Schutzmechanismen sind systemspezifisch und erscheinen aus deutscher Sicht vergleichsweise wenig ausgeprägt. Derzeit durchlaufen sie jedoch eine dynamische Entwicklung, die auch aufgrund der dabei auftretenden Begrifflichkeit und vermehrten Diskussion in der Lehre eine schrittweise Änderung vermuten läßt448. Der französische Grundrechtsbegriff weist somit Merkmale auf, die denen des deutschen Grundrechtsbegriffs vergleichbar sind und die Einordnung der festgestellten Verfahrensrechte als Prozeßgrundrechte rechtfertigen.

446 Hierzu zusammenfassend Groupe d’Études et de Recherches sur la Justice Constitutionnelle (FN 64), S. 42 f. 447 Ausführlich und mit Beispielen aus der Rechtsprechung Groupe d’Études et de Recherches sur la Justice Constitutionnelle (FN 64), S. 25 f.: „La loi est ainsi appelée à régir l’essentiel des droits fondamentaux“; S. 43 f.: „(. . .) la Constitution (aux sens large) instaure en matière de droits fondamentaux (. . .) une, réserve de loi‘.“ 448 Bioy (FN 404), S. 776, spricht sogar von einer „(. . .) ‚pression‘ de la doctrine sur la jurisprudence en matière de réception de la notion de ‚droits fondamentaux‘.“

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III. Verhältnis der französischen Verfahrensrechte zum État de droit Während die deutschen Prozeßgrundrechte als gemeinsamen Bezugspunkt die Verwurzelung im Rechtsstaatsprinzip haben, läßt sich für die Prozeßgrundrechte französischer Prägung ein solcher Befund nicht treffen. Vereinzelt finden sich Bezüge zum État de droit, aber es liegt den französischen Prozeßgrundrechten zumindest auf den ersten Blick kein vergleichbares Verständnis zugrunde. Dieses Ergebnis findet seine Erklärung in der Entwicklung der französischen Rechtsstaatskonzeption. 1. Die französische Rechtsstaatskonzeption Ausgehend von der deutschen Rechtsstaatstradition scheint das Bekenntnis zum Rechtsstaat in Frankreich auf den ersten Blick nur schwach ausgeprägt zu sein. Zum einen findet sich keine den Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 28 Abs. 1 GG entsprechende Regelung in der Verfassung von 1958. Zum anderen stand das französische Schrifttum dem Rechtsstaat deutscher Prägung lange mißtrauisch gegenüber. Betrachtet man jedoch Art. 16 der Erklärung von 1789449, sieht man darin schon zwei wesentliche Elemente des Rechtsstaates verankert: den Schutz der Rechte des einzelnen und die Trennung der Gewalten. Der erste Eindruck ist somit bereits zu relativieren. a) Begriff des État de droit Das französische Äquivalent zu dem deutschen Wort „Rechtsstaat“ findet sich in der Bezeichnung „État de droit“. Eingeführt wurde dieser Begriff von Duguit450, der ihn Anfang des 20. Jahrhunderts als Übersetzung des deutschen Wortes bekannt machte. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine kongruente Übernahme des Begriffs „Rechtsstaat“451, die automatisch auch die dahinterstehenden Prinzipien impliziert, sondern vielmehr um eine zögerliche begriffliche Rezeption, die durch viele Faktoren determiniert 449 Dieser lautet: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée n’a point de constitution.“ 450 Léon Duguit, Manuel de droit constitutionnel, Théorie générale de l’État – Organisation politique, Paris 1907, S. 44: „(. . .) les Allemands appellent le Rechtsstaat, l’État de droit, (. . .)“; S. 48: „(. . .) d’après l’expression allemande, un État de droit, Rechtsstaat“. Siehe Jacques Chevallier, L’État de droit, 3. Aufl., Paris 1999, S. 22, der Carré de Malberg als denjenigen genannt hat, der den Begriff eingeführt hat, so auch Michel Troper, Le concept de l’État de droit, Droits 1992, S. 51. 451 Chevallier (FN 450), S. 11: „Le terme État de droit est la traduction littérale du mot Rechtsstaat (. . .).“

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

wurde. So herrschte auch in der französischen Lehre über genauen Inhalt, Herkunft und Konzept Uneinigkeit452. Diese beruht teilweise auf den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten der Autoren für ihre Aussagen, die häufig die Entwicklung des Begriffs und die des Konzepts nicht hinreichend scharf voneinander trennten453. Daher ist grundsätzlich zwischen der Übernahme einer Bezeichnung und dem des dahinterstehenden Konzepts zu unterscheiden. Das französische Recht ist aufgrund des Deutsch-Französischen Kriegs sowie des Ersten Weltkriegs gekennzeichnet durch ein ambivalentes Verhältnis zu dem Rechtsstaat deutscher Prägung454. Ursprünglich wurde das Konzept als zu spezifisch auf die deutschen Verhältnisse bezogen angesehen, als daß es auf Frankreich übertragbar wäre455. Soweit ersichtlich, war Hauriou456 der erste, der den Begriff État de droit457 im Sinne des Erfordernisses einer gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen verstand. Der größte Verfechter der Rechtsstaatskonzeption nach deutschem Vorbild war jedoch Carré de Malberg458. Es zeigt sich also, daß die grundsätzliche Idee eines vergleichbaren Verständnisses der Rechtsstaatskonzeption in Frankreich anzutreffen ist459. 452 So bezeichnet Jacques Chevallier, Le discours de l’État de droit, Politiques 1993, S. 13, die Wurzeln des État de droit als „alt“; andere wie Michel Troper (FN 450), S. 51, sehen in ihm eine Entwicklung, die für Frankreich „un phénomène fort récent“ ist. 453 Heuschling (FN 12), S. 375. 454 Vgl. Heuschling (FN 12), S. 377. 455 Vertreter dieser Position waren insbesondere Adhémar Esmein, Eléments de droit constitutionnel franc¸ais et comparé, 3. Aufl., Paris 1903, insbesondere die Auseinandersetzung mit der Auffassung Duguits S. 25 ff. Vgl. auch die 8. Aufl., Paris 1927. 456 Maurice Hauriou, Principes de droit public, 1. Aufl., Paris 1910, S. 76. Hierzu auch Didier Boutet, Vers l’État de Droit, La théorie de l’État et du droit, Paris 1991, S. 205 ff. 457 Hauriou (FN 456), schreibt „état de droit“, aus der kleinen Schreibweise des Wortbeginns kann auf ein bestimmtes Verständnis des État de droit geschlossen werden. 458 Raymond Carré de Malberg, Contribution à la theorie générale de l’Etat, 2. Vol., Paris 1920 – 2, Neudruck 1962; interessanterweise führt er auf S. 489 (note 5) aus: „Mais c’est en France et par l’Assemblée nationale de 1789 qu’on été dégagées les idées maîtresses et, en partie, les institutions sur lesquelles repose le système de l’État de droit“ (H. d. V.). Danach geht die Konzeption des État de droit zumindest teilweise auch auf die Prinzipien der französischen Revolution zurück. Dabei könnte es sich jedoch um eine Legitimationsansatz handeln, um den Rückgriff auf ein von Deutschland, das dem französischen Feindbild entsprach, kommendes Konzept zu relativieren und mit nationalen Elementen anzureichern. 459 Vgl. insoweit Pactet/Mélin-Soucramanien (FN 65), S. 121 f., die als Elemente insbesondere „séparation des pouvoirs, proclamation des libertés et des droits, con-

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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Die Darstellung der Entwicklung der Rechtsstaatskonzeption in Frankreich wird für die Zwecke dieser Arbeit in zwei historische Blöcke eingeteilt, in die Zeit vor und nach der Verfassung von 1958 [s. u. b) und c)]. b) Konzeption des État de droit vor der Verfassung von 1958 Die verfassungsrechtliche Entwicklung in Frankreich unterschied sich wesentlich von derjenigen in Deutschland. Durch den Einfluß der französischen Revolution waren Menschen- und Bürgerrechte sowie das Postulat der Gewaltenteilung offiziell als Voraussetzungen für die Ausübung staatlicher Macht anerkannt. Hinzu kommt jedoch der häufige Wechsel von Verfassungen und damit verbunden des politischen Regimes in Frankreich. Maßgeblicher Anstoß für den Umdenkungsprozeß in Frankreich war die französische Revolution und der Gedanke einer souveränen Einheit „der Nation“460, die unabhängig von der Monarchie sein sollte461. Damals beschäftigten sich etwa Rousseau462 und Sieyès463 mit den normativen und strukturellen Anforderungen, die an das neue Staatsgebilde zu stellen wätrôle de constitutionnalité, encadrement juridique du pouvoir, indépendance de l’autorité juridictionelle (. . .)“ aufzählen. 460 Siehe die Äußerung von Jean-Denis Lanjuinais, Constitutions de la nation franc¸aise, avec un essai de traité historique et politique sur la charte, Paris 1819, S. 14 und S. 187, mit einer Verknüpfung der Begriffe République und Nation. Eine Gegenüberstellung der Begriffe État und Nation findet sich bei Marie-Joelle Redor, De l’Etat légal à l’Etat de droit. L’Evolution des conceptions de la doctrine publiciste franc¸aise 1879–1914, Paris/Aix-en-Provence 1992, S. 52 ff. (speziell zu Nation auf S. 41 ff. m.w.N). 461 Siehe Chevallier (FN 450), S. 23, wo er von einer „nouvelle figure“ der „Nation souveraine“ spricht. 462 Jean Jacques Rousseau, Contrat Social, Livre II, 6. Kapitel, 3. Aufl., Paris 1922, mit Einleitung von Georges Beaulavon, S. 176 (180): „J’appelle donc république tout État régi par des lois, sous quelque forme d’administration que ce puisse être, car seulement l’intérêt public gouverne, et la chose publique est quelque chose. Tout gouvernement légitime est républicain.“ Danach ist die République nichts anderes als der Staat, der durch die Gesetze bestimmt wird (État régi par des lois), und damit der État de droit. Ausführlich hierzu Heuschling (FN 12), S. 343 ff., der aufzeigt, wie im Laufe der revolutionären Entwicklung u. a. unter dem Einfluß Maximilien de Robespierres der Gedanke der République mit Demokratie gleichgesetzt wurde. 463 Siehe die Argumentation von Emmanuel Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers Etat?, 1789, in der Übersetzung von Otto Brandt, Was ist der dritte Stand? Berlin 1924, S. 36 ff. Das Volk ist danach die Nation, und über die Volksvertreter kann es dem Land eine Verfassung geben. Nach dieser Ansicht, die der Verfassung von 1791 zugrunde lag, ist der Staat nur ein künstliches Gebilde, das von den Gesetzen, die Ausdruck der volonté générale sind, betrieben wird.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

ren. Dieses neue Gebilde sollte bestimmten Voraussetzungen genügen, damit Willkürherrschaft zukünftig vermieden wird. In diesem Zusammenhang spielte besonders das liberale Verständnis der Begriffe État und République eine Rolle464. Beide – État465 und insbesondere République466 – wurden als ausreichend angesehen, ihre Auffassung eines auf liberalen Grundideen basierenden Staatsgebildes auszudrücken467. Die beiden Bezeichnungen standen für die Idee der Freiheit und der Gewaltenteilung, so daß keine Notwendigkeit für einen eigenständigen Begriff gesehen wurde. Zwar setzte sich die grundlegende Idee der Suprematie der Verfassung weitestgehend durch, aber es gab noch keine Schutzmechanismen zur praktischen Durchsetzung der Verfassungsvorherrschaft468. Bis zur Dritten Republik (1870–1946) bestimmten die rechtlichen Konzepte von État und République das Verhältnis der Grundrechte zur staatlichen Gewalt. Die Bedeutung der Richter war gering und bewegte sich im Bereich eines bloßen Gesetzesanwenders im Sinne der Lehre Montesquieus. Unter der Federführung von Autoren wie Carré de Malberg, Duguit und Hauriou fand die Bezeichnung État de droit zunehmenden Eingang in das französische Rechtsdenken469. Während sich in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung „Rechtsstaat“ hauptsächlich auf die Idee der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung bezog, wurde sie gerade durch diese Schwerpunktsetzung für die Franzosen interessant. Denn diese versuchten langsam, das tradierte Mißtrauen gegen die Justiz zu überwinden und den Richter als Hüter der Grundrechte gegenüber der staatlichen Gewalt einzusetzen470. 464 Hierzu ausführlich Pech (FN 67), S. 81; siehe auch Heuschling (FN 12), S. 343 ff., der aufzeigt, daß es in der französischen zeitgenössischen Lehre nicht an äquivalenten Begriffen zu „Rechtsstaat“ mangelte. 465 Claude Nicolet, L’idée républicaine en France (1789–1924), Essai d’histoire critique, Paris 1994, S. 443. Vgl. auch Art. 2 der Erklärung von 1789. 466 Teilweise wird der Begriff République als Äquivalent zu État de droit angesehen, vgl. Chevallier (FN 450), S. 122; Jean-Louis Quermonne, unter dem Stichwort République, in: Duhamel/Mény (Hrsg.), Dictionnaire constitutionnel, Paris 1992, S. 921 (923). 467 Vgl. Heuschling (FN 12), S. 350. 468 Vgl. Titre I der Verfassung von 1791: „Le pouvoir législatif ne pourra faire aucunes lois qui portent atteinte et mettent obstacle à l’exercice des droits naturels et civils consignés dans le present titre, et garanties par la Constitution.“ Hierzu auch André Blondel, Le contrôle juridictionnel de la constitutionnalité des lois, Étude critique comparative: Etats-Unis-France, Paris/Aix-en-Provence 1928, S. 119 (142 ff.). 469 Siehe die chronologische Darstellung des Gebrauchs des Begriffs bei Heuschling (FN 12), S. 376 ff. 470 Cappelletti (FN 13), S. 190 ff. und S. 124 f.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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Im Verlauf der Dritten Republik471 wurde unter der Lehre des État de droit immer mehr das principe de légalité verstanden472. Dieser Gedanke wird gestützt durch die Erklärung von 1789, die die Verwirklichung der dort aufgezählten Rechte dem einfachen Gesetz überläßt. Die Bedeutung des Gesetzes in Frankreich ging im wesentlichen auf die Philosophie von Rousseau zurück. Danach war es undenkbar, daß das Recht, soweit es Ausdruck des allgemeinen Willens ist, die Freiheit des einzelnen in irgendeiner Weise beschränkt. Denn das Gesetz wurde geschaffen von den Repräsentanten der Nation und war damit automatisch Träger der volonté générale. Aus dieser Auffassung ergab sich, daß die Verwirklichung des Rechtsstaates schon dann gesichert war, wenn die Gesetze befolgt wurden. Insoweit wurde der Rechtsstaatgedanke während der Dritten Republik mit dem Gedanken der Parlamentssouveränität und dem principe de légalité gleichgesetzt473. Diese Auffassung wurde erstmals von Carré de Malberg kritisiert. Für ihn stellte die Idee des Gesetzes als Ausdruck der volonté générale eine rechtliche Fiktion dar. Aus seiner Sicht ist das Gesetz Ergebnis einer politischen Mehrheit und nicht Ausdruck der volonté générale. Da die Verfassung durch Referendum angenommen wurde und damit die gemeinsame Grundlage von judikativer, exekutiver und legislativer Macht darstelle, müsse sich zwangsläufig auch eine Bindung an selbige ergeben474. Für Carré de Malberg schützt der État légal die legislative Suprematie des gewählten Parlaments, während der État de droit die Rechte der Bürger vor der Willkür der politischen Mehrheit schützen soll. Damit kommen zwei unterschiedliche rechtliche Konzepte zum Tragen: zum einen das demokratische Gesetzesverständnis und zum anderen das liberale Grundrechtsverständnis als Grenze der Ausübung demokratisch legitimierter Gesetzgebungsmacht. Erst mit der Einführung der Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Gesetze ist der État de droit im Sinne Carré de Malbergs verwirklicht475. 471 Ein nicht zu vernachlässigender Teil der französischen Lehre ignorierte auch unter der 3. Republik die Befassung mit der deutschen Rechtsstaatskonzeption, siehe Heuschling (FN 12), S. 378 m. w. N. 472 „Le principe de légalité est un élément fondamental de la démocratie libérale. Les anciens auteurs disaient que celle-ci constitue ainsi un ‚État de droit‘, c’est-àdire un État qui se conforme aux règles établies, par opposition à l’arbitraire qui règne dans les régimes autoritaires“; so Maurice Duverger, Institutions politiques et droit constitutionnel, 13. Aufl., Paris 1973, Bd. 1, S. 175. 473 Hierzu Chevallier (FN 450), S. 25. 474 Näheres Eric Maulin, Le Principe du contrôle de la constitutionnalité des lois dans la pensée de R. Carré de Malberg, RFDC 1995, S. 79 ff. 475 Raymond Carré de Malberg, Contributions à la théorie générale de l’État, vol. 1, 1920, S. 492; hierzu auch Chevallier (FN 450), S. 31 f. Zur Einordnung der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch den Conseil Constitutionnel als „facteur de progrès de l’État de droit“ siehe Israel (FN 361), S. 274.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

c) Verwirklichung des État de droit unter der Verfassung von 1958476? „(. . .) the État de droit in France is more incipient than fully realised.“477

Die Wiederbelebung der Rechtsstaatsidee ist weniger eine Wiederentdekkung der deutschen Konzeption des Rechtsstaats oder eine Rückkehr zum Rechtspositivismus, als vielmehr eine Reflexion der Geschichte und Philosophie des Rechtsstaats. Das fortbestehende Mißtrauen gegenüber der Justiz scheint weiterhin jede Konzeption auszuschließen, in der der Richter als „Hüter der Verfassung“478 eine tragende Rolle spielt. Die Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze wurde auch durch die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel vorangetrieben. Zentral ist hierbei die Leitentscheidung vom 16. Juli 1971479, in der der Conseil Constitutionnel seine Zuständigkeit ausgeweitet und sie auf die Kontrolle der Vereinbarkeit von Parlamentsgesetzen mit den Grundrechten, wie sie in der Präambel der Verfassung von 1946 und der Erklärung von 1789 enthalten sind, erstreckt hat. Damit fand die ursprüngliche Idee von Sieyès und Carré de Malberg ihre Verwirklichung. Obwohl diese Kontrolle als Element eines Rechtsstaatsprinzips eingestuft werden kann, spricht der Conseil häufig nur vom principe de légalité480. Daß er den Begriff „Etat de droit“ nie verwendet481, ist jedoch nicht richtig482. 476 Siehe die Überschrift bei Boutet (FN 456), S. 231: „La Vème République est un État de droit.“ 477 Vincent Wright, The fifth Republic: From the Droit de l’État to the État de droit?, West European Politics 22, 1999, S. 92 ff. 478 Wright (FN 477), S. 94. 479 CC 71-44 DC vom 16. Juli 1971, cons. 2. 480 Siehe beispielsweise CC 89-268 DC vom 29. Dezember 1989, cons. 56; CC 93-335 DC vom 21. Januar 1994, cons. 3; CC 2004-492 DC vom 2. März 2004, cons. 14. Letztere Entscheidung bezieht sich auf den Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht. 481 So aber Rainer Grote, Rule of Law, Rechtsstaat and État de droit, in: Starck (Hrsg.), Constitutionalism, Universalism and Democrazy, 1999, S. 269 (294). 482 CC 89-261 DC vom 28. Juli 1989, cons. 14: „(. . .) qu’il est soutenu que cette suppression fait perdre à l’étranger en situation régulière le bénéfice de sa spécificité et aboutit à permettre à une situation illégale d’être créatice des droit, ce qui constituerait ‚la négation même de l’Etat de droit‘ (. . .).“ Im weiteren Verlauf der Entscheidung wird der Begriff État de droit jedoch nicht wiederholt; zudem wird durch die Anführungsstriche, die sich im Originaltext befinden, eine gewisse Distanz ausgedrückt. In CC 93-335 DC vom 21. Januar 1994 kritisieren die Abgeordneten eine gesetzliche Bestimmung, die das Recht auf den Zugang zu den Gerichten beschränkt, und bezeichnen dies als Verstoß gegen das „principe de légalite“ und den „État de droit“. Der Conseil Constitutionnel selbst macht zu einer Verletzung des État de droit keine Ausführungen.

C. Französische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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Gerade in den 1970er Jahren war das Schrifttum dann aber zurückhaltend mit Aussagen über Konzept und Inhalt des État de droit483. Als Wendepunkt kann die Rede des damaligen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing vom 8. November 1977 bezeichnet werden. In ihr bietet er eine Definition des État de droit, die gerade die Rolle der Richter hervorhebt: „(. . .) est celui dans le lequel chaque autorité, de la plus modeste de la plus haute, s’exerce sous le contrôle d’un juge, qui s’assure que cette autorité respecte l’ensemble des règles de compétence et de fond auxquelles elle est tenue.“484 In den 1980er Jahren wurde die Diskussion um die Lehre des État de droit in Frankreich neu belebt485. Der Rechtsstaat nach französischem Verständnis ist danach heute: „(. . .) l’État de droit n’est pas, en effet, l’État de n’importe quel droit; il est celui d’un droit exprimant les valeurs de liberté, d’égalité, de tolérance, faisant des individus des sujets titulaires de droits opposables à l’État, et leur reconnaissant les moyens institutionnels, juridictionnels notamment, de les faire prévaloir.“486

Damit betont der französische Rechtsstaat heutiger Prägung besonders die Stellung der Judikative487 im Vergleich zu den diesbezüglich negativen Aussagen während der französischen Revolution. Das Verhältnis der Richter zum Gesetz wird am Maßstab der Grundrechte und der Verfassung neu definiert488. Mit der Formel: „[La loi] (. . .) qui n’exprime la volonté générale que dans le respect de la Constitution“489 hat der Conseil Constitutionnel den Rang der Verfassung und damit auch der in ihr verbürgten Rechte über dem einfachen Gesetz bestätigt. Allerdings werden unter dem Dach des État de droit in der Lehre auch die Kritikpunkte des heutigen Systems der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit durch den Conseil Constitutionnel erörtert490. 483 Aus der Zeit siehe J.-P. Henry, Vers la fin de l’État de droit?, RDP 1977, S. 1208 ff.; Walter Leisner, L’État de droit-une contradiction?, in: Recueil d’études en Hommage à Charles Eisenmann, Paris 1977, S. 65 ff. 484 Abgedruckt bei Dominique Chagnollaud/Jean-Louis Quermonne, La Vème République, IV. L’État de droit et ja justice, Paris 2000, S. 348. 485 Näher siehe Chevallier (FN 450), S. 123. 486 Rousseau (FN 20), S. 460; so auch Chevallier (FN 450), S. 94; Bruno Oppetit, Philosophie du droit, Paris 1999, S. 96. In diesem Sinne auch Favoreu (FN 399), S. 873 RN 1222: „Les libertés publiques correspondent à l’etat légal c’est-à-dire au règne de la loi et de ce qu’Hauriou appelait le ‚régime administratif‘. Les droits et libertés fondamentaux correspondent à l’Etat de droit et à la suprématie des normes supra-législatives.“ 487 Franc ¸ ois Julien-Laferrière, L’État de droit et les libertés, in: Pouvoir et Liberté, Études offertes à Jacques Mourgeon, Brüssel 1998, S. 153 ff. (169). 488 Hierzu Favoreu (FN 383), S. 72, der die Entwicklung in folgende Worte kleidet: „La constitution a cesé d’être une ‚idée‘ pour devenir une ‚norme‘, c’est-à-dire une règle juridique obligatoirement sanctionné“. 489 CC 85-197 DC vom 23. August 1985, cons. 27.

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

Daß der einzelne keine Möglichkeit hat, den Conseil Constitutionnel direkt anzurufen, wurde dabei als ein wesentliches Manko des bestehenden Systems angesehen. Daran hat sich auch durch die Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 nicht grundlegend etwas geändert. Eine direkte Anrufung bleibt dem Rechtssuchenden weiterhin versperrt. Er kann lediglich im Rahmen eines anhängigen Rechtsstreits die Frage der Verletzung seiner verfassungmäßigen Rechte geltend machen mit der Folge, daß die Frage der Verfassungsmäßigkeit des betroffenen Gesetzes über die Cour de Cassation oder den Conseil d’Etat dem Conseil Constitutionnel vorgelegt werden kann. Der Conseil Constitutionnel trägt durch seine Rechtsprechung zunehmend zur Stärkung des État de droit bei491, indem er in seinen Urteilen die Gewährleistung jener essentiellen Rechte forciert, die „fondateur de l’État de droit“492 sind. d) Zwischenergebnis Die Diskussion um den Rechtsstaat französischer Prägung fokussiert sich hauptsächlich auf die Idee der gerichtlichen Kontrolle, insbesondere der Kontrolle von Gesetzen. Die dargestellte Entwicklung und das darin gezeigte Verständnis des État de droit erklären, weshalb es nie zu einer dem deutschen Verhältnis von Prozeßgrundrechten und Rechtsstaatsprinzip vergleichbaren Verknüpfung in Frankreich kam. So wird der État de droit keinesfalls, wie in Deutschland das Rechtsstaatsprinzip, zur Begründung von Unterprinzipien herangezogen. Ein Verständnis des Rechtsstaatskonzepts als „offenes Prinzip“ scheint in Frankreich insoweit nicht vorzuherrschen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß nicht andere Institute eine vergleichbare Funktion wahrnehmen. Als Geltungsgrund für Prozeßgrundrechte oder als Prinzip, das möglicherweise auftretende Lücken im rechtsstaatlichen Schutzniveau schließen kann, wird die Konzeption des État de droit zwar nicht angewandt. Allerdings scheint eine insoweit vergleichbare Funktion etwa dem ungeschriebenen Konzept der droit de la défense zuzukommen. 2. Funktion französischer verfassungsrechtlicher Grundsätze im Vergleich zum deutschen Rechtsstaatsprinzip als „offenem Prinzip“ Wie bereits gesehen, finden das droit au recours juridictionnel, das principe du contradictoire sowie der procès équitable ihre Verankerung zumin490 Zu Beispielen aus dem „grundsätzlichen System des Rechtsschutzes in Frankreich siehe Heuschling (FN 12), S. 417; kritisch Julien-Laferrière (FN 487), S. 161 ff. 491 Chagnollaud/Quermonne (FN 484), S. 102. 492 Chevallier (FN 450), S. 105.

D. Ergebnis für Frankreich

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dest auch im Konzept der droits de la défense. Als dessen Elemente haben sie in der Rechtsprechung Verfassungsrang zuerkannt bekommen, der im Einzelfall noch mit der Erklärung von 1789 weiter bekräftigt wurde. Wie gezeigt, handelt es sich bei dem Konzept der droits de la défense um ein ungeschriebenes Prinzip, dessen Inhalt durch die Rechtsprechung erweitert und präzisiert werden kann. Insoweit bestehen insbesondere in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren Parallelen zwischen den Ländern Frankreich und Deutschland: In Deutschland erfolgt der Rückgriff auf das eher unbestimmte Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, um das allgemeine Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren verfassungsrechtlich zu verankern, in Frankreich wird hierzu auf das ebenfalls unbestimmte Konzept der droits de la défense verwiesen. Unterprinzipien, die in Deutschland unter dem Begriff des Rechtsstaatsprinzips subsumiert werden können, finden sich im französischen Recht auch häufig unter Bezugnahme auf das principe de légalité oder das principe d’égalité devant la loi wieder. Diese drei Grundsätze können somit für den Bereich der Prozeßgrundrechte im Gegensatz zum État de droit als „offene Prinzipien“ verstanden werden. Denn ihre Inhalte sind anpassungsund wandlungsfähig und nicht im voraus statisch festgelegt. Durch Ausweitung und Ausdifferenzierung der Unterprinzipien trägt der Conseil Constitutionnel dazu bei, das Fehlen eines Systems des Individualrechtsschutzes auf Verfassungsebene auszugleichen, das aus deutscher Sicht als Lücke im rechtsstaatlichen Schutzniveau anzusehen wäre. Zudem ermöglicht etwa das unbestimmte Konzept der droits de la défense eine Anpassung an die Anforderungen der EMRK, ohne daß der Conseil Constitutionnel offen eine Überprüfung am Maßstab der Konvention vornimmt. Dies scheint insbesondere bei der Verankerung des Erfordernisses des procès équitable innerhalb der droits de la défense der Fall gewesen zu sein. Das Konzept nimmt damit eine dem deutschen Rechtsstaatsprinzip in Bezug auf die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen verfahrensrechtlichen Schutzniveaus vergleichbare Stellung ein493.

D. Ergebnis für Frankreich Auf Basis der deutschen Prozeßgrundrechte wurden auf einer ersten Analyseebene inhaltlich vergleichbare Rechtsinstitute in der französischen Rechtsordnung identifiziert. So findet sich auch im französischen Recht die 493 Rousseau/Meindl (FN 431), S. 94: „Le principe fondamental des droit de la défense constitue donc, dans la jurisprudence constitutionnelle, le principe à la base des droits de procédure duquel découle des exigences d’organisation et de structure.“

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

Idee eines effektiven Rechtsschutzes gegen die öffentliche Gewalt. Die verfassungsrechtliche Formulierungslücke hat der Conseil Constitutionnel insoweit unter Rückgriff auf das Konzept der droits de la défense und Art. 16 der Erklärung von 1789 geschlossen. In Bezug auf das Gebot des gesetzlichen Richters, des juge naturel, bestehen in der inhaltlichen Ausprägung Unterschiede, insbesondere unterliegt die Vorausbestimmung des im konkreten Einzelfall zuständigen Richter nicht so strengen Anforderungen wie in Deutschland. Sein verfassungsrechtliches Fundament erhält das Gebot des juge naturel als Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes. Auch das Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs weist eine Verbindung zu dem grundlegenden Prinzip der égalité devant la loi und zudem zu den droits de la défense auf. Im einzelnen ergeben sich aus ihm ähnliche Anforderungen für das gerichtliche Verfahren wie aus Art. 103 Abs. 1 GG. Unter dem principe de légalité und der Bezeichnung autorité de la chose jugée bzw. dem Grundsatz non bis in idem verbergen sich dem Art. 103 Abs. 2 und Abs. 3 GG vergleichbare Inhalte. Das Erfordernis eines procés équitable, eines fairen Verfahrens, hat der Conseil Constitutionnel ausdrücklich den droits de la défense entnommen und entsprechende verfahrensrechtliche Anforderungen abgeleitet. Die vergleichbaren Rechtsinstitute werden somit in beiden Ländern zum Teil unter verschiedenen Bezeichnungen geführt. Ein Verfassungsrang läßt sich für jedes von ihnen konstatieren mit Ausnahme des Verbots der Doppelbestrafung. Dieses Prinzip wurde vom Conseil Constitutionnel bisher noch nicht in den bloc de constitutionnalité aufgenommen, jedoch wurde ihm in der Rechtsprechung des Conseil d’État Verfassungsrang eingeräumt. Auf diese Rechtsprechung des Conseil d’État stützt sich die vorliegende Arbeit auch in ihrer Einschätzung des Verfassungsrangs des ne bis in idemGebotes in Frankreich. Auf dieser ersten Analyseebene konnte zudem die Tendenz in der Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel aufgezeigt werden, entgegen dem tradierten Mißtrauen gegenüber der Figur des subjektiven Rechts einige der herausgestellten Rechtsprinzipien mit einem stärker subjektiv-rechtlichen Gehalt anzureichern. Dies deutet sich insbesondere bei dem droit au recours juridictionnel an, das traditionell auf eine rein objektive Verwaltungskontrolle fokussiert war und bei dem sich mittlerweile subjektive Ergänzungen erkennen lassen494. Obwohl weder der Conseil Constitutionnel eine Überprüfung der Gesetze am Maßstab der EMRK vornimmt noch eine entsprechende explizite Bezugnahme erkennbar ist, läßt sich insbesondere im 494 Foulquier (FN 23), S. 691: „De plus l’idéal de l’État de droit et des droits fondamentaux joue en faveur de la réception officielle du droit subjectif à la légalité administrative et du droit subjectif au recours.“

D. Ergebnis für Frankreich

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Bereich der verfassungsmäßigen Verfahrensrechte eine Beeinflussung der Rechtsprechung gerade durch Art. 6 EMRK konstatieren. Dies hat zu Verflechtungen mit den traditionellen nationalen Konzepten durch Teilrezeptionen aus der EMRK beziehungsweise der Rechtsprechung des EGMR im Bereich der Verfahrensrechte geführt. So hat sich das Konzept des procès équitable mit dem gewachsenen und traditionellen Begriff der droits de la défense vermischt. Die Folge ist, daß in der Lehre teilweise keine klare Einordnung mehr erfolgt, ob es sich bei den genannten Prinzipien um selbständige, nebeneinander bestehende Konzepte handelt oder das eine nur eine Ausprägung bzw. ein Element des anderen ist. Der Verfassungsrang der Einzelrechte war bereits auf der ersten Analyseebene festgestellt worden. Auf der zweiten Ebene der Analyse wurde dann untersucht, ob und inwieweit die den deutschen Prozeßgrundrechten inhaltlich vergleichbaren Verfahrensrechte in der französischen Rechtsordnung auch als Grundrechte beziehungsweise als Prozeßgrundrechte bezeichnet werden können. Die Untersuchung anhand der für die deutschen Grundrechte herausgearbeiteten Einzelmerkmale ergab weitgehend vergleichbare Sicherungsmechanismen. Ein erstes Fazit hieraus ist die Feststellung, daß die französische Grundrechtskonzeption derzeit einem Begriffswandel unterliegt, der eine Änderung des bisherigen Grundrechtsverständnisses mit sich bringen könnte. So hat – zum einen bedingt durch den internationalen Sprachgebrauch, zum anderen beeinflußt durch die deutsche Grundrechtsbegrifflichkeit – der Begriff der libertés und droits fondamentaux in die französische Grundrechtsdiskussion Einzug gehalten. Ob daraus jedoch auch eine Annäherung an die deutsche Grundrechtsdogmatik folgt, ist in Frankreich innerhalb der Lehre umstritten. Auch die Bedeutung dieser Entwicklung wird unterschiedlich beurteilt. Fest steht jedoch, daß sich in Frankreich innerhalb der letzten Jahre eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem Begriff der droits fondamentaux und deren Konzeption entwickelt hat. Neben dem Verfassungsrang der französischen droits fondamentaux konnten vergleichbare Sicherungsmechanismen etwa für die Wesensgehaltsgarantie, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder auch für die Möglichkeit, einen veränderungsfesten Kern der Grundrechte zu kreieren, gefunden werden. Unterschiede bestehen insbesondere bei dem Merkmal der gerichtlichen Durchsetzbarkeit. Die festgestellten Eigenschaften rechtfertigen insgesamt eine Einordnung der französischen Verfahrensrechte als Prozeßgrundrechte. Ein gemeinsames Charakteristikum der deutschen Prozeßgrundrechte ist jedoch auch ihre Verwurzelung im Rechtsstaatsprinzip. Daher wurde auf der dritten Ebene untersucht, inwieweit auch die französischen Prozeßgrundrechte ihre Verwurzelung in einem dem Rechtsstaatsprinzip vergleichbaren Konzept finden und weshalb sich eine vergleichbare Verbindung von

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2. Kap.: Prozeßgrundrechte in Frankreich

Rechtsstaat und Verfahrensrechten nicht durchsetzen konnte. Aus der vorherigen Untersuchung der Einzelrechte ergab sich, daß häufig eine Rückkoppelung zu dem principe d’égalité devant la loi, dem principe de légalité oder dem Konzept der droits de la défense festzustellen war. Insoweit weisen auch die französischen Verfahrensrechte eine den deutschen Prozeßgrundrechten vergleichbare Verankerung in grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzipien auf. Darüber hinaus wurde gezeigt, daß das französische Konzept des État de droit sich primär mit der Frage der gerichtlichen Kontrolle von Gesetzen und dem Handeln der öffentlichen Gewalt befaßte. Die Notwendigkeit, ein dem deutschen Rechtsstaatsprinzip vergleichbares Konzept des État de droit zu entwickeln, wurde daher nicht gesehen. Auch wenn der deutsche Begriff des Rechtsstaats in der Bezeichnung État de droit seine begriffliche Entsprechung findet, sind die beiden Konzepte nicht kongruent. Ein Großteil der Elemente, die in Deutschland unter dem Rechtsstaatsprinzip verstanden werden, findet sich in Frankreich unter anderen Begrifflichkeiten, wie etwa dem principe de légalité. Soweit die französischen Prozeßgrundrechte betroffen sind, ist vereinzelt der Bezug zur Rechtssicherheit als Forderung des État de droit anzutreffen. Allerdings wird selten in aller Deutlichkeit im Zusammenhang mit einzelnen Verfahrensrechten auf den État de droit Bezug genommen, noch gar eine direkte und explizite Verortung der Prozeßgrundrechte im Konzept der État de droit vorgenommen. Aus der Entwicklung und dem daraus hervortretenden Verständnis des État de droit in Frankreich wird ersichtlich, daß es sich nicht um ein Prinzip handelt, aus dem Unterprinzipien ableitbar sind, die zur Schließung von Lücken im verfahrensrechtlichen Rechtsschutzniveau deduziert werden können. Diese Funktion übernimmt vielmehr das traditionelle Konzept der droits de la défense. Auf Grundlage der festgestellten funktionalen inhaltlichen Vergleichbarkeit, des Verfassungsrangs der verfahrensrechtlichen Institute und ihrer Verankerung in grundlegenden Verfassungsgrundsätzen erscheint es gerechtfertigt, von der Existenz von „Prozeßgrundrechten“ in Frankreich zu sprechen.

Drittes Kapitel

Prozeßgrundrechte in England A. Begriff der Prozeßgrundrechte und Grundprinzipien der englischen Verfassung Im Jahre 1969 bestritt A. W. Bradley im Hinblick auf das Fehlen einer geschriebenen Verfassung in England die Existenz von Prozeßgrundrechten: „In the absence of a written constitution, there are no fundamental guarantees of constitutional liberties in Britain, and hence no fundamental guarantees relating to judicial procedure.“1 Diesem Befund kann jedoch in dieser Form nicht zugestimmt werden, schließt er doch die Möglichkeit eines Nachweises von Prozeßgrundrechten in der englischen Rechtsordnung grundsätzlich aus. Zwar gibt es in England keine geschriebene Verfassung, die eine Lokalisierung von prozessualen Grundrechten erleichtert; bei genauerem Hinsehen ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild. So sind einfachgesetzliche Ausprägungen von prozessualen Garantien im statute law keine unbekannte Erscheinung, wie das prominente und bis heute gültige Beispiel der Habeas Corpus Akte von 1679 zeigt, die den gerichtlichen Schutz bei Verhaftungen sicherstellt. Zudem taucht in der englischen Literatur der Sammelbegriff fair trial rights2 auf, der für verschiedene prozessuale Garantien unterschiedlichen Geltungsgrundes steht. Auch der bis auf die Magna Charta zurückzuführende Begriff des due process of law umfaßt eine Reihe von Rechten, die wegen ihres umfassenden Anwendungsbereichs den deutschen Prozeßgrundrechten zumindest ähneln. Der Begriff selbst wird allerdings in England im Gegensatz zu den USA kaum verwendet, sondern häufig durch andere Bezeichnungen wie fair trial oder einfach nur fairness ersetzt. Diese ersten Hinweise zeigen, daß auch im englischen Verfassungssystem eine Suche nach Rechtsinstituten mit einem den deutschen Prozeßgrundrechten vergleichbaren Inhalt durchaus angebracht ist. Dabei weist das englische Verfassungssystem eine Reihe von Besonderheiten insbesondere im 1 Anthony W. Bradley, Judicial Protection of the Individual against the Executive in Great Britain, in: Mosler (Hrsg.), Gerichtsschutz gegen die Exekutive, 1969, S. 327 (348). 2 Siehe die Aufzählung unter dieser Überschrift bei Richard Clayton/Hugh Tomlinson, The law of Human Rights, Oxford 2000, S. 549 ff.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Vergleich zum deutschen auf. Da bei der angestellten Untersuchung häufig auf die englischen Verfassungsprinzipien zurückgegriffen wird, sind diese zunächst in gebotener Kürze zu erläutern.

I. Der englische Verfassungsbegriff Alexis de Tocqueville schrieb einst: „In England wird dem Parlament das Recht zuerkannt, die Verfassung zu ändern. Somit kann sich in England die Verfassung beständig wandeln, oder besser gesagt, sie ist gar nicht vorhanden.“3

Diese von A. de Tocqueville so plakativ beschriebene Situation weist auf Besonderheiten der englischen Rechtsordnung hin, die zu einem komplexen Verfassungsleben geführt haben, in dem alte und neue Bestimmungen auf vielfältige Weise verbunden sind. In England besteht weder eine einheitliche Kodifikation von Grundrechten in einer Verfassungsurkunde noch ein dezidierter Grundrechtskatalog4, so daß das englische Verfassungsrecht keine Verfassung im formellen Sinne nach der Definition Hans Kelsens5 kennt. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, daß England keine Verfassung hat6. Vielmehr zeichnet sich die englische Verfassung durch ein Nebeneinander unterschiedlichster Rechtsquellen aus7. Sie stellt sich als ein historisch ge3 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, übersetzt von Hans Zbinden, Zürich 1987, Bd. I, S. 146. Tocqueville schließt damit jedoch nicht die Existenz einer materiellen Verfassung aus. Aus dem Bezug auf die Verfassungsänderungskompetenz läßt sich schließen, daß er von einem formellen Verfassungsbegriff ausging. Vgl. zu dieser Äußerung Tocquevilles Eric Barendt, Constitutional Fundamentals: Fundamental Principles, in: Feldman (Hrsg.), English Public Law, Oxford 2004, S. 3 (6) RN 1.10; zum Verfassungsbegriff in England siehe auch Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Grossbritannien, Bd. I: Parlament, Regierung, Parteien, 1967, S. 43 ff. 4 Folgende deutsche Aufsätze befaßten sich in jüngerer Zeit mit dem Thema des Grundrechtsschutzes und der englischen Verfassung: Kurt Heller, Die Entwicklung der Grundrechte in England und im Vereinigten Königreich – Historisches und Aktuelles, JBl. 2002, S. 288 f.; Julian Rivers, Menschenrechtsschutz im Vereinigten Königreich, JZ 2001, S. 127 ff.; speziell zur Inkorporierung der EMRK die übersichtliche Darstellung von Marius Baum, Rights brought home: zur Inkorporierung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in das nationale Recht des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland, EuGRZ 2000, S. 281 ff. 5 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Unveränderter Nachdruck der ersten Aufl. von 1925, Wien 1993, S. 253. 6 Marius Baum, Der Schutz verfassungsmäßiger Rechte im englischen common law, Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Entwicklung des Verwaltungsrechts und des Human Rights Act 1998, 2004, S. 28, dort FN 1 mit umfangreichen Nachweisen zum Befund, das Vereinigte Königreich kenne keine Verfassungsurkunde, welche die Fundamentalnormen des Staates enthielte.

A. Begriff der Prozeßgrundrechte

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wachsenes Mosaik von Rechtsquellen aus verschiedenen Epochen dar, das nicht zuletzt auch ein Produkt politischer Konstellationen ist. Barendt definiert sie als „(. . .) refers to the collection of rules prescribing the powers of the principal political institutions – Parliament, the government and the courts – and the rights and liberties of individuals, wether or not they are incorporated in a single document (or in a limited collection of texts).“8. Dieses Fehlen einer geschriebenen Verfassung erschwert die Identifikation von Grundrechten, so daß der sorgfältigen Aufbereitung der Rechtsquellen große Bedeutung zukommt. Vor dem Hintergrund des Fehlens einer Verfassung im formellen Sinne9 – einer geschriebenen Verfassung im Sinne einer Verfassungsurkunde – wird daher zunächst ein kurzer Überblick über Rechtsquellen und Charakteristika der englischen Verfassung gegeben10. Ihre Grundlage ist zunächst das statute law, also Parlamentsgesetze, die von beiden Häusern des englischen Parlaments verabschiedet wurden. Hinzu treten die constitutional conventions11 (Verfassungsgebräuche, die Organisation und Verfahrensweise der politischen Institutionen regeln12) und einzelne anerkannte Verfassungstexte, bei denen es sich auch um statute law handelt13. Ebenfalls hinzuzuzählen sind das common law (Richter7 Vgl. die Aufzählung Thoburn v. Sunderland City Council (2002) 1 CMLR 1461 (1462). 8 Barendt (FN 3), S. 3 RN 1.02. 9 Zur den Definitionsschwierigkeiten von constitutional und constitutional law und dem Befund, der Begriff der Verfassung als technischer Begriff komme nur selten vor, Frederic William Maitland, The Constitutional History of England, Neudruck der Erstausgabe von 1908, Cambridge 1965, S. 527 f. Hierzu auch Michael Koch, Zur Einführung eines Grundrechtskatalogs im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland, 1991, S. 25 ff. 10 Ausführlich zu den Rechtsquellen Evelyn Ellis, Sources of Law and the Hierarchy of Norms, in: Feldman (Hrsg.), English Public Law, Oxford 2004, S. 44 RN 1.120 ff.; siehe auch Barendt (FN 3), S. 6 RN 1.09. 11 Ausführlich hierzu Karl-Uwe Meyn, Die „Constitutional Conventions“ in der britischen Verfassungsordnung, JöR n. F. 25, 1976, S. 133 ff., der sie auf S. 149 als „Sondernormart“ bezeichnet. Hierzu auch Geoffrey Marshall, Les règles constitutionnelles non écrites au Royaume – Uni, in: Avril/Verpaux (Hrsg.), Les Règles et Principes non écrits en droit public, Paris 2000, S. 101 ff. (mit Bezug zu Frankreich); Jane Wright/Howard Gilbert, Sources of Fundamental Rights, Länderbericht England and Wales in: Weber (Hrsg.), Fundamental Rights in Europe and North America, Loseblattslg. Stand: August 2002, S. 7 (mit dem Hinweis, daß die constitutional conventions auch eine Interpretationshilfe für die Gerichte liefern können, aber nur eine geringe Bedeutung im Bereich des Grundrechtsschutzes haben). 12 Barendt (FN 3), S. 14 RN 1.32, definiert sie als „principles of political or constitutional morality which are regarded as binding, but which are not legally enforceable“. 13 So etwa Magna Charta von 1215, Bill of Rights von 1689, Act of Settlement von 1701, Acts of Parliament 1911, 1949 und den European Communities Act 1972.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

recht bzw. ungeschriebenes Recht in der Form seiner Authentifizierung durch die Gerichte), die royal prerogatives14 (königliche Vorrechte) sowie einige Books of authorities15 (Lehrbücher). Diese Rechtsquellen sind in ihrer Gesamtheit als Quellen der englischen Verfassung anzusehen16. Vereinzelt finden sich so auch Gleichheitsrechte beziehungsweise Diskriminierungsverbote in separaten gesetzlichen Regelungen, ohne daß diese als Verfassungstexte angesehen werden17. Das Fehlen einer Kodifikation der unterschiedlichen Verfassungsvorschriften in einem kohärenten Gesamtwerk erklärt sich nicht zuletzt durch die Doktrin der Parlamentssouveränität (supremacy of parliament oder sovereignty of parliament)18. Diese wird daher im folgenden genauer vorgestellt.

II. Das Dogma der Parlamentssouveränität 1. Begriff Die Doktrin der Parlamentssouveränität fand bereits im ersten Band der Commentaries on the Laws of England von William Blackstone im Jahr 176519 Erwähnung, der sie allerdings noch unter den Vorbehalt des Naturrechts stellte. Weiterentwickelt wurde sie dann von Albert Venn Dicey20. Die absolute Souveränität des englischen Parlaments kann als maßgeblich dafür angesehen werden, daß zentrale Dokumente der englischen Verfas14

Diese werden letztlich vom Premierminister und dem Kabinett ausgeübt. Hier sind insbesondere aufzuführen: Edward Coke, Institutes of the Laws of England, 1628; William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 1765. Weitere Nachweise siehe bei Loewenstein (FN 3), S. 52 dort FN 2. 16 Albert Venn Dicey hat in seinem Werk „Introduction to the study of the law of the Constitution“, 10. Aufl., London 1959, Neudruck von 1961, S. 23, folgende Definition des englischen Verfassungsrechts gegeben: „(. . .) appears to include all rules which directly or indirectly affect the distribution or the exercise of the sovereign power in the state“. Das Standardwerk des englischen Verfassungsrechts erschien erstmals 1885, bis zur 8. Aufl. 1915 bearbeitete es Dicey selbst. Die künftigen Zitate beziehen sich, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes vermerkt auf die 10. Aufl. 17 So im Sex Discrimination Act 1975 und Race Relations Act 1976, hierzu auch Marc Elliott, The Constitutional Foundations of Judicial Review, Oxford/Portland 2001, S. 198. Vgl. auch Daniel Bergner, Grundrechtsschutz durch Verfahren, 1998, S. 7, der dies zu den Wertungen des Grundgesetzes ins Verhältnis setzt. 18 Hierzu Loewenstein (FN 3), S. 46. 19 Blackstone (FN 15), Bd. I, S. 156 f. Speziell zur geschichtlichen Entwicklung Loewenstein (FN 3), S. 62 ff.; Theodore Frank Thomas Plucknett, A concise history of the Common Law, 5. Aufl., London 1956, S. 48 ff. 20 Dicey (FN 16), S. 39 ff. und S. 70. Dicey hat sie als „the dominant characteristic of our political institutions“ und „the very keystone of the law of the constitution“ bezeichnet. Zur Entwicklung siehe Ellis (FN 10), S. 45 RN 1.121. 15

A. Begriff der Prozeßgrundrechte

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sungsentwicklung wie die Magna Charta, die Habeas Corpus Akte oder die Bill of Rights nicht in einem einheitlichen Verfassungsdokument mit übergeordneter Geltungskraft zusammengefaßt wurden. Denn der Grundsatz absoluter Souveränität besagt, daß das Parlament befugt ist, jedes Gesetz unabhängig von seinem Regelungsgehalt zu erlassen und es auch wieder aufzuheben. Insoweit kann es weder ein das Parlament bindendes höherrangiges Recht geben noch eine Selbstbindung des Parlaments21. Kein Gesetz kann somit durch entsprechende Zusätze dem vollständigen Zugriff des nachfolgenden Parlaments entzogen werden22. Hieraus folgt bereits ein weiteres Charakteristikum des englischen Rechtssystems: Die legislative Allmacht des Parlaments hat zur Folge, daß jede inhaltliche Überprüfung von Parlamentsgesetzen im Sinne einer Normenkontrolle mit einer möglichen Verwerfungskompetenz durch die Gerichte entfällt. Die Rolle der Gerichte ist auf die Anwendung und Auslegung der Gesetze beschränkt. 2. Folgerungen für den Schutz der Rechte des einzelnen a) Rechtslage vor Inkrafttreten des Human Rights Act (HRA) Der Schutz der Rechte des einzelnen liegt nach englischem Verständnis in der Hand des Parlaments und der Gerichte. Die Möglichkeiten sowie auch die Reichweite beider Gewalten unterscheiden sich jedoch grundlegend von der deutschen Situation. Das englische Parlament wird als guardian of civil liberties angesehen23 und erhält damit unbeschränkte Regelungsbefugnis. Während das Parlament frei ist, jede Thematik gesetzlich zu regeln, sind die Befugnisse der Gerichte begrenzt. Sie sind dem Parlament untergeordnet und können die von diesem erlassenen Gesetze weder ignorieren noch für nichtig erklären24. Owen Hood Phillips beschreibt prägnant die Auswirkungen der Parlamentssouveränität auf den Grundrechtsschutz: 21

Barendt (FN 3), S. 30 RN 1.79. „Parliament cannot bind its successor“, Dicey (FN 16), S. 64 f. 23 Vgl. zur Rolle des Parlaments Anthony W. Bradley/Keith D. Ewing, Constitutional and administrative law, 13. Aufl., London 2003, S. 405, mit einem guten Überblick über relevante gesetzliche Regelungen. 24 Eine Ausnahme soll gelten, wenn ein Gesetz gegen europarechtliche Vorgaben verstößt. Insofern hat der European Communities Act zu einer gewissen Aufweichung des Dogmas der Parlamentssouveränität geführt. Ausführlich hierzu Baum (FN 6), S. 51 ff. und S. 86 ff., mit der Feststellung, daß der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts letztlich von den Gerichten unter Bewahrung des tradierten Verständnisses der Parlamentssouveränität umgesetzt wird. 22

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

„(. . .) there’s no legal limit to the extent to which Parliament can abridge or abolish rights which in many Constitutions are regarded as fundamental.“25

Damit betont er insbesondere, daß kein Recht dem Zugriff des Parlaments entzogen ist, so fundamental es auch sein mag. Ansätze in einem frühen Entwicklungsstadium des common law, der legislativen Omnipotenz des Parlaments Grenzen zu setzen26, fanden mit der Glorious Revolution bereits früh ein Ende. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang folgende Bestimmung der Bill of Rights, die die Errungenschaften der Revolution absicherte: „That the pretended power of suspending of laws or the execution of laws by regall authority without consent of Parlyament is illegal. That the pretended power of dispensing with laws or the execution of laws by regall authoritie as it hath been assumed and exercised of late is illegall.“27

Das Fundament des Dogmas der Parlamentssouveränität war damit errichtet. Die umfassende Gesetzgebungskompetenz des Parlaments unterliegt danach grundsätzlich keinen rechtlichen Grenzen28. Jedoch ist allgemein anerkannt, daß auch die gesetzgeberische Allmacht in der Praxis nicht unbegrenzt ausgeübt werden kann. Der offene Widerspruch zum Begriff der Souveränität, der an sich Unteilbarkeit und Unbegrenztheit suggeriert, ist Ausdruck einer unklaren Grenzziehung zwischen Recht und politischer Praxis in England. Das regulierende Gegengewicht zur Parlamentssouveränität wird in der Praxis in Anlehnung an die Ansicht Diceys zum einen im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung29 und zum anderen in der Möglichkeit der Abwahl der Regierung gesehen30. 25

Owen Hood Phillips, Reform of the Constitution, London 1970, S. 120. In dem bekannten Dr. Bonham’s Case (1610) 8 Cokes Reports 107 hat Coke selbst ausgeführt: „When an act of parliament is against the common right and reason or repugnant, or impossible to be performed, the common law will control it, and adjudge such act to be void“ (so zitiert bei Loewenstein (FN 3), S. 71). Allerdings kommt Coke in seinen späteren Werken darauf nicht mehr zurück. Vier Jahre später in Day v.Savadge (1614) Hob 85 heißt es: „. . . even an Act of Parliament made against natural equity, as to make a man judge in his own cause, is void in itself“. 27 Vgl. auch den Abdruck der deutschen Übersetzung bei: Die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, Beck-Texte im dtv, 5. Aufl., 2000, S. 570 (571). 28 Ausführlich hierzu Loewenstein (FN 3), S. 71, der auch aus der rule of law keine positivrechtlichen Begrenzungen ableitet. Rule of law versteht er dabei als ein die „gesamte zivilisierte Menschheit bindendes universales, übernationales Wertsystem“. 29 Siehe Liversidge v. Anderson (1942) AC 206 (261): „The safeguard of British liberty is in the good sense of the people and in the system of representative and responsible government which has been evolved.“ Kritisch hierzu Baum (FN 6), S. 40 f. 30 Dicey (FN 16), S. 71 ff.; hierzu auch Colin Munro, Studies in Constitutional Law, 2. Aufl., London/Edinburgh/Dublin 1999, S. 142 f. 26

A. Begriff der Prozeßgrundrechte

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Insbesondere seit Mitte der neunziger Jahre haben verschiedene Richter die Frage aufgeworfen, ob zumindest solchen Gesetzen die Anerkennung bzw. Anwendung versagt werden könne, die grundlegende Rechte verletzen31. Derartigen Bestrebungen wird jedoch entgegengehalten, daß jeder Gedanke einer richterlichen Überwachungsfunktion dem traditionellen und etablierten Verfassungsverständnis widerspreche32. Bisher existierten keine Normen, denen ein höherer Bestandsschutz als anderen zukommt, da jedes vom Parlament gesetzte Recht gleichermaßen den oben genannten Prinzipien unterworfen ist. Eine Änderung könnte sich jedoch durch das Inkrafttreten des Human Rights Act im Jahr 2000 ergeben haben33. b) Mögliche Änderung durch den Human Rights Act (HRA) „There has hitherto been, for example, no single written authoritative document which can be used as either a sword or a shield against government action. The Human Rights Act 1998 will, for the first time, provide both sword and shield.“34

Mit dem 1998 beschlossenen HRA war die Entscheidung für eine Inkorporierung der EMRK in das nationale Recht gefallen35 und mit seinem Inkrafttreten am 2. Oktober 2000 verwirklicht36. Die EMRK wird dabei nicht im eigentlichen Sinne des Wortes inkorporiert, denn sie gilt nicht – wie etwa das Europäische Recht – direkt wie originäres englisches Recht. Viel31 Vgl. im einzelnen Lord Woolf of Barnes, Droit Public – English Style, Public Law 1995, S. 57 (67 ff.); John Laws, Law and Democracy, Public Law 1995, S. 72 (81 ff.); Stephen Sedley, Human Rights: a Twenty – First Century Agenda, Public Law 1995, S. 386 f. 32 Lord Irvine of Lairg, Judges and Decision – Makers: the Theory and Practice of Wednesbury Review, Public Law 1996, S. 59 f. 33 Ausführlich, um nur eine kleine Auswahl aus der inzwischen überbordenden Literatur zum HRA zu nennen, Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 674 ff. RN 11.265 (speziell zu den fair trial rights); Dominic McGoldrick, The United Kingdom’s Human Rights Act 1998 in Theory and Practice, ICLQ 2001 (International and Comparative Law Quarterly), S. 901 ff. (speziell zum Ausschluß von Art. 13 auf S. 952); vgl. auch Elliott (FN 17), S. 218 ff. (insbesondere auch zu den Problemen der Inkorporierung). 34 Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 3. Aufl., London/Sydney 2000, S. 730. 35 Zur Entwicklung siehe Bradley/Ewing (FN 23), S. 416; Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated Convention on Human Rights, in: Human Rights, Constitutional Law and the Development of the English Legal System, Selected Essays, Lord Irvine of Lairg, Oxford/Portland/Oregon 2003, S. 17 ff. 36 Das Recht auf einen wirksamen Rechtsweg nach Art. 13 EMRK wird jedoch ausgenommen. Zur Vermutung, damit wolle die Regierung die schöpferische Tätigkeit der Richter in diesem Bereich beschränken, siehe Rivers (FN 4), S. 129 f.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

mehr werden Geltungskraft und Durchsetzbarkeit der in der EMRK gewährten Rechte, wie sie sich nach der Rechtsprechung des EGMR darstellen, durch die Mechanismen des HRA im englischen Recht gestärkt. Damit handelt es sich bei dem HRA um ein Umsetzungsregulativ37. Die Section 3 des HRA erkennt die allgemeine mittelbare Wirkung der Rechte der EMRK an und verpflichtet die Rechtsprechung, sowohl Gesetze als auch Verordnungen im Einklang mit der EMRK auszulegen38. Nach Section 6 ist jedes Handeln der öffentlichen Gewalt widerrechtlich, das im Widerspruch zu den Rechten der EMRK steht. Damit werden die bestehenden Verfahren durch neue Beschwerdegrundlagen erweitert, ohne jedoch eine neue eigenständige Verfahrensart hinzuzufügen39. Lediglich die Richter der Oberen Gerichte, insbesondere das House of Lords, haben die Befugnis erhalten40, eine Unvereinbarkeitserklärung (declaration of incompatibility) abzugeben, soweit sich Gesetze nicht nach Section 3 konventionskonform auslegen lassen. Die Möglichkeit der Unvereinbarkeitserklärung stellt eine Neuheit im englischen Verfassungsrecht dar, die jedoch nicht zur Unwirksamkeit der betreffenden gesetzlichen Vorschrift führt. Vielmehr ermöglicht sie dem Parlament ein beschleunigtes Verfahren zur Gesetzesänderung41. Die Folgen der Einführung des HRA sind von den Richtern des House of Lords unterschiedlich beurteilt worden42. Denjenigen, die Auswirkungen 37 Richard Buxton, The Human Rights Act and the substantive criminal law, Crim.L.R. 2000, S. 331 (334 f.); Lord Lester of Herne Hill/Lydia Clapinska, Human Rights and the British Constitution, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, Oxford 2003, S. 62 (82). 38 So heißt es im White Paper, Rights Brought Home, Cm 3782 (1997), 2.7.: „This goes beyond the present rule which enables the courts to take the Convention into account in resolving any ambiguity in a legislative provision. The courts will be required to interpret legislation so as to uphold the Convention rights unless the legislation itself is so clearly incompatible with the Convention that it is impossible to do so.“ Ausführlich hierzu Baum (FN 4), S. 295. 39 Rivers (FN 4), S. 130. 40 Section 4 (5) – so etwa auch das Judicial Committee of the Privy Council; Courts-Martial Appeal Court etc.; hierzu auch Baum (FN 4), S. 297 ff. (auch zur Frage, was geschehen soll, wenn trotz einer Unvereinbarkeitserklärung keine Anpassung des Gesetzes erfolgt. Der HRA schweigt zu dieser Frage und ist vom Gesetzgeber wohl bewußt offen gelassen worden.). 41 Section 10. 42 So heißt es in: S (Children) (Care Oder: Implementation of Care Plan), Re (2002) 2 AC 291 (312) über section 3 als „a powerful tool whose use is obligatory. It is not an optional canon of construction. Nor is its use dependent on the existence of ambiguity“. Zur Rolle von Section 3 und der Unvereinbarkeitserklärung siehe R. v. A. (No. 2) (2002) 1 AC 45 (68). Insgesamt hierzu auch Noel Whitty, Thérèse Murphy, Stephen Livingstone, Civil Liberties Law: The Human Rights Act Era, London 2001, S. 48 f.; Lord Irvine, The Impact of the Human Rights Act: Parlia-

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und Einflußnahme durch den HRA überwiegend optimistisch und positiv beurteilen43, stehen skeptische Stimmen gegenüber44. Im Ergebnis unterstützt der HRA jedoch die konventionelle Sichtweise, da die Aufhebung oder Abänderung eines Gesetzes in der alleinigen Verfügungsgewalt des Parlaments verbleibt45. Damit behauptet sich die Parlamentssouveränität weitgehend gegen das in seiner rechtlichen Bindungswirkung schwache Instrument der Unvereinbarkeitserklärung46. Lord Steyn hat dies prägnant formuliert: „It is crystal clear that the carefully and subtly drafted Human Rights Act 1998 preserves the principle of parliamentary sovereignty.“47

Der HRA ist zwar ein ambitionierter Versuch, das englische Grundrechtsverständnis zu modernisieren, ohne wesentliche Bestandteile des tradierten ment, the Courts and the Executive, Public Law 2003, S. 308 ff.; ders. (FN 35), S. 17 („constitutional change of major significance“). 43 So wohl R. v. Offen (2001) 1 WLR 253. 44 R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Simms (2000) 2 AC 115 (131): „Parliamentary sovereignity means that Parliament can, if it chooses, legislate contrary to fundamental principles of human rights. The Human Rights Act 1998 will not detract from this power. The constraints upon its exercise by Parliament are ultimately political, not legal.“ Zu den ungeklärten Fragen des HRA, siehe Rivers (FN 4), S. 131, insbesondere zur Frage des Verhältnisses zum common law. 45 So R. (Anderson) v. Secretary of State for the Home Department (2003) 1 AC 837 (895): „(. . .) it (das Parlament A. d. V.) remains supreme and that if a statute cannot be read so as to be compatible with the Convention, a court has no power to override or set aside the statute. All that the court may do, pursuant to s 4 ofth 1998 Act, is to declare that the statute is incompatible with the Convention. It will then be for Parliament itself to decide wether it will amend the statute so that it will be compatible with the Convention. Therefore if a court declares that an Act is incompatible with the Convention, there is no question of the court being in conflict with Parliament or of seeking or purporting to override the will of Parliament. The court is doing what Parliament has instructed it to do in s 4 of the 1998 Act.“ Siehe auch Hilaire Barnett, Constitutional and Administrative Law, 6. Aufl., London 2006, S. 513 ff. 46 Ebenso wie für den European Communities Act 1972 stellt sich für den HRA die Frage, wie verhindert werden soll, daß das Parlament das Gesetz als Ganzes wieder abschafft. Die Möglichkeit dazu hat es aufgrund des weiterhin ungebrochenen Dogmas seiner legislativen Allmacht. Die fehlende Wahrscheinlichkeit angesichts der politischen Realität ändert nichts an der grundsätzlichen rechtlichen Zulässigkeit. Allerdings ist der HRA lediglich Auslegungsregel und gibt bestimmten Gerichten die Befugnis zur Unvereinbarkeitserklärung. Spätere Gesetze, die im Widerspruch zur EMRK erlassen werden, würden eine Unvereinbarkeitserklärung nach sich ziehen und nicht zur einer Abschaffung bzw. entsprechenden Änderung des HRA führen. Hierzu auch Rivers (FN 4), S. 132. 47 In R. v. Director of Public Prosecutions, ex parte Kebilene (1999) 3 WLR 972 (981).

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Verfassungsverständnisses aufzugeben48. Soweit es darum geht, Gesetze tatsächlich zu ändern, obsiegt jedoch das Beharrungsvermögen des etablierten Systems49. In England selbst gehen die Meinungen darüber auseinander, ob der HRA das Ziel eines neuen Grundrechtsverständnisses in Verbindung mit einem besonderen Grundrechtsschutz erfüllt hat50. Unbestreitbar liefert er jedoch einen neuen Ansatz gerichtlicher Kontrolle in einem bisher geradezu hermetisch abgeschlossenen System, das hauptsächlich auf das Dogma der Parlamentssouveränität ausgerichtet war51. Wenn er auch noch keine grundlegende Transformation des Grundrechtsverständnisses bewirken konnte, so kündigt er dennoch einen Wandel im Denken an.

III. Das Verfassungsprinzip der rule of law 1. Begrifflichkeit Dem kontinentaleuropäisch geprägten Juristen sticht ins Auge, daß der Begriff rule of law keine Verbindung zum Begriff des Staates beinhaltet52, während sowohl der französische État de droit als auch die deutsche Bezeichnung „Rechtsstaat“ einen direkten Bezug zum Begriff „Staat“ herstellen. Für die Bezeichnung des Phänomens „Rechtsstaat“ finden sich im englischen Schrifttum unterschiedliche Ansätze53: Während sich Dicey in seinen Ausführungen auf die Bezeichnung rule of law bezog; bevorzugten andere Autoren etwa den Begriff reign of law54. Letztendlich durchgesetzt 48 Zu der Prämisse, die Struktur des HRA spiegele das Ziel der Regierung wieder siehe Bradley/Ewing (FN 23), S. 418: „courts should not have the power to set aside primary legislation, past or future, on the ground of incompatibility with the Convention.“ Siehe auch Elliott (FN 17), S. 201 FN 32 m. w. N. 49 R. (Alconbury Ltd.) v. Environment Secretary (2003) 2 AC 295 (325): „(. . .) decisions as to what the general interest requires are made by democratically elected bodies or persons accountable to them.“ 50 Elliott (FN 17), S: 201 m. w. N. in FN 35 für die Ansicht, daß eine weitergehende Umsetzung, wie beispielweise in Kanada, erfolgt wünschenswert gewesen wäre. 51 Allgemein zur Aufbruchstimmung des common law, siehe Patrick Glenn, La Civilisation de la Common Law, RIDC (Revue internationale de droit comparé) 1993, S. 559 ff.; vgl. auch Lord Irvine of Lairg, Constitutional Change in the United Kingdom: British Solutions to Universal Problems (FN 35), S. 37 (44 und 46). 52 Denn es heißt nicht „state of law“, wie die wörtliche Übersetzung wäre. 53 John Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980, S. 272, der Rechtsstaat mit „constitutional government“ übersetzt. Vgl. auch Barendt (FN 3), S. 33 RN 1.88: „rule of law means little more than a principle of legality [. . .] it is an important aspect of constitutional law in England.“ 54 So etwa Ivor Jennings, The Law and the Constitution, 3. Aufl., 1943, Neudruck London 1948, S. xi und S. 53 FN 1, der vorher den Begriff reign of law favo-

A. Begriff der Prozeßgrundrechte

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und heute vermehrt sowohl in Rechtsprechung als auch im Schrifttum zu finden ist die Bezeichnung rule of law. Erste Spuren dieser Begrifflichkeit werden von den englischen Autoren unterschiedlich weit zurück datiert. Dies hängt u. a. davon ab, ob als Untersuchungsansatz der Inhalt der Bezeichnung oder lediglich sein abstraktes Auftauchen herangezogen wird. Nach Dicey55 erschien die Bezeichnung rule of law bereits unter Henry VI. in ihrem Verständnis als Herrschaft des Rechts. Auch William Huse Dunham weist auf einige entsprechende Fundstellen gegen Ende des 16. Jahrhunderts hin56. Friedrich August von Hayek hingegen datiert die erste Formulierung des Prinzips auf das Jahr 160057. Er bezieht sich dabei auf eine Übersetzung des Titus Livius, in der es heißt: „the autority and rule of laws, more powerful and mighty than those of men“. Anfang des 17. Jahrhunderts findet sich in der Argumentation des House of Commons folgende Formulierung, die als Petition of Grievances bekannt wurde: „Amongst many other points of happiness and freedom which our Majesty’s subjects (. . .) have enjoyed under (. . .) Kings and Queens of this Realm, there is none which they have accounted more dear and precious than this, to be guided and governed by certain rule of law (. . .) and not by any uncertain or arbitrary form of government.“58

Damit war – soweit ersichtlich – erstmalig die rule of law im Sinne der Herrschaft des Rechts als Gegenstück zur Willkürherrschaft Gegenstand eines offiziellen Dokuments59.

risierte und in der Neuauflage darauf hinweist, daß er das 2. Kapitel seines Buches überarbeitet und dabei den Begriff rule of law wieder eingeführt habe, u. a. weil er als die „best translation of Rechtsstaat“ gelte. Als einer der Hauptkritiker Diceys betont Jennings jedoch, daß er ihn nicht in dessen Sinne verstanden wissen wolle. In der fünften Aufl. fehlt dieser Hinweis. 55 Dicey (FN 16), S. 107. 56 William Huse Dunham, Regal Power and the Rule of Law: a Tudor Paradox, Journal of British Studies, vol. 3, 1964, S. 24 (53). 57 Vgl. Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Übersetzung aus dem Englischen, 2. Aufl., 1983, S. 205 f. FN 33, unter Bezugnahme auf die Übersetzung durch Philemon Holland. Speziell zur ideengeschichtlichen Entwicklung des Begriffs auf S. 195 ff. 58 Zitiert bei Jacques-Yvan Morin, The Rule of Law and the Rechtsstaats Concept: A comparison, in: McWhinney u. a. (Hrsg.), Federalism-in-the-Making, Dordrecht 1992, S. 62. Siehe auch Hayek (FN 57), S. 208; der Anlaß der Petition of Grievances waren Regeln, die der König für die Bauern in London erlassen hatte; sie verboten die Erzeugung von Stärke aus Weizen. 59 Michel Troper, Le concept de l’État de droit, Droits 1992, S. 51 (54 f.), der inhaltliche Konkretisierungsprobleme der rule of law im Vergleich zu dem französischen Konzept des État de droit erörtert.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

2. Prägung der rule of law-Konzeption durch Dicey Der zumindest prima facie mit dem deutschen Rechtsstaatsprinzip vergleichbare Ausdruck der rule of law wurde maßgeblich durch den Verfassungsrechtler Dicey Ende des 19. Jahrhunderts im englischen Verfassungsrecht verbreitet. Seine Ausführungen bilden auch heute noch den Grundstein für das Verständnis der rule of law, die er selbst als „fundamental principle of the constitution“60 bezeichnete, wenn auch ihre eigentlichen Wurzeln sehr viel älter sind61. Dicey wird damit zu Recht als der Gründungsvater der englischen rule of law-Konzeption bezeichnet.62 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit seinen Argumenten ist an dieser Stelle weder möglich noch notwendig63. Deshalb werden im folgenden lediglich die Eckpunkte seiner Auffassung dargestellt. 3. Die drei Hauptbedeutungen der rule of law nach Dicey Diceys Doktrin der rule of law beruht im Kern auf drei Säulen64, die Ausdruck seines Verständnisses einer „unitary, self-correcting democracy“65 sind. Die erste Säule der rule of law im Sinne Diceys ist die Begrenzung staatlicher Machtausübung66. Dadurch soll jedwede Willkür durch gesetzmäßiges Handeln ausgeschlossen werden67. Die zweite Säule betrifft die for60

Dicey (FN 16), S. 202. Luc Heuschling, État de droit, Rechtsstaat, Rule of Law, Paris 2002, bezeichnet das 17. Jahrhundert als „premier acte de l’histoire de la rule of law“ (Hervorhebung im Originaltext), S. 167. Siehe jedoch Dicey (FN 16), S. 183, der sich bis auf das Jahr 1066 zurück bezieht. 62 In diesem Sinne Baum (FN 6), S. 94 m. w. N. 63 Hierzu vgl. die kritischen Ausführungen von Eibe Riedel, Kontrolle der Verwaltung im englischen Rechtssystem, 1976, S. 234 ff. Grundlegend auch die Ausführungen Heuschlings (FN 61), S. 240 ff., der sich auch ausführlich mit den Kritikern Diceys auseinandersetzt. Hayek (FN 16), S. 262 ff., wirft Dicey vor, er habe durch seine rule of law-Doktrin bewirkt, daß die Idee von gesonderten Verwaltungsgerichten und eines Verwaltungsrechts zum Inbegriff der Leugnung der rule of law in England wurde. Auf diese Weise hat Dicey eine Entwicklung gehemmt, die zur Verwirklichung der rule of law beigetragen hätte. 64 Zusammenfassend Dicey (FN 16), S. 202 f. 65 Siehe Paul Craig, Dicey: Unitary, Self-correcting Democracy and Public Law, Law Quarterly Review 1990, S. 105 f., der Diceys Verständnis der Parlamentssouveränität und der rule of law, die sich auf sein Verständnis einer repräsentativen Demokratie gründe, kritisch beleuchtet. A. A. T.R.S. Allan, Legislative Supremacy and the Rule of Law: Democracy and Constitutionalism, Cambridge Law Journal (CJL) 1985, S. 111 f. 66 Siehe Jeffrey Jowell, The Rule of Law today, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, 5. Aufl., Oxford 2004, S. 5 ff. 61

A. Begriff der Prozeßgrundrechte

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melle Gleichbehandlung im Gegensatz zu einem materiellen Gleichbehandlungspostulat und verlangt, daß jeder vor dem Gesetz gleich zu behandeln ist68. Dicey lehnte das französische Verwaltungsrecht und eine nach Anliegen getrennte Gerichtsbarkeit ab69. Die Einrichtung einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit bedeutete seiner Ansicht nach einen Verstoß gegen ein formell verstandenes Gleichbehandlungsgebot, da mit der Trennung der Gerichtsbarkeiten, den Bürgern der Weg zu den ordentlichen Gerichten versperrt wäre. Der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten sowie die Unterwerfung unter die ordentliche Gerichtsbarkeit unabhängig vom jeweiligen Stand des Bürgers ist für ihn jedoch zentraler Aspekt der rule of law. Ihre dritte Säule beruht auf der Prämisse Diceys, daß die englische Verfassung nicht Quelle, sondern Ergebnis des durch die Gerichte geformten common law ist. Die rule of law war für ihn daher der Begriff für „security given under the English Constitution to the rights of individuals“70. Daraus leitet Dicey die grundsätzliche Forderung an die Rechtsordnung ab, entsprechende Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen, da erst diese den Rechten zu ihrer Wirksamkeit verhelfen71.

IV. Zwischenergebnis Die Konzeption Diceys hat auch heute noch Gültigkeit, wurde allerdings weiter ausdifferenziert und untergliedert. Die englische Verfassung ist ge67

Dicey (FN 16), S. 188 f.: „(. . .) that no man is punishable or can lawfully be made to suffer in body or goods except for a distinct breach of law established in the ordinary legal manner before the ordnary courts of the land.“ Dieser Aspekt beinhaltet den Satz nulla poena sine lege, auf den später noch näher einzugehen sein wird. Für Dicey war diese Formulierung Ausdruck eines allgemeinen Legalitätsprinzips. Kritisch statt vieler Ivor Jennings, The Law and the Constitution, 5. Aufl., London 1959, Neudruck 1964 S. 54 ff. 68 Dicey (FN 16), S. 193 f.: „We mean (. . .) when we speak of the ‚rule of law‘ as a characteristic of our Country, not only that with us no man is above the law, but (what is a different thing) that every man, whatever be his rank or condition, is subject to the ordinary law of the realm and amenable to the jurisdiction of the ordinary tribunals.“ 69 „It means, again, equality before the law, or the equal subjection of all classes to the ordinary law of the land administered by the ordinary law courts“, Dicey (FN 16), S. 202. 70 Dicey (FN 16), S. 184. 71 Dicey (FN 16), S. 198 f. Die Idee einer Bill of Rights lehnte Dicey, in Übereinstimmung mit Bentham, ab. Seiner Ansicht nach würden bei in einem Verfassungstext verbrieften Rechten nicht ausreichend auf die Möglichkeit ihrer Durchsetzung durch entsprechende Rechtsbehelfe geachtet. In der englischen Verfassung sei jedoch das Prinzip ubi ius ibi remedium von besonders großer Bedeutung. Siehe auch hierzu Paul Craig, Fundamental Principles of Administrative Law, S. 689 ff., in: Feldman (Hrsg.), English Public Law, Oxford 2004, S. 706 RN 13.44.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

kennzeichnet durch „no formal hierarchy is ascribed to the different sources of law which are recognised by the courts“72. Der englische Verfassungsbegriff73, der fest in der Rechtstradition des common law verankert ist74, deckt sich im Ergebnis mit der Definition der materiellen Verfassung von Hans Kelsen75. Das Bejahen des Vorliegens einer Verfassung entbindet jedoch nicht von der Schwierigkeit der Identifikation der einzelnen Verfahrensrechte selbst, die folgend untersucht werden.

B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts I. Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt Die klassische Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht war dem englischen Rechtsverständnis lange Zeit unbekannt76. Entsprechend ist auch das Verwaltungsrecht als eigenständige Materie in England noch eine sehr junge Disziplin. Dies beeinflußte nicht zuletzt die Entwicklung des gerichtlichen Schutzes des einzelnen gegen Maßnahmen der Verwaltung. Die Frage nach dem Verwaltungsrechtsschutz war daher bereits häufig Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen77 und ist auch in dieser Arbeit kurz aufzugreifen. Denn nur aus der Geschichte und Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes kann das System der Kontrolle von Exekutiventscheidungen, wie es heute in England praktiziert wird, erklärt werden. 72

Ellis (FN 10), S. 44 RN 1.120. Vgl. die bis heute als gültig anzusehende Definition bei Dicey (FN 16), S. 23: „(. . .) all rules which directly or indirectly affect the distribution or the exercise of the sovereign power in the state. Hence it includes (among other things) all rules which define the members of the sovereign power, all rules which regulate the relation of such members to each other, or which determine the mode in which the sovereign power, or the members thereof, exercise their authority.“ 74 Owen Dixon, The Common law as an Ultimate Constitutional Foundation, ALJ 31 (1957), S. 240. Siehe aber Stephen Sedley, The sound of silence: Constitutional law without a constitution, Public Law 1994, S. 270. 75 Hans Kelsen (FN 5), S. 252. 76 Zu den historischen Hintergründen siehe Stanley A. de Smith/Harry Woolf/Jeffrey L. Jowell, Judicial Review of Administrative Action, 5. Aufl., London 1995, S. 5 RN 1-006 ff. Zu einer aktuellen Analyse der heute noch, etwa von Carol Harlow vertretenen Ansicht, daß eine Trennung von öffentlichem und Privatrecht nicht nötig sei, siehe Michael Taggart, The Pecularities of the English: Resisting the Public/Private Law Distinction, in: Craig/Rawlings (Hrsg.), Law and Administration in Europe, Oxford 2003, S. 107 ff. 77 Riedel (FN 63); Michael Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997; Reinhard Wiesner, Administrative Tribunals in Großbritannien, 1973. 73

B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts

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1. Historische Entwicklung Bis 1960 gab es in England kein ausreichendes Kontrollsystem von Exekutiventscheidungen78. Dieser Befund ist Ausdruck von Diceys prägendem Einfluß und seiner Skepsis gegenüber jeder Form des Verwaltungsrechts. Insbesondere seine Lehre der rule of law begründete die Ablehnung eines gesonderten Verwaltungsrechts und einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit als Antithese zum französischen Verwaltungsrecht und seiner Verwaltungsgerichtsbarkeit, insbesondere des Conseil d’État. In der Existenz einer gesonderten Verwaltungsgerichtsbarkeit sah er einen eklatanten Widerspruch zu dem Prinzip der rule of law79. In der Folgezeit verfestigte sich die Auffassung, daß die rechtlichen Grundlagen der Verwaltung in erster Linie die Erfüllung ihrer staatlichen Aufgaben ermöglichen und nicht dem Bürger gerichtliche einklagbare Rechte verschaffen sollten. Damit einher ging die Zurückhaltung der Gerichte bei der Überprüfung exekutiven Handelns, die sich insoweit einen gewissen judicial self restraint auferlegten80. Die Kontrolle der Exekutive sollte entsprechend dem Prinzip der absoluten Parlamentssouveränität weitestgehend auf politischer Ebene erfolgen. Um die Tätigkeit der Exekutive nicht durch langwierige gerichtliche Verhandlungen zu belasten, gingen die Gerichte von der Vermutung der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit exekutiven Handelns aus. Der damalige Lord Chief Justice sah sich bezeichnenderweise nicht gehindert, im Jahre 1935 den Begriff „administrative law“ als „continental jargon“ zu diskreditieren81. Diese Äußerung drückte das fortbestehende Mißtrauen gegenüber Verwaltungsrecht aus, das als „unenglisch“ empfunden wurde. Allerdings schwächten die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der wachsende Einfluß der öffentlichen Hand im Rahmen des sich entwickelnden Wohlfahrtsstaates die ablehnende Haltung gegenüber einem gesonderten Verwaltungsrecht. Seit den späten fünfziger Jahren begann sich der Gedanke an eine Kontrolle der Exekutive und eine stärkere Rolle der Gerichte zu verfestigen. Daraus erwuchs das Bewußtsein, daß aufgrund der zunehmenden Machtfülle der öffentlichen Gewalt der einzelne die Möglichkeit 78

Ausführlich zur Entwicklung Bradley (FN 1), S. 327–331; ders., Le Human Rights Act de 1998 et contrôle judiciaire de l’action administrative au Royaume Uni, in: Les droits individuels et le juge en Europe, Mélanges en l’honneur de Michel Fromont, Straßburg 2001, S. 75 (77–82), wo er einen aktuellen Abriß der Entwicklung unter Einbeziehung des HRA gibt. 79 Dicey (FN 16), S. 328–405. Siehe hierzu die Ausführungen unter A. III. 3. 80 de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 6 RN 1-009. 81 Nachweis bei Stanley A. de Smith/John M. Evans, Judicial Review of Administrative Action, 4. Aufl., London 1980, S. 6 FN 16.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

und auch die Befugnis haben müsse, deren rechtmäßige Wahrnehmung auch kontrollieren zu lassen. Die Kontrolle der Verwaltung sollte umfassend, rechtlich fassbar und nicht mehr allein auf politischer Ebene stattfinden, sondern auch durch die Judikative durchgeführt werden. Verwaltungsstreitigkeiten wurden bis dahin von den ordentlichen Gerichten nach den gleichen Grundsätzen entschieden, die auch bei Privatstreitigkeiten galten. Mit dem Wandel der Rolle der Verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg ändert sich dies zugunsten einer kontinuierliche Ausdehnung der Idee einer eigenständigen Verwaltungskontrolle82. 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung Die Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen die Exekutive und damit verbunden das Recht auf Zugang zu den Gerichten als ein wesentlicher Aspekt des Erfordernisses effektiven Rechtsschutzes findet in der englischen Rechtsordnung seinen Ausdruck in der Bezeichnung des right of access to the courts. a) Wesen des right of access to the courts Das right of access to the court bzw. right of access to justice hat eine lange Tradition im common law und wird in der Literatur als eines der „(. . .) rights regarded of spezial importance by the common law (. . .).“83 bezeichnet. Dieses Recht des einzelnen, Zugang zu den Gerichten zu erhalten, wird zudem als constitutional right eingeordnet84. Diese Gewährleistung ist Ausfluß der rule of law, den staatlichen Machtmißbrauch zu unterbinden und zu kontrollieren sowie eine ordnungsgemäße Verfahrensführung zu garantieren85. Seine grundlegende Bedeutung als constitutional right betont auch Richter Rose: 82 de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 8 RN 1-011 ff., zu den einzelnen Entwicklungsstufen im Verlauf der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. 83 William Wade/Christopher Forsyth, Administrative Law, 9. Aufl., Oxford 2004, S. 392, zählen das „right of access to the courts“ als eines der „basic rights“ u. a. neben dem Recht auf Leben, der Freiheit der Person auf. 84 Weitere Nachweise bei Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 556 f. RN 11.15 ff. Siehe auch R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Anderson (1984) 1 Q.B. 778, wo das Recht eines Gefangenen, seinen Anwalt zu konsultieren und Rat zu empfangen, als untrennbarer Teil des right of access to the courts angesehen wird. 85 In diesem Sinne siehe R. (on the application of Anufrijeva) v. Secretary of State for the Home Department (2003) 3 WLR 252.

B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts

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„It seems to me, from all the authorities to which I have referred, that the common law has clearly given special weight to the citizen’s right of access to the courts. It has been described as a constitutional right, though the cases do not explain what that means. In this whole argument, nothing to my mind has been shown to displace the proposition that the executive cannot in law abrogate the right of access to justice, unless it is specifically so permitted by Parliament; and this is the meaning of the constitutional right.“86

Damit wird klargestellt, daß eine Beschränkung des right of access to the courts durch die Exekutive nur auf der Grundlage einer ausdrücklichen parlamentarischen Ermächtigung erfolgen kann87. b) Wesen der gerichtlichen Kontrolle von Exekutiventscheidungen und Verhältnis zur rule of law Die Frage nach dem Wesen der gerichtlichen Kontrolle von Exekutiventscheidungen ist zugleich die Frage nach ihren Wurzeln und ihrer verfassungsrechtlichen Legitimation88. So ist die Befugnis der Gerichte zur Kontrolle exekutiven Handelns zunächst in Verbindung mit dem Grundsatz der Parlamentssouveränität zu sehen. Danach darf die Exekutive den vom Parlament i. d. R. per Gesetz zugestandenen Ermächtigungsbereich nicht überschreiten. Die Kontrolle der Einhaltung dieses Rahmens obliegt den Gerichten, die dabei von der Vermutung ausgehen sollen, daß das Parlament grundsätzlich ein rechtmäßiges und faires Verfahren beabsichtigt. Die Gesetze sind dementsprechend zu interpretieren. Dieser Ansatz verbindet bereits das Dogma der Parlamentssouveränität mit den Anforderungen aus der rule of law und reduziert die Anwendung der Grundsätze des rechtmäßigen Verwaltungshandelns auf die Vermutung, daß das Parlament sie mit seinen Gesetzen nicht antasten wolle89. Dieser Ansatz allein wird aber der sich zunehmend verstärkenden Stellung und Kontrollbefugnis der Gerichte nicht gerecht90. Denn Grundlage der Verwaltungskontrolle ist nicht nur die vorgestellte Parlamentssouveränität, sondern auch die Maxime der rule of law91, daß das Verwaltungshandeln auf 86

R. v. Lord Chancellor, ex parte Witham (1998) Q.B. 575 (585). Siehe auch Loewenstein (FN 3), S. 5. 88 Hierzu Christopher Forsyth, Judicial Review and the Constitution, 2000; zur Diskussion dieser Frage auch Bradley, 2001 (FN 78), S. 80. 89 Siehe R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Pierson (1998) AC 539 (575): „Parliament does not legislate in a vacuum. Parliament legislates for a European liberal democracy based upon the traditions of the common law (. . .) and (. . .) unless there is the clearest provision to the contrary, Parliament must be presumed not to legislate contrary to the Rule of Law.“ 90 Hierzu Bradley, 2001 (FN 78), S. 81. 87

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

einer gesetzlichen Grundlage beruhen muß. Das Erfordernis eines „förmlichen Gesetzesvorbehalts“ führt jedoch für sich genommen noch nicht zur Vermeidung von Willkürakten der Exekutive. Daher tritt die weitere Forderung aus der rule of law hinzu, die besagt, daß Machtmißbrauch durch die Exekutive von den Gerichten zu verhindern ist. Durch dieses Zusammenspiel fällt es den Gerichten zu, in einem ersten Schritt die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu überprüfen92. Das gerichtliche Verfahren wird somit das „Transportmittel“ für die Grundsätze der rule of law93. 3. Inhalt einer Rechtsschutzgarantie gegen Akte der Exekutive a) Right of access to the courts Unter dem right of access to the courts finden sich vielgestaltige prozessuale Gewährleistungen94. Einigkeit besteht jedoch auch in England darüber, daß das right of access to the courts kein absolutes Recht ist, auch wenn seine fundamentale Bedeutung immer wieder hervorgehoben wird [s. o. B. I. 2. a)]. So sind insbesondere Bindungen an Fristen95 und Beschränkungen aufgrund von Zahlungserfordernissen anerkannt96. Allerdings unterliegen diese Einschränkungen Grenzen, die ihre Zulässigkeit relativieren. So wurde die Supreme Court Fees Order 1996, welche etwa einem Arbeitslosen den Zugang zu den Gerichten wegen der hohen Gerichtskosten praktisch unmöglich machte, für ultra vires erklärt97. Nach dieser Entscheidung muß der Staat auf solche Gebühren verzichten, die bei einkommensschwachen Bürgern eine Rechtschutzmöglichkeit ausschließen würden und so ein „impediment to their access to the courts“98 verhindern. Die jüngste Änderung in diesem Bereich wurde durch den Access to Justice Act 1999 91 Siehe L.L. Jaffe/E.G. Henderson, Judicial Review and the Rule of Law: Historical Origins, LQR 72, 1956, S. 345 (355). 92 Mark Elliott, The Constitutional Foundations of Judicial Review, Oxford 2001, S. 103. 93 In diesem Sinne Jowell (FN 66), S. 20; ebenso T.R.S. Allan, The Rule of Law as the Foundation of Judicial Review, in: Forsyth (Hrsg.), Judicial Review and the Constitution, Oxford 2000, S. 419: „(. . .) the rule of law provides the true foundation of judicial review.“ 94 Wade/Forsyth (FN 83), S. 877, die die Entwicklung aufzeigen. 95 So etwa der Limitation Act von 1980, näher und mit Beispielen Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 571 RN 11.49. 96 Weitere Beispiele bei Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 571 RN 11.27 ff. 97 R. v. Lord Chancellor, ex parte Witham (1998) Q.B. 575. 98 Vgl. R. v. Legal Aid Board, ex parte Duncan (2000) WL 512 (QBD) 446.

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vorgenommen99. Besonderheiten gelten etwa auch im Rahmen der ouster clauses (Klauseln über den Ausschluß des Rechtsweges), die den Ausschluß gerichtlicher Kontrolle in bestimmten Situationen festlegen. Für die Zulässigkeit dieser Klauseln ist eine eindeutige Formulierung notwendig, damit die Gerichte den Ausschluß anerkennen100. b) Unterscheidung zwischen appeal und judicial review Rechtsschutz gegen Akte der Exekutive kann zum einen durch das appeal-Verfahren (Beschwerde) erreicht werden und zum anderen durch das Verfahren der judicial review (richterliche Nachprüfung, in etwa vergleichbar mit der Revision). Ein appeal ist immer dann zulässig, wenn dies durch Gesetz vorgesehen ist. Bei der für die Entscheidung im appeal-Verfahren zuständigen Instanz kann es sich nicht nur um ein Gericht handeln, sondern es kann auch ein tribunal zuständig sein. Die tribunals sind aus verfassungsrechtlicher Sicht Teil der Exekutive und keine Gerichte im klassischen Sinn. Sie können in ihrer Ausgestaltung sehr unterschiedlich sein. Aber auch sie entscheiden bindend in streitigen Fällen und sind von ihrer Ausgangsbehörde unabhängig. Die Entscheidungen der tribunals können von der ordentlichen Gerichtsbarkeit überprüft werden. Im Gegensatz zu dem appeal steht die judicial review als direkter Klageweg zum High Court101 auch ohne ausdrückliche Regelung offen. Denn die ordentlichen Gerichte leiten direkt aus dem common law ihre Befugnis ab zu bestimmen, wann staatliches Handeln rechtmäßig ist102. Während der appeal sich auf die umfassende Kontrolle der Sachentscheidung durch die Behörde richtet103, handelt es sich bei der judicial review um eine reine 99 Diesem waren der Legal Aid and Advice Act 1949 und der Legal Aid Act 1988 vorausgegangen. Siehe auch R v. Legal Aid Board, ex parte Duncan (2000) WL 512 (QBD); in dieser Entscheidung wurden die Anforderungen des Access to Justice Act nicht als rechtswidrige Einschränkung des right of access to the courts angesehen. 100 Vgl. R. v. Medical Appeal Tribunal, ex parte Gilmore (1957) 1 QB 574 (583): „The word ‚final‘ is not enough. That only means ‚without appeal‘. It does not mean ‚without recourse to certiorari‘. It makes the decision final on the facts, but not final ont the law.“ 101 Aufgrund des am 2. Oktober 2000 in Kraft getretenen Part 54 der Civil Procedure Rules nennt sich der für die judicial review zuständige Divisional Court of the Queen’s Bench Division of the High Court nun Administrative Court. Dies kann als Zeichen für die Aufwertung des Administrative Law und die Anerkennung seiner Eigenständigkeit in England gesehen werden. 102 Siehe de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 95 f. RN II-001 ff. 103 Brian Thompson, Constitutional and Administrative Law, 3. Aufl., London 1997, S. 398: „(. . .) wether the decision was right or wrong (. . .).“

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Rechtmäßigkeitsüberprüfung der Verwaltungsentscheidung: „Judicial review is concerned, not with the decision, but with the decision-making process.“104 Für diese Arbeit ist hauptsächlich die judicial review von Bedeutung. In diesem Verfahren wird – entsprechend dem revisionsrechtlichen Ansatz der judicial review – ausschließlich über die Rechtslage entschieden, wie im folgenden weiter aufgezeigt wird. c) Einzelheiten zur judicial review aa) Entwicklung der Kontrollausrichtung Ausgangspunkt der judicial review ist die vom Parlament erteilte Ermächtigung der Behörden zur Regelung einer bestimmten Materie105. Ob die Behörde den durch Parlamentsgesetz gezogenen Rahmen einhielt, wurde bis in die sechziger Jahre allein über den als Kompetenzkontrolle der Verwaltungsbehörden verstandenen Anwendungsbereich der ultra vires-Doktrin beurteilt.106 Überschritt die Behörde die ihr zugewiesene Handlungskompetenz, wurde die beanstandete Handlung der öffentlichen Hand für ultra vires erklärt. Dabei galten alle anderen Formen von Rechtsfehlern107 als unbeachtlich, es sei denn, es handelte sich um einen offensichtlichen „error of law“108 (Rechtsirrtum). In diesem Fall hatten die Gerichte ebenfalls die Möglichkeit, die Entscheidung der Behörde für unwirksam zu erklären. Bereits vor dem HRA gab es kritische Stimmen, die eine Trennung der formellen von der materiellen Komponente bei der gerichtlichen Überprüfung nicht für sinnvoll erachteten und eine Ausweitung der klassischen ultra vires-Doktrin favorisierten109. Ein entsprechender Prozeß setzte bereits 104 Chief Constable of the North Wales Police v. Evans (1982) 1 WLR 1155 (1173). 105 Ausführlich Wright/Gilbert (FN 11), S. 21 (25), allerdings mit dem Hinweis, daß die Gerichte bei hoher politischer Brisanz einer Verwaltungsentscheidung selten gewillt sind, diese als ultra vires zu deklarieren. 106 Zu unterscheiden waren hier substantially ultra vires, wenn die Tatbestandsmerkmale des Parlamentsgesetzes nicht erfüllt waren und procedural ultra vires, wenn die zwingenden Verfahrensanforderungen der Ermächtigungsnorm nicht befolgt wurden. 107 Verfahrensfehler, willkürliche Entscheidungen, fehlerhafte Ermessenerwägungen. 108 „(. . .) on the face of the record (. . .)“ siehe Wade/Forsyth (FN 83), S. 40, die nochmals betonen, daß es sich hier um eine Ausnahme handelt, die nicht dem Bereich der ultra vires Doktrin unterfällt. 109 Siehe Elliott (FN 17), S. 203 m. w. N. und der Schlußfolgerung auf S. 204: „(. . .) no absolute or rigid dividing line which separates traditional review and human rights review.“

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mit der Entscheidung „Ridge v. Baldwin“ ein110. Im Zuge dieser zunehmenden Ausdehnung des Prüfungsmaßstabs berücksichtigten die Gerichte, ob die tragenden Argumente für eine Entscheidung überzeugend waren und im Einklang mit dem Grundgedanken der Kompetenzverteilung durch das Parlament standen. Bei der Gewichtung der materiellen Argumente für die Entscheidung müssen die Rechte des einzelnen entsprechend gewertet werden: Je stärker in relevante Schutzbereiche eingegriffen wird, desto höher sind die Anforderungen an die Rechtfertigung, damit eine Entscheidung nicht als unreasonable zu verwerfen ist111. Wird eine Entscheidung nach diesen Abwägungen als unvernünftig bezeichnet112, so gilt sie als ultra vires und damit rechtswidrig113. Ein letzter Schritt wurde im „Anisminic Case“114 vollzogen, der den Ansatz bekräftigte, nicht nur Kompetenzüberschreitungen, sondern alle errors of law unter der ultra vires-Doktrin zu behandeln. In den Jahren 1992 und 1998 wurde diese Ansicht von dem House of Lords bekräftigt115. Nunmehr kann jeder Rechtsfehler unter die ultra vires-Doktrin subsumiert werden. 110 Ridge v. Baldwin (1964) AC 40. Die Entlassung eines Polizisten, ohne ihn vorher anzuhören, wurde als Verstoß gegen das natural justice-Prinzip und damit als „outside jurisdiction“ und somit als ultra vires anerkannt. Nach der klassischen Definition der ultra vires-Doktrin lag hier jedoch kein Fall ultra vires vor, da die Behörde innerhalb der ihr zustehenden Befugnisse handelte. 111 Siehe R. v. Ministry of Defence, ex parte Smith and others (1996) 1 All ER 257 (263): „But in judging wether the decision-maker has exceeded the margin of appreciation the human rights context is important. The substantial the interference with human rights, the more the court will require by way of justification before it is satisfied that the decision is reasonable in the sence outlined above.“ 112 Zu den Schwierigkeiten der bei Überprüfung der „Vernünftigkeit“ einer Entscheidung und der Abgrenzung zum freien Ermessen siehe Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Grossbritannien, Bd. II, Justiz, Verwaltung, Bürgerrechte, 1967, S. 99. 113 Ausführlich hierzu Dirk Ehlers, Die Lehre von der Teilrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts und die Ultra-vires-Doktrin des öffentlichen Rechts, 2000, S. 41 ff. Siehe auch Wade/Forsyth (FN 83), S. 38: „Every administrative act is either intra vires or ultra vires; and the court can condemn it only if it is ultra vires.“ 114 Anisminic Ltd. v. Foreign Compensation Commission (1969) 2 AC 147. Zuständig für die Entscheidung über die Entschädigung einer englischen Gesellschaft für den Verlust ihres Eigentums wegen der Verstaatlichung des Suez-Kanals war kraft Gesetzes die Foreign Compensation Commission. Das Gesetz schloß zugleich jeglichen Rechtsschutz aus. Trotzdem gewährte das House of Lords Rechtsschutz und erklärte die Entscheidung der Kommission für rechtswidrig und nichtig, da sie das Gesetz falsch verstanden habe und daher von den falschen Prämissen ausgegangen sei. 115 R. v. Hull University Visitor, ex parte Page (1993) AC 682 (701–702); Boddington v. British Transport Police (1999) 2 AC 143, insbesondere 154. Zum Einfluß des HRA auf die judicial review siehe Bradley, 2001 (FN 78), S. 91 f.

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Die ultra vires-Doktrin ist damit nicht mehr nur auf eine formelhafte Überprüfung der Überschreitung von der parlamentarischen Ermächtigungsgrundlage gewährten Kompetenzen durch die jeweilige Verwaltungsbehörde beschränkt116. Dadurch schufen sich die Gerichte selbst einen umfassenden Kontrollmaßstab, der es ihnen ermöglicht, unter dem Mantel der ultra vires-Doktrin sämtliche der judicial review unterliegenden Rechtsfehler zu behandeln117. Das enge, traditionelle ultra vires-Konzept wird heute kaum noch angewandt118. bb) Zweistufiges Verfahren Erste Stufe und Voraussetzung für die Gewährung des Rechtsschutzes im Rahmen der judicial review ist zunächst die application for permission119. Hierbei handelt es sich um eine Genehmigung für die Antragstellung auf das jeweilige Rechtsmittel. In diesem ersten Verfahrensschritt werden von vorneherein aussichtslose Anträge herausgefiltert120. Dieser Verfahrensschritt ist in etwa mit der Zulässigkeitsprüfung im deutschen Recht vergleichbar. Als Antragsfristen gelten die in Part 54.5 (1) der Civil Procedure Rules aufgeführten Kriterien von „promptly“ und „in any event not later than 3 months“. Die judicial review wird in dieser Regelung nicht mehr direkt angesprochen121, sondern es ist nunmehr nur noch die Rede von „time limit for filing claim form“122. Die permission stage als nächster Verfahrensschritt erlaubt es den Gerichten, im Vorfeld des eigentlichen Verfahrens bereits einige Beschwerden im schriftlichen Verfahren abzuarbeiten. Dabei werden zugleich die Voraussetzungen für die Einlegung des judicial review geprüft. 116 Kritische Aspekte zu dieser Ausdehnung des Anwendungsbereiches durch die Rechtsprechung bei Wade/Forsyth (FN 83), S. 39 f. 117 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen und die Fallgruppenbildung Lord Diplocks, in: Council of Civil Service Unions v. Minister for the Civil Service (1985) AC 374 (408). Hierzu auch Wade/Forsyth (FN 83), S. 999 ff. 118 Deutlich insoweit de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 293 RN III-001 f. 119 Dieser Zulassungsantrag wurde vorher „application for leave“ genannt. Die Civil Procedure Rules, die durch Reform vom 2. Oktober 2000 eingeführt wurden, enthalten in Part 54 die Umbennenung des ersten Verfahrensschritts von „leave“ in „permission“. (Abgedruckt in: Civil Procedure, Autumn 2001, Vol I, S. 1042 ff.). 120 Vgl. hierzu Lord Diplock, in: R. v. Inland Revenue Commissioners, ex parte Federation of self employed and small Business (1982) AC 617 (642–643). 121 Vorher war von „application for judicial review“ die Rede. 122 In dem Vorläufer, der Order 53 der Rules of the Supreme Court, stand, daß die Frist nur gelte „unless the court considers that there is good reason for extending the period within which the application shall be made“. Der neue Part 54 sieht diese Regelung nicht mehr vor.

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Zweite Stufe ist das sogenannte full hearing (Hauptverfahren). Auf dieser Ebene erfolgt keine Überprüfung, ob die in Rede stehende Exekutiventscheidung „richtig“ oder „falsch“ war, sondern ob die Entscheidungsfindung korrekt war. Die Exekutive kann nach einem Urteil gegebenenfalls inhaltlich dieselbe Entscheidung nochmals treffen, soweit sie dann das rechtmäßige Verfahren einhält. cc) Die Anforderungen der judicial review (1) Das Erfordernis des ausreichenden Interesses (sufficient interest) Die permission als Zugang zur judical review wird nur erteilt, wenn ein ausreichendes Interesse (sufficient interest) nachgewiesen wird. Die Rechtsprechung zur Bestimmung des sufficient interest ist uneinheitlich123. Von besonderer Bedeutung ist hier der „Inland Revenue Commissioners Case“124, der eine Öffnung des Rechts der Klagebefugnis propagierte125. Einerseits soll eine actio popularis (Popularklage) vermieden, andererseits die judicial review einem möglichst weiten Kreis an Rechtsschutzsuchenden geöffnet werden126. Um diesen Erfordernissen gerecht zu werden, hat sich in der Rechtsprechung eine Kasuistik entwickelt, die das Vorliegen des sufficient interest von einer Gesamtschau der Beziehungen zwischen Rechtsschutzsuchendem und beklagter Behörde abhängig macht127. Auf diese 123 Supreme Court Act s. 31 (3): „No application for judicial review shall be made unless the leave (jetzt: permission, A. d. V.) of the High Court has been obtained in accordance with the rules of court; and the court shall not grant leave to make such an application unless it considers that the applicant has a sufficient interest in the matter to which the application relates.“ Wade/Forsyth (FN 83), S. 695, sprechen in diesem Zusammenhang von einer „elasticity of sufficient interest“. 124 R. v. Inland Revenue Commissioners, ex parte National Federation of SelfEmployed and Small Business Ltd. (1982) AC 617. 125 Dies wurde von Lord Diplock auch in Bezug gesetzt zu „that progress towards a comprehensive system of administrative law that I regard as having been the greatest achievement of the English courts in my judicial lifetime“, vgl. R. v. Inland Revenue Commissioners, ex parte National Federation of Self-Employed and Small Business Ltd. (1982) AC 641. 126 Vgl. die Ausführungen von Lord Diplock, in R. v. Inland Revenue Commissioners, ex. parte National Federation of Self-Employed and Small Business Ltd. (1982) AC 617 (644): „It would in my view, be a grave lacuna in our system of public law if a pressure group, like the federation, or even a single public-spirited taxpayer, were prevented by outdated technical rules of locus standi from bringing the matter to the attention of the court to vindicate the rule of law (H. d. V.) and get the unlawful conduct stopped.“ 127 Vgl. Lord Roskill, in: R. v. Inland Revenue Commissioners, ex parte National Federation of Self-Employed and Small Business Ltd. (1982) AC 617 (659): „. . . a

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Weise ergibt sich für die Erteilung der Klagebefugnis eine Mischung aus objektiven und subjektiven Elementen, die von den Gerichten immer eine Einzelfallentscheidung erfordert128. Ob ein sufficient interest vorliegt, wird sowohl auf der ersten Stufe der Klagezulassung als auch auf der zweiten Stufe im Hauptverfahren geprüft129. (2) Kein alternatives Rechtsmittel (no alternative remedy) Die Judicial review wird nur zugelassen, soweit kein anderes Rechtsmittel gegen die in Frage stehende Entscheidung der Behörde zur Verfügung steht (no alternative remedy), insbesondere etwa ein gesetzliches Recht auf appeal (statutory right of appeal). Ein appeal kann häufig zielführender sein, da sich eine judicial review nicht mit den der Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen, sondern nur mit der rechtlichen Überprüfung der Behördenentscheidung beschäftigt. In einem appeal werden hingegen erneut die der Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen untersucht. (3) Rechtswidrige Entscheidung durch die Exekutive Mögliche Gründe (grounds of review), die eine Entscheidung rechtswidrig machen (unlawful decision or action of a public body), sind illegality, irrationality und unfairness. Hierbei handelt es sich um Verletzungen von Mindeststandards, die von der Verwaltung einzuhalten sind und die von den Gerichten definiert und ausdifferenziert wurden. Sie wurden als Weiterentwicklung und in Ausweitung der traditionellen ultra vires-Konzeption durch Lord Diplock erstmals 1984 systematisiert und zusammengefaßt. Seitdem question of fact and degree and the relationship between the applicant and the matter to which the application relates having regard to all the circumstances of the case“. Sehr anschaulich die Beispiele bei Wade/Forsyth (FN 83), S. 695 ff. U. a. wurde die Klagebefugnis eines Journalisten bejaht, der als Vertreter der Presse ein „Wächter des öffentlichen Interesses“ (S. 696: „as guardian and watchdog of the public interest“) sei und daher die Feststellung (declaration) begehren dürfe, daß Richter die Offenbarung ihrer Identität nicht verweigern dürfen, vgl. R. v. Felixstowe JJ., ex parte Leigh (1987) 1 All ER 551. 128 Einschränkend haben sich die Richter in R. v. Secretary of State for the Environment, ex parte Rose Theatre Trust Co. (1990) 2 WLR 186 geäußert, denn nicht jede Person, die ein Interesse am Ausgang des Verfahrens habe, sei damit gleichzeitig klageberechtigt. Siehe aber jetzt auch Section 7 (3) des HRA: „If the proceedings are brought on an application for judicial review, the applicant is to be taken to have a sufficient interest in relation to the unlawful act only if he is, or would be, a victim of that act.“ 129 Zu den Auswirkungen des HRA auf die Prüfung des sufficient interest, siehe Bradley, 2001 (FN 78), S. 93.

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haben sie sich beständig fortentwickelt und zu einer Verstärkung der richterlichen Kontrollmöglichkeiten geführt130. Man kann sie in etwa mit dem Klagegrund gleichsetzen131. Den Bereich der illegality deckt die ultra vires-Doktrin ab, da eine Entscheidung insbesondere auch dann als rechtswidrig betrachtet wird, wenn die Behörde entweder nicht zuständig war oder die gesetzlich normierte Ermächtigung die getroffene Entscheidung nicht deckte132. Darin verkörpert sich der Gedanke der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Eine irrationality ist sehr schwierig nachzuweisen, da das Gericht die Nachvollziehbarkeit und Vernünftigkeit der Entscheidung bewerten muß133. Nach neuerer Rechtsprechung liegt irrationality etwa bei einem logischen Fehlschluß oder bei einer Entscheidung vor, die sich jeglichem Verständnis entzieht134. Daher wird dieser Grund häufig im Zusammenhang mit den beiden anderen genannt und selten als alleiniger herangezogen. Der Grund der unfairness ist für diese Arbeit von besonderem Interesse, da er etwa dann vorliegt, wenn der Entscheidungsadressat nicht ordnungsgemäß gehört wurde. Die grounds of review sind nicht abschließend, sondern können erweitert werden135. Dieser Prozeß läßt sich etwa in der langsamen Übernahme der doctrine of proportionality (Verhältnismäßigkeitsprinzip) erkennen136.

130 Jürgen Schwarze, Die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in England, DÖV 1996, S. 771 (772 f.). 131 So auch Baum (FN 6), S. 157. 132 Ausführlich de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 295 RN 6-001 ff. 133 Die Überprüfung der Entscheidung erfolgt traditionell anhand der sogenannten Wednesbury unreasonableness, die Lord Greene, in: Associated Provincial Picture Houses Ltd. v. Wednesbury Corp. (1948) 1 K.B. 223 (229 f.), formulierte. Zur Rolle des Wednesbury-Tests unter dem HRA siehe Jeffrey Jowell, Judicial Deference and Human Rights: A Question of Competence, in: Craig/Rawlings (Hrsg.), Law and Administration in Europe, Oxford 2003, S. 67 (75). Zum Verhältnis des Wednesbury-Tests und des Verhältnismäßigkeitsprinzips siehe Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated Convention on Human Rights (FN 35), S. 17 (32). 134 R. v. North and East Devon Health Authority, ex parte Coughlan (2000) 2 WLR 622 (647 E-F). 135 Zur Einführung der Verhältnismäßigkeit als weiteren ground of review durch den HRA, siehe Lord Lester of Herne Hill/Clapinska (FN 37), S. 62 (78). 136 Ausführlich hierzu Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated Convention on Human Rights (FN 35), S. 17 (30 ff.), auch mit dem Hinweis, daß das Konzept aus dem deutschen Verwaltungsrecht übernommen wurde.

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dd) Entscheidungen der Gerichte bei Erfolg der judicial review Das Gericht kann das Verfahren der judicial review damit beenden, daß es eine order (besonderer Beschluß des Gerichts) erläßt137. Insgesamt stehen dem Gericht sechs verschiedene orders unterschiedlichen Inhalts zur Verfügung, die alle den kassatorischen Charakter der judicial review aufzeigen138. Hierzu gehört zunächst die quashing order, die eine neue Entscheidung durch die Behörde unter Beachtung der festgestellten Mängel erfordert. Die prohibiting order hingegen verbietet es einer Behörde, eine Entscheidung außerhalb ihrer Zuständigkeit zu treffen, so daß die beanstandete Handlung unwirksam ist. Mit einer mandatory order wird die Behörde verpflichtet, einen bestimmten Antrag in Erwägung zu ziehen und damit eine der öffentlichen Hand obliegende Pflicht zu erfüllen. Declarations stellen ein Rechtsverhältnis fest, ohne zugleich eine Verpflichtung der Behörde auszusprechen. Die in der Praxis sehr selten vorkommenden injunctions verhindern einen rechtswidrigen Akt bereits im Vorfeld durch die Gewährung einer Art vorläufigen Rechtsschutzes. Weiterhin kann das Gericht damages festsetzen, also die Gewährung von Schadensersatz. Es liegt im Ermessen des Gerichts, eine order zu gewähren, so daß zwar die Rechtswidrigkeit der behördlichen Entscheidung festgestellt werden kann, dies aber nicht zwingend den Erlaß einer bestimmten order zur Folge hat139. d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Das englische Recht erkennt durch die Verfahren des appeals und insbesondere der judicial review das Bedürfnis an, Handlungen der Exekutive auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Neben der Bindung der Exekutive an das Recht und der Vermeidung staatlicher Willkür als Forderungen aus der rule of law scheint sich eine individualschützende Tendenz der gerichtlichen Kontrolle abzuzeichnen. Während das englische Recht traditionell den Schwerpunkt auf der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle legte, zeigen sich im Recht der judicial review auch subjektive Elemente. Sie ist damit Ausdruck der Forderung und insbesondere des gewachsenen Bewußtseins nach gerichtlicher Kontrolle staatlichen Handelns zur Verhinderung von Willkürakten.

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de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 705 RN 17-001 ff. Ausführlich de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 697 RN 16-007 ff. 139 Hierzu siehe Thomas Bingham, Should Public Law Remedies be Discretionary? Public Law 1991, S. 64 (67). 138

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4. Bewertung Das englische Verwaltungsrecht ist hauptsächlich Richterrecht; seine Prinzipien und materiellen Maßstäbe wurden maßgeblich durch die Gerichte entwickelt und ausdifferenziert. Die Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg ist Ausdruck einer sich ändernden Haltung gegenüber dem Rechtsschutz des einzelnen sowie auch in dem Verständnis des traditionellen Konzepts der Parlamentssouveränität140. Indem die Gerichte ihren ursprünglichen judicial self restraint aufgegeben haben, hat sich schrittweise eine individualrechtsfreundlichere Rechtsprechung etabliert. Diese Tendenz zeigt sich insbesondere in der Interpretation von Gesetzen, die den Zugang zu den Gerichten beschränken. Die Gerichte arbeiten hier mit der Vermutung, daß das Parlament den Zugang grundsätzlich nicht beschränken will, soweit dies nicht ausdrücklich kodifiziert ist. Jeder verbleibende Auslegungsspielraum wird somit zugunsten des Rechts auf Zugang zu den Gerichten ausgeschöpft141. Um darüber hinaus auch von einer Garantie des Rechtsschutzes sprechen zu können, ist die Frage zu klären, ob das Parlament im Streitfall die Kontrolle individualrechtsrelevanter Entscheidungen der Exekutive durch die Gerichte ausschließen kann. Die Gerichte geben hierauf keine konkrete Antwort und greifen auf die Methoden der Gesetzesinterpretation zurück, wie Bradley feststellt142. Gesetze, die eine gerichtliche Kontrolle komplett ausschließen oder ohne Rechtfertigung beschränken, verstoßen jedoch gegen die EMRK und die europäischen Grundrechte. Dies scheint eine Befugnis des Parlamentes zur Kontrolluntersagung auszuschließen. Der Zugang zu den Gerichten an sich wird eher offen gehandhabt. Durch das Erfordernis der besonderen Betroffenheit ist den Gerichten ein Ermessensspielraum eröffnet, der in der Regel zugunsten des Rechtsschutzsuchenden ausgeschöpft wird. Allerdings gibt es etwa auch eine Entscheidung, die von einem „right“ spricht, ohne dies allerdings näher zu spezifizieren143. Da diese vom High Court erlassen wurde, ist ihre Bedeutung als Manifestation eines eigenständigen Rechts eher von untergeordneter Bedeutung. Un140 Zur Haltung der Gerichte bei Eingriffen der Exekutive in grundrechtsrelevante Bereiche siehe de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 588 RN 13-059 ff. 141 Dies charakterisiert der Ausspruch von Lord Steyn, The Case for a Supreme Court, LQR 118 (2002), S. 382 (385): „Public law has been transformed over the last 30 years. The claim that the courts stand between the executive and the citizen, and control all abuse of excutive power, has been reinvigorated and become a foundation of our modern democracy.“ 142 So Bradley, 2001 (FN 78), S. 81 f. 143 R. v. Secretary of State for the Environmen, ex parte Rose Theatre Trust Co (1990) 2 WLR 186.

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geachtet dessen scheint es aber auch nicht notwendig, ein eigenständiges gesetzlich garantiertes Recht geltend zu machen, um Zugang zu den Gerichten zu erhalten. Vielmehr genügt für den Zugang ein ausreichendes Interesse im Sinne einer „tatsächlichen Betroffenheit“144 in Kombination mit dem gerichtlichen Ermessensspielraum und dem Rückgriff auf die EMRK aus. Die Maßstäbe der so eröffneten Kontrolle (grounds of review) sind von den Gerichten entwickelt worden. Sie sind die Ausweitung der ursprünglich im Rahmen der ultra vires-Konzeption durchgeführten Kompetenzkontrolle und Ausprägungen der rule of law, da sie einen materiellen Überprüfungsmaßstab für das staatliche Handeln insgesamt darstellen145. Die anfängliche Beschränkung auf die bloße Überprüfung der Zuständigkeit wurde angesichts der zunehmenden Verwaltungskompetenzen nicht mehr für ausreichend erachtet. Die Gerichte selbst schufen sich mit ihnen ihre materiellen Kontrollmaßstäbe und verschärften auf diese Weise ihre Kontrolldichte. Dennoch bleibt die gerichtliche Kontrolle weitmaschig, da sie häufig auf unbestimmten Begriffen mit entsprechend weiten Auslegungsspielräumen beruht. Allerdings hat sich die Prüfungsdichte durch den HRA weiter verschärft und insbesondere individualschutzverstärkende Funktionen erhalten146. Zudem etabliert sich die Verhältnismäßigkeit als ein weiterer ground of review mit der damit einhergehenden zusätzlichen Verschärfung der Kontrolldichte durch die Gerichte147. In der judicial review finden sich somit sowohl objektive als auch subjektive Rechtsschutzelemente, auch wenn keine Fokussierung auf den subjektiven Rechtsschutz stattfindet, wie es im deutschen Recht der Fall ist. Im Ergebnis hat die nachgezeichnete Entwicklung den Rechtsweg zu den Gerichten in Fällen der Kontrolle exekutiven Handelns im Rahmen der tradierten Rechtsvorstellungen möglichst weitgehend gegen gesetzgeberische Übergriffe abgesichert.

II. Das Recht auf den gesetzlichen Richter Auf den ersten Blick kennt das englische Recht den Grundsatz des gesetzlichen Richters weder als geschriebenes noch als ungeschriebenes Recht. 144 So auch Astrid Epiney/Kaspar Sollberger, Zugang zu Gerichten und gerichtliche Kontrolle im Umweltrecht, 2002, S. 186. 145 John Laws, Illegality: The Problem of Jurisdiction, in: M. Supperstone/J. Goudie (Hrsg.), Judicial Review, London 1997, RN 4.31. Siehe auch Jowell (FN 66), S. 20: „What have emerged as the three principal grounds of judicial review themselves rest in large part on the Rule of Law.“ 146 Lord Lester of Herne Hill/Clapinska (FN 37), S. 78. 147 Lord Lester of Herne Hill/Clapinska (FN 37), S. 78.

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Den Ausdruck statutory judge, wie die wörtliche Übersetzung heißen müßte, sucht man daher in der englischen Rechtssprechung und Lehre vergeblich. Allerdings erschöpft sich der Bedeutungsgehalt des Grundsatzes nicht in seinem Wortlaut, so daß auch in diesem Fall ein Verharren an der Terminologie des Grundgesetzes fehlginge148. So beansprucht die Verbürgung des gesetzlichen Richters in Art. 6 Abs. 1 EMRK als Auslegungsmaxime über den HRA besondere Geltung. Darüber hinaus erfolgt die Festlegung des für die Entscheidung zuständigen Richters grundsätzlich anhand anderer Maßstäbe als in Deutschland. Diesen unterschiedlichen Anforderungen liegt ein divergierendes Richterbild zugrunde, auf das näher einzugehen sein wird. Darüber hinaus wird zu untersuchen sein, ob sich aus der rule of law möglicherweise Anforderungen ergeben, die denen der Garantie eines gesetzlichen Richters entsprechen. Insbesondere wird dabei der Frage nachgegangen, ob sich aus der rule of law das Erfordernis ableiten läßt, daß der im Einzelfall zuständige Richter so genau wie möglich vorherbestimmt sein muß. 1. Historische Entwicklung a) Erste Ansätze in der Magna Charta Erste Ansätze der Idee eines gesetzlichen Richters lassen sich in Art. 39 der Magna Charta finden. Der ursprüngliche Art. 39 lautete: „Nullus liber homo capiatur vel imprisonteur aut dissaisiatur aut utlagetur aut exuletur aut aliquo modo destruatur, nec super eum ibimus nec super eum mittemus, nisi per legale iudicium parium suorum vel per legem terrae.“ Mit dieser Formulierung wurde u. a. bestimmt, daß ein Urteil nur durch Standesgenossen gesprochen werden kann. Es wurde jedoch noch keine Beschränkung der königlichen Justizgewalt intendiert, sondern vielmehr der König zur Achtung der Rechte der Adligen verpflichtet149. Art. 39 der Magna Charta garantierte den Adligen damit lediglich, daß sie nur durch ihresgleichen oder aufgrund des „law of the land“ (per legem terrae)150 verurteilt werden konnten. Ein Bewußtsein oder Bestreben, die königliche Justizgewalt einzuschränken, bestand noch nicht. Vielmehr wurde gerade auch in den folgenden Jahren die Ausübung der Strafjustiz durch den König und seine reisen148 Die Untersuchung von Joachim Henkel, England – Rechtsstaat ohne „gesetzlichen Richter“, 1971, S. 9 ff., ist auch heute noch einer der wenigen, die sich mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter in England beschäftigen. Umfassend mit dem gesetzlichen Richter in England beschäftigt sich die Habilitationsschrift von Ulrike Seif, Recht und Justizhoheit – Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich, 2003. 149 Vgl. David Galligan, Due Process and Fair Procedures, Oxford 1996, S. 172. 150 Zur Auslegung dieses Begriffs siehe Galligan (FN 149), S. 171 ff. m. w. N.

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den Richter, die er teilweise ad hoc abordnete, nicht als unangebracht empfunden151. Eine zentrale Neuerung durch diese ersten Anklänge im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Richter war, daß keiner ohne Urteil hingerichtet werden durfte. Eine Beschränkung der Jurisdiktionsgewalt des Monarchen oder seines Kabinett war damit jedoch nicht verbunden152. b) Das Zeitalter der Tudors Unter den Tudors (1485–1603) wurde die königliche Justizgewalt immer mehr durch die Kabinettsjustiz ausgeübt und gipfelte in der Einrichtung von außerordentlichen Gerichten wie der Star-chamber. Es handelte sich dabei um einen Ausschuß des königlichen Kabinetts mit Doppelfunktion: Neben seiner Regierungstätigkeit sprach er in seiner besonderen Zusammensetzung von höchsten Verwaltungsbeamten und Geistlichen sowie zwei Richtern Recht153. Die Errichtung solcher Gerichtshöfe mit ihrer Rechtsprechung auf einer vom common law abweichenden Rechtsgrundlage lag im Ermessen der Krone154. Der König war Mitglied der Star-chamber, richtete aber nur gelegentlich selbst mit155. c) Das Zeitalter der Stuarts Unter der Regenschaft der Stuarts brachten dann insbesondere willkürliche Verhaftungen und eigenmächtige Steuererhebungen das Parlament 151 Näher Eduard Kern, Der gesetzliche Richter, Berlin 1927, S. 13. A. A. Walter Menzel, Ausnahmegericht und „gesetzlicher“ Richter, Berlin 1925, S. 36, der dies insbesondere damit begründet, daß die reisenden Richter dem Prinzip des „trial by neighbourhood“ nicht entsprachen. 152 Die Zusage der Aburteilung durch Standesgenossen ist historisch als eine der Wurzeln des Verbots von Ausnahmegerichten verstanden worden. Dies bedeutet im Falle der Magna Charta jedoch nicht, daß der König seine damit seine Jurisdiktionsgewalt zurücknimmt, vgl. Kern (FN 151), S. 14, der es gar als falsch bezeichnet, die Magna Charta als den Ursprung des Verbots der Ausnahmegerichte zu sehen. 153 Denen jedoch nur beratende Funktion zukam, so Menzel (FN 151), S. 38 FN 56. Ausführlich Seif (FN 148), S. 153 (mit Beispiel zur Einwirkung der Krone auf den Prozeßausgang auf S. 161). 154 Siehe Loewenstein (FN 112), S. 3. 155 Die richterliche Tätigkeit sei eine Kunst und dafür fehle es dem Monarchen an Erfahrung und Ausbildung, siehe die ironischen Ausführungen der Entscheidung Prohibitions del Roy (1607) 12 Cokes Reports 63 (65): „(. . .) but His Majesty was not learned in the laws of his realm of england, and causes which concern the life, or inheritance, or goods, or fortunes of his subjects, are not be decided by natural reason but by the artificial reason and judgement of law, which law is an act which requires long study and experience, before that a man can attain to the cognizance of it (. . .).“

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dazu, in der Petition of Rights vom 7. Juni 1628 eine Reihe von Forderungen an den König zu stellen. Die Petition rügte u. a. den willkürlichen Erlaß von Haftbefehlen und verlangte daß der Wille des Königs nicht länger als Grund einer Verhaftung ausreichen dürfe156. In den Teilen VII, VIII, IX und X des Dokuments finden sich Forderungen nach Garantien, die unter das Gebot eines gesetzlichen Richters subsumiert werden könnten. So wendet sich das Parlament etwa gegen die willkürliche und im Widerspruch zum Gesetz stehende Rechtsprechung und Strafvollstreckung durch die vom König entsandten Kommissionen157 und verlangt deren Auflösung. In der Kritik stand hier vor allem die Praxis, über das Kriegsrecht der Krone unliebsame Personen zu beseitigen und z. T. Verbrecher zu schützen158. Die Forderung nach dem Verbot der königlichen Kommissionen läßt sich somit nur im Kontext der seit der Magna Charta zu beobachtenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen König und Kabinett auf der einen und Parlament auf der anderen Seite erklären. Diese Entwicklung führte im Jahre 1641 zur Aufhebung der Star-chamber159. Damit wurde die Kabinettsjustiz durch die Parlamentsjustiz abgelöst und der monarchische Absolutismus auf diese Weise durch den Parlamentsabsolutismus ersetzt160. Unter Karl II. fanden trotz Abschaffung der Star156

Siehe Teil III bis V der Petition of Right. Ausführlich Kern (FN 151), S. 16 ff. 158 Das Kriegsverfahren war ursprünglich dazu bestimmt, nur im Heer und den Kolonien angewandt zu werden. Es zeichnete sich durch ein kurzes Verfahren und harte Strafen aus. Der König nutzte dieses Instrument, um gegen die innere Auflehnung im Volke vorzugehen und seine absolutistische Stellung auszubauen. Es wurden Taten bestraft, die nach common law nicht strafbewehrt waren. Vgl. Menzel (FN 151), S. 40. 159 Durch den Act for the abolition of the Court of Star Chamber vom 5. Juli 1641, Punkt III: „Be it likewise declared and enacted by authority of this present Parliament, that neither His Majesty nor his privy Council have or have ought to have any jurisdiction, power or authority by English bill, petition articles, libel or any other arbitraty way whatsever to examine or draw into question, determine or dispose of the lands, tenements, hereditaments, goods or chattels of any the subjects of this kingdom, but the same ought to be tried and determined in the ordinary Courts of Justice and by the ordinary course of the law.“ Abgedruckt bei Samuel Rawson Gardiner, The constitutional documents of the Puritan Revolution 1625– 1660, 2. Aufl., Oxford 1899, S. 181. 160 Kern (FN 151), S. 20. Kritisch zur parlamentarischen Gerichtsbarkeit auch Menzel (FN 151), S. 40 ff. mit Nachweisen zu kritischen Stimmen aus der französischen Literatur, der in ihr eine „ebenso nachteilige Institution wie die königliche Willkür“ sah. Auch er verwendet den Begriff des „parlamentarischen Absolutismus“ und „Parlamentsabsolutismus“ in diesem Zusammenhang. Er charakterisiert in Bezug auf die bills of attainder, diese Form der Rechtsprechung dann als „Bestrafung einer bisher nicht strafbaren Handlung aus politischen Motiven unter Verweigerung des gewöhnlichen, jedem sonstigen Staatsbürger zustehenden Rechtswege“. 157

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chamber weiter willkürliche Verhaftungen und Verurteilungen statt, die unter Jacob II. zu der Habeas Corpus-Akte im Jahre 1679 führten. Mit ihr sollten keine neuen Rechte geschaffen, sondern nur die bereits bestehenden vor Eingriffen geschützt werden. Nicht zuletzt die Unzufriedenheit mit der Herrschaft Jacobs II. führte in der Folge zur Thronbesteigung von Wilhelm III. von Oranien und seiner Gemahlin Mary. Beide mußten jedoch zunächst eine vom Parlament vorgelegte Rechteerklärung unterschreiben: die Bill of Rights von 1689161. Diese bestimmt, daß die Weisung zur Errichtung des ehemaligen Gerichtshofes der Kommissare für kirchliche Angelegenheiten sowie alle Weisungen und Gerichtshöfe ähnlicher Art ungesetzlich sind sowie daß Geschworene ordnungsgemäß in Geschworenenlisten aufgenommen und ausgewechselt werden. Zudem wird der Krone das Recht abgesprochen, Gesetze aufzuheben oder ihre Anwendung auszusetzen (Teil II der Bill of Rights)162. Mit dem Act of Settlement aus dem Jahre 1701 werden wesentliche Elemente der Unabhängigkeit der Richter festgelegt (quamdiu se bene gesserint – during good behaviour)163: Der Krone ist es nunmehr verwehrt, Richter, die ordnungsgemäß ihr Amt erfüllen, willkürlich abzusetzen. Eine Beeinflussung der Richter durch Drohung von Seiten der Regierung mit Gehaltskürzung oder Entlassung wird dadurch ausgeschlossen. Insgesamt handelt es sich bei den bis zu dieser Zeit festgelegten Elementen um die Absicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrens, aber noch nicht um eine Garantie des gesetzlich zuständigen Richters164. d) Entwicklung bis in die Gegenwart Die weitere Entwicklung brachte bis zum Inkrafttreten des HRA keine grundlegenden Änderungen165. Die Unabhängigkeit der Richter, insbesondere des House of Lords, wird jedoch seit Mitte 2003 vermehrt diskutiert. Anlaß der Diskussion sind zwei Consultation Paper (CP) des Department for Constitutional Affairs (DCA), die sich mit der Ernennung der Richter166 und der Errichtung eines Supreme Court167 beschäftigten. Mit der Einfüh161

Siehe die Übersetzungen bei: Die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, BeckTexte im dtv, 5. Aufl., 2000, S. 572. 162 Kern (FN 151), S. 23, sieht in der Forderung „(. . .) nor crual and inusual punishments afflicted (. . .)“ die Wurzel des Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen. 163 Zu dem weiteren Inhalt siehe die Übersetzungen in (FN 161), S. 574. 164 Vgl. Seif (FN 148), S. 115 ff. und 157 ff. 165 Vgl. auch Anthony W. Bradley, The Constitutional Position of the judiciary, in: Feldman (Hrsg.), English Public Law, Oxford 2004, S. 333 ff. 166 Constitutional Reform: a new way of appointing judges, Juli 2003, CP 10/03. 167 Constitutional Reform: a Supreme Court for the United Kingdom, Juli 2003, CP 11/03.

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rung eines Supreme Court sollte die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gestärkt werden, die vor dem Hintergrund der Verzahnung der Richter des House of Lords mit dem Parlament häufig kritisiert wurde168. Ziel ist zudem ein transparenteres Verfahren bei der Richterernennung, das die Rolle des Lord Chancellors bei der Richterernennung verändern soll169. Ein auch vom DCA für diese Reformbestrebungen genannter Grund ist der Einfluß des HRA170. Das Verhältnis von Legislative, Exekutive und Judikative soll klarer definiert werden, wodurch Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter und der Justiz insgesamt gestärkt werden sollen171. Bereits der Anschein einer undurchsichtigen Verschränkung soll künftig vermieden werden172. Der Constitutional Reform Act von 2005173 hat diese Ansätze umgesetzt und dazu geführt, daß am 1. Oktober 2009 der Supreme Court seine Arbeit aufgenommen hat. Bezüglich der Kompetenzen ähnelt der Supreme Court dem alten House of Lords. Die alten Lordrichter sind damit auch Richter des neuen Supreme Court und behalten ihren Sitz im Oberhaus. Erst wenn neue Richter gewählt werden, sollen diese keinen Sitz mehr im Oberhaus innehaben. Die beabsichtigte Trennung der Gewalten ist durch den Umzug der Richter in ein neues Gebäude auch nach außen dokumentiert worden. Judikative und Exekutive befinden sich nun räumlich auf gegenüberliegenden Seiten. Die Reform des Amtes des Lordkanzlers verfolgt dieselbe Zielrichtung: Zweifel an der Unabhängigkeit der höchsten Richter sollen gar nicht erst aufkommen. Der Lordkanzler vereint nun nicht mehr Funktionen aller drei Gewalten in einer Person (Leiter der Sitzung des Oberhauses, Mitglied 168 Andrew LeSueur, Judicial Power in the Changing Constitution, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, 5. Aufl., Oxford 2004, S. 336 und S. 341. 169 „The fact that the Lord Chancellor, as the Head of the Judiciary, was entitled to sit in the Appellate and Judicial Committees and did so as Chairman, added to the perception that their independence might be compromised by the arrangements.“ CP 11/03. 170 „The Human Rights Act, specifically in relation to Article 6 of the European Convention on Human Rights, now requires a stricter view to be taken not only of anything which might undermine the independence or impartiality of a judicial tribunal, but even of anything which might appear to do so.“ CP 11/03. 171 Siehe CP 11/03, S. 10: „The Intention is that the new Court will put the relationship between the executive, the legislature and the judiciary on a modern footing, which takes account of people’s expectations about the independence and transparency of the judicial system.“ siehe auch S. 13: „(. . .) a separate Supreme Court will be an important part of a package of measures which will redraw the relationship between the Judiciary, the Government, and Parliament to preserve and increase our judges independence“. Zu einzelnen Aspekten der Reform siehe LeSueur (FN 168), S. 326 ff. 172 Siehe das Vorwort von Lord Falconer of Thoroton in CP 10/03. 173 Findet sich unter: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2005/4/contents, Stand: 9. August 2011.

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im Kabinett mit Aufgaben eines Justizministers, Oberster Richter). Der Lordkanzler ist nun kein Oberster Richter mehr, sondern nur noch für Exekutivaufgaben zuständig. Bemerkenswert ist der Bezug auf die rule of law als constitutional principle in Section 1 des Constitutional Reform Act174. 2. Inhalt der vorhandenen Regelungssätze a) Die besondere Stellung der Richterschaft in England Ein im Jahre 1909 erschienenes Buch trug den Titel „Imperium des Richters“, ein Ausspruch, der das tradierte englische Richterbild treffend beschreibt175. Es drückt das vom kontinentaleuropäischen abweichende Richterbild aus, das grundlegend ist für das fehlende Bedürfnis der englischen Rechtsordnung, die Zuständigkeit des einzelnen Richters gesetzlich vorauszubestimmen. Der englische Richter verkörpert eine hohe Autorität, die sich aus seiner zurückhaltenden Rolle im Verfahren begründet176, und er genießt das uneingeschränkte Vertrauen der Bevölkerung177. Seine starke Stellung wird durch die Betonung eines unabhängigen und unparteiischen Richters hervorgehoben. Dies führt dazu, daß es nach englischem Verständnis unerheblich ist, welcher Richter in persona für die konkrete Entscheidung zuständig ist, da jeder von ihnen im gleichen Maße unabhängig und unparteilich ist. Die englischen Gerichte kennen auch keine Untergliederung in feste Spruchkörper, vielmehr herrscht die Vorstellung, jeder Richter handele für das ganze Gericht178. Daraus begründet sich auch die im englischen Recht zulässige Einsetzung von Ad-hoc-Richtern, die auch nur für einen be174

„This Act does not adversely affect a) the existing constitutional principle of the rule of law b) the Lord Chancellor’s existing constitutional role in relation to that principle.“ 175 Zitiert bei Loewenstein (FN 112), S. 1. Zur Stellung der Richter in England, siehe auch Sandra Schulte-Nover, Strafrichter in Deutschland und England, 2002, S. 29 ff. 176 Hierzu Hein Kötz, Justiz in Deutschland und England: Ein Stilvergleich, JA 1991, S. 257 (259); zu der verfahrensleitenden Funktion des englischen Richters im Vergleich zur entscheidenden Funktion des kontinentaleuropäischen Richters, siehe Seif (FN 148), S. 377 f. 177 Siehe den Befund von Loewenstein (FN 112), S. 15, der zwar aus dem Jahr 1967 stammt, aber das unterschiedliche Ansehen der Richter in England im Vergleich zu Deutschland treffend beschreibt. In diesem Sinne auch Harald Koch, Rechtsvergleichende Fragen zum „Gesetzlichen Richter“, in: Heldrich/Uchida (Hrsg.), Festschrift für Hideo Nakamura, Tokyo 1996, S. 282 (296); auch Seif (FN 148), S. 348 f. 178 Vgl. auch Koch (FN 177), S. 296.

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grenzten Zeitraum in ihr Richteramt berufen werden können179. Ohne die Prämisse der grundsätzlichen Austauschbarkeit der Richter wäre dies nicht haltbar. Fehlende Untergliederung wie uneingeschränkte Austauschbarkeit der richterlichen Person führen dazu, daß im Verfahren eine Rüge wegen unzulässiger Besetzung von Spruchkörpern nicht existieren kann. Soweit es sich um Einzelheiten der Verfahrensgestaltung handelt, obliegen diese dem jeweiligen vorsitzenden Richter. Er bestimmt die im Einzelfall zuständigen Richter nach seinem Ermessen180 und orientiert sich dabei i. d. R. an ihrer Sachkenntnis und Erfahrung. Darüber hinaus kommt dem strengen Ehrenkodex des Berufsstandes eine regulative Wirkung zu, dessen Wirkung in der in England zahlenmäßig begrenzten Richterschaft nicht zu unterschätzen ist181. Aus diesem abweichenden Verständnis folgt, daß der englischen Rechtsordnung die Notwendigkeit der genauen Vorausbestimmung des im Einzelfall zuständigen Richters fremd ist. Dafür kommen sowohl der Möglichkeit, einen Richter wegen Befangenheit abzulehnen als auch der Garantie von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in diesem Verständnis eine umso größere Bedeutung zu. b) Das Postulat des unabhängigen und unparteiischen Richters Eng mit der Forderung nach der Unabhängigkeit der Richter verknüpft ist das Verbot willkürlicher Richterentziehung. Fehlen diese Garantien, hat es die Regierung in der Hand, für den einzelnen Fall eine genehme Zusammensetzung der Richterbank herbeizuführen. Die Unabhängigkeit der Richter wird als ein „cardinal feature“182 des englischen Verfassungsrechts bezeichnet und findet damit Anerkennung als fundamentales Verfassungsprinzip183. Die Richter sollen sowohl von der Legislative als auch von der 179

Mit Beispielen Seif (FN 148), S. 347 f. Ausführlich hierzu Koch (FN 177), S. 290 ff. 181 Ausführlich Seif (FN 148), S. 348 f. 182 Phillips (FN 25), S. 16, der weiter ausführt: „The principle of judicial independence is not infringed by the fact that judges are appointed by the Executive, that is, on the recommendation of the Prime Minister after consulting the Lord Chancellor, for they have to be appointed by someone.“ Anders jetzt aber die Reformbestrebungen aus dem Jahr 2003, siehe hierzu LeSueur (FN 168), S. 323 ff.; siehe auch Barendt (FN 3), S. 39 RN 1.104. 183 Vgl. Seif (FN 148), S. 344, dazu, daß trotz fehlender formaler Gewaltenteilung in England, die u. a. dadurch charakterisiert ist, daß sowohl die Monarchin als auch der Lord Chancellor alle drei Gewalten in sich vereinen, die sachliche Unabhängigkeit der Richter als Fundamentalprinzip anerkannt ist. 180

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Regierung unabhängig sein184. Blackstone hat festgestellt, daß die Rechtsprechung aller Gerichte „either indirectly or immediately derived from the Crown“185. Allerdings ist seit der Entscheidung Prohibitions del Roy aus dem Jahre 1607 der König von der Rechtsprechung ausgeschlossen186. Aber auch heute können immer noch zahlreiche formelle Verknüpfungen zwischen der Krone und der Gerichtsbarkeit festgestellt werden187. Einschränkungen könnten aber auch hier durch das Dogma der Parlamentssouveränität hervorgerufen werden, das zumindest theoretisch die Möglichkeit hat, sich jederzeit in die Justiz einzumischen und etwa durch nachträgliche Gesetzesänderung die Rechtsprechung zu beeinflussen188. Die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richter wird durch den Act of Settlement geschützt, dessen Schutzrichtung Eingang in den Supreme Court Act gefunden hat189. Weiteren Schutz gewähren Institute wie die richterliche Immunität190, das Institut des contempt of court (Mißachtung des Gerichts)191 oder etwa die rule against bias. c) Die rule against bias Die rule against bias, als Teil der natural justice Konzeption, schützt den einzelnen vor einem Verfahren durch einen parteilichen Richter. Hier ändert sich die Schutzrichtung, da nicht mehr der Richter als Organ der Rechtspflege geschützt wird, sondern nunmehr der einzelne vor einer Beeinträchtigung des Verfahrens durch einen befangenen Richter. Das Verbot, daß niemand Richter in eigener Sache sein darf (nemo debet esse judex in propria causa), erfaßt von seinem Wortlaut her nur Richter. In der Praxis wird es jedoch weiter gefaßt und auf jede Person angewandt, die richter184

Die Bedeutung der Unabhängigkeit der Gerichte wird in zahlreichen Entscheidungen betont, meistens im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung, siehe Bradley 2004 (FN 165), S. 340 f. RN 6.13 m. w. N. 185 Blackstone, Commentaries, Bd. I, Chapter VII. 186 Zitiert bei Bradley 2004 (FN 165), S. 339 FN 25. 187 Siehe etwa Supreme Court Act 1981, section 10 (4). 188 Zu dem bis jetzt wohl einzigen Beispielsfall, in dem dies zum Nachteil des Prozeßsiegers geschehen ist Seif (FN 148), S. 350. 189 Dort heißt es: „That judges’ commissions be made quamdiu se bene gesserint [during good behaviour], and their salaries ascertained and established, but upon the address of both Houses of Parliament it may be lawful to remove them.“ 190 Näher hierzu und zu weiteren Absicherungen siehe Loewenstein (FN 112), S. 17 (19). 191 Ausführlich hierzu Seif (FN 148), S. 349 f., mit dem Hinweis, daß der verschuldenunabhängige Tatbestand des contempt of court bei jeder Form der unzulässigen Einflußnahme auf das Verfahren verwirklicht ist, nicht zuletzt daher auch bei dem Versuch der direkten Beeinflussung des Richters selbst.

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liche Tätigkeiten ausübt192. Diese Maxime wurde im englischen Recht lange Zeit als Naturrechtsprinzip angesehen193 und hatte zur Folge, daß ein Gesetz bereits aus sich selbst heraus nichtig ist, soweit es gegen dieses Prinzip verstößt194. Dies ist Ausdruck der starken Stellung, die der Befangenheitsregelung im englischen Recht zukommt195. Wie auch im deutschen Recht besteht in der englischen Rechtsordnung das Problem zu bestimmen, wann eine Befangenheit des Richters vorliegt. Hierbei kann der bekannte Ausspruch „justice should not only be done but should manifestly and undoubtedly be seen to be done“196 als Ausgangspunkt herangezogen werden. Seit jeher unproblematisch als Fall der Befangenheit zu identifizieren ist es, wenn der Richter oder ein anderes Mitglied des Gerichts ein direktes finanzielles oder anderes Interesse am Ausgang des Verfahrens hat197. In diesen Fällen sind die betroffenen Personen automatisch von dem Verfahren ausgeschlossen. Auch wenn das Verhalten des Richters Anlaß gibt, an seiner Unbefangenheit zu zweifeln, ist ein Ausschluß aus dem Verfahren möglich. Um zu bestimmen, ob ein solcher Zweifel ausreichend für die Annahme der Befangenheit ist, haben die englischen Gerichte eine Vielfalt an Maßstäben entwickelt198. Zunächst wurde häufig der Maßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (real likelihood) angelegt199. Andere Richter machten die Beurteilung des Vorliegens von Befangenheit von einem begründeten Verdacht (reasonable suspicion) abhängig200. Beide Kriterien kamen häufig zu dem192 Vgl. z. B. Steepless v. Derbyshire County Council (1985) 1 WLR 256; hierzu auch F.A.R. Bennion, Statutory Interpretation, 4. Aufl., London/Dublin/Edinburgh 2002, S. 978 (mit weiteren Beispielen). 193 Ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung, de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 521–525 RN 12-001–12-007. 194 „Even an Act of Parliament made against natural equity, as, to make a man judge in his own case, is void in itself; for jura naturae sunt immutabilia, and they are leges legum“, zitiert bei Bennion (FN 192), S. 976 FN 1. 195 Ausführlich hierzu S.H. Bailey, Grounds for Judicial Review: Due Process, Natural Justice and Fairness, in: Feldman (Hrsg.), English Public Law, Oxford 2004, S. 775 (816) RN 15.79 ff. 196 R. v. Sussex Justices ex parte Mc Carthy (1924) 1 KB 256 (259). Hierzu auch Peter Cane, An introduction to administrative law, 3. Aufl., Oxford 1996, S. 160 und 177 f.; John F. McEldowney, Public Law, 3. Aufl., London 2002, S: 508 RN 17-106 ff. 197 R. v. Bow Street Metropolitan Stipendiary Magistrate, ex parte Pinochet Ugarte (No 2) (1999) 2 WLR 272. 198 Ausführlich Wade/Forsyth (FN 83), S. 450 ff.; de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 525 ff. RN 12-007 ff. 199 Insgesamt zur Entwicklung Wade/Forsyth (FN 83), S. 464 ff. FN 93 m. w. N. 200 Vgl. statt aller Metropolitan Properties Co. (FGC) Ltd. v. Lannon (1969) 1 QB 577 (599).

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selben Ergebnis, da likelihood nicht als Wahrscheinlichkeit, sondern im Sinne von Möglichkeit interpretiert wurde. Das House of Lords hat diesbezügliche Unklarheiten in einer Entscheidung aus dem Jahre 1993 etwas gelichtet201. Der Maßstab liege darin, ob angesichts der jeweiligen konkreten Umstände eine echte Gefahr (real danger) der Befangenheit bestehe. Der Ausdruck danger werde likelihood vorgezogen, um klarzustellen, daß die Beurteilung aufgrund von Möglichkeiten und nicht Wahrscheinlichkeiten vorgenommen werde202. In neueren Entscheidungen zieht das House of Lords die Bezeichnung „real possibility of bias“ der „real danger“-Formulierung vor, ohne in der Sache jedoch eine andere Auffassung zu vertreten203. Unabhängig davon, welche Formulierung im Einzelfall gewählt wird, wird das Ergebnis in der überwiegenden Anzahl der Fälle am Ende identisch sein. Die Beurteilung erfolgt aus dem Blickwinkel eines „informierten Beobachters“ heraus204. d) Zusammenhang mit dem Verbot von Ausnahmegerichten Die Forderung nach richterlicher Unabhängigkeit steht in engem Zusammenhang mit dem Verbot von Ausnahmegerichten205. In der englischen Rechtsordnung ist seit der Glorious Revolution das Verbot von königlichen Sondergerichten anerkannt. Die königliche Prärogative ermächtigt seitdem 201 R. v. Gough (1993) AC 646, bestätigt von R. v. Inner West London Coroner, ex parte Dallaglio (1994) 4 All ER 139. Hierzu auch Bailey (FN 195), S. 817 RN 15.80. 202 R. v. Gough, 672/673: „It was because Lord Hewart CJ’s judgement in the Sussex Justices case (1924) 1 KB 256 at 258–259 has created difficulties that in the Camborne Justices case (1955) 1 QB 41, where exactly the same issue was involved, the court warned against a misuse of Lord Hewart CJ’s judgment since it was being „urged as a warrant for quashing convictions or invalidating orders on quite unsubstantial grounds and, indeed, in some cases, upon the flimsiest pretexts of bias“ (see (1955 1 QB at 51–52). As the court pointed out, the continued citation of Lord Hewart CJ’s maxim may lead to the erroneous impression that „it is more important that justice should appear to be done than that it should in fact be done“. I therefore suggest that the Sussex Justices case neither creates nor should it be placed in a separate category“, und Lord Goff 659/660, „The test, as so stated, gives sufficient effect, in cases of apparent bias, to the principle that justice must manifestly be seen to be done, and it is unnecessary, in my opinion, to have recourse to a test based on mere suspicion, or even reasonable suspicion, for that purpose; und 661“ it is not necessary that actual bias should be proved (. . .) the inquiry is directed to the question wether there was such a degree of possibility of bias on the part of the tribunal that the court will not allow the decision to stand.“ 203 Porter v. Magill (2002) 1 All ER 465 (95–104). 204 Ausführlich hierzu McEldowney (FN 196), S. 509 RN 17-107 und 17-109. 205 Seif (FN 148), S. 343: „Das Ausnahmegericht ist Synonym für abhängige Justiz.“

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nicht mehr zur Errichtung spezieller Gerichte. Für die Errichtung eines Gerichts ist nunmehr ein Parlamentsgesetz erforderlich, und es kann nicht mehr einseitig vom Monarchen nach freiem Ermessen begründet werden. Ohne ein entsprechendes Parlamentsgesetz ist es somit der Exekutive sowie der Prärogative versagt, außerordentliche Gerichte einzusetzen206. 3. Verhältnis der festgestellten Garantien zur rule of law Die rule against bias als Element der natural justice-Konzeption und die Garantien der Unabhängigkeit der Richter sind Ausprägungen der rule of law. Beide Aspekte sind Grundvoraussetzungen eines objektiven und fairen Gerichtsverfahrens, dessen Gewährleistung ein Aspekt der rule of law ist. Allerdings läßt sich aus der rule of law keine Notwendigkeit ableiten, daß der jeweils konkret zur Entscheidung berufene Richter normativ vorherbestimmt sein müßte. Auch dem in der rule of law enthaltenen Willkürverbot läßt sich ein derartiges Erfordernis nicht entnehmen. Die rule of law beinhaltet auch nicht das Erfordernis eines gesetzlich vorgeschriebenen Zuständigkeitsbereichs des englischen Richters. Ein derartiger Gesetzesvorbehalt läßt sich nicht ableiten207. 4. Bewertung Obgleich es das Gebot des gesetzlichen Richters in England nicht im wörtlichen Sinne gibt, existieren doch elementare Bestandteile, die dem deutschen Verständnis des gesetzlichen Richters als funktional äquivalent gleichgesetzt werden können. Soweit die Stellung des Richters als unabhängiges und unparteiliches Organ in Frage steht, gewährleistet die englische Rechtsordnung den „gesetzlichen Richter“. Die untersuchten Garantien des englischen Rechts gewähren einen Schutz vor sachfremden Einflüssen in die Justizausübung. Insoweit erhalten das Gebot der Objektivität und des rechtsstaatlichen Verfahrens ihre Verankerung in den Garantien der rule against bias und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Unabhängigkeit der Richter. Soweit das Verbot von Ausnahmegerichten betroffen ist, kennt das common law seit der Glorious Revolution das Verbot von Prärogativgerichten. Das Fehlen des Erfordernisses der abstrakt-generellen Vorausbestimmung des zuständigen Richters wird durch die beschriebenen Eigenheiten des englischen Rechts obsolet, bzw. der dahinter stehende Gedanke wird auf 206 207

Ausführlich hierzu Seif (FN 148), S. 345 ff. So auch Seif (FN 148), S. 346.

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andere Weise umgesetzt. Es darf dabei allerdings nicht verkannt werden, daß durch die Parlamentssouveränität und die damit einhergehende Absage an höherrangiges Verfassungsrecht die theoretische Möglichkeit der Abschaffung sowohl der Garantien des Act of Settlement sowie auch des Supreme Court Act besteht. Der Ehrenkodex innerhalb der Richterschaft, dem als informelle Barriere eine hohe Wertigkeit zukommt, ist aus deutscher Sicht eine relativ unsichere bzw. wandelbare Absicherung vor sachfernen Manipulationen innerhalb eines Gerichts. Die Diskussion und die Reform über die Ernennung der Richter sowie die Errichtung des Supreme Court sind zum einen ein Problem der Gewaltenteilung, zum anderen kommt ihnen jedoch vor dem Hintergrund des Postulat der Unabhängigkeit der Richter in England eine große Bedeutung zu. Damit hat sich im englischen Recht eine Reform vollzogen, die angesichts des tradierten und traditionell gewachsenen englischen Rechts ein überraschendes Aufstoßen einer bislang verschlossenen Tür darstellt.

III. Das Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs Das Recht auf rechtliches Gehör (fair hearing) wird im englischen Recht als audi alteram partem oder fair hearing bezeichnet. Das Erfordernis des rechtlichen Gehörs vor Gericht gehört zu den ältesten Prinzipien des common law und zählt zugleich zu den natural justice-Prinzipien. 1. Historische Entwicklung a) Entwicklung vor der Entscheidung „Ridge v. Baldwin“ Die Regel audi alteram partem hat im englischen Recht eine lange Tradition208. So forderte bereits John Legate in seiner Petition against charges of heresy: „Doth our Laws judge a man before it heare him and now (sic) what he hath done.“209 Während das Erfordernis der Anhörung vor Gericht eine lange Tradition im englischen Recht hat, gilt dies für die Anhörung vor belastenden Exekutiventscheidungen nicht im gleichen Maße. Ausgehend von dem alten common law-Grundsatz hat sich ein komplexes und durch unübersichtliches case law determiniertes Recht auf Gehör im englischen Recht herausgebildet. Die frühesten bedeutsamen Fälle für die Ausdehnung des Grundsatzes auf andere als gerichtliche Entscheidungen sind 208 Ausführlich hierzu de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 380 RN 7-007 ff.; Wade/Forsyth (FN 83), S. 476 ff. 209 State Trials (1612) II, S. 729–734, Nr. 90.

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der Fall „Bagg“210 aus dem Jahre 1615 und der Fall „Bentley“211 aus dem Jahre 1723. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Rechtsprechung hauptsächlich auf der Basis dieser zwei Präzedenzfälle fortentwickelt. Richter Willes führte in der Entscheidung des Court of Common Pleas in „Cooper v. Board of Works for Wandsworth“212 aus: „(. . .) a tribunal which is by law invested with power to affect the property of one of Her Majesty’s subjects, is bound to give such subject an opportunity of being heard before it proceeds; and that the rule is of universal application and founded on the plainest principles of justice.“213 Die Richter kamen hier zu dem Ergebnis, daß es ein Gebot der Gerechtigkeit sei, den Betroffenen der Abrißverfügung eines Hauses vor deren Vollzug anzuhören214. Damit wurde das Erfordernis des rechtlichen Gehörs von den Gerichten ausdrücklich bestätigt. Die Gewähr des rechtlichen Gehörs wurde im Weiteren auf Exekutiventscheidungen ausgedehnt und immer konsequenter verwirklicht. Ende des 19. Jahrhunderts geriet die Fortentwicklung eines umfassenden right to a fair hearing ins Stocken. Dies führte dazu, daß zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht auf rechtliches Gehör in mehreren Fällen verneint wurde. So erhielt beispielsweise ein Hauseigentümer, dessen Appartmenthaus aus sanitären Gründen geräumt wurde, keinen Zugang zu dem report of inquiry. Obwohl er wie vorgesehen Beschwerde bei der zuständigen Behörde eingereicht hatte, wurde diese zurückgewiesen. Vor Gericht machte der Hauseigentümer geltend, daß er den report of inquiry, der die Entscheidungsgrundlage für die Ablehnung seiner Beschwerde war, nicht zu Gesicht bekommen hätte. Dadurch sei das Gebot der natural justice verletzt worden. Das zuständige Gericht hatte die Frage zu klären, ob das zugrundeliegende Gesetz, das die zuständigen Behörden zum Erlaß von Verfahrensrechten ermächtigte, dieses abschließend regelte oder ob die Grundsätze der na210 Siehe Bagg’s Case (13 Jacobi) 11 Coke’s Reports 93 b (93 v-100). Hierbei ging es um James Bagg, der den Mayor of Plymouth, seinen Vorgesetzten, durch Worte und Gestik beleidigte. Darauf hin wurde er ohne vorherige Möglichkeit zu einer Stellungnahme entlassen. Das Gericht ordnete seine Wiedereinstellung an. 211 R. v. Chancellor of the University of Cambridge (1723), 1 Str. 557. Herr Bentley war ein in Cambridge diplomierter Arzt, der ohne die erforderliche spezielle Genehmigung der Universität in London seinem Beruf nachging. Die Universität Cambridge entzog ihm darauf hin – ebenfalls ohne vorherige Anhörung – das Diplom. Der Court of King’s Bench erklärte die Entziehung für ungültig. Hierzu auch Wade/Forsyth (FN 83), S. 477. 212 Cooper v. Board of Works for Wandsworth (1863) 14 CB (NS) 180 (insbesondere 191). Hierzu auch Thompson (FN 103), S. 419. 213 Cooper v. Board of Works for Wandsworth (1863) 14 CB (NS) 180 (190). 214 Siehe Richter Byles, in: Cooper v. Board of Works for Wandsworth (1863) 14 CB (NS) 180 (194): „(. . .) although there are no positive words in a statute, requiring that the party shall be heard, yet the justice of the common law will supply the omission of the legislature.“

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tural justice ergänzend heranzuziehen waren. Der Court of Appeal erkannte die Argumentation des Klägers an, wohingegen das House of Lords sie in der nächsten Instanz ablehnte215. Das House of Lords stützte sich ausschließlich auf den Wortlaut des Gesetzes und begründete dies damit, daß die Gewährung von Verfahrensrechten im Bereich des Verwaltungshandelns das Verfahren unnötig verzögere216. Ein anderer Fall betraf eine Abschiebung: Im „Venicoff Case“217 wurde ausgeführt, daß die abschiebungsrechtliche Zuständigkeit des Home Secretary lediglich exekutiver Natur sei und der Abzuschiebende somit kein Recht auf Gehör habe. Auf diese Weise wurde dieses Recht immer mehr auf Entscheidungsträger beschränkt, die judicially handeln. Dabei handelte es sich um eine Kategorie, die eine gerichtsähnliche Entscheidungssituation erforderte und somit die meisten Verwaltungsentscheidungen ausschloß218. Aus dieser Unterscheidung resultierte eine unklare Dogmatik zur Anwendbarkeit der natural justice-Prinzipien. In der Folge versuchten die englischen Gerichte, die Erfordernisse einer effektiven Verwaltung mit der Respektierung der Verteidigungsrechte des einzelnen in Einklang zu bringen. Die Verwaltung hatte starke Bedenken, daß eine zu strenge Beachtung der Gewährung rechtlichen Gehörs eine Verzögerung des Verwaltungshandelns bewirke, was wiederum zur einer Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses führen würde219. Der Höhepunkt dieser Rückwärtsentwicklung kam mit dem Urteil „The Queen v. Metropolitan Police Commissioner“ des Court of Queen’s Bench, die sich auf den Führerscheinentzug eines Taxifahrers bezog. Dieser wurde zwar von der zuständigen Behörde gehört, durfte aber keinen Entlastungszeugen präsentieren220. In der Literatur wurden aufgrund dieser Entwicklung vereinzelt Befürchtungen laut, die alten common law-Grundsätze, die Ausdruck der natürlichen Gerechtigkeit seien, würden nicht mehr beachtet221. 215

Local Government Board v. Arlidge (1915) AC 120. Local Government Board v. Arlidge (1915) AC 120 (132 und 137). 217 R. v. Leman Street Police Station Inspector, ex parte Venicoff (1920) 3 KB 72. 218 Vgl. hierzu R. v. Electricity Commissioners, ex parte London Electritcity Joint Committee Company (1920) Ltd. (1924) 1 KB 171 (205). Vgl. auch Elisabeth Zoller, Droit constitutionnel, 2. Aufl., Paris 1999, S. 588 RN 295, die auch erläutert, daß die natural justice Garantien ursprünglich nur bei Entscheidungen gewährt wurden, die einen judicial oder quasi-judicial Charakter hatten. 219 Dieser Ansatz entspricht der Ansicht Lord Shaw’s in: Local Government Board v. Arlidge (1915) AC 120 (137). 220 The Queen v. Metropolitan Police Commissioner, ex parte Parker (1953) 1 WLR 1150. Vgl. auch die Entscheidung Nukkuda Ali v. Jayaratne (1951) AC 66, in der es das Gericht für die Richtigkeit der Entscheidung einer Behörde dahingestellt ließ, ob der Betreffende gehört wurde oder nicht. Kritisch zu dieser Entwicklung William Wade, The Twilight of natural justice?, LQR 67, 1951, S. 103 (105). 221 Wade (FN 220), S. 109. 216

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b) Die Entscheidung „Ridge v. Baldwin“ Der Wendepunkt kam 1963 mit der Leitentscheidung des House of Lords im Fall „Ridge v. Baldwin“222. In ihr ging es um die Entlassung eines hohen Polizeibeamten, der sich auf die Ungültigkeit seiner Entlassung berief. Da er vorher nicht über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert worden war, seien seine Verteidigungsrechte nicht respektiert und damit die natural justice verletzt worden. Das House of Lords stimmte – entgegen der vorher geäußerten Ansichten des High Court und des Court of Appeal – dieser Argumentation zu223. Die ursprüngliche Beschränkung der natural justice-Anforderungen auf Entscheidungen, die als judicially224 oder quasijudicial225 einzustufen sind, wurde mit dieser Entscheidung relativiert226. Das House of Lords führte insbesondere aus, daß jede Entscheidung den Prinzipien der natural justice zu genügen hat, die Rechte oder Interessen einer Person betrifft227. Vor allem handele jeder Entscheidungsträger in diesem Bereich „judicially“228. Der Ausschluß der natural justice sollte demnach die Ausnahme gewesen sein und ihre Anwendung im Einklang mit den alten Prinzipien des common law die Regel. Im weiteren Verlauf der Entwicklung der Rechtsprechung wurde das Erfordernis der Anhörung immer weiter ausgedehnt, bis es schließlich den gesamten Bereich öffentlicher Entscheidungen erfaßte229. Man kehrte zu dem 222

Ridge v. Baldwin (1964) AC 40. Siehe hierzu auch Ausführungen bei Thompson (FN 103), S. 415. 223 Interessanterweise war diese Frage hier gar nicht entscheidungsrelevant, da es ausdrückliche Regeln über den Gebrauch von Disziplinarmaßnahmen gegenüber englischen Polizisten gab, die besagten, daß dem Betroffenen die Beschwerden bzw. Vorwürfe vorab mitgeteilt werden müssen, damit er seine Verteidigung vorbereiten kann. Dennoch führten die Richter in dem Fall aus, wie es sich verhielte, wären diese Regeln nicht anwendbar gewesen vgl. Ridge v. Baldwin (1964) AC 40 (insbesondere 79). 224 de Smith/Woolfl/Jowell (FN 76), S. 387 RN 7-019 ff. (insbesondere RN 7-028 mit einer Erklärung, was unter „judicially“ zu verstehen ist). Vgl. auch Wade/Forsyth (FN 83), S. 482. 225 de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 389 RN 7-026 und RN 7-028. 226 Sowie die bisherige undurchschaubare Rechtsprechung zu natural justice aufgearbeitet, Ridge v. Baldwin (1964) AC 40 (65). Hierzu de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 397 RN 7-035; Wade/Forsyth (FN 83), S. 490 f. 227 Schmidt v. Secretary of State for Home Affairs (1969) 2 Ch 149. 228 Ausführlich hierzu auch Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 555 f. (insbesondere RN 11.14). 229 In der Entscheidung Cinnamond v. British Airports Authority (1980) 1 WLR 582 wird das Recht auf Gehör davon abhängig gemacht, ob die Betroffenen eine „legitimate expectation of being heard“ haben konnten, hierzu auch Thompson (FN 103), S. 419.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

ursprünglichen Zweck des Prinzips der natural justice zurück, der Gewährleistung des Schutzes privater Rechte bei der Ausübung staatlicher Macht. Die Anwendbarkeit der natural justice hing weiterhin davon ab, ob der Entscheidungsträger eine richterliche, quasi-richterliche oder rein administrative Funktion wahrnahm, aber der Anwendungsbereich der ersten beiden Kategorien wurde stark ausgeweitet. Aufgegeben wurde diese Unterscheidung dann in der Entscheidung des Hight Court „Re HK“230. Dort wurde entschieden, daß unabhängig von einer richterlichen oder quasi-richterlichen Funktion der zuständigen Behörde das Verfahren fair zu sein habe und dem Betroffenen die Gelegenheit gegeben werden müsse, gehört zu werden und Kenntnis von den Entscheidungsgrundlagen zu erhalten. Insgesamt sind Bedeutung wie auch Anwendungsbereich des fair hearing beständig ausgeweitet worden, so daß seine Anforderungen heute sowohl von den Gerichten als auch in jedem Bereich der Exekutive beachtet werden müssen. 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung a) Wesen des right to a fair hearing Lord Diplock hat das right to be heard als ein fundamental right bezeichnet231. Dies bedeutet, daß seine grundsätzliche Anwendung nicht auf eine besondere Form der Entscheidung beschränkt sein kann, sondern umfassendere Geltung beansprucht. Entsprechend haben die Gerichte festgestellt, daß die Unterscheidung zwischen administrative und judicial bei der Bestimmung der Anwendbarkeit des right to a fair hearing nicht hilfreich ist232. Gleichzeitig hinterfragen die Gerichte immer wieder, ob eine Anhörung des Betroffenen für ein als fair anzusehendes Verfahren nötig gewesen wäre. Dieser Ansatz scheint das automatische Erfordernis einer Anhörung zu relativieren mit der Folge, daß im Einzelfall von der Anhörung abgesehen werden kann, wenn sie für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens entbehrlich ist233. Grundsätzlich gehen die Gerichte jedoch von der Vermutung aus, daß eine Anhörung des Betroffenen erfolgen muß; nur ausnahmsweise kann diese unterbleiben234. 230

In diesem Sinne Re HK (1967) 2 QB 617 (630 B). Lord Diplock in: O’Reilly v. Mackman (1983) 1 AC 237 (279). 232 Siehe in diesem Zusammenhang die Entscheidung R. v. Commission for Racial Equality, ex parte Cotterell (1980) 1 WLR 1580. 233 So wurde das rechtliche Gehör beispielweise in Mc Inness v. Onslow-Fane (1978) 1 WLR 1520 verneint. Hierzu auch Bailey (FN 195), S. 789 RN 15.27. 234 Zum Beispiel Council of Civil Service Unions v. Minister for Civil Service (1985) AC 374. 231

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b) Das Recht auf rechtliches Gehör als Bestandteil des natural justice-Konzepts Das Recht auf rechtliches Gehör ist Bestandteil des natural justice-Konzeptes. Es ist Ausdruck der engen Verbindung des common law mit moralischen Grundsätzen und umfaßt bis heute neben dem Erfordernis der Unparteilichkeit des Richters gerade auch das Erfordernis des fair hearing. Häufig wird in neueren Abhandlungen statt von natural justice von einer duty to act fairly oder procedural fairness gesprochen, die ein fair hearing erfordern235. Die Kombination der Begriffe natural und justice ist als zu unklar kritisiert worden236. Die Terminologie sei nicht nur Produkt längst vergangener Zeiten und habe keine eigene Aussagekraft237, sondern der Begriff justice sei auch weit davon entfernt, natürlich zu sein238. Coke hingegen sah in dem Konzept ein principle of divine justice239. Diese Idee einer natürlichen Gerechtigkeit und die Verknüpfung mit moralischen Werten sind dem kontinentaleuropäischen Denken in dieser Form fremd. Trotz der skizzierten Kritik taucht die Bezeichnung natural justice inzwischen in verschiedenen englischen Parlamentsgesetzen auf, ohne jedoch inhaltlich näher erläutert zu werden240. Rechtsprechung und Literatur scheinen sich jedoch zunehmend auf die Bezeichnung procedural fairness oder einfach nur fairness zurückzuziehen241. c) Verhältnis zur rule of law Das Erfordernis des fair hearing als Element der natural justice ist Ausprägung der rule of law. Grundlegende Ziele der rule of law sind u. a. die 235 Hierzu ausführlich de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 472 RN 9-060 und S. 401 RN 8-001. Vgl. auch die Ausführungen bei Bailey (FN 195), S. 781 RN 15.14. 236 Wurde beschrieben als „sadly lacking in precision“, de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 377 RN 7-007. 237 LJ Ormrod: „except perhaps a hint of nostalgia“, in: Norwest Holst Ltd. v. Secretary of State for Trade (1978) Ch. 221 (226). Siehe auch de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), 378 RN 7-007. Bailey (FN 195), S. 781 RN 15.14, spricht insoweit von einer „historically uncertain association with natural law“. 238 In diesem Sinne V-C Megarry in: McInnes v.Oslow-Fane (1978) 1 WLR 1520 (1530): „(. . .) justice is far from being a „natural“ concept – the closer one goes to a state of nature, the less justice does one find.“ 239 Edward Coke, Institutes on the Laws of England, iii, 35. 240 Vgl. Wade/Forsyth (FN 83), S. 443 (mit Beispielen in FN 20). 241 Siehe Bailey (FN 195), S. 781 RN 15.14, zu dem Ansatz, zwischen fairness und natural justice eine inhaltliche Differenzierung vorzunehmen, dem er auf S. 788 in RN 15.24 ein „degree of unnecessary artificiality“ bescheinigt.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Verhinderung staatlicher Willkür und die Forderung nach einem fairen Verfahren242. Dabei ist die Gewährung rechtlichen Gehörs eine Grundvoraussetzung für ein faires Verfahren nach dem Maßstab der rule of law. Hier zeigen sich die enge Verbindung und gegenseitige Bedingtheit der einzelnen Aspekte im englischen Recht. Als integraler Bestandteil verwirklicht das fair hearing eine zentrale Forderung der rule of law. Grundsätzlich hat jedem hat die Möglichkeit offen zu stehen, eine Entscheidung zu beeinflussen, die seine Interessen berührt. In diesem Sinne erklärt Jowell: „(. . .) that the right not be condemned unheard ist a central feature of the rule of law (. . .).“243 3. Inhalt des rechtlichen Gehörs a) Einzelanforderungen Bedingungen und Anforderungen eines fair hearing wurden in England besonders ausführlich im Verwaltungsrecht analysiert244. Das common law kennt eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelrechte im Rahmen des fair hearing, so daß sich aus dem Erfordernis eines fair hearing mehrere Einzelanforderungen ableiten lassen. Die Anforderungen an ein fair hearing sind dem entsprechend nicht statisch, sondern ergeben sich aus den Anforderungen des Einzelfalls245. Die Gerichte haben jedes Mal aufs neue abzuwägen, welche Anforderungen ein fairer Verfahrensablauf zu erfüllen hat, der den Respekt der Anhörungsrechte einschließt246. Eine abschließende Aufzählung dieser Verästelungen gibt es bislang noch nicht247. Es haben sich jedoch einige Anforderungen als Kernbestand des rechtlichen Gehörs herausgebildet248. Dazu zählt zunächst die Möglichkeit des prior notice of the case, wonach dem Adressaten einer Entscheidung die Absicht, eine solche zu erlassen, rechtzeitig bekannt gegeben werden muß249. 242 Siehe T.R.S. Allan, Law, Liberty and Justice, Oxford 1993, S. 28; Jowell (FN 66), S. 6. 243 Jowell (FN 66), S. 20. 244 Eine Zusammenstellung der durch die Gerichte entwickelten Kriterien, wann verfahrensrechtliche Standards von anderen Entscheidungsträgern als Gerichten zu verlangen sind, findet sich bei Bailey (FN 195), S. 790 RN 15.28. 245 Ausführlich hierzu Bailey (FN 195), S. 794 ff. RN 15.35 ff. 246 Hierzu Galligan (FN 149), S. 348; Cane (FN 196), S. 161. 247 Ausführlich jedoch de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 431 ff. RN 9-001 ff.; Wade/Forsyth (FN 83), S. 496 ff. 248 Zu den Problemen bei der Umsetzung der Anforderungen des fair hearing, siehe Cane (FN 196), S. 162. 249 So in Forrest v. Brighton Justices (1981) AC 1038 (1045): „One of the principles of natural justice is that a person is entitled to adequate notice and opportu-

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Dem Betroffenen ist sodann ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen, damit er Stellung zu dem Sachverhalt nehmen kann250. Die Parteien eines Rechtsstreits müssen zudem über den Prozeßinhalt umfassend informiert werden; hierzu gehört auch die Offenlegung der Beweismittel und sonstiger wichtiger Dokumente durch den Entscheidungsträger, sei es ein Gericht oder eine andere Stelle (disclosure). Das rechtliche Gehör ist auch durch die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme erfüllt; eine Gewährleistung verbaler Äußerung ist nicht zwingend erforderlich251. Vor allem trifft das Gericht eine umfassende Pflicht, alle Beweise und Einlassungen zu berücksichtigen. Zudem sind die entscheidungsrelevanten Beweise den Parteien mitzuteilen. Insbesondere soll das Gericht nur solche Beweise und Tatsachen berücksichtigen, die Gegenstand des Prozesses waren, nicht aber solche, die es zufällig auf sonstige Weise erfahren hat. Unterschiedlich beurteilt wird, ob dem Recht auf rechtliches Gehör ein „right to legal representation“ zu entnehmen ist252. b) Verletzungsfolgen Bei nicht oder nicht ordnungsgemäß erfolgter Anhörung ist eine Heilung des Verfahrensfehlers möglich253. Dogmatisch gehört die Verletzung der natural justice-Anforderung in den Bereich des fehlerhaften Verfahrens und des Machtmißbrauchs, der die vom Parlament vorgegebenen Grenzen überschreitet (ultra vires). Die Mißachtung kann von dem Betroffenen im Verfahren der judicial review geltend gemacht werden, da eine Unterlassung des fair hearing den ground of review der unfairness erfüllt254. Die Gerichte haben dies mehrfach anerkannt und ausgeführt255. nity to be heard before any judicial order is pronounced against him, so that he, or someone acting on his behalf, may make such representation, if any, as he sees fit.“ Vgl. auch Bailey (FN 195), S. 796 RN 15.39. 250 Ein Aufschub muß ihm gewährt werden, soweit er vernünftige Gründe dafür darlegen kann, vgl. dazu insgesamt Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 580 RN 11.72. 251 Soweit sie aber erfolgt, müssen die Beteiligten die Möglichkeit zur Zeugenbefragung haben, vgl. Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 582 RN 11.77; zu Einschränkungen vgl. die Beispiele bei Thompson (FN 103), S. 422. Siehe auch Bailey (FN 195), S. 797 RN 15.40 ff. 252 Nach Thompson (FN 103), S. 423 f., erteilt das case law eine klare Absage. Siehe auch Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 582 RN 11.76. 253 Vgl. Calvin v. Carr (1980) AC 574, wo der Privy Council drei Fallgruppen unterscheidet. Siehe auch Wade/Forsyth (FN 83), S. 531. 254 Siehe hierzu auch die historischen bei Galligan (FN 149), S. 183. 255 Siehe Lord Russel, in: Fairmount Investments Ltd. v. Secretary of State for the Environment (1976) 1 WLR 1255 (1263): „(. . .) it is to be implied, unless the contrary appears, that Parliament does not authorise by the Act the exercise of

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

c) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung des right to a fair hearing Das right to a fair hearing als ein wesentliches Element einer fairen Behandlung im Prozeß hat eine doppelte Schutzrichtung. Zum einen dient es dem Gemeinwohlinteresse durch eine Gewährleistung der ordnungsgemäßen Aufgabenwahrnehmung durch die Gerichte und Behörden. Zum anderen schützt es das Interesse des einzelnen und seine Rechte, die durch die in Rede stehende Entscheidung betroffen werden könnten. Es ist damit nicht zuletzt Ausdruck des Respekts vor der Würde des Betroffenen256. 4. Bewertung Das right to a fair hearing ist ein traditionell tief im common law verwurzeltes Recht. Als Element der natural justice findet es seinen Platz auch im Konzept der rule of law und ist damit eines der grundlegenden Prinzipien in der englischen Rechtsordnung. Es verkörpert die Idee, daß jeder das Recht haben muß, sich zu einer ihn belastenden Entscheidung zu äußern. Die inhaltlichen Ausprägungen des right to a fair hearing können als funktionales Äquivalent zu den Anforderungen aus Art. 103 Abs. 1 GG gesehen werden. Insbesondere die genannten Mindestanforderungen und die ihnen zugrunde liegende Wertung stimmen im Kern überein, wenn auch der formale Rahmen ein anderer ist. Das right to a fair hearing gewährt dem Betroffenen Beteiligungsrechte und schützt ihn damit vor einer Übereilung im Verfahren. Die für Art. 103 Abs. 1 GG festgestellten drei Verwirklichungsstufen (siehe im einzelnen 1. Kapitel, B. III. 3.) finden sich auch für das right to a fair hearing: Es erfordert auf seiner ersten Stufe ebenfalls eine Information über die verfahrensrelevanten Inhalte und die Absicht, eine Entscheidung zu fällen, damit in der zweiten Stufe eine qualifizierte Stellungnahme des Betroffenen erfolgen kann. Auf der dritten Stufe ist die zuständige Stelle verpflichtet, sich mit den unterbreiteten Tatsachen auseinanderzusetzen. Während der unmittelbare Geltungsbereich des Art. 103 Abs. 1 GG jedoch auf das Gericht beschränkt ist, gilt das right to a fair hearing im Grundsatz auch gegenüber Behörden. Ebenso wie in Deutschland kommt den Gerichten bei der Ausgestaltung des right to a fair hearing eine zentrale Rolle zu. Denn ob eine Verletzung des right to a fair hearing vorliegt, ist auch in England vom Einzelfall abpowers in breach of the principles of natural justice, and that Parliament does by the Act require, in the particular procedures, compliance with those principles.“ 256 Galligan (FN 149), S. 353. Vgl. Wade/Forsyth (FN 83), S. 494 (496: „. . . an order made contrary to natural justice was outside jurisdiction and void.“).

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hängig und keine automatische Folge einer nicht erfolgten Anhörung. Allerdings kann aufgrund der englischen Spezifika zwangsläufig die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts nicht zu dem Tatbestand einer Verletzung des Rechtes zählen. Die Gerichte verschaffen dem rechtlichen Gehör durch die generelle Vermutung Geltung, daß das Parlament bei seiner Gesetzgebung grundsätzlich das Erfordernis der Gewährung von Gehör nicht verletzen wollte257.

IV. Nulla poena sine lege In Bezug auf die englische Rechtsordnung scheint die Geltung des Grundsatzes nulla poena sine lege und der in ihm enthaltenen Einzelelemente (für Deutschland wurden hier das Analogieverbot, das Verbot einer Bestrafung aufgrund Gewohnheitsrechts, das Rückwirkungsverbot und das Bestimmtheitsgebot genannt) insbesondere im Hinblick auf das Verbot strafbegründenden oder strafverschärfenden Gewohnheitsrechts fraglich. Denn viele Straftatbestände beruhen auf dem common law und finden sich bis heute nicht in geschriebenen Gesetzen wieder. Daraus resultiert die häufig anzutreffende These, der nulla poena sine lege-Grundsatz sei in seiner Ausprägung als strafrechtlicher Gesetzesvorbehalt im englischen Recht nicht anerkannt. Doch ohne eine solche Beschränkung des nulla poena sine legeGebotes auf das Verbot des Gewohnheitsrechts lassen sich in der Entwicklung der englischen Rechtsordnung bereits früh verwandte gedankliche Ansätze feststellen. 1. Historische Entwicklung a) Erste Ansätze in der Magna Charta Teilweise wird bereits in der Formulierung des Art. 39 der Magna Charta die Verankerung des Grundgedankens des Verbots rückwirkender Strafgesetze gesehen258. In der englischen Übersetzung der Originalfassung lautet 257

Vgl. Galligan (FN 149), S. 351. Adolf Schottländer, Die geschichtliche Entwicklung des Satzes nulla poena sine lege, in: Lilienthal (Hrsg.), Bd. 23, Strafrechtliche Abhandlungen, Breslau 1911, S. 26 ff.; in diesem Sinne auch Herbert Hennings, Die Entstehungsgeschichte des Satzes nulla poena sine lege, Göttingen 1933, S. 18. Kritisch hierzu Anton Steinle, Die Bestrafung nach Analogie, Tübingen 1938, S. 40 f., der den Beginn der Entwicklung des nulla poena sine lege-Satzes erst mit der englischen Naturrechtsphilosophie John Lockes sieht. Der Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ sei von England nach Amerika importiert worden, wo er sich erstmals zweifelsfrei im Recht von New York im Jahre 1692 nachweisen lasse. Aus der aktuelleren Literatur siehe 258

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Art. 39: „(n)o freeman shall be arrested, or imprisoned, or deprived of his freehold, or his liberties, or free customs, or outlawed, or exiled, or in any manner destroyed, nor will we (the king) pass upon him, nor condemn him, unless by the judgement of his peers, or the law of the land.“259 Die Formulierung „by the judgement of his peers“ sollte insoweit klarstellen, daß eine Bestrafung nur erfolgen dürfe, wenn eine vorherige Verurteilung stattgefunden habe260. Insbesondere aus der Formulierung „law of the land“ könnte sich möglicherweise der gedankliche Ansatz eines strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes ergeben. Im historischen Kontext zielte Art. 39 auf das Ende der damaligen Willkür bei der Urteilsfindung261. Vor diesem Hintergrund könnte die Bestimmung des Art. 39 als eine erste Kodifizierung des nulla poena sine lege-Grundsatzes zu interpretieren sein, da er sowohl rückwirkenden Strafgesetzen als auch strafrechtlichen Einzelfallgesetzen entgegenwirken sollte. Allerdings ist dieser Grundsatz trotz der beabsichtigten Durchsetzung durch den Einfluß der faktisch unbeschränkten Monarchie und der Abhängigkeit der Richter häufig nicht beachtet worden262. Ob diese Interpretation einsichtig ist, ist zweifelhaft, denn die Magna Charta spiegelte in erster Linie den Machtkampf zwischen König und Adel wider. Eine Absicherung individueller Rechte für die Allgemeinheit war nicht beabsichtigt. Allerdings, so Thompson, sei im 14. Jahrhundert die Beschränkung der Bezeichnung „freeman“ (liber homo) auf den Adel aufgegeben worden. Vielmehr wurde nunmehr jeder Bürger darunter verstanden263. Dennoch scheint das Hineinlesen der grundsätzlichen Verankerung eines Rückwirkungsverbotes zu hoch gegriffen. An dieser Stelle soll und kann keine abschließende Klärung im Anschluß an die großen Juristen in England erfolgen, welche Interpretation der damaligen Formulierungen des Art. 39 heute die richtige ist. Denn ein einwandfreier Rückschluß aus einer jahrhundertealten Urkunde und deren intendierter Zweck ist kaum nachvollziehbar.

Aly Mokhtar, Nullum Crimen, Nulla Poena Sine Lege: Aspects and Prospects, Statute Law Review 26, 2005, S. 41 (44 m. w. N. in FN 16); Niklaus Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, 1986, S. 12. 259 Nach Lysander Spooner, An Essay On The Trial By Jury, Boston 1852, S. 26, ist dies die gängigste und häufigste Übersetzung. 260 Ausführlich zur Bedeutung des Art. 39 und der Passagen „per iudicium parium“ und „per legem terrae“, siehe Faith Thompson, Magna Carta, Its Role in the Making of the English Constitution, 2. Aufl., London 1950, S. 69 ff. 261 Thompson (FN 260), S. 69. 262 Schottländer (FN 258), S. 29. 263 Thompson (FN 260), S. 69: „In this period the liber homo lost whatever aristocratic connotation it had ever had and was construed as equivalent to ‚any freeman‘ or even ‚anyone, whoever he may be‘.“

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b) Herausbildung von Gewohnheitsrecht Unstreitig ist aber, daß das Recht des mittelalterlichen Englands überwiegend Gewohnheitsrecht war und sich der Gesetzesbegriff erst sehr viel später herausbildete. Zudem war der Gedanke der Rechtssicherheit damals noch kein geläufiger Begriff; maßgeblich für die Entscheidungen der herumreisenden Richter war vielmehr der Begriff der Gerechtigkeit. In diesem Kontext von Recht und Gerechtigkeit und eingeschränktem Geltungsbereich sind Sinn und Zweck der Magna Charta zu sehen. Der König sollte das Recht nicht mehr alleine in seinen Händen halten und willkürlich anwenden können. Vielmehr sollte jede strafrechtliche Maßnahme durch die Anwendung des materiellen Rechts in einem ordentlichen Verfahren ergehen, die der König gegen einen Freien (freeman) seines Landes verhängte264. Dabei war unter dem Begriff „law“ nicht nur das geschriebene Recht, sondern entsprechend dem mittelalterlichen System auch das Gewohnheitsrecht zu verstehen. Auch die folgenden englischen Deklarationen haben das Prinzip einer Bindung der Strafgewalt an das Recht, das sowohl das common law, statutes und Gewohnheitsrecht umfaßt, aufgegriffen265. c) Forderungen nach einer Kodifizierung Die Befugnis der Gerichte, common law-Straftatbestände zu schaffen und bei Bedarf vorhandene auszudehnen, zieht sich durch die gesamte Entwicklung des englischen Strafrechts. Sie verkörpert die grundsätzlich akzeptierte Möglichkeit, eine Handlung auch im Nachhinein als strafbar zu erklären266. Gleichwohl schrieb schon Hobbes 1651: „No Law, made after a Fact done, can make it a Crime (. . .).“267 Blackstone führte rund hundert Jahr später hierzu aus: „(a)ll laws should be (. . .) made to commence in futuro, and be notified before their commencement“268 und wandte sich damit ebenfalls 264 So im Anschluß an Edward Coke zahlreiche andere, siehe die Nachweise bei Dieter Braun-Friderici, Das Prinzip nulla poena sine lege im englischen Recht, 1954, S. 15–17. Siehe aber auch Thompson (FN 260), S. 69. 265 Ausführlich zu den einzelnen Etappen nach der Magna Charta, Braun-Friderici (FN 264), S. 19 ff. Siehe etwa Stat. 28 Edward III, Cap. 3, aus dem Jahre 1354: „No man of what estate or condition that he be, shall be put out of land or tenement, nor taken, nor imprisoned, nor disinherited, nor put to death, without being brought in answer by due process of law“, so zitiert bei Schmid (FN 258), S. 13. 266 Siehe hierzu auch J. R. Spencer, Nulla poena sine lege in English Criminal Law, in: The Cambridge-Tilburg Law Lectures, 1983 Cambridge, S. 33 (37 f.). 267 Thomas Hobbes, Leviathan, herausgegeben von Ernst Rhys, mit einer Einführung von A.D. Lindsay, Neudruck, London/Toronto/New York 1928, S. 156 (part 2 chap. 27).

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gegen rückwirkende Straftatbestände. Anfang des 19. Jahrhunderts brachte Bentham den Gedanken einer möglichst präzisen Umschreibung der Straftatbestände auf und sprach sich gegen die richterliche Straftatbegründung aus269. Er lehnte nicht nur rückwirkende Strafgesetze, sondern auch die Neubildung von Straftatbeständen im common law ab. Er beschreibt die Rolle des common law mit folgendem Bild: „When a man has a dog to teach, he falls upon him and beats him: the animal takes note in his own mind of the circumstances in which he has been beaten, and the intimation thus received becomes, in the mind of the dog, a rule of common law (. . .). Men are treated like dogs – they are beaten without respite, and without mercy; and out of one man’s beating, another man is left to derive instruction as he can.“270

Benthams Ansatz für ein kodifiziertes Strafrecht fand vielfach Unterstützung und führte zu mehreren erfolglosen Versuchen, das englische Strafrecht in ein einheitliches Gesetzbuch zu fassen271. Mit der bisher aufgezeigten Befugnis der Gerichte, bestehende Strafatbestände auszudehnen oder neue zu entwicklen, läßt sich keine der Forderungen aus dem nulla poena sine lege-Prinzip vereinbaren. Zwar bestanden Tendenzen, ein Rückwirkungsverbot und Bestimmtheitgebot für Straftatbestimmungen einzuführen, die jedoch nicht vollumfänglich umgesetzt wurden. Dies führt zunächst zu dem Schluß, daß das englische Recht kein dem deutschen Recht vergleichbares Institut auf dieser Ebene kennt. Ob dies so immer noch gültig ist, hängt davon ab, ob und inwieweit sich die Idee der Unterbindung willkürlicher Strafgewalt in England bis heute durchgesetzt hat. 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung a) Terminologische Vorfragen Die Formel nulla poena sine lege oder seine englische Übersetzung „no crime or punishment without law“272 findet sich in keinem geschriebenen 268 William Blackstone, Commentaries On The Laws Of England, In Four Books, London 1865, S. 3. 269 Jeremy Bentham, The works of Jeremy Bentham, Part XII, Books II, III und IV, Edinburgh 1839, S. 519 ff. Vgl. hierzu die Ausführungen bei Spencer (FN 266), S. 38. 270 Bentham (FN 269), S. 519 (520). 271 Zu den Gründen für die Erfolglosigkeit siehe Spencer (FN 266), S. 39. 272 William Wilson, Criminal Law, 2. Aufl., 1998 London, New York, der die lateinische Formel auf diese Weise übersetzt, S. 21, so auch A.P. Simester/G. R. Sullivan, Criminal Law – Theory and Doctrine, Oxford, Portland, Oregon 2000, S. 26.

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rechtsverbindlichen Text273. Da sich das englische Recht jedoch hauptsächlich aus dem common law herausgebildet hat, könnte sich das Verbot einer Strafe ohne Gesetz als common law-Prinzip entwickelt haben. Vorherrschend ist insoweit die Bezeichnung als principle of legality, welches das principle of maximum certainty, das non-retroactivity principle sowie das principle of strict construction umfaßt274. Damit sind sowohl das Rückwirkungsverbot als auch das Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot – soweit diese Terminologie in das englische Recht übertragen werden kann – Bestandteil des principle of legality275. Dieses wiederum ist ein Element der rule of lawKonzeption276. Näherer Klärung bedarf daher der Inhalt des principle of legality. Bevor jedoch die inhaltliche Seite beleuchtet wird, ist zunächst das bereits angesprochene Verhältnis des Gebots nulla poena sine lege zur rule of law insgesamt und in seinen einzelnen Komponenten kurz darzustellen. b) Verhältnis zum Konzept der rule of law Der Begriff rule of law wird im englischen Recht in vielfältiger und nicht immer eindeutiger Weise gebraucht277. Als Minimum gewährleistet er jedoch auch nach englischem Verständnis, daß die Bürger einen Anspruch haben auf „being governed by rules which are fixed, knowable, and certain“278. Hieraus ergibt sich bereits ein Ansatz für die Verortung eines Rückwirkungsverbotes und Bestimmtheitsgebots in dem Konzept der rule of law. Die rule of law als ein von der englischen Rechtsordnung anerkanntes „fundamental principle“279 birgt damit die Verpflichtung sowohl für den Richter als auch für den Gesetzgeber, ein Verhalten nur dann unter Strafe zu stellen, wenn es zum Zeitpunkt der Begehung auch als strafbar gegolten 273 George Whitecross Paton, A Textbook of Jurisprudence, 4. Aufl., Oxford 1972, S. 387: „England has not specifically adopted the principle.“ 274 Andrew Ashworth, Principles of Criminal Law, 3. Aufl., Oxford 1999, S. 70. 275 Wobei dies größtenteils als Synonym zu „nullum crimen sine lege“ angesehen wird, auch wenn dem principle of legality wohl ein umfassenderer Gewährleistungsgehalt zukommt, vgl. hierzu Ashworth (FN 274), S. 70: „(. . .) principle of legality, sometimes expressed by the maxim nullum crimen sine lege“. Unter Hinweis darauf, daß die Bezeichnung als „principle of legality“ insbesondere in den USA vorkomme, Simester/Sullivan (FN 272), S. 26. 276 Ashworth (FN 274), S. 70 scheint beide sogar als synonym anzusehen. 277 Eingehend hierzu unter A.III.1. 278 Joseph Raz, The Authority of Law, 1979, S. 214 f. 279 Simester/Sullivan (FN 272), S. 25, beschreiben die Rolle der Rule of Law in diesem Kontext mit folgenden Worten: „The Rule of Law exists, first and foremost, at the level of principle. It comprises values to which legislators and judges should pay heed when enacting and interpreting law. It is not a legal doctrine in its own right.“

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hat. Ansonsten wären die kumulativen Anforderungen „fixed, knowable und certain“ nicht erfüllt. Zur Erfüllung dieser Forderung ist neben dem Bestehen des Straftatbestandes selbst auch eine qualitative Hürde zu nehmen, die einen präzisen und verständlichen Wortlauf fordert280. Das Strafrecht muß diesen Erfordernissen gerecht werden und darf nicht in einer Ad-hocReaktion auf das Verhalten des einzelnen verändert werden281. Es ist damit insoweit möglich, Einzelelemente des nulla poena sine lege-Grundsatzes in der rule of law zu verankern bzw. als Ausprägung derselben zu sehen. 3. Inhalt des principle of legality Zur weiteren Untersuchung des Gewährleistungsgehaltes im englischen Recht wird der Einteilung in der englischen Literatur gefolgt, die im wesentlichen drei Unterprinzipien aus dem principle of legality ableitet: das Bestimmtheitsgebot, das Rückwirkungsverbot und das Analogieverbot282: a) Bestimmtheitsgebot (principle of maximum certainty) Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem Rückwirkungsverbot und dem Bestimmtheitsgebot, denn beiden ist die Forderung nach maximaler Vorhersehbarkeit strafbaren Verhaltens gemein283. Soweit das englische Recht noch ungeschriebene common law offences kennt284, läßt sich mit dem principle of maximum certainty ein kodifiziertes Strafrecht fordern, welches die Straftatbestände enthält und damit gleichzeitig die Warnfunktion für den einzelnen erfüllen kann. Die Verbesserung der Rechtssicherheit durch eine Kodifikation des bestehenden Strafrechts hängt allerdings zwangsläufig von der Qualität der Kodifikation selbst ab. 280

Hierzu auch Simester/Sullivan (FN 272), S. 29. Im einzelnen hierzu Allan (FN 242), S. 33 ff., der die hier genannten Elemente als Bestandteile beziehungsweise Anforderungen aus der rule of law sieht. 282 Zur Unterteilung vgl. Ashworth (FN 274), S. 71 ff. 283 Interessant ist hier der aus dem us-amerikanischen Recht stammende Ungültigkeitsgrund „void for vagueness“. Dieses Konzept kann jedoch nicht in das englische Recht übertragen werden, da es auf der Befugnis amerikanischer Gerichte basiert, Strafgesetze für verfassungswidrig zu erklären, während englischen Gerichten unter Geltung des HRA nur die „declaration of incompatibility“ bleibt. 284 Obwohl der Tatbestand des breach of the peace zahlreiche unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten durch die Gerichte erfahren hat, wurde ihm durch den EGMR dennoch zuerkannt, den Anforderungen der EMRK insoweit zu genügen: Er sei „sufficiently precise to allow the citizen – if need be, with appropriate advice – to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail.“ Vgl. Steel v. UK (1998) 28 EHRR 603 ff. 281

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So kann der intensive Gebrauch unbestimmter Rechtsbegriffe ein Spannungsverhältnis zum principle of maximum certainty begründen. Gerade unbestimmte Rechtsbegriffe sind jedoch häufig Kennzeichen abstrakt-genereller Regelungen und zugleich notwendiges Einfallstor für die Weiterentwicklung und Gewährleistung von Aktualität der Kodifikation285. Für sich genommen stellt ihr Gebrauch keinen Verstoß gegen grundlegende Prinzipien dar. Dieses Spannungsverhältnis kann nur durch den Gesetzgeber gelöst werden. Bemerkenswert ist in diesem Kontext die Formulierung als principle of maximum certainty. Die Wahl des Wortes „maximum“ beinhaltet bereits eine gewisse Flexibilität, da nicht „absolute certainty“ gefordert wird. Dies zeigt bereits, daß eine Abwägung zwischen der favorisierten Warnfunktion des Strafrechts und seiner Funktionalität nötig ist. Eine vollständige Umsetzung der Forderungen der rule of law würde die Gewährleistung vollständiger Sicherheit fordern. Damit wäre allerdings das Strafrecht in der Praxis der Gerichte kaum mehr handhabbar. Um ein nicht völlig unbrauchbares Regelungskonstrukt zu produzieren, muß daher der Wortlaut der Strafgesetze auch unter dem „strengen Blick“ der rule of law ein Interpretationsspielraum enthalten sein286. Soweit der Wortlaut eines Gesetzes die Anforderungen größtmöglicher Klarheit nicht erfüllen sollte, besteht für die Gerichte keine Möglichkeit, es für nichtig zu erklären287. Damit bleibt es grundsätzlich weiter verbindlich. Unter dem HRA besteht für die englischen Gerichte allerdings nunmehr die Möglichkeit, eine declaration of incompatibility abzugeben, falls ein Gesetz die Vorgaben des Art. 7 EMRK verletzen sollte288. Vor diesem Hintergrund wird in der Literatur wiederholt die Einführung eines zusammenfassenden Strafgesetzbuches gefordert, damit veraltete Formulierungen überarbeitet und angepaßt werden können, um größtmögliche Klarheit und Vorhersehbarkeit zu schaffen289.

285 Mit Beispielen zu Begriffen, die als zu vage angesehen werden, vgl. Simester/ Sullivan (FN 272), S. 31 f. Es muß danach ein „sufficient degree of consensus about the acceptable contents“ des jeweiligen Begriffes bestehen. 286 Hierzu Ashworth (FN 274), S. 78 f. Er beschreibt das Erfordernis einer gewissen Auslegungsbedürftigkeit von Strafgesetzen als „policy of social defence“. 287 Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika, wo ein zu unklares Strafgesetz von den Gerichten als verfassungswidrig erklärt werden darf (void for vagueness). 288 Hierzu Ashworth (FN 274), S. 76. 289 Richard Buxton, The Human Rights Act and the substantive criminal law, Crim.L.R. 2000, S. 331 (332), spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „pressing domestic need“.

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b) Das Rückwirkungsverbot (non-retroactivity principle) Aus der Evolution des englischen Rechts ergibt sich per se ein Spannungsverhältnis zwischen dem Rückwirkungsverbot und dem Gebot einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. So haben die Gerichte das Strafrecht über die Jahrhunderte entwickelt und waren in der Vergangenheit oftmals versucht, bestehende Straftatbestände auszudehnen. Dies erfolgte vor allem dann, wenn sie mit einer Tat konfrontiert wurden, die sie im Interesse der Allgemeinheit für sanktionswürdig hielten. Da dem englischen Recht bis heute ein umfassendes Strafgesetzbuch fehlt, vollzog sich die Weiterentwicklung des Strafrechts hauptsächlich über das common law. So haben sich die meisten der Straftatbestände aus dem common law entwickelt und wurden durch die Richter beständig neuen Herausforderungen angepaßt. aa) Bedeutung des common law Heute finden sich die common law-Delikte zwar überwiegend in Gesetzen verankert290; diese enthalten jedoch meist nur allgemein den Verbotstatbestand, wie er sich nach dem common law darstellt. Die inhaltliche Konkretisierung und Interpretation bleibt nach wie vor dem common caw und damit den Gerichten überlassen291. Teilweise werden auch nur Teilaspekte strafbarer Handlungen in einem Parlamentsgesetz erfaßt, während weitere Bestandteile reine common law-Delikte bleiben. Vor diesem Hintergrund erscheint der Schluß naheliegend, daß eine Weiterentwicklung des common law bzw. die Entstehung der common law-Tatbestände überhaupt nur unter Verletzung des Rückwirkungsgebotes zustande kommen konnte. Denn sowohl eine Weiterentwicklung als auch die Begründung neuer strafbarer Handlungen ist nach dem common law erst nach einer Befassung der Gerichte mit einem bereits abgeschlossenen Geschehen möglich. Daher ist es hier von besonderem Interesse, die Entwicklung der Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt des Versuchs, ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot nachzuweisen, zu untersuchen. bb) Entwicklung in der Rechtsprechung (1) Die Entscheidung „Shaw v. DPP“ Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des common law war die Entscheidung „Shaw v. DPP“292. In dieser Entscheidung wurde der 290 291

Ausnahmen sind insbesondere „murder“ und „manslaughter“. Vgl. die Darstellung bei Wilson (FN 272), S. 20.

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Angeklagte Shaw unter anderem wegen conspiracy to corrupt public morals (Verabredung zu einer Verderbung der öffentlichen Sitten) verurteilt, obwohl dieses Verhalten bislang im common law nicht strafbar war. Diese Entscheidung wurde in der Folge vielfach von der Lehre kritisiert293, da sie es dem Bürger unmöglich mache, sein Verhalten an bestehenden Regeln auszurichten294. Zudem ermangele es an der Warnfunktion der Strafrechtsnorm, wenn Gerichte ein ursprünglich nicht strafbares Verhalten nachträglich kriminalisierten295. Durch die Entscheidung wurde den Gerichten grundsätzlich die Option eröffnet, bei Bedarf einen Straftatbestand zu kreieren. (2) Die Entwicklung nach der Entscheidung Shaw Möglicherweise als Folge der harschen Kritik in der Lehre296 hielt sich die in der Entscheidung Shaw begründete Konzeption nicht lange. Sie wurde durch drei Entscheidungen des House of Lords sukzessive abgeschafft, die im folgenden skizziert werden. Diese Trendwende in der Rechtsprechung des House of Lords kann sowohl aus Sicht des Strafrechts als auch des Verfassungsrechts als ein bemerkenswerter Wandel im englischen Recht angesehen werden. Im „Bhagwan’s Case“297 wurde Bhagwan auf der Grundlage eines Act of Parliament verurteilt, der die Zuwanderung nach Großbritannien regelte. Dieses Gesetz gab einerseits den Immigration Officers u. a. die Befugnis, Ankömmlinge zu kontrollieren und gegebenenfalls wieder zurückzuschikken. Andererseits verpflichtete es die Immigranten nicht, sich bei den Officers selbst zu melden bzw. die Häfen oder Flughäfen anzusteuern, in denen 292

Shaw v. DPP (1962) AC 220. Spencer (FN 266), S. 42 m. w. N. und dem Hinweis, daß Prof. D. Seyborne die Entscheidung „as having totalitarian implications“ beschrieb. Ashworth (FN 274), S. 71, schreibt gar von einem „outcry from lawyers“, der dadurch provoziert worden sei. 294 Ausgehend von der Prämisse, daß Gesetze und damit auch Strafgesetze rechtmäßig nur durch das demokratisch legitimierte Organ erlassen werden können, handelt es sich bei der Entscheidung „Shaw v. DPP“ zudem um eine Ursurpation der Gesetzgebungsbefugnisse durch die Judikative. Zu dieser Frage siehe A.T.H. Smith, Judicial Lawmaking in the Criminal Law, LQR 100, 1984, S. 46. 295 Ausführlich Ashworth (FN 274), S. 71 f., mit der Kritik, daß die Mehrheit der Richter des House of Lords in der Entscheidung Shaw v. DPP ihre „particular conceptions of social defence“ höher bewerteten als „the liberty of citizens to plan their lives under the rule of law“. 296 Spencer (FN 266), S. 42, vermutet als weitere mögliche Ursache das Erreichen des Rentenalters einiger Mitglieder des House of Lords. 297 Bhagwan v. DPP (1972) AC 435. 293

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die Officers stationiert waren. Bhagwan gelangte mit einigen Freunden an einer abgelegenen Stelle der südenglischen Küste an Land und umging somit die Immigration Officers. Darin lag zwar ein Verstoß gegen Sinn und Zweck der Regelung, nicht aber gegen ihren Wortlaut. Dennoch kam es zu einer Verurteilung wegen unzulässiger Umgehung der Einreisekontrollen, gegen die er Einspruch erhob. Das House of Lords gab seinem Appeal einstimmig statt und nahm dabei Stellung zum Fall Shaw. Dabei wurde die Entscheidung im Shaw-Fall zwar nicht ausdrücklich als Fehlentscheidung gewertet, jedoch erstmals relativiert. Ein weiterer Schritt erfolgte mit der Entscheidung „Knuller v. DPP“298. In dieser Entscheidung führte Lord Diplock aus: „It is not in my view compatible with the development of English constitutional and criminal law over the past century that our Lordship’s should assume the role of ‚the most godly, honourable, wise and learned persons of the land‘, and reassert a power to ‚straine the line of justice beyond the ordinary length and wonted measure, and thereby take exquisite avengement upon‘ those whose conduct you regard as particularly reprehensible, though Parliament had not found it necessary to proscribe it and no previous precedent for punishing it can be found. Nor do I think that it was open to the House in Shaw’s case to select some particular field of mischief in which the power of the judiciary to create new crimes survives.“299

Lord Diplock macht mit dieser Aussage deutlich, daß er eine Befugnis der Gerichte, Straftatbestände außerhalb des vom Parlament gesetzten Rahmens zu begründen, nicht für richtig hält. In diesem Zusammenhang nimmt er ausdrücklich auf die Entscheidung Shaw Bezug, indem er die Verfahrensweise der Richter dort ablehnt. Der letzte Schritt in der Trias der Abkehr von der Entscheidung „Shaw v. DPP“ erfolgte durch die Entscheidung „DPP v. Withers“300. Hier betonten vier der fünf Richter, daß ihnen nicht das Recht zukomme, einen Straftatbestand zu bestimmen, der zuvor noch nicht existierte. In Fortführung dieses Gedankens hat Lord Kilbrandon ausgeführt, daß das House of Lords keinen Straftatbestand dulden könne, der so vage und unklar formuliert sei wie „conspiracy to effect a public mischief“, da es sich angesichts dieser Ungenauigkeit um eine versteckte Kompetenz zur Begründung neuer Straftatbestände handele301. Mit dieser Entwicklung scheint sich das House of Lords 298

Knuller v. DPP (1973) AC 435. Lord Diplock, in: Knuller v. DPP (1973) AC 435 (474). 300 DPP v. Withers (1975) AC 842. 301 „(. . .) they could not tolerate an offence as vague as conspiracy to effect a public mischief; because, by reason of its vagueness, it would merely be a power to create new offences in disguise“, so Lord Kilbrandon, in: DPP v. Withers (1975) AC 842 (877). 299

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einhellig für das Rückwirkungsverbot und gegen die richterliche Kompetenz zur Begründung neuer Straftatbestände ausgesprochen zu haben302. Umso erstaunlicher ist die zeitlich nachfolgende Entscheidung des höchsten Gerichts in der Sache „R. v. R.“303. In dieser Entscheidung hat das House of Lords einem Ehemann die bis dahin bestehende deliktsbezogene persönliche Straffreiheit abgesprochen und zugleich die Möglichkeit bejaht, daß er der Vergewaltigung an seiner Ehefrau schuldig gesprochen werden kann. Unabhängig von der Richtigkeit der Entscheidung in der Sache stellt sich die Frage, ob diese Entscheidung nicht besser durch den Gesetzgeber zu treffen gewesen wäre als retrospektiv durch die Gerichte304. Es scheint, daß die selbst auferlegte Abstinenz in Sachen rückwirkender Strafbarkeit nicht nur immer wieder Anfechtungen ausgesetzt ist, sondern gerade auch im Hinblick auf das moralische Empfinden über die Schwere von Straftaten nicht durchgehalten wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich daher die Frage nach der Reichweite des grundsätzlich geltenden und anerkannten Rückwirkungsverbotes. cc) Reichweite des Rückwirkungsverbotes Mit dem Rückwirkungsverbot nicht vereinbar ist die Begründung eines neuen Straftatbestandes mit dem Ziel, ein im ursprünglichen Wortlaut nicht eindeutig erfaßtes Verhalten als strafbar zu fassen305. Das Verbot wendet sich zum einen an die Legislative im Rahmen der Gesetzgebung und zum anderen an die Judikative bei der Rechtsanwendung im Einzelfall306. Der Begründung von neuen Tatbeständen gleichzustellen ist die Ausdehnung bereits vorhandener Tatbestände. Aus dem common law ergibt sich eine Vermutung (presumption) gegen die Rückwirkung von gesetzlichen Straftatbeständen. Dies bedeutet, daß die Gerichte grundsätzlich davon ausgehen, daß das Parlament keine rückwirkende Strafbarkeit begründen will und die Gesetze danach interpretieren. Allerdings kann diese Vermutung aufgrund des 302 Vgl. die Schlußfolgerungen bei Glanville Williams, Textbook of Criminal Law, 2. Aufl., London 1983, S. 7, wo im Anschluß an Wither’s Case ausgeführt wird: „The notion of an offence of public mischief infringed the principle of legality – the proposition that there should be no criminal offence except one specified in pre-existing law (nulla poena sine lege, or nullum crimen sine lege).“ 303 R. v. R. (1992) 1 AC 599. 304 Die Mehrheit des Gerichtshofs hat dies bejaht. 305 Spencer (FN 266), S. 53: „The stretching of antique offences is a mal practice whatever the reasons for doing so in a given case. Wether it is to make new conduct a crime or to make an existing crime more heavily punishable, it is contrary to the nulla poena principle (. . .).“ 306 Vgl. Mokhtar (FN 258), S. 48.

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geltenden Dogmas der Parlamentssouveränität durch klare Gesetzesformulierung außer Kraft gesetzt werden. Die Gerichte sind in diesem Fall verpflichtet, das Gesetz entsprechend anzuwenden. Damit kommt der common law presumption nur eine Warnfunktion für den Gesetzgeber zu. Eine absolute Absicherung vor rückwirkend eingeführter Strafbarkeit gibt es vor diesem Hintergrund also nicht307. Der bereits genannte Fall „R. v. R.“ wurde wegen möglichen Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK vor den EGMR in Straßburg gebracht. Der EGMR verhandelte diesen Fall als „SW. and CR. v. United Kingdom“308. Nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EMRK darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Nach Satz 2 darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Der Gerichtshof hielt es in seiner Urteilsbegründung für vereinbar mit Art. 7 Abs. 1, wenn Elemente eines bereits existierenden Straftatbestandes einer klareren Auslegung zugänglich gemacht werden oder an neue Umstände oder gesellschaftliche Entwicklungen angepaßt werden, soweit diese Anpassung noch unter das ursprüngliche Konzept des Straftatbestandes gefaßt werden kann. Entscheidende Frage war somit, ob die beanstandete Ausdehnung des Straftatbestandes „rape“ (Vergewaltigung) noch unter die originäre Konzeption des Tatbestandes subsumiert werden konnte. Im Fall „R. v. R.“ wurde dies von der Mehrheit der Straßburger Richter bejaht309. Denn aufgrund des Fehlens eines zusammenhängenden Strafgesetzbuches fänden sich mittlerweile zwar viele common law offences in Gesetzen wieder, gäben den Umfang der Strafbarkeit häufig jedoch nur 307 Diese Grundsätze beziehen sich nicht nur auf strafbegründende oder -verschärfende Tatbestände, sondern sind auch auf den nachträglichen Wegfall von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen übertragbar. Denn hebt ein Gericht einen ursprünglich anerkannten Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund auf, wird ein vormals entschuldigtes bzw. gerechtfertigtes Verhalten strafbar. Hierzu auch mit weiteren Fallbeispielen Ashworth (FN 274), S. 74 f.; er stellt auch im Anschluß das „thin ice principle“ als Gegenpart zum principle of non-retroactivity dar. Dieses besagt „those who skate on thin ice can hardly expect to find a sign which will denote the precise spot he will fall in“, so Lord Morris, in: Knuller v. DPP (1973) AC 435. Unter Anwendung dieses Prinzips haben die Gerichte sowohl die Begründung neuer Straftatbestände (so in Shaw’s Case) als auch die Ausdehnung eines bereits existierenden Straftatbestandes exerziert. Ausführlich auch zur Begründung und Anwendung dieses Prinzips Ashworth (FN 274), S. 76. 308 SW. and CR. v. United Kingdom (1995) 21 EHRR, S. 363 (390). 309 Vgl. die Kritik bei Ashworth (FN 274), S. 73 ff.: „The European Court’s decision implants a degree of flexibility into what ought to be a fundamental rule-of-law protection for individuals: it is not that the law ought to exist before the conduct took place, but that it ought to have been foreseeable (if necessary, with legal advice) that the law would be changed in a particular direction.“

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unzureichend wieder. Oftmals auf die Festschreibung der Grundzüge eines Tatbestandes beschränkt, muß das common law nach dieser Entscheidung letztlich doch zur Auslegung herangezogen werden310. dd) Anforderungen unter dem Human Rights Act (HRA) Entscheidungen wie „Shaw“ oder „Knuller“ sind nicht mehr möglich, soweit die Gerichte ihrer Verpflichtung aus Sektion 6 des HRA nachkommen, im Einklang mit den Vorgaben der EMRK zu handeln. Anders verhält es sich jedoch mit Entscheidungen wie „R v. R“, da Art. 7 Abs. 1 EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR den englischen Gerichten bei der Auslegung von Gesetzen einen Ermessensspielraum beläßt, soweit sich die beabsichtigte tatbestandliche Anpassung noch unter das ursprüngliche Konzept des Straftatbestandes fassen läßt311. Durch diese Rechtsprechung verbleibt den englischen Gerichten auch in ihrer Verpflichtung zu konventionskonformer Auslegung der Gesetze nach Section 3 (1) HRA eine gewisse Flexibilität, ohne einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK zu riskieren. Allerdings besteht im Fall eines Verstoßes unter dem HRA nur die Möglichkeit einer Unvereinbarkeitserklärung (declaration of incompatibility), die englischen Gerichte können daher weder die strittige Vorschrift noch das zu beanstandende Gesetz selbst für nichtig erklären, wie dies etwa das Bundesverfassungsgericht kann. Zudem hat die Unvereinbarkeitserklärung auf den konkret zur Entscheidung anstehenden Sachverhalt keine unmittelbaren Auswirkungen und ändert auch an der Geltung des strittigen Gesetzes nichts. Soweit ein hohes englisches Gericht ein Gesetz jedoch für unvereinbar mit der EMRK erklärt, wird sich das Parlament nach allgemeiner Ansicht dem Druck beugen müssen und trotz formaler Wahrung der Parlamentssuprematie das Gesetz ändern. Auf diese Weise trägt der HRA zur Verstärkung des principle of legality bei. c) Analogieverbot (principle of strict construction) Das principle of strict construction wendet sich an die Gerichte bei der Anwendung und Interpretation der Gesetze. Es besagt, daß jede Unklarheit eines Gesetzes von den Richtern zugunsten des Angeklagten ausgelegt werden muß312. Gleichzeitig wird die Ausdehnung eines Strafgesetzes durch 310 Ausführlich zu dieser „Fallgruppe“ mit Beispielen, vgl. Spencer (FN 266), S. 44 ff. 311 Zur Entscheidung des EGMR SW v. UK (1996) 21 EHRR, S. 363, vgl. Simester/Sullivan (FN 272), S. 27 f. 312 Wilson (FN 272), S. 21.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

analoge Anwendung für unzulässig gehalten313, was die Gerichte auch bei der Auslegung die Prinzipien der non-retroactivity und der maximum certainty beachten müssen. Gab es bislang einige Unklarheiten über die Anwendung des Prinzips und seine dogmatische Einordnung314, so könnten sich diese im Zuge der Entwicklung von Interpretationsrichtlinien für Strafgesetze abgeschwächt haben: Anstatt am Wortlaut des Gesetzes zu haften, sollen die Gerichte nunmehr die Absicht des Gesetzgebers bei der Entscheidungsfindung mit einbeziehen. Auf diesem Weg sollen die Gerichte sich durch die Berichte der Law-Reform-Committees unterstützen lassen oder White-Paper der Regierung konsultieren315. Soweit sich der Wille des Gesetzgebers nicht zweifelsfrei ermitteln läßt, sind die Unklarheiten zugunsten des Beschuldigten auszulegen. d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung des principle of legality Das principle of legality trägt im englischen Recht dem rechtsstaatlichen Erfordernis Rechnung, daß niemand wegen einer Tat bestraft werden kann, die zur Zeit der Begehung nicht mit Strafe bedroht war. Das englische Recht trägt damit sowohl der Idee der Abschreckung durch eine bekannte Strafandrohung Rechnung als auch dem Gebot der Rechtssicherheit. Der Bürger soll sich grundsätzlich darauf verlassen können, daß er nicht nachträglich bestraft wird. Damit tritt das seit Jahrhunderten traditionell tief im englischen Recht verankerte Bewußtsein hervor, willkürliche Bestrafung und Inhaftierung durch den Staat zu verhindern. Die Schutzrichtungen der Rechtssicherheit, die mit dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall in Einklang zu bringen ist, und damit einhergehend der Gedanke eines „fair warning“316, gelten auch im englischen Recht. Wenn sich auch aus den Besonderheiten des englischen Rechtssystems nicht das Erfordernis der gesetzlichen Vorherbestimmung des Straftatbestandes ableiten läßt und Durchbrechungen des Rückwirkungsverbotes im Einzelfall möglich sind, so tragen doch das principle of maximum certainty, das non-retroactivity principle und das principle of strict construction dem nulla poena sine legeGrundgedanken Rechnung.

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Paton (FN 273) S. 387 ff. Eine Auflistung der Entscheidungen, die das Prinzip vermutlich mißachtet haben, findet sich bei Ashworth (FN 274), S. 81 dort FN 78. 315 Zu weiteren Beispielen Ashworth (FN 274), S. 81. 316 Ashworth (FN 274), S. 80. 314

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4. Bewertung Das principle of legality implementiert im englischen Recht die Gedanken der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der Strafe, wie sie auch im deutschen Recht bekannt sind. Aus dem principle of legality ergeben sich zahlreiche Anforderungen an die Legislative und Judikative bei der Ausübung staatlicher Strafgewalt. Während im deutschen Recht allerdings eine vor der Tat gesetzlich bestimmte Strafbarkeit gefordert wird und die gewohnheitsrechtliche Begründung eines Straftatbestands verfassungsrechtlich verboten ist, ergibt sich für das englische System ein anderes Bild. Da sich die meisten Straftatbestände aus dem common law entwickelt haben und teilweise auch heute noch in dieser Form bestehen, ist dem englischen Recht das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts fremd. Dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit staatlicher Strafen und Sanktionen und der Gefahr richterlicher Willkür wird mit den dargestellten Prinzipien des common law begegnet, die bei der Gestaltung der Gesetze und insbesondere bei deren Anwendung zu beachten sind. Die Einhaltung der genannten Gebote des principle of legality gilt für die Gerichte als presumption, die mit der grundsätzlichen Annahme einhergeht, daß das Parlament diese Grundsätze nicht verletzen will. Jede Interpretation eines Gesetzestextes hat sich mithin daran auszurichten. Der einzelne kann ihre Einhaltung über die Einforderung eines fairen Verfahrens geltend machen und erhält weitere Möglichkeiten im Rahmen der Bestimmungen des HRA. Erfolgt im bisherigen englischen Recht die Absicherung des principle of legality durch die dargestellten Mechanismen des common law, kann ein Betroffener nunmehr auch eine Beachtung des nulla poena sine lege-Grundsatzes bei einer Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK über die Individualbeschwerde beim EGMR einfordern. Die englischen Gerichte und das Parlament, die sich traditionell als Hüter der individuellen Freiheit verstehen, beachten in der Praxis überwiegend die Vorgaben des principle of legality. Die Vorgaben des HRA werden so eher nachrangig gesehn. Auch im englischen Recht ist die rule of law der Grund für eine Reihe spezieller verfahrensrechtlicher Anforderungen, die sich in besonderen Qualitätsanforderungen an die Gesetze manifestieren317.

V. Ne bis in idem Im englischen Recht verbirgt sich das Verbot der Doppelbestrafung hinter den Einreden des autrefois acquis (vorheriger Freispruch) und autrefois 317 Ausführlich Nicola Lacey/Celia Wells, Reconstructing Criminal Law, 2. Aufl., London/Edinburgh/Dublin 1998, S. 12 ff.; vgl. auch Nicola Lacey, Discretion and Due Process at the Post-Conviction-Stage, in: Dennis (Hrsg.), Criminal Law and Justice, Essays from the W. G. Hart Workshop 1986, London 1987, S. 221 (222 f.).

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convict (vorherige Verurteilung). Die französisch anmutende Terminologie läßt sich durch den Einfluß der normannischen Eroberer erklären, die ihre eigene Sprache mit nach England brachten318. Daneben existiert der Begriff der „rule against double jeopardy“. Die lateinische Bezeichnung „ne bis in idem“ taucht hingegen so gut wie nicht auf. 1. Historische Entwicklung a) Erste Entwicklungsansätze im common law Das Verbot der Doppelbestrafung hat eine lange Tradition im römischen Recht und ist nachweislich im common law verwurzelt. Eine direkte Beeinflussung des englischen Rechts durch das römische Recht ist auf den ersten Blick zwar nicht feststellbar319. Allerdings vermischte sich nach der Eroberung durch die Normannen 1066 das bis dahin geltende Recht der fahrenden Richter mit romanischen Elementen der Eroberer320. Teilweise findet sich die Ansicht, daß der ne bis in idem-Grundsatz als einfache Prozeßvorschrift aus dem angelsächsischen Strafprozeßrecht komme321. Andere sehen den Einfluß des römischen Rechts, das beispielsweise in Oxford gelehrt wurde, als treibende Kraft für die Aufnahme des Grundsatzes in das englische Recht322. In England führt das Verbot der Doppelbestrafung als ungeschriebene Tradition bis ins 13. Jahrhundert zurück. So sieht Friedland in der Meinungsverschiedenheit zwischen Henry II. und Thomas Becket bereits einen ersten Ansatz für den Einzug des Verbots der Doppelbestrafung im common law323. 318

Zur Durchsetzung von Latein als Amtssprache aufgrund des Einflusses der Normannen und dem heutigen Ausdruck in der Rechtssprache mit der Folge, daß viele Elemente des römischen Rechts über die Sprache Eingang in das englische Recht fanden, Schmid (FN 258), S. 9. 319 Eingehend zur geschichtlichen Entwicklung Hans Peter, Actio and Writ: eine vergleichende Darstellung römischer und englischer Rechtsbehelfe, 1957, S. 70 f. 320 Schmid (FN 258), S. 7. 321 Hierzu auch Herbert Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung, 2001, S. 53, mit dem Hinweis, daß die Doktrin, soweit sie auf das römische Recht zurückzuführen wäre, von Beginn an eine größere Rolle hätte spielen müssen, als dies der Fall war. Zur stockenden Entwicklung der Doktrin vgl. Martin L. Friedland, Double Jeopardy, Oxford 1969, S. 5 ff. 322 Friedland (FN 321), S. 6, stellt dies in Bezug auf die Anerkennung der res judicata dar, deren Eingang in das englische Recht zum einen durch das römische und zum anderen durch das kirchliche Recht beeinflußt war. 323 Friedland (FN 321), S. 5; hierzu auch Carl-Friedrich Stuckenberg, Double Jeopardy, Das Verbot doppelter Bestrafung und Strafverfolgung im us-amerikanischen Recht, 2001, S. 1 f.

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Nach Ansicht Beckets324 waren clerks, die bereits von den Kirchengerichten verurteilt waren, von einer erneuten Verurteilung durch die Kings courts ausgeschlossen. Allerdings hat Henry II. (1154–1189) das Verbot der Doppelbestrafung nicht anerkannt. Nach Beckets Tod sind jedoch vereinzelt Umsetzungsversuche und erste Ausprägungen des Prinzips zu erkennen. Es bildete sich aber weder eine einheitliche Anwendungspraxis noch eine einheitliche inhaltliche Ausformung des Prinzips heraus. Die Entwicklung des Grundsatzes ne bis in idem ist zudem im Zeitablauf nicht stringent; so sah etwa Edward II. (1307–1327) die doppelte Bestrafung durch kirchliche Gerichte und Kings courts als zulässig an325. b) Entwicklung ab dem Zeitalter der Tudors Während der darauf folgenden Jahrhunderte scheint es dennoch eine Tendenz der Rechtsprechung zu geben, eine mehrfache Verfolgung wegen des gleichen Deliktes zu verhindern326. Obwohl Gesetze, die unter Henry VII. (1485–1509) und Henry VIII. (1509–1547) erlassen wurden, das Verbot der Doppelbestrafung vollständig mißachteten, konnten sich Konturen eines dem heutigen Verständnis des Verbotes der Doppelbestrafung entsprechenden Grundsatzes vor allem im 17. Jahrhundert bilden327. Gerade in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts wächst das Bewußtsein für ein Verbot der Doppelbestrafung wieder. Teilweise wird darin eine Reaktion auf das Werk Cokes gesehen328. Insbesondere Blackstone betonte im Anschluß an Coke die Notwendigkeit des Doppelbestrafungsverbots: „First, the plea of autrefois acquit, or a former acquittal, is grounded on this universal maxim of the common law of England, that no man is to be brought into jeopardy of his life, more than once for the same offence. (. . .) Secondly, the plea of autrefois convict, or a former conviction for the identical crime (. . .) depends upon the same principle as the former, that man ought to be twice put in danger of his life for one and the same crime.“329 324 Er argumentierte mit der Verletzung des Grundsatzes „nemo bis in idipsum“, falls eine Bestrafung der clerks durch die Kings courts zugelassen werde, siehe Friedland (FN 321), S. 5 m. w. N. in Anmerkung 3 zur unterschiedlichen Verwendung der Maxime. 325 Zu dem im Jahre 1315–16 erlassenen Act, der eine doppelte Bestrafung ermöglichte, siehe Friedland (FN 321), S. 7. 326 Jedoch nicht bei der Gesetzgebung vgl. Friedland (FN 321), S. 8 f. 327 Ausführliche Nachweise bei Friedland (FN 321), S. 10 f. 328 Siehe hierzu Edward Coke, Institutes of the Laws of England (1618-16-42), 3. Teil, S. 212 ff. 329 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 4, S. 329 f., und vgl. auch S. 299 ff.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Es war jedoch Hawkins, dessen Formulierung die autrefois-Maxime lange prägte: „That a Man shall not be brought into Danger of his Life for one and the same Offence, more than once. From whence it is generally taken, by all the Books, as an undoubted Consequence, that where a Man is once found Not guilty on an Indictment or Appeal free from Error and well commenced before any Court which hath Jurisdiction of the Cause, he may, by the Common Law, in all Cases whatsoever plead such Acquittal in Bar of any subsequent Indictment or Appeal for the same Crime.“330

Trotz einer stetigen Fortentwicklung331 des Verbots einer doppelten Bestrafung blieb der Schutz rudimentär332. Erst im 19. Jahrhundert war der Verurteilte nur noch in Ausnahmefällen einem erneuten Verfahren wegen derselben Handlung ausgesetzt333. Die von Hawkins aufgestellten Grundsätze genügten bald dem sich weiterentwickelnden Strafrecht nicht mehr und erforderten eine Systematisierung und Spezifizierung334. Zwar findet sich das Verbot einer wiederholten Bestrafung noch heute im Offences against Person Act (OAPA) von 1861 und im Interpretation Act von 1978. Seine systematische Aufarbeitung erfolgte jedoch durch die Rechtsprechung. 2. Verortung in der englischen Rechtsordnung a) Rechtsquellen Der Grundsatz ne bis in idem ist in England teilweise kodifiziert worden. Besondere Bedeutung kommt insoweit jedoch dem common law zu. Da diese beiden Rechtsquellen maßgeblich den Inhalt des Grundsatzes prägen, werden sie im Zusammenhang mit den inhaltlichen Ausprägungen ausführlicher vorgestellt (s. u. 3.). 330 William Hawkins, Pleas of the Crown, 1716–1721, Bd. 2, Neudruck 1973, chap. XXXV („Of the Plea of Autrefois acquit“, S. 368). 331 So schrieb Hawkins 1726: „Notwithstanding the opinion in the book of Assizes (9 Assize 15), that no acquittal in any other court can be any bar to a prosecution in the Court of King’s Bench, because that is the highest court, I take it to be settled at this day, that an acquittal in any court whatsoever, which has a jurisdiction of the cause, is as good a bar of any subsequent prosecution for the same crime, as an acquittal in the highest court“, zitiert bei Friedland (FN 321), S. 12. 332 Ausführlich und zu den Hintergründen Friedland (FN 321), S. 12 ff. Siehe auch Barbara Huber, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens in England und Wales, in: Jeschek/Meyer (Hrsg.), Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im deutschen und ausländischen Recht, 1974, S. 261 ff. 333 Siehe Friedland (FN 321), S. 14. 334 Hawkins (FN 330), S. 369 ff.

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b) Verhältnis zum Konzept der rule of law Die autrefois-Maxime ist aufgrund der langjährigen gefestigten Rechtsprechung und der Normierung im OAPA und in section 18 des Interpretation Act ein fester Bestandteil des englischen Rechts und ist als „vital constitutional principle“335 anerkannt. Daneben wird die Maxime auch als „fundamental“336 klassifiziert, ohne daß eingehendere dogmatische Ausführungen zur Begründung herangezogen werden. Während sich bei dem Grundsatz nulla poena sine lege häufig in der Literatur ausdrückliche Bezüge zur rule of law finden, ist dies erstaunlicherweise bei dem Verbot der Doppelbestrafung nicht in gleichem Maße der Fall. Dennoch gehört der Gedanke der Rechtssicherheit in England ebenso zum Konzept der rule of law337 wie die Idee der Gerechtigkeit338. So hat Lord Devlin etwa in der Connelly-Entscheidung ausgeführt: „Every system of justice is bound to insist upon the finality of judgment arrived at by due process of law.“339 Das Verbot der Doppelbestrafung unter das Konzept der rule of law zu fassen, erscheint daher aus folgender Überlegung heraus möglich: Grundgedanke der rule of law ist es, ein faires Verfahren zu gewährleisten und die Freiheit des einzelnen zu schützen. Dem widerspricht es jedoch, wenn jemand wegen derselben Tat zweimal verurteilt wird. Diese Verknüpfung wird allerdings – soweit ersichtlich – weder von der Literatur noch von der Rechtsprechung vertreten. 3. Inhalt des ne bis in idem-Grundsatzes in England a) Kodifiziertes Recht Archbold führt unter der Bezeichnung „Relevant statutory provisions“ sechs Gesetze mit entsprechendem Bezug zum Grundsatz des Verbots der Doppelbestrafung auf, denen jedoch eine unterschiedliche Bedeutung in der Praxis zukommt340. Die beiden wichtigsten statutory provisions für die 335 John Sprack, Emmins on Criminal Procedure, 8. Aufl., London 2000, S. 245 RN 16.8. 336 John Frederick Archbold, Criminal Pleading, Evidence and Practice, London 2002, S. 387 § 4–151. 337 Siehe etwa Jowell (FN 66), S. 10 f. 338 So zumindest Allan (FN 242), S. 28. 339 Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1353). 340 Archbold (FN 336), S. 376 ff. RN 4-120 ff. Im einzelnen zählt er auf: Treason Felony Act 1848, section 7 (RN 4-120); Offences against Person Act 1861 (RN 4-121 f. hier auch Bezugnahme auf Section 18 des Interpretation Act 1978, der section 33 des Interpretation Act von 1889 ersetzt), sections 44,45; Magistrates

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

autrefois-Maxime sind die bereits ewähnten Offences against the Person Act (OAPA) von 1861 und der Interpretation Act aus dem Jahr 1978. aa) Der Offences against Person Act (OAPA) Section 44 des OAPA verpflichtet den Richter bei Abweisung einer Klage, hierüber eine Urkunde auszustellen und dem Angeklagten auszuhändigen. Sie muß Grund und Tatsache der Abweisung enthalten und wird ausgestellt, wenn der Richter nach der Anhörung zu einem Delikt der Bedrohung oder Körperverletzung der Ansicht ist, die Tat sei nicht ausreichend nachgewiesen, gerechtfertigt oder so geringfügig, daß eine Bestrafung nicht nötig sei341. Die Aushändigung dieser Urkunde schützt die zuvor angeklagte Person vor allen weiteren oder neuen zivil- wie strafrechtlichen Verfahren wegen desselben Grundes342. Die Anwendung dieser Verfahrensweise unterliegt allerdings einer wesentlichen Einschränkung. Sie greift nur, wenn das Opfer selbst das Verfahren eingeleitet hat. In der Regel wird allerdings die Polizei nach einer Anzeige des Opfers das gerichtliche Verfahren einleiten. Section 44 findet in diesem Fall keine Anwendung, da die Verfahrenseinleitung durch die Polizei nicht im Interesse des Opfers geschieht. bb) Der Interpretation Act Section 33 des Interpretation Act von 1889 findet sich wortgleich in section 18 des Interpretation Acts von 1978 wieder und bestimmt: „Where an act or omission constitutes an offence under two or more Acts, or both under an Act and at common law, the offender shall, unless the contrary inCourts Act 1980, section 27 (RN 4-124); Army Act 1955, section 133 (1) (RN 4125); Criminal Law Act 1967, section 6 (5) (RN 4-126); Criminal Justice Act 1967, section 17 (RN 4-127); speziell zu den „tainted acquittals“ S. 378 ff. RN 4-128 ff. 341 Vgl. section 44 OAPA: „If the justices, upon the hearing of any case of assault or battery upon the merits, where the complaint was preferred by or on behalf of the party aggrieved, shall deem the offence not to be proved, or shall finde the assault or battery to have been justified, or so trifling as not to merit any punishment, and shall accordingly dismiss the complaint, they shall forthwith make out a cerificate to the party against whom the complaint was preferred.“ 342 Vgl. section 45 OAPA: „If any person against whom any such complaint as is mentioned in section 44 of this Act shall have been preferred by or on behalf of the party aggrieved, shall have obtained such certificate, or, having been convicted, shall have paid the whole amount adjuged to be paid, or shall have suffered the imprisonment with hard labour awarded, in every such case he shall be released from all further or other proceedings, civil or criminal, for the same cause.“ Vgl. hierzu Peter Murphy, Blackstone’s Criminal Practice 2001, Part D Procedure, S. 1333 RN D10.40.

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tention appears, be liable to be prosecuted and punished under either or any of those Acts or at common law, but shall not be liable to be punished more than once for the same offence.“

Der Täter (offender) darf somit nicht mehr als einmal für dieselbe Tat bestraft werden. Diese Vorschrift spiegelt lediglich den Stand des common law wieder, ohne diesen zu verändern343. cc) Zwischenergebnis Aus diesen beiden Vorschriften ergibt sich ein nur lückenhaftes Bild des Regelungsgehalts der autrefois-Maxime. Allein unter Rückgriff auf das Gesetzesrecht lassen sich Konzeption und Stellung der Maxime im englischen Recht nicht erfassen. Maßgeblich ist daher die gerichtliche Handhabung dieses Prinzips, die folgend ausführlich darzustellen ist. b) Richterrecht Am Beispiel des ne bis in idem-Grundsatzes zeigen sich zugleich Vorteile und Nachteile des richterrechtlich geprägten englischen Rechtssystems. Wird als Vorteil immer wieder die Flexibilität des case law gepriesen, so offenbart sich anhand der autrefois-Maxime auch der Nachteil unzähliger Einzelmeinungen und einer im einzelnen unüberschaubaren Kasuistik344. Erst mit der Entscheidung des House of Lords in der Rechtssache „Connelly v. DPP“345 wurden die bis dahin geltenden Grundsätze zusammengefasst, und es gelang, gemeinsame Prinzipien für die Anwendung und den Inhalt des ne bis in idem-Grundsatzes herauszuarbeiten346. aa) Die Entscheidung „Connelly v. DPP“ und ihre Auswirkungen Nicht nur die Systematisierung, sondern auch die inhaltliche Ausformung des autrefois-Prinzips ist im wesentlichen durch Entscheidung „Connelly v. DPP“ erfolgt. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu343

So Humphreys, in Thomas (1950) 1 KB 26 (31 und 33). Zu den Voraussetzungen im einzelnen siehe etwa Archbold (FN 336), S. 377 RN 4-123: „It is not the law that a person shall not be punished twice for the same act.“ 344 Zu der Entwicklung des Grundsatzes in der Rechtsprechung über die Jahrhunderte ausführlich Friedland (FN 321), S. 5 ff. 345 Connelly v. DPP (1964) AC 1254. 346 Vgl. nur Archbold (FN 336), S. 374 f. RN 4-116 ff.; Murphy (FN 342), S. 1331 RN D10.39; Inigo Bing, Criminal Procedure and Sentencing in the Magistrates’ Court, 5. Aufl., London 1999, S. 119; Sprack (FN 335), S. 246 RN 16.8.2.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

grunde: Connelly und drei andere waren wegen Mordes angeklagt, und zudem wurde ihnen in einer weiteren Anklage schwerer Raub zur Last gelegt347. Connelly wurde des Mordes für schuldig befunden und legte Rechtsmittel ein. Unter anderem wegen fehlerhafter Beweiswürdigung durch den Richter wurde dem stattgegeben. Das Gericht ordnete sodann die Fortführung der Hauptverhandlung über den schweren Raub an, die zunächst ausgesetzt worden war. Connelly erhob die Einrede des autrefois acquit, da durch die Rechtsmittelentscheidung das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und er somit von der Anklage wegen Mordes freigesprochen worden war. Mit seinem Grundsatzurteil verwarf das House of Lords die Einrede von Connelly. Die zweite Anklage sei weder dieselbe wie die erste, noch sei sie dem Wesen nach gleich, denn ein Raub sei kein Alternativtatbestand zu einem Mord. (1) Die Thesen von Lord Morris Die in dem Urteil aufgestellten neun Thesen von Lord Morris348 wurden zum Ausgangspunkt für das heutige Verständnis der autrefois-Maxime im englischen Recht. Daraus können vier Prinzipien abgeleitet werden: – A man may not be tried for a crime in respect of which he has previously been acquitted or convicted. Niemand soll wegen einer Straftat vor Gericht gestellt werden, wenn die angeklagte Tat in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht mit der früheren identisch ist349. Hierbei handelt es sich um den klassischen Fall der Anwendung der autrefois-Einrede. – A man cannot be tried for a crime in respect of which he could on some previous indictment have been convicted. Das Verbot der Bestrafung wegen einer Straftat, die bereits in einem früheren Verfahren hätte abgeurteilt werden können, korrespondiert mit der Befugnis der Geschworenen, ein Urteil zu fällen, das den Angeklagten wegen des angeklagten Delikts für nicht schuldig, wegen eines minder schweren Delikts jedoch für schuldig befindet350. Wird er hinsichtlich der schwereren angeklagten Tat freigesprochen, ist er damit zugleich wegen der im347 Nach der damaligen Rechtslage war es unzulässig, neben Mord noch andere Delikte in einer Anklage anzuklagen, R. v. Jones (1918) 1 KB 416. 348 Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1305–1306). 349 Vgl. Murphy (FN 342), S. 1331 RN D 10.39; Sprack (FN 335), S. 247 RN 16.8.2. 350 Mit Vergleich zum deutschen Recht Thomas (FN 321), S. 194, mit enger Anlehnung an Murphy (FN 342).

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pliziten minder schweren Delikte freigesprochen351. Anders liegt der Fall jedoch, wenn sich die Geschworenen etwa aufgrund der Beweislage ausdrücklich nicht in der Lage sehen, ein Urteil bezüglich des Alternativdelikts zu fällen. In diesem Fall steht in einem nachfolgenden Prozeß die autrefoisEinrede einer Verurteilung wegen des Alternativdelikts nicht entgegen. Dies gilt jedoch nur im Falle eines ausdrücklichen Vorbehalts; ansonsten gilt der Freispruch bezüglich des Hauptdelikts auch als Freispruch im Hinblick auf die Alternative352. – A man cannot be tried for a crime which is in effect the same, or is substantially the same as a crime of which he has previously been acquitted or convicted (or could have been convicted by way of alternative verdict). Das House of Lords war mit diesem Kriterium nicht vollständig einverstanden. Unklar war vor allem, wann ein Delikt im wesentlichen dasselbe („substantially the same“) wie ein anderes sein sollte. Wann die Voraussetzungen für ein im wesentlichen gleiches Delikt vorliegen, hat Lord Morris in dem vierten Prinzip erläutert353, so daß beide Prinzipien zusammen gesehen werden müssen. – What has to be considered is wether the crime or offence charged in the later indictment is the same, or is in effect or is substantially the same, as the crime charged in the former indictment and it is immaterial that the facts under examination or the witnesses being called in the later proceedings are the same as those in some earlier proceedings. 351

Murphy (FN 342), S. 1332 D.10.39: „The reasoning is that, where the jury on a certain count could have convicted of a lesser offence but chose simply to find the accused not guilty, they have impliedly acquitted him both of the offence charged and of the lesser offence.“ Hierzu auch Sprack (FN 335), S. 247 RN 16.8.2. 352 Mit weiteren Erläuterungen vgl. auch Thomas (FN 321), S. 195. 353 In der Entscheidung steckt die hier als viertes Prinzip bezeichnete These in den Punkten 6 und 7 der neun Thesen von Lord Morris: „(6) that on a plea of autrefois acquit or autrefois convict a man is not restricted to a comparison between the later indictment and some previous indictment or to the records of the court, but he may prove by evidence all such questions as to the identity of persons, dates and facts as are necessary to enable him to show that he is being charged with an offence which is either the same or substantially the same as one in respect of which he has been acquitted or convicted or as one in respect of which he coud have been convicted; (7) that what has to be considered is wether the crime or offence charged in the later indictment is the same or is in effect or is substantially the same as the crime charged (or in respect of which there could have been a conviction) in a former indictment and that it is immaterial that the facts under examination or the witnesses being called in the later proceedings are the same as those in some earlier proceedings.“

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Der Angeklagte darf somit umfassende Entlastungsbeweise vorbringen, um zu zeigen, daß die zweite Anklage ein „im wesentlichen gleiches“ Delikt beinhaltet. Entscheidend ist weiterhin, ob die für die zweite Anklage notwendigen Beweise oder die sie begründenden Tatsachen ausreichend gewesen wären, eine rechtmäßige Verurteilung wegen der ersten Tat zu begründen354. Lord Morris vertritt hier eine weite Auffassung der autrefoisMaxime, wonach die neue angeklagte Tat nur „substantially the same“ sein müsse wie die erste. Obwohl die Thesen355 von Lord Morris von der Mehrheit des House of Lords nicht übernommen wurden, werden sie in der Literatur als Grundlage für die autrefois-Maxime herangezogen356. Sie bieten eine gute Zusammenfassung über die Entwicklung der autrefois-Maxime über die letzten Jahrhunderte. (2) Die Ansicht Lord Devlins und der Mehrheit des House of Lords Eine engere Ansicht der autrefois-Maxime vertrat demgegenüber Lord Devlin: „The word ‚offence‘ embraces both the facts which constitute the crime and the legal characteristics which make it an offence. For the doctrine to apply it must be the same offence both in fact and in law.“357

Lord Devlin kritisierte insbesondere die vage Formulierung „substantially the same“358, denn ein Delikt könne in seinen rechtlichen Merkmalen nicht im wesentlichen das gleiche sein wie ein anderes, da rechtliche Merkmale etwas Präzises seien und damit entweder identisch oder nicht. In Anlehnung hieran vertritt auch die Mehrheit der Richter des House of Lords eine engere Auffassung. Danach muß nur die rechtliche Beurteilung der angeklagten Tat dieselbe sein wie bei dem vorherigen Prozeß. Soweit die Tatsachen betroffen sind, ist es ausreichend, wenn diese im wesentlichen dieselben sind359. Diese im Vergleich zu Lord Morris Aussagen engere 354 Siehe die vierte These von Lord Morris: „(. . .) that one test as to wether the rule applies is wether the evidence which is necessary to support the second indictment, or wether the facts which constitute the second offence, would have been sufficient to procure a legal conviction upon the first indictment either as to the offence charged or as to an offence of which, on the indictment, the accused could have been found guilty.“ 355 Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1305 f.). 356 Vgl. nur die Ausführungen von Murphy (FN 342), S. 1331 D10.29, und Archbold (FN 336), S. 374 § 4–116. 357 Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1339–1340). 358 Lord Delvin, in: Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1440). 359 Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1440). Insoweit hat Lord Devlin ausgeführt: „I have no difficulty about the idea that one set of facts may be substantially

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Sicht der autrefois-Maxime wurde vom Court of Appeal in der Entscheidung „Beedie“ bestätigt360. bb) Die Entscheidung „Beedie“ des Court of Appeal Die unter aa) dargestellten Prinzipien müssen heute im Lichte der Entscheidung „Beedie“361 ausgelegt werden. In dieser stellte der Court of Appeal klar, daß das House of Lords im Fall Connelly mehrheitlich eine enge Auslegung des autrefois-Prinzips vertreten hatte. Lord Morris Thesen seien diesbezüglich nicht repräsentativ. Allerdings soll richterliches Ermessen in den Fällen eröffnet sein, in denen sich die zweite Tat aus denselben oder im wesentlichen aus denselben Tatsachen ergebe wie die erste362. Dabei müsse stets das folgende unabänderliche Prinzip (invariable rule) Beachtung finden: „When a person is tried on a lesser offence he is not to be tried again on the same facts for a more serious offence.“363 Damit wurde auf das Elrington-Prinzip Bezug genommen, das auf eine Entscheidung aus dem Jahre 1861 zurückgeht: „Wether a party accused of a minor offence is acquitted or convicted, he shall not be charged again on the same facts in a more aggravated form.364 Dies schließt jedoch nicht aus, daß eine Person für eine schwereres Delikt nochmals verurteilt werden kann, wenn Spätfolgeschäden eintreten, die zur Zeit der ersten Verurteilung noch nicht existierten, wie zum Beispiel der Tod des Opfers365. Insoweit wird eine Durchbrechung des Grundsatzes anerkannt. Der Court of Appeal stimmt in „Beedie“ insoweit den Ausführungen Lord Devlins366 zu und ist der Ansicht, daß das dritte und vierte Prinzip der Ausführungen Lord Morris zur Doktrin des Verfahrensmißbrauchs (abuse of process) und nicht zur autrefois-Maxime zu zählen ist367.

but not exactly the same as another“ in Bezug auf die rechtliche Qualifizierung jedoch „legal characteristics are precise things and are either the same or not“. 360 In Bezug auf die Connelly-Entscheidung wurde in R. v. Beedie (1998) QB 356 (360) festgestellt, daß die Mehrheit „identified a narrow principle of autrefois, applicable only where the same offence is alleged in the second indictment“. 361 R. v. Beedie (1998) QB 356. 362 Vgl. R. v. Beedie (1998) QB 356. 363 R. v. Forest of Dean Justices, ex parte Farley (1990) RTR 228 (239). 364 R. v. Elrington (1861) 1 B & S 688 (696). Vgl. hierzu auch R. v. Forest of Dean, ex parte Farley (1990) RTR 228 (239): „almost invariable rule that where a person is tried on a lesser offence he is not to be tried again on the same facts for a more serious offence“. 365 R. v. Thomas (1950) 1 KB 26. 366 Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1340 und 1358). 367 Archbold (FN 336), S. 375 § 4–118.

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c) Einzelne Anforderungen aus der autrefois-Maxime aa) Voraussetzung des wirksamen Freispruchs oder der Verurteilung Damit die autrefois-Einrede durchgreift, muß ein endgültiger Abschluß des ersten Verfahrens vorliegen. Darunter ist ein rechtswirksamer Freispruch oder eine Verurteilung zu verstehen. Ein abschließendes Urteil liegt vor, wenn es vom zuständigen Gericht ausgesprochen wurde und das Verfahren nicht „ultra vires“368 war. Ein unter Verstoß gegen dieses Prinzip ergangener Freispruch ist rechtsunwirksam und kann keine autrefois-Einrede begründen, da er rechtlich nicht existiert369. Auch eine bloße Verurteilung ist nicht ausreichend, vielmehr muß auch eine Strafe verhängt worden sein370. bb) Prozessuale Geltendmachung Bei den autrefois-Prinzipien handelt es sich um prozeßhemmende Einreden (plea in bar), die vom Angeklagten erhoben werden müssen371. Wenn der Angeklagte durch einen Anwalt vertreten ist, muß die Einrede schriftlich eingereicht werden372. Selbst bei einem Geständnis des Angeklagten vor dem Magistrates Court kann der Crown Court einer Einrede des Angeklagten nachgehen373. Es obliegt dem Angeklagten zu beweisen, daß die Voraussetzungen einer autrefois-Einrede vorliegen. Sie kann jederzeit erhoben werden und als Folge sind dann bereits neue Ermittlungen in der Sache ausgeschlossen374. Wichtig ist es darüber hinaus, daß das erste Urteil von 368

Näher hierzu unter B. I. 3. Beispiele in denen die autrefois-Einrede nicht einschlägig ist R. v. Manchester City Magistrates, ex parte Snelson (1977) 1 WLR 911; R. v. Dabhade (1993) QB 329. 370 Claire de Than/Edwin Shorts, Double Jeopardy – Double Trouble, The Journal of Criminal Law, Dec 2000, S. 624 (627): „(. . .) it is now established that the meaning of the word ‚conviction’ requires being found guilty of the offence and additionally a sentence being passed down.“ 371 Unter dem Criminal Procedure Act 1851, section 28, ist es ausreichend, wenn der Angeklagte geltend macht, er sei bereits rechtmäßig freigesprochen oder verurteilt worden wegen der jetzt wieder angeklagten Tat. 372 Ausführlich zu den prozessualen Voraussetzungen Archbold (FN 336), S. 387 § 4–151; Murphy (FN 342), S. 1337 RN D10.47. 373 Im Fall Cooper v. New Forest District Council (1992) Crim.L.R. 877 hat der Divisional Court dem Crown Court die Befugnis zugestanden, über eine autrefoisEinrede zu entscheiden, obwohl der Angeklagte sich vor dem Magistrates court für schuldig bekannt hatte. Diese Entscheidung wird in der Literatur als Ausdruck dafür gesehen, daß die Maxime „no person should be put in peril twice for the same offence is so fundamental (. . .)“, Archbold (FN 336), S. 387 § 4.151. 369

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einem zuständigen Gericht gefällt wurde. Denn das autrefois-Prinzip findet nur dann Anwendung, wenn der Angeklagte tatsächlich hätte verurteilt werden können; dies ist bei einem unzuständigen Gericht nicht der Fall375. cc) Mögliche Einschränkungen des autrefois-Prinzips Es gibt zahlreiche geschriebene und richterrechtlich begründete Einschränkungen des autrefois-Prinzips376. Im wesentlichen lassen sich nach dem Consultation Paper nº 156 drei Gruppen zusammenfassen, in denen ein neues Verfahren wegen derselben Straftat zulässig ist: prosecution appeal377, retrial following appeal against conviction378 und tainted acquittals379. Zudem kann eine Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Spätfolgeschäden erfolgen380 oder wenn es das Gericht nach einem „Gerechtigkeitstest“381 für erforderlich hält. dd) Auswirkungen auf die Beweisführung Mit der „Connelly“-Entscheidung hat sich die Beweislage zugunsten des Angeklagten verbessert. Lord Devlin geht in seinen Ausführungen davon aus, eine erneute Anklage wegen derselben oder im wesentlichen derselben Tatsachen prima facie willkürlich und falsch sei, wenn sie wieder wegen einer anderen Straftat aber aufgrund desselben Sachverhalts erfolgt. Als Grund gibt er an, daß die „andere Straftat“ auch im ersten Prozeß hätte abgeurteilt werden können382. Lediglich unter besonderen Voraussetzungen (special circumstances) sei ein zweites Verfahren nicht rechtsmissbräuchlich, sondern zu rechtfertigen. Allerdings besteht keine allgemeingültige Definition, was unter dem Ausdruck special circumstances zu verstehen ist. 374

Murphy (FN 342), S. 1337 D10.47. Ausführlich zu den einzelnen Voraussetzungen mit Vergleich zum deutschen Strafprozeßrecht Thomas (FN 321), S. 235 ff. 376 Hierzu De Than/Shorts (FN 370), S. 626. 377 Grundsätzlich hat die Anklagebehörde kein Rechtsmittel gegen einen Freispruch, es gibt jedoch zwei Ausnahmen hierzu mit Beispielen Consultation Paper nº 156, S. 9 RN 2.12. 378 Eine Verfahrensaufnahme kann danach erfolgen, wenn das Gericht es im Interesse der Gerechtigkeit für erforderlich hält. 379 Vgl. hierzu Criminal Procedure and Investigations Act 1996 Section 54–57. 380 Z. B. wenn das Opfer später stirbt und der Täter nur wegen eines geringeren Delikts verurteilt wurde. Diese Ausnahme findet ihren Geltungsgrund im Common Law. 381 Criminal Justice Act 1988 section 43. 382 Connelly v. DPP (1964) AC 1254 (1440 f.). 375

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d) Die Law Commission Consultation Paper nº 156 und nº 267 Die Ausgestaltung der autrefois-Maxime im englischen Recht wurde wiederholt als unübersichtlich kritisiert und den Bedürfnissen der Praxis nicht angemessen angesehen383. Daher erhielt die Law Commission den Auftrag, die Gründe für das Doppelbestrafungsverbot und seine Konzeption zu untersuchen und zusammenzustellen, dem sie in ihrem Paper No. 156 „Double Jeopardy“ im Jahr 1999 (Law Commission Consultation Paper No. 156 – LCCP 156) nachkam384. Sie schlug darin u. a. vor, bei besonders schweren Delikten beim Vorliegen neuer Beweise auch in Fällen eines Freispruchs385 ein Verfahren wieder aufnehmen zu können386. Die Law Commission hat bei ihren Vorschlägen darüber hinaus auch rechtsvergleichend gearbeitet und darauf hingewiesen, daß andere nationale Strafrechtsordnungen – so auch die deutsche – unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens beim Auftauchen neuer Beweise anerkennen387. Daneben hat sie ein einheitliches Strafrechtsgesetz vorgeschlagen388. Die Vorschläge in LCCP 156 wurden durch die Law Commission No. 267 „Double Jeopardy and Prosecution Appeals“ (LCCP 267) im Jahr 2001 überarbeitet389 und erhielten dann teilweise Eingang in den Criminal 383 Ian Dennis, Rethinking double jeopardy: Justice and Finality in criminal process, Crim.L.R. 2000, DEC, S. 933 (937: „the protection is by no means unqualified“); De Than/Shorts (FN 370), (S. 624: „. . . that the complex and ill-defined double jeopardy rule is subject to many, often conflicting shades of interpretation“); Gavin Dingwall, Prosecutorial Policy, Double Jeopardy and the Public Interest, M.L.R. 2000, vol. 63, S. 268 (269: „. . . the boundaries of this particular remedy (autrefois-Einreden, A. d. V.) were not clear . . .“). 384 Kritisch hierzu Paul Roberts, Double jeopardy law reform: A criminal justice commentary, M.L.R. 2002, S. 393 (397 f.), mit der Aufzählung und Abhandlung der vier Gründe: the risk of wrongful conviction, the distress of the trial process, the need for finality, the need to encourage efficient investigation. 385 Die Diskussion über eine Reform der Double Jeopardy-Doktrin wurde durch den Macpherson- Report über die Stephen Lawrence-Untersuchung entfacht, vgl. The Stephen Lawrence Inquiry – Report of an Inquiry by Sir William Macpherson of Cluny (1999) Cm 4262; in recommandation 38 heißt es, daß bei Vorliegen von „fresh and viable evidence“ nach einem Freispruch über eine Reform nachzudenken sei: „That consideration should be given to the Court of Appeal being given power to permit prosecution after acquittal where fresh and viable evidence is presented.“ 386 Zu den Anforderungen, die an die „neuen Beweise“ zu stellen sind, und mit Kritik zu den Vorschlägen der Law Commission Ian Dennis, Double Jeopardy: A second bite at the cherry, Crim.L.R. 1999, S. 927 (928). 387 Siehe hierzu den rechtsvergleichenden Überblick im Law Commission Consultation Paper nº 156 (LCCP 156), S. 110 ff. 388 „(. . .) codification makes the law clearer, simpler and more accessible“, LCCP 156, S. 33. Hierzu auch Dennis (FN 383), S. 950, der die Vorschläge einer Kodifikation wegen einer einheitlichen Begründung kritisch würdigt.

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Justice Act 2003 (Part 9 prosecution appeals und Part 10 retrial for serious offences). Das LCCP 156 sah noch die Einführung einer generellen „new evidence exception“ für eine große Kategorie von Delikten vor, während LCCP 267 dies auf die „worst homicides“ limitiert390. e) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung der autrefois-Maxime Trotz der Meinungsverschiedenheiten über die Reichweite des Verbots der Doppelbestrafung im englischen Recht und der Kritik an der konkreten Umsetzung bleibt festzuhalten, daß das englische Recht durch die autrefoisMaxime dem Spannungsverhältnis zwischen dem „interest of finality of legal process“ und dem „interest of the legitimacy of the process“ Rechnung trägt. Die grundsätzliche Schutzrichtung der autrefois-Maxime ist die Rechtssicherheit für den einzelnen, der nicht wegen derselben Tat zweimal bestraft werden soll. Die Betonung dieses Ansatzes zeigt sich insbesondere in der Überarbeitung des LCCP 156 durch den LCCP 267. Allerdings wird die Effektivität und Verläßlichkeit im Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit durch eine teilweise zu flexible Umsetzung des Verbots der Doppelbestrafung ausgehebelt. Eine Abkehr von dieser Haltung und die stärkere Betonung der Schutzrichtung kommt durch die erwähnte Überarbeitung zum Ausdruck, wo es heißt: „Our judgement is that once greater value is given to finality we can no longer justifiy an exception as wide in scope as that proposed in CP 156.“391 Damit gesteht die Commission zu, daß in der Vergangenheit die Funktion des Doppelbestrafungsverbots, das Vertrauen in die Strafrechtspflege und die Finalität strafrechtlicher Entscheidungen zu fördern, häufig unterbewertet wurde. Sie betont die Bedeutung der Finalität strafrechtlicher Entscheidungen und fordert, daß jede Ausnahme klar und beschränkt sein muß392. 4. Bewertung In Form der autrefois-Einrede verwirklicht das englische Recht das Verbot der Doppelbestrafung. Da es sich hierbei überwiegend um ein altes 389

Die Vorschläge wurden insgesamt in der Literatur vielfach kritisiert, sie seien zu wenig substantiiert, näher zu der Reform Roberts (FN 384), S. 395. 390 Recommendation 1, RN 4.29–4.42. 391 LCCP 267 RN 4.21. 392 Siehe LCCP 267 RN 4.20, 4.22:. „Any exception must, however, be limited to those types of case where the damage to the credibility of the criminal justice system by an apparently illegitimate acquittal is manifest, and so serious that it overrides the values implicit in the rule against double jeopardy. The boundaries of any such exception must be clear cut and notorious.“

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

common law-Prinzip handelt, oblag sowohl die inhaltliche Ausgestaltung sowie insbesondere auch die Bestimmung der Reichweite den Gerichten. Gerade hierin liegt ein Nachteil, da mit der Flexibilität des common law die Unsicherheit für den Betroffenen im Einzelfall wächst. Zudem ist die Anwendung des Doppelbestrafungsverbots von Ausnahmen und Besonderheiten geprägt393, und das Gebot selbst wird nicht durch eine formelle Anerkennung gewährleistet. Denn bislang hat England noch nicht das siebte Zusatzprotokoll zur EMRK ratifiziert. Dennoch ist es aufgrund der langen Tradition mehr als unwahrscheinlich, daß das Verbot der Doppelbestrafung angetastet wird. Allerdings bestehen bei der Einführung neuer Ausnahmen nicht die Schranken, wie sie sich in Deutschland etwa aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundgesetz ergeben. Diese Handhabung des Prinzips wurde in England in den letzten Jahren zunehmend kritisiert394, was seinen Niederschlag unter anderem in den Arbeiten der Law Commissions fand. Der Aspekt der Finalität strafrechtlicher Verurteilungen wird als „constitutional core of the double jeopardy prohibition“395 bezeichnet und eine verfassungsrechtlich verbürgte Finalität strafrechtlicher Verurteilungen gefordert. Gerade in der Überarbeitung der LCCP 156 durch LCCP 267 zeigt sich, daß sich in England ein neues Bewußtsein im Umgang mit dem Doppelbestrafungsverbot abzeichnet. Die Commission war nach ihren Vorschlägen in No. 156 aufgefordert, die Begründung und Stellung des Doppelbestrafungsverbot neu zu überdenken und kam letztlich zu dem Schluß, daß Ausnahmen in der Breite, wie ursprünglich vorgesehen, nicht statthaft seien396. An den Abänderungen im zweiten Law Commission Entwurf läßt 393

Kritisch De Than/Shorts (FN 370), S. 624. Es wurde etwa als „complex and ill-defined double jeopardy rule“ bezeichnet, so De Than/Shorts (FN 370), S. 624; siehe auch S. 641 („we submit that the present rules on double jeopardy are contradictory, confusing and open to misinterpretation“) und S. 639 („. . . the rule of double jeopardy are applied inconsistently or without logic“). 395 Roberts (FN 384), S. 411, der einen Vergleich zu den USA zieht und feststellt, daß dies in England nur äußerst selten der Fall ist. Roberts weist selbst auf die verfassungsrechtliche Dimension des Verbots der Doppelbestrafung hin. 396 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Aussage von Dennis (FN 383), S. 949: „There is an overwhelming case for saying that the state should be allowed only one second bite at the cherry. This is a limited exception to a principle rightly perceived as fundamental“. Er fährt dann fort: „(. . .) a defendant acquitted a second time, where there has been significant new evidence of guilt, must be able to say that the legitimacy of this verdict is now beyond question. Any further attempts by the state to re-open the matter will look like an unwillingness to accept the adjucations of its own institutions, vindictiveness against the defendant and an abuse of state power in continuing to devote resources to further procsecutions against the defendant.“ 394

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sich ein veränderter Ansatz im Umgang mit dem Doppelbestrafungsverbot erkennen. Ob dies vor dem Hintergrund des internationalen Rechts und der Tatsache erfolgt ist, daß andere common law-Rechtsordnungen dem Verbot der Doppelbestrafung offen Verfassungsrang zugestehen, bleibt eine Vermutung. In England erhält das Doppelbestrafungsverbot von immer mehr Autoren fundamentale und verfassungsrechtliche Bedeutung zuerkannt397. Aufgrund der eingeführten Änderungen durch die Vorschläge der Law Commission wurde der Schutz vor einem neuen Verfahren gestärkt und die Finalität strafrechtlicher Verurteilungen gestärkt. Ebenso wie in Deutschland stand auch in England der Begriff „derselben Tat“ in der Diskussion, wie die Entwicklung von der Connelly-Entscheidung zur Beedie-Entscheidung zeigt.

VI. Faires Verfahren (fair trial) In England bestimmen Begriffe wie fair trial und natural justice die Idee einer rechtsstaatlichen Garantie des fairen Verfahrens [zu der Entwicklung der Begrifflichkeit siehe 1. Kapitel, B. VI. 1. b]. Es handelt sich hierbei um Sammelbegriffe, um die sich mehrere Einzelrechte gruppieren. Sie bedürfen daher einer genaueren Untersuchung und Abgrenzung um herauszuarbeiten, inwieweit diese Rechte möglicherweise inhaltliche Äquivalente zu dem allgemeinen deutschen Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren sind. 1. Terminologie Das Recht auf ein faires Verfahren spiegelt sich in England in den Begriffen „fairness“ und „duty to act fairly“ wieder und steht darüber hinaus in engem Zusammenhang mit dem Begriff der „natural justice“. Teilweise werden sie entweder synonym oder mit unterschiedlichen Definitionen gebraucht398. In Anlehnung an die Rechtsprechung scheint sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Tendenz herausgebildet zu haben, die Begriffe fairness und duty to act fairly häufiger zu verwenden als etwa den traditionellen natural justice-Begriff. Der Ausdruck duty to act fairly tauchte auf, als sich die allgemeine Verpflichtung zu einem fairen Verhalten im Verfahren unabhängig von gerichtlichem oder gerichtsähnlichem Handeln heraus397 Sprack (FN 335), S. 245; Archbold (FN 336), S. 387 § 4–151; Dennis (FN 383), S. 949. 398 Zur Gleichstellung siehe Re H.K. (1967) 2 QB 617 (630), sowie Breen v. Amalgamated Engineering Union (1971) 2 QB 175 (190 f.). In Pearlberg v. Varty (1972) 1 WLR 534 (547 ff.) wird der Unterschied darin gesehen, daß sich natural justice auf Gerichtsentscheidungen beziehe, während duty to act fairly eher die verfahrensrechtlichen Mindestgarantien bei Verwaltungshandeln bezeichne.

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kristallisierte399. Diese Verpflichtung wurde teilweise als moderneres Substitut für die natural justice-Konzeption eingestuft400. Die Stellung der verschiedenen Begrifflichkeiten zueinander ist unscharf und wechselt zwischen Identität und unterschiedlichem Inhaltsniveau. Dies zeigt sich, wenn einerseits ausgeführt wird, das Erfordernis „fair“ beschreibe einen niedrigeren Standard als natural justice, und bei anderen Autoren hingegen der Gedanke auftaucht, der Begriff der fairness könnte die verfahrensmäßigen Schutzrechte umfassen, die traditionell nicht unter das natural justice-Konzept fallen401. Während das natural justice Konzept traditionell das Prinzip audi alteram partem und die rule against bias umfaßt, liegt es nahe, in den unbestimmten und neueren Begriffen der fairness und duty to act fairly einen inhaltlich weitergefaßten Gehalt anzunehmen, dem eine Ergänzungsfunktion zu den natural justice Grundsätzen zukäme. Die duty to act fairly eröffnet den Gerichten ebenso wie das fairness Konzept die Möglichkeit, den Anwendungsbereich der natural justice-Konzeption unter dieser Prämisse auszudehnen und am Leitbild des fairen Verfahrens neu zu justieren402. Die Konzepte besitzen somit eine inhaltliche Schnittmenge, wobei das fairness-Konzept noch über weitere flexible Inhalte verfügt. Festzuhalten ist insoweit zunächst, daß die Standards der fairness im common law nicht unabänderbar sind, sondern sich den geänderten Gegebenheiten anpassen. Sie sind damit abhängig vom jeweiligen Kontext des Falles und entsprechend nicht in einer abschließenden Auflistung festgehalten. Obwohl über die genaue Stellung und Inhalte des fairness-Begriffs im englischen Recht noch Uneinigkeit besteht, wird die Herausbildung verfahrensrechtlicher Anforderungen begünstigt, die nicht originär mit dem natural justice-Begriff verknüpft werden können403. Auf diese Weise wird der 399 de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 401 RN 8-001 und S. 376 RN 7-005; der Ausdruck „duty to act fairly“ wurde 1967 erstmals von den Gerichten genutzt, S. 397 RN 7-0037. Die Bedeutung der „duty to act fairly“ hebt auch McEldowney (FN 196), S. 506 RN 17-096 hervor. 400 de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 472 RN 9-060. Für eine Ablösung des natural justice-Konzeptes durch duty to act fairly: Council of Civil Service Unions v. Minister for the Civil Service (1985) AC 374 (414)“ that phrase [natural justice A. d. V.]. . . be better replaced by speaking of a duty to act fairly“; vgl. aber auch 407: „natural justice, namely the duty to act fairly“. 401 Siehe Cane (FN 196), S. 184, und zum zweiten Ansatz Matthieu Galey/Charlotte Girard, Le procès équitable dans l’espace normatif anglo-saxon: L’éclairage du droit public anglais, in: Ruiz-Fabri (Hrsg.), S. 53 (69 f.). Hierzu auch Bailey (FN 195), S. 781 RN 15.14 und S. 788 RN 15.24. 402 Hierzu Re H.K. (1967) 2 QB 617; zu weiteren Beispielen siehe de Smith/ Woolf/Jowell (FN 76), S. 397 RN 7-038. 403 Zutreffend insoweit McEldowney (FN 196), S. 507 RN 17-098, der eine weiter bestehende Unklarheit feststellt und das Verhältnis der einzelnen Begrifflichkeiten und ihrer Inhalte untereinander noch nicht abschließend geklärt sieht.

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traditionelle natural justice-Begriff durch die fairness-Prinzipien angereichert und ausgedehnt. Unabhängig davon, welcher Begriff im Einzelfall verwandt wird, besteht in der Regel Einigkeit über das Ergebnis der zu gewährleistenden Mindeststandards. Damit sind die traditionellen Elemente des natural justice-Konzepts ebenso Bestandteile eines fairen Verfahrens wie die ergänzend entwickelten fairness-Prinzipien. Diese Ergänzungsfunktion des fairness-Begriffs im Verhältnis zum Begriff der natural justice wird auch dieser Arbeit zugrundegelegt404. 2. Historische Entwicklung Die Wurzeln des fair trial-Begriffs wurden bereits im 1. Kapitel unter B. VI. 1. b) untersucht, das Konzept der natural justice und seine Entwicklung in der englischen Rechtsordnung wurde unter B. III. 2. b) dargestellt. Daher genügt es im weiteren, auf den Begriff des due process einzugehen, der aus dem alten englischen Recht stammend im 17. Jahrhundert in den USA übernommen wurde und mittlerweile von englischen Juristen nur noch im Zusammenhang mit dem amerikanischen Recht gebraucht wird. Allerdings läßt sich eine deutliche Entwicklungslinie von dem traditionellen Konzept des due process405 zu dem moderneren Begriff der fairness ziehen406: Ausgehend von den Interpretationen Cokes des Art. 39 der Magna Charta, reicht sie über die neue verfassungsrechtliche Ordnung Ende des 17. Jahrhunderts bis hin zu den Arbeiten Diceys, dessen rule of law-Konzeption Bezüge zu dem due process-Begriff des 17. Jahrhunderts aufweist407. Nach404 Cane (FN 196), S. 185: „Fairness is not a version of natural justice but an evaluative concept used to provide flexibility in applying the notion of natural justice to particular cases.“ 405 Der Begriff due process wird etwa in Prohibitions del Roy (1607) 12 Coke Reports 63 (64) gebraucht. 406 Ausführlich Galligan (FN 149), S. 167 (170). Vgl. auch Bailey (FN 195), S. 775 RN 15.01. 407 Thompson (FN 260), S. 69, sieht bereits im 14. Jahrhundert die Gleichsetzung der Formulierung „per legem terrae“ mit due process of law: „The phrase per legem terrae was interchanged with the magic formula due process of law; it was made to cover the indicting jury and procedure by original writ; it was believed to limit the jurisdiction of the council, other prerogative courts, and comissions armed with special powers; and it was supposed to insure trial in common-law courts by common-law procedure.“ Zur Ansicht gegen Ende des 17. Jahrhunderts, wonach law of the land mit rule of law zu übersetzen sei, siehe Galligan (FN 149), S. 178: „The law of the land, the legem terrae, could now be translated as the rule of law, a notion which depend not only on there being framework of legal rules, but also on the courts adjucating upon and upholding those rules. Within the notion of the law of the land, or the rule of law, was a sense of due process in both its substantive and procedural

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dem etwa ab Mitte der sechziger Jahre vermehrt die Tendenz auftrat, Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit nicht mehr alleine unter dem Begriff der natural justice durchzusetzen, finden sich heute neben dem natural justiceKonzept Begriffe wie duty to act fairly und fairness, die ebenfalls Inhalte eines fairen Verfahrens erfassen (vgl. 2. Kapitel B. VI. 1.). Mit dem Habeas Corpus Act 1679 hat das englische Parlament einen verbrieften Schutz des einzelnen vor willkürlicher Verhaftung erlassen. Vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs war das Bedürfnis nach Schutz der Integrität des einzelnen im Falle seiner Verhaftung deutlich hervorgetreten. Die Beschränkungen, die der Habeas Corpus Act den öffentlichen Stellen bei der Ausübung ihrer polizeilichen Funktionen auferlegte, wirkten zugleich als Garantien für die in Haft genommenen Personen und setzten den Schwerpunkt auf den Schutz der körperlichen Integrität. Zudem garantierte der Habeas Corpus Act das Recht des einzelnen, im Falle seiner Verhaftung innerhalb von drei Tagen einem Richter zugeführt zu werden408. Die besondere Bedeutung bestand aus historischer Sicht darin, daß niemand mehr ohne Grund in Haft genommen werden durfte und bei jeder Verhaftung die Entscheidung eines höchsten Richters über die Rechtmäßigkeit der Verhaftung gefordert wurde. Wer sich dem Befehl des Gerichts (writ of habeas corpus) widersetzte, die verhaftete Person vorzuführen und den Grund der Verhaftung nachzuweisen, machte sich des contempt of court schuldig und wurde bestraft. In diesen Bestimmungen findet sich insoweit auch der Gedanke des Rechtsstaats409 nach den Vorstellung von Gneist wieder, wonach die Gerichte befugt sind, die Rechtmäßigkeit jeden Verwaltungshandelns zu prüfen. 3. Verhältnis zum Konzept der rule of law „In the sense that the right to a fair tiral secures a quality of treatment whicht suitably reflects the defendants dignity and autonomy, it is an absolute right which constitutes one of the primary ingredients of the rule of law.“410

Die Elemente des englischen right to a fair trial gelten als fundamentale Prinzipien und essentiell zur Wahrung der Rechte des Betroffenen. So führt Barendt aus: „There is a general agreement the rights (. . .) to a fair trial aspects: in its substantive aspect, it meant that rights and liberties would not be affected except by law properly made, while in its procedural sense, it meant that suitable procedures would be available to determine wether any action was justified by law.“ 408 Vgl. Habeas Corpus Act 1679, section 2. 409 Kern (FN 151), S. 21, spricht in diesem Zusammenhang illustrativ von der „Morgenröte des Rechtsstaates“. 410 Allan (FN 242), S. 32 f.

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(. . .), are aspects of constitutional law (. . .).“411 Gerade im Strafverfahren gelten besondere Anforderungen. So wird insbesondere das Recht des Angeklagten auf ein faires Strafverfahren als grundlegendes Prinzip bezeichnet412. Die fair trial-Rechte sind Ausprägungen der rule of law unabhängig von der Verfahrensart und davon, ob sie aus dem Konzept der natural justice entspringen oder aus dem Gebot der fairness abgeleitet werden413. 4. Inhalt des Rechts auf ein faires Verfahren in England Im englischen Recht findet sich kein geschriebener Text, der die Prinzipien der „natural justice“ oder des „fair trial“ einheitlich definiert. Sie entspringen dem common law und damit den Entscheidungen der Gerichte, nicht hingegen gesetzlichen Bestimmungen. Teilweise findet sich der natural justice-Begriff zwar in englischen Gesetzen, ohne jedoch inhaltlich präzisiert zu werden414. Die Inhalte des natural justice-Konzepts, die traditionell in dem Grundsatz audi alteram partem (siehe unter B.III.2.) und nemo judex in causa sua (siehe unter B.II.2.c) bestehen, wurden bereits erläutert. Allerdings hat die Verwurzelung im common law auch dazu geführt, daß die Gerichte, soweit keine Verfahrensregeln per Gesetz vorgeschrieben waren, von Fall zu Fall bestimmt haben, inwieweit die natural justice-Regeln Anwendung finden. Dies hat in Einzelfällen dazu geführt, daß sie überhaupt nicht angewandt wurden415. Eine inhaltliche Abgrenzung wird dadurch erschwert, daß vielfach das Erfordernis des fair trial in engem Zusammenhang gesehen wird mit dem right to a hearing bzw. dem Prinzip audiatur et altera pars des romanisch-kanonischen Verfahrens oder diesen sogar gleichgestellt wird416. Bewußtsein und Sensibilität für die Gewährleistung 411 Barendt (FN 3), S. 4 f. RN 1.06 (in RN 1.97 mit Beispielen aus der Rechtsprechung). 412 Siehe Lord Hope, in: R. v. Brown (Winston) (1998) AC 367 (374); R. v. Brown (Winston) (1994) 1 WLR 1599 (1606: spricht von basic oder fundamental right). Bezugnehmend zur rule of law Bailey (FN 195), S. 776 RN 15.02. 413 In diesem Sinne Jowell (FN 66), S. 17. 414 Mit dem Hinweis auf Gesetze, die inzwischen Ablauf einer Anhörung vorschreiben und vorsehen, siehe McEldowney (FN 196), S. 506 RN 17-094. 415 Cane (FN 196), S. 166. 416 So auch Franz Matscher, The Right to a fair trial in the case-law of the organs of the European Convention on Human Rights, in: European Commission for Democracy through law, The right to a fair trial, Straßburg 2000, S. 10, der jedoch auch zugesteht, daß beide Begriff ausfüllungsbedürftig sind: „The two – equally vague – terms naturally had different connotations, but the principle was the same“; auch Galey/Girard (FN 401), S. 59, setzen „fair hearing“ mit „procès équitable“ gleich und fahren fort: „C’est donc une conception extensive du fair hearing qui devrait faire oeuvre normative en Grande Bretagne“.

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von Verfahrensgerechtigkeit sind in der englischen Rechtsordnung trotz bestehender Formulierungslücken traditionell tief im common law verankert417, wo sich einzelne Grundsätze anhand von Einzelfällen herausgebildet haben. Nicht zuletzt aus diesem Grund besteht über die genaue dogmatische Einordnung des fairness-Begriffs noch Uneinigkeit418. Vereinzelt finden sich geschriebene Garantien im englischen Recht, die sich unter die rechtsstaatliche Garantie eines fairen Verfahrens fassen lassen. In diesem Zusammenhang ist besonders der bereits aufgezeigte Habeas Corpus Act zu nennen. Über den HRA halten zudem die Rechte aus der EMRK Einzug in das englische Recht (insbesondere Art. 6 EMRK) und bewirken eine Verstärkung der Herauskristallisierung des Schutzniveaus. a) Der Habeas Corpus Act Die durch den noch immer gültigen Habeas Corpus Act 1679 gewährte Garantie ist im wesentlichen eine prozessuale, die nicht die Schuldfrage des Verhafteten zum Gegenstand hat, sondern die Frage der Rechtmäßigkeit seiner Verhaftung. Insoweit besteht für das strafrechtliche Verfahren eine geschriebene Garantie des fairen Verfahrens, die durch ein vorgeschriebenes Verfahren die Integrität und Freiheit des Betroffenen schützt419. b) Elemente des fair trial aus dem natural justice-Konzept Die beiden Bestandteile des klassischen natural justice-Konzeptes, das Recht auf rechtliches Gehör (fair hearing) und die Garantie der Unbefangenheit (rule against bias), wurden bereits unter B. III. 2. und B. II. 2. c) erörtert. Zusammenfassend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß sich die Anforderungen des fair hearing nach der englischen Konzeption nicht im bloßen Erfordernis der Anhörung der anderen Seite erschöpfen, sondern weitergehende Anforderungen umfassen420. In Ergänzung zu den Rechten, 417

Vgl. nur die Analyse der Magna Charta bei Thompson (FN 260), S. 69 ff. Siehe Cane (FN 196), S. 184. 419 Siehe die Wertung durch Dicey (FN 16), S. 219: „(. . .) if in short, any man, woman or child is deprived of liberty, the court will always issue a writ of habeas corpus to any one who has the aggrieved person in his custody to have such person brought before the court, and if he is suffering restraint without lawful cause, set him free.“ 420 Cane (FN 196) S. 161, hat die Flexibilität und Offenheit der natural justiceGrundsätze, die sich unterschiedlichen Situationen anpassen können, als „moulded to the circumstances of each case“ bezeichnet, so beispielsweise das Recht auf Offenlegung der Beweismittel, das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen, das Recht auf einen Anwalt sowie das Recht auf einen Dolmetscher. Im einzelnen 418

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die bereits in den vorhergehenden Teilen der Arbeit besprochen wurden, werden nun Anforderungen dargestellt, die explizit aus dem common law entwickelten wurden. c) Weitere Anforderungen an ein faires Verfahren Über die traditionellen Prinzipien der natural justice-Grundsätze hinaus hat das common law Schutzmechanismen entwickelt, die gemeinsam das Gerüst eines Rechts auf ein faires Verfahrens bilden421. Eine umfassende Darstellung dieser open justice ist in dem hier vorgegebenen Rahmen zwar nicht möglich422. Um aber einen Eindruck von den verfahrensrechtlichen Schutzmechanismen des common law zu erhalten, werden exemplarisch einige wesentliche Eckpunkte sowohl für das Strafverfahren als auch für das Zivilverfahren herausgegriffen. So kommt dem Prinzip der Waffengleichheit insbesondere im englischen Strafprozeß eine so selbstverständliche Bedeutung zu, daß es auch nach dem Inkrafttreten des HRA nicht extra kodifiziert wurde. Die Waffengleichheit ist eine der Grundbedingungen des englischen Strafverfahrens, das als Parteienprozeß ausgestaltet ist. Die Verpflichtung, dem Beschuldigten im Strafverfahren die Ermittlungsergebnisse offen zu legen (disclosure), ist ebenfalls elementarer Bestandteil des Rechts auf ein fair trial423. Auch die Öffentlichkeit des Verfahrens ist ein allgemeines Prinzip und wird im Zusammenhang mit der rule of law genannt424, das jedoch nicht die Kompetenz der Gerichte antastet, in begründeten Fällen die Öffentlichkeit auszuschließen. Weder im englischen Zivil- noch im Strafverfahren gab es traditionell ein allgemeines Recht auf ein beschleunigtes Verfahren, obwohl sich englische Gerichtsverfahren häufig durch ihre lange Verfahrensdauer auszeichnen. Allerdings scheint sich inzwischen ein Wandel im Umgang McEldowney (FN 196), S. 507 RN 17-099 ff. (speziell zu dem Recht auf einen Anwalt in RN 17-102). 421 Im einzelnen auch Bailey (FN 195), S. 777 RN 15.04 ff. (insbesondere RN 15.35 ff.). 422 Ausführlich zu strafverfahrensrechtlichen Garantien, Brice Dickson, The Right to a Fair Trial in England and Wales, in: Weissbrodt/Wolfrum (Hrsg.), The Right to a Fair Trial, 1997, S. 487 ff. (insbesondere zum Recht auf einen Anwalt und zum Schweigerecht auf S. 496 ff. m. w. N.). 423 Lord Hope, in: R. v. Brown (Winston) (1998) AC 367 (374): „The rules of disclosure which have been developed by the common law owe their origin to the elementary right of every defendant to a fair trial. If a defendant is to have a fair trial he must have adequate notice of the case which is to be made against him. Fairness requires that the rules of natural justice must be observed.“ 424 „Open justice promotes the rule of law“,zuletzt wohl Guardian News & Media Limited, Re (2010) 2 AC 697 (701).

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der Gerichte mit dem Ablauf des Verfahrens abzuzeichnen425. Insbesondere im Strafverfahren ist das Recht auf ein zügiges Verfahren als Teil der common law-Forderung nach einem fairen Verfahren anzusehen426. Das Recht auf einen Anwalt (right to legal representation) zählt ebenfalls zu den fair trial rights, dem gerade im Strafverfahren eine besondere Bedeutung zukommt427. Das Schweigerecht428, das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen429 sowie die Unschuldsvermutung430 gehören eng zusammen und sind gleichermaßen tief in der common law-Tradition verwurzelt. Für die englischen Gerichte besteht unbestritten die Pflicht, ihre Entscheidungen zu begründen431. Eine traditionell verwurzelte common law-Regel existiert jedoch nicht, daß Verwaltungsbehörden oder gerichtsähnlich handelnde Organe ihre Entscheidungen begründen müssen432. Aus der duty to act fairly bzw. unter dem Aspekt der fairness fordern die Gerichte jedoch auch insoweit zunehmend eine Begründung433. Diese Entwicklung ist Ausdruck einer vermehrten Beachtung der Rechte des einzelnen434. Eine allge425

Hierzu ausführlich Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 586 RN 11.84 ff. Dies spiegelt sich auch in einigen gesetzlichen Regelungen wider, die bestimmte Zeitlimits festlegen, z. B. section 22, Prosecution of Offences Act 1985. 427 Zur Möglichkeit der Herausbildung eines eigenständigen Rechts auf anwaltlichen Beistand während der polizeilichen Vernehmung, Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 590 RN 11.94. 428 Dies wurde in den letzten Jahren mehrfach Gegenstand gesetzlicher Regelungen, vgl. Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 596 RN 11.102. 429 Dies wurde zusammen mit dem Schweigerecht als „basic freedoms procured by english law“ bezeichnet, Re Arrows Ltd. (1995) 2 AC 75 (95). Siehe hierzu auch Allan (FN 242), S. 31. 430 Dies wird als „undoubted fundamental rule of natural justice“ bezeichnet Haw Tua Tau v. Public Prosecutor (1982) AC 136 (154). Zu den gesetzlich zugelassenen Ausnahmen Clayton/Tomlinson (FN 2), S. 602 RN 11.116. 431 Allgemein John Wheeler, The English legal system, London 2002, S. 319. 432 Siehe auch R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Doody (1994) 1 AC 531 (564). 433 R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Doody (1994) 1 AC 531 (560 ff.). Ausführlich de Smith/Woolf/Jowell (FN 76), S. 457 RN 9-039 ff. Eine Zusammenfassung liefert die Entscheidung des Privy Council in Stefan v. General Medical Council (1999) 1 WLR 1293 (1300/1301): „The trend of the law has been towards an increased recognition of the duty upon decision-makers of many kinds to give reasons. This trend is consistent with current developments towards an increased openness in matters of government and administration. But the trend is proceeding on a case by case basis (R. v. Kensington and Chelsea Royal London Borough Council, ex parte Grillo (1995) 94 LGR 144), and has not lost sight of the established position of the common law that there is no general duty, universally imposed on all decision makers (. . .). There is certainly a strong argument fort the view that what were once seen as exceptions to a rule may now be becoming examples of the norm, and the cases where reasons are not required may be taking on the appearance of exceptions.“ 426

B. Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts

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meine Begründungspflicht wird insbesondere dann für erforderlich gehalten, wenn ein Interesse des einzelnen betroffen ist, das von der Rechtsordnung als besonders bedeutsam eingeschätzt wird435. d) Zwischenergebnis: Gesamtausrichtung Das englische Konzept des right to a fair trial richtet sich am Leitbild elementarer Verfahrensgerechtigkeit aus und umfaßt mehrere Einzelelemente, die je nach Einzelfall in der Anwendung variieren können436. Im Bereich des Strafverfahrensrechts kommt dem Schutz der Rechte des Betroffenen eine herausragende Bedeutung zu, da sich Verfahrensfehler hier besonders belastend auswirken. Das right to a fair trial garantiert dem einzelnen ein Verfahren, in dem er die Möglichkeit erhält, seinen Standpunkt vorzutragen, dieser bei der Entscheidungsfindung einbezogen wird und er nicht Gegenstand willkürlicher Verfahrensweise wird. 5. Bewertung Der fairness-Begriff des englischen Rechts oder auch die duty to act fairly weisen gleichermaßen einen generalklauselartigen Charakter auf, wie es auch für das allgemeine Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren in Deutschland gilt. Dies ermöglicht ebenso wie in Deutschland eine flexible Handhabung und Anpassung der im Einzelfall von den Gerichten geforderten Maßstäbe für die Gewährleistung eines fair trial. So ist etwa im Einzelfall die Begründung einer Entscheidung nötig, die in anderen Fällen entfallen kann. Das fair trial im Strafverfahren bewegt sich im Spannungsfeld zwischen legality und equity, das es zu lösen gilt. Andererseits führt auch 434 Siehe etwa auch den Anspruch auf Information gegen öffentliche Stellen im Freedom of Information Act 2000, section 1. 435 Vgl. R. v. Universities Funding Council, ex parte Institute of Dental Surgery (1994) 1 WLR 242 (263). 436 Vgl. hierzu Lord Mustill, in: R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Doody (1994) 1 AC 531 (560 f.): „What does fairness require in the present case? My Lords, I think it unnecessary to refer by name or to quote from, any of the often-cited authorities in which the courts have explained what is essentially an intuitive judgement. They are far too well known. From them, I derive that (1) where an Act of Parliament confers an administrative power there is a presumption that it will be exercised in a manner which is fair in all circumstances. (2) The standards of fairness are not immutable. They may change with the passage of time, both in general and in their application to decisions of a particular type. (3) The principles of fairness are not to be applied by rote identically in every situation. What fairness demands is dependent on the context of the decision, and this is to be taken into account in all its aspects (. . .).“

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

in England der flexible Inhalt zu einer dogmatischen wie begrifflichen Unsicherheit. Es ist Aufgabe der Richter, im Einzelfall zu bewerten, welche Verfahrensweise dem Erfordernis der fairness in ausreichendem Maße Rechnung trägt437. Verletzungen der Grundsätze aus dem fair trial können sowohl im appeal- als auch im review-Verfahren von den Betroffenen vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden.

VII. Zwischenergebnis: Rechtsinstitute vergleichbaren Inhalts? Bisher wurde untersucht, inwieweit die englische Rechtsordnung den deutschen Prozeßgrundrechten inhaltlich vergleichbare Institute kennt. Um nicht der Versuchung zu erliegen, kontinentaleuropäische und hier insbesondere deutsche Kategorien unreflektiert in das englische Rechtssystem hineinzuinterpretieren, diente der Wortlaut der untersuchten deutschen Prozeßgrundrechte nur als ein erster Anhaltspunkt. Nachdem die englische Begrifflichkeit beleuchtet wurde, konnte in einem zweiten Schritt herausgearbeitet werden, welche wesentlichen Merkmale die jeweiligen englischen Grundsätze innerhalb ihrer Heimatrechtsordnung besitzen. Von Bedeutung war dabei, ob ihre Ausrichtung der Schutzfunktion der deutschen Prozeßgrundrechte inhaltlich zumindest gleichgestellt werden kann. Dabei wurde zugleich versucht, die Besonderheiten – wie etwa in Deutschland der Bezug zum Rechtsstaatsprinzip – auch für die englischen Institute und ihr Verhältnis zur rule of law im Auge zu behalten. Die Suche nach inhaltlicher Vergleichbarkeit stieß jedoch dort an ihre Grenzen, wo Unterschiede in den einzelnen Rechtsordnungen das ein oder andere Rechtsinstitut in der besonderen Ausprägung nicht erfordern. Gerade darin liegt jedoch auch der Reiz der Rechtsvergleichung. Ein grundlegendes anderes Verfahrensverständnis und ein aus unterschiedlichen Rechtsquellen gewachsenes Rechtssystem entwikkeln zum Schutz der Rechte des Individuums zwangsläufig andere Mechanismen, als dies etwa für die deutsche Rechtsordnung der Fall ist. Die größten Abweichungen wurden etwa bei der Suche nach einen vergleichbaren Recht auf den gesetzlichen Richter und dem Grundsatz nulla poena sine lege festgestellt. In einem nächsten Schritt ist nun zu klären, welche Merkmale für alle identifizierten englischen Institute gelten und wie ihr Verhältnis zu den deutschen Prozeßgrundrechten insgesamt zu bewerten ist.

437 Bailey (FN 195), S. 794 RN 15.35: „The essence of procedural fairness is that a person who will be affected by a decision or act should be given prior notice of what is proposed and an effective opportunity o make representations before the decision is made or implemented. However, it is also clear that exactly what procedural fairness requires in a particular case will very much depend on the circumstances.“

C. Englische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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C. Gemeinsame Merkmale der untersuchten englischen Verfahrensgarantien und Vergleich mit den deutschen Prozeßgrundrechten I. Merkmale der englischen Verfahrensgarantien Zu Beginn des England-Kapitels wurde festgestellt, daß die englische Rechtsordnung keine Kategorie von procedural rights kennt, die den deutschen Prozeßgrundrechten vergleichbar wäre. Allerdings beschäftigen sich auch englische Juristen mittlerweile vereinzelt mit einer Unterscheidung von procedural und substantive rights mit der Zielsetzung, sich Bedeutung und Begriffsinhalt der procedural rights anzunähern438. In diesem Kontext werden die procedural rights nach englischem Verständnis als Rechte aus unterschiedlichsten Rechtsquellen verstanden, die erforderlich sind, um ein faires Verfahren bzw. eine faire Behandlung im Verfahren zu gewährleisten439. Insgesamt scheint das englische System eine systematische Auseinandersetzung mit den Begriffen substantive rights und procedural rights nicht in dem Maße wie das deutsche Rechtssystem nahe zu legen440. Die festgestellten englischen Institute sind insoweit Ausdruck der Bedeutung, die prozessualen Mindeststandards bei der Gewährleistung und Garantie materieller Rechte zugeschrieben wird. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß es in England ebenso wie in Deutschland eine Gruppe von verfahrensrechtlichen Instituten gibt, die das Verfahren und insbesondere die faire Verfahrensgestaltung als gemeinsamen Regelungsgegenstand und gemeinsames Ziel haben. 1. Die besondere Bedeutung des common law Die Identifikation von Verfahrensrechten mit vergleichbarem Inhalt war für die englische Rechtsordnung dadurch erschwert, daß keine geschriebene Verfassung existiert, auf die für eine Untersuchung zurückgegriffen werden konnte. Daher mußte bei der Analyse der Verfahrensrechte überwiegend auf das common law zurückgegriffen werden. Damit handelt es sich bei den festgestellten Verfahrensrechten auch überwiegend um Rechte des common 438

Vgl. nur Galligan (FN 149), S. 100 f. Galligan (FN 149), S. 100: „Procedural rights are the entitlements a person has to such procedures as are necessary to give effect to the standards of fair treatment.“ 440 Vgl. aber auch Lord Irvine, Constitutional Change in the United Kingdom: British Solutions to Universal Problems (FN 35), S. 48 f. 439

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

law, die lediglich vereinzelt oder in Teilausprägungen Niederschlag im statute law gefunden haben. Gemeinsam ist den englischen Rechten aller Rechtsquellen die Bestimmung ihres Wirksamkeitsradius durch das common law selbst und die Verfassungsprinzipien der sovereignty of parliament sowie der rule of law. 2. Verankerung in der rule of law Ebenso wie die deutschen Prozeßgrundrechte eine besondere Verknüpfung mit dem Rechtsstaatsprinzip aufweisen, haben die englischen Verfahrensrechte eine besondere Beziehung zur rule of law. So lassen sich die festgestellten Verfahrensrechte überwiegend als Ausprägung oder Bestandteil der rule of law-Konzeption bezeichnen. Obwohl von der englischen Literatur nicht offen diskutiert und von den Gerichten – soweit ersichtlich – bislang nicht behandelt, scheint dies nach den in dieser Arbeit getroffenen Feststellungen auch für das Verbot der Doppelbestrafung zu gelten. Dessen enge Beziehung zum Gebot der Rechtssicherheit, die ein wesentliches Element der rule of law darstellt, rechtfertigt es nach hier vertretener Auffassung, eine Verwurzelung im Konzept der rule of law zu konstatieren. 3. Einordnung als subjektive Rechte? Die Eigenschaft als subjektive Rechte im Sinne von gerichtlich durchsetzbaren Rechten des einzelnen läßt sich als Gemeinsamkeit der englischen Verfahrensrechte jedoch nicht feststellen. Die Idee eines subjektiv-öffentlichen Rechts war dem common law lange Zeit unbekannt. Dies beruhte im wesentlichen auf der nicht vollzogenen Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht, so daß der Gedanke fremd war, der einzelne könne gegenüber der öffentlichen Gewalt Rechte geltend machen. Ein Wandel in dieser Auffassung setzte im 20. Jahrhundert mit der schrittweisen Anerkennung der Trennung von öffentlichem und privaten Recht ein. Mit ihrer Verbreitung faßte auch die Idee des subjektiv-öffentlichen Rechts in der englischen Rechtsordnung langsam Fuß. Überwiegend wird den unter I.–VI. dargestellten Rechten über die Auslegungsgrundsätze des common law Geltung verschafft. Hinzu tritt die Möglichkeit, den Klagegrund der unfairness im Rahmen der judicial review anzuführen, soweit eine Verletzung entsprechender Verfahrensrechte erfolgt ist. Die Effektivität der festgestellten Verfahrensrechte hängt damit überwiegend von ihrer Anwendung und Umsetzung durch die Gerichte ab.

C. Englische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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II. Einordnung der englischen Verfahrensgarantien als Grundrechte? Es stellt sich die Frage, ob die Einordnung der festgestellten englischen Institute als Prozeßgrundrechte möglich ist. Aufgrund der Besonderheiten der englischen Rechtsordnung, die insbesondere eine Höherrangigkeit von Rechten nicht anerkennt, ist in erster Linie zu klären, ob die Einordnung als Grundrechte zwingend mit dem Merkmal formeller Höherrangigkeit verknüpft ist. Sollte dies der Fall sein, würde eine entsprechende Einordnung der englischen Rechte bereits hier scheitern. Einen ersten entgegengesetzten Anhaltspunkt liefert allerdings der Gebrauch der Terminologie im Zusammenhang mit den Verfahrensrechten. So taucht etwa häufig die Bezeichnung fundamental right oder constitutional right auf, was zumindest auf den ersten Blick eine terminologische Ähnlichkeit andeutet. Zu untersuchen ist, ob sich dahinter auch ein entsprechendes Verständnis verbirgt. 1. Terminologie a) Unterschiedliche Begrifflichkeiten Die Begriffswelt des angelsächsischen Raums im Hinblick auf die Bezeichnung von Grundrechten ist vielfältig. Begriffe wie civil liberties, civil rights, human rights441, fundamental rights, fundamental liberty, constitutional right442 und fundamental freedoms treten nebeneinander auf443. Sie sind weder in einem einheitlichen Gesetz zusammengefaßt noch klar gegenein441 Die Diskussion um die Anerkennung von subjektiven Fundamentalrechten wurde in England insbesondere von Bentham geprägt. Ausdruck seines Utilitarismus findet sich insbesondere in der Beschreibung, die er zu Art. 2 der Déclaration des droits de l’homm et du citoyen gibt: „Natural rights is simple nonsense: natural and imprescriptable rights, rhetorical nonsence – nonsense upon stilts“. Siehe Jeremy Bentham, Anarchical Fallacies; being an examination of the Declaration of Rights issued during the French Revolution, in: Waldrwon (Hrsg.), Nonsense upon Stilts, London/New York 1987, S. 53, S. 189 f. und S. 193. Dworkin hat sich in seiner Arbeit ebenfalls ausführlich mit dem Problem der Definition des Begriffs right auseinandergesetzt, vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Erstausgabe von 1977 in der 7. Drucklegung 1994, London, S. 184 ff. Eingehend hierzu T. R. S. Allan, Constitutional Rights and Common Law, Oxford Journal of Legal Studies 1991, S. 453, insb. S. 456 f. 442 Baum (FN 6), S. 19, wählt hierfür den deutschen Begriff „verfassungsmäßiges Recht“, den er als Oberbegriff sowohl für civil liberties als auch für Rechte im Sinne der Section 1 (1) des HRA benutzt. 443 Der Ausdruck basic rights, der die unmittelbare Übersetzung des Wortes Grundrecht darstellt, findet sich in der Literatur vergleichweise selten, näher Loewenstein (FN 112), S. 261 FN 2.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

ander abgegrenzt. Einen einheitlichen Begriff, der dem des „Grundrechts“ ähneln würde, gibt es nicht. Auch englische Autoren suchen mittlerweile in einer umfangreichen Literatur nach einer Definition444. Wie schwer es ist, hier begriffliche Klarheit zu finden und durchzuhalten, zeigt exemplarisch das Werk einer britischen und einer deutschen Juristin über deutsches Verfassungsrecht445: Der Titel des Buches spricht von civil liberties. Allerdings werden bereits in der Einleitung zwei Begriffe synonym verwandt: civil liberties und basic rights. Der Begriff der „Grundrechte“ wird dabei augenscheinlich mit basic rights übersetzt. Erst das einschlägige Kapitel legt die Interpretation nahe, daß die Autoren den Begriff basic right als Oberbegriff benutzen und die civil liberties als eine in diesem enthaltene Kategorie beschreiben446. Obwohl oft von einem right in der englischen Terminologie die Rede ist und auch die Ausdrücke fundamental right oder constitutional right der Rechtsprechung nicht fremd sind447, scheint in den englischen Lehrbüchern der Begriff civil liberties der üblichere zu sein448. Eine abgrenzende Definition wird jedoch nicht gegeben. Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit ist jedoch der Begriff fun444

Siehe Bradley/Ewing (FN 23), S. 403, die von einem „great deal of terminological inconsistency“ in diesem Bereich sprechen. Richard Stone, Civil liberties, London 1994, S. 3 ff., beschäftigt sich im wesentlichen mit der Differenzierung zwischen civil liberties und human rights. Er sieht eine große Überschneidung von civil liberties und human rights, aber auch Unterschiede. Vgl. insbesondere Ausführungen auf S. 4, die jedoch mit dem Fazit schließen: „The line between human rights and civil liberties, if indeed there is one, is blurred, and there is probably no particular benefit in spending much time in trying to make it more distinct.“ 445 Sabine Michalowski/Lorna Woods, German Constitutional Law – The protection of civil liberties, Dartmouth 1999. 446 Michalowski/Woods (FN 445), S. 69: „The basic rights are the rights listed in Arts 1 to 19 BL. These guarantee mainly civil liberties. The remaining rights mentioned in Art. 93 (1) Nº 4 (a) BL are similar to basic rights in that, even though they do not form part of the basic rights catalogue at the beginning of the Basic Law, they have a function similar to those basic rights in guaranteeing the citizen’s civil liberties.“ 447 R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Simms (2000) 2 AC 115 (130). 448 Bradley/Ewing (FN 23), S. 404 ff.; Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights, A critical Introduction, London 2003, S. 539 ff.; in der 5. Aufl., Oxford 2009, verweist das Schlagwortverzeichnis unter civil liberties auf die Ausführungen zu human rights, auf S. 566 scheint er beide gleichzusetzten, spricht dann in Folge jedoch von civil liberties. David Feldman, Civil Liberties and Human Rights in England and Wales, 2. Aufl., Oxford 2002. Aus der deutschen Literatur siehe nur Egon Crombach, Civil Liberties in England – Echte Freiheitsrechte oder Gnade des Gesetzgebers? DVBl. 1973, S. 561 ff.; Bernhard Raschauer, Die Gesetzeskontrolle im britischen Recht, Der Staat 13, 1974, S. 239 (245 ff.); Gerhard Oestreich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. I/1, 1966, S. 33 f.

C. Englische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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damental rights449 vorzuziehen. Zum einen ist fundamental right die häufigste Übersetzung, die auch in völkerrechtlichen Dokumenten für den Begriff „Grundrecht“ gewählt wird, und erscheint damit geeignet, auch im Rahmen dieser Arbeit als spiegelbildliche Bezeichnung zu dienen. Zum anderen bietet der Ausdruck fundamental right den wörtlichen Bezug zum materiellen Merkmal der Rechte, der Fundamentalität. Der Ausdruck right impliziert zudem die Möglichkeit, das jeweilige Recht einzufordern. Darüber hinaus besteht zwischen der Bezeichnung fundamental rights und der bereits im 17. und 18. Jahrhundert in England naturrechtlich inspirierten Idee von fundamental laws möglicherweise eine direkte Entwicklungslinie. Diese könnte Rückschlüsse auf Struktur und Charakteristika der fundamental rights liefern. b) Konzept und Idee der fundamental laws Gerade der Begriff fundamental law ist im englischen Rechtskreis traditionell verankert, so daß zu klären ist, welche Elemente mit ihm verknüpft sind und ob sich dahinter eventuell ein Verständnis unabänderlicher Rechtssätze verbarg. Im 17. Jahrhundert berief sich etwa der König bei seinem Versuch, den Absolutismus einzuführen, auf die fundamental laws450. In der Literatur wird die Vermutung geäußert, daß die Bezeichnung fundamental law damals von Frankreich in den englischen Rechtsraum eingeführt wurde451. Einige Rechtsgelehrte entwickelten darauf hin das Konzept, daß einige Rechte, die tief im common law verwurzelt seien, fundamentale Bestandteile des englischen Verfassungsrechts seien. Wenn Coke ausführte, daß auch das Parlament diese fundamentalen Rechte nicht beschränken dürfe, schien damit eine erste vage Idee fundamentaler Rechte zutage zu treten. Allerdings führte diese in der Folge nicht dazu, einer bestimmten Gruppe von Rechten eine erhöhte formelle Geltungskraft zuzuschreiben452. 449 Dies ist auch der international gebräuchliche englische Begriff. Die Grundrechtecharta trägt im englischen Original den Titel „Charter of Fundamental Rights of the European Union“. 450 Georg Walter Prothero, Selected Statutes and other Constitutional Documents, Oxford 1894, S. 400. 451 Thomas Pitt Taswell-Langmead/Theodore F.T. Plucknett, English Constitutional History, 10. Aufl., London 1946, S. 430 f. FN d): „This phrase came into popular use in 1635 (bezieht sich auf fundamental laws of England, A.d.V.), and according to the conjecture of Gardiner, Hist.Eng., viii. 84-5, originated in The Queen’s household. James I had in fact used the phrase (McIlwain, High Court of Parliament, 79) as early as 1598. It was a technical term in French constitutional law in the sixteenth century, and it seems quite likely we got in from France.“ 452 Siehe David Feldman, Standards of Review and Human Rights in English Law, in: ders. (Hrsg.), English Public Law, Oxford 2004, S. 373 (375) RN 7.07.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Grund für diese Entwicklung in England könnte die unterschiedliche Überwindung des Dualismus zwischen König und Volk im Mittelalter sein: In Kontinentaleuropa machte es der Absolutismus notwendig, daß der absoluten Staatsgewalt unveräußerliche Freiheitsrechte des einzelnen entgegengesetzt werden konnten. In England hingegen scheiterten absolutistische Tendenzen des Königs schon früh am Widerstand des Parlaments, das seine Rolle als Vertreter des Volkes weiter ausbaute453. Diese Entwicklung beschränkte die Prärogativbefugnisse der Krone auf die ihr nach Gewohnheitsrecht zustehenden oder explizit durch Parlamentsgesetz eingeräumten Rechte und machte eine herausragende und unantastbare Stellung fundamentaler Einzelrechte obsolet. So wurde bereits im 18. Jahrhundert für die Einschränkung bestimmter, als fundamental anerkannter Rechte, wie etwa des Rechts auf Eigentum und der Freiheit des einzelnen, eine eindeutige gesetzliche Ermächtigung gefordert454. In der üblichen deutschen Übersetzung bedeutet fundamental law Grundgesetz oder Verfassung455. Wie bereits gesehen, ist es problematisch, eine präzise Bestimmung der Begriffe fundamental law oder fundamental right im englischen Recht zu entwickeln456, da unter dem Ausdruck fundamental law in jeder Epoche etwas anderes verstanden wurde. Es stellt sich daher die Frage, welche Begriffselemente sich bis in die heutige Zeit gehalten haben und damit für das derzeitige Verständnis ausschlaggebend sind. Die auch für das heutige Verständnis treffende Definition lautet: „(. . .) a law is fundamental when it cannot be altered or repealed by ordinary legislative procedure. It is generally associated with the principle of judicial review, by which a supreme court has the last word in cases where the validity of legislative enactements is challenged, and can pronounce wether they are or are not in conformity with the fundamental provisions of the constitution.“457

Wie bereits im Zusammenhang mit der Parlamentssouveränität ausgeführt, gibt es in England keine fundamental laws in diesem Sinne, da kein 453

In diesem Sinne auch Feldman (FN 452), S. 375 RN 7.07. Mit weiteren Nachweisen Feldman (FN 452), S. 375 RN 7.07. 455 Zur Bedeutungsgleichheit des englischen Begriffs constitution mit fundamental law und der Schlußfolgerung, daß dies zeige, daß die konstitutionelle Verfassungsbewegung an die leges fundamentales, die alteuropäischen Staatsgrundgesetze anknüpfe, Ulrike Seif, Einleitung S. XI, in: Willoweit/Seif, Europäische Verfassungsgeschichte, 2003. Zur Entwicklung des Begriffs der leges fundamentales, vgl. auch Heinz Mohnhaupt, Von den „leges fundamentales“ zur modernen Verfassung in Europa – Zum begriffs- und dogmengeschichtlichen Befund (16.–18. Jahrhundert), in: ders. (Hrsg.), Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht – Gesammelte Aufsätze, 2000, S. 35 ff. 456 J. W. Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, Oxford 1971, S. 1 ff. 457 Gough (FN 456), S. 2. 454

C. Englische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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das Parlament bindendes höherrangiges Recht existiert. Dies führt zu einem prinzipiellen Problem bei der Analyse historischer Begriffe, da hier die Versuchung groß ist, die heutigen Vorstellungen auf das damalige Begriffsverständnis zu übertragen und damit zwangsläufig Spezifika zu übersehen und zu Fehleinschätzungen zu gelangen. Wären die dargestellten zunächst bestehenden Ansätze, die fundamental laws als höherrangiges Recht anzusehen, weiterentwickelt worden, hätten sie voraussichtlich die moderne Ausbildung der Parlamentssouveränität gehindert. Dahingegen machten sich die Parlamentarier die Idee der fundamentalen Rechte zu eigen, um sie gegen die königliche Prärogative einzusetzen, was letztlich zu dem heute anerkannten Dogma der Parlamentssouveränität führte. 2. Konzept der residualen Freiheit als Grundlage des englischen Grundrechtsverständnisses In einem jüngeren Urteil458 setzt Lord Hoffmann den hier gewählten Begriff des fundamental right zum Konzept der residualen Freiheit in Beziehung, um die Bedeutung des principle of legality hervorzuheben. Er umschrieb dies mit folgenden Worten: „Fundamental rights cannot be overridden by general or ambigous words. This is because there is too great a risk that the full implications of their unqualified meaning may have passed unnoticed in the democratic process. In the absence of express language or necessary implication to the contrary, the courts therefore presume that even the most general words were intended to be subject to the basic rights of the individual. In this way the courts of the United Kingdom though acknowledging the sovereignty of Parliament, apply principles of constitutionality little different from those which exist in countries where the power of the legislature is expressly limited by a constitutional document.“459 458 R. v. Secretary of State for the Home Department, ex p Simms (2000) 2 AC 115 (131). Hier handelt es sich um eine der seltenen Gelegenheiten, in denen das House of Lords den Begriff „basic rights“ verwendet. 459 Vgl. hierzu auch R. v. Lord Chancellor, ex parte Witham (1998) QB 575 (580 f.): „The common law does not generally speak in the language of constitutional rights, for the good reason that in the absence of a sovereign text, a written constitution which is logically and legally prior to the power of the legislature, executive and judiciary alike, there is on the face of it no hierarchy of rights such that any one of them is more entrenched by the law than any other. And if the concept of a constitutional right is to have any meaning, it must surely sound in the protection the law affords it. Where a written constitution guarantees a right, there is no conceptual difficulty (. . .). In the unwritten legal order of the British State, at a time when the common law continues to accord legislative supremacy to Parliament, the notion of a constitutional right can in my judgment inhere onlay in this proposition, that the right in question cannot be abrogated by statute save by the specific provision in an Act of Parliament or by regulations whose vires are in the

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Mit dieser Äußerung sind die Charakteristika der fundamental rights sowie das Konzept der residualen Freiheit und – damit verbunden – die Anforderungen an eine Beschränkung der fundamental rights skizziert. In diesen wenigen Sätzen umreißt Lord Hoffmann das System des Schutzes der englischen fundamental rights und stellt zugleich die Äquivalenz des Grundrechtsschutzes in England mit Staaten fest, die über eine geschriebene Verfassung verfügen460. Jedoch kann sich die Konzeption der residualen Freiheitsrechte nicht völlig gegen die Gefahr absichern, daß der verbleibende Freiheitssektor nicht nur wandelbar ist, sondern im Einzelfall sogar ganz abgeschafft werden kann, da es keine den Schranken-Schranken in Deutschland vergleichbaren Grenzen gibt461. Die Grundlage des Konzeptes der residualen Freiheit bildet die dem common law zugrunde liegende Prämisse einer allgemeinen Freiheit des einzelnen462. Da der einzelne nach dieser Auffassung grundsätzlich frei ist, besteht auch keine Notwendigkeit gesetzlich anerkannter spezieller Freiheitsrechte. Die öffentliche Gewalt kann in Rechte des einzelnen grundsätzlich nur dort eingreifen, wo sie eine Ermächtigung entweder durch common law oder ein Gesetz erhält463. Will das Parlament Reichweite und Geltungsbemain legislation specifically confers the power to abrogate. General word would not suffice. And any such rights would be the creatures of the common law, since their existence would not be the consequence of the democratic political process but would be logically prior to it.“ 460 Vgl. Dicey (FN 16), S. 195 ff. Nach seinem Verständnis bestand keine Notwendigkeit für eine Positivierung der Individualrechte, die zum einen durch das unabhängige Parlament und zum anderen durch das common law ausreichend geschützt werden. Nicht die Verfassung sei Quelle der Rechte des einzelnen, sondern die Rechte bestimmten ihrerseits, was die „Verfassung“ sei. Auch eine Verfassung könne nur solche Rechte erfassen, die bereits vorher schon nach common law bestanden hätten. Denn die englische Verfassung sei von der rule of law durchdrungen, da verfassungsrechtliche Prinzipien das Resultat gerichtlicher Entscheidungen seien, die das Recht der Individuen bestimmen und gestalten würden, während unter den Verfassungen anderer Länder die Sicherheit solcher Rechte aus geschriebenen Verfassungsprinzipien resultierten. 461 „The residue of liberty just gets smaller and smaller, until eventually, in some areas, it is extinguished altogether“, zitiert bei Wright/Gilbert (FN 11), S. 10 FN 12. 462 Dicey (FN 16), S. 206 f. (siehe auch die Illustration am Beispiel des right to freedom of discussion S. 239 f. und des right of public meeting S. 271 f.). 463 Dieses Prinzip, das an die deutsche Idee eines Gesetzesvorbehalts erinnert, fand seinen Ausdruck in Entick v. Carrington (1765) 19 State Trials 1029 (inbesondere 1066). Hierzu auch Bradley/Ewing (FN 23), S. 404; Wright/Gilbert (FN 11), S. 10 („Entick illustrates the principle that actions which infringe the rights of others must be justified by lawful authority“). Damit war klargestellt, daß die Exekutive nur aufgrund einer Rechtsgrundlage in die Freiheit des einzelnen eingreifen darf.

C. Englische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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reich eines Individualrechts beschränken, kann es dies nur durch eine hinreichend präzise Formulierung (express language) des einschränkenden Gesetzestextes464. In allen anderen Fällen müssen die Gerichte bei der Gesetzesauslegung davon ausgehen, daß das Parlament nicht in die Rechte des einzelnen eingreifen wollte und das Gesetz so interpretieren, daß der Prämisse der unbeschränkten Freiheit des einzelnen weitestgehend Geltung verschafft wird465. Somit kommt den Gerichten eine besondere Bedeutung beim Schutz der fundamental rights zu, der sie durch Ausnutzung ihres Auslegungsspielraums nach Maßgabe der presumptions nachkommen können466. Presumptions sind demnach Interpretationsleitlinien, die ihre Grundlage im Konzept der Residualrechte finden. Nach dem Konzept der residualen Freiheit ist somit derjenige Freiheitsbereich geschützt, der verbleibt, wenn man die vom Parlament erlassenen Freiheitsbeschränkungen abzieht. Eine solche Freiheitsbeschränkung kann jedoch nur soweit angenommen und in Abzug gebracht werden, wie sie eindeutig im Gesetz zum Ausdruck kommt. Dieser Ansatz erfordert einen Überblick über die bestehenden Regelungen im betroffenen Bereich, um im Einzelfall die verbleibende Rechtssphäre zur Ausübung der Freiheit feststellen zu können. Da ein solcher Überblick schwer zu erreichen und zudem veränderlich ist, bleiben die Residualrechte weitgehend unbestimmt. Als Fazit verbleibt somit die generelle Feststellung, daß der einzelne in diesem verbleibenden Bereich frei ist zu tun, was ihm beliebt467, solange es nicht ausdrücklich verboten ist468. 464 Pyx Granite Co Ltd. v. Ministry of Housing and Local Government (1960) AC 260 (286): „clear words“, vgl. auch Lord Browne- Wilkinson, in: R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Pierson (1998) AC 539 (575). 465 R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Pierson (1998) AC 539 (575): „(. . .) basic rights are not to be overridden by the general words of a statute since the presumption is against the impairment of such basic rights.“ 466 Ausführlich mit Beispielen aus der Rechtsprechung John Bell/Georg Engle (begründet von Rupert Cross), Statutory Interpretation, 3. Aufl., London/Dublin/ Edinburgh 1995, S. 165 ff. (insbesondere auf S. 175 unter Hinweis auf die Äußerung von Richter McCullough: „There is a canon of construction that Parliament is presumed not to enact legislation which interferes with the liberty of the subject without making it clear that it was its intention“), Nachweis in FN 3. Siehe auch die Argumentation bei in: R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Pierson (1998) AC 539 (591 f.). 467 Hierzu auch Bradley/Ewing (FN 23), S. 404. 468 Siehe Wheeler v. Leicester City Council (1985) AC 1054 (1065): „Basic constitutional rights in this country such as freedom of the person and freedom of speech are based not on any express provisions conferring such a right but on freedom of an individual to do what he will save to the extent that he is pretevented from so doing by the law. Thus, freedom of the person depends on the fact that no one has the right lawfully to arrest the individual saved in defined circumstances.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

3. Zwischenergebnis Die englische Rechtsordnung kennt somit fundamental rights, deren Gegenstand, Inhalt und Reichweite sich nach den allgemeinen Gesetzen und nicht nach einer Verfassungsnorm richten. Sie sind insbesondere dadurch gekennzeichnet, daß die Gerichte ihre Einschränkung nur dann akzeptieren, wenn eine ausdrückliche und eindeutige Ermächtigung bestanden hat. Der Schutz der Individualrechte erfolgt durch das common law und seine gesetzlichen Ergänzungen. Die an Einzelfällen orientierte Herausbildung von Rechten des common law erschwert es jedoch, übergreifende Merkmale zu synthetisieren oder gar etwas wie allgemeine Lehren der Grundrechte zu identifizieren. Dennoch wird auf Basis der für den deutschen Grundrechtsbegriff herausgearbeiteten Charakteristika versucht, auch für England einige übergreifende Merkmale herauszustellen, die entsprechend Eingang in die vergleichende Analyse finden können. Ziel ist es zu beurteilen, ob die festgestellten Verfahrensinstitute als Prozeßgrundrechte eingeordnet werden können. 4. Merkmale des englischen Grundrechtsbegriffs a) Verbriefung der Rechte Die englischen fundamental rights sind im Gegensatz zur deutschen Verfassungstradition nicht in einem grundlegenden Verfassungstext verbrieft. Einer solchen zusammenfassenden Kodifikation höherrangiger Individualrechte steht das Dogma der Parlamentssouveränität entgegen. Dieses schließt ein das Parlament bindendes Recht aus. Dabei steht es jedoch nicht einer Kodifikation als solcher entgegen, sondern nur dem Geltungsanspruch als höherrangiges Recht. Darüber hinaus manifestiert sich in der Ablehnung eines einheitlichen Rechtekatalogs die Befürchtung der Usurpation von Legislativkompetenzen durch die Richterschaft. Die Grundrechtsentwicklung in England beruht somit wesentlich auf dem Willen der Gerichte und nicht auf einer geschriebenen Handlungsanweisung469. The right to freedom of speech depends on the fact that no one has the right to stop the individual expressing his own views, save to the extent that those views are libellous or seditious. These fundamental freedoms therefore are not positive rights but an immunity from interference by others. Accordingly I do not consider that general words in an act of Parliament can be taken as authorising interference with these basic immunities which are the foundation of our freedom. Parliament (being sovereign) can legislate so as to do so; but it cannot be taken to have conferred such a right on others save by express words.“ Hierzu auch Allan (FN 242), S. 136 ff.

C. Englische Verfahrensgarantien und deutsche Prozeßgrundrechte

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b) Frage der umfassenden Bindung des Gesetzgebers In England steht dem mit Art. 1 Abs. 3 GG vergleichbaren Gedanken der Bindung des Parlaments an Grundrechte ebenfalls die Parlamentssouveränität entgegen. Denn deren Grundannahme ist gerade, das Parlament in seinem Handlungsspielraum nicht durch eine Bindung an höherrangiges Recht zu beschränken470. Die nach Maßgabe des statute law oder des common law gewährte residuale Freiheit hat ihren festen Platz in der englischen Rechtsordnung. Sie setzt aber nur der Judikative und der Exekutive rechtliche Grenzen, nicht jedoch der Legislative. Ein derartiges Konzept der residualen Freiheit, die nur durch klare gesetzgeberische Anweisung beschränkt werden kann, erinnert an eine „Vorstaatlichkeit der Grundrechte“. c) Gerichtliche Durchsetzbarkeit gegenüber der Legislative Soweit das Merkmal der gerichtlichen Durchsetzbarkeit für den Grundrechtsbegriff gefordert wird, gab es in England bis zur Einführung des HRA keinen Schutz gegen individualrechtsverletzende Akte der Legislative471 und somit keine Grundrechtsähnlichkeit in diesem Bereich. Die Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit von Gesetzen durch die Gerichte scheiterte bereits daran, daß hierfür kein Prüfungsmaßstab existierte. Zudem wurde sie aufgrund der fehlenden demokratischen Legitimation der Gerichte auch nicht als ernsthafte Option angesehen472. Mit dem Inkrafttreten des HRA wurde jedoch die sich bereits vorher abzeichnende Tendenz zur Erweiterung der gerichtlichen Kontrollbefugnis fortgesetzt. Im Rahmen des dort vorgesehenen Verfahrens haben die Gerichte nunmehr die Möglichkeit, Parlamentsgesetze anhand eines geschriebenen Grundrechtskatalogs zu überprüfen. Wenn auch die Gerichte nicht über die Option verfügen, Gesetze wegen Verstoßes gegen die EMRK für nichtig zu erklären, können sie doch über die Unvereinbarkeitserklärung einen gewissen politischen Druck, wenn auch keinen zwingenden rechtlichen Druck ausüben. Allein die Umsetzung des Gedankens einer Kontrolle von Gesetzen anhand eines Rechtekatalogs ist bereits ein Novum im englischen Verfassungsverständnis. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, daß die Auslegung von freiheitsbe469 Siehe Bergner (FN 17), S. 14. Hierzu auch Baum (FN 6), S. 267 ff. und 294 ff. 470 Hinweis auf Parallelen in der deutschen Entwicklung bis zur Weimarer Reichsverfassung bei Horst Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S. 743. 471 Ausführlich zu den Hintergründen Rudolf Vollmer, Die Idee der materiellen Gesetzeskontrolle in der englischen Rechtsprechung, 1969. 472 Bergner (FN 17), S. 19 f. m. w. N. (siehe auch dort FN 70).

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

schränkenden Gesetzen anhand der presumptions bereits vor dem Inkraftreten des HRA im common law existierte. Insoweit könnte die Möglichkeit der declaration of incompatibility als eine Weiterentwicklung aus dem Institut der presumptions angesehen werden. Damit sind die Schranken, denen das Dogma der Parlamentssouveränität unterliegt, im Kern immer noch primär politischer und moralischer, nicht jedoch rechtlicher Natur. d) Konzept der erschwerten Abänderbarkeit fundamentaler Rechte Trotz der grundsätzlich bestehenden Relativierungsoption der Geltungsdauer von fundamentalen Rechten durch das Prinzip der Parlamentssouveränität ist dem englischen Recht der Gedanke einer zeitlich unbeschränkten Geltung einzelner Rechte nicht fremd. Dies belegt bereits in Ansätzen die Magna Charta, auch wenn sie ursprünglich kein revolutionäres Dokument einer vom ganzen Volk getragenen Freiheitsbewegung war. Im Gegenteil beruhte sie auf der Initiative der Adligen, die erweiterte Rechte gegenüber dem Königtum erzwangen, ohne Freiheiten für den einfachen Bürger vorzusehen. Ihr damaliges Ziel war vornehmlich die Sicherung der Rechte der Adligen vor dem Zugriff des Königs473. Nach dem Willen der Adligen sollte die Magna Charta „auf ewig“, so der Wortlaut des Art. 63 der ursprünglichen Fassung, gelten474. Die Unantastbarkeit beruhte jedoch nicht etwa auf naturrechtlichem Gedankengut, sondern bekräftigte das Feudalrecht. Mit der Magna Charta trat erstmals das Bestreben hervor, besonders bedeutsame Rechte schriftlich zu fixieren und dauerhaft zu garantieren, daher wird sie auch heute noch als „cornerstone of the rule of law“475 in England bezeichnet. 473 Zur Erweiterung ihres Anwendungsbereiches im 14. Jahrhundert auf alle Bürger unabhängig von ihrem Stand siehe Thompson (FN 260), S. 69. 1354 wurde unter Edward III. die Bezugnahme auf „freie Menschen“ gestrichen und durch „no man“ ersetzt. Die Magna Charta findet somit sowohl auf Leibeigene als auch auf freie Männer Anwendung. 474 Die Magna Charta wurde bereits 1216 durch einen Neuerlaß ersetzt, dem 1217 und 1225 zwei weitere folgten. Dabei wurde sie mehrfach umgestaltet, und einzelne Artikel wurden weggelassen. In der Fassung des Jahres 1225 waren nur noch 37 der ursprünglich 63 Artikel verblieben. Es war jedoch keine schrittweise Aufhebung ihres Inhalts, als vielmehr eine Straffung und Präzisierung. Nach den Maßstäben des Jahres 1215 war die Magna Charta damals kein Gesetz, da sie nicht in dem dafür vorgesehenen Verfahren erlassen wurde. Diese Fassung wurde 1297 von Edward I. als Gesetz erlassen. Ausführlich hierzu Kurt Kwasny, Die Entwicklung des geschriebenen Grundrechts in England und im Englischen Kolonialreich und Commonwealth. Eine Untersuchung von der Magna Charta bis zu den Unabhängigkeitserklärungen der Gegenwart, 1968, S. 64 ff. 475 Feldman (FN 452), S. 375 RN 7.06.

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Zudem kann auch eine Kodifizierung teilweise zur Erschwerung der Abänderbarkeit beitragen. Seit der Glorious Revolution waren jedoch die Stellung des Parlaments und die traditionelle Verankerung des Vertrauens in die Volksgemeinschaft bereits so stark, daß weder die Notwendigkeit eines geschriebenen Grundrechtskatalogs anerkannt wurde noch der Gedanke einer Kontrolle der Legislativakte sich umfassend durchsetzen konnte. Entsprechend finden sich die einzigen Ansätze einer Relativierung des Credos der Parlamentssouveränität immer noch im European Communities Act von 1972476 und dem HRA477. Diese Bestrebungen sind damit aus der geschichtlichen Entwicklung heraus die einzigen bislang bestehenden Ansätze im modernen Verständnis, fundamentalen Rechten zu mehr Geltungskraft zu verhelfen. e) Grenzen der Beschränkung von fundamental rights aa) Wesensgehaltsgarantie Sowohl in Deutschland als auch in England wird gesehen, daß Grundrechte und grundrechtlich geschützte Freiheiten beschränkbar sein müssen. Dies wird in beiden Rechtsordnungen als „Privileg“ des Parlaments angesehen. Äußert sich dies in Deutschland in der Lehre vom Gesetzesvorbehalt und der Wesentlichkeitstheorie478, so wird auch in England die Freiheit des einzelnen durch einfache Gesetze für einschränkbar gehalten. Auch muß in beiden Rechtsordnungen der Beschränkungswille des Parlaments klar zum Ausdruck kommen. So bestimmt Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, daß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen und der allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz beachtet werden muß. In England wird das Parlamentsgesetz nur dann als Beschränkung einer Freiheit verstanden, wenn es diese in eindeutigen Worten (express language) vollzieht. Andernfalls werden die Gerichte das Gesetz gemäß der presumption so auslegen, daß ihm keine die individuelle Freiheit beschränkende Wirkung zukommt. Während 476 M. w. N. in diese Richtung, Loveland, 5. Aufl. (FN 448), S. 738. Der European Communities Act 1972 wurde als einfaches Parlamentsgesetz verabschiedet. Vgl. R. v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame Ltd. Nº 1 (1990) 2 AC 85; R. v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame Ltd. Nº 2 (1991) 1 AC 603 (659), die Richter gingen wohl davon aus, daß die von ihm ausgesprochene Bindung an europäisches Recht auch durch spätere Parlamentsgesetze nicht wieder eingeschränkt werden könne. Damit war die zentrale Aussage der Parlamentssouveränität, daß kein Parlament das ihm nachfolgende binden kann, in Frage gestellt. Hierzu ausführlich auch Bergner (FN 17), S. 21 f. 477 Ausführlich Loveland, 5. Aufl. (FN 448), S. 641 ff. 478 BVerfGE 49, 89 (126 f.).

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Art. 19 Abs. 2 GG jedoch Grenzen der Einschränkbarkeit dadurch aufzeigt, daß das zu beschränkende Grundrecht in seinem Wesensgehalt nicht angetastet werden darf, ist das englische Parlament grundsätzlich zu keiner Zeit gehindert, auch den „Wesensgehalt“ eines Rechtes durch den Erlaß eines entsprechenden Gesetzes aufzuheben. Insoweit besteht damit ein gravierender Unterschied zum deutschen Rechtsverständnis. bb) Verhältnismäßigkeitsprüfung (proportionality) Die Befugnis des deutschen Gesetzgebers, der Grundrechtsausübung Grenzen zu setzen, wird wiederum insbesondere durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt. In Deutschland erfolgt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit sowohl auf der Ebene der Norm als auch auf ihrer Anwendungsebene. Mit der deutschen Verhältnismäßigkeitsprüfung verwandte Elemente waren zunächst nur im rationality test zu sehen, einer Art Plausibilitätsprüfung. Allerdings setzt sich auch in England zunehmend eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch. In der Entscheidung des R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Brind479 beriefen sich die Antragsteller auf eine unverhältnismäßige Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit. Die höchsten Richter verwarfen das Argument jedoch und führten an, daß proportionality möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt als Prüfungsmaßstab verbindlich werden könnte. Dies sei aber eine Entwicklung des Rechts, die noch in der Zukunft liege480. Ungeachtet der Brind-Entscheidung finden sich jedoch zahlreiche Fälle, in denen englische höchste Gerichte das proportionality-Prinzip direkt oder analog anwenden481. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Ausübung eines fundamental right in Frage steht. So betont Lord Steyn in Evans (No. 2)482 den Prinzipiencharakter der Rechte und hebt das Bedürfnis hervor, Dimension und Gewicht dieser Prinzipien zu klären. Es sei Sache des Gerichts, die miteinander konkurrierenden Prinzipien im konkreten Fall zu gewichten und untereinander in Ausgleich zu bringen. Lord Hope betont im gleichen Urteil, daß in die Freiheit eines Bürgers nur aus Grün479

R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Brindand others (1991) 1 AC 696. 480 R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Brind and others (1991) 1 AC 696 (749). 481 Siehe die Beispiele bei Paul Craig, Grounds for Judicial Review: Substantive Control over Discretion, in: Feldman (Hrsg.), English Public Law, Oxford 2004, S. 831 (837) RN 16.16 ff. 482 R. v. Governor of Her Majesty’s Prison Brockhill, ex parte Evans (No. 2) (2001), 2 AC 19 (28).

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den eingegriffen werden dürfe, die ein Gericht als rechtmäßig anerkenne483. Weiter heißt es in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001: „The balance is a delicate one, as there are powerful arguments in favour of the constitutional right of free speech (. . .).“484 Diese Vorgehensweise nähert sich stark einer Verhältnismäßigkeitsprüfung an und ist Ausdruck eines verstärkten Bewußtseins, daß Einschränkungen von fundamental rights so gering wie möglich zu halten sind485. Unter dem HRA verfestigt sich die Anerkennung von proportionality als eigenständiger Prüfungsmaßstab weiter486. Die Überprüfung der Beschränkung von fundamental rights wird daher künftig auch in England verstärkt anhand des proportionality test erfolgen. f) Konzept der objektiven Wertordnung Das Bundesverfassungsgericht sieht in den Grundrechten als Normen des objektiven Rechts zugleich ein Wertesystem (ausführlich hierzu 1. Kapitel C. I. 3.). Dieser Ansatz ist jedoch in der deutschen Rechtslehre vielfach kritisiert worden487: Der Begriff des „Wertes“ verhindere eine klare und eindeutige Rechtsprechung, da sich zum einen die subjektiven Vorstellungen der Richter in ihm materialisierten und er zum anderen den wechselnden Vorstellungen dessen, was als „wertvoll“ empfunden wird, unterworfen sei. Er sei damit kein objektiver Begriff, sondern werde zum Einfallstor für richterlichen Dezisionismus. Darüber hinaus setze eine Werteordnung eine Rangordnung voraus, was die Aufwertung des einen und die Abwertung des anderen Wertes erfordere. Eine solche Hierarchie könne es jedoch unter 483 R. v. Governor of Her Majesty’s Prison Brockhill, ex parte Evans (No. 2) (2001), 2 AC 19 (35). 484 Reynolds v. Time Newspapers Ltd. and others (2001) 2 AC 127 (235 f.), vgl. auch 182 f. 485 Vgl. Craig (FN 481), S. 838 RN 16.18: „The test for review in these cases is close to proportionality. This is justified in terms of principle. The recognition of certain interests as fundamental rights renders the application of proportionality necessary and natural. This is because the very denomination of an interest as fundamental right means that any invasion should be kept to a minimum. There is a presumption that any inroad should interfere with the right as little as possible. It is natural therefore to ask wether the interference with the fundamental right was the least restrictive possible in the circumstances.“ 486 Craig (FN 481), S. 841 RN 16.29. 487 Siehe Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 140; ErnstWolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat und Freiheit, 1991, S. 67 (81 ff.); Ernst Forsthoff, Moderne Wertverwirklichung, DÖV 1965, S. 619 ff.; aus der neueren Literatur siehe Gerhard Sprenger, Recht und Werte, Der Staat 39, 2000, S. 1 (10 ff.).

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

den Grundrechten nicht geben, da diese als verfassungsrechtliche Gewährleistungen alle den gleichen Rang hätten488. Unabhängig von der Kritik am Begriff des „Wertes“ steht hinter den deutschen Grundrechten unstreitig eine Wertentscheidung, nämlich die des Verfassungsgebers. Dieser „Wert“, der den Verfassungsgeber dazu veranlasst hat, die Grundrechte in dieser Form in das Grundgesetz aufzunehmen, spielt sowohl im Rahmen der Auslegung von Grundrechten als auch bei Abwägungsentscheidungen im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Grundrechtsbeschränkung eine Rolle489. So ist etwa bei der teleologischen Auslegung zu fragen, welche Auslegung der jeweiligen Norm dem mit ihr verfolgten Ziel am ehesten entspricht490. Entsprechend der vom Parlamentarischen Rat vorgegebenen Richtung sind die Grundrechte zunächst als Freiheitsrechte zu verstehen, die gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt gerichtet sind. In diesem Zusammenhang ist für die Interpretation der Grundrechte das zugrunde liegende Freiheitskonzept von Bedeutung: In dem institutionellen und wertbezogenen Freiheitskonzept, das hier anzusprechen ist, taucht die Theorie Rudolf Smends aus der Weimarer Zeit wieder auf. Danach erhält die Freiheit ihren Sinn und Inhalt vom Ziel und damit von dem Wert, auf den sie bezogen ist491. Übergreifendes Ziel und damit fundamentale Wertentscheidung des Verfassungsgebers war und ist die Bewahrung eines größtmöglichen Freiheitsbereiches des einzelnen vor staatlichen Eingriffen. Diese Idee, daß die durch Grundrechte geschützte Freiheit einen fundamentalen Wert darstellt und aus diesem Grund möglichst frei von staatlichen Eingriffen bleiben soll, findet sich auch im Konzept der residualen Freiheit der englischen Rechtsordnung wieder. Da dort die speziellen grundgesetzlichen Sicherungen fehlen, verwirklicht sich dieser Grundgedanke primär in der restriktiven Auslegung freiheitsbeschränkender Gesetze 488 Siehe insbesondere auch Karl-August Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, 1984, S. 9 f., der die Erhöhung der Grundrechte zu Grundwerten kritisiert, da man damit den juristischen Boden verlasse und letztlich in einen Moralkatechismus verfalle. 489 Bettermann (FN 488), S. 7 f., der genau darin die Gefahr sieht, daß die Grundrechte damit zu einem Einfallstor dafür würden, was der jeweilige Rechtsanwender darunter verstehe. 490 Ausführlich zu den Auslegungsmethoden des BVerfG, Albert Bleckmann, Zu den Methoden der Gesetzesauslegung in der Rechtsprechung des BVerfG, JuS 2002, S. 942 (944); kritische Ansätze bezüglich der teleologischen Methode, siehe Rainer Wernsmann, Wer bestimmt den Zweck einer grundrechtseinschränkenden Norm – BVerfG oder Gesetzgeber? NVwZ 2000, S. 1360 (1363). 491 Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 1955, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119 (260 f.).

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durch die Gerichte nach Maßgabe der presumptions. Ein fundamental right ist somit im englischen Recht dadurch gekennzeichnet, daß eine Beschränkung seiner Ausübung grundsätzlich nicht anerkannt wird, es sei denn, das Parlament läßt eine solche ausdrücklich zu. Damit wird für die Begrenzung des Individualrechts eine gewisse Hürde errichtet und zugleich klargestellt, daß unter der Freiheit des einzelnen nicht einfach nur der Bereich verstanden wird, der nach Abzug aller zusammengerechneten gesetzlichen Beschränkungen übrig bleibt, sondern ein Wert, den es zu schützen gilt492. Insoweit läßt sich feststellen, daß dem Konzept der englischen fundamental rights ein der deutschen Idee der objektiven Wertordnung vergleichbares Grundverständnis zugrundeliegt. g) Ergebnis Vor dem Hintergrund dieses Befundes erschließt sich eine exakte Definition des englischen Grundrechtsbegriffs nur schwer. Die englischen fundamental rights sind zunächst durch die dem common law zugrundeliegende Annahme kennzeichnet, daß grundsätzlich alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist. Dies charakterisiert den residualen Freiheitsbegriff. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Grundrechte des Grundgesetzes der Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogen sind, fehlt in England eine derartige Verankerung der fundamental rights in einer höherrangigen Kodifikation. Die formalen Kriterien einer erschwerten Abänderbarkeit und der Höherrangigkeit scheiden damit als Vergleichsmerkmale aus. Materielle, dem deutschen Recht vergleichbare Sicherungsmechanismen wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Wesensgehaltsgarantie finden sich traditionell aufgrund des immer noch fest verankerten Grundsatzes der Parlamentssouveränität nicht. Allerdings hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mittlerweile insbesondere durch den Einfluß des HRA Eingang in das englische Recht gefunden493. Somit wird die Einschränkung der Ausübung eines fundamental rights künftig zunehmend am Maßstab der Verhältnismäßigkeit im Rahmen einer Abwägungsentscheidung getroffen werden. Er ist jedoch in seinem Anwendungsbereich auf den durch den HRA gesteckten Rahmen beschränkt, dessen „höchste Sanktion“ die Unvereinbarkeiterklärung darstellt. Deshalb können die Gerichte in letzter Konsequenz vor dem Legislativorgan Parlament keinen Schutz für die Rechte des einzelnen gewähren. Manchen Rechten, die von den Gerichten fast als absolute Rechte angesehen werden, so etwa dem right of access to the courts, kommt in der Ab492 493

Ausführlich hierzu Allan (FN 242), S. 136 (137). Vgl. Craig (FN 481), S. 836 RN 16.14 ff. (insbesondere RN 16.29).

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

wägung mit einschränkenden Bestimmungen ein besonderes Gewicht zu494. Die damit einhergehende Einordnung als fundamental right zeigt sich sowohl in dem vom Gericht immer wieder betonten Erfordernis einer durch das Parlament eindeutig formulierten Ausübungseinschränkung als auch in der Anwendung der presumptions495 bei der Auslegung durch das Gericht. Dabei handelt es sich um eine Möglichkeit der Gerichte, bestimmten Rechten im common law einen Status als fundamentale und daher besonders schützenswerte Rechte zuzuerkennen496 Danach sind insbesondere das right of access to courts und das right to fair procedures inzwischen als fundamental rights in der englischen Lehre und Rechtsprechung anerkannt497. Häufig taucht auch die direkte Bezeichnung als constitutional right498 auf, inzwischen sogar vermehrt gemeinsam mit dem Begriff basic right499. 494 Allan (FN 242), S. 139 mit Beispielen (insbesondere S. 140 f. zu dem Recht auf ein faires Verfahren und dem Recht auf Zugang zu den Gerichten, die aufgrund ihres Gewichts in den Abwägungsprozessen fast als „absolute Rechte“ zu kennzeichnen seien). 495 R. v. Lord Chancellor, ex parte Lightfoot (1999) 2 WLR 1126 (1141): „(. . .) the proposition that constitutional rights as I have sought to describe them will generally be creatures of the common law. Statutes enacted by Parliament, by virtue of Parliament’s very sovereignty, possess equal force and status. All are capable of repeal or amendment on the same basis. It is both an irony of our constitution, and a well worn chestnut among legal theorists, that the all-powerful legislature lacks the power to confer entrenched constitutional rights. In the present stage of the law’s development constitutional rights have effect by their recognition at common law and by the special rule of construction which the common law applies to statutes which they are sought to be overridden.“ 496 R. v. Lord Chancellor, ex parte Lightfoot (1999) 2 WLR 1126 (1136): „Whether express words are necessary or not, the abrogation of constitutional rights must require specific provision by Parliament to that effect, since that is the only means by which the common law can accord such rights a special status; otherwise they are writ in water. The importance of the point for present purposes is that it provides a very powerful reason why the law should be astute to confine the concept of constitutional right to that special class of rights which, in truth, everyone living in a democracy under the rule of law ought to enjoy. Access to justice is one.“ 497 Feldman (FN 452), S. 379 RN 7.18. Siehe auch R. v. Lord Chancellor, ex parte Lightfoot (1999) 2 WLR 1126 (1136), Zitat in FN 496 am Ende. 498 Die Anerkennung eines besonderen Status von Rechten wird durch die Ausführungen in Reynolds v. Time Newspapers Ltd and others (2001) 2 AC 127 (207) belegt: „By categorising this basic and fundamental right as a constitutional right, its higher normative force is emphasised“ und unter 208: The starting point is now the right of freedom of expression, a right based on a constitutional or higher legal order foundation. Exceptions to freedom of expression must be justified as being necessary in a democracy. In other words, freedom of expression is the rule and regulation of speech is the exception requiring justification. The existence and width of any exception can only be justified if it is underpinned by a pressing social need. These are fundamental principles governing the balance to be struck between free-

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Damit können folgende zentrale Merkmale für Grundrechte nach englischem Rechtsverständnis im Rahmen dieser Arbeit festgestellt werden: Die englischen Grundrechte lassen sich aus einem Abwägungsprozeß von Werten aus der Rechtsordnung heraus unter Federführung des Legislativorgans Parlament synthetisieren und sind sowohl in Bestand als auch in ihrer Durchsetzungskraft der Parlamentssuprematie unterworfen. Sie beruhen auf der grundlegenden Wertentscheidung, daß die Freiheit des einzelnen ein Wert ist, den es zu schützen und zu bewahren gilt. Ihr Durchsetzungsvermögen erhalten sie weniger durch ihre dauerhafte Kodifizierung als vielmehr im Rahmen richterlicher Einzelfallentscheidungen. Der insoweit herausgearbeitete englische Grundrechtsbegriff stützt sich damit auf das Kriterium der materiellen Fundamentalität.

III. Verhältnis der englischen Verfahrensgarantien zur rule of law 1. Bedeutung des Konzepts der rule of law für die Suche nach Prozeßgrundrechten in England a) Verankerung in der rule of law als Kriterium der materiellen Fundamentalität Im vorhergehenden Teil dieses Kapitels wurde bereits festgestellt, daß es den deutschen Prozeßgrundrechten funktional vergleichbare Verfahrensgarantien in England gibt. In einem nächsten Schritt wurde herausgearbeitet, daß deren Einordnung als Grundrechte über das Merkmal der materiellen Fundamentalität grundsätzlich möglich erscheint (s. o. II.). Damit ist zunächst das unbestimmte Kriterium der materiellen Fundamentalität zu konkretisieren. Die Verknüpfung mit grundlegenden Prinzipien, wie etwa mit dem Rechtsstaatsprinzip, ist ein besonderes Kennzeichen der deutschen Prozeßgrundrechte. Die besondere Beziehung der englischen Verfahrensrechte dom of expression and defamation. Vgl. auch 235: „The balance is a delicate one, as there are powerful arguments in favour of the constitutional right of free speech (. . .).“ 499 Siehe nur Cullen v. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary (2003) 1 WLR 763 (1765), wo auch der Begriff „quasi-constitutional right of fundamental importance“ auftaucht. Siehe beispielsweise auch R. v. Secretary of State for the Home Department and others, ex parte Saleem (2001) 1 WLR 443 (449): „(. . .) the right created by (. . .) is a basic or fundamental right (. . .)“, um daraus die Konsequenz zu ziehen „infringement of such a right must be either expressyl authorised by Act of Parliament or arise by necessary implication from an Act of Parliament (. . .).“

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zur rule of law könnte sich daher als Kriterium zur Spezifizierung des Merkmals der materiellen Fundamentalität eignen. b) Befund für die englischen Verfahrensrechte Bei der Untersuchung der einzelnen Verfahrensrechte hat sich herausgestellt, daß sie überwiegend Bestandteil und Ausprägung der rule of lawKonzeption sind. Soweit dies nicht in der Lehre oder Rechtsprechung ausdrücklich konstatiert wurde, wie dies etwa beim Verbot der Doppelbestrafung der Fall ist, liegt die Zuordnung jedoch aufgrund der jeweiligen Inhalte und Schutzrichtungen nahe und erscheint aufgrund der Struktur des rule of law-Konzepts zumindest möglich. So zählt etwa Raz, ein Vertreter des formellen rule of law-Konzepts, u. a. den Respekt der natural justicePrinzipien sowie den Zugang zu den Gerichten500 zu den Anforderungen, die sich zwingend aus der rule of law ergeben. Andernfalls würde das Konzept der rule of law, willkürliche Machtausübung zu begrenzen, keinen Sinn machen501. Dies führt mit Craig zu folgender Definition des formellen rule of law-Konzepts: „Formal conceptions of the rule of law address the manner in which the law was promulgated (. . .); the clarity of the ensuing norm (. . .); and the temporal dimension of the enacted norm (. . .). Formal conceptions of the rule of law do not however seek to pass judgement upon the actual content of the law itself.“502

Bereits aufgrund dieses formellen Verständnisses der rule of law wird die Beachtung der natural justice-Prinzipien, der Garantie des right of access to the courts sowie der verfahrensrechtlichen Garantien, um einen fairen Verfahrensablauf zu gewähren, gefordert. Eine Verknüpfung des Verbotes der Doppelbestrafung mit dem Konzept der rule of law wird zwar nicht ausdrücklich vorgenommen, scheint aber vertretbar. Insoweit läßt sich das Merkmal der gemeinsamen Verankerung in der rule of law als Kriterium für die materielle Fundamentalität der festgestellten Verfahrensrechte bestätigen. Dieses Ergebnis würde gestützt, wenn sich das Konzept der rule of law als ein offenes Prinzip darstellen würde.

500 Joseph Raz, The Authority of Law. Essays on Law and Morality, Oxford 1979, S. 211 (214 ff.); Finnis (FN 53), S. 270 f. 501 In diesem Sinne auch Jowell (FN 66), S. 10 ff. 502 Paul Craig, Formal and Substantive Conceptions of the Rule of Law: An Analytical Framework, Public Law 1997, S. 467 ff.

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2. Das Konzept der rule of law als offenes Prinzip? a) Ansatzpunkt in der Diskussion des materiellen Gehalts Die Diskussion um den Gehalt der rule of law wird zunehmend durch die Uneinigkeit der Lehre in der Frage erschwert, ob sich um ein formales oder ein Prinzip mit einem materiellen Gehalt503 handelt504. Traditionell haben die englischen Gerichte die rule of law als ein „negative virtue“ verstanden, mit dem auch ihr Verständnis der Parlamentssouveränität korrespondiert. Die Gerichte haben im Lauf der Zeit diese formelle Konzeption aufgeweicht und um sie herum materielle Aspekte angefügt505, die eine gewisse Flexibilität der rule of law gewähren sollen506. Dieser Wandel in der Auffassung der Gerichte geht mit einer gesteigerten Wahrnehmung der Grenzen der Parlamentssouveränität einher. Dies ist vor dem Hintergrund der schon angesprochenen Entwicklungen im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts zu sehen, die das Bewußtsein für die Notwendigkeit schärften, den Schutz der Rechte des einzelnen auch gegenüber dem Parlament zu garantieren, und auch die Sichtweise der dafür erforderlichen und vor allem geeigneten rechtlichen Instrumente veränderten507. b) Wandel der Rolle und weites Konzept der rule of law auf dem Weg ins 21. Jahrhundert „The modern law of procedural faireness, however, demonstrates the practical necessity of developing the rule of law more broadly.“508

Der rule of law werden in der englischen Lehre unterschiedliche Bezeichnungen zugedacht wie „chameleon-like notion“509 oder man spricht von ih503 John Laws, Law and Democracy, Public Law 1995, S. 72; The Constitution: Moral and Rights, Public Law 1996, S. 622 (630). 504 Zusammenfassende Darstellung bei Craig (FN 502), S. 467 ff. 505 In diesem Sinne Wright/Gilbert (FN 11), S. 26. 506 Den Aspekt der Flexibilität betont auch Jowell (FN 66), S. 17, und fügt zahlreiche Beispiele an, die illustrieren, wie sich die Anforderungen aus der rule of law je nach Lage des Einzelfalls unterscheiden. 507 Siehe auch Jeffrey Jowell, Beyond the Rule of Law: Towards Constitutional Judicial Review, Public Law 2000, S. 671 (672). 508 Allan (FN 242), S. 28 f.; in diesem Sinne auch Wright/Gilbert (FN 11), S. 26: „The substantive conception of the rule of law builds upon the formal concepts but asserts that certain substantive rights may be derived from the rule of law.“ 509 Helen Fenwick/Gavin Philipson, Public Law and Human Rights, 2. Aufl., London 2003, S. 73; siehe auch Michael Allen/Brian Thompson, Constitutional and Administrative Law. 6. Aufl., London 2000, S. 187: „(. . .) its (gemeint ist die rule

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

ren „many guises“510. Während einige Autoren das Konzept der rule of law mit dem des Rechtsstaatsprinzips gleichsetzen511, sprechen andere von einem „absoluten Dogma“512 oder einem Prinzip513. Eine einheitlich anerkannte und verbindliche Definition existiert auch heute nicht. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten im Detail besteht aber Einigkeit darüber, daß die rule of law qualitative Anforderungen an das Recht stellt. Damit können die Voraussetzungen, die von den Vertretern des formalen Konzepts aufgestellt werden, im Kern als gemeinsamer Konsens angesehen werden514. Nicht nur die Bezeichnung, sondern auch der Inhalt der rule of law unterliegt in einer sich beständig ändernden Rechtsgemeinschaft einem Wandlungsprozeß, der durch Entwicklungen wie etwa die Einführung des HRA gestaltet wird. Dies rechtfertigt die Interpretation des rule of lawKonzepts als offenes Prinzip. So verwirklicht sich die rule of law nicht zuletzt in den presumptions515. Die aktuelle Entwicklung scheint mehr und mehr auf eine Anreicherung der rule of law im Sinne der substantive conception hinzuarbeiten516. Zudem hat bereits nach allgemeinem Verständnis die rule of law einen Bezug zu verfahrensrechtlichen Grundpositionen517. of law) meaning is far from precise, and it may mean different things to different people at different times.“ 510 Barnett (FN 45), S. 92. 511 Neil McCormick, Rechtsstaat and Rule of Law, in: Thesing (Hrsg.), The Rule of Law, 1997, S. 68. Sommermann teilt die Ansicht McCormicks insoweit, daß seiner Ansicht nach die Inhalte der Rule of Law, des Rechtsstaatsprinzips und des principe de légalité einschließlich der aus ihnen abgeleiteten Forderungen im wesentlichen deckungsgleich seien, vgl. Karl Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 47. Siehe aber Morin (FN 58), S. 60: „The paths taken by England and Germany in coping with the problem of power have been quite divergent and remain so today (. . .).“ Vgl. auch Detlef Merten, Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, ZÖR 58, 2003, S. 1 ff. 512 Loewenstein (FN 3), S. 75. 513 Detlef Dicke, Englisches Verfassungsverständnis und die Schwierigkeiten einer Verfassungskodifikation, DÖV 1971, S. 409 (412). 514 David Feldman, The Human Rights Act 1998 and constitutional principles, Legal Studies 1999, S. 163 (195), sieht die Beschränkung der rule of law auf „formal procedural values“ als einzige Möglichkeit, um einen Grundkonsens über ihren Inhalt erzielen zu können. 515 Barendt (FN 3), S. 37 RN 1.97. 516 In diesem Sinne Jowell (FN 66), S. 21 f. mit Beispielen; hierzu auch Barendt (FN 3), S. 35 RN 1.91: „rule of law is a substantive principle with real content“. 517 Siehe nur Feldman (FN 514), S. 195: „They (die rule of law-Prinzipien, A. d. V.) provide for due process of law with fair procedures, make the executive subject to law, and guarantee remedies to those who have suffered legal wrongs.“ Vgl. auch Jowell (FN 66), S. 17, und Barendt (FN 3), S. 35 RN 1.93 („rule of law enforces minimum standards of fairness both substantive and procedural“).

D. Ergebnis für England

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Allerdings müssen sich auch die aus der rule of law abgeleiteten Anforderungen innerhalb des verfahrensrechtlichen und insbesondere verfassungsrechtlichen Rahmens bewegen, wie er von der englischen Rechtsordnung vorgegeben wird. So läßt sich aus ihr etwa insbesondere nicht das Bedürfnis ableiten, daß der im Einzelfall zuständige Richter konkret normativ vorherbestimmt sein müsse. Soweit es jedoch um die einzelnen Elemente des nulla poena sine lege-Gebotes geht, ist der rule of law für die Umsetzung und weitere Ausformung der Einzelelemente wesentliche Bedeutung zuzuschreiben. 3. Zwischenergebnis In diesem Abschnitt wurde zum einem die gemeinsame Verankerung im Konzept der rule of law als Kriterium für die materielle Fundamentalität der englischen Verfahrensrechte bejaht. Zum anderen wurde vor diesem Hintergrund die grundsätzliche Eignung der rule of law aufgezeigt, daß gegebenenfalls Lücken im verfahrensrechtlichen Schutzniveau unter Bezugnahme auf dieses Konzept geschlossen werden können.

D. Ergebnis für England Bei der Untersuchung der englischen Rechtsordnung ist mehr noch als bei der französischen Rechtsordnung deutlich geworden, daß die Vergleichbarkeit einzelner Verfahrensrechte entscheidend von den Spezifika des Verfassungsrechts und des Justizwesens der jeweiligen nationalen Rechtsordnung bestimmt wird. Hinsichtlich des Eingangszitats von Bradley ist festzuhalten, daß für den Nachweis und die Existenz von den deutschen Prozeßgrundrechten inhaltlich und funktional vergleichbaren Rechten in der englischen Rechtsordnung ein geschriebener höherrangiger Verfassungstext keine zwingende Bedingung ist. Aufgrund der Besonderheiten der englischen Rechtsordnung mit seiner ungeschriebenen Verfassung ergaben sich zwar Schwierigkeiten bei der Identifikation von vergleichbaren Verfahrensrechten, machten diese aber nicht von vornherein unmöglich. Auf einer ersten Untersuchungsebene dieses Kapitels konnte nachgewiesen werden, daß es den deutschen Prozeßgrundrechten funktionsäquivalente, inhaltlich weitgehend vergleichbare Rechte auch im englischen common law gibt. Der Wirksamkeitsradius der festgestellten Rechte wird durch die Verfassungsprinzipien der sovereignty of parliament und der rule of law bestimmt. Für die untersuchten Rechte konnte darüber hinaus festgestellt werden, daß sie ebenfalls den Bezug zum Verfahren als gemeinsamen Ansatzpunkt haben.

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3. Kap.: Prozeßgrundrechte in England

Mit der judicial review steht dem einzelnen ein Mittel zur Verfügung, sich gegen Eingriffe des Staates in seine Rechtssphäre zu wehren. Über die Ausweitung der materiellen Kontrollmöglichkeiten der Gerichte äußert sich eine vermehrte Sensibilisierung für die Rechte des einzelnen gegenüber der Verwaltung. Dies findet seinen Ausdruck insbesondere in den grounds of review, die eine Ausprägung der rule of law darstellen und zögernd um das Verhältnismäßigkeitsprinzip erweitert wurden. Der Zugang zu den Gerichten gilt als fundamentales Recht, das es durch die zur Verfügung stehenden Auslegungsleitlinien zu bewahren gilt und dessen Beschränkungen nur in besonders begründeten Fällen anerkannt werden. Ein dem deutschen Prozeßgrundrecht entsprechendes Recht auf den gesetzlichen Richter kennt die englische Rechtsordnung nicht. Dort, wo es keine Spruchkörper oder Geschäftsverteilungspläne im Justizwesen gibt, kann es auch keine betreffenden verfassungsrechtlichen Anforderungen geben. Dem englischen Justizwesen liegt ein vom deutschen abweichendes Richterbild zugrunde, das jedoch auch den Schutz des einzelnen vor willkürlicher Verfahrensweise und vor einem Verfahren durch parteiische Richter kennt. Durch die Unabhängigkeitsgarantie der englischen Richter, die tief im common law verankert ist, sowie durch die rule against bias wird ein objektives Verfahren gewährleistet. Das Verbot von Sondergerichten findet sich ebenfalls im common law. Die Befangenheitsregelung der rule against bias ist als Teil des natural justice-Konzepts Ausprägung der rule of law. Aber auch aus der rule of law-Konzeption ist es nicht möglich, die Notwendigkeit der konkreten normativen Vorherbestimmung des im Einzelfall zuständigen Richters abzuleiten. Das Erfordernis eines fair hearing gilt sowohl im Verwaltungs- als auch im gerichtlichen Verfahren, es wird extensiv und am Leitbild einer fairen Verfahrensführung und Gestaltung orientiert ausgelegt. Als Element der natural justice-Konzeption ist das fair hearing ebenfalls Ausprägung der rule of law. Im Bereich der Elemente des nulla poena sine lege-Gebotes (principle of legality) bestehen in der englischen Rechtsordnung von vorneherein andere Ausgangsbedingungen, da gewohnheitsrechtliche Straftatbestände traditionell anerkannt sind. Für diese besteht jedoch das regelmäßige Verbot, sie durch common law auszuweiten. Allerdings wird das grundsätzliche Verbot rückwirkender Strafgesetze ebenso anerkannt wie die Idee der Bestimmtheit von Straftatbeständen. Beide Aspekte werden teilweise sogar mit der rule of law gleichgesetzt, zumindest aber als Element derselben angesehen. Der Grundsatz ne bis in idem ist teilweise gesetzlich normiert, teilweise im common law verankert. Seine Geltendmachung erfolgt in Form der autrefois-Einrede und ist in den letzten Jahren Gegenstand intensiver Reformdiskussionen gewesen. Ein Bezug zur rule of law wurde von Rechtsprechung und Lehre nicht explizit vollzogen, ist aber aufgrund seiner

D. Ergebnis für England

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Schutzrichtung konstruierbar. Das right to a fair trial ist auch im englischen Recht ein Sammelbegriff, der als solcher tief im common law verankert ist und dessen fundamentale Bedeutung gerade für das Strafverfahren ebenso immer wieder betont wird wie seine Verwurzelung in der rule of law. Auf der zweiten Stufe wurde untersucht, inwieweit auf der Grundlage der identifizierten Grundrechtsmerkmale die Einordnung der festgestellten Verfahrensrechte als Grundrechte möglich erscheint. Aufgrund des immer noch geltenden Prinzips der Parlamentssouveränität scheidet die formelle Höherrangigkeit Anknüpfungspunkte aus. Somit ergibt sich als einziger gemeinsamer Ansatzpunkt das Merkmal der materiellen Fundamentalität. Dieses findet seine allgemeine Anerkennung im Konzept der residualen Freiheitsrechte und den presumptions und damit in der gemeinsamen Idee, einen größtmöglichen Freiheitsbereich vor staatlichen Eingriffen zu bewahren. Die Freiheit des einzelnen wird hieraus als Wert gesehen, den es mit den zur Verfügung stehenden nationalen Sicherungsmechanismen zu schützen gilt. Auf dieser Ebene wird über die Kombination der grundsätzlich funktional vergleichbaren Schutzrichtung der festgestellten Verfahrensrechte mit dem Merkmal der materiellen Fundamentalität die Möglichkeit eröffnet, von einer den deutschen Grundrechten vergleichbaren Wirkungsweise zu sprechen, obwohl sie lediglich im einfachen Recht verankert sind. Die entscheidende Brücke zu den Prozeßgrundrechten wurde auf der dritten Untersuchungsstufe geschlagen. Denn dem Rechtsstaatsgedanken, in England der rule of law, kommt in diesem Zusammenhang konstituierende Bedeutung zu. Für die englischen verfahrensrechtlichen fundamental rights ist die Verankerung in der rule of law kennzeichnend. Sie weisen damit ebenso wie die deutschen Prozeßgrundrechte eine Rückbindung an ein grundlegendes Verfassungsprinzip auf. Damit kann zur Konkretisierung des unscharfen Kriteriums der materiellen Fundamentalität in Bezug auf eine mögliche Einordnung als Prozeßgrundrechte auf die gemeinsame Verwurzelung im Konzept der rule of law zurückgegriffen werden. Die rule of law weist auch in England einen eindeutigen verfahrensrechtlichen Bezug auf. In der Lehre wird ihre Entwicklung von einem formellen hin zu einem auch materiellen Konzept erörtert. Dadurch wird für die Gerichte der Weg geebnet, ihr im konkreten Einzelfall einen Regelungsauftrag im weiteren Sinne entnehmen zu können. Auf diese Weise ergibt sich eine funktionelle Vergleichbarkeit mit dem deutschen Rechtsstaatsprinzip als „offenem Prinzip“. Über das Konzept der grundsätzlich vergleichbaren Schutzrichtung, der materiellen Fundamentalität sowie der Verankerung in der rule of law als grundlegendem Verfassungsprinzip ist es gerechtfertigt, insoweit von „englischen Prozeßgrundrechten“ zu sprechen und damit die Eingangsthese Bradleys als unzutreffend zu bezeichnen.

Viertes Kapitel

Schlußfolgerungen – Möglichkeit eines gemeinsamen Prozeßgrundrechtsbegriffs Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit waren die deutschen Prozeßgrundrechte. Darunter wurden nicht nur die ausdrücklich im Grundgesetz in den Art. 19 Abs. 4, 101 und 103 genannten Verfahrensrechte verstanden, sondern auch das allgemeine Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren, das seine Rechtsgrundlage im Rechtsstaatsprinzip i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG findet. Ausgehend von dieser Vergleichsbasis wurden funktionale Äquivalente in den Rechtsordnungen Englands und Frankreichs gesucht.

A. Inhaltlich vergleichbare verfahrensrechtliche Institute in allen drei Rechtsordnungen Hierbei konnte zunächst festgestellt werden, daß sowohl England als auch Frankreich den deutschen Prozeßgrundrechten inhaltlich weitgehend vergleichbare Institute kennen. Teilweise ist zwar der Umfang der gewährleisteten Rechte unterschiedlich, der Zweck – der Schutz des einzelnen im Verfahren – aber immer derselbe. So findet sich etwa im französischen droit au recours juridictionnel ein dem Art. 19 Abs. 4 GG vergleichbares Erfordernis des effektiven Rechtschutzes. Dabei können sich ebenso wie in Deutschland aus der Forderung nach Effektivität auch in Frankreich weitere verfahrensrechtliche Anforderungen ergeben. In England erfolgt die Gewährleistung des Schutzes gegen Akte der Exekutive im Rahmen der judicial review. Auch der Gedanke des rechtlichen Gehörs ist in allen drei Rechtsordnungen anerkannt, in den Einzelausprägungen aber unterschiedlich entwickelt. Die strafrechtlichen Verfahrensrechte ne bis in idem und nulla poena sine lege finden sich – wenn auch unter anderen Namen (non bis in idem bzw. autorité de la chose jugée und principe de légalité) auch in Frankreich. Im englischen Recht ist der Gedanke der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der Strafe über das principle of legality ebenfalls verankert. Während in Deutschland die Strafbarkeit vor Begehung der Tat jedoch gesetzlich bestimmt sein muß, haben sich in England die meisten Straftatbestände aus

B. Rechtsordnung und Verknüpfung mit grundlegenden Prinzipien

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dem common law entwickelt und sind bislang nur vereinzelt kodifiziert worden. Das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts gibt es daher in England nicht. Die Inhalte, die in Deutschland unter das generalklauselartige Recht auf ein faires Verfahren gefaßt werden, finden sich sowohl in Frankreich als auch in England wieder, in Frankreich hauptsächlich unter dem Begriff der droits de la défense und in England primär unter den Begriffen natural justice, fairness und fair trial. Ein dem deutschen Recht auf den gesetzlichen Richter aus 101 Abs. 1 GG vergleichbarer Ansatz ist das französiche Konzept des juge naturel. Dieses ist allerdings nicht wie in Deutschland in einer eigenen Vorschrift verankert, sondern wird aus dem Gleichheitsgrundsatz, dem principe d’égalité devant la loi, abgeleitet. Für das englische Recht ließ sich jedoch kein inhaltlich vergleichbares Recht feststellen.

B. Rang innerhalb der Rechtsordnung und Verknüpfung mit grundlegenden Prinzipien In Deutschland besitzen die untersuchten Prozeßgrundrechte durchweg Verfassungsrang. Dies läßt sich im wesentlichen auch für die französischen Institute sagen. Allerdings wurde für das Äquivalent zu dem deutschen ne bis in idem-Grundsatz im französischen Recht diese Einordnung bislang nur durch den Conseil d’État getroffen, während sich der Conseil Constitutionnel zu dieser Frage noch nicht geäußert hat. Für die englischen Rechtsinstitute ließ sich aufgrund des in England nach wie vor fest verankerten Dogmas der Parlamentssouveränität eine Höherrangigkeit der Verfahrensrechte gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht nicht feststellen. Die deutschen Prozeßgrundrechte weisen ferner eine enge Verknüpfung mit dem Rechtsstaatsprinzip auf. Sie werden – selbst wenn sie in eigenen Grundgesetznormen verankert sind – als Ausprägungen desselben verstanden oder – wie im Fall des fairen Verfahrens – unmittelbar daraus i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet. In England finden sich ähnliche Ansätze in Bezug auf das Konzept der rule of law, das sich als ein grundlegendes Verfassungsprinzip darstellt. So nimmt das House of Lords in den letzten Jahren zunehmend im Zusammenhang mit Verfahrensrechten auf die rule of law Bezug, wenn auch nicht so häufig wie das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip. In Frankreich existiert mit dem Konzept des État de droit zwar ein dem Rechtsstaatsprinzip vergleichbares Konzept. Dieses weist aber im Gegensatz zu dem deutschen und englischen Pendant keine direkten Verknüpfungen mit den Verfahrensrechten auf. Dem-

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4. Kap.: Schlußfolgerungen

zufolge hat der Conseil Constitutionnel nie auf den État de droit in Zusammenhang mit Verfahrensrechten Bezug genommen. Somit läßt sich trotz der vergleichbaren Begrifflichkeiten – Rechtstaatsprinzip, État de droit, rule of law –, soweit Prozeßgrundrechte betroffen sind, kein gemeinsamer, übergreifender Rechtsstaatsbegriff feststellen. Die fehlende Anknüpfung der Verfahrensrechte an das Prinzip des Etat de Droit bedeutet allerdings nicht, daß diese in Frankreich überhaupt nicht mit einem übergreifenden grundlegenden Prinzip verbunden sind. Denn der Conseil Constitutionnel nimmt stattdessen in diesem Zusammenhang häufig auf andere grundlegende Konzepte Bezug. Dies sind der allgemeine Gleichheitsgrundsatz in Art. 6 der Erklärung von 1789 und in Art. 1 der Verfassung von 1958 (égalité devant la loi), das Legalitätsprinzip (principe de légalité) sowie das Konzept der droits de la défense. So ergibt sich – wie gesehen – etwa das Konzept des gesetzlichen Richters in Frankreich aus der Idee der Gleichheit vor dem Gesetz und gilt als ungeschriebenes Verfassungsprinzip, das Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes ist. Auch die Garantie des Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt und das Recht auf rechtliches Gehör weisen in Frankreich sowohl eine Verknüpfung mit dem Gleichheitsgrundsatz als auch eine direkte Verankerung im Konzept der droits de la défense auf. Die Verankerung im principe de légalité zeigt sich vor allem beim nulla poena sine lege-Grundsatz. Alle drei Rechtsordnungen halten somit Konzepte bereit, die es ermöglichen, flexibel auf verfahrensrechtliche Anforderungen zu reagieren. Gemeinsam ist damit den drei Rechtsordnungen, daß sie Sammelbegriffe für Rechte und rechtliche Grundsätze bereithalten, die so etwas wie Leitlinien der Rechtsordnung bilden. Alle drei Rechtsordnungen greifen insoweit auf unbestimmte, generalklauselartige Konzeptionen zurück. Somit läßt sich für die untersuchten Verfahrensrechte feststellen, daß sie – soweit Deutschland und England betroffen sind – eine enge Rückkoppelung an das Rechtsstaatsprinzip beziehungsweise die rule of law aufweisen. Für die untersuchten französischen Verfahrensrechte läßt sich zumindest eine vergleichbare Rückbindung an andere grundlegende Prinzipien konstatieren.

C. Gemeinsamer Prozeßgrundrechtsbegriff? Für jede der drei Rechtsordnungen wurde festgestellt, daß es eine bestimmte Gruppe von Rechten bzw. rechtlichen Instituten mit Verfahrensbezug gibt. Diese dienen insbesondere der Gewährleistung und dem Schutz der materiellen Rechte des einzelnen. Ihre konkrete Ausgestaltung ist in den einzelnen Ländern freilich unterschiedlich. So findet sich etwa die Eigenschaft der deutschen Prozeßgrund-

C. Gemeinsamer Prozeßgrundrechtsbegriff?

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rechte als subjektiv öffentliche Rechte, die verfassungsgerichtlich durchsetzbar sind, in England und Frankreich nicht wieder. Während in Deutschland ferner der Bezug zu den materiellen Grundrechten für die Prozeßgrundrechte unstrittig ist, insoweit als sie deren Gewährleistung und Schutz dienen, fehlt in Frankreich der direkte, ausdrückliche Bezug zu den materiellen Grundrechten, wenn auch der Conseil Constitutionnel durch Ausweitung und Ausdifferenzierung der Unterprinzipien der droits de la défense dazu beiträgt, das Fehlen eines Systems des Individualrechtschutzes auf Verfassungsebene auszugleichen. Englische Richter wiederum weiten zunehmend prozessuale Rechte aus und sprechen ihnen immer mehr Gewicht für den Schutz der Rechte des einzelnen zu. Darüber hinaus läßt sich eine Verknüpfung der Prozeßgrundrechte mit der Idee des Rechtsstaats nur für Deutschland und England feststellen, nicht aber für Frankreich. Das Merkmal der Höherrangigkeit weisen die Prozeßgrundrechte wiederum nur in Deutschland und Frankreich, nicht aber in England auf. Einen allen drei Rechtsordnungen gemeinsamen Prozeßgrundrechtsbegriff zu konstruieren, scheint vor diesem Hintergrund deshalb schwierig zu sein. Andererseits kann durchaus ein vergleichbares verfahrensrechtliches Schutzniveau in den Untersuchungsländern festgestellt werden. Parallelen haben sich insbesondere im Hinblick auf die Gesamtausrichtung bzw. die Schutzrichtung der einzelnen Institute gezeigt. Aus den Gesamtausrichtungen der einzelnen festgestellten Rechtsinstitute ergibt sich ein gemeinsames Verständnis der Rolle des einzelnen in Verfahren im Sinne einer Orientierung am gemeinsamen Leitbild eines fairen Verfahrens. Ferner erkennt jede der drei Rechtsordnungen die dargestellten Verfahrensrechte als fundamental in den ihr bekannten Systembegriffen an. Insbesondere finden sich in allen drei Rechtsordnungen Verknüpfungen zu grundlegenden Verfassungsprinzipien, wie etwa in Deutschland dem Rechtsstaatsprinzip, in England der rule of law und in Frankreich dem principe d’égalité devant la loi, dem principe de légalité sowie dem Konzept der droits de la défense. Damit bietet sich als Ansatzpunkt für einen übergreifenden Prozeßgrundrechtsbegriff die fundamentale Bedeutung, die funktional vergleichbaren verfahrensrechtlichen Positionen in der jeweiligen Rechtsordnung zuerkannt wird, und damit der Rückgriff auf ein materielles Element, an. Ein gemeinsamer Prozeßgrundrechtsbegriff mit dem gemeinsamen Merkmal der materiellen Fundamentalität erscheint deshalb möglich. Die dahinter zum Ausdruck kommende Idee und der Prozeßbezug rechtfertigen es, zumindest auf dieser Ebene von einem gemeinsamen Prozeßgrundrechtsbegriff zu sprechen. Möglicherweise ergibt sich ausgehend hiervon sogar die Möglichkeit, einen allen drei Rechtsordnungen übergreifenden Grundrechtsbegriff zu synthetisieren.

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4. Kap.: Schlußfolgerungen

D. Weitergehende Folgerungen für einen gemeinsamen Grundrechtsbegriff Sowohl für Frankreich als auch für England läßt sich die Verwendung von dem deutschen Begriff der Grundrechte ähnlichen Begriffen feststellen, für Frankreich beispielsweise in der dargelegten verstärkten Übernahme des Begriffs droits fondamentaux sowie der damit einhergehenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Auch in der englischen Rechtsprechung tauchen zunehmend die Begriffe constitutional right und basic right auf. Insbesondere wird auch häufig von fundamental right gesprochen. Die Möglichkeit, über die begriffliche Annäherung hinaus einen gemeinsamen Grundrechtsbegriff konstruieren zu können, könnte sich mit Hilfe der anhand der deutschen Grundrechtskonzeption definierten einzelnen Charakteristika ergeben. Die Suche nach deren Entsprechungen bzw. funktionalen Äquivalenten in den beiden anderen Rechtsordnungen ergab auch hier ein differenziertes Bild. Die Befugnis, der Grundrechtsausübung Grenzen zu setzen, ist in Deutschland eine Domäne des Gesetzgebers. Dies tritt im Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie zutage. In England kommt dies in der presumption zum Ausdruck, daß eine Freiheitsbeschränkung erst dann erlaubt ist, wenn sich dies ausdrücklich und unzweifelhaft aus dem Gesetzeswortlaut ergibt. In Frankreich sind insoweit die Anforderungen des weit ausgelegten Art. 34 der Verfassung zu beachten, wonach der Gesetzgeber im Bereich der droits fondamentaux gehalten ist, die wesentlichen Grundsätze selbst zu bestimmen und nicht auf die Exekutive zu delegieren. Unterschiede gibt es jedoch vor allem im Hinblick auf die Frage der Schranken, denen der Gesetzgeber bei der Begrenzung der Grundrechtsausübung unterliegt. Während in England die eingrenzende Befugnis des Parlaments keinen rechtlichen Grenzen unterliegt, besteht in Frankreich das Prinzip der non-dénaturation, das funktionsäquivalent zur deutschen Wesensgehaltsgarantie ist. Zudem praktiziert der Conseil Constitutionnel eine Kontrolle, die letztlich auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinausläuft. Der Grund für diese Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich einerseits und England andererseits liegt in dem für die englische Verfassungsstruktur zentralen Dogma der Parlamentssouveränität (sovereignty of parliament). Dieses verhindert eine Anerkennung von dem Parlamentsgesetz übergeordnetem Verfassungsrecht. Grundrechtschützende Rechtsprechung in England wird insbesondere dadurch gewährleistet, daß die Gerichte Parlamentsgesetze freiheitsfreundlich auslegen. Seine weitestgehende Ausprägung findet dieser Ansatz im HRA, wonach das Parlament durch die Unvereinbarkeitserklärung auf einen Widerspruch zur EMRK hingewiesen

D. Weitergehende Folgerungen für einen gemeinsamen Grundrechtsbegriff 321

werden kann, ohne damit jedoch zwingend zu einer Änderung des in Frage stehenden Gesetzes verpflichtet zu sein. Damit scheidet die formelle Höherrangigkeit als Anknüpfungspunkt für einen alle drei Rechtsordnungen umfassenden Grundrechtsbegriff aus. Erst recht gilt das für das Kriterium der erschwerten Abänderbarkeit. Während in Frankreich insoweit immerhin die Möglichkeit besteht, einen dem Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbaren veränderungsfesten Kern über eine weite Interpretation des Art. 89 Abs. 5 der Verfassung von 1958 zu konstruieren, scheidet dies in der englischen Rechtsordnung wiederum aufgrund des Dogmas der Parlamentssouveränität aus. Dabei ist zwar einzuräumen, daß auch in England das Parlament faktisch einen solchen Kern anerkennen muß, damit es seine Wiederwahl nicht gefährdet. Dies ändert aber nichts daran, daß es sich hierbei nur um einen rein politischen und keinen rechtlichen Schutzmechanismus wie in Deutschland handelt (vgl. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG). Der formale Rang und – damit zusammenhängend – die Schutzmechanismen, welche die einzelnen Rechtsordnungen für die Grundrechte/droits fondamentaux/fundamental rights vorsehen, sind also unterschiedlich. Während in Deutschland die Grundrechte Verfassungsrang besitzen und dies auch für die französischen droits fondamentaux der Fall ist, fehlt den englischen fundamental rights das Merkmal der formalen Höherrangigkeit. Allerdings existiert die in Deutschland und Frankreich hinter der formalen Höherrangigkeit liegende Idee auch in England. Es handelt sich um die Idee, daß die durch die Grundrechte geschützte Freiheit einen fundamentalen Wert darstellt und aus diesem Grund möglichst frei von staatlichen Eingriffen bleiben soll. Für Deutschland findet dieser Gedanke dem Staat vorausliegender, über die bloße Qualität als Rechtssätze hinausgehender Grundrechte zum Beispiel in Art. 1 Abs. 2 GG sowie in dem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Konzept der Grundrechte als „objektiver Wertordnung“ seinen Niederschlag. Für Frankreich enthält insoweit bereits Artikel 2 der Erklärung von 1789 einen Hinweis auf höhere Werte und Prinzipien, die Bestandteil der Rechtsordnung sind, während dies für England vor allem in der residualen Freiheitskonzeption zum Ausdruck kommt. Alle drei Rechtsordnungen erkennen also insoweit das Bedürfnis an, besonders bedeutsame, fundamentale Werte zu schützen. Dies könnte mithin die Grundlage für einen alle drei Rechtsordnungen umfassenden Grundrechtsbegriff sein. Ein solcher „materieller“ Grundrechtsbegriff läuft jedoch Gefahr, dem Einwand inhaltlicher Unsicherheit und fehlender Abgrenzungsschärfe ausgesetzt zu sein. Er könnte sich insoweit mit ähnlicher Kritik konfrontiert sehen wie der Gebrauch des Begriffs „Wert“ durch das Bundesverfassungsgericht. Solch eine Kritik wäre jedoch nach hier vertretener Ansicht nur

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4. Kap.: Schlußfolgerungen

dann berechtigt, wenn man zwischen der oben beschriebenen „materiellen“ Seite der Grundrechte – der hinter ihnen stehenden Idee – und der „technischen“ Seite – der Art und Weise der Umsetzung dieser Idee – nicht sauber trennt. Die „materielle“ Seite eines Grundrechts besteht in dem mit ihm geschützten Wert, seinem Zweck und seinem Ziel. Die „technische“ Seite – Rang, Reichweite und Durchsetzbarkeit – bildet gleichsam einen zweiten Kranz, der die praktische Wirksamkeit des Grundrechts betrifft, nicht jedoch sein materielles Wesen bestimmt. Die „technische Seite“ der Grundrechte ist – wie gesehen – in Deutschland, Frankreich und Großbritannien sehr unterschiedlich, wobei die Unterschiede zwischen England einerseits und Deutschland und Frankreich andererseits am größten sind. Aber allen drei Rechtsordnungen gemeinsam ist der hinter der technischen Seite stehende Gedanke: Freiheit als etwas Erhaltens- und Schützenswertes (objektive Wertordnung, residuale Freiheitskonzeption, Menschenrechtserklärungen in Frankreich). Rechtssätze, die sich als Versuch der Verwirklichung dieser Idee begreifen lassen, kann man als Grundrechte im übergreifenden Sinne bezeichnen. Ein Grundrechtsbegriff, der übergreifend in den Rechtsordnungen von Deutschland, England und Frankreich Geltung beanspruchen kann, zeichnet sich folglich durch folgende konstituierende Charakteristika aus: Ein Recht, das als Schutzgegenstand die Freiheit vor Staatsübergriffen benennt, um einen möglichst weiten Schutzbereich bemüht ist, als fundamental sowie schützenswert gedacht wird und zumindest durch politische Schutzmechanismen willkürlichen Veränderungen entzogen ist.

E. Ausblick: Entwicklungstendenzen der Rechtsordnungen im Hinblick auf ein ius commune europaeum bezüglich der Verfahrensrechte In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde davon gesprochen, auf verfahrensrechtlicher Ebene Gemeinsamkeiten zu suchen, um eine Grundlage für die Herleitung allgemeiner Grundsätze auf europäischer Ebene zu erhalten. Dies geschah vor dem Hintergrund, daß die Entwicklung des europäischen Rechtsraums sowohl für Justiz als auch für Verfahren eine Herausforderung darstellt. Ein Aspekt ist etwa die unterschiedliche Ausbildung und Stellung des Richters in der Rechtsordnung. Die englische Richtertradition beispielsweise verdankt ihre spezifische Ausprägung nicht in erster Linie Gesetzen oder Erkenntnissen der Wissenschaft, sondern dem common law. Im Verlauf der Arbeit wurde gezeigt, daß unterschiedliche nationale Rechtsordnungen alternative Rechtsinstrumente zur Lösung ähnlicher Problembereiche bereithalten. Dabei konnten sowohl Divergenzen als auch Konvergenzen sowie

E. Ausblick: Entwicklungstendenzen der Rechtsordnungen

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insbesondere Schnittstellen aufgezeigt werden, die Impulse für die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene im Verfahrensbereich liefern können. Insbesondere wurden die Möglichkeit eines übergreifenden Prozeßgrundrechtssowie eines gemeinsamen Grundrechtsbegriffs aufgezeigt und die Verwurzelung der untersuchten Verfahrensrechte in grundlegenden Prinzipien der einzelnen Rechtsordnungen nachgewiesen. Zudem ebnen möglicherweise gerade die neueren Entwicklungen in der englischen Rechtsordnung, die sich in einem Wandlungsprozeß befindet, den Weg zu einem ius commune europaeum im Bereich des Verfahrensrechts. Dabei kommt dem englischen Recht seine Anpassungsfähigkeit zu Gute. Diese gründet sich darauf, daß seine wesentlichen Grundsätze ihre Ausgestaltung durch die Rechtsprechung erhalten und nicht wie bei den meisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen durch die Verfassung. Ein wichtiger Schritt gerade auch im Hinblick auf die Bedeutung von verfassungsmäßigen Rechten und prozessualen Grundrechten war die Inkorporierung der EMRK in das englische Recht durch den HRA. Über den HRA wurde die Rezeption grundrechtsfreundlicher Rechtsprechung des EGMR und der damit verbundenen Prinzipien, etwa des Verhältnismäßigkeitgrundsatzes, in das englische Recht begünstigt. Auf diese Weise findet schrittweise eine Anpassung und auch Öffnung des englischen Rechtssystems statt. Die Ansätze eines Umdenkungsprozesses in der englischen Rechtsordnung belegen auch die Reform des House of Lords und die Einführung eines Supreme Courts für England. Für die französische Rechtsordnung könnte ein Entwicklungsprozeß über das Medium der veränderten und sich wandelnden Begrifflichkeiten zum Ausdruck kommen, die sich in einer zunehmenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung spiegelt. Die Implikationen der verstärkten Verwendung des Begriffs der droits fondamentaux sind im einzelnen in der französischen Lehre umstritten, so daß die weitere Entwicklung insoweit abzuwarten bleibt.

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Sachverzeichnis Autorité de la chose jugée 147 ff., 168, 200, 316 Bloc de constitutionnalité 111 f., 123 f., 144 ff., 158, 179, 187 ff. Dicey, Albert Venn 206 ff., 212 ff., 283 Droits de la défense 108 ff., 132 ff., 159 ff., 199 ff., 317 ff. Droits fondamentaux 87, 173 ff., 186 ff., 201, 320 ff. – Abgrenzung libertés publiques 178 – Begriff 174 ff. – gerichtliche Durchsetzbarkeit 187 – principes objectifs 186 – Wesensgehaltsgarantie 183 État de droit 144, 156, 191 ff., 212 f., 317 f. – Begriff 191 ff. – Entwicklung 193 Faires Verfahren 74 ff., 157 ff., 281 ff., 315 – Begriff 74 f. – Coke, Edward 77 – fair trial 76, 203, 281 ff. – Magna Charta 77 f., 203 – procès équitable 75, 157 ff. – Deutschland 74 ff. – allgemeines Prozeßgrundrecht 84 – einklagbares Recht 84 – Inhalt 81 – Objekt des Verfahrens 82 – Rechtsstaatsprinzip 80 f., 82, 84 – England 281 ff.

– Dicey, Albert Venn 283 – duty to act fairly 281, 284, 288, 289 – Entwicklung 283 f. – Habeas Corpus Act 286 – Inhalt 285 f. – Magna Charta 283 – natural justice 281 ff., 284, 286 – rule against bias 286 – rule of law 283, 287 – Terminologie 281 f. – Waffengleichheit 287 – Frankreich 157 ff. – bloc de constitutionnalité 158 – droits de la défense 159, 164 f., 167 – Entwicklung 157 – Europäische Menschenrechtskonvention 158 ff. – Inhalt 160 ff. – PFRLR 159, 160 – principe général du droit 163 – procès équitable 157 ff., 162 – Rechtsgrundlage 160 Gesetzlicher Richter 42 ff., 120 ff., 230 ff., 314 – Deutschland 42 ff. – Ausnahmegerichte 49 – Begriff 47 f. – Entwicklung 43 f. – error in procedendo 50 – Inhalt 46 ff. – justizinterne Anforderungen 49 – Kabinettsjustiz 44 – Rechtsstaatsprinzip 46

Sachverzeichnis – England 230 ff. – Act of Settlement 234, 238, 242 – Ausnahmegerichte 240 f. – Constitutional Reform Act 235 – Entwicklung 231 f. – Human Rights Act 234 – Inhalt 236 ff. – Magna Charta 231, 233 – rule against bias 238 ff. – rule of law 231, 236, 241 – Stuarts 232 f. – Supreme Court 234 f. – Tudors 232 – Frankreich 120 ff. – Ausnahmegerichte 127, 129 f. – bloc de constitutionnalité 123 – Entwicklung 120 f. – Gleichheit vor dem Gesetz, allgemeiner Gleichheitssatz 125 ff., 131 – Inhalt 126 ff. – juge naturel 121 ff. – juge unique 128 – PFRLR 123 f. Grundrechtsbegriff (siehe auch unter Prozeßgrundrechte) – England 293 ff., 300 ff. – basic rights 294, 308 – Bindung des Gesetzgebers 301 – civil rights 294 – common law 291 f. – constitutional right 294, 308 – fundamental laws 295 – fundamental rights 293 ff., 298 ff., 303, 307 – gerichtliche Durchsetzbarkeit 301 – Human Rights Act 301, 307 – Magna Charta 302 – presumptions 299, 302, 308 – residuale Freiheit 297 ff. – rule of law 292, 302, 309 ff. – subjektive Rechte 292 – Verhältnismäßigkeitsprüfung 304

– –

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– Wertordnung, objektiv 305 – Wesensgehaltsgarantie 303 Entwicklung 86 ff. Frankreich 172 ff., 181 ff. – Durchsetzbarkeit 187 ff. – Gesetzesvorbehalt 182 – Grundrechtsbegriff 181 ff. – principes objectifs 186 – Verhältnismäßigkeit 184 – Wesensgehaltsgarantie 183 gemeinsame Definition 319 ff. Merkmale 89 ff. Terminologie 86

Human Rights Act 207 ff., 230, 235, 257, 263 ff., 301 ff., 323 Libertés publiques 172 ff., 181 Libertés fondamentales 172 ff. Natural justice 78, 238, 241 ff., 281 ff., 310, 314 ff. Ne bis in idem 66 ff., 146 ff., 265 ff., 316 – Deutschland 66 ff. – absolutio ab instantia 66 f. – Begriff der Tat 73 – Entwicklung 66 ff. – Inhalt 71 ff. – Rechtsstaatsprinzip 70 – Strafklageverbrauch 71, 74 – vorverfassungsrechtliches Gesamtbild 72 – England 265 ff. – autrefois acquis 265 ff. – autrefois convict 266 ff. – Einschränkungen 277 – Entwicklung 266 f. – Inhalt 269 ff. – Interpretation Act 268, 270 f. – Law Commission Consultation Paper 278 f.

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Sachverzeichnis

– Offences against Person Act 268, 270 – Rechtsquellen 268 f. – rule of law 269 – Tudors 267 f. – Voraussetzungen 276 – Frankreich 146 ff. – autorité de la chose jugée 147 – Entwicklung 146 – État de droit 156 – Gebot der materiellen Gerechtigkeit 155 – Inhalt 150 ff. – principe de la nécessité des peines 149 – principe de non-cumul des peines 147, 156 – Prinzip der Verhältnismäßigkeit 148 – Rechtssicherheit 154, 156 – Tatbegriff 152 ff. Nulla poena sine lege 57 ff., 137 ff., 251 ff., 316 – Deutschland 57 ff. – Analogieverbot 65 – Bestimmtheitsgebot 62 – Entwicklung 57 f. – Feuerbach, Paul Johan Anselm 57, 59 – Gewohnheitsrecht 64 f. – Inhalt 60 ff. – Rechtsstaatsprinzip 59 – Rückwirkungsverbot 63 f. – England 251 ff. – Analogieverbot 263 f. – Bestimmtheitsgebot 256 – Entwicklung 251 ff. – Gewohnheitsrecht 253 – Human Rights Act 263 – Inhalt 256 ff. – Magna Charta 251 f. – principle of legality 256 ff., 264 – Rückwirkungsverbot 258 ff.

– rule of law 255 f., 257 – Terminologie 254 f. – Frankreich 137 ff. – Entwicklung 137 – État de droit 144 – Inhalt 139 ff. – principe de légalité 138 f. – principe de nécessité des peines 141 – Rechtssicherheit 143 f. – Rückwirkungsverbot 138, 142 f. Parlamentssouveränität, englische 206 ff., 212 – Begriff 206 f. – Dicey, Albert Venn 206, 208 – Human Rights Act 209 ff. Principes fondamentaux reconnus par les lois de la République (PFRLR) 109 ff., 123 f., 133, 159 Principes généraux du droit 111 ff., 163 Prozeßgrundrechte 26, 86 ff., 99 f. – Deutschland 30 ff., 85 ff., 93 – Grundrechtsbegriff 86 ff. – Rechtsstaatsprinzip 96 ff. – England – basic rights 294, 308 – Begriff 203 ff. – Bindung des Gesetzgebers 301 – civil rights 294 – common law 291 f. – constitutional right 294, 308 – fundamental laws 295 – fundamental rights 293 ff., 298 ff., 303, 307 – gerichtliche Durchsetzbarkeit 301 – Grundrechtsbegriff 293 ff., 300 ff. – Human Rights Act 301, 307 – Magna Charta 302 – Merkmale 291 f. – presumptions 299, 302, 308

Sachverzeichnis – residuale Freiheit 297 ff. – rule of law 292, 302, 309 ff. – subjektive Rechte 292 – Verhältnismäßigkeitsprüfung 304 – Wertordnung, objektiv 305 – Wesensgehaltsgarantie 303 – Frankreich 101, 199 ff. – Begriff 101 f. – Durchsetzbarkeit 187 ff. – Gesetzesvorbehalt 182 – Grundrechtsbegriff 181 ff. – Merkmale 169 ff. – principes objectifs 186 – Verhältnismäßigkeit 184 – Wesensgehaltsgarantie 183 – gemeinsamer Begriff 318 ff. Rechtliches Gehör 50 ff., 131 ff., 242 ff., 314, 316 – Deutschland 50 ff. – Begriff 55 f. – Entwicklung 50 f. – Heilung 57 – Inhalt 54 ff. – prozessuales Urrecht 52 – Rechtsstaatsprinzip 53 – spezifisches Verfassungsrecht 56 – England 242 ff. – Entwicklung 242 ff. – fair hearing 242, 246 ff. – Inhalt 248 ff. – natural justice 242 ff., 247, 249 – rule of law 247 f. – Frankreich 131 ff. – droits de la défense 132 ff. – Entwicklung 132 – Inhalt 134 ff. – PFRLR 133 – principe du contradictoire 132 ff. Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt 32 ff., 102 ff., 216 ff., 314, 316

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– Deutschland 32 ff. – allg. Justizgewährleistungsanspruch 37 – Begriff 32 – Begriff der öffentlichen Gewalt 39 f. – effektiver Rechtsschutz 41 f. – Entwicklung 32 f., 35 – formelles Hauptgrundrecht 36 – Inhalt 38 ff. – Prinzip des lückenlosen Rechtsschutzes 38 – Rechtsstaatsprinzip 36/37 – Verletzung subjektiver Rechte 40 f. – Zugang zu den Gerichten 38, 39 – England 216 ff. – access to the courts 218 f. – Access to Justice Act 220 – constitutional right 218 – appeal-Verfahren 221 – Entwicklung 217 f. – Inhalt 220 ff. – judicial-review 221, 222 ff., 230 – grounds of review 226 f., 230 – sufficient interest 225 – ultra-vires Doktrin 223 f., 227 – Verwaltungsrechtsschutz 216 – Dicey 217 – Entwicklung 217 ff. – rule of law 217, 218, 219, 228 – Frankreich 102 ff. – droit au recours juridictionnel 105, 115 ff. – droits de la défense 108 ff., 113 – Entwicklung 102 ff. – Individualrechtsschutz 119 – Inhalt 115 ff. – PFRLR 109 – principes généraux du droit 111 f.

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Sachverzeichnis

– recours effectif 117 – référé-liberté 120 Rule of law 212 ff., 241, 247, 255, 269, 284, 290, 292, 309 ff., 314 f. – Begriff 212 f. – Dicey, Albert Venn 212 ff.

Verfassungsbegriff, englischer 204 ff. – constitutional conventions 205 – statute law 205 Vertrag von Lissabon 26 ff. Vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit 145, 170, 189